Klassenkampf und revolutionäre Bewegung in der Geschichte Russlands: Von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution. Studien und Aufsätze [Reprint 2021 ed.] 9783112564042, 9783112564035


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German Pages 352 [349] Year 1978

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Klassenkampf und revolutionäre Bewegung in der Geschichte Russlands: Von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution. Studien und Aufsätze [Reprint 2021 ed.]
 9783112564042, 9783112564035

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KLASSENKAMPF UND REVOLUTIONÄRE BEWEGUNG IN D E R GESCHICHTE RUSSLANDS

AKADEMIE

DER

W I S S E N S C H A F T E N

ZENTRALINSTITUT

FÜR

DER

DDR

GESCHICHTE

QUELLEN UND STUDIEN ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS HERAUSGEGEBEN

EDUARD

VON

WINTER

UND

HEINZ LEMKE IN Z U S A M M E N A R B E I T

MIT

ALFRED ANDERLE, ERICH DONNERT, JOACHIM M A I , G Ü N T H E R R O S E N F E L D U N D GERD VOIGT (WISSENSCHAFTLICHER SEKRETÄR) REDAKTIONSSEKRETÄR:

GÜNTHER

JAROSCH

BAND XXIII Dieser Band wird herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte der UdSSR an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR

KLASSENKAMPF UND REVOLUTIONÄRE BEWEGUNG IN DER GESCHICHTE RUSSLANDS VON DEN ANFÄNGEN BIS ZUR OKTOBERREVOLUTION S T U D I E N UND A U F S Ä T Z E

HERAUSGEGEBENVON V.l. BUG ANO V , P . H O F F M A N N , V . T . P A § U T O , G.VOIGT

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1977

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 L i z e n z n u m m e r : 202 • 100/292/77 Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 4968 E i n b a n d g e s t a l t u n g : Helga Klein B e s t e l l n u m m e r : 753 249 3 (2087/23) • L S V 0235 P r i n t e d in G D R D D R 35,—M

Dem 60. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die der Menschheit den Weg aus der Klassengesellschaft öffnete und damit zur Überwindung der Klassengegensätze und des Klassenkampfes wies, sind die in diesem Band vereinigten Beiträge von Historikern aus der Sowjetunion und der DDR gewidmet

Inhalt

Einleitung

IX

Bruno Widera f , Klassenkämpfe der Bauern in der Alten Rus' (lO.-Mitte 13. Jahrhundert)

1

Vladimir Terenfevic Pasuto, Ethnische Vielfalt und Klassenkampf in der Alten Rus'

17

Lev Vladimirovic Cerepnin f . Der Klassenkampf in der Rus' im 14. und 15. Jahrhundert

31

Viktor Ivanovic Buganov, Der Klassenkampf in Rußland in der Epoche der Bauernkriege im 17. und 18. Jahrhundert

49

Peter Hoffmann, Voraussetzungen und Anfänge einer revolutionären Ideologie in Rußland

71

Fritz Straube, Die Dekabristen und die revolutionäre Bewegung ihrer Zeit

95

Valentin Ivanovic Neupokoev, Die Bauernbewegung in Rußland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

123

Wilhelm Zeil, Auf der Suche nach einer neuen revolutionären Theorie. Zur Entstehung der revolutionär-demokratischen Ideologie in Rußland im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts

137

Milica Vasil'evna Neckina/Evgenija L'vovna Rudnickaja, Die erste revolutionäre Situation in Rußland und die revolutionnären Demokraten . . .

159

Heinz Lemke, Die revolutionären Narodniki

173

Valerij Ivanovic Bovykin/Jurij Il'ic Kir'janov, Der Klassenkampf in Rußland am Vorabend und während der ersten russischen Revolution (1895 bis 1907)

203

Vladimir Jakovlevic Laverycev, Die revolutionäre Bewegung in Rußland zwischen den beiden bürgerlich-demokratischen Revolutionen 1907 bis Febr. 1917

239

VIII

Inhalt

German Antonovic Trukan, Das Proletariat Rußlands als Hegemon im Kampf um den Sieg der sozialistischen Revolution

275

Gerd Voigt, Die Oktoberrevolution in der Historiographie der BRD. Kontinuitäten und neuen Tendenzen

299

Autorenverzeichnis

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Personenregister

325

Einleitung

Der vorliegende, dem 60. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution gewidmete Studienband will dem Leser in der DDR einen Einblick in die reichen revolutionären Traditionen des russischen Volkes vom Entstehen der Klassengesellschaft im 10. Jh. bis zur sozialistischen Revolution, mit der die antagonistische Klassengesellschaft endgültig überwunden wurde, vermitteln. Obwohl es das Bestreben war, ein möglichst umfassendes Bild des Klassenkampfes und der revolutionären Bewegung in der Geschichte Rußlands zu geben, erwies es sich als unmöglich, alle für diese Fragestellung wichtigen Zusammenhänge, Etappen und Ereignisse in gleicher Ausführlichkeit darzulegen. Autoren und Herausgeber waren darum bemüht, vom derzeitigen Forschungsstand ausgehend 1 neue Probleme, Richtungen und Ergebnisse darzulegen, wobei auf das Herausarbeiten wichtiger Entwicklungslinien des Klassenkampfes und der revolutionären Bewegung besonderer Wert gelegt wurde. Aus dieser Zielsetzung ergaben sich einerseits vor allem in der Hinführung zu den einzelnen Schwerpunkten und im Ausblick auf die weitere Entwicklung zuweilen Überschneidungen, auf die aber für die Einordnung des betreffenden Beitrages in größere Zusammenhänge nicht verzichtet werden konnte; andererseits wurde auf die Darlegung einiger in Handbüchern, Nachschlagewerken und Gesamtdarstellungen immer wieder breit abgehandelter Angaben weitgehend verzichtet. Ein weiterer Gesichtspunkt bei der Ausarbeitung der vorliegenden Beiträge war die konsequente Darlegung unserer, der marxistisch-leninistischen Geschichtskonzeption an ausgewählten Beispielen der russischen Geschichte. Diesem Grundanliegen entsprechend setzen sich alle Beiträge - weniger in der offenen Polemik als durch die Art der Darlegung der Zusammenhänge und Ereignisse - mit der älteren adligen und bürgerlichen, vor allem aber mit der gegenwärtig in der kapitalistischen Welt vorherrschenden Geschichtsschreibung auseinander. Die Beiträge vermitteln in ihrer Gesamtheit ein Bild der ständigen Klassenkämpfe in der antagonistischen Klassengesellschaft von ihrem Entstehen bis zu ihrer Überwindung in der sozialistischen Revolution. Deutlich wird das allmähliche Reifen der sozialen Protestbewegung, die Akkumulation von Erfahrungen, die Bedeutung der Volksüberlieferungen, die allmählich zur Herausbildung revolutionärer Traditionen führten, weiterhin der Wechsel der in dieser Bewegung führenden sozialen Kräfte, Schichten und Klassen, bis im Verlauf der sozialökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung die Bedingungen für eine umfassende revolutionäre Bewegung heranreiften. Erst jetzt, mit dem Entstehen und der Entwicklung des Proletariats als revolutionärer Klasse, 1

Vgl. den zusammenfassenden zum 50. Jahrestag der Grofjen Sozialistischen Oktoberrevolution veröffentlichten historiographischen Überblick: Sovetskaja istoriografija klassovoj bor'by i revoljucionnogo dvizenija v Rossii, Teil I, II, Leningrad 1967.

X

Einleitung

entstanden die objektiven Voraussetzungen für den endgültigen Sturz der Ausbeuterordnung, die dann zusammen mit den notwendigen subjektiven Faktoren, zu denen auch die revolutionären Traditionen der Völker des Russischen Reiches zu zählen sind, diese Möglichkeit zur Realität werden ließen. Der entscheidende Faktor für den Sieg der sozialistischen Revolution war bei den in Rußland gegebenen Verhältnissen schließlich das Vorhandensein der konsequent revolutionären von Lenin geführten proletarischen Partei der Bolschewiki. Die beiden Beiträge für das frühe Mittelalter gehen auf die bäuerlichen Aktionen und auf den Anteil der nichtrussischen Bevölkerung am Klassenkampf in dieser frühen Zeit ein. Nicht ausdrücklich behandelt wird das Auftreten der Stadtbevölkerung — aber in den veröffentlichten Beiträgen fällt ausreichend Licht auch auf diese Aktionen, so daß die Herausgeber es für vertretbar hielten, auf einen eigenen Beitrag zu verzichten. Für den Zeilraum vom 14. bis zum 18. Jh. werden zwei Beiträge veröffentlicht, die in chronologischer Abfolge wesentliche Höhepunkte der Klassenkämpfe der Bauern und der städtischen Bevölkerung unter feudalen Bedingungen darlegen. In diesen Beiträgen wurde besonderer Wert darauf gelegt, die Entwicklung der Kampfformen herauszuarbeiten. Unter diesem Aspekt kommt dem zusammenfassenden Beitrag über die Bauernkriege in Rußland besondere Bedeutung zu. Zur Diskussion steht dabei die breite Auffassung des Begriffs Bauernkrieg, die Vorgeschichte und erste Aktionen einbezieht, wie es vor allem bei der Behandlung der ersten beiden russischen Bauernkriege deutlich wird.'Die neue Qualität des Kampfes gegen Unterdrückung und Ausbeutung, wie sie mit der Ideologie und der Aktion der Adelsrevolutionäre gegeben ist (Radiscev und die Dekabristen), wird in zwei Beiträgen abgehandelt, in denen die Herausbildung der neuen, revolutionären Ideologie in den Vordergrund gerückt worden ist. Die gerade für die Dekabristenbewegung typische Verbindung von revolutionärer Theorie mit dem Aufbau revolutionärer Organisationen und der Vorbereitung revolutionärer Aktion steht also nicht im Mittelpunkt dieser Beiträge. Ein solches Herangehen erscheint vertretbar, da in den vorhandenen Darstellungen der Geschichte Rußlands die Aktionen der Dekabristen, die Tätigkeit der Geheimgesellschaften, ausführlicher dargestellt worden sind 3 , während die Ideologie der Dekabristen - vor allem in ihren internationalen Aspekten — bisher nicht mit gleicher Intensität erforscht wurde. Dem Heranreifen der ersten revolutionären Situation in der Geschichte Rußlands, dem Entstehen der revolutionär-demokratischen Ideologie und der revolutionären Aktion in der Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus sind vier Beiträge gewidmet. Der erste gibt sowohl einen Forschungsüberblick als auch eine Periodisierung sowie eine regional und inhaltlich-ideologisch orientierte Übersicht über die ständig an Breite gewinnenden bäuerlichen Klassenkämpfe in der ersten Hälfte des 19. Jh., die es für die herrschenden feudalen Kreise schließlich unmöglich werden ließ, in der bisherigen Form weiterzuregieren. Der zweite untersucht die ideologischen Wurzeln, die Suche nach dem richtigen Weg für die als notwendig erkannten sozialen Re2

3

Vgl. V. I. Buganov, K voprosu o geografii Vtoroj Krest'janskoj vojny v Rossii, in: Istoriceskaja geografija Rossii XII - naialo XX v., Moskau 1975, S. 97 ff. Vgl. Geschichte der UdSSR, Bd. I, zweiter Halbband, Berlin 1962, S. 717ff.; Geschichte der UdSSR von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1977, S. 81 ff.

Einleitung

XI

formen in Rußland für die dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jh., wobei sowohl die eigenen russischen als auch die gesamteuropäischen Erfahrungen vor allem im Zusammenhang mit dem Heranreifen und dem Ausbruch der Revolution von 1848/49 im Mittelpunkt stehen. Der folgende Beitrag gibt einen beeindruckenden Überblick über die vielen neuen Probleme und Aspekte, die sich bei der systematischen Erforschung der revolutionären Situation von 1858 bis 1861 und der revolutionär-demokratischen Bewegung jener Jahre für die sowjetische Geschichtswissenschaft ergeben haben. Der vierte Beitrag führt bis zur revolutionären Situation von 1881. Es wird die Bedeutung der Ideologie und der revolutionären Aktivität im Wirken der revolutionären Narodniki der siebziger Jahre herausgearbeitet, zugleich werden die objektiven Ursachen ihres Scheiterns dargelegt. In den drei Beiträgen, die der revolutionären Bewegung in Rußland zur Zeit des Imperialismus gewidmet sind, stehen Probleme der Hegemonie des Proletariats und der Führungsrolle seiner Partei im Vordergrund. Anliegen dieser Beiträge ist es, vor allem die Auswirkungen der revolutionären Aktivität des russischen Proletariats auf die Bauernschaft und auf andere Schichten herauszuarbeiten, die als Bundesgenossen für die heranreifende bürgerlich-demokratische Revolution und später ihrer Überleitung in die sozialistische Revolution zu gewinnen waren. Dabei wird deutlich, wie sich die Partei des Proletariats, die Bolschewiki, unter der Führung Lenins im Kampf eine ständig wachsende Autorität erwarb, die sie dann befähigte, als Führungskraft in der siegreichen sozialistischen Revolution aufzutreten. Der abschließende Beitrag zeigt die Konstanten in den bürgerlichen Stellungnahmen zur Oktoberrevolution auf, weist zugleich aber auch auf verschiedene neue Töne in der bürgerlichen Literatur hin, die sich vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges, also etwa seit der Mitte der sechziger Jahre, in steigendem Maße - wenn auch natürlich aufgrund der vorgegebenen antisowjetischen Konstanten von vornherein vergeblich — um überzeugende Alternativen zur marxistisch-leninistischen Sicht der sozialistischen Revolution und ihrer Gesetzmäßigkeit bemüht. Da die vorliegende Publikation sich zwar an einen größeren Leserkreis richtet, zugleich aber wissenschaftliche Problemstellungen im Vordergrund stehen, hielten es Herausgeber und Verlag für richtig, konsequent die wissenschaftliche Transkription in der Schreibung von Eigennamen und geographischen Termini (soweit sie nicht als eingedeutscht zu betrachten sind) zu benutzen. Größere Schwierigkeiten bereitet immer wieder die sinnvolle Übertragung der für die russische Geschichte typischen Termini aus dem sozialökonomischen Leben sowie aus Bereichen der Verwaltung, Kultur usw. Wir haben in allen Fällen, wo eine wörtliche Übersetzung falsche Vorstellungen erwecken kann (z. B. die Übersetzung „Volkstümler" für „Narodniki"), auch dann der Transliteration den Vorzug gegeben, wenn in der deutschsprachigen Literatur eine solche uns nicht adäquat erscheinende Übersetzung verbreitet ist.

BRUNO W I D E R A *

Klassenkämpfe der Bauern in der Alten Rus'

(10. - Mitte 13. Jahrhundert) Ausgangspunkt für eine Untersuchung über die Klassenkämpfe der Bauern in der alten Rus' in der vormongolischen Zeit muß die Analyse der damaligen sozialökonomischen Verhältnisse sein. Die Gesellschaftsordnung in der Rus' vom 10. bis zur Mitte des 12. Jh. wird von der marxistischen Forschung als frühfeudal charakterisiert, während von der Mitte des 12. bis zur Mitte des 13. Jh. voll ausgeprägte feudale Verhältnisse bestanden.1 Neuere Forschungen haben bewiesen, daß in dieser Zeit neben den sich entwickelnden feudalen Verhältnissen innerhalb der Gesellschaft der Alten Rus' auch andere Produktionsverhältnisse bestanden, die zur Urgesellschaft oder zur Sklavenhalterordnung gehören.2 Die Sklaverei hatte sich zu jener Zeit historisch offensichtlich noch nicht völlig überlebt, in Byzanz beispielsweise erhielt sie sich bis zum Untergang des Reiches3, und auch im nachantiken Europa war sie nicht restlos verschwunden/* Lenin gab in seiner Vorlesung .Über den Staat" einen Überblick über die Entwicklung der gesellschaftlichen Organisation von der Urgesellschaft an. Dabei hat er festgestellt, daß sich »die Leibeigenschaft besonders in Rußland, wo sie sich am längsten hielt und die rohesten Formen annahm, in nichts von der Sklaverei" unterscheide.3 Damit ist angedeutet, daß gerade die in der Zeit des entstehenden Feudalismus sich herausbildenden Übergangsformen durchaus nicht immer eindeutig zuzuordnen sind. B. A. Rybakov hat für die frühe Zeit betont, daß Sklavenhalterordnung und Feudalismus sowohl gemeinsame als auch sie unterscheidende Züge tragen.6 Die Gesellschaftsordnung in der Alten Rus' war nicht homogen; sie verband Formen verschiedener vorkapitalistischer Gesellschaftssysteme.7 Die Herausbildung ökonomischer Ungleichheit und der in Klassen gespaltenen Gesellschaft führte zwangsläufig zu sozialen Spannungen, die sich in Klassenkämpfen entladen mußten. Im Prozeß der Durchsetzung des Feudalismus suchten die Grundherren, vor allem * Aus dem Nachlaß bearbeitet von P. Hoffmann. 1 A. P. Novosel'cev/V. T. Pasuto/L. V. Cerepnin, Puti razvitija feodalizma, Moskau 1972,

S. 165 (Beitrag von L. V. Cerepnin).

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Vgl. Ja. N. Scapov, O social'no-ekonomiceskich ukladach v Drevnej Rusi v XI i pervoj poloviny XII v., in: Aktual'nye problemy istorii Rossii epochi feodalizma, Moskau 1970, S. 86. Vgl. H. Köpstein, Die Sklaverei im ausgehenden Byzanz, Berlin 1966. B. Brentjes, Die Sklaverei im nachantiken Europa, in: Ethnographisch-archäologische Zeitschrift 12 (1971, 4), S. 541 ff. V. I. Lenin, Über den Staat, in: Werke, Bd. 29, Berlin 1971, S. 466. Istorija SSSR s drevnejsich vremen do nasich dnej, Bd. I, Moskau 1966, S. 372 (Autor: B. A. Rybakov). Vgl. B. Widera, Entstehung und Entwicklung des Feudalismus in der Rus", in: Klio 53 (1971), S. 333.

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B. Widera

die weltlichen einschließlich des Staates, später auch die geistlichen, den in kollektiven oder privaten Besitz befindlichen Grund und Boden sich anzueignen, die Bauern in ihre Abhängigkeit zu zwingen. Dagegen setzten sich die Bauern zur Wehr, sie suchten, ökonomische Abhängigkeit und daraus erwachsende persönliche Unfreiheit wieder abzuschütteln. Aus dieser sozialökonomischen Lage ergab sich ein für den frühen Feudalismus charakteristisches sowohl kollektives als auch individuelles Verhalten der Bauern gegenüber ihren Grundherren. Die verschiedenen Erscheinungsformen der Klassenauseinandersetzungen spiegeln sich in den zeitgenössischen schriftlichen Überlieferungen wider. Vor allem Aufstände der Bauern und Bauernunruhen wurden von den Chronisten registriert, teilweise auch ausführlicher geschildert, wobei sie - von ihrem Klassenstandpunkt ausgehend - die rebellierenden Bauern als „Räuber" verurteilen. In den uns überlieferten altrussischen Chroniken wird erstmals unter dem Jahr 1024 ein Aufstand erwähnt. Aber schon für das 9. und 10. J h . finden sich Angaben über Protestaktionen gegen Tributerhebung und Steuereintreibung, die sich sowohl gegen ostslawische, als auch gegen warägische und chazarische Fürsten und Kriegsführer richteten. Aus der Schilderung solcher Aktionen ist aber nicht zu erkennen, ob es sich hier bereits um Klassenkämpfe von in der Gemeinde zusammenlebenden freien Bauern handelte: dagegen spricht die Tatsache, daß auch Stammesälteste zur Tributzahlung mit herangezogen wurden. Zu verweisen ist etwa auf die Unterwerfung der Drevljanen durch Igor' und seine Gattin Olga sowie deren Wojewoden Sveneid. 8 945 ließ Olga die Stammesältesten der Drevljanen teils hinrichten, teils an ihre Gefolgsleute als Sklaven verteilen. 9 Ob diese Drevljanen sich ihren neuen Herren weiterhin widersetzt haben, wissen wir nicht, die Chroniken schweigen darüber. Zuvor hatte der Drevljanenbund jedenfalls gemeinsam - sowohl Oberschicht als auch einfache Bauern - gegen die Tributherrschaft Igors, Olgas und Sveneids Widerstand geleistet; in diesen Auseinandersetzungen gab es offensichtlich auf Seiten der Drevljanen noch keine stärker divergierenden Interessen zwischen diesen Schichten. Unter dem Jahr 1024 berichtet die „Povest' vremennych let" von einem großen Aufstand in Suzdal' unter der Führung von Volchven, d. h. von Heidenpriestern, die von den Vertretern der christlichen Kirche als „Zauberer" diffamiert wurden. Im Verlauf dieser Unruhen wurden Vertreter der Aristokratie erschlagen. Großfürst Jaroslav griff mit einer Streitmacht ein und schlug den Aufstand nieder. Die Volchven ließ er entweder hinrichten oder ins Gefängnis werfen. 1 0 Aus diesem Bericht ist nicht zu ersehen, wie weit diese Erhebung eine Kampfaktion von Bauern des Suzdaler Landes war, aber aufgrund ihres allgemeinen Charakters und ihres Umfanges muß eine Beteiligung breiterer bäuerlicher Schichten angenommen werden. Die Niederwerfungsaktion Jaroslavs deutet auf einen über die Stadt Suzdal' offensichtlich hinausgreifenden Aufstand hin. Da zu dieser Zeit im Suzdaler Land noch fiinno-ugrische Bevölkerungsgruppen lebten, die Ves' und die Mer', ist ihre Beteiligung an dieser Auf standsaküon durchaus möglich. Die führende Rolle der Heidenpriester, der Volchven deutet zugleich auf eine gegen die christliche Kirche gerichtete Tendenz dieser Bewegung; in der Chronik heißt es dazu, die Unruhen seien von den Volchven „teuflisch angestiftet" worden. 1 1 Wie weit diese 8

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Povest' vremennych let, in: Polnoe sobranie russkich letopisej (weiterhin: PSRL), Bd. I, Nachdruck Moskau 1962, Sp. 54-59. Ebenda, Sp. 59. Ebenda, Sp. 148. Ebenda, Sp. 147.

Klassenkämpfe der Bauern in der Alten Rus'

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Unruhen im Zusammenhang mit der allgemeinen politischen Situation in der Rus' zu sehen sind, lägt sich aus der Überlieferung nicht feststellen. Seit 1015, dem Tode Vladimirs, stritten sich dessen Söhne Jaroslav (später der Weise genannt) und Mstislav um die Herrschaft, erst 1026 kam es zu einer Übereinkunft über die Teilung des Herrschaftsgebietes, wobei Jaroslav rechts und Mstislav links des Dnepr herrschten. Die „Povest"' kommentiert diese Übereinkunft mit der Feststellung, daß jetzt die Unruhen aufhörten und „große Stille" in das Land einkehrte. 12 Das 11. Jh. ist jene Zeit in der Geschichte der Alten Rus', in der sich die fürstlichen und bojarischen Grundherrschaften allmählich konsolidieren. Damit wuchs die Bedeutung unfreier Arbeitskräfte in der Wirtschaft der Herren; die bisher relativ geringe Zahl von Sklaven reichte nicht mehr aus. Die bisherige relativ leichte Tributabhängigkeit der freien Bauern entsprach immer weniger den Interessen der Herren; es beginnt eine Zeit, in der die freien Gemeindemitglieder in immer drückendere Formen der Abhängigkeit gezwungen wurden, die bis zur Sklaverei gingen. Diese Entwicklung führte zu einer wesentlichen Verschärfung der Auseinandersetzungen, die rasch zu scharfen Klassenkämpfen anwuchsen.13 Diese Entwicklung wurde auch von der Kirche beobachtet, und führende kirchliche Würdenträger nahmen zu diesen Problemen Stellung. Der eifernde Novgoroder Bischöf Luka Zidjata, den Großfürst Jaroslav 1036 in sein Kirchenamt eingesetzt hatte, 14 forderte in einer Predigt die Gläubigen auf: „Stifte keinen Aufruhr, daß du nicht ein Sohn des Teufels genannt werdest." 15 Offensichtlich gab es für diese Mahnung einen realen Hintergrund: Unruhen unter der Novgoroder Stadtbevölkerung und sicherlich auch unter den Bauern des Novgoroder Gebietes; waren doch im 11. Jh. Stadt und Land wirtschaftlich noch nicht scharf getrennt. 16 Ilarion, der erste Metropolit slawischer Herkunft in der Kirche der Rus', flehte in seinem „Gebet für das russische Land" Gott an: „Den Bojaren gib Weisheit!" 17 Auch das kann zumindest als indirekter Hinweis darauf gedeutet werden, daß das Wirken der Bojaren von der abhängigen Bevölkerung nicht widerspruchslos hingenommen wurde. Luka Zidjata wetterte gegen die Aufsässigen, Ilarion appellierte an die Vernunft und Einsicht der Herrschenden; beide wollten Empörung und Ursachen für Unruhen ausschalten, sie propagierten den Lehren der Kirche entsprechend sozialen Frieden. Aber sowohl das Eifern gegen die unruhige und empörte Bevölkerung als auch die Ermahnungen an die Bojaren mußten wirkungslos bleiben. Die Unzufriedenheit der Cholopen und der in Abhängigkeit gezwungenen ehemals freien Gemeindebauern führte in den Jahren 1068 bis 1071 zu verschiedenen großen Aufständen. Recht ausführlich, wenn auch nicht immer ganz eindeutig, berichtet die Chronik über den Aufstand in Kiev 1068. Äußerer Anlaß waren nach der Mitteilung des Chronisten politische Ereignisse. Jaroslavs Söhne Izjaslav, Svjatoslav und Vsevolod herrschten gemeinsam

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Ebenda, Sp. 149; vgl. M. N. Tichomirov, Krest'janskie i gorodskie vosstanija na Rusi X XIII vv„ Moskau 1955, S. 64 ff. Vgl. A. A. Zimin, Cholopy na Rusi, Moskau 1973, S. 143 f. PSRL, Bd. I, Sp. 150. K. Rose, Predigt der russischen orthodoxen Kirche. Wesen - Gestalt - Geschichte, Berlin 1952, S. 120. Vgl. A. V. Kir'janov, Istorija zemledelija Novgorodskoj zemli X-XV vv., in: Trudy Novgorodskoj archeologiceskoj ekspedicii, Bd. II, Moskau 1956, S. 306 ff. K. Rose, Grund und Quellort des russischen Geisteslebens, Berlin 1956, S. 184.

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B. Widera

in der Rus'. Nach einer Niederlage gegen die eindringenden Polowzer flohen sie aus Kiev und wollten die Stadt der Plünderung preisgeben. In Kiev kam es daraufhin zu Tumulten18, bei denen der Novgoroder Bischof Stefan, der gerade in Kiev weilte, von Cholopen erwürgt wurde. 19 Während der Terminus „Cholop" sowohl einen Vertreter der städtischen als auch der dörflichen Unterschicht bezeichnen konnte, deutet die Ermordung des Oberstallmeisters des Fürsten Izjaslav Jaroslavic auf einem Gestüt doch auf eine Aktion der ländlichen Bevölkerung. Auch wenn es dabei heißt, daß die Täter „Leute aus Dorogobuz"20 gewesen seien, dürfte es sich dabei kaum um Städter gehandelt haben. Auch der Überfall von „Räubern" auf das Kiever Höhlenkloster (zwischen 1066 und 1074)21 dürfte weniger kriminelles Verbrechen als Aktion aufständischer Bauern gewesen sein, die ja in der Überlieferung der herrschenden Klassen in der Regel als „Räuber" bezeichnet wurden. Einen Höhepunkt erreichen die Unruhen im Jahr 1071. Unter diesem Jahr berichtet die „Povest'" von Aufständen im Gebiet von Rostov und Beloozero, die - wie 1024 von Volchven geführt wurden. 22 Ein anderer Chronist berichtet, daß die Volchven mit Hilfe von „300 Dummen" das Korn aus den Speichern reicher Frauen genommen hätten. 23 Bezeichnenderweise kennzeichnet der Chronist die diesen Aufstand führenden Volchven als „Smerden", was den bäuerlichen Charakter dieser Bewegung hervorhebt, die Teilnahme von anderen Bevölkerungsschichten aber nicht ausschließt, denn die Chroniknachricht enthält keine weiteren Hinweise auf die soziale Stellung der Aufständischen. Diese uns nur in knappen Berichten überlieferten Erhebungen hatten offensichtlich größeres Ausmaß, denn zu ihrer Niederschlagung mußte Jan Vysatic starke Kräfte einsetzen.24 Im gleichen Jahr 1071 kam es auch in Novgorod und Umgebung zu Unruhen. Die südrussischen Chroniken berichten von einem Aufstand in der Stadt25, die jüngere Fassung der „Ersten Novgoroder Chronik" enthält sogar den Satz: „Und war der Aufstand in der Stadt groß."26 Nach den Chronikberichten stand wieder ein Volchv an der Spitze des Aufstandes. Schließlich berichten die Chronisten, daß Fürst Gleb in die Auseinandersetzungen eingriff und sich mit seiner Druzina auf die Seite des Bischofs stellte, während „alle Leute mit dem Volchv gingen"27. Diese eindeutige Stellung der »Leute" einerseits, des Fürsten und seiner Gefolgschaft andererseits deutet auf eine prinzipielle soziale Auseinandersetzung hin, auch wenn nähere Angaben fehlen. Die knappen und isoliert stehenden Mitteilungen in den Chroniken über Unruhen in einzelnen Städten und Gebieten der Rus' für die Jahre von 1068 bis 1071 lassen insge18

PSRL, Bd. I. Sp. 170-173. Letopisec Novgorodskim cerkvam, zitiert nach: Tichomirov, Krest'janskie . . . vosst., S. 96. 20 Russkaja Pravda, Art. 23 (Pravda der Jaroslavicen, vgl. unten Anm. 61). 21 Das Paterikon des Kiever Höhlenklosters, neu herausgegeben von D. Tschizewskij, München 1963, S. 52; E. Benz, Russische Heiligenlegenden, Zürich 1953. S. 124; vgl. auch Zimin, Cholopy . . . , S. 150. 22 PSRL, Bd. I, Sp. 174-176. 2:1 Letopisec Perejaslavlja Suzdal'skogo, zitiert nach: Tichomirov, Krest'janskie . .. vot., S. 119; vgl. auch Zimin, Cholopy . . . , S. 147 (Literaturangaben in Anm. 16). 21 PSRL, Bd. I, Sp. 175-176. 25 Ebenda, Bd. I, Sp. 180, 181; Bd. II, Nachdruck Moskau 1962, Sp. 170. 2,i Novgorodskaja pervaja letopis' starsego i mladsevo izvodov, Hg. von A. N. Nasonov, Moskau-Leningrad 1950, S. 196 (weiterhin: NPL); PSRL XIII, Nachdruck Moskau 1965, S. 48. 27 PSRL, Bd. II, Sp. 170. 19

Klassenkämpfe der Bauern in der Alten Rus'

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samt den Eindruck entstehen, daß es in jenen Jahren in der gesamten Rus' gärte. Und offensichtlich war die ländliche Bevölkerung an diesen Unruhen aktiv beteiligt. Die sich zuspitzende soziale Lage bildete den Hintergrund für die Ausarbeitung der „Pravda der Jaroslavicen*. Die Fürstentriumvirat Izjaslav, Svjatoslav und Vsevolod sah sich veranlaßt, eine neue, erweiterte Rechtsordnung, eine Art neues Gesetzbuch zu schaffen. Die „Pravda der Jaroslavicen" dürfte also, wie M. N. Tichomirov annimmt, 1072, vielleicht aber auch schon ein Jahr früher, entstanden sein. 28 Sie war jedenfalls kein Akt der Philantropie, auch nicht aus irgendeiner persönlichen Initiative oder aus Zufall entstanden; das Fürstentriumvirat sah sich in einer Situation bedrohlicher sozialer Zuspitzungen dazu gezwungen, neue Rechtsordnungen zu erlassen, um wenigstens etwas sozialen Zündstoff zu beseitigen. Die „Pravda der Jaroslavicen" war eine der Politik von Vsevolod und Svjatoslav entsprechende von der Staatsräson der damaligen Zeit diktierte Maßnahme der Gesetzgebung. Es ist für uns hier nicht von Interesse, wie weit einzelne Bestimmungen dieser Pravda schon vor dieser Zeit als Gesetz wirksam waren - das ist offensichtlich der Fall gewesen.29 Im Vergleich zur älteren „Russkaja Pravda", und das ist für uns wichtig, drohte sie verschärfte Strafen für eine ganze Reihe jetzt exakter gefaßter Strafbestände an, zugleich wurde sie als geltendes Recht der gesamten Rus' deklariert, während die frühere Fassung von Jaroslav in Novgorod erlassen worden war und vor allem für dieses Gebiet galt, auch wenn sie mit der Zeit offensichtlich in anderen Gebieten ebenfalls als Grundlage der Rechtsprechung angewandt wurde. 1072 trafen die drei Fürsten in Vysgorod anläßlich der feierlichen Beisetzung der Gebeine der Fürsten Boris und Gleb in der dort errichteten neuen Kirche zusammen30, möglicherweise kam es bei dieser Gelegenheit auch zu den entscheidenden Absprachen über die neue „Pravda". Trotz mancher Unklarkeiten über die uns interessierenden Vorgänge brachte das Wirken der Söhne Jaroslavs doch offensichtlich eine gewisse soziale Entspannung, Erleichterung für die untersten Bevölkerungsschichten, so daß eine zeitweilige Beruhigung eintrat. Die mit der vollen Durchsetzung des Feudalismus sich notwendigerweise verschärfenden Klassengegensätze konnten aber durch derartige Maßnahmen, wie sie die Söhne Jaroslavs erlassen hatten, nur zeitweilig in den Hintergrund gedrängt werden. Zu Beginn des 12. Jh. brachen sie erneut offen aus und führten 1113 erneut zu einem Aufstand in Kiev. Die knappen und auf einige Äußerlichkeiten beschränkten Angaben des Chronisten31 bieten leider kein ganz klares Bild. Nach dem Tode des Fürsten Svjatopolk Izjaslavic, der vom Verfasser des Paterikons des Kiever Höhlenklosters als habgierig und gewalttätig bezeichnet wird32, brach der Aufstand aus. Die Aufständischen plünderten den Hof des Tausendschaftsführers Putjatin und gingen auch gegen die Juden 28

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Vgl. zur Entstehungszeit die Kommentare in: Pravda Russkaja, Bd. II, Kommentarii, hg. von B. V. Aleksandrov, V. G. Gejman, G. E. Kocin, N. F. Lavrov, B. A. Romanov, MoskauLeningrad 1947, S. 121 ff. (Stellungnahme Tichomirovs dort S. 130); vgl. auch die dieser Datierung entgegenstehenden Angaben bei Zimin, Cholopy, S. 151; ders., Feodal'naja gosudarstvennost' i Russkaja Pravda, in: Istoriceskie Zapiski, Bd. 76, Moskau 1965, S. 248. Vgl. Zimin, Feodal'naja gosudarstvennost', S. 254; L. V. Cerepnin, Obscestvenno-politice skie otnosenija v drevnej Rusi i Russkaja Pravda, in: Drevnerusskoe gosudarstvo i ego mezdunarodnoe znacenie, Moskau 1965, S. 128 ff. PSRL, Bd. I, Sp. 181; Bd. II, Sp. 171; NPL, S. 196. PSRL, Bd. II, Sp. 275 f.; vgl. Tichomirov Krest'janskie . . . vosst., S. 130 ff.; eine Analyse der Quellenlage gibt Zimin, Cholopy . . . , S. 159 ff. Das Paterikon des Kiever Höhlenklosters, S. 149 ff. Klassenkampf

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vor, offensichtlich handelt es sich um jüdische Kaufleute, die im Augenhandel der Alten Rus' eine nicht unbedeutende Rolle spielten. 33 In Sorge wegen eines möglichen Umsichgreifens dieser Unruhen begab sich eine Delegation (wohl der begüterten Schichten der Stadtbevölkerung) zu Vladimir, der später den Beinamen Monomach erhielt, und bat ihn, sofort nach Kiev zu kommen und dort die Herrschaft zu übernehmen, da sonst die Gefahr bestehe, daß die Plünderungen auch auf Kirchen und Klöster sowie auf den Besitz der Fürstenfamilie übergreifen könnten. Vladimir kam dieser Aufforderung nach und war bereits acht Tage nach dem Ableben Svjatopolks in Kiev. Den Aufstand schlug er aber nicht mit bewaffneter Gewalt nieder, sondern er führte Reformen durch. So ordnete er die Herabsetzung von Wucherzinsen an und gab mit seinem Ustav über Zakupen und Choiopen - entgegen der bisherigen Willkür - diesen Formen der feudalen Abhängigkeit vor allem der ländlichen Bevölkerung feste Regeln, die zu einem wesentlichen Bestandteil der erweiterten Fassung der „Russkaja Pravda" wurden. 3 4 Diese Bestimmungen deuten darauf hin, daß am Kiever Aufstand auch besitzlose Schichten der Landbevölkerung des Kiever Gebietes beteiligt gewesen waren. Mit seinen sozialen Maßnahmen erreichte Vladimir jedenfalls eine Besänftigung der rebellierenden ländlichen und städtischen Bevölkerungsschichten, zugleich trug er wesentlich zur Festigung der Feudalordnung bei. Es trat wieder eine gewisse Beruhigung in der südlichen Rus' ein. Der in den Quellen jener Zeit kaum faßbare individuelle, oft nur passive Widerstand der Bauern gegen die feudalen Verhältnisse hörte natürlich nicht auf. Vladimir selbst wußte von der Unzufriedenheit der Bauern; in seiner „Belehrung" riet er seinen Söhnen: „Hindert die Mächtigen daran, einen Choiopen zugrunde zu richten . . . laßt weder eure noch fremde Leute in den Ansiedlungen oder auf den Saatfeldern Schaden anrichten, damit man euch nicht verflucht." Und von sich selbst sagt er hier: „Ferner habe ich keine Kränkung seitens der Mächtigen gegenüber einem armen Bauern . . . geduldet." 35 Die nächste größere in der Chroniküberlieferung faßbare Aufstandsbewegung in der Rus' ergriff 1132 nach dem Bericht der Ersten Novgoroder Chronik das Novgoroder Gebiet; die Bevölkerung erhob sich und vertrieb den Fürsten Vsevolod Mstislavic, einen Enkel Vladimir Monomachs, aus der Stadt. Die Chronik meldet dabei ausdrücklich : „Und die Leute aus Pskov und Ladoga kamen nach Novgorod." 3 6 Über den Ausgang dieses Aufruhrs meldet der Chronist nur, daß Vsevolod erneut sein Amt als Fürst in Novgorod übernommen habe. Es kam aber offensichtlich nur zu einer kurzfristigen Beilegung der Differenzen, denn schon unter dem Jahre 1136 wird in dieser Chronik erneut von Zusammenrottung berichtet, an der auch wieder „Leute aus Pskov und Ladoga" beteiligt waren. Auf einer Volksversammlung (vece) wurde der Fürst abgesetzt, er selbst wurde mit Frau und Kindern sowie Schwiegermutter verhaftet und zwei Monate lang im Bischofshof unter strenger Bewachung gefangen gehalten. Während für die Unruhen des Jahres 1132 eine Beteiligung von Bauern wahrscheinVgl. A. P. Novosel'cev/V. T. Pasuto, Vnesnjaja torgovlja Drevnej Rusi (do serediny XIII v.), in : Istorija SSSR, 1967, Heft 3, S. 88 ff. 3 4 Pravda Russkaja, Bd. II, S. 425 ff., 439 ff.; vgl. Zimin, Cholopy . . . , S. 158 f., 161 ff. 3'J Vgl. Die Belehrung des Vladimir Monomach, zitiert nach: O Bojan, Du Nachtigall der alten Zeit, Berlin 1967, S. 386 f., 394. 2 6 Die erste Novgoroder Chronik nach ihrer ältesten Redaktion (Synodalhandschrift) in deutscher Übersetzung hg. von J. Dietze, Leipzig 1971, S. 57 (russischer Text: NPL, S. 22 f.). 33

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lieh ist, läßt sie sich für den Aufstand 1136 direkt nachweisen. Dem abgesetzten Fürsten wurde u. a. vorgeworfen: „Er beschützt die Smerden nicht." 3 7 Schon im folgenden J a h r kommt es wieder zu einem „großen Aufruhr" in Novgorod, als Vsevolod Mstislavic nach Pskov kam und von dort aus wieder Fürst von Novgorod werden wollte. 3 8 Erneut erhob sich jener Teil der Novgoroder Bevölkerung, offensichtlich die Mehrheit, der Vsevolod als Fürsten ablehnte; seine Anhänger, die eine erneute Berufung durchzusetzen versucht hatten, flohen aus Novgorod nach Pskov, ihr Besitz wurde geplündert. Das läßt darauf schließen, daß Vsevolod vor allem in Teilen der städtischen Oberschicht Anhänger hatte. Die Gründe dafür, daß Vsevolods Herrschaft aber von der Mehrheit der Bevölkerung, offensichtlich nicht nur in der Stadt selbst, abgelehnt wurde, waren wohl in erster Linie die reichen Schenkungen von Grund und Boden mit den dazugehörigen Leuten an Novgoroder Klöster und Bojaren, von denen die erhaltenen Urkunden zeugen. In diesen Urkunden hatte er allen denjenigen, die sich diesen Schenkungen widersetzen sollten, „mit dem Gericht Gottes und des heiligen Georg in dieser Welt und in der Zukunft" gedroht. 3 9 Hier haben wir auch offensichtlich die notwendige Erläuterung zu der oben zitierten Aussage der Chronik: „Er beschützt die Smerden nicht". Nach alledem ist es nicht weiter verwunderlich, daß dieser Herrscher, der so viel für die weltliche Machtentfaltung der Kirche sowie für die Festigung der weltlichen Feudalherrschaft getan hatte, bereits im 12. J h . heilig gesprochen wurde. 4 0 In den vierziger und fünfziger Jahren des 12. J h . wurde der Südwesten der Rus' zum Schauplatz politischer und sozialer Kämpfe. Unter dem Jahr 1144 wird in derHypatiusChronik von einem Aufstand berichtet. 4 1 Aber diese Mitteilungen sind so vage, daß über die treibenden Kräfte und die Ursachen dieses Aufstandes sowie über den Teilnehmerkreis keine näheren Angaben gemacht werden können. Für die erneuten Unruhen 15 Jahre später ist der Chronikbericht weit ausführlicher. Führer des Aufstandes ist diesesmal ein Fürst, Ivan Rostislavic, der den Beinamen Berladnik führt. Ivan Rostislavic war nach Streitigkeiten mit dem Fürsten von Galic in das „pole", in die Steppe, ausgewichen; dort hatte er sich in der Stadt Byrlad (oder Berlad) westlich des Prut festgesetzt. Die Chronik berichtet bezeichnenderweise, daß viele Smerden ihm zuströmten. 4 ' 2 Vieles ist unklar, es gibt eine Urkunde bereits aus dem J a h r 1134, in der sich Ivan Rostislavovic als „knez' Berlads'ky" bezeichnete. 4 3 Seine Anhänger werden in der Chronik als „Berladniki" bezeichnet. 4 4 Es liegt nahe, hier eine Art Vorläufer der Kosaken zu sehen. Die Nachbarschaft mit den Polowzen, mit denen Ivan Berladnik teilweise sogar Verträge abgeschlossen hat, kann eine solche Annahme stützen. Über die Vorgänge 1159 berichtet die Hypatius-Chronik folgendermaßen: Fürst Rostislavic Berladnik zog mit einem Heer von 6 000 Anhängern, Berladniki, gegen Fürst Jaroslav Osmomysl von Galic. Seinen Zug richtete er gegen die Stadt Kucelmin und dann gegen Usicy. Hier liefen 300 Smerden aus dem Heer Jaroslavs zu ihm über. 4 5 37 58

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Ebenda, S. 58 (russ. S. 24). Ebenda, S. 59 (russ. S. 24). Pamjatniki russkogo prava (weiterhin: PRP), Bd. II, Moskau 1953, S. 103, vgl. S. 104. Tichomirov, Krest'janskie . . . vosst., S. 197. PSRL, Bd. II, Sp. 315-317; Tichomirov, Krest'janskie . . . vosst., S. 202. PSRL, Bd. II, Sp. 497. 1134 g. - Gramota Ivana Rostislavovica Berladnika, in: PRP, Bd. II, S. 26. Vgl. PSRL, Bd. II, Sp. 505. Ebenda, Sp. 497.

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Absr Ivan Berladnik war ein Fürst, der als Feudalherr dachte, er strebte nach dem Fürstenthron von Galic und war dafür sogar ein Bündnis mit den Polowzen eingegangen. Als während des Feldzuges die Polowzen ihn verließen, brach Ivan die begonnenen Aktionen ab. Offensichtlich wollte Ivan Berladnik die Volksbewegung für seine fürstlichen Ziele ausnutzen, die Interessen der Smerden blieben ihm letztlich fremd. Er strebte durchaus nicht danach, der Führer einer Volksbewegung gegen den Fürsten von Galic zu werden.46 Die Flucht von Smerden zu den Berladniki und die in der Chronik angeführten Zahlen zeugen davon, daß durch Ivans Aktionen doch eine recht erhebliche Volksbewegung ausgelöst wurde, die aber rasch zusammenbrach, als sich Ivan zurückzog. Jedenfalls berichten die Chroniken nicht mehr von irgendwelchen Aktionen. Unter dem Jahr 1162 berichtet die Hypathius-Chronik lakonisch: „In diesem Jahr starb fürst Ivan Rostislavic, genannt Berladnik, in Seluni (d. i. Saloniki B. W.) und man sagt, daß er den Tod durch Gift gefunden hat." 47 Etwa gleichzeitig war es auch in Kiev wieder zu Unruhen gekommen. Nach dem Tode des Großfürsten Jurij Dologrukij am 15. Mali 1157 wurden in Kiev und in der Umgebung Höfe und Dörfer des Großfürsten sowie seiner Anhänger geplündert und zerstört.48 Wieweit hierbei Aktionen politischer Gegner Jurijs mit im Spiel waren, ist aus dem knappen Bericht der Chronik nicht zu erkennen, durchaus möglich ist, daß diese Bewegung auch soziale Ursachen hatte. Ähnliches ist von den Unruhen in Novgorod 1160 anzunehmen, bei denen der Fürst Svjatoslav Rostislavic erst verhaftet, dann ausgewiesen wurde.49 Nach dem gewaltsamen Tod des Großfürsten Andrej Bogoljubskij 1174 wurde sein Fürstensitz Bogoljubovo bei Vladimir an der Kljazma sowie die Besitzungen seiner Würdenträger (Schwertträger und Posadniki) geplündert.50 Die Novgoroder Chronik fügt diesem Bericht die Aussage hinzu: „Und es gab ¡in diesem Land einen großen Aufruhr und große Not, und viele Männer fielen, so daß sie nicht zu zählen waren."51 Die Novgoroder Verhältnisse mit der Vece-Verfassung boten viele Ansatzpunkte für Auseinandersetzungen und Unruhen. Die rivalisierenden Bojarengruppen suchten ihren Vertreter als Posadnik und einen ihnen genehmen Fürsten durchzusetzen. Aufgrund der in Novgorod herrschenden Verhältnisse suchten sie sich Bundesgenossen in breiteren Bevölkerungsschächten. Vielfach führten solche in ihrem Ansatz auf die Oberschicht beschränkten Auseinandersetzungen um die Besetzung der Novgoroder Staatsämter zu Unruhen, die bis zu Aufständen anwuchsen, in denen auch soziale Probleme Bedeutung erlangten.52 Zu solchen Unruhen kam es nach den Berichten der Novgoroder Chronisten beispielsweise in den Jahren 1184, 1187, 1209, 1218, 1228. Vor allem handelt es sich dabei naturgemäß um Interessen der städtischen Mittelschichten und der Stadtarmut, aber offensichtlich wurden mehrfach auch Teile der Bauernschaft in diese Unruhen mit einbezogen. Daß sich die städtischen Oberschichten in ihren Auseanander46

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Vgl. Tichomirov, Krest'janskie . . . vosst., S. 205; zu den außenpolitischen Aspekten V. T. Pasuto, Vnesnjaja politika Drevnej Rusi, Moskau 1968, S. 194 f. PSRL, Bd. II, Sp. 519. Ebenda, Sp. 489. Ebenda, Sp. 510; in der ersten Novgoroder Chronik findet sich nur ein Hinweis auf die Ausweisung (S. 65, russ. S. 30). Vgl. PSRL, Bd. II, Sp. 592; Bd. I, Sp. 370. Erste Novgoroder Chronik, S. 68 (russ. S. 34). Vgl. V. L. Janin, Novgorodskie posadniki, Moskau 1962, S. 95 ff.

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Setzungen auf breitere Volksschichten zu stützen suchten - Tichomirov spricht in diesem Zusammenhang von .demokratischen" Schichten53 - ist bezeichnend. Die Grundlage dafür ist natürlich das Vorhandensein sozialer Unzufriedenheit, und in diesem Sinne sind die inneren Auseinandersetzungen in Novgorod Spiegelbild von Klassenkämpfen. 54 Vor allem die Ereignisse des Jahres 1228, denen mehrere Hungerjahre vorausgingen, waren eng mit Aktionen der Smerden verbunden. Darauf deutet die - wenn auch in nicht ganz klarer Form - in der Chronik überlieferte Maßnahme des neuen Fürsten Michail Vsevolodovic hin, die nach der Auffassung Tichomirovs folgendermaßen zu übersetzen ist : — „und gab den Smerden Freiheit : für 5 Jahre keine Dan' zu zahlen ; wer in fremdes Land entflohen war, dem befahl er, wer dort lebt, wiie es die früheren Fürsten bestimmt hatten, hat er die Dan'zu zahlen."55 Gerade die Forschungen der sowjetischen Historiker haben die große Bedeutung der Landwirtschaft für das alte Novgorod herausgearbeitet. Bestimmend in der Stadt waren nicht die Großkaufleute, sondern die grundbesitzenden Bojaren. Wie stark Novgorod von der Landwirtschaft in seinen Gebieten abhängig war, wurde unter anderem durch eine ganze Reihe von Birkenrindeurkunden unterstrichen, von denen inzwischen über 500 bei Ausgrabungen in Novgorod gefunden werden konnten. 56 In jener Zeit - es handelt sich um das 12. und den Beginn des 13. Jh. - entwickelte sich der Wirtschaftshof der Novgoroder Sophien-Kathedrale zu einer starken feudalen Grundherrschaft. 57 Es ist also durchaus nicht verwunderlich, daß die Nöte und Bestrebungen der Smerden, der einfachen Bauern, auf die Auseinandersetzungen in der Stadt selbst nachhaltig einwirkten. Die sich über mehrere Jahre hinziehenden Auseinandersetzungen, die 1228 begannen, bezeichnete Tichomirov durchaus mit Recht als Ereignis, die zu den bedeutendsten in der Geschichte der Klassenkämpfe in Rußland zur Zeit der feudalen Zersplitterung gehören. 58 Damit haben wir einen Überblick über die in den Chroniken erwähnten Unruhen bis in die ersten drei Jahrzehnte des 13. Jh. gegeben. Die Berichterstattung ist dabei recht unterschiedlich, von der kurzen, manchmal nur wenige Worte umfassenden Mitteilung reicht sie bis zum in der Chronik-Handschrift mehrere Seiten füllenden Augenzeugenbericht, wobei die Art der Berichterstattung durchaus nicht immer der Bedeutung der Vorgänge entspricht. Und doch erscheint es angebracht, noch einmal summarisch die in den Chroniken, überlieferten Angaben zusammenzustellen: 1024 in Rostov, 1068-1069 in Kiev, 1071 in Novgorod sowie in Suzdal', 1113 in Kiev, 1132, 1136 und 1137 in Novgorod, 1146 und 1156 in Galic, 1157 in Kiev, 1159 in Galic, 1161 in Novgorod, 1175-1177 im Suzdaler Land, 1184, 1209, 1218, 1228-1229 in Novgorod. Das ist die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Zusammenstellung aus den wichtigsten altrussischen Chroniken, der Laurentius- und der Hypatius-Chro53 54 53

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Tichomirov, Krest'janskie . . . vosst., S. 251. Vgl. Ebenda, S. 249. Vgl. Ebenda, S. 263; abweichende Übersetzung bei Dietze, Erste Novgoroder Chronik, S. 100. Vgl. V. L. Janin, Ja poslal tebe berestu, Moskau 1975, S. 105 ff. Ja. N. Scapov, Cerkov' v sisteme gosudarstvennoj vlasti Drevnej Rusi, in: Drevnerusskoe gosudarstvo i ego mezdunarodnoe znacenie, Moskau 1965, S. 288; vgl. B. D. Grekov, Novgorodskij dorn Svjatoj Sofii, in: B. D. Grekov, Izbrannye trudy, Bd. IV, Moskau I960, S. 141 ff. Tichomirov, Krest'janskie . . . vosst., S. 254.

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nik. Noch nicht untersucht, und auf Grund der schwierigen Quellenlage wohl auch kaum umfassend zu beantworten, ist die Frage nach den Anführern der Bauern in ihrem Kampf gegen die herrschenden Feudalgewalten. In den Chroniken werden mehrfach „Volchven" genannt, heidnische Priester, die sich an die Spitze der sozialen Bewegung stellten. In der Rus' hatte bis weit in das 12. Jh. hinein das Christentum die heidnischen Anschauungen auf dem Dorfe noch nicht völlig verdrängt; noch 1227 wurden in Novgorod 4 Volchven verbrannt. 5 9 Es ist offensichtlich nichts Außergewöhnliches gewesen, daß gerade in Notzeiten das Heidentum bzw. nach der vollen Durchsetzung des Christentums auch häretische von den Lehren der offiziellen Kirche abweichende Anschauungen an Einfluß gewinnen konnten. Als Volchvy wurden anfangs Heidenpriester bezeichnet; später ist dieser Terminus auf Anführer der häretischen Bewegung übertragen worden, die von der offiziellen Kirche und den Feudalherren wegen der antifeudalen Grundtendenz ihrer Lehren erbittert bekämpft wurden. Offensichtlich traten als Volchven gerade entschlossene Männer auf, die es verstanden, sich Einfluß und Ansehen zu verschaffen. Nur so ist die Reaktion der Chronisten erklärlich, die sich bemühen, die Volchven in einem ungünstigen Licht darzustellen, als Gaukler, als lächerliche Gestalten. Und doch läßt sich der Einfluß dieser Volchven bis in das 13. Jh. hinein verfolgen. In den Chroniken wurden vor allem Höhepunkte des Klassenkampfes festgehalten, größere Unruhen, Aufstände. Aber diese Ereignisse ragen nur aus den alltäglichen Auseinandersetzungen durch ihr Ausmaß und ihre Konsequenz hervor. Auch in der Zwischenzeit haben die Bauern keineswegs widerstandslos die ihnen von den Grundherren auferlegten Lasten, Steuern, Dienste usw. getragen. Eine letztlich nicht sehr wirksame Form des Protestes der Bauern gegen die feudale Unterdrückung war die Verfassung von Bittschriften, die wiir aus späterer Zeit in großer Zahl haben, in früherer Zeit haben aber die Bauern auch schon, wie Novgoroder Birkenrinde-Urkunden vor allem des 14. Jh. beweisen, zu dieser Methode des Kampfes ihre Zuflucht genommen. 6 0 Belege f ü r das 13. Jh. und die noch weiter zurückliegenden Zeiten sind nicht erhalten, aber das heißt natürlich nicht, daß es damals diese Form der Auseinandersetzung der Bauern mit ihrem Feudalherrn nicht gegeben hat, vor allem, da wir alle höheren Kampfformen aus den erhaltenen Quellen durchaus belegen können: Die Bauern haben den vom Grundherrn eingesetzten Verwalter verprügelt oder erschlagen, sie haben das Getreide und das Vieh des Herrn gestohlen, vor allem Pferde, sie haben den Besitz des Herrn in Brand gesteckt, sein Wohnhaus, seine Scheuern und Ställe, sie plünderten Bienenstöcke, ackerten Feldraine um und entfernten oder versetzten die Grenzmarkierungen, sie flohen - oft mit ihrer ganzen Familie und aller beweglichen Habe - und ließen sich an anderem Ort als Kolonist mit entsprechenden Privilegien nieder. Diese Formen des Widerstandes gegen die feudale Herrschaft spiegeln sich in den Gesetzbüchern, vor allem der „Russkaja Pravda" 6 1 , in den Schenkungsurkunden weltlicher und kirchlicher Feudalherren, in kirchlichen Traktaten, Predigten, Belehrungen und dergleichen in vielfältiger Weise wider. Nicht erfaßt wird von dieser Überlieferung der 59

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Erste Novgoroder Chronik, S. 98; vgl. B. A. Rybakov, Jazyceskoe mirovozzrenie russkogo srednevekov'ja, in: Voprosy istorii 1974, Heft 1, S. 24. Vgl. L. V. Cerepnin, Novgorodskie berestjanye gramoty kak istoriceskij istocnik, Moskau 1969, S. 184 ff.; Janin, Ja poslal . . . , S. 110ff. Wir verweisen vor allem auf die Edition: Pravda Russkaja, Bd. II, da hier die vorliegenden deutschen Übersetzungen mit angeführt sind; eine weitere Ausgabe in PRP, Bd. I, Moskau 1952.

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passive Widerstand, die schlechte oder oberflächliche Ausführung der vom Herrn oder dessen Verwalter befohlenen Arbeiten. Über diese Art des Kampfes schweigen die Quellen, obwohl er offensichtlich durchaus wirkungsvoll gewesen ist. Die Entwicklung des bäuerlichen Klassenkampfes läßt sich recht deutlich an den verschiedenen Fassungen der „Russkaja Pravda", der Erweiterung der von diesem Rechtskodex erfaßten Strafbestände und der Verschärfung der angedrohten Strafen, ablesen. Die älteste Pravda, die 1016 oder 1035/36 als Novgoroder Recht von Jaroslav dem Weisen erlassen worden war 6 2 , spiegelt das russische Recht zur Zeit des Entstehens von Feudalbeziehtmgen wider. Im Mittelpunkt stehen Streitigkeiten unter freien Männern, aber es gibt bereits hier einige Bestimmungen, die den Unfreien betreffen. Im Artikel 17 ist davon die Rede, daß ein Cholop einen „freien Mann" schlägt. Die Erweiterung dieser Pravda durch die Söhne Jaroslavs spiegelt deutlich wider, wie sich in der Zwischenzeit die Feudalverhältnisse entwickelt haben, hier ist der Prozeß der Feudalisierung voll im Gange. Die Artikel 19 bis 21 setzen das Strafmaß für das Erschlagen eines Ognescanin fest, Artikel 22 für einen fürstlichen Tiun, Artikel 23 für einen Oberstallmeister, Artikel 24 für einen fürstlichen Dorf-Starosta, Artikel 25 für einen gewöhnlichen fürstlichen Diener. Wenn sich auch das Aufgabengebiet der hier genannten Personen nicht in jedem Falle klar umreißen läßt - der Ognescanin war wohl eine Art Verwalter im fürstlichen Besitz, der Tiun hatte wahrscheinlich Richterfunktionen, der Starosta ist als ein eingesetzter Dorfältester anzusehen - so ist doch klar, daß es sich um Beauftragte des Fürsten handelte. Die sorgfältige Strafabstufung und die klare Differenzierung des Tatbestandes deuten darauf hin, daß es sich um häufige Vergehen handelte. Die „Erweiterte Pravda", die bereits ein voll entfaltetes Feudalrecht widergibt, war in der alten Rus' außerordentlich weit verbreitet, wie die große Anzahl von Handschriften beweist. Über die Entstehungszeit gibt es keine einheitliche Auffassung, offensichtlich ist sie im 12. oder zu Beginn des 13. Jh. entstanden, die älteste Handschrift ist in einem Kodex (Kormcaja) aus dem Jahre 1282 enthalten. 6 3 Die für die Ermordung fürstlicher Dienstleute hier zusammengefaßten Bestimmungen sind gegenüber der „Kratkaja Pravda" noch erweitert worden. In den Artikeln 3 bis 8 wird festgelegt, daß für den Totschlag eines Mannes des Fürsten die Gemeinde haftet, in der der Tote aufgefunden wurde; Artikel 11 setzt die Strafe für die Ermordung eines fürstlichen Stallmeisters oder Kochs fest, Artikel 12 und 13 für einen Tiun je nach seiner Funktion in dsr fürstlichen Wirtschaft. In der erweiterten Fassung der Pravda ist der Diebstahl von Eigentum des Grundherrn, vor allem von Vieh (Geflügel, Schafe, Rinder, Schweinen) als offensichtlich häufiges Delikt bezeugt. Die Artikel 41 und 42 unterscheiden zwischen dem Diebstahl aus einem Stall bzw. abgeschlossenen Raum oder vom Feld. Im Artikel 45 werden für den Diebstahl fürstlichen Viehs erhöhte Strafen angedroht, wobei es ausdrücklich heißt: „Das sind die Strafabgaben für Smerden, wenn sie dem Fürsten Strafe zahlen". Das Pferd war für die fürstlichen Dienstmannen besonders wertvoll, es ist daher nicht verwunderlich, daß der Pferdediebstahl in den Artikeln 33 und 34 besonders behandelt wird. In einer ganzen Reihe von Artikeln wird festgelegt, wie die Untersuchung bei Diebstahl zu führen ist (Art. 35, 36, 37, 46, 77, u. a.).

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PRP Bd. I, Einleitung zur Russkaja Pravda, S. 74 f. Vgl. Ebenda, S. 75 f.

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Recht umfangreich ist auch die Aufzählung von Verletzungen und Beschädigungen am Eigentum der Feudalherren, so konnte böswillig Vieh, vor allem Pferde verletzt werden (vgl. Artikel 84 der Erweiterten Pravda). Auch die Brandstiftung gehört hierher: Artikel 32 der Kratkaja Pravda nennt die Brandstiftung an einem Bienenstock, Artikel 83 der Erweiterten Fassung das Anzünden einer Scheuer oder eines Hofes. Die Brandstiftung wurde auch in der kirchlichen Gesetzgebung behandelt. 6 4 Ein weiteres häufiges Delikt war offensichtlich das Entfernen, Zerstören oder Versetzen von Grenzmarkierungen oder Eigentumszeichen, die Artikel 71 bis 73 der Erweiterten Pravda befassen sich mit diesen Delikten. Die nicht eindeutigen Angaben in der Birkenrindeurkunde 211 aus dem 13. J h . werden von Cerepnin so gedeutet, daß es sich hier um eine Grenzverletzung gehandelt habe. 6 5 Eine recht häufige Form bäuerlichen Widerstandes war die Flucht. Das weite russische Land bot dazu viele Möglichkeiten. Und die christlichen Autoren dieser frühen Zeit bedauern, daß manche Seele verloren geht, wenn jemand „zu den Heiden flieht" 6 6 . Es wird sich hier vor allem um die überwiegend von finno-ugrischen Stämmen besiedelten nordöstlichen Gebiete des Novgoroder Staatsterritoriums gehandelt haben. Aber auch in den Städten lebten oft Flüchtlinge, die bei anderen Herren Unterschlupf gefunden hatten. So erfuhr sogar Thietmar von Merseburg, daß sich in Kiev Flüchtlinge aus allen Richtungen aufhalten. 6 7 Die Russkaja Pravda enthält in ihren verschiedenen Fassungen zahlreiche Bestimmungen über flüchtige Unfreie und über ihre Rückführung zu ihren Herren. In der Kratkaja Pravda sind das u. a. die Artikel 11, 16, 2 9 ; ein Celjadin verbirgt sich bei einem fremden Herrn (Varjag oder Kolbjag), ein entlaufener oder entführter Celjadin wird von seinem ehemaligen Herrn auf der Straße angetroffen, ein Cholop wird entführt - das sind die Tatbestände, die hier angeführt werden. In der Erweiterten Pravda sind die entsprechenden Bestimmungen wesentlich erweitert worden, insgesamt 9 Artikel befassen sich mit flüchtigen Unfreien (Artikel 32, 56, 112 bis 115, 1 1 8 - 1 2 0 ) , wobei jetzt die Bestimmungen für die verschiedenen Formen der Abhängigkeit (Celjadin, Zakup, Cholop) differenziert sind. Diese doch recht detaillierten Bestimmungen zeugen sehr eindeutig davon, wie weit die Flucht verbreitet war; bezeichnenderweise ist in mehreren Artikeln auch von der Unterstützung der Flucht, vom Verbergen des Geflohenen, die Rede. Dafür wird ebenfalls eine relativ hohe Strafe angedroht. Eine Auswirkung dieser Fluchtbewegung war die Kolonisation, die vor allem in von der feudalen Landwirtschaft noch nicht voll erfaßte Gebiete ging. Die schriftliche Überlieferung gibt uns wertvolle Hinweise auf diese Kolonisationsgebiete. In der „Klage vom Untergang des russischen Landes", einem wohl in der Mitte des 13. J h . entstandenen Denkmal, von dem nur der einleitende Teil in zwei Handschriften überliefert ist, wird die Grenze des russischen Gebietes umrissen, die Grenzen jenes Gebietes, in dem der „rechtmäßige christliche Glaube" herrscht. Dieses Gebiet wird begrenzt von Ungarn, Polen, Tschechen, Jatwingern, Litauern, Deutschen, Kareliern, dem Gebiet von Ustjug, „wo die heidnischen Toimitschen siedelten", es erstreckt sich bis zum Eismeer, von dort dann bis zu den Bolgaren, Burtassen, Tscheremissen und Mord6/1 65

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Ja. N. Scapov, Knjazeskie ustavy i cerkov' v Drevnej Rusi, Moskau 1972, S. 294. Cerepnin, Novg. berest. gramoty, S. 206 ff.; vgl. A. V. Arcichovskij/V. M. Borkovskij, Novgorodskie gramoty na bereste 1956-1957 gg., Moskau 1963, S. 32 f. Tichomirov, Krest'janskie . . . vosst., S. 162. Thietmar von Merseburg, Chronik ( = Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters IX), Berlin o. J„ S. 474 (Liber VIII, 32).

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winen. 68 Einer Mitteilung der „Povest' vremennych let" zufolge, gelangten Novgoroder Pelztierjäger schon gegen Ende des 11. Jh. bis in das Uralgebiet. 69 Die Erste Novgoroder Chronik berichtet davon, daß 1187 an der Petschora Novgoroder Tributeinnehmer getötet wurden. 70 Gegen die Jugren führte Novgorod 1193 einen erfolglosen Krieg. 71 Im Vertrag Novgorods mit dem Fürsten Jaroslav Jaroslavic aus dem Jahr 1264/65 werden u. a. die Gebiete von Perm, an der Petschora und das Gebiet der Jugren als Provinzen Novgorods bezeichnet, in denen der Fürst und dessen Frau keine „Dörfer und Sloboden" errichten durfte. 72 Kolonisten gelangten nach Karelien und bis auf die Halbinsel Kola. Die Novgoroder Chronik nennt unter den in der Schlacht an der Lipica Gefallenen auch einen Tributeinnehmer vom Terskij-Ufer (der südlichen Küste der Halbinsel Kola). 73 Die Kolonisationsbewegung nach Süden, in die südrussische Steppe, traf auf die Polowzer, so daß die dort entstandenen Siedlungen in der ersten Hälfte des 12. Jh. wieder verloren gingen. Auch die für das 13. Jh. an der Donmündung und auf der Krim nachweisbare slawische Besiedlung hatte keinen Bestand.74 Günstigere Bedingungen fand die bäuerliche Kolonisation, die ja vorwiegend von flüchtigen Bauern getragen wurde, in den fruchtbaren Gebieten von Vladimir-Suzdal' und Rjazan. 75 Diese Gebiete wurden rasch zu einer Kornkammer der Alten Rus' 76 . Die bäuerliche Kolonisationsbewegung erfaßte alle Gebiete innerhalb der Rus' und griff auch nach allen Richtungen über die Grenzen der Rus' hinaus. In den neuen Siedlungsgebieten bauten sich die Bauern Höfe auf, sie gewannen durch Waldrodung oder Umbruch des Steppenbodens Ackerland; sie bauten sich eine Existenz als freier Bauer auf. Und der persönlich freie Bauer sollte noch lange Zeit in der russischen Gesellschaft eine beachtenswerte Realität bleiben. 77 Wie die Sudebniki des 15. und 16. Jh. beweisen, war selbst zu dieser Zeit der freie Bauer, hier als „dobryj chrest'janin", als „lutsi chrest'janin" oder als „cernyj krest'janin", bezeichnet78, noch vorhanden. Fak68

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Die Klage vom Untergang des russischen Landes, übers, v. K. Müller, in: O Bojan, Du Nachtigall..., S. 170 f. PSRL, Bd. I, Sp. 234, 235. Erste Novgoroder Chronik, S. 72. Vgl. Ebenda, S. 74 f. Pervaja gramota Novgoroda s velikim knjazem Jaroslavom Jaroslavovicem, in: PRP, Bd. 2, S. 136. PNL, S. 57; Dietze übersetzt fehlerhaft „T'r'skij dannik" als „Tributeinnehmer aus Tver'" (S. 89 f.); vgl. weiterhin: I. F. Usakov, Kol'skaja zemlja, Murmansk 1972, S. 26 sowie Janin, Ja poslal . . . , Karte S. 63. Trudy Volgo-Donskoj archeologiceskoj ekspedicii, Bd. I, Moskau 1958, S. 242, 259, 337 ff.; Istorija i archeologija srednevekogo Kryma, Kiev 1958, S. 93; N. N. Lisicyna, Archeologiceskie issledovanija v RSFSR v 1953 g., in: Soobscenija instituta istorii material'noj kul'tury, Bd. 61 (1959), S. 128; B. Widera, Zur ostslawischen Kolonisation in der vormongolischen Rus', in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 7, 1962, S. 259 ff. E. Gorjunova, fitniceskaja istorija Volgo-Okskogo mezdurec'ja, Moskau 1961, S. 185 ff.; A. L. Mongajt, Rjazanskaja zemlja, Moskau 1961, S. 254 ff. Vgl. B. Widera, Beginn und Umfang der deutschen Getreideeinfuhr in die vormongolische Rus', in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1963, Bd. II, S. 99; Mongajt, Rjazanskaja zemlja, S. 258 ff.; O. G. Bol'sakov/A. L. Mongajt, Putesestvie abu Chamida al-Garnati v vostocnuju i central'nuju Evropu (1131-1153), Moskau 1971, S. 35. Vgl. Cerepnins Beitrag in: Novosel'cev/Pasuto/Cerepnin, Puti razvitija . . S . 170. Vgl. Sudebniki XV-XVI vekov, Moskau 1952, S. 159, 353 f., 362, 383, 392, 396, 441.

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tisch blieb, wie die neuere Forschung erwiesen hat, noch lange Zeit selbst in den von der feudalen Grundherr Schaft erfaßten Gebieten eine größere Zahl völlig selbstständig wirtschaftender Bauern, sogenannter „schwarzer Bauern" bestehen. 7 9 Ein Bauet ist an eine seßhafte Lebensweise gebunden, und so lange ihm die feudalen Lasten tragbar erschienen, trug er sie auch, wenn wohl oft nur murrend. Aber das russische Land mit seinen weiten, zu jener Zeit nur dünn besiedelten Randzonen bot dem russischen Bauern jederzeit die Möglichkeit des Ausweichens. Offensichtlich waren doch die Feudalherren auch immer wieder gezwungen, diesen Möglichkeiten Rechnung zu tragen, vor allem in Jahren der Mißernte oder anderer Schwierigkeiten zumindest in gewissen Grenzen die Lebensinteressen der Bauern zu berücksichtigen. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß das altrussische Recht keine Todesstrafe kannte 8 0 . Das besagt natürlich nicht, daß es in der Rus' keine Hinrichtungen gegeben habe. Mord und Totschlag spielten in den Fürstenfehden eine große Rolle, fürstlicher Willkür fielen oft unschuldige Menschen zum Opfer 8 1 ; nach der Niederschlagung von Aufständen wurden mehrfach, wie in den Chroniken berichtet wird, die führenden Volchven hingerichtet; aber das waren unmittelbare Vergeltungsmaßnahmen, nicht Vollstreckung eines Urteilspruchs. Das Recht sah für Vergehen aller Art nur Geldstrafen vor, selbst ein Totschlag wurde mit einer Geldstrafe abgegolten. J e nach der gesellschaftlichen Stellung des Erschlagenen waren die Geldstrafen gestaffelt. Die Russkaja Pravda sah in ihrer kurzen Fassung beispielsweise vor: für das Erschlagen eines Ognescanin eine Buße von 80 Grivnen, die gleiche Summe auch für einen Tiun, für einen Dorfältesten aber nur 12 Grivnen. 8 2 Brandstiftung wurde nach der erweiterten Fassung der Russkaja Pravda mit Konfiszierung des Vermögens und Verbannung des Täters bestraft 8 3 (in der kurzen Fassung war diese Straftat noch nicht mit einbezogen). In der Urfassung des Kirchenustavs Jaroslavs war im Artikel 14 vorgesehen, daß der Brandstifter außerdem noch eine Kirchenbuße von 40 Grivnen zu zahlen hatte, ehe er dem Gericht des Fürsten übergeben wurde. 8 4 Für die Entfernung oder Beschädigung von Grenzzeichen wurde in beiden Fassungen der Russkaja Pravda eine Geldbuße von 12 Grivnen festgelegt. 8 5 Die Hilfe bei der Flucht Unfreier wurde dagegen nur mit 3 bis 6 Grivnen bestraft. 8 6 Von unserem heutigen Standpunkt aus erscheint es merkwürdig, daß Menschen mit geringem Vermögen, wie es die abhängigen Bauern in jedem Falle aber doch wohl auch die meisten persönlich freien Bauern waren, zu hohen Geldstrafen verurteilt wurden. Eine Erklärung dafür ist aber gegeben, wenn man beachtet, daß diese Strafen nicht vom Täter, sondern von der Gemeinde als Ganzes zu zahlen waren; es bestand die Haftung der ganzen Gemeinde für jedes einzelne Mitglied. 8 7 79

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G. E. Kocin, Sel'skoe chozjajstvo na Rusi XIII - nacala XVI veka, Moskau 1965, S. 367; vgl. B. Widera, Der freie Bauer in der vormongolischen Rus', in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus, Bd. I, Berlin 1977, S. 135 ff. B. A. Romanov, Ljudi i nravy Drevnej Rusi, Moskau 1966, S. 132; S. V. Juskov, Istorija gosudarstva i prava SSSR, Moskau 1950, S. 122. Vgl. Romanov, a. a. O., S. 134. Pravda Russkaja, Art. 19, 22, 23, 24. Ebenda, Art. 83, S. 587. Scapov, Knjazeskie ustavy . . . , S. 294. Kratkaja Pravda, Art. 34, Prostrannaja Pravda, Art. 73. Vgl. Kratkaja Pravda, Art. 11, Prostrannaja Pravda, Art. 112-115. Kratkaja Pravda, Art. 20, Prostrannaja Pravda, Art. 70, 77.

Klassenkämpfe der Bauern in der Alten Rus'

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Mit der Durchsetzung der Feudalordnung veränderten sich die Bedingungen f ü r den bäuerlichen Klassenkampf. Die Stärkung der bojarischen Grundherrschaft führte zu einem wachsenden Gegensatz zwischen Fürst und Bojarenaristokratie. Diese Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Klasse, wie sie f ü r die Zeit der feudalen Aufsplitterung charakteristisch sind, haben in der russischen Chronistik einen recht breiten Niederschlag gefunden. Diese Kämpfe wurden natürlich weitgehend auf dem Rücken der Bauern ausgetragen; zwar bemühten sich einerseits sowohl Fürsten als auch Bojaren darum, in gewissen Grenzen die Unterstützung ihrer Untertanen in diesen Auseinandersetzungen zu gewinnen, das führte aber andererseits dazu, daß im Zuge dieser Feudalfehden jeder auch die Untertanen des anderen mit ausplünderte. Diese Entwicklung findet auch in der Literatur ihre Widerspiegelung. Vladimir Monomach war in seiner „Belehrung" bemüht, das Bild eines „guten Herrschers" zu zeichnen. 88 Auch die Kirche prangerte das Streben der Mächtigen nach Reichtum und Grundbesitz an. In dieser Hinsicht bemerkenswert sind einige Angaben in einer kirchlichen Schrift jener Zeit, den Fragen des Kirik an den Bischof von Novgorod, ein Denkmal, das wohl um 1136 entstanden ist. Auf die Frage Kiriks nach den Abgaben der Bauern an die Grundherren antwortete der Bischof: „Seid barmherzig, nehmt wenig Zinsen." 89 Etwa 1166 hielt der Erzbischof Elias-Johann von Novgorod eine Predigt, in der er die anwesenden „Brüder" aufforderte, „halbe Bußen von den unfreien Knechten" zu nehmen und diese „nicht zu sehr mit dem Gesetz zu beschweren". Er verwies in diesem Zusammenhang darauf, daß der Metropolit der Kirche der Rus' Ioan IV (1164 bis 1166) eine „ungerechte Anhäufung von Hab und Gut" verboten habe, „weil ungerechter Überfluß keinem nötig ist." 90 Kliment Smoljatic (um 1147) predigte gegen diejenigen, die Ruhm suchen, Dörfer an Dörfer reihen und Srjabry und Izgoj zu erwerben suchen. 9 1 Varlaam aus dem Kloster Chutyn bei Novgorod (gestorben 1193) lehrte „die Würdenträger und Richter, gerecht zu richten und auch den Geringsten unter ihren Brüdern nicht Unrecht zu tun mit Räuberei." Er hielt ihnen vor, daß es auch f ü r sie „einen Richter und Herrn im Himmel" gibt, denn es heißt in der Bibel: „Mit welchem Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welchem M a ß ihr messet, wird euch gemessen." 9 2 Nach dem Tatareneinfall hielt Bischof Serapion von Vladimir eine Predigt, in der er auf das durch die Mongolen-Tataren drohende Unheil hinwies. Er erklärte: „Der Neid hat sich vermehrt, die Bosheit beherrscht uns, der Stolz hat unseren Verstand ausgehöhlt, der Haß gegen unseren Nächsten hat sich in unsere Herzen eingenistet, und eine unersättliche Habsucht hat uns versklavt, sie läßt uns nicht barmherzig sein, sie hindert uns, Barmherzigkeit an den Waisen zu üben, sie läßt nicht zu, daß wir erkennen, was menschlich ist. Wie die wilden Tiere gierig sind, sich mit Fleisch zu sättigen, so begehren auch wir und hören nicht auf, danach zu trachten, alle anderen zu verschlingen, um ihr mit Bitterkeit und Blut besudeltes Eigentum an uns zu reißen." 9 3 Diese Ermahnungen, Belehrungen sind zwar von religiösen Motiven getragen, ge83 89

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O Bojan, Du Nachtigall . . . , S. 381 ff. Kiriks Fragen an den Bischof Nifont, in: L. K. Goetz, Kirchenrechtliche und kulturgeschichtliche Denkmäler Altrufjlands, Stuttgart 1905, S. 217. Ebenda, S. 354, 363, 379. N. Nikol'skij, O literaturnych trudach metropolita Klimenta, S. Petersburg 1892, S. 104; vgl. B. D. Grekow, Die Bauern in der Rus von der ältesten Zeit bis zum 17. Jh., Bd. I, Berlin 1958, S. 215 f. Benz, Russische Heiligenlegenden, S. 273. Rose, Predigt..., S. 127.

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B. Widera

ben aber doch einen Einblick in die realen Verhältnisse jener Zeit - die Willkür der Machtausübenden gegenüber den rechtlosen Volksmassen. Der Versuch, durch Belehrungen diese Willkür einzugrenzen, einen sozialen Frieden erreichen zu wollen, war illusorisch; und in entscheidenden Augenblicken hat die Kirche nie versäumt, sich auf die Seite d e Macht zu stellen. Die bäuerlichen Klassenkämpfe in der vormongolischen Rus' zeigen verschiedene Spezifika der allgemeinen Entwicklung. Die Einzelaktionen von Bauern gegen Willkür der Herrschenden sind meist nur indirekt zu erfassen, sie spiegeln sich wider in den Rechtsdenkmälern der Zeit, vor allem in den verschiedenen Fassungen der Russkaja Pravda und in der Kirchengesetzgebung, aber auch in der kirchlichen Literatur, in den Predigten und Belehrungen. In den Chroniken wurden meist nur die größeren Aufstände verzeichnet, die sich überwiegend auf die Städte konzentrierten, aber nachweisbar in vielen Fällen die dörfliche Bevölkerung der Umgebung mit einbezogen, teilweise sogar vom Dorf ausgingen. Weiteres Quellenmaterial über bäuerlichen Widerstand ist vor allem von den Birkenrinde-Urkunden zu erwarten, von denen einige für das 14. und 15. Jh. recht bezeichnende Aussagen bieten, vor allem, da diese Quellen aus bäuerlichen Kreisen direkt kommen, während alle anderen uns über die bäuerlichen Klassenkämpfe des frühen und hohen Mittelalters in der Rus' zur Verfügung stehenden Quellengattungen die bäuerliche Widerstandsbewegung mit den Augen der Herrschenden schildern. Wenn auch damit diese Bewegung und vor allem die Motive dieser Bewegung verzerrt werden, die Tatsachen selbst lassen sich nicht verschweigen: Der bäuerliche Widerstandskampf hat auch in der alten Rus' wesentlich die Beziehungen der Klassen zueinander bestimmt, hat wesentlich die Herausbildung der russischen Variante der Entwicklung der feudalen Gesellschaft beeinflußt.

VLADIMIR TERENT'EVIÖ

PASUTO

Ethnische Vielfalt und Klassenkampf in der Alten Rus'

Die Geschichte der Klassenkämpfe in Rußland vor der Epoche der Bauernkriege wird in der Regel ohne Berücksichtigung des Mitwirkens der werktätigen Massen anderer Nationalitäten des russischen Staates dargelegt. Diese Tradition ist aber kaum als richtig zu bezeichnen. In der frühen Etappe der bäuerlichen Protestbewegung, wie sie im Beitrag von Widera im vorliegenden Band ausführlicher dargelegt ist, und auch in den städtischen Aktionen jener Zeit lassen sich zwar weniger ausgeprägt, aber doch klar genug erkennbar antifeudale Aktionen anderer Nationalitäten nachweisen, die chronologisch mit den Aufständen in der Rus' 1060 bis 1070, 1130, 1180 und in anderen Jahren zusammenfallen. Diese Gleichzeitigkeit ist natürlich nicht zufällig. Die Geschichte des europäischen Teiles Rußlands im Mittelalter zeigt deutlich, daß die Alte Rus' den Kern bildete. Sie besaß sowohl territorial als auch ökonomisch, politisch und kulturell ein klares Übergewicht, das sich schon in vorstaatlicher Zeit herausgebildet hatte, also in jenen Zeiten, in denen slawische Siedler die weite osteuropäische Tiefebene in Besitz nahmen. Die sowjetische Forschung hat im Geiste des Internationalismus sowohl die Hauptetappen der sozialökonomischen Entwicklung der eigentlichen Rus' als auch der von ihr abhängigen Völkerschaften erforscht.1 Wenn wir einen Blick auf die Karte der Alten Rus' zur Zeit von Vladimir Svjatoslavic (10./11. Jh.) werfen, dann stellen wir leicht den unterschiedlichen Charakter der Grenzen der Rus' fest. Nur auf einer relativ kleinen Strecke handelt es sich um echte Staatsgrenzen, d. h. um die Grenze der Rus' zu einem anderen selbständigen Staat, zu Ungarn, zu Polen und vielleicht auch zu Böhmen; an allen anderen Grenzen hatte die Rus' Völker als Nachbarn, die entweder noch keine staatliche Organisation besaßen oder aber nur deren Anfangsformen kannten. Eine weitere Besonderheit dieser Grenzen war es, daß die meisten dieser Völkerschaften in der einen oder anderen Weise von der Rus' politisch abhängig waren. Die von diesen Völkerschaften besiedelten Gebiete waren weit größer als das eigentliche Territorium der Rus'. Zum allrussischen Großreich gehörten 22 verschiedensprachige Völkerschaften. Der sich ständig vertiefende progressive Einfluß der eigentlichen Rus' auf die von ihr abhängigen Völkerschaften ist unbestritten. Gerade diese Besonderheit in der Struktur war für die Beständigkeit dieses Staates mit ausschlaggebend. Chronologisch kann man für die Formierung des altrussischen Staates mit seinem 1

Vgl. Ocerki istorii SSSR. Krisis rabovladel'ceskoj sistemy i zarozdenie feodalizma na territorii SSSR III-IX vv., Moskau 1958; Geschichte der UdSSR, Feudalismus 9.-13. Jh., Bd. I, 1, Berlin 1957.

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multinationalen Bestand etwa die Zeit von der Regierung Vladimir Svjatoslavics (980 bis 1015) bis zur Herrschaft Vladimir Monomachs ( 1 1 1 3 - 1 1 2 5 ) ansetzen. Gerade in jener Zeit wurde dem christlichen Monarchen der eigentlichen Rus' der Titel „Samovlastec" (Alleinherrscher) 2 beigelegt, in dieser Zeit hatte sich der Kreis jener Völkerschaften, die in die Kiever Rus' einbezogen wurden, im wesentlichen abgegrenzt. Diese vielschichtige Struktur des altrussischen Staates ist nicht plötzlich entstanden, sie hatte weit zurückreichende historische Wurzeln. Die sowjetische Forschung hat für die Aufhellung dieser Zusammenhänge wesentliches geleistet. Die historisch entstandene Ungleichmäßigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung bei den einzelnen Völkerschaften des Landes ergab als ökonomische Basis des Altrussischen Staates eine naturbedingte geographische Arbeitsteilung. Das Kerngebiet dieses Staates war die Alte Rus', sie bildete bei aller Unterschiedlichkeit der natürlich-geographischen Faktoren in sich ein relativ geschlossenes Gebiet mit einer feudalen entwickelten Landwirtschaft. Aber selbst innerhalb der Rus' war die Agrarstruktur durchaus nicht einheitlich. Es gab Fruchtwechselwirtschaft, Brandwirtschaft, Brachlandwirtschaft. Andere zur Rus' gehörende Völker hatten den Weg der feudalen Entwicklung gerade erst beschritten, nach dem Niveau ihrer Wirtschaft kann man sie, natürlich nur mit Vorbehalten, in einige in sich annähernd gleichartige Gruppen unterteilen. Da sind an der Ostseeküste die Landwirtschaft treibenden Völker (Pruzzen, Litauer, Letten, Esten, Woden, Ishoren); im Süden die nomadisierenden Viehzüchter der Steppe (Petschenegen, Torken, Polowzen); im Norden die Jäger- und Fischervölker der Korelen, Loparen (Lappen, Saamen), die Komi, Chanten (Ostjaken) und Mansen (Wogulen); unterschiedliche Wirtschaftsformen finden wir bei den Völkern des Wolgagebiete:;, den Tscheremissen-Mari, den Mordwinen, den Burtassen, den Wjadinen sowie den Völkern des nördlichen Kaukasusgebietes, den Osseten und Obesen. Gleich zu Beginn des Übergangs von losen Vereinigungen der Gebiete zum frühfeudalen Staat rissen Vertreter der altrussischen Oberschicht die Macht an sich. Obwohl die Errichtung und Durchsetzung von Institutionen der neuen, staatlichen Ordnung vom slawischen Adel getragen wurde, entstand und entwickelte sich der Altrussische Staat ethnisch nicht einheitlich. Die Erklärung dafür muß man in den recht komplizierten Erscheinungen der slawischen vorstaatlichen Kolonisation und im staatlichen Zusammenschluß der Gebiete der slawischen Konföderation sehen; einige unterstanden einer fremden Macht, andere standen in Bündnisbeziehungen mit nichtslawischen Gebieten, etwa die Kriwitschen mit den Litauern, die Slowenen mit den Esten usv/. Mit der Vereinigung der slawischen Gebiete erfaßte die Macht des Staates auch sofort einige nichtslawische Territorien. Die slawische Kolonisation führte nicht zu einer Assimilierung anderer ethnisch und ökonomisch stabiler Völkerschaften, ganz im Gegenteil. Im baltischen Gebiet vereinigten sich die estnischen Gebiete zum „Tschudischen Land", die Gebiete Aukstaiten, Schamaiten und Jatwingen zum litauischen Staat; merklich festigte sich auch Lettgal2

Vgl. Povest' vremennych let (PVL), Bd. I, Moskau-Leningrad 1950, S. 101; dt. Die altrussische Nestorchronik Povest' vremennych let, in Übersetzung hg. von R. Trautmann, Leipzig 1931, S. 108 (u. d. J. 1036); weiterhin M. N. Tichomirov, Maloizvestnye pamjatniki, in: Trudy otdela drevnerusskoj literatury, Bd. XVI, Moskau-Leningrad 1960, S. 455; B. A. Rybakov, Russkaja epigrafika X-XIV vv., in: V mezdunarodnyj s"ezd slavistov. Istorija, fol'klor, iskusstvo slavjanskich narodov, Moskau 1963, S. 58.

Ethnische Vielfalt und Klassenkampf

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len; im Wolgagebiet kam es zu einer Konsolidierung der Mordwinen und der Tscheremissen (Mari); im Norden, im Gebiet von Perm und Pecora entstand das Volk der Komi; als eigenes Gebiet festigte sich das Land K a r d i e n ; weiter entfernt lebende ethnische Gruppen wie die Loparen (Lappen-Saamen), die Samojeden (Nenzen), die Jugren (die späteren Chanten und Mansen) entwickelten sich weiter. Die in ihrem Wesen grundsätzlich progressive ethnische Konsolidierung verschiedener Völkerschaften in Osteuropa reicht folglich bis in die Zeit des Altrussischen Staates zurück. Bestimmend f ü r die Beziehungen der Rus' zu den verschiedenen Völkerschaften waren progressive Einflüsse, die in unterschiedlicher Weise spürbar wurden. Dieses grundsätzlich wichtige Problem wurde in den letzten zwanzig Jahren von Archäologen und Historikern eingehender erforscht. Das dabei erschlossene umfangreiche bisher von der Forschung aber noch ungenügend ausgewertete Material beweist überzeugend, daß der Hauptheld der in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends mächtig vorandrängenden wirtschaftlichen Kolonisation in der osteuropäischen Tiefebene der slawische Bauer w a r ; der wirtschaftliche Fortschritt zeigte sich darin, daß den Viehzüchtern, den Jägern und Sammlern der Ackerbau vermittelt wurde. Die Herausbildung von Zentren des Handwerks und des Handels in den nationalen Gebieten förderte ihre ethnische Konsolidierung. 3 Die slawisch-finno-ugrische, die slawisch-türkische und die slawisch-baltische Symbiose wird von den Archäologen als ein langer, Jahrhunderte währender Prozeß nachgewiesen. In den Arbeiten von E. I. Gorjunova, S. A. Pletneva, V. V. Sedov, H. A. Moora und anderer werden Siedlungsschichten mit gemischten Formen der materiellen Kultur nachgewiesen, bei denen sich eine allmähliche Konsolidierung von Völkerschaften auf einem klarer abgegrenzten Territorium verfolgen lassen. Hervorzuheben ist, daß nicht das normannische Element, sondern das slawische Träger dieses Konsolidierungsprozesses war. Mit der Festigung des Altrussischen Staates beschleunigte sich dieser Prozeß auf dem gewaltigen Territorium vom Finnischen Meerbusen bis zur Donau, vom Weißen Meer bis zur Wolga und zum Don. Er nahm die Form einer klassengebundenen feudalen Organisation an, deren wichtigste Elemente die Tributabhängigkeit, der Handel und die Christianisierung waren. Natürlich war der Grad der Abhängigkeit der verschiedenen Völkerschaften gegenüber dem Staat der Rus' recht unterschiedlich und veränderlich; bei der Spärlichkeit der Quellen sind genauere Angaben dazu kaum möglich. An der Spitze des Stammes oder einer Völkerschaft stand die eigene Oberschicht, der Stammesadel. Die russischen Fürsten und Bojaren stützten sich auf diesen Stammesadel; als häufigste Form der Ausbeutung der Ackerbauern wurde ein in der eigentlichen Rus' bereits überlebter Tribut erhoben (obwohl auch hier die alte Terminologie „ d a n " weiter in Gebrauch blieb). Die Formen dieses Tributs waren vielfältig, sie hingen von der wirtschaftlichen Entwicklung des betreffenden Gebietes ab. In der Rus' betrachtete man damals - wie in Europa allgemein - den Tribut als eine natürliche Quelle von Staatseinnahmen, als eine Form der Feudalrente. Mit der Konsolidierung der Völkerschaften und der Taufe der heidnischen Oberschicht wurde diese immer 3

Vgl. B. Widera, Zur ostslawischen Kolonisation in vormongolischer Zeit, in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 7, Berlin 1963, S. 58.

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stärker in die Staatsverwaltung mit einbezogen, sie erhielt bei der Tributerhebung offensichtlich ihren Anteil. Die Abhängigkeit als Vasalle, wie sie durch die Tributeintreibung begründet, durch den Handel verstärkt und durch die Kirche gesegnet war4, rief bei den betroffenen Völkern sozialen Protest hervor.5 In diesem Zusammenhang ist die Frage berechtigt, in welchem Umfang der Klassenkampf im eigentlich altrussischen Gebiet von Aktionen der Werktätigen anderer hier lebenden Völker begleitet war, in welchem Umfange diese Aktionen, die den sozialen Konflikt in der Rus' verschärften, eine Besonderheit dieser Klassenkämpfe darstellten. Die Quellen zeugen davon, daß in der Alten Rus' solche Kämpfe in noch recht unreifer, aber trotzdem vielfältiger Gestalt stattgefunden haben. Für die alte bürgerliche und adlige Geschichtsschreibung - N. M. Karamzin, S. M. Solov'ev, V. O. Kljucevskij und andere - waren die nichtslawischen Völker des Russischen Reiches kein Subjekt der Geschichte. Für die bürgerliche Wissenschaft spielten diese Völker nur eine drittrangige Rolle als »Wilde", die vom russischen Staat unterworfen und von der Kirche „erleuchtet" wurden.6 Die vorrevolutionäre Forschung ließ sich bei der Behandlung dieses Themas von dem politischen Ziel leiten, die Grundlagen des Zarismus - Rechtgläubigkeit, Selbstherrschaft und Volkstum - zu verteidigen. Besonders bemerkenswert ist in dieser Hinsicht das Buch von N. Ja. Danilevskij, .Rußland und Europa" (1869). Er kritisierte den reaktionären Europazentrismus in der Politik der anderen Regierungen, stellte ihm aber die nicht weniger reaktionäre Konzeption einer auf Selbstherrschaft beruhenden slawischen Föderation gegenüber.7 Die von N. Ja. Danilevskij in seinem Buch dargelegten Gedanken fanden sowohl in der weltlichen als auch der kirchlichen Geschichtsschreibung über das uns interessierende Thema einen breiten Widerhall. Und noch heute benutzt die bürgerliche Forschung dieses Buch bei ihrer Suche nach „ideologischen Wurzeln des Sowjetimperialismus". Am Anfang der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung steht die Kritik an den adlig-bürgerlichen Großmachtschemata. In dieser Hinsicht hat M. N. Pokrovskij Beachtliches geleistet; er hat gemeinsam mit A. G. Prigozin, M. M. Cvibak und anderen8 die adlig-bürgerliche Konzeption grundsätzlich abgelehnt und herausgearbeitet, Vgl. Drevnerusskoe gosudarstvo i ego mezdunarodnoe znacenie, Moskau 1965, S. 92-116. Vgl. S. Epperlein, Volksbewegungen im frühmittelalterlichen Europa, in: Die Rolle der Volkmassen in der Geschichte der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen, Berlin 1975, S. 211-227. B N. M. Karamzin, Geschichte des russischen Reiches, Bd. 2, Riga 1820, S. 93, 97; S. M. Solov'ev, Istorija Rossii s drevnejsich vremen, Bd. I, Moskau 1959, S. 74, 118-120, 197 u. a., vgl. Kommentar S. 751; W. O. Kljutschewski, Geschichte Rußlands, Bd. I, StuttgartLeipzig-Berlin 1925, S. 158 ff., 287ff.; M. Zatyrkevic, O vlijanii bor'by mezdu narodami i soslovijami na obrazovanie stroja Russkogo gosudarstva v domongol'skij period, in: Ctenie v obscestve istorii i drevnostej Rossijskich 1873, Bd. I, S. I-VIII, 1-106. 7 N. Ja. Danilevskij, Rossija i Evropa, 3. Aufl. Petersburg 1888; gekürzte dt. Ausgabe: N. J. Danilewsky, Rußland und Europa, Stuttgart-Berlin 1920; vgl. ausführlicher V. T. Pasuto/V. Salov, Rußland und Europa, in: Auf den Spuren der Ostforschung, Leipzig 1963, S. 1 - 2 5 ( = WZ Leipzig, GSR, Sonderband I). 8 Als Aufgabe wurde die Erforschung ethnischer Strukturen gestellt; vgl.A. G. Prigozin, Karl Marks i problema social'no-ekonomiceskich formacii, in: Izvestija gos. Akademii istorii material'noj kul'tury, Heft 68, Leningrad 1934; M. M. Cvibak, Marksizm-leninizm o vozniknovenii vostocno-evropejskich nacional'nych gosudarstv, in: Problemy istorii dokapitalisticeskich obscestv, 1934, Nr. 1, S. 53-57. 4

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daß Zarismus und russisches Volk unterschiedliche Begriffe sind, daß die zaristische Nationalitätenpolitik in ihrem Wesen feudal war, daß alle Nationalitäten, auch das russische Volk, unter dem Joch des Zarismus zu leiden hatten. Bei aller Notwendigkeit der Kritik an den Konzeptionen der adligen und bürgerlichen Geschichtsschreibung haben jedoch M. N. Pokrovskij und andere Historiker seiner Generation vergessen, daß sich die Geschichte des Russischen Reiches nicht mit der Unterdrückung der Völker erschöpfte; diese Unterdrückung war der schwere Preis, den die Völker unter feudalen Bedingungen für den Fortschritt zahlen mußten. Die sowjetische Geschichtsschreibung der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre hat gerad'e für die Erforschung dieses Aspektes Wesentliches geleistet; für die Spätphase des Feudalismus gibt es heute eine wertvolle Literatur über den fortschrittlichen Einfluß Rußlands auf die zu diesem Reich gehörenden Völkerschaften, über die Traditionen des gemeinsamen Kampfes der Völker gegen den Zarismus. Aber sicher ist in der sowjetischen Geschichtswissenschaft die ethnische und wirtschaftliche Vielschichtigkeit und die dadurch bedingte politisch uneinheitliche Struktur des Altrussischen Staates nicht genügend erforscht worden. 9 Faktisch unbeachtet blieben die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des historischen Prozesses der Herausbildung dieses Staates, der mit veränderten Formen der Machtausübung seine Einheit nicht nur bis zu den schweren Zeiten der Invasion der mongolischen Horden vom Osten sowie der Ordensritter vom Westen erhalten hat, sondern in den folgenden Jahrhunderten wiedererstand und sich erneut festigte. Nicht erforscht sind auch die Besonderheiten des antifeudalen Kampfes der von der Rus' mit einbezogenen Völker sowie die Verbindungen dieses Kampfes mit dem Klassenkampf der russischen Smerden und der städtischen Unterschichten. Diese Lücke in unserer Forschung wurde von unseren ideologischen Gegnern ausgenutzt. Von der früheren adligen und bürgerlichen Geschichtsschreibung übernahmen sie die These vom Rußland ohne Ständegliederung, von M. N. Pokrovskij die Schlußfolgerung einer kolonialen Eroberungspolitik dieses Staates. Sie schrieben vom Volkscharakter dieser Expansion, vom russischen Volk als von einem Eroberer von Hause aus, von Vorläufern des Sowjetimperialismus.10 Im Zerrspiegel werden die Theorien „Kiev - das zweite Jerusalem" und „Moskau das dritte Rom"11 gezeigt, es wird versucht, die Sowjetordnung als direkte Nachfolgerin des altrussischen und Moskauer „Imperialismus" und des Panslawismus darzustellen, man spricht von dem „großen Bündnis" zwischen „kommunistischem Internationalismus und russischem Nationalismus"; der Sowjetpatriotismus wird als „russischer Nationalismus" diffamiert, obwohl jener unter neuen gesellschaftlichen Verhältnissen entstanden und von den Ideen des Klassenkampfes durchdrungen ist. Die Verfälschung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung in der Alten Rus' 9

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Vgl. V. T. Pasuto, Osobennosti etniceskoj struktury Drevnerusskogo gosudarstva, in: Acta Baltico-Slavica, Bd. VI, Bialystok 1969, S. 159-174. Vgl. W. Kolarz, Russia and her Colonies, London 1952, S. 2; W. Baszkowski, Russian Colonializm: The Tsarist and Soviet Empires, in: The Idea of Colonializm, New York 1958, S. 70-114; zur Auseinandersetzung: V. T. Pasuto, Revaniisty - psevdoistoriki Rossii, Moskau 1971, S. 59. Vgl. A. L. Gol'dberg, Historische Wirklichkeit und Fälschung der Idee „Moskau - das dritte Rom", in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd. 15/2, Berlin 1971, S. 123-144. Klassenkampf

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erweist sich so als wichtiger Bestandteil der heutigen bürgerlichen Konzeptionen der russischen Geschichte. Die historische Wahrheit ist wieder herzustellen: Falsch wäre es, ganz und gar zu den Ansichten Pokrovskijs zurückkehren zu wollen, die in einer frühen Phase der Entwicklung der sowjetischen Geschichtsschreibung entstanden sind. Nicht weniger falsch wäre es, »romantische" Vorstellungen über die Struktur des Altrussischen Staates zu hegen und die Traditionen für die brüderliche Zusammenarbeit der Nationalitäten in der Sowjetunion in einer angeblichen multinationalen Harmonie unter der Herrschaft eines Vladimir Monomach oder irgend eines anderen Fürsten zu suchen und nicht im gemeinsamen Kampf gegen die Feudalherren. Dieses Problem muß allseitig erforscht werden. Das erscheint auch deshalb unbedingt notwendig, da in der jüngsten Zeit unbegründete Versuche unternommen werden, die Gesellschaftsstruktur der Alten Rus' zu archaisieren, sie als eine Stammesvereinigung darzustellen und den Klassencharakter der in jener Zeit sich vollziehenden sozialen Konflikte zu leugnen. 12 In unserer Geschichtsschreibung wurde u. a. von B. D. Grekov, M. N. Tichomirov, L. V. Öerepnin, A. A. Zimin, A. D. Gorskij herausgearbeitet, daß die Krise des Altrussischen Staates, die zur politischen Aufsplitterung führte, durch eine Verschärfung der Klassenkämpfe gekennzeichnet war. 13 Mit der Entwicklung der Ausbeutung in den eigentlichen Gebieten der Rus' stieg der Druck der altrussischen Fürsten, der Bojaren und kirchlichen Würdenträger auf andere Völker. Während in der frühfeudalen Etappe der Vertrag - „Rjad" - mit dem Stammesadel und seine Einfügung in die feudale Hierarchie als Vasall mit Zahlung einer Abgabe - „Dan"' - und Kriegsdienst das Übliche war, verstärkte sich in der zweiten Etappe die Abhängigkeit, es wurden Städte und Festungen gebaut, nach der Christianisierung Klöster und Kirchen.14 Das Vordringen der Feudalherren in die nationalen Randgebiete geschah auf zwei Arten. Bestimmend war die vom Staat getragene Aktion, daneben gab es private bojarisch-freibeuterische Unternehmungen. Die bäuerliche Kolonisation wurde von der feudalen Staatsgewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Macht über die arbeitende Bevölkerung (einschließlich der russischen Siedler) in diesen Randgebieten ausgenutzt. Die vom Volk getragene Kolonisationsbewegung wurde letztlich durch die Politik der Regierung in den Feudalisierungsprozeß eingeordnet. Die russischen Cholopen und Smerden suchten daher einen Ausweg aus der Unterdrückung in benachbarten von Heiden bewohnten Gebieten; darauf hat weitsichtig die Kirche hingewiesen: „Seelenverderbnis gibt es verschiedener Art: nicht nur derjenige, der einen Menschen erschlägt, sondern auch wer ungerechterweise die Öeljad' bestraft, durch übermäßige Arbeit, durch Nacktheit oder Hunger oder einen Schuldner durch übermäßige Zinsen bedrückt; und sie werden so entweder sich umbringen oder aber sie fliehen zu den Heiden."15 Es ist nicht auszuschließen, daß sich solche russischen Flüchtlinge an den 12

Vgl. I. Ja. Frojanov, Charakter social'nych konfliktiv na Rusi v X - na pocatku XII st., in: Ukrajinskij istorycnyj zurnal, 1971, Heft 5, S. 71-79. 13 Vgl. A. A. Zimin/A. A. Preobrazenskij, Izucenie v sovetskoj istoriceskoj nauke klassovoj bor'by perioda feodalizma v Rossii, in: Voprosy istorii 1957, Heft 12, S. 135-160; V. N. Kirillov, Novejsaja sovetskaja literatura o krest'janskich i gorodskich dvizenijach v Rossii (XI-XVIII vv.), in: ebenda, 1965, Heft 3, S. 127-140. 14 Drevnerusskoe gosudarstvo, S. 101-116. 15 Slovo svjatych otec, kako ziti krest'janom, in: Pravoslavnyj sobesednik, Januar 1859, Kazan', S. 142.

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Aktionen der betreffenden Völker beteiligten. Die Tatsachen bezeugen noch mehr: Gleichzeitig mit den wesentlichen Etappen des Klassenkampfes in der eigentlichen Rus' (sechziger und siebziger Jahre des 11. Jh., dreißiger und achtziger Jahre des 12. Jh.) kam es zu Ausbrüchen der Freiheitsbewegungen anderer Völkerschaften. Die Krise des Altrussischen Staates erfaßte demnach auch die nichtrussischen Gebiete. Betrachten wir die zu dieser Problematik für verschiedene Gebiete vorliegenden Angaben. Baltische Gebiete: Unsere estnischen Kollegen haben den Aufstand in Sakkala in den sechziger Jahren des 11. Jh. neuerdings in engem Zusammenhang mit dem Klassenkampf in der Rus' untersucht. 16 Möglicherweise wird nicht zufällig vom Chronisten im Bericht über die damalige Aufstandsbewegung in der Rus' berichtet, daß Kontakte der Novgoroder zu estnischen Volchven bestanden. 17 Diese estnischen Volchven standen auf der Seite der einfachen Stadtbevölkerung, während der estnische Vertreter des Stammesadels Mikula Cudin an der fürstlichen Zusammenkunft beteiligt war, auf der das einheitliche Gesetz für das Land, die Russkaja Pravda, beschlossen wurde, nach der die einfachen Menschen für sozialen Protest bestraft wurden. 18 Offensichtlich sollte man auch die Erhebungen des gesamten estnischen Gebietes gegen die russische Macht in den dreißiger und siebziger Jahren des 12. J h . mit den bekannten Unruhen in Novgorod und Pskov in Verbindung setzen. Die gemeinsame Erhebung in allen estnischen Gebieten zeugt von einer wirtschaftlichen und ethnischen Konsolidierung des Landes. Die Kiever Fürsten organisierten gemeinsam mit Novgoroder Aufgeboten 19 Züge gegen die einzelnen estnischen Gebiete 2 0 , 1116 gelang es dem vereinigten Novgoroder und Pskover Heer, die Stadt Odenpäh zu erobern. 2 1 Aber es kam nicht zu einer Befriedigung der estnischen Länder, wie die Berichte über den Feldzug Novgoroder Krieger unter Vsevolod Mstislavic 1130 zeigen; im folgenden Jahr zog derselbe Fürst mit seinen Brüdern im Namen des Kiever Großfürsten Mstislav Vladimirovic erneut aus, die Fürsten „nahmen" das Land der Esten und „legten ihm Tribut auf." 2 2 Vom Ausmaß des estnischen Aufstandes zeugt die Tatsache, daß die Esten die Stadt Jur'ev eroberten, und erst 1133 nahm Vsevolod Mstislavic mit Novgoroder Kriegern „die Stadt Jur'ev ein". 2 3 Nachdem in den dreißiger Jahren des 12. J h . die Novgoroder Republik, die schon seit einem Jahrhundert auch Pskov verwaltete, ihre Selbstständigkeit voll durchgesetzt hatte, lagen die Beziehungen zu Estland offensichtlich voll und ganz in den Händen der Novgoroder Bojaren. Die in der Chronik verzeichneten estnischen Aufstände waren recht bedeutend. Unter dem Jahr 1176 heißt es, daß nicht mehr einzelne Gebiete, sondern „das gesamte tschudi16 17 18 19

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Vgl. Istorija Estonskoj SSR, Bd. I, Tallin 1961, S. 110-111. PVL, Bd. I, S. 119; dt. S. 128 f. (u. d. J. 1071). Drevnerusskoe gosudarstvo, S. 106. Novgorodskaja pervaja letopis' starsego i mladiego izvodov (NPL), Moskau-Leningrad 1950, S. 20; dt.: Die erste Novgoroder Chronik nach ihrer ältesten Redaktion (Synodalhandschrift) 1016-1333/1352 . . . hg. . . . von J. Dietze, Leipzig 1971, S. 55 (u. d. J. 1111). Ebenda (u. d. J. 1113). PVL, Bd. I, S. 201; NPL, S. 20, dt. S. 55 - ohne Erwähnung der Pskover Beteiligung (u. d. J. 1116). NPL, S. 22, dt. S. 57; Polnoe sobranie russkich letopisej (PSRL), Bd. II, Ipat'evskaja letopis', Petersburg 1908 (Fotomechanischer Nachdruck Moskau 1962), Sp. 294. NPL, S. 23, dt. S. 57.

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sehe Land" gegen Pskov zog (offensichtlich waren Jur'ev und die anderen Stützpunkte entweder gefallen oder aber blockiert); man „kämpfte gegen die Esten" und „viele wurden erschlagen", aber auch einige Pskover und in der Chronik genannte hochstehende Novgoroder fielen. Diese Nachrichten gelangten in die Chronik, weil diese Novgoroder mit dem Erzbischof in Verbindung standen - im gleichen Zusammenhang heißt es dann, daß der Posadnik Michail Stepanovic die Himmelfahrtskirche (cerkov' Voznesenija) in der Preußischen Straße24 und Moisej Domanezic (wahrscheinlich aus der Kaufmannschaft) eine andere Kirche in der Öudiner-Straße25 errichteten. Wie diese Aktion ausging, wissen wir nicht, aber offensichtlich blieb es in Estland auch weiterhin unruhig, denn im Winter 1178 zog der Smolensker Fürst Mstislav Rostislavic erneut mit Novgoroder Kriegern ins estnische Land, aber die Esten „flohen zum Meer" 26 , es handelte sich also um das Gebiet Virumää. Über diese Aktion berichtet weit ausführlicher die südliche Chronik der Smolensker Fürsten, deren Angaben vom Geist der kämpfenden Kirche getragen sind. Als Fürst Mstislav in Novgorod weilte, „legte Gott" ihm ins Herz „den wohlgefälligen Gedanken, gegen die Tschuden zu ziehen". Er rief die Novgoroder Männer zusammen und hielt eine Rede, aus der zu erkennen war, wie sich die Bewegung in Estland auf das Leben in Novgorod auswirkte: „Brüder, die Heiden beleidigen uns, in Vertrauen auf die Hilfe Gottes und der Gottesmutter kommt es uns zu, uns zu rächen und das Novgoroder Land von den Heiden zu befreien." Der Gedanke fand Anklang, ein für damalige Zeiten ansehnliches Heer von 20 000 Kriegern formierte sich (zum Vergleich sei darauf hingewiesen, daß die größte in der Chronik erwähnte Streitmacht unter Andrej Bogoljubskij 50 000 Mann stark war). Weiter heißt es in der Chronik, daß der Fürst die Tschuden „in ihrem ganzen Lande" bekriegte und „mit einem von Gott gegebenen Sieg über die Heiden" zurückkehrte. 27 Bei der Mitteilung über den Tod Mstislavs legt der Chronist den zur Novgoroder Oberschicht gehörenden „besten Männern" folgende Worte in den Mund: „Wir können nicht mehr, o Herr, mit Dir (ins Feld) ziehen in das Gebiet der Heiden und es dem Novgoroder Besitz unterwerfen" 28 ; sie lobten den Fürsten, der „diese Freiheit der Novgoroder von den Heiden" durchgesetzt hatte. Der im Sinne der Kirche und der Fürsten schreibende Chronist verwechselt hier also Freiheit und Unterdrückung. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß nach der richtigen Beobachtung von A. N. Nasonov Esten niemals als Teilnehmer im Novgoroder Heer erwähnt werden. 29 Gegen Ende des 12. Jh. wuchs die antifeudale Bewegung in den baltischen Gebieten an. Aus der Macht der Rus' schied das unabhängige Litauen aus. Das Land der Pruzzen verlor im Ergebnis von Zügen des Ordens, der Polen und der Rus' seine Selbständigkeit. Wie die einzelnen russischen Fürstentümer im Laufe der Zeit über den Rahmen der Alten Rus' hinauswuchsen und damit ihre Aufsplitterung verursachten, so wird jetzt auch die Macht einzelner Fürsten durch die früher in ihr Gebiet mit einbezogenen 2i 25 2S 27 25 29

V. L. Janin, Novgorodskie posadniki, Moskau 1956, S. 108. NPL, S. 35, dt. S. 69. Ebenda, S. 36, dt. S. 70. PSRL, Bd. II, Sp. 608 (u. d. J. 1178). Ebenda, Sp. 610. Vgl. A. N. Nasonov, „Russkaja zemlja" i obrazovanie territorii Drevnerusskogo gosudarstva, Moskau 1951.

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nationalen Territorien untergraben. Diese Territorien hatten sich in ökonomischer und gesellschaftlicher Hinsicht während ihrer Zugehörigkeit zum Altrussischen Staat entwickelt und ethnisch konsolidiert. Sie spürten jetzt die Beschränkung ihrer Rechte, und der Kampf begann. Die soziale Abgrenzung war in diesem Kampf noch eine weit in der Zukunft liegende Problematik. Der Charakter der Gesellschaftsordnung bei den zur Rus' gehörenden Völkern 30 legt die Annahme nahe, daß die herrschende Schicht bestrebt war, unter Ausnutzung der Aktionen der produzierenden Bevölkerung die volle Aneignung der Abgaben zu erlangen. Zum Schaden sowohl der Rus' als auch der ihr eingegliederten Völkerschaften wurde diese Krise von ausländischen Eroberern ausgenutzt. Das Vordringen erst der deutschen, später der dänischen Ritter in die baltischen Gebiete brachte eine komplizierte politische Lage. Die alten Bindungen des russischen Volkes zu den baltischen Völkern waren für die Entwicklung in diesem Gebiet bedeutungsvoll. Die Ausrottungspolitik des Ordens öffnete der Oberschicht der baltischen Völker die Augen, sie erkannten, welche Seite mehr Vorteile bot. Litauen schloß enge, dauerhafte Bündnisse mit der Rus'. Auch die estnische Nobilität wählte den russischen Bündnispartner und schloß Verträge mit Polock, Novgorod und Pskov. Die Letten verteidigten gemeinsam mit Russen die festen Punkte im Dünagebiet. Diese Annäherung schuf zwar Voraussetzungen für den heldenhaften Kampf der Völker, aber der Sieg der Mongolen an der Kalka und die mongolischen Eroberungszüge wirkten sich auf das Schicksal der baltischen Völker verderblich aus. Der Sieg auf dem Peipussee stoppte zwar die deutsche und dänische Aggression gegen die Rus', die auch ihre Besitzungen im Gebiet der Woden und Izoren halten konnte 31 , aber Teile der baltischen Gebiete schieden für lange Zeit aus dem russischen Staatsverband aus und gerieten unter das drückende Joch des Ordens. Es begann die schwierigste Zeit in der Geschichte des estnischen und lettischen Volkes. Nur Litauen, das belorussische Gebiete mit einschloß, konnte sich seine Unabhängigkeit bewahren. Der Norden: Über Aktionen der Völkerschaften im Norden und Osten gegen die Novgoroder Bojaren sind eine ganze Reihe von Mitteilungen überliefert. Man hat Veranlassung, sie mit der gesellschaftlichen Bewegung der sechziger und siebziger Jahre des 11. Jh. in den Kerngebieten der Rus' in Verbindung zu setzen. Bekanntlich war es damals zu Aktionen in verschiedenen Regionen, darunter auch in Novgorod gekommen. Hier herrschte Gleb Svjatoslavic. Nach der Chroniküberlieferung erschlug er mit dem Beil den Führer des Aufstandes der einfachen Novgoroder Bewohner, danach seien die Leute „auseinandergegangen" 32 . Wahrscheinlich war das wirklich so, aber in der gleichen Kommissionshandschrift der I. Novgoroder Chronik, die uns die Nachricht übermittelt, wird auch berichtet, daß dieser Gleb von den Novgorodern „aus der Stadt verjagt" wurde, er „floh bis über die Wasserscheide (Volok), und es erschlugen ihn die Tschuden"33 (gemeint ist hier das Gebiet der Komi). Wann die Novgoroder ihn vertrieben, läßt sich nicht genau datieren, aber die Aktion der Tschuden sowie das Erschlagen ist in der Synodal-Handschrift genau datiert - am 30. Mai 1079.34 Diese 30

A. P. Novosel'cev/V. T. Pasuto/L. V. Cerepnin, Puti razvitija feodalizma, Moskau 1972, S. 268 f. 31 NPL, S. 89, dt. S. 125. NPL, S. 186 (u. d. J. 1071). 33 Ebenda, S. 161. y ' NPL, S. 18, dt. S. 53; etwa zur gleichen Zeit wurde der Bischof von Rostov, Leontij, erschlagen.

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Aktion hatte einigen Widerhall in der Öffentlichkeit und fand ihren Niederschlag sogar im Paterikon des Kiever Höhlenklosters. 3 5 Im Gebiet der Nördlichen Dvina hat sich die Überlieferung vom Kampf der Tschuden gegen die Bojarenherrschaft erhalten. 3 6 Die Unruhen in Novgorod und bei den Tschuden gegen Gleb liegen chronologisch nah beieinander; in den achtziger Jahren des 12. J h . ist der Kampf der Bewohner des nördlichen Dvina-Gebietes, der Komi und Jugrier (Chanten-Mansen), noch offensichtlicher mit der Volksbewegung in den nördlichen Teilen der Rus', in Vladimir und Smolensk, verbunden. In Vladimir zeigte sich „unter der Christenheit Angst und Schwankungen" (1185). In Perejaslavl im Gebiet Suzdal' wurde am 24. Mai 1186 Nikita Stolpnik erschlagen. 3 7 Zur gleichen Zeit kam es zum Aufstand in Smolensk auf Grund von Auseinandersetzungen der Stadtbevölkerung mit dem Fürsten; es „fielen viele der besten Leute", offensichtlich Angehörige der städtischen Oberschicht, die den Fürsten unterstützten. 38 Und die Ereignisse im Norden: 1187 wurde in dem hinter der Wasserscheide liegenden Gebiete der Komi (Pecora-Gebiet) die dort tätigen Novgoroder erschlagen, also die im Gebiet der Komi und der Jugren tätigen Tributeinnehmer, „und es fielen ungefähr 100 Edelleute" 3 9 . A. N. Nasonov richtete seine Aufmerksamkeit auch darauf, dafj hier „kmetsvo" mit „wohlhabend" gleichzusetzen ist, und daß Tributeinnehmer (dannik) ein Terminus ist, der eine soziale Stellung charakterisiert. 4 0 Bezeichnenderweise erschlugen die Chanten und Mansen die Tributeinnehmer im Gebiet der Komi, Die Aktionen in den verschiedenen Gebieten des Landes spiegelten also allgemeine Gesetzmäßigkeiten in der Vasallität der nichtslawischen Völkerschaften und die diesen Verhältnissen eigenen Widersprüche wider, wobei offensichtlich wirtschaftliche Schwierigkeiten, die durch Mißernte und Hunger hervorgerufen waren, verschärfend wirkten. 4 1 Möglicherweise begann bereits damals im Lande der Chanten und Mansen ein verdeckter Kampf gegen die Herrschaft der russischen Fürsten. Er brach 1193 offen aus, als die Novgoroder ein Heer unter der Führung des Wojewoden Jadrej in das Land der Jugren schickten. Jadrej ist möglicherweise der Vater des späteren Erzbischofs Antonij. Wenn das zutrifft, gibt es einen doppelten Grund für die ausführliche Darlegung dieses Feldzuges: Die wirtschaftlichen Interessen des Bischofs im Gebiet der Nördlichen Dvina und die persönliche Beteiligung eines dem erzbischöflichen Stuhl sehr nahe stehenden Würdenträgers am Feldzug. Die Novgoroder drangen in das Gebiet der Jugren (Chanten/Mansen) ein und „nahmen eine Stadt (d. h. einen befestigten Platz - V. P.) ein, und sie kamen zu einer anderen Stadt, aber (die Einwohner) schlössen sich in der Stadt ein." Fünf Wochen dauerte die Belagerung, Verhandlungen wurden geführt. „Da schickten die Jugren" 33 3fi 57

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Paterik Kievskogo Pecerskogo monastyrja, Petersburg 1911, S. 91. Nasonov, Russkaja zemlja, S. 104. V. V. Zverinskij, Materialy dlja istoriko-topograficeskogo issledovanija o pravoslavnych monastyrjach v Rossijskoj imperii, Bd. II, Petersburg 1892, S. 213 (Nr. 947) ; PSRL, Bd. I, Teil 2, Suzdal'skaja letopis' po Lavrent'evskomu spisku, Leningrad 1927 (Fotomechanischer Nachdruck Moskau 1962), Sp. 393. M. N. Tichomirov, Krest'janskie i gorodskie vosstanija na Rusi XI-XIII vv., Moskau 1955, S. 220. NPL, S. 38, dt. S. 72. Nasonov, Russkaja zemlja, S. 114, 110 f. Vgl. V. T. Pasuto, Les famines dans l'ancienne Rus' (X-XIV siècles), in: Annales 1970, Heft 1, S. 185-199.

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Unterhändler zu den Novgorodern »und sprachen also voller List: Wir sammeln" den Tribut. Offensichtlich wollten die vornehmen Jugren Zeit gewinnen, um angeblich den Tribut zusammenzutragen, in Wirklichkeit aber „sammelten sie Krieger". Und als sie stark genug waren, forderten die Jugren den Wojewoden Jadrej auf: „Komm in die Stadt und bring zwölf besonders wichtige Männer mit" (Hier ist erneut erkennbar, dgij die Tributeinnahme eine feudale Institution war). Jadrej und diese 12 „Männer" wurden erschlagen. Auch zwei weitere Gruppen von 30 und 50 Mann wurden so vernichtet. Die Jugren handelten dabei nicht ohne Vorbedacht, sie hatten ihre Berater. Einer .war Savka (Savica), ein Novgoroder, der auf die Seite des „Fürsten der Jugren" (auch sie hatten also ihren Fürsten) übergewechselt war. Nach seinem Ratschlag vernichteten die Jugren große Teile der Novgoroder Streitmacht. Offensichtlich war es ein normales Aufgebot, beteiligt waren vierhundert Novgoroder Krieger aus vier Stadtteilen. Das war keine Einzelaktion, sondern ein allgemeines Unternehmen, an dem sowohl die Bojaren, der Fürst und der Erzbischof interessiert waren. Der Feldzug war für eine kurze Zeit geplant, aber „während des ganzen Winters gab es in Novgorod keine Nachricht über sie, weder über die Lebenden noch über die Toten; und in Novgorod klagten der Fürst, der Erzbischof und ganz Novgorod" 42 . Der Streit unter den Tributeinnehmern forderte viele Opfer. Als die Überlebenden 1194 zurückkehrten, wurde bekannt, dafj auch auf dem Rückweg noch drei Teilnehmer erschlagen wurden. Und es wären noch mehr erschlagen worden, wenn diese sich nicht - wohl nach den Bestimmungen der Russkaja Pravda - „mit Geld losgekauft* hätten. Beschuldigt wurden sie des Verrats an die Jugren „zum Schaden ihrer Brüder". Hier zeigt sich eine sehr interessante Seite in der Politik der Novgoroder Republik gegenüber den Jugren. Die Sitten der Menschen werden deutlich. Bezeichnenderweise kam es bereits vor der Rückkehr dieser Tributeinnehmer in Novgorod zu Brandstiftungen, und zuerst brannte „der Hof des Savka"43. Offensichtlich bestand zwischen diesen Ereignissen ein Zusammenhang: auch in Novgorod kam es zu Auseinandersetzungen zwischen jenen Gruppierungen, die sich auch unter den Tributerhebern zeigten. Wolgagebiet: In der „Klage vom Untergang des russischen Landes" aus dem Anfang des 13. Jh. wird darauf hingewiesen, dafj die früheren „wolkenlosen Zeiten" vergangen sind; „die Burtassen, die Tscheremissen, die Wjadinen und die Mordwinen zahlten ihren Tribut an den Großfürsten Vladimir in Form von Honig", aber in der Regierungszeit von Vsevolod Bolsoe Gnezdo hatten sich auch in diesen Gebieten die Verhältnisse geändert. 44 Die Ursache dafür dürfte vor allem die ökonomische Entwicklung und ethnische Konsolidierung dieser Gebiete sein. Die Quellen berichten von einer Zuspitzung der Beziehungen zu den Mordwinen 45 , von selbständigen Handlungen des mordwinischen Fürsten Purgas, der gegen Niznij Novgorod zog und dort ein Kloster und eine Kirche verbrannte. 46 « NPL, S. 40 f., dt. S. 74. 43 NPL, S. 233. u Ju. K. Begunov, Pamjatnik russkoj literatury XIII veka: „Slovo o pogibeli Russkoj zemli", Moskau-Leningrad 1965, S. 183 f. 45 PSRL, Bd. I, 2, Sp. 450 f. (u. d. J. 1226), 449 (u. d. J. 1228); Bd. XXV, Moskovskij letopisnyj svod konca XV veka, Moskau-Leningrad 1949, S. 122. Das Vorgehen gegen die Mordwinen fand zugleich mit der weiteren Eingliederung des den Fürsten nicht unterworfenen Teiles des Wjatitschenlandes. am Fluß Pra (Tepra) statt, vgl. PSRL, Bd. I, 2, Sp. 435 (u. d. J. 1210). 46 PSRL, Bd. I, 2, Sp. 451 (u. d. J. 1229); die Mongolen überwinderten schon an der Grenze

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Offensichtlich konnten weder Bündnisse mit den mordwinischen Fürsten noch gemeinsame Züge mit den Polowzen und in das Gebiet der Wolgabolgaren die Suzdaler Fürsten hinsichtlich der Zukunft ihrer Herrschaft im Wolgagebiet beruhigen. Die Alarmzeichen zeigen sich bereits deutlich in der „Klage vom Untergang des russischen Landes", die in der Zeit der mongolischen Aggression entstanden ist. Schwarzmeergebiet: Die Schwierigkeiten der Politik gegenüber den Vasallen-Völkern bestanden ganz allgemein, sie erfaßten sowohl Ackerbau-Völker als auch Jägerund Nomadenvölker. Das Schicksal der letzteren war auf das engste mit der Geschichte der südlichen russischen Fürstentümer verknüpft. Große Volksaufstände gab es 1185 in der südlichen Rus', im Gebiet von Cernigov, Novgorod Seversk, in den Städten am Sejm (dazu gehörten damals Putivl', Kursk, Ryl'sk, Vyr' und andere, in denen ein erheblicher Anteil turksprachiger Bewohner lebte). Dieses Gebiet war seit langem Objekt verheerender Kämpfe zwischen denPolowzern und den Fürsten von Cernigov, Volyn', Suzdal' und Smolensk. Die Aufstände brachen aus, als der Untergang des Heeres unter der Führung des Fürsten Igor' von Seversk in dem berühmt-berüchtigten Zug gegen die Polowzer und zugleich die Absicht des Fürsten Svjatoslav, das Gebiet am Sejm seinem Sohn Oleg zu übergeben, bekannt geworden waren. Die Chronik berichtet folgendermaßen über diese Ereignisse: „Als das bekannt wurde, wurden die Städte am Sejm vom Aufstand erfaßt, und es waren Schmerz und Trauer grausam, wie es sie noch nie gegeben hatte im ganzen Gebiet am Sejm und von Novgorod Seversk und der ganzen Cernigover Volost'. Der Fürst wurde gefangen und die Druzina wurde gefangen und zerschlagen; . . . die Städte erhoben sich, und keiner schonte damals seinen nächsten, viele mußten damals ihr Leben lassen und verfluchten ihre Fürsten." Es ist nicht bekannt, in welchem Umfang die turksprachige Bevölkerung an dieser Aufstandsbewegung beteiligt war, aber bekannt ist, daß sich die Situation nach dem Zug der Polowzer gegen Putivl' weiter zuspitzte. Die Polowzer verbrannten die Befestigungsanlagen (ostrog) und überzogen das Gebiet mit Krieg. Der aus der Gefangenschaft geflohene Fürst Igor' hielt sich kurze Zeit in Novgorod Seversk auf, dann wandte er sich an seinen Bruder in Cernigov und „bat ihn um Hilfe gegen das SejmGebiet". Ob der Fürst von Cernigov ihm geholfen hat oder Hilfe versprach, wie diese Bewegung unterdrückt wurde, melden die Quellen nicht mehr. 47 Auch hier war die einfache Bevölkerung in den Kampf mit einbezogen. Vom großen Zug der Fürsten von Volyn', Kiev, Cernigov gegen die Polowzer erfuhren die Nomaden vom „Koscej" (einem Sklaven, der von den Polowzen abstammte - V. P.) Gavriil Izjaslavic. Die Polowzer konnten daraufhin unter Zurücklassung des Lagers, der Familien und ihres Hab und Gutes das Heer retten. 48 Die Fakten sprechen auch von einer allmählichen Verschmelzung, wobei die wirtschaftliche Symbiose der Turkstämme und Polowzer mit der seßhaften russischen Bevölkerung die Hauptrolle spielte, und von

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der Bolgaren, als Fürst Jurij ein großes Heer gegen die Mordwinen schickte, zudem Aufgebote aus Vladimir-Suzdal', Rjazan' und Murom gehörten (vgl. ebenda, Sp. 459, u. d. J. 1232). PSRL, Bd. 2, Sp. 645 (u. d. J. 1185). Bezeichnenderweise mußte schon Boris Vladimirovic nach der Verjagung der Petschenegen die südlichen Städte im Grenzgebiet der Rus' zur Ruhe bringen (vgl. Ctenie o Borise i Glebe, in: Pamjatniki drevnerusskoj literatury, Heft 2, hg. von D. A. Abramovic, Petrograd 1916, S. 8; Nasonov, Russkaja zemlja, S. 67). PSRL, Bd. 2, Sp. 540 (u. d. J. 1170).

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Annäherung zwischen Teilen des turkstämmigen und polowzischen Adels, der nicht die politischen Ansichten der russischen Macht teilte. Ein besonders ernsthaftes Symptom war, ebenfalls in den achtziger Jahren des 12. Jh., die Weigerung der mit Kiev verbündeten Turkstämme, der „schwarzen Kappen", gegen die Polowzer zu kämpfen. 1187 bereitete Kiev einen Zug gegen die Polowzer im Dnepr-Gebiet vor; da besetzten Turkstämme deren Wohnsitze, die Polowzer selbst zogen aber zur Donau. 49 Offensichtlich hatten die Torken die Polowzen, wie schon seinerzeit, gewarnt, als die gemeinsam die Rus' regierenden Großfürsten Svjatoslav Vsevolodovic von Cernigov und Rjurik Rostislavic von Smolensk ihren Zug gegen die Polowzer am Dnepr vorbereiteten. Die „schwarzen Kappen" hatten ihre „Verwandten" gewarnt, und diese waren über den Dnepr abgezogen.50 Bezeichnend ist auch das Ausweichen des Tork-Fürsten Kuntovdej vor dem Gericht Svjatoslav Vsevolodovics zu den Polowzern, die er zu einem Zug gegen die Rus' anstachelte.51 Hier griff Rjurik Rostislavic ein, ein geschickterer Politiker; er nahm Verhandlungen auf, beschenkte Kuntovdej, führte ihn zum Eid und verlieh ihm die Stadt Dveren an der Ros „wegen des russischen Landes"52. Wie sehr die fürstliche Jurisdiktion über die Torken geschwunden war, zeigt folgende Episode aus dem gemeinsamen Feldzug Rostislav Rjurikovics und der „schwarzen Kappen" aus Torcesk gegen die Polowzer. Die Torken nahmen den Fürsten der Polowzer Khan Koban gefangen. Unter Ausschaltung der Vermittlung des Fürsten verhandelten die Torken und Polowzen unmittelbar miteinander. Die Torken „führten ihn (Koban - V. P.) nicht einmal in das (fürstlich - V. P.) Lager, sondern verhandelten mit ihm über den Loskauf und ließen ihn frei" 53 . Bisher hatten die „schwarzen Kappen" die am Dnepr wohnenden Polowzer heimlich gewarnt; 1193 gingen sie weiter. Die Torken waren bereit gewesen, mit Rjurik gegen die an der Donau lebenden Polowzer zu ziehen, aber als Svjatoslav Vsevolodovic sie gegen die Dnepr-Polowzer führte, kam es zum Bruch; als sie das Städtchen Dobra erreichten, weigerten sich die „schwarzen Kappen", weiter mitzuziehen, und erklärten, daß jenseits des Dneprs ihre „Verwandten" wohnen. 54 Als die Krise für die Landwirtschaft treibenden und die nomadisierenden Untertanen des Altrussischen Staates ihrem Höhepunkt zustrebte, wurde das von ausländischen Eroberern ausgenutzt. Es begannen die mongolische Invasion aus dem Osten und der Ansturm der Ritterheere aus dem Westen. Die Mongolenhorden zerstörten die in Jahrhunderten entstandenen Bindungen der Rus' zu den Völkern im Wolgagebiet, im Nordkaukasus, im Schwarzmeergebiet. In den blutigen Wirren der mongolischen Eroberung verschwanden verschiedene Völkerschaften (so die Chasaren, Pecenegen, Torken, Polowzer, Bolgaren, Burtassen, Wjaden und andere) völlig von der historischen Szene. Das Blutopfer, das die von Öingis-Khan begonnenen und von seinen Nachfolgern weitergeführten Eroberungen vom russischen Volk und von anderen Völkern Osteuropas forderte, brachte unendliche Leiden. Die Wirtschaft wurde ruiniert, die Zentren der 49 50 51 62 53 54

Ebenda, Sp. 659 (u. d. J. 1187). Ebenda, Sp. 652 (u. d. J. 1187). Ebenda, Sp. 670 (u. d. J. 1190), vgl. Sp. 672 f. Ebenda, Sp. 674 (u. d. J. 1193). Ebenda, Sp. 672 (u. d. J. 1190). Ebenda, Sp. 974 (u. d. J. 1193).

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städtischen Kultur zerstört. Das Land war verwüstet und aufgesplittert, es wurde von Regenten verschiedener untereinander sich befehdenden Horden und Ulusse regiert. Schwere Tributforderungen wurden erhoben, immer wieder kam es zu verwüstenden Überfällen. All das hemmte für lange Zeit die gesellschaftliche und ethnische Entwicklung der betroffenen Völker. Das Schicksal dieser Völker war auf das engste mit der zukünftigen Wiedergeburt Rußlands verknüpft, mit dem von Rußland aus organisierten Kampf gegen das drükkende Joch. Unsere Quellen sind bruchstückhaft, und auch das, was hier angeführt wurde, dürfte unvollständig sein. Aber schon diese Angaben reichen aus als Zeugnis für die bemerkenswerte Gemeinsamkeit in der Entwicklung verschiedener Formen des antifeudalen Kampfes in der eigentlichen Rus' und bei den von ihr in Abhängigkeit lebenden Völkerschaften Osteuropas. Diese Verbindungslinien bis zu den Bauernkriegen weiterzuverfolgen, ist eine interessante Aufgabe. Aber schon so wird deutlich, daß die Besonderheiten des Klassenkampfes in der Rus', die hier entstehenden Mischformen, in ihren Anfängen weit in die Vergangenheit zurückreichen. Übersetzt von P. Hoffmann

L E V VLADIMIROVIÖ

CEREPNIN

Der Klassenkampf in der Rus' im 14. und 15. Jahrhundert

I. Der hier zu behandelnde Zeitraum gehört in die Periode der feudalen Aufsplitterung. Das Auseinanderfallen des Altrussischen Staates in verschiedene selbständige oder halbselbständige Gebiete und Fürstentümer war ein gesetzmäßiges Ergebnis der Durchsetzung des Feudalismus, des Wachsens der Städte, der Festigung des feudalen Eigentums an Grund und Boden in den verschiedenen Teilen der Rus', der Notwendigkeit für die herrschende Klasse, einen regionalen Machtapparat zu errichten. Die sowjetische Geschichtswissenschaft hat herausgearbeitet, daß dieser Übergang zur Aufsplitterung eine in ihrem Wesen progressive Erscheinung war, die durch die fortschreitende Entwicklung der feudalen Produktionsweise, durch das Anwachsen der Produktivkräfte in Landwirtschaft und Handwerk, durch territoriale Erschließung sowie durch das Entstehen regionaler, wirtschaftlicher, politischer, militärischer und kultureller Zentren bedingt war. Die Aufsplitterung der Alten Rus' hatte zugleich negative, wenn auch nur zeitweilig wirksame Folgen. Die politische Einheit des Staates wurde geschwächt; schon bald (im 13. Jh.) mußte er die Schrecken des mongolisch-tatarischen Ansturms und des folgenden Jochs tragen sowie sich der Aggression der im Westen benachbarten Feudalherren widersetzen. Die weitere Entwicklung im 14. und 15. Jh. ist durch widersprüchliche Tendenzen charakterisiert. Einerseits gab es starke Kräfte, die die Aufsplitterung, die inzwischen ihre zeitweilige progressive Bedeutung verloren hatte und zu einem Hemmnis für den gesellschaftlichen Fortschritt geworden war, konservieren wollten; andererseits wuchsen die Voraussetzungen für den staatlichen Zusammenschluß des Landes auf einer dauerhafteren materiellen Basis. Die Zentralisierung vollzog sich auf feudaler Grundlage unter Bedingungen der sich ausweitenden wirtschaftlichen Verbindungen, der Entwicklung der Städte als Zentren des Handwerks und des Handels, der Entwicklung der Warenproduktion und des Warenaustauschs. Es gehört zur Dialektik des historischen Prozesses, daß die feudale Aufsplitterung eine Etappe auf dem Weg zur Zentralisierung ist und daß gerade jene Faktoren, die einst zur Aufsplitterung führten, mit der weiteren Entwicklung zu Faktoren ihrer Überwindung wurden. 1 Die politische Aufsplitterung wie auch die folgende Etappe der staatlichen Zentralisierung gehören zur Epoche des entwickelten Feudalismus. Der Klassenkampf in dieser Zeit ist eine treibende Kraft des gesellschaftlichen Fortschritts; er zeigt die für die Feudalzeit allgemein typischen Züge, zugleich ist er aber auch durch einige Besonderheiten charakterisiert. Wie in der frühfeudalen Rus' - und der Feudalzeit insgesamt —' 1

L. V. Cerepnin, O nekotorych neresennych voprosach otecestvennoj istorii, in: Buduscee nauki, Heft 8, Moskau 1975, S. 239 f.

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lassen sich vier Richtungen des Klassenkampfes der Bauern erkennen: 1. Kampf um Land; 2. Kampf um persönliche Freiheit; 3. Kampf um bessere Arbeitsbedingungen; 4. Kampf um das Recht, die Produkte der Arbeit selbst genießen zu können. Daneben gab es in der Bauernbewegung des 14. und 15. Jh. auch einige Besonderheiten. Es ist die Zeit, in der im politischen Leben der Adelsbesitz immer größere Bedeutung erlangte2, während in der Alten Rus' offensichtlich staatliche Formen des Grundeigentums überwogen hatten. Das Anwachsen des Erbgutbesitzes (votcina) auf Kosten der staatlichen Ländereien forderte den Protest der „schwarzen" Bauern heraus, also jener Bauern, die nicht einem Feudalherrn gehörten, sondern vom Staat abhängig waren; die von den Feudalherren angeeigneten Länder waren bisher von diesen schwarzen Bauern genutzt worden. Besondere Schärfe erlangte in der von uns behandelten Zeit die Auseinandersetzung zwischen schwarzen Bauern und Klöstern. Das hängt mit der wachsenden sozialökonomischen und politischen Rolle der Klöster als feudaler Institution 3 und ihrem aktiven Bestreben nach Aneignung staatlichen Grund und Bodens zusammen. Die unterschiedlichen Formen der bäuerlichen Abhängigkeit wurden durch den antagonistischen Charakter der Produktionsverhältnisse und durch die sich daraus ergebenden juristischen Normen bestimmt. In der Zeit der feudalen Aufsplitterung gab es kein für den ganzen Staat einheitliches Feudalrecht und dementsprechend auch keine einheitliche Front gegen die feudale Abhängigkeit. Es gab eine Vielzahl von Formen der Abhängigkeit und dementsprechend eine Vielzahl von (ökonomischen und juristischen) Kategorien der Bauernschaft, die um Verbesserung ihrer Lage kämpften. Wohl die größte Bedeutung in diesem Kampf erhielt das Recht der „Aufkündigung" der Bauern gegenüber ihrem „Herrn" und des Übergangs zu einem anderen Grundbesitzer, ein Recht, das von der Landbevölkerung gegen eine Verschärfung des Feudalregimes ausgenutzt wurde. Aus den überlieferten Dokumenten ist zu erkennen, daß die von einem Herrn abhängigen Bauern eine Erleichterung ihrer Arbeitsbedingungen erzwingen konnten, indem sie auf ihre schwere materielle Lage verwiesen, Unzufriedenheit gegenüber Unterdrückungsmaßnahmen der Gutsverwaltung usw. äußerten. Solche Bemühungen um eine teilweise Verbesserung ihrer Lage, ohne dabei die Grundlagen dieser Ordnung anzutasten, sind für die gesamte Feudalzeit typisch. In der Zeit der feudalen Aufsplitterung war insgesamt der Übergang von dör Tributform der Abgaben zur Feudalrente bereits vollzogen. Eine Form des bäuerlichen Widerstandes gegen die Ausbeutung wurde der Kampf um eine Fixierung dieser Rente. Gleichartige Tendenzen sind auch in anderen europäischen Ländern im Mittelalter zu beobachten. Das waren die Hauptlinien des Kampfes der russischen Bauern gegen das Feudalregime und gegen die herrschende Klasse im 14. und 15. Jh. Die Dokumente überliefern folgende Formen und Methoden des Klassenkampfes: Übergabe von Bittschriften oder Beschwerden an die Feudalherren oder an das Gericht, Flucht» Verweigerung von Dienstleistungen, Aneignung von Land, Anzünden der Herrensitze, Raub des Besitzes des Feudalherrn (tat'ba), Diebstahl oder Vernichtung 2

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B. D. Grekow, Die Bauern in der Rus von den ältesten Zeiten bis zum 17. Jahrhundert, Bd. 1, Berlin 1959, S. 2 f. I. U. Budovnic, Monastyri na Rusi i bor'ba s nimi krest'jan v XIV-XVI vekach, Moskau 1966, S. 27.

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von Dokumenten über Besitz von Land und Leuten, Ermordung von Vertretern der herrschenden Klasse (dusegubstvo), Überfälle auf Reichtum und Macht besitzende Leute (razboj) usw. Natürlich ist eine solche Aufzählung immer mit Vorsicht aufzunehmen. Man kann darüber streiten, ob eine solche Aktion wie das Überreichen einer Bittschrift, was offensichtlich nicht gegen die geltenden Gesetze verstieß, oder die Flucht, die offensichtlich ein Ausweichen vor der Auseinandersetzung war, unter dem Begriff des Klassenkampfes subsumiert werden können. Aber die Dokumente beweisen, daß in der damaligen Zeit die Formen des Klassenkampfes noch unentwickelt waren: sozialer Protest konnte sich in einer friedlichen Bittschrift äußern, die Flucht konnte gleichbedeutend mit einem Sichwidersetzen der Unterdrückung sein. Eine methodische Schwierigkeit bei der Erforschung des Klassenkampfes entsteht weiterhin durch die verschwommene und vieldeutige Terminologie des Aktenmaterials. Hinter den Ausdrücken „tat'ba", „dusegubstvo", „razboj" verbargen sich häufig konkrete Erscheinungsformen sozialer Gegensätze, aber es konnte sich ebensogut um rein kriminelle Delikte handeln. Wir haben hier ein weiteres Merkmal für die noch ungenügend entwickelten Formen des Klassenkampfes, obwohl er offensichtlich recht großes Ausmaß angenommen hatte. Der Historiker stößt noch auf eine weitere Schwierigkeit: Die Quellen bieten häufig ein Material, das nicht den Verlauf des Klassenkampfes darstellt, sondern nur sein in juristische Formulierungen gekleidetes Ergebnis. Wir haben es vielfach mit trokkenen Rechtsnormen zu tun, durch die Aktionen gegen das Feudalregime unterbunden oder bestraft wurden; die volle Dramatik der Klassenwidersprüche und der Auseinandersetzungen bleibt dem Historiker verborgen. Diese Schwierigkeiten bei der Erforschung von Problemen des Klassenkampfes können nur durch Verbesserung der Methodologie und der Methodik der Forschung teilweise überwunden werden. II. Betrachten wir im einzelnen die Quellenangaben über die gerade dargelegten verschiedenen Formen des Klassenkampfes der Bauern. Bis vor kurzem waren uns kollektive Bittschriften der Bauern an ihre Herren oder an Gerichtsorgane für das 14. und 15. Jh. unbekannt. Erst die Ausgrabungen in Novgorod haben der Wissenschaft bis jetzt schon über ein Dutzend solcher Dokumente erschlossen, die auf Birkenrinde geschrieben wurden. Eine solche Erweiterung der Quellenbasis für eine relativ frühe Zeit durch Dokumente, die unmittelbar aus dem Kreis der arbeitenden Bevölkerung stammen, ist von außerordentlicher Bedeutung. Die Bittschriften auf Birkenrinde (wie überhaupt alle Birkenrindeurkunden) spiegeln unmittelbar das reale Leben wider, sie stellen die Situation in der einfachen Sprache des Volkes dar. Das kennzeichnet ihren Wert; aber bedauerlicherweise sind die meisten dieser Dokumente nur unvollständig erhalten. Ihrem Inhalt nach sind die Beschwerden recht vielseitig. Da beschweren sich die Bauern mit ihrem Klucnik (Dorfältesten) Koscej bei ihrem Herrn darüber, daß die Bauern entweder „fehlerhafte" oder gar keine Pferde haben. Die Bauern des Dorfes Pobratilova im Pogost Siznenskij blieben als Ergebnis von Frosteinfällen ohne Saatgut, sie haben nichts mehr zu essen.4 4

L. V. Cerepnin, Novgorodskie berestjannye gramoty kak istoriceskij istocnik, Moskau 1969, S. 165 f. (Birkenrindeurkunde Nr. 242 und 361).

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Die ernste Lage wurde durch Unterdrückungsmaßnahmen der Grundverwaltung noch verschärft. In einem Besitz „wütete" der Kljucnik (Verwalter), und die Bauern konnten ihn auf keine Weise „besänftigen". Die Dorfbevölkerung in einer anderen Votcina erklärte, daß ihnen „die Kräfte fehlen", um Abgaben und Strafen zu tragen, die ihnen von dem vom Herrn gesandten Verwalter auferlegt wurden. Die Bewohner des Pogost Siznenskij waren darüber unzufrieden, daß der Klucnik ihnen befahl, einen Hof von einem Landstück auf ein anderes zu verlegen, wodurch ihre Landnutzung behindert würde.5 Ein weiteres Motiv für Beschwerden der. Bauern war die Übergabe des Landes zusammen mit der dieses Land bearbeitenden Bevölkerung an einen anderen Herrn. Ein Feudalherr, Michail Jur'evic, übergab einem anderen (Klimec Oparin) ein kleines Dorf; die dort lebenden Bauern erklären in ihrer Bittschrift, daß sie nicht gewillt seien, den neuen Herrn anzuerkennen. 6 In verschiedenen Bittschriften spiegeln sich Auseinandersetzungen der Bauern mit ihren Herren wegen des „Abzugs", der Aufkündigung, und des Verlassens der von ihnen genutzten Ländereien wider. Die einem Herrn unterstehenden Bauern zogen ab auf „schwarze" Ländereien, der Starost dieser „schwarzen" Ländereien bittet den ehemaligen Herrn, die Schuld dieser Bauern entsprechend der „Pokruta" (dem bei der Ansiedlung gewährten Darlehen) zu stunden. Der Kljucnik Vavula nahm in den Besitzungen des Posadnik Andrej Ivanovic die Bauern Zachar und Nester auf, die aus den Erbbesitzungen eines anderen Feudalherrn, Aleksej §uki, abgezogen waren; in seinem Namen und im Namen dieser Bauern übergibt er dem Posadnik eine Bittschrift, er möge dafür sorgen, daß diesen Bauern von ihrem früheren Herrn ihr Getreide zurückgegeben werde. 7 Die Übergabe einer Bittschrift war die friedliche, dem Gesetz entsprechende Form, in der die Bauern für ihr Recht eintraten. Aber wenn es sich um kollektive Bittschriften handelte, dann zeigen sich doch schon gewisse Elemente der Organisiertheit und des Bewußtseins der gemeinsamen Interessen. Die Übergabe von Bittschriften war keine Einzelerscheinung. Im 15. Jh. teilte ein „Parobok" (Diener) des Sohnes des Posadniks Maksim Jur'evic diesem mit, daß die Hälfte der Bevölkerung in den dem Posadnik gehörenden Dörfern weggelaufen sei, wobei sie hoffen, durch Bittschriften eine Herabsetzung der Abgaben erreichen zu können, diejenigen aber, die die Volost noch nicht verlassen hätten, seien jeden Augenblick dazu bereit. 8 Das Feudalrecht verteidigte die Interessen der herrschenden Klasse. In verschiedenen Verträgen der Fürsten untereinander findet sich ein Punkt über Beschwerden eines Cholopen oder Sklaven über seinen Herrn, wobei auf Zeugen verwiesen wird, aber keine Bürgen gestellt werden. In einem solchen Vertrag zwischen Novgorod und dem Fürsten Kasimir IV. von Litauen von 1470/71 wird neben dem Cholopen auch der. Smerd genannt. 9 Bittschriften an den Herrn und Appellation an die Machtinstitutionen waren nur eine Form des Kampfes der Bauern, daneben wandten sie auch andere Formen an, 5

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Ebenda, S. 168-171 (Nr. 94, 370, 157). Ebenda, S. 172 f. (Nr. 311). Ebenda, S. 174-176, 179-181 (Nr. 102, 310). Ebenda, S. 185 f., 196 (Nr. 301). Duchovnye i dogovornye gramoty velikich i udel'nych knjazej (DDG), Moskau-Leningrad 1950, S. 42 (Nr. 15), S. 188 (Nr. 59); Gramoty velikogo Novgoroda i Pskova (GVNP), Moskau-Leningrad 1949, S. 40 (Nr. 22), S. 132 (Nr. 77).

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wobei die Flucht oder der Abzug aus der Besitzung, in der sie lebten, sowie der Übergang zu einem anderen Feudalherrn weitverbreitete Erscheinungen waren. Dabei konnten die Normen des Feudalrechts eingehalten werden, häufig handelten die Bauern, aber unter Verletzung oder Mißachtung der entsprechenden Bestimmungen, zuweilen auch entsprechend ihrer eigenen Interpretation dieser Regelungen. Gegen die feudale Abhängigkeit richtete sich die Flucht der Cholopen besonders dann, wenn sie dabei ihrem Herrn die Unterlagen über ihre Abhängigkeit entwendeten oder vernichteten und solche Tatsachen werden in den überlieferten Materialien mehrfach angeführt. Die herrschende Klasse suchte zumindest seit der Mitte des 15. Jh. den bäuerlichen Abzug einzuschränken, den Jur'ev-Tag im Herbst als alleinigen Abzugstermin durchzusetzen. Die staatlichen Stellen betrachteten den Abzug zu einer anderen Zeit als Flucht und unterstützten die Grundbesitzer dabei, solch einen Abzug zu verhindern. 10 Trotzdem ließ das Gesetz über den Abzug am Jur'ev-Tag den Bauern noch ein Mittel, sich vor der Leibeigenschaft zu schützen, die von den Feudalherren als Mittel des Klassenkampfes eingesetzt wurde. Eine Form des Widerstandes der Bauern gegen die feudale Unterdrückung war der Kampf um eine Fixierung der Rente auf Grundlage der alten grundherrschaftlichen Rechte und gegen Erhöhung ihrer Verpflichtungen. So beschwerten sich 1391 die Bauern (Siroty) des dem Metropoliten unterstehenden Carevokonstantinovskij-Klosters beim Metropoliten Kiprian über den Abt, der willkürlich - nicht nach der Abgaberegelung - Obrok und Barscina erhöht hatte. Auf diese Beschwerde der Bauern wurde vom Metropoliten eine Untersuchung veranlaßt, bei der man den Charakter jener »Abgaberegelung", auf die sich die „Siroty" beriefen, untersuchte; dann wurde im Namen des Metropoliten Kiprian eine Urkunde über die Verpflichtungen der Bauern verfaßt. Damit war eine Grundlage für die weiteren Beziehungen zwischen dem Abt des Carevokonstantinovskij-Klosters und der ländlichen Bevölkerung auf dem Grundbesitz des Klosters geschaffen. Die Satzungsurkunde des Metropoliten Kiprian aus dem Jahre 1391 ist ein aufgrund des Klassenkampfes der Bauern entstandenes Dokument. 11 Ungefähr hundert Jahre später wandte sich die Leitung dieses CarevokonstantinovskijKlosters an den höchsten Vertreter der kirchlichen Hierarchie, an den Metropoliten Simon, mit der Bitte, die Bauern dazu zu zwingen, Fronarbeit (Barscina) in größerem Umfange zu leisten. 12 Zur gleichen Zeit kam es im Snovidskij-Kloster zu Fällen, daß die klösterlichen „Serebrenniki", dem Kloster gegenüber verschuldete Bauern, sich weigerten, Zinsen für die von den geistlichen Herren geliehenen Summen zu zahlen. 13 Als Ergebnis der Zuspitzung der Klassenwidersprüche im Dorf auf Grund der von den Bauern geforderten höheren Feudalrente entstand in der Mitte des 15. Jh. die Vertragsurkunde der Bauern der Volost' Robocinskaja mit dem Novgoroder Jur'ev-Kloster, mit der die bäuerlichen Verpflichtungen festgelegt wurden. Die Urkunde sah die Möglichkeit eines bäuerlichen Widerstandes bei der Eintreibung der Naturalabgaben voraus und stellte fest, daß in solchen Fällen die klösterliche Obrigkeit das Recht hat, die Hilfe des Fürsten und der Bojarenregierung der Novgoroder Republik anzurufen. 10

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Akty social'no-ekonomiceskoj istorii severo-vostocnoj Rusi konca XIV - nacala XVI w . (ASfil), Bd. I, Moskau 1952, S. 245 (Nr. 338), S. 263 (Nr. 359). Akty feodal'nogo zemlevladenija i chozjajstva (APZiCh), Teil 1, Moskau 1951, S 179 f. (Nr. 201). Ebenda, S. 182 (Nr. 205). Ebenda, S. 173 f. (Nr. 192).

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Folglich war diese der äußeren Form nach als Vertrag abgefaßte Urkunde ein Instrument in den Händen der Feudalherren zum Kampf gegen die Bauernschaft. 1 4 Die Bauern weigerten sich nicht nur, Verpflichtungen gegenüber dem Feudalherrn, sondern auch gegenüber dem Staat zu erfüllen. In der Mitte des 15. J h . wanderten die Bauern aus den Besitzungen des Troice-Sergiev-Klosters im Kreis Uglic a b ; sie wollten keinen militärischen Wachdienst leisten und zogen deshalb in Dörfer des Großfürsten oder von Bojaren. Der Abt Vassian und die Klosterbruderschaft erhielt vom Großfürsten das Recht, mit Hilfe des Statthalters in Uglic diese abgezogenen Bauern zurückzuführen. Das Kloster erhielt außerdem ein Privileg, das künftig bäuerliche „Aufkündigung" aus seinen Dörfern im Gebiet Uglic ausschloß. 15 Am umfassendsten und eingehendsten berichten die Quellen über den Kampf um Grund und Boden. Unter den Bedingungen des entwickelten Feudalismus erhielt die Agrarfrage vorrangige Bedeutung. In der damaligen Entwicklungsetappe kam es zu sozialökonomischen Konflikten, vor allem durch das Vorgehen der Feudalherren (offensichtlich vor allem der geistlichen) gegen „schwarze" (dem Staat gehörende) von Bauern genutzte Ländereien. Die schwarzen Bauern wandten sich mit Beschwerden an die Gerichtsinstanzen, zugleich verteidigten sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln ihre Rechte. Sie beseitigten von den Feudalherren aufgestellte Zäune, errichteten eigene Siedlungen, beackerten das Land, das die Feudalherren sich angeeignet hatten, mähten Gras auf den von den Feudalherren usurpierten Wiesen, fällten Bäume usw. In den Akten der Zeit sind viele Mitteilungen über solche Vorgänge erhalten, vor allem in den in verschiedenen wissenschaftlichen Forschungsarbeiten ausgewerteten Gerichtsakten. 1 6 Von besonderem Interesse ist das Buch von A. D. Gorskij über den Kampf um Grund und Boden in der Rus' im 15. und zu Beginn des 16. Jh., in dem 278 Aktenfaszikel mit konkreten Angaben über Streitigkeiten über Grund und Boden ausgewertet wurden, weitere 1800 andere Dokumente schufen den „quellenkundlichen Hintergrund zur Korrektur der verschiedenen quantitativen Berechnungen und Zusammenstellungen." 17 Die Anwendung mathematisch-statistischer Methoden bei der Bearbeitung dieses Materials brachte positive Ergebnisse. Gorskij führt den Beweis, daß die von ihm ausgewählten Quellen einen repräsentativen Querschnitt bieten, er gibt eine Periodisierung des Kampfes um Grund und Boden, zeigt seine Ausdehnung über ein großes Territorium und den Charakter der dabei erzielten Ergebnisse (zuweilen, wenn auch selten, gelang es den schwarzen Bauern, usurpiertes Land zurückzugewinnen) . Wichtige Ergänzungen zu den im Aktenmaterial gebotenen Angaben über den Kampf der Bauern um Grund und Boden bietet das in den Heiligenviten vorliegende Material. Aber diese Quellengattung erfordert ein besonders vorsichtiges Herangehen und eine grundlegende, kritische Sichtung. In den Viten wird das Wirken von Klostergründern, die „zum Ruhm Gottes große Taten vollbrachten", die verschiedene vom Teufel angestiftete Anfechtungen und Anfeindungen „böswilliger" Menschen durchgestanden hatGVNP, S. 174 (Nr. 115). ASEI, Bd. I, S. 192 (Nr. 265). 1B A. I. Kopanev, Istorija zemlevladenija Belozerskogo kraja XV-XVI vv., Moskau-Leningrad 1951; L. I. Ivina, Sudebnye dokumenty i bor'ba za zemlju v Russkom gosudarstve vo vtoroj polovine XV - nacale XVI vv., in: Istoriceskie zapiski, Bd. 86, Moskau 1970, S. 326-356 u. a. 17 A. D. Gorskij, Bor'ba za zemlju na Rusi v XV - nacale XVI veke, Moskau-Leningrad 1974, S. 21, 23 u. a. 14

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ten, in literarischer Form verherrlicht. Hierfür gab es literarische Schablonen, die von Vita zu Vita wiederholt wurden; es ist also eine textologische Analyse notwendig, wobei die Existenz unterschiedlicher, teilweise auch jüngerer Redaktionen besonders beachtet werden muß. Immer ist in diesen Viten die kirchlich-panegyrische Behandlung von Wundern zu finden. Aber hinter der Schablone und der kirchlichen Rhetorik lassen sich reale Lebenssituationen ermitteln, aber dazu muß die kirchliche Umhüllung entfernt und der reale Kern des Lebensberichtes freigelegt werden. Ein solcher Kern ist häufig der Konflikt zwischen dem „Heiligen", der ein neues Dorf anlegt, und der in der Umgebung ansässigen Bevölkerung, die befürchtet, daß damit das von ihr genutzte Land gefährdet ist. Wir sehen hier den gleichen Kampf der schwarzen Bauern gegen die geistliche Feudalität um Grund und Boden, über den wir in den Gerichtsakten exakte Belege finden. Von der Forschung wurden diese Berichte in den Viten über Zusammenstöße der Bauern mit den Klöstern analysiert und verallgemeinert, wobei der Klassencharakter dieser Auseinandersetzungen deutlich hervortrat. Die Bauern vertrieben, verprügelten oder erschlugen die Mönche, überfielen die Klöster, raubten sie aus, zerstörten und verbrannten sie.18 Das sind genau jene Formen des Klassenkampfes, die in den aus der herrschenden Feudalschicht stammenden Quellen als „dusegubstvo", „tat'ba" und „razboj" bezeichnet werden. Über diese Formen des Klassenkampfes berichten auch andere Quellen. Die Chroniken registrieren das Erschlagen des Herrn durch seine Cholopen19, sie berichten auch von Überfällen auf die Besitzungen von Bojaren mit dem Ziel der „Plünderung" (grabez). In Novgorod und in Pskov wurden solche Überfälle von den städtischen „schwarzen Leuten", von Cholopen und von den Bauern der umliegenden bojarischen Dörfer unternommen (vgl. die Berichte unter den Jahren 1310, 1311, 1314, 1332, 1340, 1342 u. a.)20. Besonders ernste soziale Konflikte entstanden in Jahren der Mißernte und des Hungers. 1314 herrschte Hunger in Novgorod und Pskov. Aufgrund der steigenden Getreidepreise begannen in Pskov Unruhen, bei denen von der armen städtischen und ländlichen Bevölkerung Speicher reicher Leute in der Stadt selbst und in den umliegenden Dörfern zerstört wurden. Das war eine Massenaktion, die grausam unterdrückt wurde; etwa 50 Teilnehmer wurden von der Pskover Obrigkeit niedergemetzelt. 21 Einen weiteren ernsten Volksaufstand verzeichnet die Chronik unter dem Jahre 1443. Zwei Jahre hatte in verschiedenen Gebieten der Rus', vor allem im Raum von Tver', eine schwere Hungersnot geherrscht. Viele hungernde Leute zogen aus dem Tverer Gebiet nach Mozajsk. Der dort herrschende Fürst mußte den Befehl geben, diese Menschen zu verpflegen. Aber die aufgebrachte Menge war damit nicht zufrieden, die Un18

I. U. Budovnic, Monastyri, S. 112ff.; V. I. Koreckij, Bor'ba krest'jan s monastyrjami v Rossii XVI - nacale XVII v., in: Voprosy istorii religii i ateizma, Bd. IV, Moskau 1958, S. 169-215. 10 Novgorodskaja pervaja letopis' starsego i mladsego izvodov (NPL), Red. A. N. Nasonov, Leningrad 1950, S. 95; dt. Ausgabe: Die erste Novgoroder Chronik nach ihrer ältesten Redaktion (Synodalhandschrift) 1016-1333/52, hg. von J. Dietze, Leipzig 1971, S. 136; Polnoe sobranie russkich letopisej (PSRL), Bd. XV, Teil 1 (Rogozskij letopisec), Petrograd 1922 (Fotomechanischer Nachdruck Moskau 1965), S. 147. 20 NPL, S. 93 f., 99, dt. S. 133 ff., 140; NPL, S. 334 ff., 353, 366 f., 425. 21 NPL, S. 94, dt. S. 135; NPL, S. 335 f.; Pskovskie letopisi, Bd. 1, Moskau-Leningrad 1941, S. 14, Bd. 2, Moskau-Leningrad 1955, S. 22, 88. 4

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ruhen hörten nicht auf. Diejenigen, bei denen man versteckte Getreidevorräte vermutete, wurden ein Opfer des Volkszornes.22 Zu bedeutenden Unruhen kam es in den Jahren 1445 und 1446 im Novgoroder Land. Zu dieser Zeit tobten in der Rus' Feudalfehden. Die Tverer verwüsteten Novgoroder Gebiet, in Novgorod selbst herrschte Hunger. Die Preise für Getreide stiegen, und bald war es völlig vom Markt verschwunden. Die Bevölkerung war ruiniert, wer dem Hungertod entgehen wollte, floh nach Litauen oder in andere Gebiete; viele verkauften sich für Brot als Sklave (Cholop) an reiche Kaufleute. Zur gleichen Zeit unterdrückten die Bojaren das Volk, plünderten die Bevölkerung aus, die Willkür der Gerichte steigerte sich. Das alles führte zum Aufstand der Landbevölkerung und der Städter, zum offenen Kampf gegen die herrschende Klasse. Diese Volksbewegung veranlagte die Bojarenregierung zu einer Gerichtsreform, die Kontrolle des Vece über die Tätigkeit der Richter wurde verstärkt.23 Diese Angaben über Aktionen des Volkes zeugen davon, daß im 14. und 15. Jh. der Klassenkampf das Niveau regionaler Aufstände erreichte, in denen Bauern gemeinsam mit „städtischen schwarzen Leuten" (den plebejischen Schichten) auftraten. Diese Aufstände brachen spontan aus, sie waren nicht organisiert, in ihnen fehlte ein formuliertes Programm, es fehlten Kampflosungen, sie überschritten nicht den lokalen Rahmen. Aber in diesen Klassenkämpfen entstanden bei den Bauern - wenn auch noch schwache - Elemente der Solidarität und des Erkennens ihrer Interessen. Die Bauern begriffen, daß ihr Gegner im Kampf um Grund und Boden und um die Produkte ihrer Arbeit die Bojaren, die kirchliche Hierarchie und die geistlichen Korporationen sind. Sie erlebten es in der Praxis, daß diese über große materielle Reichtümer und politische Macht verfügenden starken Gegner von der Regierung unterstützt wurden, daß die Gerichte käuflich waren und daß die Richter nach den Wünschen der Mächtigen urteilten. Diese Erkenntnisse, bis zu denen die Bauern damals vordrangen, veranlaßten sie objektiv zum Vorgehen gegen die Feudalordnung. Das waren fortschrittliche Elemente in der bäuerlichen Weltanschauung. Aber in den Anschauungen der Bauern gab es auch viel Konservatives, das sie vom Kampf abhielt. Konservativ war die Ideologie des naiven Monarchismus, der mit Illusionen verbunden war, die die Bauern veranlaßten, ihr antifeudales Auftreten u. a. in die legale Form von Bittschriften an den Großfürsten zu kleiden. Diese monarchischen Illusionen wurden durch einzelne Maßnahmen der großfürstlichen Politik gestützt, denn der Großfürst war daran interessiert, schwarze Ländereien als Staatsfonds zu behalten, weshalb es den Bauern in Einzelfällen (nicht allzu häufig zwar) durchaus gelang, vor Gericht ihr Land gegen die Ambitionen feudaler Grundbesitzer zu verteidigen.24 Der Staat führte gegen alle Erscheinungsformen des Klassenprotestes seinen Kampf. Die Chroniken bezeugen, daß schon Ivan Kaiita in der zweiten Hälfte des 14. Jh. Maßnahmen gegen Gesetzesverletzer ergriff, daß er Leben und Eigentum der Feudalherren schützte.25 In den Vertragsurkunden, die die Beziehungen der Fürsten untereinander regelten, finden sich Abschnitte über die Auslieferung flüchtiger Bauern, Cholopen und anderer Leute, die gegen die feudale Gesetzgebung verstoßen hatten. 22

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PSRL, Bd. XV (Tverskaja letopis'), Petersburg 1863 (Fotomechanischer Nachdruck Moskau 1965), S. 491 f.; Bd. XXIII (Ermolinskaja letopis'), Petersburg 1910, S. 151. PSRL, Bd. IV (Novgorodskie letopisi), Teil 1,1, Petrograd 1915, S. 440 f. Gorskij, Bor'ba krest'jan, S. 147. NPL, S. 561.

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Rechtsverletzer, die über die Grenze des Fürstentums geflohen waren, wurden bestraft, wo man sie verhaftete; die Staatsorgane des betreffenden Fürstentums waren verpflichtet, ihnen den Prozeß zu machen. 2 0 Im 15. J h . wurde von der großfürstlichen Macht die Verantwortung der bäuerlichen Gemeinde für Vergehen, die auf ihrem Territorium begangen worden waren, erhöht. 2 7 Offensichtlich war durch die Verschärfung des Klassenkampfes auch eine solche Bestimmung in die Pskover Gerichtsurkünde gelangt wie die Todesstrafe für Menschen, die dreimal des Diebstahls überführt worden waren oder die den Kreml beraubt haben, denen Pferdediebstahl, Brandstiftung und dergleichen nachgewiesen werden konnte. Analoge Bestimmungen finden sich im Sudebnik von 1497. Zweifellos veranlagte die Verschärfung der Klassengegensätze und die Aktivierung der antifeudalen Bauernbewegung die herrschende Klasse dazu, die Machtorgane zur Unterdrückung des Volkes zu vervollkommnen, wirksamere Formen des Staatsapparates zu suchen. Mit anderen Worten, der Klassenkampf war ein Faktor, der den Übergang von der feudalen Aufsplitterung zur staatlichen Zentralisierung beschleunigte. III. Soziale Konflikte gab es nicht nur im Dorf, sondern auch in den Städten. Der Aufschwung der Städte, die sich von der Zerstörung durch die mongolisch-tatarische Invasion erholt hatten, führte zu einer Verschärfung der sozialen Gegensätze. Die Stadtarmut und die städtischen Mittelschichten, also die Masse der Stadtbevölkerung, kämpften gegen Feudalherren und reiche Kaufleute. Die sozialen Auseinandersetzungen in der Stadt verbanden sich mehrfach mit Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Feudalklasse zwischen Vertretern unterschiedlicher politischer Richtungen. Die städtische Bewegung war häufig mit der nationalen Befreiungsbewegung gegen die mongolisch-tatarischen Eroberer oder gegen litauische Feudalherren und andere fremde Herren verknüpft. Eine große Rolle spielten in den städtischen Auseinandersetzungen der hier behandelten Zeit die Vece-Versammlungen, auf denen die korporativen Rechte der Stadt verteidigt wurden; in mehreren Fällen wurden sie zur Arena von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Schichten der Stadtbevölkerung. Vom aktiven Auftreten der Stadtbevölkerung ist der Anfang des 14. J h . gekennzeichnet. Damals kam es zu Aufständen in Kostroma (1304), Niznij Novgorod (1305)28, Brjansk (1310) 2 9 . Auf Beschluß des Vece wurden dort etliche Bojaren hingerichtet. Eine erneute Zuspitzung der städtischen Klassenkämpfe ist in den vierziger Jahren des 14. Jh. zu beobachten, in der Zeit unmittelbar nach dem Tod des Moskauer Großfürsten Ivan Danilovic Kaiita. Ein großer Aufstand brach 1340 in Torzok aus. Die Entsendung von die Bevölkerung schikanierenden Steuereintreibern in diese Stadt durch den Nachfolger Ivan Kalitas, durch Semen Ivanovic, löste die Unruhen aus. Die in der Stadt wohnenden Bojaren wandten sich um Hilfe an die Novgoroder Regierung. Aus Novgorod erschienen - für die großfürstliche Verwaltung überraschend - Bojaren mit einer Streitmacht aus Torzok. Sie verhafteten die im Namen des Großfürsten 2(5 27 28 29



DDG, S. 55 (Nr. 19), S. 298 (Nr. 79). AFZiCh, Teil I, S. 202 (Nr. 230). A. M. Sacharov, Goroda Severo-vostocnoj Rusi XIV-XV vekov, Moskau 1952, S. 205 f. PSRL, Bd. XVIII (Simeonovskaja letopis'), Petersburg 1913, S. 87.

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handelnden Statthalter und Steuereintreiber und deren Familienangehörige; aus Novgorod erbaten sie militärische Unterstützung. Bei der einfachen Stadtbevölkerung rief das Verhalten der Novgoroder Bojaren nicht weniger Erregung hervor als vorher die großfürstliche Administration. Sie handelte aber erst, als deutlich wurde, daß aus Novgorod keine weitere Hilfe zu erwarten war. Die einfache Stadtbevölkerung (cern') bewaffnete sich, zog vor die Bojarenhöfe und verlangte vom Wojewoden die Freilassung der großfürstlichen Statthalter und Steuereintreiber (offensichtlich sollte damit Vergeltungsmaßnahmen des Großfürsten Semen Ivanovic vorgebeugt werden). Die Novgoroder Bojaren wurden aus Torzok vertrieben, auf Beschluß des Vece ein Feudalherr aus Novotorzok hingerichtet, die anderen ließen Hab und Gut zurück und flohen nach Novgorod. Die in der Stadt gelegenen Höfe dieser geflüchteten Bojaren aus Novotorzok wurden geplündert, die Häuser niedergerissen. Der Aufstand griff über die Grenzen der Stadt hinaus, es beteiligten sich Bauern, die Land und Getreide der Feudalherren sich aneigneten. 3 ^ Besondere Schärfe erlangte der Klassenkampf in Novgorod. Der bedeutendste Aufstand war 1418. Die Berichte über diesen Aufstand in den verschiedenen Chroniken zeigen unterschiedliche Darlegungen, weshalb es nur annähernd möglich ist, ein reales Bild dieser Ereignisse zu gewinnen. „Ein gewisser Stepanko" (offensichtlich ein einfacher Stadtbewohner) hielt den Bojaren Daniii Ivanovic Bozin fest und rief andere Leute zu Hilfe, um mit ihm abzurechnen. Das war wohl kaum ein bloßer Akt persönlicher Rache, eher erfüllte Stepan eine von der einfachen Stadtbevölkerung vorher gefaßte Entscheidung, denn die Abrechnung mit Daniii Ivanovic erfolgte in der Form eines Vece-Gerichts, es wurden die „Beleidigungen" (obyda) untersucht, die Daniii nicht nur Stepan, sondern auch anderen Posad-Leuten zugefügt hatte. Auf Beschluß des Vece wurde Daniii Ivanovic in den Volchov geworfen. Ein Fischer rettete ihn, der den Bojaren in seinen Kahn zog. Daraufhin zerstörte die Bevölkerung das Haus dieses Fischers, er selbst konnte sich verbergen. Offensichtlich wurde also von der Bevölkerung dieses Vece-Urteil anerkannt, weshalb derjenige bestraft wurde, der es nicht achtete. Natürlich handelte es sich nur um diesen einen Bojaren, der die Bevölkerung ganz besonders gegen sich aufgebracht hatte. Wichtiger ist die Beteiligung der einfachen Stadtbevölkerung am Vece-Gericht über diesen unbeliebten Vertreter der herrschenden Klasse. Während das Volk um dieses Recht kämpfte, betrachtete der vor dem Volkszorn noch einmal gerettete Bojar diesen Akt als Unrecht; im Interesse des Novgoroder Patriziats unternahm er energische Maßnahmen zur Unterdrückung aller Eigenmächtigkeiten der einfachen Stadtbevölkerung. Er betrachtete die ihm widerfahrene Behandlung als Beeinträchtigung seiner „Ehre", verhaftete deshalb Stepan und ließ ihn foltern. Jetzt nahm das Volk den offenen Kampf gegen seine Unterdrücker auf und verteidigte seinen Vertreter. Es begann eine neue Phase des antifeudalen Aufstandes. Die Vece-Glocke rief zur Versammlung, auf der beschlossen wurde, den Hof Daniii Ivanovics zu zerstören. Die Volksmassen waren bewaffnet zu dieser Vece-Versammlung gekommen, damit der dort zu fassende Beschluß gleich in die Tat umgesetzt werden konnte. Die Bewegung erreichte großen Umfang. In einigen Stadtteilen Novgorods wurden Bojarenhöfe geplündert. Auch das Nikol'skij-Kloster, in dem die Bojaren ihre Speicher hatten, wurde überfallen. 30

NPL, S. 352 f.; V. N. Bernadskij, Novgorod i Novgorodskaja zemlja v XV veke, MoskauLeningrad 1961, S. 33.

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In der dritten Etappe wuchsen diese Unruhen zu einem richtigen Bürgerkrieg an, zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den plebejischen Schichten der Stadtbevölkerung und den Bojaren. Auseinandersetzungen unter den verschiedenen Bojarengruppierungen machten die Lage noch unübersichtlicher. Die Brücke über den Volchov wurde zum Ort der Schlacht; dorthin zogen die sich bekämpfenden bewaffneten Parteien. Um den Aufstand beizulegen, erklärten der Novgoroder Erzbischof, der Posadnik und die Tysjackie öffentlich, daß man die Forderungen der Bevölkerung berücksichtigen würde. Danach verliefen sich die Aufständischen. Die Bojaren sahen sich aufgrund der Volksbewegung gezwungen, in die Novgoroder Gerichtsur künde einen eigenen Abschnitt über die Gerichtsfunktionen des Vece einzufügen. 3 * Die Geldentwertung führte 1446 oder Anfang 1447 in Novgorod zu Unruhen. M a n hatte das Gewicht der Münzen verringert, einzelne Münzmeister und ihnen folgend dann auch andere Einwohner Novgorods brachten minderwertige Münze in Umlauf, sie schmolzen Silbermünzen ein und prägten daraus minderwertiges Geld. Diese Entwertung der Münzen führte zum Ansteigen der Preise auf dem M a r k t und zu einer Verarmung der Bevölkerung. Die Novgoroder Regierung sah sich zu einer Geldreform gezwungen. Bestimmte Münzmeister erhielten den Auftrag, unter der Aufsicht von Posadnik, Tysjackij und Vece das umlaufende Geld umzuprägen, wobei das frühere Gewicht wieder eingeführt werden sollte. Das führte erneut zu Verlusten f ü r die Stadtbevölkerung und f ü r die Bauern, die bei der Umprägung der minderwertigen in vollwertige Münze eine geringere Summe erhielten als der Nominalwert der eingelieferten Münzen angab; außerdem mußten sie dabei noch eine besondere Abgabe an den Staat zahlen. Auch bei der Umprägung kam es zu Mißbräuchen, es wurde auch nicht vollwertiges Metall zur Prägung neuer Münzen verwendet. Schuld daran waren jene Bojaren, unter deren Kontrolle die Münzmeister arbeiteten. Die Münzmeister bestachen diese Bojaren und erhielten so bei der Umprägung zusätzlichen Gewinn, das Volk aber wurde betrogen. Die Bevölkerung versammelte sich zum Vece und verlangte vom Posadnik Sokira Antwort, der aber hielt es f ü r angebracht, die ganze Schuld auf den Münzmeister Fedor Zerebec abzuwälzen. Auf dem Vece wurde dieser Münzmeister öffentlich vernommen, er nannte als Mittäter bei der Verfälschung der Münzen 18 weitere Namen. Das Volk richtete sie alle hin, sie wurden von der Volchov-Brücke in den Fluß geworfen, ihr Besitz wurde beschlagnahmt, sowohl der zu Hause aufbewahrte, als auch der in Kirchen verwahrte. Auch Fedor Zerebec wurde hingerichtet, sein Besitz aufgeteilt. Aber auch danach dauerten die Unruhen in Novgorod noch etliche Zeit an. 3 2 1458 kam es wegen Verteuerung der Getreideprodukte zu Unruhen in Pskov. Das offene Auftreten der Bevölkerung auf dem Vece führte dazu, daß die alten Posadniki erschlagen und neue gewählt wurden; die Bevölkerung erzwang eine Vergrößerung des Getreidemaßes „zobnica". Damit wurde unter Beibehaltung der bisherigen nominellen Maßeinheit de facto der Getreidepreis gesenkt. Außerdem wurde ein Etalon in 31

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NPL, S. 408-411; PSRL, Bd. III (Novgorodskie letopisi), Petersburg 1841, S. 136-138; Bd. IV (desgl.), Teil I, 2,. Leningrad 1925, S. 420-425; Bd. V (Pskovskie i Sofijskie letopisi), Petersburg 1851, S. 260f.; Bd. XVI (Letopis' Avraamki), Petersburg 1889, S. 168 bis 170; Bernadskij, Novgorod, S. 178-183; V. L. Janin, Novgorodskie posadniki, Moskau 1962, S. 252-257. PSRL, Bd. I (Lavrent'evskaja letopis'), Teil 2, Leningrad 1927 (Fotomechanischer Nachdruck Moskau 1962), S. 443f.; Bernadskij, Novgorod, S. 183; Janin, Novg. posadniki, S. 282.

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Keulenform (palica) zur Kontrolle neben die „zobnica" gehängt, aber nach einiger Zeit, 1643, verloren die Pskover Bürger wieder die Möglichkeit, das Schüttmaß zu kontrollieren: der zu dieser Zeit amtierende Posadnik hatte befohlen, den als Ergebnis der Volksbewegung eingeführten Etalon zu vernichten. 33 Besondere Aufmerksamkeit verdient für das 14..und 15. Jh. der Kampf der Stadtbevölkerung gegen die herrschende Kirche. 1337 erhob sich die einfache Novgoroder Bevölkerung - die „prostaja cad'" - gegen Josif, den Archimandriten des Jur'ev-Klosters. Die Aufständischen (kramolniki=Unruhestifter) riefen ein Vece zusammen, nachdem (offensichtlich entsprechend einem Vece-Beschluß) der Archimandrit in der Kirche des heiligen Nikola unter Arrest gehalten wurde, vor der Kirche wurde eine Wache aufgestellt. 34 Auch von Bilderstürmerei kann man für Novgorod sprechen. Nach dem Bericht der Chronik kam es 1340 in der Stadt zu einem großen Brand. Während der Feuersbrunst raubten nach dem Chronikbericht „böse Menschen" die Kirche aus. Aber diese offensichtlich auch am Ausbruch des Feuers nicht unschuldigen Menschen waren keine einfachen Räuber. Die Quellen charakterisieren sie als Vertreter einer antiklerikalen Ideologie, die wesentliche Dogmen der rechtgläubigen Kirche (die Lehre von der Auferstehung, vom jüngsten Gericht) ablehnten, also offensichtlich zu einer häretischen Richtung gehörten. Ihr Vorgehen gegen die Kirche war in der damaligen Zeit zugleich ein Vorgehen gegen die Feudalordnung. Die Chronik gibt folgendes charakteristische Detail: die „bösen Leute" nahmen die in der Kirche aufbewahrten Waren mit, die Ikonen und andere Heiligtümer ließen sie unberührt, aber beim Weggang schlössen sie die Kirchentüren ab, so daß diese kirchlichen Gegenstände nicht vor dem Feuer gerettet werden konnten. Auf den ersten Blick ergibt sich etwas Widersprüchliches, aber diesen Widerspruch kann man erklären. Der „Raub" der Waren war wahrscheinlich eine Form der Verteilung des Eigentums der reichen Leute unter die Armen nach Prinzipien der sozialen Gleichheit. Das aktive Verhindern der Rettung der Ikonen und anderer kirchlicher Geräte aus der brennenden Kirche war, wie anzunehmen ist, nichts anderes als Ausdruck von Tendenzen der Bilderstürmerei. 35 Interessantes Material liegt für den Klassenkampf in Novgorod 1359 vor. Den Anlaß zum Aufstand gab ein Wechsel auf dem Stuhl des Erzbischofs. Moisej hatte die Bischofswürde niedergelegt, zum Nachfolger wurde der bisherige Kljucnik des bischöflichen Wirtschaftshofes der heiligen Sophie, der Mönch Aleksej, gewählt. Die in diesem Zusammenhang entstehenden Unruhen erklärt der Chronist in der üblichen religiös-historiosophischen Anschauung seiner Zeit mit dem Wirken von Teufeln, die „wilde Menschen" zum Vorgehen gegen die Oberschicht veranlaßten. Aber hinter dieser schablonenhaften Formulierung über das Wirken des Teufels auf die Menschen spürt man die lebendige Wirklichkeit der damaligen Zeit. In jener Zeit verband sich der ideologische Kampf zwischen den Vertretern der rechtgläubigen Orthodoxie und den Häretikern, die die ideologischen Grundlagen der herrschenden Kirche angriffen, eng mit dem offenen sozialen und politischen Kampf der einfachen Leute gegen die feudale Aristokratie. Der Aufstand 1359 dauerte drei Tage. Die „schwarzen Leute" verprügelten und erschlugen viele Bojaren. 36 33 34 35 38

Pskovskie letopisi, Bd. I, S. 55; Bd. 2, S. 50, 143 f., 151. NPL, S. 347. Ebenda, S. 351 f. Ebenda, S. 355; Bernadskij, Novgorod, S. 32.

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Eine Besonderheit verschiedener städtischer Aufstände war die gleichzeitige Frontstellung gegen das Joch der Goldenen Horde und gegen die Unterdrückung seitens der russischen Feudalherren. Bemerkenswerte Volksbewegungen gegen die Willkürherrschaft der Horde gab es in der Rus' in den zwanziger Jahren des 14. Jh. 1320 erschienen in Rostov „böse Tataren" (offensichtlich zur Eintreibung von Abgaben), die Städter verjagten sie. 37 1327 erhoben sich Posadieute in Tver' zum Kampf gegen die tatarischmongolischen Eroberer. Für diese Bewegungen gibt es keine direkten Hinweise auf ihren Klassencharakter, aber bemerkenswert ist doch die Rolle des Posad, der Handwerker- und Kaufmannsvorstadt, als gesellschaftlicher Kraft. Die Chronik-Überlieferungen zum Aufstand in Tver' bieten unterschiedliche Angaben. Die Erforschung der gegenseitigen Abhängigkeit der verschiedenen Handschriften und Fassungen ist eine spezielle Aufgabe, die hier nicht gelöst werden kann. Ich will hier nur die in allen Redaktionen zu findenden realen historischen Angaben anführen. Eine der Wirklichkeit offensichtlich sehr nahe kommende Schilderung der Ereignisse bieten der Rogozskij letopisec und der Tverer Sammelband. Die Ursachen des Aufstandes waren die unterdrückenden Maßnahmen des aus der Horde gesandten Baskaken Col-Khan (Sevkal) gegenüber der Tverer Bevölkerung. Der Aufstand begann am 15. August morgens auf dem Marktplatz, als der Markt gerade eröffnet wurde, aus einem, wie es scheint, harmlosen Zwischenfall. Die Tataren nahmen einem Diakon das Pferd weg. Der Diakon rief andere Tverer Bürger um Hilfe an. Dieser Ruf wurde offensichtlich als Alarmsignal aufgenommen, als Signal für den Beginn der offenen antitatarischen Aktion, zum Kampf der Bürger gegen die Tataren. Die Tataren griffen zu den Waffen; die dadurch für einen Augenblick bei der Stadtbevölkerung entstehende Verwirrung ging schnell in aktives Handeln der Städter über. Mit Glockenläuten wurde das Volk zum Vece gerufen. Und dann trat nach dem Chronikbericht nicht mehr die zufällig enstandene Gruppe, die dem bestohlenen Diakon zu Hilfe geeilt war, in Aktion, sondern die „Stadt" als Organisation der Posadbevölkerung, die auf dem Vece ihren Beschluß faßte: Die tatarisch-mongolischen Eroberer wurden erschlagen. Zwar wurde daraufhin aus der Horde eine Strafexpedition nach Tver' geschickt, die grausam mit der Stadtbevölkerung abrechnete, aber die Volksbewegung hatte für den Befreiungskampf auch positive Auswirkungen: Die tatarischen Machthaber sahen sich gezwungen, keine Baskaken mehr in die russischen Städte zu schicken. Die Abgaben von der russischen Bevölkerung wurden von nun an durch russische Fürsten eingesammelt und in die Horde gebracht.38 Der Wendepunkt im Kampf der Rus' gegen das Joch der Horde fiel in die siebziger Jahre des 14. Jh. Für diese Zeit ist ein Aufschwung des Freiheitskampfes zu beobachten. 1374 brach in Niznij-Novgorod ein Aufstand gegen die Tataren aus. Die PosadBewohner erschlugen die Gesandten Mamajs, des Herrschers der Horde, und zugleich eine große Zahl anderer Tataren (die in den Chroniken angeführten Zahlen - tausend oder sogar anderthalbtausend - sind wohl übertrieben), sie ergriffen auch den tatarischen Prinzen Sarajka mit seinem Gefolge. Aber diesem gelang es zu entfliehen. Die Tataren um Sarajka setzten den Palast des Bischofs in Brand und überschütteten die Bevölkerung mit einem Pfeilhagel. Damit war für die Stadtbevölkerung ein Signal zum neuen Angriff auf die tatarischen Unterdrücker gegeben, bei dem diese völlig vernich37 33

PSRL, Bd. I, Teil 3, Leningrad 1928 (Fotomechanischer Nachdruck Moskau 1962), S. 530. PSRL, Bd. XV, S. 415 f.; Bd. XV, Teil 1, S. 42-44.

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tet wurden. 39 Ihrer Bedeutung nach stehen in der Geschichte des antitatarischen Befreiungskampfes des russischen Volkes die Ereignisse in Niznij-Novgorod in einer Reihe mit dem Aufstand in Tver' 1327. Ein denkwürdiges Datum in der Geschichte des russischen Volkes war die Schlacht auf dem Kulikovo Pole 1380, mit der der Kampf um die Befreiung der Rus' von der Unterordnung unter die Goldene Horde begann. Aber diese Schlacht schwächte zugleich die Rus', und 1382 konnte sie sich dem Zug des Khans Tochtamys gegen Moskau nicht widersetzen. Als sich der Khan der Hauptstadt näherte, konnte Dmitrij Donskoj keine Verteidigung organisieren und zog deshalb nach Kostroma. In Moskau kam es daraufhin zu einem Volksaufstand. Am zuverlässigsten ist er in der Ermolinskaja-Chronik geschildert. Das Volk versammelte sich und rief durch Glockengeläut zum Vece. Hier wurde offensichtlich der Beschluß gefaßt, die Stadt zur Verteidigung vorzubereiten. Keiner durfte mehr die Stadt verlassen, alle Stadttore wurden von den Bürgern bewacht. An allen Toren wurden auf den Stadtmauern Moskauer bewaffnete Bürger eingesetzt. Wer zu fliehen versuchte, und das waren überwiegend Bojaren, wurde von den Posad-Leuten festgehalten, sein Besitz wurde beschlagnahmt. Die auf den Stadtmauern aufgestellten Wachen bewarfen die Flüchtlinge mit Steinen. Die Aufständischen hielten den Metropoliten Kiprian und die Gattin Dmitrij Donskojs fest; nur mit großer Mühe gelang es ihnen, die Erlaubnis zum Verlassen Moskaus zu erlangen. Aber ihr Eigentum erhielten sie nicht zurück. Bald nach Beginn des Aufstandes in Moskau erschien dort einer der in der Rus' lebenden litauischen Fürsten, Ostej, ein Enkel Ol'gierds. Offensichtlich war er vom Vece als militärischer Befehlshaber gerufen worden. Die von Tochtamys organisierte Belagerung Moskaus dauerte drei Tage; die Moskauer kämpften tapfer. Sie schössen Pfeile auf die Angreifer, bewarfen sie mit Steinen, überschütteten sie mit kochendem Wasser. Nur durch Betrug gelang es den Tataren, die Stadt einzunehmen. Zwei Verräter, Fürsten aus Niznij-Novgorod, veranlagten die Moskauer, Unterhändler an den Khan zu schicken, die Tataren erschlugen jedoch diese Unterhändler, drangen in die Stadt ein und richteten dort ein fürchterliches Blutbad an. Aber halten konnte Tochtamys diese Stadt nicht. 40 Etwas Ähnliches wie in Moskau 1382 vollzog sich auch 1445. Damals gab es zwei Ursachen für soziale Unruhen: Die russische Streitmacht hatte bei Suzdal' eine schwere Niederlage von den Tataren hinnehmen müssen, mehrere russische Fürsten, darunter auch der Moskauer Großfürst Vasilij II. Vasil'evic, waren in Gefangenschaft geraten. Ein Zug der Tataren gegen Moskau war zu erwarten. Dazu kam es in Moskau selbst zu einer großen Feuersbrunst, bei der auch der Kreml vernichtet wurde. All das steigerte die Erregung unter der Bevölkerung. Nach dem Brand begannen Teile der Bevölkerung aus Moskau zu fliehen, offensichtlich vor allem wohlhabende Leute (Feudalherren, reiche Kaufleute). Es war zu befürchten, daß Moskau in die Hände der Tataren fallen würde. Aber die einfache Stadtbevölkerung zeigte sich standhaft, sie ließ sich nicht von Gerüchten abschrecken, daß die Tataren nahe seien und daß mit der Gefangennahme des Großfürsten auch das Schicksal Moskaus entschieden sei. Wieder gingen die Moskauer aktiv gegen jene vor, die die Stadt verlassen wollten, offensichtlich vor allem gegen Feudalherren, Flüchtlinge wurden festgehalten, geschlagen und 38

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PSRL, Bd. XV, 1, S. 106-109; Bd. VIII (Voskresenskaja letopis'), Petersburg 1859, S. 21 f.; Bd. XVIII, S. 114 f.; Bd. XXIII, S. 118. PSRL, Bd. XXIII, S. 127-129; M. N. Tichomirov, Srednevekovaja Moskva v XIV-XV vekach, Moskau 1957, S. 223-228.

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in Fesseln gelegt. Und zugleich begann die Bevölkerung mit der Aufbauarbeit: Die durch den Brand zerstörten oder beschädigten Befestigungsanlagen wurden wieder hergerichtet. Im Ergebnis der Aktivität der einfachen Stadtbevölkerung, die gegen Deserteure strenge Maßnahmen ergriffen hatte, kehrte in der Stadt Ruhe ein. Gleichzeitig mit dem Widerstand gegen das Joch der Goldenen Horde führte das russische Volk einen langen und hartnäckigen Kampf gegen Aggressionen litauischer Feudalherren. Auch hier verbanden sich nationale Befreiungsbewegung des russischen Volkes auf das engste mit antifeudalem Kampf. Das wurde vor allem während des Aufstandes in Smolensk 1440 deutlich. Die „schwarzen Leute", die Schmiede, Schneider, Fleischer, Gerber, Kesselschmiede usw. waren die treibende Kraft. Sie riefen eine „Beratung" (Rada), also ein Vece, zusammen und beschlossen, den litauischen Wojewoden Andrej Sakovic aus der Stadt zu verjagen. Sie bewaffneten sich mit Spießen, Pfeilen, Sensen, Äxten und zogen zum Wojewoden. Das Signal zum Aufstand wurde durch Glockengeläut gegeben. Der Smolensker Wojewode setzte auf den Rat der ortsansässigen Bojarenschaft gegen die aufständische städtische Handwerkerbevölkerung mit Spießen bewaffnete Reiter ein. In der Schlacht war die militärische Überlegenheit auf Seiten des Wojewoden; viele Aufständische wurden erschlagen oder verletzt. Die Überlebenden wurden zur Flucht gezwungen. Scheinbar hatten der Wojewode und die Bojaren einen Sieg über die einfache Stadtbevölkerung errungen, den Volksaufstand niedergeschlagen. Aber auch der Wojewode und ein Teil der Bojaren fürchteten, länger in der Stadt zu bleiben, und flohen in der Nacht aus Smolensk. Die Bürger erkannten nach diesen Ereignissen den Fürsten Andrej Dmitrievic von Dorogobuz als Wojewoden an. 4 1 Offensichtlich hatte dieser neue Fürst und Wojewode vor allem militärische Funktion, während die einfache Stadtbevölkerung in den inneren Belangen der Stadt die entscheidende Rolle spielte, das Organ ihrer Macht war das Vece. Die Smolensker Bojaren hatten sich auf ihre Besitzungen zurückgezogen. Versuche, in die Stadt zurückzukehren, stießen auf hartnäckigen Widerstand der Posadbevölkerung. Durch einen Belagerungsring eingeengt, wandten sich die Bewohner von Smolensk um Hilfe an einen litauischen Fürsten, an Jurij Lugven'evic. Da dieser durch einen Volksaufstand - von der Posadbevölkerung gerufen - Fürst von Smolensk wurde, mußte er mit ihr im Bündnis agieren. Mit Hilfe seiner Streitmacht ergriff er einige Smolensker Bojaren, legte sie in Fesseln und konfiszierte ihren Landbesitz. Zugleich begriff er sehr gut, wie unsicher sein Bündnis mit der Stadtbevölkerung war. Er suchte also, sich einen festen Kreis von Vertretern der Oberschicht zu schaffen, der ihn unterstützte. Der Weg dazu war nicht schlecht gewählt: die Besitzungen, die er von Smolensker Grundherren konfisziert hatte, vergab er an seine Bojaren. Er betrachtete Smolensk als seinen Herrschaftsbereich und wollte nicht, daß Smolensk von den Truppen des litauischen Großfürsten besetzt werde. Deswegen unterstützte J u r i j Lugven'evic die Smolensker nationale Befreiungsbewegung. Zugleich war er bereit, im notwendigen Augenblick diese Bewegung zu verraten, denn sie war in ihrem Grundanliegen antifeudal, richtete sich gegen die herrschende Klasse. Die Berufung von Jurij Lugven'evic half den Bürgern von Smolensk, sich einige Zeit zu halten,

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PSRL, Bd. XVIII, S. 194f.; Bd. VI (Sofijskie letopisi), Petersburg 1853, S. 171; Bd. VIII, S. 113; Bd. IX (Patriarsaja ili Nikonovskaja letopis'), Petersburg 1862 (Fotomechanischer Nachdruck Moskau 1965, S. 165; Bd. XX (L'vovskaja letopis'), Teil 1, Petersburg 1910, S. 258.

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zugleich war damit die Grundlage zur endgültigen Niederschlagung des Aufstandes gegeben. 42 Die fortschrittliche Bedeutung der grogfürstlichen Macht in der mittelalterlichen Rus' ist gut bekannt, das gilt vor allem für die Zeit der Herausbildung des russischen zentralisierten Staates. Aber wenn man diese Tatsache unterstreicht, dann darf die schöpferische Aktivität der Volksmassen dabei nicht vergessen werden, die sich nicht nur in der Sphäre der materiellen Produktion und im kulturellen Schaffen äußerte, sondern auch im politischen Leben. Die Staatsidee der Bevölkerung war primitiv und naiv: ihr Ideal war die Monarchie mit einem Herrscher, der eine der arbeitenden Bevölkerung verständliche und nützliche Politik durchführt. Wenn diese Volksmassen aber ohne Fürst blieben - das gilt besonders für die Städter, denn die Masse der ländlichen Bevölkerung lebte von den großen städtischen Zentren isoliert in patriarchalischen Verhältnissen dann bestimmten sie ihre politischen Aufgaben und fanden die entsprechenden organisatorischen Formen und praktischen Mittel zur Realisierung, wenn auch nur für jeweils kurze Zeit. Die Volksmassen zeigten ihre Kraft in dem Augenblick, als die endgültige Überwindung des Jochs der Horde auf der Tagesordnung stand. 1480 begann Khan Achmed seinen Zug gegen das russische Land. Der Moskauer Großfürst Ivan III. sandte ihm an das Ufer der Oka seine Streitmacht entgegen, er selbst begab sich nach Kolomna. In Kreisen des Moskauer Bojarentums gab es starke defaitistische Tendenzen, gab es Gespräche darüber, daß es nutzlos sei, sich Khan Achmed zu widersetzen; diese Einstellung und diese Gespräche fanden ihren Niederschlag in den Chronikberichten. Gegen eine solche Einstellung wandte sich die Moskauer Posad-Bevölkerung. Nach der Chroniküberlieferung war die Bevölkerung über das Verhalten der Gattin Ivans III., der Großfürstin Sophia Paläolog, erbost, die Moskau verlassen hatte und nach Beloozero gegangen war, wobei sie die großfürstliche Kasse mitgenommen hatte. Das wurde von der Moskauer Bevölkerung als Flucht aufgefaßt. Es kam wie schon 1382 und 1445 zu Unruhen in Moskau. Ivan III. mußte eilig aus "Kolomna nach Moskau kommen, um den dort heranreifenden Aufstand zu verhindern. Als der Großfürst im Moskauer Posad erschien, bedrängte ihn die Bevölkerung und forderte energische Maßnahmen gegen Khan Achmed. Ivan III. begriff die Situation offensichtlich recht gut, denn während seines Moskauer Aufenthaltes wohnte er vorsichtigerweise nicht in seinem in der Stadt gelegenen Hof, sondern in einem Dorf in der Nähe. Die Forderungen der Moskauer Bevölkerung veranlaßten Ivan III., die Maßnahmen gegen den tatarischen Angriff zu beschleunigen. Die einfache Stadtbevölkerung spielte also eine wesentliche Rolle in der Überwindung des Tatarenjoches. 43 Der Klassenkampf war ein bestimmender Faktor für das Verhältnis der Klassenkräfte in den einzelnen russischen Gebieten in der Zeit vor dem Verlust der politischen Selbständigkeit gewesen. Als eine Gruppe moskaufeindlicher Novgoroder Bojaren in den Jahren 1470 und 1471 das Projekt eines Anschlusses der Novgoroder Republik an das Großfürstentum Litauen realisieren wollten, da suchten sie dieses Ziel über einen Vece-Beschluß zu erreichen; sie wollten ihrer Aktion dadurch den Charakter eines Beschlusses der gesamten Bevölkerung geben. Die Frage einer Auslieferung der '•2 PSRL, Bd. XVII (Zapadnorusskie letopisi), Petersburg 1907, S. 67-69, 183 f., 287 £., 338 f. 43 PSRL, Bd. VI, S. 223; Bd. XVIII, S. 268; Bd. XX, S. 338; Bd. XXIII, S. 181 f.; Bd. XXIV (Tipografskaja letopis'), Petrograd 1921, S. 199; Bd. XXV (Moskovskij svod konca XV veka), Moskau-Leningrad 1949, S. 327; Tichomirov, Srednevekovaja Moskva, S. 236 f.

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Novgoroder Republik an den litauischen Großfürsten Kasimir IV. rief in Novgorod einen großen Volksaufstand hervor. Als aktive, handelnde Kraft trat in diesem Augenblick das Volk auf. Die Bojaren versuchten, die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen, also jene Kreise, die in der Chronik gewöhnlich als „böse Smerden", als „besitzlose Männer", als „Pöbel" (cern') bezeichnet werden. Auch der Moskauer Großfürst Ivan III. zog die Haltung der Novgoroder Bevölkerung in seine Pläne mit ein, als er seine Vorbereitungen für die Vereinigung Novgorods mit dem Moskauer Großfürstentum traf. 44 Nach dem Kriegszug gegen Novgorod 1471 zog Ivan III. 1475 erneut in diese Stadt, um die zur moskaufeindlichen Partei gehörenden Bojaren zu richten. Er rechnete zwar mit seinen politischen Gegnern ab, zugleich bemühte er sich darum, sein Bündnis mit der Novgoroder Bojarenschaft insgesamt zu erhalten. Aber auch die Sympathien breiter Schichten der Novgoroder Bevölkerung suchte er zu gewinnen, indem er sich als Beschützer gegenüber Bojarenwillkür ausgab. Diese Haltung ermöglichte es Ivan III. unter dem Vorwand des Eintretens für die einfache Bevölkerung, ihm unliebsame Bojaren aus Novgorod auszuweisen. Das Ergebnis des Besuches Ivans III. in Novgorod 1475/1476 war ein bedeutendes Ansteigen des Prestiges der großfürstlichen Macht unter der Masse der städtischen Bevölkerung, die in naiver Weise daran glaubte, daß dank der großfürstlichen Unterstützung die Mißwirtschaft der Bojaren beendet worden sei. Aber trotzdem hörten die Unruhen unter der einfachen Bevölkerung nicht auf, denn die Zwiespältigkeit der Politik Ivans III. trat doch immer wieder deutlich hervor, einerseits die Beseitigung ihm unliebsamer Bojaren, aber insgesamt doch seine Bindung an die Bojarenschaft als herrschende Gruppe. Auch fürchtete die Bevölkerung zu recht die Beseitigung der Vece-Ordnung, die doch - trotz aller Willkür der Bojaren - auf den Vece-Versammlungen den einfachen Menschen gewisse Möglichkeiten bot, ihre Interessen zu verteidigen. Nach einem erneuten Zug des Moskauer Heeres gegen Novgorod 1478 wurde die politische Selbständigkeit dieser Stadt beseitigt. 45 Aussagekräftig sind die beiden Aufstände im Pskover Gebiet unmittelbar vor der Angliederung an den russischen zentralisierten Staat, die Aufstände von 1475/76 und von 1483 bis 1486. Die antifeudale Bewegung hatte in dieser Zeit sowohl die Stadt als auch das Dorf ergriffen. Die städtischen „schwarzen Leute" und die Smerden in den Dörfern wandten sich gegen die Unterdrückungsmaßnahmen des großfürstlichen Statthalters und die ihn unterstützenden Pskover Bojaren; in ihrem naiven Glauben an die Gerechtigkeit des Großfürsten suchten sie bei ihm Schutz. Aufgrund des geringen politischen Bewußtseins der Stadtbevölkerung war ein festes Bündnis zwischen ihnen und den Massen der Bauernschaft nicht möglich. Aber Versuche einer Verbindung zu den aufständischen Bauern wurden unternommen. Die Pskover Bojaren versuchten, die Volksbewegung zur Erhaltung der von der großfürstlichen Macht bedrohten politischen Rechte der Pskover Republik auszunutzen. Aber in dem Augenblick, da die Pskover Bojaren allein die Volksbewegung in Stadt und Land nicht mehr bändigen konnten, wandten sie sich an den Großfürsten um Hilfe. Die Moskauer Regierung war aufgrund des Aufstandes von 1475/76 zu einigen Zugeständnissen an Pskov gezwungen, aber seit dem Ende der achtziger Jahre führte sie eine entschiedene Politik zur Festigung des staatlichen Unerdrückungsapparates im Pskover Gebiet. 46 44 45 46

PSRL, Bd. XXIV, S. 188 f.; Bd. XVIII, S. 225 f.; Bernadskij, Novgorod, S. 274-278. PSRL, Bd. XX, S. 314-319; Bernadskij, Novgorod, S. 296-299. L. V. Cerepnin, Social'no-politiceskaja bor'ba v Pskovskoj feodal'noj respublike v konce 70-ch nacale 80-ch godov XV v., in: Istorija SSSR, 1958, Heft 3, S. 145-171.

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Wenn wir versuchen, ein Fazit der Stadtaufstände in der Rus' für das 14. und 15. Jh. zu ziehen, dann ist an erster Stelle die große Zahl dieser Aufstände zu nennenDer Klassenkampf spitzte sich zeitweilig zu, er flaute auch zeitweilig ab, aber er kam nie ganz zum Erliegen. Es gab verschiedene Ursachen, die die Stadtbevölkerung zum Aufstand veranlagten: Hunger, Münzverschlechterung, Verschlechterung der vom Staat festgesetzten Mageinheiten, Steuerdruck, Gerichtswillkür, ideologischer und sozialer Mißbrauch der kirchlichen Gewalten, Unterdrückung durch die zeitweilig von einigen Schichten der herrschenden Klasse unterstützte tatarisch-mongolische Oberherrschaft usw. Trotz der verschiedenen Formen der auslösenden Momente war diese Bewegung in ihren Ursachen einheitlich. Es waren die offen zutage tretenden Klassenwidersprüche in der frühen Phase des entwickelten Feudalismus, die Zeit also, in der der Hauptwiderspruch dieser Gesellschaftsordnung - der Gegensatz zwischen Feudalherr und Bauer - sich voll ausprägte, in der auch der Platz der Stadt im feudalen System (Patriziat und plebejische Schichten) voll bestimmt worden war. Im Klassenkampf spielte die Stadt eine bedeutende Rolle, sie war die den gesellschaftlichen Fortschritt vorantreibende Kraft. Der Kampf war antifeudal, d. h. er war gegen die herrschende Klasse in der feudalen Gesellschaft gerichtet, auch wenn er in dieser Etappe noch nicht dazu führte, diese Klasse zu beseitigen, sondern nur dazu, daß die Formen der Herrschaft sich veränderten. Die Überwindung der feudalen Aufsplitterung war nicht nur eine Folge der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch der Volksbewegung. Wenn wir von der leninschen Definition ausgehen, dann können wir sagen, daß der Übergang von dem politischen System verschiedener aufgesplitterter Fürstentümer und Republiken zum System der zentralisierten staatlichen Verwaltung ein Übergang zu neuen Formen des Klassenkampfes war. Übersetzt von P. Hoffmann

V I K T O R IVANOVIÖ

BUGANOV

Der Klassenkampf in Rußland in der Epoche der Bauernkriege im 17. und 18. Jahrhundert

Die Geschichte des Klassenkampfes in Rußland zeigt in der Feudalepoche verschiedene Etappen mit ihren Besonderheiten. Zur Zeit des Altrussischen Staates erreichte die Volksbewegung, Unruhen und Aufstände der Bauern und der Stadtbevölkerung, bereits ein beachtliches Ausmaß. Diese Volksbewegung richtete sich gegen die Angriffe der Feudalherren auf die Rechte der ehemals freien Gemeindemitglieder, die in jener Zeit auf verschiedene Weise in feudale Abhängigkeit gezwungen wurden, gegen die Ausbeutung durch Bojaren, Wucherer, Kaufleute und andere Vertreter der Oberschicht. 1 Zur Zeit der feudalen Aufsplitterung, vom 12. bis zum 15. Jh., dehnte sich der Klassenkampf auf bisher nicht erfaßte Gebiete aus, er verschmolz mit dem nationalen Befreiungskampf gegen ausländische Eroberer, gegen Tataren und Mongolen, aber auch gegen polnisch-litauische Herren. 2 Eine Reihe von Volksaufständen, so in Moskau 1382,1445, 1480, zeichneten sich durch Erbitterung und Umfang aus. 3 Die Herausbildung des einheitlichen zentralisierten russischen Staates, der es den Feudalherren ermöglichte, ihren Druck auf die ausgebeutete Bevölkerung zu verstärken, war vom Anwachsen der Protestbewegung der Bevölkerung begleitet. Diese Bewegung zeigte verschiedene Formen wie Aktionen der schwarzen Bauern, also der nur vom Staat abhängigen Bauern, gegen kirchliche und weltliche Feudalherren, reformatorische Strömungen, Überfälle, Stadtaufstände, Flucht der Bauern und der Städter in die Randgebiete des Landes. Eine besondere Schärfe erlangte der Klassenkampf in der Mitte des 16. Jh. (Stadtaufstände in Moskau und anderen Städten von 1547 bis 1552, Aufschwung der Reformationsbewegung von 1553 bis 1558) sowie im letzten Drittel dieses Jahrhunderts. Furchtbare wirtschaftliche Zerrüttungen und damit allgemeine Not der Volksmassen waren das Ergebnis des Livländischen Krieges von 1558 bis 1583, der Opricnina, der Mißernten, Epedemien, Hungersnöte, schließlich der Gesetzgebung der achtziger und neunziger Jahre, mit der die Leibeigenschaft faktisch durchgesetzt wurde. All das führte zu einer besonderen Zuspitzung der Klassenauseinandersetzungen. Die Bauern verloren das Recht, im Herbst nach Beendigung der Feldarbeiten von einem Grundherrn zu einem anderen überzuwechseln, die Suche nach flüchtigen Bauern und Cholopen wurde vom Staat organisiert. 4 Die sozialökonomische und politische Entwicklung bereitete in Rußland den Eintritt M. N. Tichomirov, Krest'janskie i gorodskie vosstanija na Rusi XI-XIII vv„ Moskau 1955; V. V. Mavrodin, Narodnye vosstanija v Drevnej Rusi XI-XIII vv., Moskau 1961. 2 L. V. Cerepnin, Obrazovanie Russkogo centralizovannogo gosudarstva v XIV-XV vekach. Ocerki social'no-ekonomiceskoj i politiceskoj istorii Rusi, Moskau 1960. 3 M. N. Tichomirov, Srednevekovaja Moskva XIV-XV vekach, Moskau 1957. '* A. A. Zimin, Osnovnye etapy i formy klassovoj bor'by v Rossii konca XV-XVI veka, in: Voprosy istorii, 1965, Heft 3. 1

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in eine neue Periode seiner Geschichte vor, deren Beginn Lenin in das 17. Jh. datierte. Er schrieb: „Im Mittelalter, in der Epoche des Moskowitischen Staates" gab es noch keine „nationalen Bindungen im eigentlichen Sinne des Wortes", es gab einzelne .Lande" und auch Fürstentümer, „die lebendige Spuren ihrer einstigen Autonomie, Eigentümlichkeiten und Verwaltung" usw. noch bewahrt hatten. Erst für die Neuzeit der russischen Geschichte (etwa seit dem 17. Jahrhundert) ist ein tatsächlicher Zusammenschluß all dieser Gebiete, Länder und Fürstentümer zu einem Ganzen kennzeichnend. Dieser Zusammenschluß . . . wurde hervorgerufen durch den zunehmenden Austausch zwischen den einzelnen Gebieten, den allmählich wachsenden Warenverkehr, die Konzentration der kleinen örtlichen Märkte zu einem gesamtrussischen Markt. Da es die kapitalistischen Kaufleute waren, die diesen Prozeß lenkten und beherrschten, so bedeutete die Schaffung dieser nationalen Bindungen nichts anderes als die Schaffung bürgerlicher Bindungen."5 Das Entstehen und die Entwicklung neuer, kapitalistischer Verhältnisse seit dem 17. Jh., die sich allmählich verstärkten und seit den sechziger Jahren des 18. Jh. zur Herausbildung nicht mehr deformierbarer kapitalistischer Verhältnisse führte, schuf schließlich die Grundlage für den Übergang Rußlands von der feudalen zur kapitalistischen Formation, der sich in der Mitte des 19. Jh. vollzog. Die Dialektik der Geschichte besteht darin, daß im 17. und 18. Jh. trotz Existenz neuer gesellschaftlicher Verhältnisse die alte Feudalordnung noch vorherrschend blieb und weiterhin in sich Entwicklungsmöglichkeiten bot. Das zeigte sich vor allem in der Ausweitung und Festigung der Leibeigenschaft, die gerade in diesen Jahrhunderten besonders drückende Formen annahm und juristisch im gesamtstaatlichen Rahmen durch das Ulozenie von 1649 und die folgenden Gesetze, vor allem durch die Gesetzgebung Peters I. und Katharinas II., vereinheitlicht wurde. Die Suche nach Flüchtigen nahm Massencharakter an. Die rasche Verschlechterung der Lage der Volksmassen aufgrund der Verschärfung der feudalen Ausbeutung und der Einführung der Leibeigenschaft, weiterhin die langen Kriege, Mißernten, Epidemien usw. - all das führte dazu, daß im 17. und 18. Jh. die Unzufriedenheit der Unterdrückten bisher unbekannte Ausmaße erreichte. In diesen beiden Jahrhunderten kam es zu vier großen Bauernkriegen, zu verschiedenen Stadtaufständen und vielen anderen Volksaktionen, die ein territorial sich ständig erweiterndes Gebiet erfaßten, das von den Westgrenzen bis in das Transbaikalgebiet, vom Küstengebiet des Hohen Nordens bis zum Nordkaukasus und den Kasachensteppen reichte. In den Kampf gegen soziale und nationale Unterdrückung durch die Feudalherren, in den Kampf gegen den sich herausbildenden Absolutismus wurden alle Schichten und Kategorien der abhängigen Bevölkerung einbezogen. Der Klassenkampf jener Zeit fand seinen Niederschlag in verschiedenen Überlieferungen, die überwiegend aus Kreisen der herrschenden Klasse stammten (offizielle Dokumente der zentralen und örtlichen Machtorgane, Chroniken, Berichte, Memoiren, Privatbriefe usw.). Diese Quellen zeigen eine gegenüber der Volksbewegung feindliche Einstellung. Die Quellen aus dem Lager der Aufständischen (Aufrufe wie etwa die Manifeste und Ukase Pugacevs und seiner Mitstreiter, Briefwechsel der Aufständischen untereinander, verschiedene Volksüberlieferungen usw.) dagegen beleuchten die Ereignisse entsprechend den Interessen der Unterdrückten. Der Antagonismus zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten fand seinen unmittel5

W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokratie, in: Lenin, Werke, Bd. 1, Berlin 1968, S. 146f.

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baren Widerhall nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch im ideologischen Kampf, wie er sich in der schriftlichen Überlieferung jener Zeit der Volksauf stände widerspiegelt. Dieser Kampf der beiden grundlegenden Richtungen im Bereich der Ideologie findet sich auch in der Einschätzung der Bauernkriege und anderer Erscheinungsformen des Volksprotestes, wie sie die Historiker vom 18. bis zum Beginn des 20. Jh. in ihren Publikationen gegeben haben. Die adlige Geschichtsschreibung hat ganz einhellig das Auftreten des „niederen Pöbels" entweder ignoriert oder völlig ablehnend dargestellt (V. N. Tatiscev, M. M. Scerbatov im 18. Jh.; N. M. Karamzin, M.-P. Pogodin, D. I. Ilovajskij u. a. im 19. und zu Beginn des 20. Jh.). Vertreter der bürgerlichen Geschichtsforschung wie S. M. Solov'ev, V. O. Kljucevskij, M. M. Bogoslovskij u. a. machten viele Quellen zur Geschichte des Klassenkampfes der Forschung zugänglich, aber die Volksaufstände klassifizierten sie als Erscheinungen des Anarchismus, als das Bestreben der Aufständischen, sich fremdes Gut anzueignen, Ordnung und Gesetzlichkeit im Staat zu stören, weshalb diese Bewegungen zu verurteilen seien. Erst die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung konnte eine richtige, wissenschaftliche Bewertung des Klassenkampfes der unterdrückten Schichten gegen Ausbeutung und Unterdrückung in antagonistischen Gesellschaftsformationen geben. Über die Volksaufstände in Rußland haben sich die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Marx, Engels und Lenin, mehrfach geäußert. Die marxistisch-leninistische Konzeption des Klassenkampfes als vorwärtstreibender Kraft in der Geschichte bildete die Grundlage für die sowjetischen Forschungen über die Volksbewegungen im Feudalismus. Vor allem unter dem Einfluß der Arbeiten von Engels „Der deutsche Bauernkrieg" und von Lenin „Über den Staat" setzte es sich durch, die bedeutendsten Aufstände in Rußland im 17. und 18. Jh. - unter der Führung Razins und Pugacevs - als „Bauernkriege" oder „Bürgerkriege" der Feudalzeit zu bezeichnen. Schon in der ersten Phase der Entwicklung der sowjetischen Geschichtswissenschaft (1918 bis Mitte der dreißiger Jahre) erschienen verschiedene Publikationen, in denen auf neue Art von marxistisch-leninistischen Positionen aus die Geschichte der Klassenkämpfe in Rußland für das 17. und 18. Jh. beleuchtet wurde. Es handelte sich überwiegend um populärwissenschaftliche Arbeiten, noch wurde neues Quellenmaterial nur ungenügend herangezogen. In manchen Einschätzungen - zum Beispiel bei der Überschätzung der Rolle der Kosaken in den Bauernkriegen, die als Kosaken- und Bauernaufstände, als „Razinscina" und „Pugacevscina" usw. bezeichnet wurden - war der Einfluß der alten bürgerlichen Geschichtsschreibung noch spürbar. Daneben fanden sich Elemente einer Modernisierung, eines vulgär-soziologischen Herangehens, so wurden einige besonders gewaltige Bewegungen als „Revolutionen" bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Typs bezeichnet, es wurden Begriffe wie „spontaner Kommunismus", „Meeting", „Rote" und „Weiße" und andere auf diese Bewegungen übertragen. Die zweite (Mitte der dreißiger Jahre bis zur Mitte der fünfziger Jahre) und die dritte Phase (bis zur Mitte der siebziger Jahre) in der Entwicklung der sowjetischen Geschichtswissenschaft waren für die Erforschung der hier behandelten Problematik in marxistisch-leninistischer Sicht besonders fruchtbar. Er erschienen Hunderte von Aufsätzen und Materialien, grundlegende Quellenpublikationen und schließlich Monographien und Kollektivarbeiten über die Volksbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Über den ersten Bauernkrieg liegen Arbeiten von I. I. Smirnov, A. A. Zimin, V. I. Koreckij u. a. vor, über den zweiten von V. I. Lebedev, I. V. Stepanov, A. G. Man'kov, V. I. Buganov, E. V. Cistjakova u. a., über den dritten von V.l. Lebedev,E.P.Pod"-

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japol'skaja u. a„ über den vierten von V. V. Mavrodin, A. I. Andrusenko, R. V. Ovcinnikov u. a . ; über die Stadtaufstände von den vierziger bis zum Beginn der neunziger Jahre des 17. Jh. haben wir Publikationen von M . N. Tichomirov, E. V. Öistjakova, V. I. Buganov, G. A. Novickij u. a . ; über die Volksaufstände in Sibirien im 17. J h . von V. A. Aleksandrov, A. A. Preobrazenskij u. a . ; über den Klassenkampf im 18. J h . von P. K. Alefirenko, V. V. Mavrodin u. a. Es wurden auch Beiträge zu allgemein-theoretischen Fragen veröffentlicht, so von V. V. Mavrodin, A. L. Sapiro, L. V. Cerepnin, V. I. Buganov, E. I. Indova, V. I. Lebedev, A. A. Preobrazenskij, Ju. A. Tichonov u. a. Historiographische Übersichten zur Erforschung der Klassenkämpfe legten u. a. V. V. Mavrodin, V. I. Buganov, A. A. Zimin, A. P. Pronstein vor. 1971 wurde in der UdSSR der 300. Jahrestag des zweiten Bauernkrieges in Rußland und von 1973 bis 1975 der 200. Jahrestag des letzten Bauernkrieges durch wissenschaftliche Veranstaltungen und Publikationen gewürdigt. Diese Jubiläen waren der Anlaß für die Publikation vieler neuer Forschungen und Quellenpublikationen. Verschiedene Beiträge wurden auch in zentralen Publikationsorganen der KPdSU veröffentlicht. 6 Beachtliche Erfolge wurden in dieser Zeit bei der Erforschung der Klassenkämpfe erzielt: umfangreiches Faktenmaterial wurde zusammengetragen, der Ablauf der Aufstände bis ins Detail erforscht, neue Beobachtungen und Verallgemeinerungen zu zentralen Problemen des Klassenkampfes vorgelegt, so zu den Ursachen und den auslösenden Faktoren, zu den Triebkräften, zur Ideologie, zu Elementen der Organisiertheit und Bewußtheit, zum chronologischen und geographischen Rahmen der jeweiligen Bewegungen, zu den Ursachen der Niederlage und zur historischen Bedeutung der Bauernkriege. Diese Ergebnisse ermöglichen es in ihrer Gesamtheit, im Vergleich nicht nur zur vorrevolutionären Geschichtsschreibung, sondern auch zur Historiographie der ersten Jahrzehnte der Sowjetmacht den Klassenkampf in Rußland im 17. und 18. Jh. auf neue Art zu werten, seine gewaltige Rolle für die Geschichte des Landes herauszuarbeiten.

I. Der Eintritt Rußlands in das neue 17. Jh. war von einer Massenaktion der Volksmassen charakterisiert. Die große Not der unteren Bevölkerungsschichten im letzten Drittel des 16. Jh. war bereits erwähnt worden; gegen Ende des 16. J h . hatten sich die Klosterbauern des Iosifo-Volokolamskij-Klosters westlich von Moskau und des Antonieva-Skitskij-Klosters im Norden des europäischen Rußlands u. a. gegen die Verschärfung des feudalen Drucks erhoben, außerdem kam es zu Stadtaufständen u. a. in Moskau 1584 und 1586 sowie im Zusammenhang mit dem Tod des Zarewitsch Dmitrij, des Sohnes Ivan Groznys in Uglic 1591. Das waren Vorboten größerer Ereignisse, des gewaltigen ersten Bauernkrieges. Ursache und Anlaß für die Erhebung der Unterdrückten und Erniedrigten waren unter anderem die drei aufeinanderfolgenden Mißerntejahre von 1601 bis 1603, die zu Hungersnot und zum Tode von Hunderttaul!

Vgl. V. Buganov, Letopis' narodnoj bor'by, in: Pravda 21. 8. 1971; A. Preobrazenskij, Slavnaja stranica narodnoj bor'by. K 200-letiju krest'janskoj vojny 1773-1775 gg., in: Ebenda 28. 9. 1973; L. Cerepnin, Krest'janskie vojny v Rossi perioda feodalizma. K 200letiju nacala vosstanija krest'jan pod voditel'stvom E. I. Pugaceva, in: Kommunist, 1973, Heft 13; dt. L. W. Tscherepnin, Die Bauernkriege im feudalen Rußland, in: Sowjetwissenschaft/Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 1974, Heft 10.

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senden von Menschen führten. Viele Feudalherren jagten ihre Cholopen (in einer der Sklaverei ähnlichen Stellung in der Hauswirtschaft der Feudalherren beschäftigten Menschen) davon, weil sie sie nicht mehr ernähren wollten. Nach Mitteilungen von Zeitgenossen, sowohl Russen als auch Ausländern, hatten viele Bojaren und Dvorjanen sowie kirchliche Würdenträger (einschließlich des Patriarchen Iov, des Oberhauptes der russischen Kirche) große Vorräte ungedroschenen Getreides, aber sie verkauften nichts davon, weil sie ein Anziehen der Preise erwarteten und damit größeren Gewinn zu erzielen hofften; an die hungernden Bauern und Cholopen verteilten sie erst recht kein Getreide. Die zügellose Spekulation mit Nahrungsmitteln nahm immer unerträglichere Formen an. Als Antwort erhoben sich diese hungernden Bauern und Cholopen zum Kampf gegen die Feudalherren und Spekulanten. In den ersten drei Jahren des 17. Jh. entstanden in verschiedenen Regionen des zentralrussischen Gebietes „Räuberbanden", gegen die die Regierung Strafexpeditionen aussandte. Diese „Räuberbanden" schlössen sich im Herbst 1603 unter der Führung Chlopkos zusammen, sie überwanden die vom Zaren Boris Godunov ausgesandte Streitmacht und näherten sich vom Westen her Moskau. Nur durch Einsatz eines großen Heeres gelang es der Regierung, den Aufstand zu unterdrücken, wobei der Kommandeur der vom Zaren ausgesandten Truppen, der Okol'nicij I. F. Basmanov, im Kampf gegen die Aufständischen fiel. Die Reste der zerschlagenen Armee der Aufständischen flohen in die südwestlichen Randgebiete Rußlands und schlössen sich dort dem im folgenden Jahr 1604 ausbrechenden Kampf der Bauern, Posadieute, Kosaken usw. an. Das war eine neue Etappe im Bauernkrieg, in der die breite Bewegung der unterdrückten Volksmassen gegen die Feudalherren und gegen den „Bojarenzaren" Boris Godunov zum Tragen kam. Diese Bewegung stand unter der Losung, einen „guten Zaren" auf den Moskauer Thron zu erheben. Dafür hielten breitere Bevölkerungsschichten den ersten falschen Dmitrij. Nach offiziellen Angaben der Regierung Boris Godunovs stammte der Usurpator aus dem galizischen Kleinadel, sein Name war Grigorij Otrep'ev; er gab sich als der Zarewitsch Dmitrij aus, der angeblich in Uglic im Mai 1591 auf wundersame Weise dem Tode entgangen sei. Die breite Masse der unzufriedenen, von den Feudalherren abhängigen Bevölkerung, außerdem aber auch einige Feudalherren, die aus diesen oder jenen Gründen gegen Boris Godunov eingestellt waren, schenkten den Angaben der offiziellen Regierungspropaganda über den Usurpator keinen Glauben. Sie hofften darauf, daß der „gute Zar" ihre Lage verbessern würde und folgten deshalb dem Ruf des Usurpators, sie lieferten ihm Wojewoden und Bojaren aus oder rechneten selbst mit ihnen ab. Dieser naive Monarchismus der sozialen Unterschichten hatte einen klar umrissenen Inhalt: unter der Flagge der „Gesetzlichkeit" verbarg sich das antifeudale Streben zur Befreiung aus der Leibeigenschaft, zur Abrechnung mit den Unterdrückern, den Feudalherren, das Streben nach Land und Freiheit. Jene Bojaren und Dvorjanen, die die Partei des Usurpators ergriffen hatten, verfolgten eigensüchtige Klasseninteressen, sie wollten neue Land- und Geldzuwendungen erhalten, Macht und Einfluß gewinnen, ihre Herrschaft über Bauern und Cholopen festigen. Gerade die Unterstützung durch Bauern und Cholopen, durch Posadieute und Kosaken - nicht aber die Aktionen der polnisch-litauischen Streitkräfte, die mit ihm nach Rußland gekommen waren, um dort Beute und Macht zu erlangen - spielten die entscheidende Rolle für den Sieg des ersten falschen Dmitrij und für seine Erhebung zum Zaren 1605. Der neue „Zar und Großfürst der gesamten Rus' Dmitrij Ivanovic" war anfangs gezwungen einige Forderungen der einfachen Leute unter seinen Anhängern 5

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zu erfüllen. So wurden die Bewohner in den südwestlichen Randgebieten für einige Jahre von Steuerzahlungen befreit, einige Gruppen von Cholopen wurden aus der Unfreiheit entlassen. Aber insgesamt führte er doch eine Politik der offenen Begünstigung des Dienstadels, der Dvorjanen, durch; so vergab er an den Adel Land und Geld, aus dem Heer wurden Cholopen, Bauern u. dgl. entlassen. Damit verlor er sehr rasch seine ehemaligen Anhänger aus den unteren Bevölkerungsschichten. Aber damit nicht genug, die gegen das Volk gerichtete Politik des Usurpators, die Ausschreitungen der mit ihm ins Land gekommenen polnisch-litauischen Schlachta sowie sein eigenes anmaßendes Verhalten führten im Mai 1606 in Moskau zu einem Volksaufstand, bei dem der Usurpator umkam-7 Das Ende der Volksbewegung war damit jedoch nicht gegeben. Nach der Ernennung eines neuen Zaren aus der Moskauer Bojarenschaft, des Fürsten V. I. §ujskij, der eine Rückkehr zur alten Ordnung verkündete, brach der Volkszorn in neuen Aktionen aus, die 1606/07 in die mächtige von I. I. Bolotnikov geführte Bewegung zusammenflössen. Wieder waren die südwestlichen Grenzgebiete der Ausgangspunkt, wo sich viele Unzufriedene gesammelt hatten. Die Aufständischen schlössen sich in zwei mächtigen Heeren zusammen und marschierten gegen Moskau. Das eine Heer befehligte Bolotnikov selbst, er zog von Putivl' über Sevsk, Orel, Kaluga nach Serpuchov. Das andere wurde von dem Dvorjanin I. Paskov geführt, es zog von El'z über Novosil', Mcensk, Tula, Venev, Kasir nach Kolomna. Unterwegs schlugen die Aufständischen mehrfach von Wojewoden Sujskijs geführte Heeresabteilungen. Aus den unteren Bevölkerungsschichten, die auch dieses Mal unter der Losung „Für den guten Zaren" den Kampf zur Verteidigung ihrer Interessen gegen die Feudalherren aufgenommen hatten, erhielt die Armee Bolotnikovs ständigen Zustrom. In dieser höchsten Etappe erfaßte der Bauernkrieg ein gewaltiges Territorium: die westlichen, südlichen, südöstlichen Gebiete Rußlands, das Wolgagebiet, verschiedene Städte im Nordwesten und Nordosten des europäischen Rußlands, so Perm', Vjatka, Pskov und ihre umliegenden Gebiete. Die Hauptkräfte der Aufständischen vereinigten sich Anfang Oktober 1606 vor Moskau, etwa zwei Monate lang belagerten sie die Hauptstadt, diesen heiligen Mittelpunkt des russischen Adels, der russischen Selbstherrschaft. In dieser Zeit kam es zu blutigen Schlachten. Trotz ihres Heroismus und trotz mehrer Erfolge der Aufständischen gelang es den Vertretern der Staatsmacht schließlich, den Aufstand niederzuschlagen. Die Reste der Aufstandsheere zogen sich nach Kaluga und Tula zurück; diese beiden Städte wurden Ende 1606 und in der ersten Jahreshälfte 1607 zu Zentren des Aufstandes. Unter der Führung Bolotnikovs und des „Zarewitsch Petr", des aus einer verarmten Posadfamilie der Stadt Murom stammenden Usurpators Il'ja Gorcakov, der Cholop wurde, später unter die „wandernden Leute" geriet, also weder Besitz noch Heim hatte, brachten die Aufständischen den Truppen Sujskis erneut mehrere schwere Niederlagen bei. Aber die Kräfte waren zu ungleich, es fehlte den Aufständischen an Waffen, militärischer Erfahrung, Organisiertheit und Geschlossenheit; die Bewegung war doch zu sehr spontan. All das führte zur Niederlage des Bauernkrieges.8 Die Niederlage des Aufstandes unter der Führung Bolotnikovs, die darauf folgende Episode mit dem zweiten falschen Dmitrij, der mit den Truppen polnisch-litauischer Feudalherren im Sommer 1607 an der russischen Westgrenze auftauchte, die Verstär7 8

V. I. Buganov, Krest'janskaja vojna v Rossii nacala XVII v„ Moskau 1976. I. I. Smirnov, Vosstanie Bolotnikova 1606-1607, Moskau 1951; Vosstanie I. I. Bolotnikova. Dokumenty i materialy, Moskau 1959; Buganov, Krest'janskaja vojna.

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kung der ausländischen Intervention, die 1609 in die offene Aggression überging Smolensk wurde von Truppen des Königs von Polen und Großfürsten von Litauen belagert all das führte dazu, daß einerseits der Klassenkampf seit 1608 in seiner Zuspitzung und in seinem Ausmaß etwas nachließ, sich andererseits mit den nationalen Befreiungsbewegung gegen die polnisch-litauischen und gegen die schwedischen Aggressoren verflocht. Aber in all den Jahren flammte er in verschiedenen Städten und Kreisen des europäischen Rußlands erneut auf. 9 Die letzten Schlachten des ersten Bauernkrieges wurden während der großen antifeudalen Bewegung in verschiedenen Kreisen nördlich von Moskau in den Jahren 1614 und 1615 geschlagen. 1 0 Der Bauernkrieg zu Beginn des 17. Jh., der insgesamt etwa anderthalb Jahrzehnte dauerte, zeigte erstmals in der Geschichte Rußlands die Macht des massierten Auftretens der unterdrückten Schichten der Bevölkerung. Der Kampf gegen die Feudalherren entfaltete sich auf einem riesigen Territorium und führte zu militärischen Auseinandersetzungen bedeutenden Umfanges, Armeen und Armeeabteilungen der Aufständischen führten selbstständige Operationen, Städte und Festungen wurden von ihnen belagert und erstürmt usw. Während des Bauernkrieges gelangte ein bedeutender Teil des Territoriums des europäischen Rußlands in die Gewalt der Aufständischen; hier war die Herrschaft der zaristischen Verwaltung gebrochen, ein Machtapparat der Aufständischen entstand. Die Aufstandsbewegung wurde von militärisch-politischen Zentren aus geführt. Der Bauernkrieg versetzte den Feudalherren und ihrem Staatsapparat empfindliche Schläge. Trotz des Sieges waren die feudalen Kreise - zumindest zeitweilig - gezwungen, das Los der Bauern zu mildern, Steuern herabzusetzen usw. Die endgültige Durchsetzung der Leibeigenschaft der Bauern wurde um mehrere Jahrzehnte hinausgeschoben. II. Die Niederlage der Aufständischen, das Nachlassen der Kräfte des Volkes führte zu einer zeitweiligen Ruhepause im Klassenkampf. Die zweite Hälfte des zweiten und das dritte Jahrzehnt des 17. Jh. dienten der Wiederherrstellung der Wirtschaft, dem Aufbau der zerstörten Städte, Dörfer und Gemeinden. Es schien, als hätte sich das Land von den Erschütterungen zu Beginn des Jahrhunderts erholt, aber die Ereignisse des Smolensker Krieges von 1632 bis 1634, der um die Rückgewinnung dieser alten russischen, Anfang des 16. Jh. von Polen eroberten Stadt geführt wurde, zeigte deutlich, daß diese Wiederherstellung noch nicht abgeschlossen war. Die Überbeanspruchungen während des Krieges führten zu neuen Belastungen. An den Westgrenzen begannen im Kriegsgebiet von I. Balas geführte Volksaufstände. 1 1 Diese Bewegung wurde niedergeschlagen, aber noch in den dreißiger Jahren kam es zu einem Aufstand der Moskauer 9

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I. S. Sepelev, Osvoboditel'naja i klassovaja bor'ba v Russkom gosudarstve v 1608 bis 1610 gg., Pjatigorsk 1957. A. V. Figarovskij, Krest'janskoe vosstanie 1614-1615 gg., in: Istoriceskie zapiski, Bd. 73, Moskau 1963. B. F. Porsnev, Social'no-politiceskaja obstanovka v Rossii vo vremja Smolenskoj vojny, in: Istorija SSSR 1957, Heft 5; ders., Raavitie „balasovskogo" dvizenija •v fevrale - marte 1634 g., in: Problemy obscestvenno-politiceskoj istorii Rossii i slavjanskich stran, Moskau 1963.

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Bevölkerung. 1648 brach dann in Moskau einer der bedeutendsten Volksauf stände in der Geschichte dieser Stadt aus. Zu gleichartigen Aufständen kam es in den dreißiger und fünfziger Jahren des 17. Jh. in vielen Städten des Südens und Nordens des europäischen Rußlands und in sibirischen Städten. Getragen wurden diese Bewegungen von Posadbewohnern und Cholopen, von niederen Dienstleuten wie Strelitzen, Kanonieren, Stadtkosaken usw. sowie von Bauern der umliegenden Gebiete. Die Aufstandsbewegungen richteten sich gegen die Einführung neuer Steuern bzw. Steuererhöhungen, gegen feudale Unterdrückung, gegen die Gängelung durch zentrale und örtliche Behörden, gegen die Oberschicht der Kaufmannschaft und militärische Befehlshaber. Um die Aufstandsbewegung zu spalten, wurden von der Regierung die Forderungen einzelner am Aufstand beteiligter Schichten befriedigt. Die Strelitzen erhielten Löhnung, die Posadbevölkerung setzte die Beseitigung von Sonderrechten der sogenannten „weißen Posade" und Höfe durch, d. h. der privilegierten, von Diensten und Abgaben an den Staat befreiten, also, wie man damals sagte, „weiß" gewordenen in den Städten gelegenen Besitzungen der Fürsten, Bojaren und kirchlichen Würdenträger. Die in diesen „weißen Posaden" wohnende von den Feudalherren abhängige Bevölkerung - Handwerker, Bauern - befaßten sich wie die anderen Posadbewohner mit Handwerk und Handel, aber die Abgaben an den Staat hatte die übrige Posadbevölkerung allein zu zahlen. Nach den Reformen der Jahre 1649 bis 1652 mußten auch die Bewohner der ehemaligen „weißen Posade" ihren Teil zu den städtischen Abgaben beitragen. Schließlich verlangte der Dienstadel, die Dvorjanen, unter Berufung auf die Volksbewegung von der Regierung die volle Durchsetzung der Leibeigenschaft, die Aufhebung aller Fristen zur Suche nach Flüchtigen. Diese Forderungen wurden durch das Ulozenie von 1649 erfüllt, einem Gesetzeskodex, der vom „Zemskij sobor" (einer Art landständischer Versammlung) 1649 beraten und angenommen worden war. Letztlich gelang es der Regierung durch Zugeständnisse auf der einen und Repressivmaßnahmen auf der anderen Seite die Situation zu meistern. 12 Aber am 25. Juli 1662 erhoben sich die Posadbewohner Moskaus sowie ein Teil der hauptstädtischen Garnison, mehrere hundert Soldaten mit Strelitzen, erneut gegen den Steuerdruck und gegen die Geldreform, die Einführung von Kupfermünzen zum Kurs von Silbermünzen. Das hatte Geldentwertung sowie Verbreitung von Falschgeld, Teuerung und Hungersnot zur Folge. Außerdem richtete sich der Aufstand gegen Unterdrückungsmaßnahmen seitens der Feudalherren und der Oberschicht der Posade. Im Aufstand wurden - wie auch 1648 - die Höfe von Aristokraten und reichen Kaufleuten geplündert und zerstört. Zarentreue Truppen unterdrückten zwar den Aufstand, aber die Regierung sah sich - um einer Wiederholung derartiger Ereignisse vorzubeugen - doch veranlaßt, das Kupfergeld zurückzuziehen und zur Silberwährung zurückzukehren. 13 Die Verschärfung des feudalen Jochs und die Durchsetzung der Leibeigenschaft, der erhöhte Steuerdruck in der Zeit des russisch-polnischen Krieges um die Ukraine von 1654 bis 1667 (im Januar 1654 war die links des Dnepr gelegene Ukraine wieder mit 12

M. N. Tichomirov, Klassovaja bor'ba v Rossii XVII v., Moskau 1969, S. 23-188 (Beiträge über den Moskauer Aufstand 1648, den Novgoroder Aufstand 1650 und den Pskover Aufstand 1650); E. V. Cistjakova, Gorodskie vosstanija v Rossii v pervoj polovine XVII v. (30-40-e gody), Voronez 1975; V. A. Aleksandrov, Narodnye vosstanija v Vostocnoj Sibiri vo vtoroj polovine XVII v., in: Istoriceskie zapiski, Bd. 59, Moskau 1957. 13 V. I. Buganov, Moskovskoe vosstanie 1662 g., Moskau 1964; Vosstanie v Moskve. Sbornik dokumentov, Moskau 1964.

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dem russischen Staat vereinigt worden), die Annahme des Ulozenie von 1649 und daraufhin einsetzende von grausamen Strafexpeditionen begleitete Suche nach flüchtigen Bauern und Cholopen im gesamten Staatsgebiet sowie die gewaltige Rückführung von Zehntausenden von Flüchtigen zu ihren früheren Herren, die Beschränkung der Rechte der Kosaken am Don und in anderen Gebieten wurden zu Ursachen für eine gewaltige Volksbewegung, für den zweiten großen Bauernkrieg in der Geschichte Rußlands. Ein erstes Vorzeichen der großen Bewegung war 1666 der Zug von mehreren hundert Donkosaken unter der Führung von Vasilij Us vom Don, wo Hunger und Unzufriedenheit herrschten, nach Moskau. Die Kosaken hofften, vom Zaren in sein Heer aufgenommen zu werden und damit für sich und ihre Familien sicheren Lebensunterhalt zu erlangen. Als sie auf ihrem Weg in das Gebiet von Voronez, Tula usw. kamen, schlössen sich ihnen viele dort lebende Bauern und Cholopen an, die vielfach Verwandte am Don und direkt in der Abteilung von Vasilij Us hatten. Der anfangs recht friedliche Zug der Donkosaken verwandelte sich so in eine antifeudale Bewegung, die mehrere Kreise südlich von Moskau erfaßte. Die Aufständischen zerstörten die Besitzungen von Feudalherren, rechneten mit den Besitzern ab. Die Regierung sandte ihnen ein starkes Heer unter der Führung von Fürst Ju. N- Barjatinskij entgegen. Die von Us geführten Aufständischen zogen sich daraufhin zum Don zurück, mit ihnen zogen viele Bauern und Cholopen aus den Gebieten von Voronez und Tula. 1 4 In den folgenden Jahren beteiligten sich viele Anhänger von Us aktiv an den neuen Aktionen, die von Stepan Timofeevic Razin, dem berühmten Führer der Donkosaken, angeführt wurden. In der historischen Literatur wurde der erste Zug Razins lange Zeit als ein typischer „Raubzug" der Kosaken dargestellt, dessen Ziel allein die Bereicherung der Teilnehmer gewesen sei. Solche Beutezüge unternahmen die Donkosaken häufig, auch beim Zug Razins von 1667 bis 1669 kam es zum „Beute machen". Dieser Zug wird bis heute vielfach als „Zug nach Persien" bezeichnet, weil er über das Kaspische Meer bis zur Küste Persiens führte, wo große Beute gemacht wurde. Aber damit ist diese Aktion nur unzureichend charakterisiert. Razin und seine kühnen Mitstreiter überfielen auf dem Wege zum Kaspischen Meer reiche Kosaken am Don, Handelskarawanen des Zaren, des Patriarchen und reicher Kaufleute auf der Wolga, sie zerschlugen mehrere starke Militärabteilungen an der Wolga und am Jaik, sie besetzten Jaickij Gorodok, das für einige Zeit zum Stützpunkt der antifeudalen Bewegung wurde. Und das gleiche gilt auch für die Zeit nach der Rückkehr aus Persien nach Astrachan' und zum Don. Die Beute benutzten Razin und seine Mitstreiter zur Vorbereitung eines neuen Zuges, zum Ankauf von Waffen und Ausrüstungen, von Transportmitteln und Vorräten. All das wurde in Kagal'nickij Gorodok am Don konzentriert, wo sich Razin mit seiner Abteilung nach dem Zug 1667 bis 1669 aufhielt. Diesen Zug sollte man richtiger Wolga-Jaik-Kaspi-Aktion nennen und als zweite Etappe des Bauernkrieges betrachten; die erste Etappe war der Zug unter der Führung von Us. 1 5 Im Frühjahr 1670 wuchs die Abteilung Stepan Razins rasch an, ihm strömten nicht nur arme Kosaken vom Don, sondern auch aus den eigentlichen russischen Gebieten zugewanderte arme Leute zu. Die Abteilung Razins zog vom Don aus in Richtung Wolga, 14

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E. V. östjakova, Vasilij Us - spodviznik S. Razina, Moskau 1963; V. I. Buganov/E. V. Cistjakova, O nekotorych voprosach istorii Vtoroj krest'janskoj vojny v Rossii, in: Voprosy istorii 1968, Heft 7. Buganov/Cistjakova, O nekotorych voprosach.

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die sie nördlich von Caricyn erreichte. Damit begann die dritte Periode des Bauernkrieges, sein Höhepunkt. Die Aufständischen schlugen mehrfach zarische Truppenabteilungen an der Wolga und Stadtgarnisonen, verschiedene Städte des Wolgagebietes wurden erobert, u. a. Astrachan', Caricyn, Saratov, Samara. Das Hauptheer Razins zog vom unteren Wolgagebiet flußaufwärts nach Norden; sein Ziel war Moskau. Der Volkskrieg gegen die Ausbeuter erfaßte ein riesiges Territorium: das Wolgagebiet, das Dongebiet, Teile der Ukraine (das Gebiet um Char'kov, Ostrozska u. a.), die südlichen und mittleren Kreise des Waldgebietes jenseits der Wolga. Die Armeen und Abteilungen der Aufständischen belagerten und eroberten viele Städte und Gebiete, in denen die Macht der Wojewoden beseitigt wurde, hier entstanden nach Prinzipien der Gemeindeselbstverwaltung, der Kosakengemeinde, gewählte Verwaltungsorgane, wichtige Fragen wurden in allgemeinen Versammlungen entschieden. Die Fronarbeit für die Feudalherren hörte auf, diese wurden entweder von den Aufständischen gerichtet, die so an ihren Unterdrückern für Willkür und Tränen abrechneten, oder aber sie flohen aus den Aufstandsgebieten in die festen Städte oder gar bis in die Hauptstadt. Nach Berichten von Ausländern erreichte die Zahl der Aufständischen 1670/71 mehrere Hunderttausend. Sie kämpften gegen ihren Klassenfeind im Rahmen der Aufstandsarmeen und -abteilungen unter der Führung Stepan Razins und vieler seiner Mitstreiter; untereinander hielten diese Abteilungen Verbindung, an die Bevölkerung wurden Aufrufe versandt mit der Aufforderung, sich dem Aufstand anzuschließen, mit den Bojaren, Dvorjanen und reichen Kaufleuten abzurechnen. Als Ziel der Bewegung wurde die Beseitigung der Leibeigenschaft und der Feudalherren, des Adels, verkündet. Die Bauern kämpften für Land und Freiheit, für die Ablösung der „schlechten" Vertreter der Verwaltung, der Bojaren, und für die Einsetzung „guter" Regierungsvertreter, vor allem für die Thronerhebung eines „guten Zaren". Die Aufständischen hegten die Illusion, daß damit ihre Ziele verwirklicht wären. Die Regierung des Zaren Aleksej Michajlovic mobilisierte ein starkes Adelsaufgebot, das von dem erfahrenen Wojewoden Fürst Ju. A. Dolgorukij geführt wurde. Sein Operationsfeld war das Wolgagebiet mit Sitz des Stabes in der Stadt Arzamas. Auch andere Truppen führten den Kampf gegen die Aufständischen, darunter auch ein unter dem Befehl von Fürst Ju. N. Barjatinskij stehender Truppenverband, jenes Barjatinskij, der 1666 gegen Vasiiij Us ausgesandt worden war. Us war 1670 einer der engsten Mitstreiter Stepan Razins geworden. Die Überlegenheit der Regierungstruppen in Organisation und Bewaffnung gegenüber den aufgesplitterten Kräften der Aufständischen, die auf einem gewaltigen Territorium oft ohne den notwendigen Kontakt miteinander handelten, führte zur grausamen Niederschlagung der Aufstandsbewegung. Die Strafexpeditionen des Zaren griffen rücksichtslos durch, sie erschlugen und erhängten Zehntausende Aufständische (nach Augenzeugenberichten wurden allein durch die von Dolgorukij kommandierten Truppen etwa 100 000 Menschen umgebracht), Dörfer und Siedlungen wurden niedergebrannt. Das Hauptheer Razins belagerte im September 1670 erfolglos die Kremlbefestigungen von Simbirsk, Anfang Oktober wurde es vor den Mauern dieser Stadt von Barjatinskij schwer geschlagen, der damit für die einen Monat vorher an gleicher Stelle erlittene Niederlage Revanche nahm. Den im Kampf verwundeten Razin brachten seine Mitstreiter zum Don, wo er im Frühjahr des nächsten Jahres von reichen Kosaken ergriffen und nach Moskau gebracht wurde. Dieser kühne Ataman wurde im Juni 1671 auf dem Roten Platz hingerichtet. Obwohl das Hauptheer der Aufständischen zerschlagen und Razin selbst umgekom-

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men war, dauerte der Bauernkrieg weiter an. Seine letzte Bastion, die Stadt Astrachan, fiel erst im November 1671. Die gewaltige Volksbewegung der Jahre 1666 bis 1671, an der sich auch Teilnehmer des Moskauer Auf standes von 1662 beteiligten, war für den weiteren Klassenkampf von großer Bedeutung; Anhänger Razins beteiligten sich an den Unruhen am Don 1681/82, am Moskauer Aufstand 1682 und noch am Bauernkrieg zu Beginn des 18. Jh. Die Gestalt Stepan Razins regte die Phantasie breiter Massen der Unterdrückten an, wurde außerordentlich populär im mündlichen Volksschaffen. 16 Es ist hier nicht möglich, die vielen weniger bedeutenden Unruhen verschiedener Gruppen der unterdrückten Bevölkerung in den verschiedenen Gebieten des Landes während der zweiten Hälfte des 17. Jh. ausführlicher zu behandeln. Es gab religiöse Formen des Protestes, Aufstände der Raskolniki, von denen der Aufstand imSoloveckijKloster von 1668 bis 1676 das größte Ausmaß erreichte. Dieser Aufstand begann als eine rein religiöse Bewegung, nahm dann aber immer mehr antifeudalen Charakter an, da die feudalabhängige Bevölkerung der Umgebung aktiv eingriff. 17 Der Klassenkampf im 17. Jh. fand mit zwei großen Aufständen in Moskau seinen Ausklang. Der erste dauerte vom Frühjahr bis zum Winter 1682. Die treibende Kraft bildeten die Strelitzen der Hauptstadt, weiterhin Soldaten, Kanoniere usw. Sie erhoben sich gegen die Willkür ihrer Kommandeure und die Verschlechterung ihrer materiellen Lage (Herabsetzung der Löhnung, Ausbeutung durch die Befehlshaber usw.). Im Verlauf des Aufstandes rechneten die Strelitzen und ihre Bundesgenossen mit besonders verhaßten Vertretern der Regierung und mit unbeliebten militärischen Befehlshabern ab, andere wurden verbannt oder baten um ihren Abschied. Die Aufständischen kontrollierten die Regierung, erzwangen von Regierung und Kommandostellen Auszahlung rückständiger Gelder, schließlich erreichten sie, daß ihrer Meinung nach „gute" Regierungsvertreter und Kommandeure eingesetzt wurden. Aber nachdem sie die Befriedigung ihrer unmittelbaren Forderungen erlangt hatten, glaubten sie, daß es weiterhin so bleiben werde und beruhigten sich. Im Grunde genommen verrieten sie damit ihre möglichen Bundesgenossen: anfangs hatten Cholopen diese Bewegung unterstützt, sie forderten Freiheit, aber soweit gingen die aufständischen Strelitzen nicht; im Sommer des Jahres hatten sich Raskolniki unter der Moskauer Posadbevölkerung und den Bauern der Umgebung Moskaus zum Protest erhoben. Die Regierung der Zarewna Sof'ja stützte sich auf das Adelsaufgebot, allmählich gelang es ihr, der Lage Herr zu werden, und im Herbst 1682 zwang sie die Strelitzen und Soldaten zur Aufgabe ihrer Forderungen; viele wurden jetzt strafweise aus Moskau in andere Städte versetzt. Sechzehn Jahre später versuchten die Strelitzen aus vier Moskauer Regimentern erneut, sich gegen die Moskauer Bojaren zu erheben, denen sie zusammen mit den Verbindungen Peters I. zu Ausländern die Schuld für ihre Nöte und Armut, für den schweren Dienst und die Entbehrungen zuschrieben. Aber jetzt war die Stellung der Regierung weit fester, der Aufstand wurde im Keim erstickt, gleich die ersten Aktionen beim Novoierusalimskij-Kloster zerschlagen. Der grausame „Prozeß" gegen die Strelitzen, den der aufgrund des Aufruhrs eilig von seiner Auslandsreise zurückgekehrte Zar Peter I. persönlich leitete, endete mit Massenhinrichtungen und Verbannungen, deren Grausamkeit bei den Zeitgenossen und den folgenden Generationen in schreck16

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I. V. Stepanov, Krest'janskaja vojna v Rossii v 1670-1671 gg. Vosstanie Stepana Razina, Bd. I, II, 1, Leningrad 1966, 1972. N. A. Barsukov, Soloveckoe vosstanie, Petrozavodsk 1954.

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licher Erinnerung blieben. 1 8 Teilnehmer an den Aufständen von 1682 und 1698 beteiligten sich an vielen späteren Protestaktionen der Bevölkerung.

III. Das neue Jahrhundert begann unter dem Signum von Reformen auf allen Gebieten. Die Umgestaltungen wurden von den Erfordernissen der Zeit erzwungen, sie waren im 17. J h . durch die gesamte vorhergehende Entwicklung vorbereitet worden, sie erfaßten Wirtschaft und Staatsaufbau, Kultur und Lebensweise. Wesentlich aktiver wurde die Innen- und die Außenpolitik des russischen Staates. Es zeigten sich Erfolge in der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Landes, sowohl auf dem Lande als zur See wurden militärische Erfolge errungen. Aber all diese Errungenschaften mußten teuer bezahlt werden: die Entbehrungen und die Leiden der Bevölkerung verstärkten sich. Die feudale Unterdrückung durch die Leibeigenschaft verschärfte sich, die Lage der Volksmassen wurde immer schwieriger. Einerseits wuchs der Reichtum der Feudalherren, sie erhielten weiteren Landbesitz mit leibeigenen Bauern, zur gleichen Zeit verringerte sich der von Bauern beackerte Boden, viele Bauern gerieten in drückendere Formen der Abhängigkeit. Großen Umfang erreichte vor allem in den neunziger Jahren des 17. J h . die Suche nach Flüchtigen. 1 9 Es wuchs der Umfang der Fronarbeit (Barscina), der Natural- und Geldrente (Obrok), der staatlichen Steuern und Verpflichtungen. Unter Peter I. wurden neben den bisher üblichen viele neue Steuern eingeführt - zur Finanzierung des Schiffbaus, der Rekrutierungen usw., es wurde alles Mögliche besteuert: Transport, Mühlen, Badestuben, Barttragen usw.; es gab besondere Beauftragte, die nur darüber nachzudenken hatten, welche neuen Steuern noch eingeführt werden könnten. Zehntausende, ja Hunderttausende Menschen wurden gezwungen, beim Bau von Städten, Kanälen, Straßen usw. zu arbeiten. Immer neue Rekrutierungen wurden aufgerufen. Viele Menschen kamen durch Hunger, Unfälle, Krankheiten oder Schläge ums Leben. Für die petrinische Zeit wurde eine Massenverelendung breiter Bevölkerungsschichten charakteristisch, eine Verarmung der Bauern und der Posadbevölkerung, die Zahl der bewohnten Häuser verringerte sich, die Steuerrückstände wuchsen an. Die in den Manufakturen arbeitenden, diesen Betrieben für die Arbeit zugeschriebenen Bauern führten ein außerordentlich ärmliches Hungerdasein, sie erhielten niedrigen Lohn, hatten einen langen Arbeitstag, waren Willkür und Unterdrückung der Manufakturadministration ausgesetzt. Viele verarmte und zur Verzweiflung getriebene Menschen flohen in die Randgebiete', an den Don, nach Sibirien und in andere Regionen. Aber auch dort war das Leben nicht leicht. Es mangelte an Lebensmitteln, die reichen Kosaken und andere Ausbeuter unterdrückten die Armen. Am Don und im Wolgagebiet tauchten russische Feudalherren auf, die sich dort Grund und Boden aneigneten, die örtliche Bevölkerung in die Leibeigenschaft zwangen. Die zarische Regierung arbeitete dabei zum Schaden der Lebensinteressen der Bevölkerung dieser Randgebiete mit den örtlichen Verwaltungen Hand in Hand (etwa mit der kosakischen Oberschicht am Don). So forderte sie die Auslieferung flüchtiger Bauern, von denen viele vor der Leibeigenschaft in das Dongebiet geflüchtet waren. 18 ln

V. I. Buganov, Moskovskie vosstanija konca XVII v„ Moskau 1969. A. G. Man'kov, Razvitie krepostnogo prava v Rossii vo vtoroj polovine XVII v., MoskauLeningrad 1962.

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Die Verschlechterung der Lage aller Schichten der abhängigen Bevölkerung, sowohl der russischen als auch der nichtrussischen, die Zuspitzung der Klassengegensätze führte zu einem neuen Aufschwung des Klassenkampfes in seinen verschiedenen Formen ; Massenflucht, persönliche Abrechnung mit den Feudalherren, Inbrandsetzen ihrer Besitzungen, Verbreitung von unterschiedlichen regierungsfeindlichen Gerüchten, Massenaufstände verschiedener Bevölkerungsgruppen. Die größte Bedeutung in jener Zeit erlangten der Astrachaner Aufstand 1705/06, der Baschkiren-Aufstand von 1705 bis 1711 und schließlich der dritte Bauernkrieg von 1707 bis 1710. Der Astrachaner Aufstand war durch Willkürmaßnahmen der örtlichen Verwaltung, vor allem des Wojewoden T. I. Rzevskij, ausgelöst worden; er hatte die Löhnung der Strelitzen und Soldaten eigenmächtig verringert, zugleich aber die Steuern f ü r die Astrachaner Bevölkerung erhöht. Die Aufständischen besetzten die Stadt, rechneten mit dem Wojewoden und mehr als 300 weiteren verhaßten Offizieren, Mitarbeitern der Verwaltung usw. ab, wählten auf einer allgemeinen Versammlung (krug) neue Machtorgane. Die Astrachaner wurden von den Bewohnern anderer Städte dieses Gebietes — Öernyj Jar, Krasnyj Jar, Gur'ev — sowie von den Terek-Kosaken unterstützt. Ein gegen das aufständische Astrachan gesandtes Heer unter dem Kommando von Feldmarschall B. M . Seremetev schlug den Aufstand nieder. Auf Grund der Untersuchungen wurden mehr als 300 Beteiligte hingerichtet. 20 Der Aufstand der Baschkiren von 1705 bis 1711 richtete sich gegen soziale und nationale Unterdrückung, gegen die Erhöhung der Abgaben, gegen die Unterdrückung durch die Feudalherren und durch die regionalen Organe der Staatsmacht, aber die diesen Aufstand leitenden baschkirischen Feudalherren gaben die reaktionäre Losung einer Trennung von Rußland aus; sie wollten einen moslemischen baschkirischen Staat schaffen, der in Vasallitätsbeziehungen zur Türkei stehen sollte. Der dritte Bauernkrieg begann 1707 am Don, als die Regierung Peters I. die in das Dongebiet geflohenen Bauern und andere flüchtige Personen erfassen und an ihre f r ü heren Wohnsitze zurückführen, die Bauern den Feudalherren also wieder zurückgeben wollte. 2 1 Zu diesem Zweck erschien ein militärisches Kommando unter der Führung von Fürst Ju. V. Dolgorukij im Dongebiet. Er wurde von den reichen Kosaken, der Oberschicht von Öerkassk, unterstützt. Es begann eine rücksichtslose Fahndung, Flüchtlinge wurden erfaßt und aus dem Dongebiet zurückgesandt. Diese Erfassung wuchs sich zu einer Gewaltaktion aus, die Strafkommandos verbrannten Kosakenstanizen, hängten Bewohner oder folterten sie. Im Dongebiet brodelte es, Haß und Unwillen regten sich immer stärker. Die Unzufriedenen organisierten sich zum Widerstand. Sie versammelten sich unter dem Kommando von Kondrat Bulavin, einem Kosaken aus der unweit der M ü n d u n g des A j d a r in den Severnyj Donez gelegenen Staniza Trechizbjanskaja. Seine Abteilung zählte etwa 250 Mann, darunter der spätere aktive Mitkämpfer Bulavins und ehemalige Mitkämpfer Stepan Razins Ivan Loskut sowie Kosaken mit so bezeichnenden Beinamen wie Dranyj (der Zerlumpte), Golyj (der Nackte) usw. 20

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N. B. Golikova, Politiceskie processy pri Petre I., Moskau 1957; dies., Astrachanskoe vosstanie 1705-1706 gg., Moskau 1975. Bulavinskoe vosstanie. Sbornik dokumentov, Moskau 1935; E. P. Pod"japol'skaja, Vosstanie Bulavina 1707-1709, Moskau 1962; V. I. Lebedev, Bulavinskoe vosstanie (1707-1708), Moskau 1967; V. I. Buganov, Krest'janskie vojny v Rossii XVII-XVII vv., Moskau 1976, Kapitel 3.

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In der Nacht zum 9. Oktober 1707 überfiel die Abteilung Bulavins Sul'gin Gorodok, wohin am Abend zuvor Dolgorukij mit seiner Strafexpedition gekommen war. Etwa 20 Soldaten und ihr Befehlshaber wurden erschlagen, andere konnten sich durch die Flucht retten. Ähnlich erging es den anderen Strafabteilungen, die Dolgorukij zur Erfassung der Flüchtigen in die Städte und Stanizen am Don, am Choper, am Buzuluk und an der Medvedica gesandt hatte. Bei diesen Aktionen der Aufständischen wurde auch mit einigen Vertretern der kosakischen Oberschicht abgerechnet. Bulavin sandte Aufrufe zum Aufstand in alle Richtungen; ihm strömten die armen Leute aus vielen Orten zu. Die Aufstandsarmee erreichte eine Stärke von 2000 Mann, aber am 18. Oktober wurde sie von den aus Cerkassk zum Ajdar gekommenen Truppen des Don-Atamans L. Maksimov geschlagen. Viele Aufständische wurden hingerichtet, auch die Bevölkerung wurde bestraft, die Bulavin unterstützt hatte. Bulavin selbst floh zu den Zaporoger Kosaken an den Unterlauf des Dnepr. Die aufgeflammte Bewegung ging aber trotz der Niederlage Bulavins und seines Wegganges vom Don weiter, beispielsweise kämpften Abteilungen unter den Atamanen S. A. Dranyj und K. A. Tabunscikov. Aufstandsteilnehmer vom Oberen Don sandten Boten zu Bulavin nach Kodak und forderten ihn auf, zurückzukehren und wieder das Kommando zu übernehmen. Bulavin sandte zum Don und in die Ukraine, zur Wolga und zum Jaik „prelestnye gramoty", eine Art Proklamationen, mit denen er dazu aufrief, den Kampf gegen die Staatsgewalt und die Feudalherren weiterzuführen, er sammelte Anhänger. Eine Abteilung Zaporoger Kosaken schloß sich ihm an. Anfang 1708 wurde Pristanskij Gorodok am Mittellauf des Choper zum Aufstandszentrum. Im M ä r z versammelten sich hier etwa 1000 Aufständische, Kosaken und aus den russischen Gebieten Geflohene. Nördlich und nordwestlich des Gebietes der Donkosaken erhoben sich in verschiedenen Gebieten Bauern, so im Raum von Voronez, Kozlovsk, Tambov, auch im Wolgagebiet und in Teilen der Ukraine kam es zu Unruhen. Ende M ä r z kam Bulavin in Pristanskij Gorodok an und übernahm den Oberbefehl. Er und seine Mitstreiter riefen alle Unterdrückten dazu auf, sich gegen die Starsina in Cerkassk und gegen den russischen Adel, gegen Vertreter der Administration und gegen andere Ausbeuter zu erheben. Bulavin bereitete den Feldzug vor, er kaufte oder konfiszierte Waffen, Verpflegung, Pferde. Zuerst wollte man gegen Cerkassk ziehen, um mit der Starsina, der kosakischen Oberschicht, abzurechnen. Von allen Seiten strömten Bulavin neue Mitstreiter zu, Kosaken aus dem Gebiet am Oberlauf des Don, Bauern und Posadieute aus den dem Don benachbarten russischen Gebieten, in denen nach den Aufrufen Bulavins immer mehr Ausgebeutete den Kampf gegen die dort ansässigen Feudalherren aufgenommen hatten. Die Aufständischen besetzten Städte und Siedlungen, rechneten mit Wojewoden und Gutsbesitzern ab, wählten ihre eigene Verwaltung, eigene Atamane. Aus den Gefängnissen wurden die dort Inhaftierten befreit, die offizielle feudale Dokumentation wurde vernichtet, die Waffenfähigen zum Kampf gegen die Zarentruppen mobilisiert. Die Bewegung dehnte sich immer weiter aus und ergriff ein großes Territorium am Don sowie in südrussischen und ukrainischen Gebieten. Peter I. konzentrierte eilig starke Kräfte, von den Fronten (es tobte der Nordische Krieg gegen Schweden) wurden mehrere Regimenter abgezogen. Leiter der Strafabteilungen wurde der M a j o r Fürst V. V. Dolgorukij, der Bruder des in Sul'gin Gorodok umgekommenen Befehlshabers. Ihm wurden insgesamt Truppen in Stärke von 32 000 Mann zur Verfügung gestellt (zu

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Beginn des Nordischen Krieges vor Narva betrug der Gesamtbestand der russischen Armee nur wenig mehr - insgesamt 40 000 Mann). Inzwischen rückte von Öerkassk aus erneut ein Kosakenheer unter dem Kommando von L. Maksimov gegen die Aufständischen aus. An der Liskovatka, einem oberhalb Pansin Gorodok in den Don mündenden kleinen Nebenfluß, kam es zur Schlacht, in der die Aufständischen einen glänzenden Sieg errangen, mit dem der Weg nach Öerkassk frei wurde. Dutzende Kosaken-Stanizen gingen auf die Seite der Aufständischen über. Gegen Ende April näherte sich das Heer der Aufständischen der Hauptstadt des Donkosakengebietes. Ein Aufstand in der Stadt gegen die Starsina öffnete Bulavin den Weg nach Öerkassk. Am 6. Mai wurde auf Beschluß des „krug", der allgemeinen Kosakenversammlung, der Ataman des Donheeres L. Maksimov und die an der Strafexpedition Ju. V. Dolgorukijs 1707 beteiligten Mitglieder der Starsina hingerichtet, ihr Vermögen wurde konfisziert. Kurz darauf wurde vom „krug" K. A. Bulavin, der Führer der Aufstandsbewegung, zum neuen Ataman gewählt. Der von den Donkosaken ausgelöste Bauernkrieg weitete sich immer mehr aus. In vielen Regionen des Dongebietes, der Ukraine und des unteren Wolgagebietes wirkten Abteilungen der Aufständischen, sie rechneten mit Feudalherren, Regierungsvertretern und mit allen Reichtum Besitzenden ab. Am 13. Mai sandte Bulavin drei Heeresgruppen aus: zum nördlichen Donez unter dem Kommando von S. Dranyj sowie in Richtung Choper und Wolga unter dem Befehl von I. Nekrasov und N. Golyj. Sie sollten die in Richtung auf den Don marschierenden zarischen Truppen zerschlagen, sich dann gegen Azov wenden, wo sich eine etwa 5000 Mann starke Garnison von Regierungstruppen befand. Nach der Sicherung des Hinterlandes wollte man dann gegen Moskau ziehen, um dort Bojaren und Dvorjanen, also die Vertreter der Feudalordnung, auszurotten. Die von Dranyj und Golyj geführten Aufständischen zerschlugen am 8. Juni bei Valujkie das Sumsker Regiment, aber am 1. Juli erlitt Dranyj bei der Stadt Tor am Nördlichen Donez eine Niederlage. Andere Abteilungen der Aufständischen führten den Kampf an der Wolga, sie besetzten die Städte Dmitrievsk (Kamysin), Caricyn, belagerten Saratov. Mit einem Mißerfolg endete auch der Versuch Bulavins, Azov am 5./6. Juli im Handstreich zu nehmen. Die Niederlagen bei Tor und Azov verschlechterten erheblich die Lage der Aufständischen. Die reichen Kosaken, die in Öerkassk zurückgeblieben waren, hatten schon seit langem gegen Bulavin eine Verschwörung angezettelt, jetzt gingen sie offen gegen ihn vor: am 7. Juli umzingelten sie seine Hütte, nach einem längeren Feuergefecht wurde der Führer des Aufstandes erschossen. Der Tod Bulavins bedeutete nicht das Ende des Aufstandes. Der Bauernkrieg dauerte das ganze Jahr 1708 hindurch an und war auch in den folgenden beiden Jahren noch nicht völlig niedergeschlagen. Als treibende Kraft wirkten vor allem die Leibeigenen der südlichen russischen Gebiete, sowie des Gebietes am Unterlauf der Wolga und in anderen Regionen. Mit ihnen gemeinsam kämpften die Kosaken vom Don und aus der Ukraine, Posadbewohner, arbeitende Leute, wandernde Leute, sowohl Russen als auch Nichtrussen (Ukrainer, Kalmyken u. a.). Besonders aktiv traten die im Schiffstransport tätigen arbeitenden Leute, die Burlaki, sowie die im Holzeinschlag, dem Fischfang und den Salzsiedereien, den Eisenhütten und den Werften tätigen arbeitenden Leute hervor. Eine nicht geringe Rolle spielten auch Raskolniki; einige bedeutende Führer der Aufstandsbewegung kamen aus ihrem Kreis, so N. Golyj, I. Nekrasov, möglicherweise auch L. M. Chochlac und Bulavin selbst. Hauptlosung der Bewegung war der Kampf gegen

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alle Ausbeuter - von den Bojaren und Fürsten bis zu den Vertretern der Staatsgewalt und den ungerechten Richtern ihre Ausrottung und die Beseitigung der Leibeigenschaft. Dabei richteten sie sich nicht gegen jegliche Regierung, sondern nur gegen „bösartige", „schlechte" Vertreter. Aber schon bald mußten sie erkennen, daß sie nicht auf Peter I. und seinen Mitarbeiterkreis rechnen konnten. Bulavin und seine Mitstreiter bewiesen hier ihre Fähigkeit, sich in gewissen Grenzen vom Glauben an den „guten Zaren", von zaristischen Illusionen zu befreien. Die Losungen der Bewegung wurden immer radikaler, in den Aufrufen von Nekrasov, der nach dem Tode Bulavins den Aufstand führte, und Golyj wurde eine klarere Abgrenzung gegeben zwischen der „cern'", dem Volk, und den „Bojaren", die „gegen das Recht handeln". Der Bauernkrieg ging weiter, obwohl V. V. Dolgorukij Cerkassk einnahm und dort ein halbes Hundert Bulavin-Anhänger hinrichten ließ. Der Don, das untere Wolgagebiet und die angrenzenden Regionen blieben Aufstandsgebiet. Die Regierung befürchtete einen Zusammenschluß dieser Aufstandsgebiete mit den Unruheherden in Baschkirien und in einigen zentralen Gebieten des europäischen Rußland, wo ebenfalls die Unterdrückten den Kampf gegen ihre Unterdrücker aufgenommen hatten. I. Nekrasov hatte in Pansin-Gorodok etwa 10 000 Mann zusammengezogen, aber wie Bulavin zersplitterte er seine Kräfte. Einen Teil ließ er in Pansin, einen anderen stationierte er weiter südlich in Esaulovo Gorodok. Vom Nördlichen Donez kam das Heer N. Golyjs dorthin, um sich mit Nekrasov zu vereinigen. Von allen Seiten drangen die Strafabteilungen V. V. Dolgorukijs (entlang dem Don von Süden und von Norden) und des Fürsten P. I. Chovanskij (von der Wolga her) vor; es gelang ihnen, die Vereinigung der Aufständischen-Armeen zu verhindern, sie einzeln zu zerschlagen. Tausende Aufstandsteilnehmer fielen im Kampf, beendeten ihr Leben am Galgen oder unter dem Beil des Henkers. Nekrasov zog mit 2000 Anhängern zum Kuban', in ein Gebiet, das damals noch zum türkischen Besitz gehörte. Dolgorukij und Chovanskij rechneten mit den Bewohnern des Dongebietes und seiner Zuflüsse grausam ab. Gnadenlos wurden Höfe und Siedlungen eingeäschert, Menschen hingerichtet. In den Jahren 1709/10 dauerte der Bauernkrieg im unteren Wolgagebiet immer noch an, auch im Dongebiet und in anderen Gegenden war es noch nicht ruhig. Insgesamt waren von der Bewegung 60 Kreise erfaßt worden. Nekrasov unternahm waghalsige Züge vom Kuban' aus zum Don. Aber die Regierungstruppen unterdrückten grausam und ohne jegliches Erbarmen diese mächtige Volksbewegung am Beginn des 18. Jahrhunderts. IV. Die gleichen wirtschaftlichen, sozialen und juristischen Gründe waren Ursache der verschiedenen Erscheinungsformen des während des ganzen 18. Jh. nicht abreißenden Klassenkampfes. Im zweiten Viertel dieses Jahrhunderts beteiligten sich die Unterdrückten - abgesehen von Bittschriften und Flucht - an verschiedenen Unruhen und Aufständen. Von den dreißiger bis zu den fünfziger Jahren gab es in den Gouvernements des europäischen Rußlands etwa 40 Aufstände von Gutsbauern und etwa 60 Aufstände von Klosterbauern. Zum Kampf erhoben sich die Bewohner der Städte, Kosaken in den Randgebieten, die unterdrückten Schichten der nichtrussischen Völkerschaften. Besonders hervorzuheben sind die Unruhen unter den arbeitenden Leuten; außer den für Bauern üblichen Forderungen wie Rückkehr ins Dorf zur bäuerlichen Arbeit wur-

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den von ihnen auch andere berufsbedingte reine Arbeitsforderungen erhoben wie Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, Erhöhung des Lohnes u. dgl. Für einen Teil der arbeitenden Leute bestand schon nicht mehr der Wunsch einer Rückkehr ins Dorf, denn die Fabrikarbeit war für sie bereits zur einzigen Existenzgrundlage geworden. Die Unruhen unter den arbeitenden Leuten, etwa in den dreißiger bis zu den sechziger Jahren die Unruhen im Moskauer Tuchhof, einer der größten Manufakturen der damaligen Zeit, sowie in verschiedenen anderen Manufakturen in den zentralen Gebieten des europäischen Rußlands und im Ural sowie in anderen Gegenden kennzeichnen das Entstehen eines Vorproletariats. Diese Bewegungen zeichneten sich durch ihre Hartnäckigkeit, durch lange Dauer, durch Elemente der Bewußtheit aus. 22 Zu einer besonderen Zuspitzung des Klassenkampfes kam es in den fünfziger bis zu den siebziger Jahren. Immer häufiger wurde die Abrechnung mit einzelnen Gutsbesitzern, die Aktionen von „Räuberbanden" verstärkten sich merklich. Protestaktionen verschiedener Kategorien der Bauernschaft, der Gutsbauern, Klosterbauern, Staatsbauern, darunter auch der Jasakpflichtigen, der arbeitenden Leute und der Fabrikbauern wurden häufiger und erbitterter. Die nichtrussischen Völkerschaften im Wolgagebiet, im Uralgebiet usw. erhoben sich gegen den Raub ihrer Ländereien, gegen die Unterdrückung durch russische und nichtrussische Feudalherren, Manufakturunternehmer, Vertreter der Staatsmacht und der Kirche. Diese Bewegungen erreichten einen großen Umfang, sie führten in verschiedenen Fällen zu Zugeständnissen seitens der Herren, Besitzer, Regierungsvertreter. Im Verlauf dieser Unruhen bewiesen die Aufständischen mehrfach ihre Fähigkeit zum Zusammenschluß der Kräfte zum einheitlichen und verbissenen Kampf, wobei auch Formen des Streiks als Kampfmittel eingesetzt wurden; Elemente der Organisiertheit traten klarer hervor, es entstanden Organe der Aufstandsleitung wie Gemeindeselbstverwaltung, bei der alle Fragen in allgemeinen Versammlungen entschieden wurden. Das waren Präludien zum letzten großen Bauernkrieg in der Geschichte Rußlands. 23 Wieder traten'die Kosaken als auslösendes Moment hervor, diesmal die Jaik-Kosaken. Sie erhoben sich 1772 zum Kampf gegen die Zarenbehörden, die die kosakischen Freiheiten in jeder Weise beschnitten, und gegen die reichen Kosaken, die die armen Kosaken ausbeuteten. Als Strafexpeditionen in das Kosakengebiet kamen, wollte eine Gruppe von Kosaken mit den Mitgliedern der Untersuchungskommission verhandeln, aber sie wurden niedergeschossen. Als Antwort rechneten die Kosaken mit dem General Traubenberg und dem Heeresataman Tambovcev sowie mit anderen Mitgliedern der Strafexpedition und der Jaicker Starsina ab. Die Aufständischen planten einen Marsch in die zentralen Gebiete des europäischen Rußlands, nach Moskau, um die Gutsbauern zum Aufstand zu veranlassen. Der Aufstand am Jaik 1772 konnte von den Truppen des Generals Freimann, der aus Orenburg zum Jaik geschickt wurde, blutig niedergeschlagen werden. Die Kosaken beruhigten sich, aber nur für kurze Zeit. Im September 1773 begann am Jaik eine Bewegung unter Losung der Zurückforde21

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P. K. Alefirenko, Krest'janskoe dvizenie i krest'janskij vopros v Rossii v 30-50-ch godach XVIII v„ Moskau 1958; V. V. Mavrodin, Klassovaja bor'ba i obscestvenno-politiceskaja mysl' v Rossii v XVIII v. (1725-1773 gg.), Moskau 1964. Krest'janskaja vojna v Rossii v 1773-1775 gg. Vosstanie Pugaceva, Bd. I-III, Leningrad 1961-1970 (Bd. I von V. V. Mavrodin verfaßt); V. V. Mavrodin, Klassovaja bor'ba i obscestvenno-politiceskaja mysl' v Rossii v XVIII v. (1773-1790 gg.), Leningrad 1975; Buganov, Krest'janskie vojny, Kapitel 4.

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rung der verlorenen Rechte und Freiheiten der Jaik-Kosaken, der Befreiung aller Ausgebeuteten von Unterdrückung und Knechtherrschaft. Führer dieser Bewegung wurde Emel'jan Ivanovic Pugacev, ein Donkosak, der bereits viel erlebt hatte, der die Leiden und Nöte des Volkes gut kannte. Er nahm den Namen Petr III. Ivanovic an, den Namen des toten Kaisers, der nach der Thronrevolte 1762 von Gardeoffizieren umgebracht worden war, nach jener Thronrevolte, die seine Gattin als Katharina II. auf den Thron geführt hatte. Die Titelanmaßung war in Rußland im 17. und 18. Jh. eine recht weit verbreitete Form des Klassenkampfes, die den monarchistischen Illusionen in der Ideologie der Aufständischen, ihrem Glauben an den „guten Zaren" entsprach, der nach ihrer Meinung die Lage des Volkes verbessern sowie die einfachen Leute aus dem Joch und der Unterdrückung durch die „schlechten" Regierungsvertreter und Feudalherren befreien würde. Den Namen dieses oder jenes Vertreters der in Rußland herrschenden Familien nahmen dabei häufig einfache Leute, Bauern oder Cholopen, Posadbewohner oder Soldaten an. Im dritten Viertel des 18. Jh. traten eine ganze Reihe von Personen unter angemaßtem Titel auf, einer von ihnen war Pugacev. Viele jener Kosaken, die von Anfang an am Aufstand beteiligt waren, wußten, daß der „Imperator Peter III." in Wirklichkeit ein flüchtiger Donkosak war, aber das war für sie unwichtig, wichtig war nur, daß sich jemand gefunden hatte, der den Kampf aller Beleidigten und Erniedrigten um Land, Freiheit und Recht anführte. Mitte September 1773 lauschten einige Dutzend Jaik-Kosaken, Tataren und Kalmücken in einem Chutor etwa 100 Werst von Jaickij Gorodok entfernt den Worten Pugacevs, mit denen er sie dazu aufrief, den Kampf zu beginnen. In seinen ersten Manifesten versprach Pugacev allen Unterdrückten die Freiheit von Leibeigenschaft, von Steuern und Verpflichtungen, von der Willkür der Verwaltungen und der Militärkommandos, Gleichstellung aller Völker und aller Glaubensbekenntnisse. Die anfangs kleine Gruppe Pugacevs vergrößerte sich rasch. Gegen Jaickij Gorodok marschierten unter seinem Kommando bereits etwa 400 oder 500 Mann, aber die Stadt konnten sie bei der Ungleichheit der Kräfte nicht einnehmen. Pugacev wandte sich deshalb den Jaik aufwärts. Viele Vorposten und befestigte Plätze fielen in seine Hand, die Garnisonen und Kanonen verstärkten seine Abteilung, die rasch zu einem echten Heer anwuchs. Am 27. September eroberte Pugacev im Sturm die starke Festung Tatisceva, das Zentrum der Jaicker Befestigungslinie mit einer Garnison von etwa 1000 Mann, mit Artillerie, Munitionslager, Lebensmittelvorräten und einer Kassenverwaltung. Pugacevs Armee wandte sich dann gegen Orenburg, gegen das wichtigste Verwaltungszentrum und militärischen Kommandopunkt in den südöstlichen Gebieten des Russischen Reiches. In alle Richtungen sandte er seine Befehle und Manifeste, überall rechneten die Aufständischen mit den Ausbeutern ab. In der Nacht vom 5. zum 6. Oktober kamen die Aufständischen vor Orenburg an. Etwa ein halbes Jahr lang wurde diese Stadt belagert, mehrfach scheiterten Versuche, die Stadt zu stürmen, es kam zu Schlachten und zu Artillerieduellen. Von allen Seiten strömten dem Heer Pugacevs, dem Hauptheer oder Großen Heer, Tausende Unterdrückte der verschiedensten Nationalitäten und sozialen Kategorien zu. Hier gab es Leibeigene und Kosaken, Tataren und Mordwinen, Tschuwaschen, Mari und viele, viele andere. Das Heer war in Regimenter, Hundertschaften und Gruppen (Zehnerschaften) untergliedert; an der Spitze jeder Einheit standen Kommandeure. Es wurde eine militärische Ausbildung im Schießen aus Kanonen und Gewehren usw. durchgeführt, auf

Epoche der Bauernkriege 17./18. Jh.

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strenge militärische Disziplin wurde geachtet. Die Versorgung des Heeres mit Lebensmitteln, Bewaffnung, Furage war organisiert. Alle militärischen und zivilen Angelegenheiten auf dem unter Kontrolle der Aufständischen stehenden Gebiet wurden vom Stab unter der Leitung Pugacevs geleitet, es gab ein Kriegskollegium und eine Feldkanzlei. Der Schriftverkehr erreichte einen relativ großen Umfang. Es bestand eine wenn auch nicht immer regelmäßige - Verbindung zu den vielen Abteilungen und Heeren, die unter der Führung von Pugacevs Atamanen und Kommandeuren in den vom Bauernkrieg erfaßten Gebieten operierten, im Orenburger Gebiet, im Uralgebiet, jenseits des Ural, in Baschkirien, im Nordkaukasusgebiet sowie im Wolgagebiet. Uberall entstanden anstelle der liquidierten zarischen Verwaltung neue volksverbundene Machtorgane. Ein riesiges Gebiet, viele Städte und Siedlungen standen unter der Herrschaft der Aufständischen. Außer dem Hauptzentrum vor Orenburg mit dem Stab Pugacevs in Berda (Berdskaja sloboda) entstand ein zweites Zentrum vor dem von den Aufständischen belagerten Ufa. Es stand unter der Leitung von I. N. Zarubin-Öika, eines engen Mitstreiters Pugacevs. Die vielen Abteilungen führten meist isoliert den Kampf auf dem ganzen riesigen vom Bauernkrieg erfaßten Territorium. Die Regierung sandte eilig Truppen in die Aufstandsregion. Aber die ersten Abteilungen unter Befehl des Generals V. A. Kar (Carr) und des Oberst P. M. Öernysev wurden vor Orenburg von den Aufständischen zerschlagen. Eiligst wurden neue Truppen ausgesandt, die - zahlenmäßig weit stärker - von erfahrenen Offizieren geführt wurden. Von verschiedenen Seiten näherten sie sich dem Aufstandsgebiet. Im März 1774 erlitt Pugacev von den Einheiten Golicyns vor der Festung Tatisceva und vor Orenburg schwere Niederlagen. Die Hauptarmee der Aufständischen war zerschlagen. Zur gleichen Zeit zerschlug Michelson die Armee Zarubin-Cikas vor Ufa. Und ähnlich waren die Ereignisse an anderen Orten. Die erste Phase des Bauernkrieges war beendet, es begann die zweite. Pugacev zog sich in das südliche Uralgebiet und nach Baschkirien zurück. Er hatte noch 400 Mann bei sich, aber schon bald war es wieder eine große Armee. Er besetzte mehrere Werke und Festungen, Städte und Dörfer im Uralgebiet. Die Flamme des Bauernkrieges loderte erneut hell auf. In dieser Phase des Bauernkrieges erhielten die arbeitenden Leute der Uralwerke eine wachsende Bedeutung, ihr Handeln war besonders energisch und zielstrebig. Tapfer kämpften russische und baschkirische Bauern und die vielen anderen Aufständischen gegen den Feind. Ständig verfolgt zog das Heer Pugacevs vom Ural durch Baschkirien nach Kazan'. Am 12. Juli wurde diese bedeutende Stadt im Sturm erobert, aber vor den Mauern dieser Stadt erlitt Pugacev wenige Tage später erneut eine Niederlage durch die Truppen des ihn verfolgenden Korps Michelson. In der nun beginnenden dritten Phase des Bauernkrieges zog Pugacev wolgaabwärts in Richtung auf den heimatlichen Don, wo er seine Landesgenossen für den Kampf zu gewinnen hoffte. Das Vordringen Pugacevs in das Wolgagebiet führte hier und in den angrenzenden Gebieten zur Erhebung der Massen der leibeigenen Bauern. Gerade in dieser Etappe erlangten die Forderungen der Aufständischen, wie sie sich in den Manifesten Pugacevs vom Sommer 1774 widerspiegelten, einen klar ausgeprägten antifeudalen Charakter. Die Kampflosungen versprachen jetzt nicht nur Befreiung von der Leibeigenschaft, sondern sie forderten dazu auf, alle Adligen auszurotten; den Bauern wurde Land und Freiheit zugesagt. Auf dem Weg der Entwicklung der Bewußt-

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heit war das ein weiterer Schritt vorwärts. Hinsichtlich der Organisiertheit war diese dritte Etappe aber ein Schritt zurück, das spontane Element erhielt immer größere Bedeutung, es wuchs der lokale Charakter des Kampfes der Aufständischen gegen Feudalherren und Regierungstruppen. Das Hauptheer Pugacevs wandte sich zielstrebig wolgaabwärts, dabei wurden viele Städte und Siedlungen erobert und schnell wieder verlassen. Pugacev konnte zwar einige Siege erringen, aber am 25. August erfolgte die entscheidende Niederlage durch die Truppen Michelsons, der ihm immer auf den Fersen geblieben war. Das Hauptheer Pugacevs hörte auf zu bestehen. Die Regierungstruppen zerschlugen nacheinander die übrigen Abteilungen der Aufständischen, die in der Regel isoliert handelten. Allein in der Zeit vom 1. August bis zum 6. September wurden mehr als 60 solcher Aufstandsabteilungen zerschlagen. Grausam und wahllos wurde von den Regierungstruppen abgerechnet. Bald darauf ergriffen reiche Jaik-Kosaken, die zu Verrätern geworden waren, Pugacev, um damit ihr eigenes Leben zu retten. Sie führten ihn zuerst nach Jaickij Gorodok, von wo er dann nach Moskau gebracht wurde. Nach Vernehmung und Folter wurde er hier zusammen mit seinen engsten Mitstreitern am 10. Januar 1775 hingerichtet. Die Regierungstruppen und die russischen Adligen rächten sich auf das Grausamste an den Teilnehmern des Bauernkrieges. Es wurde unter Androhung schwerer Strafen verboten, den Namen Pugacev nur zu nennen; damit wollte man das Andenken an diesen Führer des Volkes und an die von ihm vertretene Idee, für die er sein Leben hingegeben hatte, aus dem Gedächtnis des Volkes auslöschen. Aber solche Bemühungen des Adels und der Regierung waren vergeblich. Der Name Pugacev und die Erinnerung an die „Pugacevscina" blieb für alle Unterdrückten und Erniedrigten immer ein Ruf zum Kampf, für den russischen Adel eine schreckliche Erinnerung, die bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und bis zum Sturz der Macht der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie 1917 lebendig blieb. Der Klassenkampf spielte in der Geschichte Rußlands im 17. und 18. Jh. eine besonders spürbare Rolle. Die neuen sozialökonomischen Prozesse, die sich aus dem Entstehen und dem Heranwachsen bürgerlicher Verhältnisse ergaben, aus der scharfen Zuspitzung der Leibeigenschaft, aus dem feudalen Druck und der Zuspitzung des Klassenkampfes in der Periode des späten Feudalismus, der seine höchste Entwicklungsmöglichkeit mit dem Übergang von der ständischen Monarchie zum Absolutismus erreichte, dieser ganze Komplex von Erscheinungen zeugt davon, daß das Feudalsystem in Rußland in sein abschließendes Stadium eingetreten war. Aber noch behielt die Feudalordnung Möglichkeiten der eigenen Entwicklung. Das durch die Herrschaft der Feudalklasse bestimmte System blieb noch stark genug, es verstärkte sich in diesen Jahrhunderten sogar noch. Gerade dieser Umstand - zusammen mit anderen Faktoren — erklärt die Niederlage aller Volksbewegungen einschließlich der Bauernkriege. Lenin stellte dazu fest: „Seit dem deutschen 'Bauernkrieg' im Mittelalter sehen wir in allen großen revolutionären Bewegungen und Epochen zahllose Beispiele dafür, wie eine besser organisierte, zielbewußtere, und besser bewaffnete Minderheit der Mehrheit ihren Willen aufzwang und diese besiegte."24 Die Volksaufstände im feudalen Rußland sind historische Ereignisse von großem Ausmaß und außerordentlicher Bedeutung. Gerade in diesen zwei Jahrhunderten erreichte der Klassenkampf der unteren Bevölkerungsschichten, vor allem in den Bauern24

W. I. Lenin, Über Verfassungsillusionen, in: Lenin, Werke, Bd. 25, Berlin 1972, S. 201.

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kriegen, ein bisher unerreichtes Niveau, eine gewaltige Ausdehnung. Es deutet sich bereits eine gewisse Überwindung der lokalen Begrenztheit und der Spontaneität an, immer stärker treten Elemente der Organisiertheit und Bewußtheit hervor. Dabei darf man aber nicht vergessen, daß im Vergleich zur späteren revolutionären Befreiungsbewegung die Bauernkriege und anderen revolutionären Aktionen jener Zeit natürlich noch ein sehr niedriges Niveau der Organisiertheit und Bewußtheit kennzeichnet. Hier ist ein historisches Herangehen unbedingt erforderlich; ein Vergleich ist vor allem mit den Aktionen und Vorstellungen der Volksbewegungen früherer Zeiten angebracht, nicht aber mit dem Niveau, das für das 19. und den Beginn des 20. Jh. charakteristisch ist. Die Bauernkriege und auch die anderen Volksbewegungen wirkten unmittelbar auf die innere Entwicklung des Landes, auf die Politik der herrschenden Kreise zurück. Ihr Einfluß wirkt weiter im Heranreifen neuer sozialökonomischer Verhältnisse in Rußland, in der Verschärfung des Klassenantagonismus, in der Entwicklung fortschrittlicher sozialpolitischer Anschauungen - Radiscev, die Dekabristen, die revolutionären Demokraten der sechziger Jahre des 19. Jh. und den revolutionären Narodniki. Nach der Niederlage der Aufstände und Bauernkriege verschärfte sich jedesmal die Feudalordnung, der Staatsapparat wurde verstärkt, die Strafaktionen wurden perfektioniert. Aber das war natürlich nicht das Ergebnis des Klassenkampfes der Volksmassen, sondern die Reaktion der herrschenden Klasse darauf. Diese Maßnahmen kennzeichnen die Angst der herrschenden Klasse vor der Volksbewegung. Diese Angst, der Alptraum einer „Pugacevscina", veranlaßte die Regierung schließlich zur Aufhebung der Leibeigenschaft. Diese Angst verfolgte die russischen Gutsbesitzer und Kapitalisten auch weiterhin bis in das 20. Jh. hinein, bis die Nachkommen der Aufrührer des 17. und 18. Jh. in einer qualitativ neuen Etappe des Freiheitskampfes das zuende führen konnten, was von Bolotnikov und Razin, Bulavin und Pugacev begonnen worden war. Somit gehören die Bauernkriege und Volksbewegungen als Glied in die Kette jener Klassenkämpfe und revolutionären Bewegungen, von denen die gesamte Periode der Existenz des Feudalismus und Kapitalismus in Rußland bestimmt ist. Ihr Einfluß auf die Herausbildung revolutionärer Traditionen in Rußland ist außerordentlich wichtig. In den Thesen des ZK der KPdSU zum 100. Geburtstag Lenins wird deshalb die große Bedeutung des Klassenkampfes der russischen Bauernschaft im feudalen Rußland ausdrücklich hervorgehoben. Hier heißt es: „Der Boden für die Aufnahme und Anwendung des Marxismus in Rußland war vorbereitet durch die sozialökonomische Entwicklung des Landes, durch die Schärfe der Klassenwidersprüche; durch revolutionäre Traditionen, die auf die Bauernaufstände zurückgehen, auf die Tätigkeit A. N. Radiscevs und der Dekabristen, A. I. Herzens, N. G. Cernysevskijs und anderer Demokraten der sechziger Jahre sowie der revolutionären Narodniki der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts."25 25

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Zum 100. Geburtstag W. I. Lenins. Thesen des Zentralkomitees der KPdSU, Berlin 1970, S. 8 f.

Klassenkampf

PETER

HOFFMANN

Voraussetzungen und Anfänge einer revolutionären Ideologie in Rußland

In der Geschichte revolutionären Denkens und revolutionären Kämpfens in Rußland kommt der zweiten Hälfte des 18. Jh. besondere Bedeutung zu. Das ist jene Zeit, in der sich neue Tendenzen, neue Strömungen in der revolutionären Bewegung entwickeln. Die spontanen Protestaktionen der unterdrückten Bevölkerungsschichten hatten in den Bauernkriegen unter feudalen Bedingungen ihren Höhepunkt gefunden. Die in der russischen Geschichte fast zwei Jahrhunderte umfassende Periode der Bauernkriege war mit den von Pugacev geführten Kämpfen endgültig zuende gegangen. Aber die in diesen Kämpfen akkumulierten Erfahrungen und Erkenntnisse lebten weiter in Volksliedern und Überlieferungen über die Führer dieser Bauernkriege, vor allem über Stepan Razin und Emel'jan Pugacev, sie wirkten weiter in der spontanen Bauernbewegung, die in der Mitte des 19. Jh. endlich die Beseitigung der Leibeigenschaft erzwang. Zugleich wurden diese Traditionen und Erfahrungen aber auch von den Adelsrevolutionären, besonders von dem ersten Vertreter dieser Richtung, Aleksandr Radiscev, übernommen, theoretisch verarbeitet und in die neu erarbeiteten revolutionären Zielsetzungen mit einbezogen. Der letzte Bauernkrieg hatte alle russischen Denker zur Stellungnahme gezwungen, ihm gegenüber konnte es keine Neutralität geben. Aber nur wenige Denker waren bereit, die sich aus dem Bauernkrieg ergebenden Schlußfolgerungen konsequent zuende zu denken; sich zu einer Bejahung des revolutionären Kampfes der Bauern durchzuringen, das ist nur Radiscev gelungen. Nach der Niederschlagung des letzten Bauernkrieges wurde das Russische Kaiserreich zu einem Adelsimperium, die Macht der Adelsreaktion erreichte ihr größtes Ausmaß. Aber die Ursachen, die zum Bauernkrieg geführt hatten, konnten damit nicht beseitigt werden; die Leibeigenschaft, das feudale System als solches, geriet in immer tiefere Widersprüche, die gegen Ende des Jahrhunderts dann zur länger als ein halbes Jahrhundert andauernden Krise des Feudalsystems überleiteten. In Rußland basieren die Anfänge der bewußt revolutionären Theorie noch auf einer zweiten Traditionslinie. Ausgehend vom Humanismus der Renaissance hatte sich in Westeuropa, vor allem in Holland, Frankreich und England, die frühe Aufklärung als eine neue, ihrem Wesen nach bürgerlich-antifeudale, wenn auch nicht revolutionäre Ideologie entwickelt. Die Aufklärung griff bald nach Deutschland und seit der petrinischen Zeit verstärkt auch auf Rußland über. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. hatte sie auch in Rußland in wesentlichen Bereichen des geistig-kulturellen Lebens des Landes die alte dogmatische Enge und den Klerikalismus weitgehend aufgelöst. Erst die Vereinigung der antifeudalen Gedanken der Aufklärung mit dem Haß der unterdrückten Bauern gegen Leibeigenschaft und Adelsherrschaft führte zur Herausbildung der ersten eigenständigen revolutionären Ideologie in Rußland, der Ideologie der Adels6«

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P. Hoffmann

revolutionäre. Hier beginnt in Rußland jene Traditionslinie, die über Dekabristen und revolutionäre Demokraten bis zur revolutionären Arbeiterpartei führen sollte. Für die erste Generation dieser Revolutionäre hat Lenin folgende Charakteristik gegeben: „Die Adligen und Gutsbesitzer, die Dekabristen und Herzen. Eng ist der Kreis dieser Revolutionäre. Furchtbar fern stehen sie dem Volk. Aber ihre Sache ist nicht verlorengegangen."1 Die Voraussetzungen und die Herausbildung ihrer Anschauungen ist das Thema des vorliegenden Beitrages. Das 17. und der größte Teil des 18. Jh. bilden in der Geschichte der Klassenkämpfe in Rußland eine eigene Epoche, die von vier großen Bauernkriegen bestimmt wird: 1606/07 unter der Führung Ivan Bolotnikovs, 1667-1671 unter der Führung Stepan Razins, 1707-1709 unter der Führung Kondrat Bulavins und schließlich von 1773 bis 1775 unter der Führung Emel'jan Pugacevs. In Rußland bestand zu dieser Zeit bereits ein zentralisierter Staat, ein Feudalstaat, der in sich noch völlig gefestigt war, die schwachen ersten Ansätze einer kapitalistischen Entwicklung konnten bis zur Mitte des 18. Jh. noch in den Feudalismus integriert und deformiert werden.2 Vor allem die sich ständig verschärfende Ausbeutung der Bauern sowie die Verschärfung der Leibeigenschaft waren der Anlaß zu den Bauernkriegen, die deshalb gegenüber den früheren Bauernkriegen in der europäischen Geschichte doch einige wesentliche Besonderheiten zeigen3, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Im vorliegenden Beitrag, der sich mit der Entwicklung der russischen revolutionären Ideologie beschäftigt, müssen einige Hinweise auf die in dieser Zeit sich in der sozialökonomischen Basis vollziehenden Prozesse genügen. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. bildete sich in Rußland ein Arbeitskräftemarkt heraus, die kapitalistische Entwicklung wurde damit auch hier irreversibel. Aber noch stand die Entwicklung der russischen Bourgeoisie ganz am Anfang. Mit dem allmählichen Entstehen kapitalistisch-bürgerlicher Verhältnisse zumindest in Teilbereichen der Wirtschaft, mit der Entwicklung von Marktbeziehungen, mit dem raschen Anwachsen des Marktes gerade für Agrarerzeugnisse wuchs der Anreiz für die feudalen Grundbesitzer, die Ausbeutung ihrer Bauern zu verschärfen. Die Widersprüche in der Gesellschaft spitzten sich allmählich zu. Das ist der Hintergrund des letzten russischen Bauernkrieges, in dem der Kampf der Bauern gegen Adelsherrschaft und Leibeigenschaft besondere Schärfe erlangte. Hingewiesen sei darauf, daß für jene Zeit antifeudal nicht mit antizaristisch gleichgesetzt werden darf, denn noch bis weit in das 19. Jh. hinein blieb dem Bauern der enge Zusammenhang zwischen feudaler Herrschaft und Zarismus verborgen; er glaubte an den „guten Zaren". Im 18. Jh. war ein solcher Glaube an einen „guten Herrscher" nicht nur auf die Bauernschaft beschränkt; auf einer anderen Grundlage und mit einem anderen Idealbild sahen viele Aufklärer, selbst so radikale wie Voltaire, die einzige Möglichkeit zur Überwindung der Mißstände der Gesellschaft im Wirken des aufgeklärten, guten Herrschers. Erst im Verlauf der bür1 2

3

W. I. Lenin, Dem Gedächtnis Herzens, in: Lenin, Werke, Bd. 18, Berlin 1972, S. 15. Vgl. Genesis und Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, hg. von P. Hoffmann und H. Lemke, Berlin 1973. Vgl. P. Hoffmann, Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in Rußland und die Epoche der russischen Bauernkriege als Forschungsproblem, in: Der deutsche Bauernkrieg 1524/25. Geschichte, Tradition und Lehren, Berlin 1977, S. 225ff.; weiterhin den Beitrag von V. I. Buganov im vorliegenden Band.

Anfänge einer revolutionären Ideologie

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gerlichen Revolution erkannten die besten Vertreter der Aufklärung das Illusionäre dieser Anschauungen. Strittig ist in der sowjetischen Forschung, ob man die aus den Dokumenten der Aufständischen abzulesende antifeudale Haltung bereits als Ideologie bezeichnen kann, da doch diese bäuerlichen Anschauungen spontan entstanden und ohne rationelle Begründung geblieben sind. Trotz vieler Unklarheiten erfassen aber die bäuerlichen Losungen wesentliche Grundfragen einer gesellschaftlichen Umgestaltung 4 , auch wenn natürlich den Bauern eigentlich nur klar war, wogegen sie kämpften, nicht aber was für eine Ordnung sie erstreben sollten. Mavrodin hat die utopischen Vorstellungen der aufständischen Bauern als eine auf der kleinen Warenproduktion aufbauende Gesellschaftsordnung charakterisiert, die in sich nicht lebensfähig ist, aber doch Tendenzen einer kapitalistischen Entwicklung begünstigte. 5 Die bäuerlich-utopischen Vorstellungen von einer besseren und gerechteren Ordnung ohne Adelsherrschaft und Leibeigenschaft klingen in diesen Aufrufen nur an, eindeutig formuliert wurde aber die prinzipielle Ablehnung der bestehenden Feudalordnung, durch die einerseits den Bauern jegliche Rechte genommen, andererseits dem Adel unbeschränkte Gewalt zugesprochen wurde. Das gilt vor allem für den letzten Bauernkrieg. Pugacev versprach den Unterdrückten Freiheit, zugleich aber klagte er die Unterdrücker an, fordert ihre Bestrafung. In dieser Hinsicht ist der Ukas an die leibeigenen Bauern vom 31. Juli 1774 besonders aussagekräftig: „Und mit diesem namentlichen Ukas begnadige ich alle in meinem monarchischen und väterlichen Wohlwollen, die bisher als Bauern in der Untertänigkeit von Gutsherren waren . . . , mit Freiheit und Unabhängigkeit..., mit dem Besitz von Land, Wäldern, Heuschlägen und Fischrevieren . . . ohne Loskauf und Zinszahlung und befreie euch von allen früher von den Bösewichtern von Adligen und städtischen käuflichen Richtern den Bauern und dem ganzen Volk auferlegten Abgaben und Forderungen. . . . Und wer früher Adliger war in seinem Erbgut oder Dienstgut, diese Feinde unserer Macht und Aufrührer des Reiches und Ausplünderer der Bauern sind gefangenzusetzen, hinzurichten und zu hängen, und es ist mit ihnen so zu verfahren, wie sie, die keine christliche Seele in sich haben, es mit euch, mit den Bauern gemacht haben. Nach Vernichtung dieser Feinde und Übeltäter, der Adligen, wird jeder in Ruhe leben, und das wird für immer dauern." 6 In einem erst kürzlich veröffentlichten Aufruf vom 12. Juni 1774 ist diese Aussage noch konsequenter formuliert: „Wir werden sie alle ausrotten, die uns erniedrigten; die in ihrem Reichtum unersättlichen Richter und der Adel werden unserem harten Zorn nicht entgehen . . ."7 Solche Gedanken lebten und wirkten weiter, sie gingen mit der Niederschlagung des Bauernkrieges nicht verloren, auch wenn sie nicht mehr öffentlich ausgesprochen wer4

Vgl. E. I. Indova/A. A. Preobrazenskij/Ju. A. Tichonov, Lozungi i trebovanija ucastnikov krest'janskich vojn v Rossii XVII-XVIII vv., in: Krest'janskie vojny v Rossii XVII-XVIII vekov. Problemy, poiski, resenija, Moskau 1974, S. 267; vgl. auch V. I. Buganov, Ob ideologii ucastnikov krest'janskich vojn v Rossii, in: Voprosy istorii 1974, Heft 1, S. 44 ff. 5 Vgl. V. V. Mavrodin, Po povodu charaktera i istoriceskogo znacenija krest'janskich vojn v Rossii, in: Krest'janskie vojny . . . , S. 43. r> Dokumenty stavki E. I. Pugaceva, povstanceskich vlastej i ucrezdenij 1773-1774 gg., Moskau 1975, Nr. 41, S. 48. 7 Krest'janskaja vojna 1773-1775 gg. v Rossii. Dokumenty iz sobranija Gosudarstvennogo istoriceskogo muzeja, Moskau 1973, S. 97; Dokumenty, Nr. 34, S. 43 f.

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den konnten. Unter diesen Umständen ist es durchaus nicht verwunderlich, daß gerade die beiden bedeutendsten Bauernkriege, der unter der Führung Stepan Razins 1670/71 und der unter der Führung Pugacevs von 1773 bis 1775 den stärksten Widerhall gefunden haben. In der Volksüberlieferung zu diesen Bauernkriegen tritt die antifeudale Tendenz, der Klassenhaß gegenüber den Ausbeutern mit unverhüllter Schärfe in den Vordergrund. Zugleich spiegelt sich aber auch die Beschränktheit und Unreife im Bewußtseinsstand der Bauern wider. Ein positives Programm konnte nicht entwickelt werden, es wurde nicht erkannt, daß grundlegende Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse erforderlich sind.8 Zu beachten ist natürlich, daß gerade die radikale Überlieferung oft einer Aufzeichnung entzogen wurde, sie wurde den Sammlern von Volksliedern und Volksüberlieferungen nicht mitgeteilt, da die Übermittler Unannehmlichkeiten für sich befürchten mußten. So ging es noch V. G. Korolenko, als er im Ural Pugacev-Überlieferungen sammeln wollte.9 Die revolutionäre Volkstradition konnte deshalb nur unvollständig erfaßt werden - und auch das Erfaßte ist nur zu oft von Sammlern und Herausgebern bearbeitet und dabei sicherlich auch in politischer Hinsicht entschärft worden. Und doch war gerade die Volksüberlieferung über Pugacev außerordentlich populär, wie umfangreiche, noch in sowjetischer Zeit aufgezeichnete Legenden und Lieder beweisen. Die Überlieferungen über Razin und über Pugacev zeigen deutliche Unterschiede, die einmal durch den Abstand von 100 Jahren zwischen diesen beiden Bauernkriegen, zum anderen aber auch durch die größere politische Reife des Bauernkrieges unter der Führung Pugacevs bedingt sind. Für die Volksüberlieferung zu beiden Bauernkriegen gilt gemeinsam, daß überwiegend mit Wärme und Symphatie von den Aufständischen berichtet wird. Sie kämpften gegen die Reichen, nahmen ihnen den Besitz, und halfen den Armen. Hier finden sich Anklänge an das international weit verbreitete Folkloremotiv des „guten Räubers". Zu Razin gibt es auch Überlieferungen, daß er sich nur zurückgezogen habe, daß er dann wiederkommen werde, wenn Unrecht und Gesetzlosigkeit beseitigt sind.10 Auch das ist ein in der Folklore international allgemein verbreitetes Motiv. In der Überlieferung über Pugacev tritt der bewußte Kampf gegen die Leibeigenschaft meist stärker in den Vordergrund, Pugacev und seine Anhänger werden als unerbittliche Gegner der Gutsbesitzer und Feudalherren dargestellt. Dabei wird einheitlich in der bäuerlichen Überlieferung betont, daß die Abrechnung der Aufständischen mit den Feudalherren nur die gerechte Vergeltung für begangene Missetaten gewesen ist, der Klassencharakter der Bewegung wird damit unterstrichen. Die antifeudale Aussage erhält in einer Legende über eine angebliche Begegnung des im Kerker sitzenden Pugacev mit der durch ihre Grausamkeit berüchtigten Gutsbesitzerin Saltycicha eine besondere Zuspitzung. Der gefesselte Pugacev schleuderte der Saltycicha die Aufzählung ihrer Untaten mit einem solchen Haß entgegen, daß die grau8

9 10

Vgl. zu den folgenden Darlegungen V. K. Sokolova, Russkie istoriceskie predanija, Moskau 1970, S. 112ff.; zur Razin-Überlieferung außerdem dies., Russkie istoriceskie pesnl XVI-XVIII vv. ( = Trudy instituta Etnografii im. N. N. Miklucho-Maklaja, Novaja Serija LXI), Moskau 1960, S. 156.ff. Vgl. Sokolova, Russk. ist. predanija, S. 112.f. Vgl. Sokolova, Russk. ist. predanija, S. 128.f.; K. V. Cistov, Russkie narodnye social'noutopiceskie legendy, Moskau 1967, S. 78 ff.

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same Gutsbesitzerin in Ohnmacht fällt. 11 Die Gutsbesitzerin Saltykova, genannt Saltycicha, ist eine historische Gestalt: sie erlangte traurigen Ruhm durch ihre Grausamkeit gegenüber ihren Leibeigenen, von denen mehr als 100 an den Folgen von Folterungen starben. 12 Selbst die feudale Justiz sah sich gezwungen, diese Bestie in Menschengestalt zum Tode zu verurteilen, ein Urteil, das Katharina dann in lebenslängliche Klosterhaft umwandelte. In der Legende tritt Pugacev als Stellvertreter der gesamten leibeigenen Bauernschaft auf, die auch noch geschlagen und gefesselt den Herrschenden Angst einflößte. Einen ähnlichen Charakter tragen auch die Lieder über die Begegnung P. I. Panins, des Oberbefehlshabers der gegen die Aufständischen eingesetzten Truppen, mit dem gefangenen Pugacev. In einer Fassung dieses Liedes, das eine historische Begebenheit als Hintergrund hat 13 , heißt es ausdrücklich: Danke Gott, Verbrecher Panin, Daß Du nicht in meine Hände gefallen bist: Ich hätte Dir die Haut vom Leibe abgezogen Bis zum Kopfe . . . 14 In einem anderen Lied wird betont, daß es nach dem Tod Pugacevs niemanden mehr gibt, der für das Volk eintritt: Emel'jan, Du Vater des Volkes! Warum hast Du uns verlassen? Die helle Sonne ist untergegangen Wir sind als arme Waisen zurückgeblieben. Niemand tritt für uns ein. Keiner denkt für uns starke Gedanken . . . 15 Hier kann nicht auf die bisher noch ungenügend analysierten Unterschiede der Überlieferung in verschiedenen Bevölkerungsschichten eingegangen werden. Der Hinweis muß genügen, daß Pugacev in der Überlieferung der leibeigenen Bauern anders als bei den arbeitenden Leuten in den Werken des Ural, und dort wieder anders als bei den Kosaken dargestellt wird. Das unterschiedliche soziale Milieu, in dem die Legenden und Lieder verbreitet waren, bestimmte die soziale und politische Aussage. Damit ist auch zu erklären, daß in diesen Überlieferungen konträre Aussagen tradiert werden konnten. Gerade von der älteren Folkloreforschung wurde das soziale Milieu oft nicht genügend berücksichtigt, es wurden zwar - wenn überhaupt - Ort und Name des Überlieferers aufgezeichnet, nur selten aber dessen soziale Stellung. In fortschrittlichen Kreisen hat die Volksüberlieferung immer großes Interesse ge11

Vgl. Sokolova, Russk. ist. predanija, S. 136. Vgl. Delo Saltycichi, in: Chrestomatija po istorii SSSR, Bd. IX (1682-1856), Moskau 1949, S. 216 f. 13 Vgl. Sledstvie i sud nad E. I. Pugacevym, II. Dokumenty o sledstvii nad E. I. Pugacevym v Simbirske, Publikation von R. V. Okladnikov, in: Voprosy istorii 1966, Heft 5, S. 107. 14 Istoriceskie pesni XVIII veka, hg. von O. B. Alekseeva und L. I. Emel'janov, Leningrad 1971, S. 275 (Nr. 513). 15 Ebenda, S. 276 (Nr. 516).

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funden. Davon zeugen viele Beispiele. Motive der Folklore lassen sich im Schaffen Radiscevs im 18. Jh., im Schaffen der Dekabristen und besonders im Schaffen Puskins in der ersten Hälfte des 19. Jh. sowie im Schaffen vieler anderer fortschrittlicher Schriftsteller sowohl im 18. als auch im 19. Jh. nachweisen.16 Aber hier vereinigen sich bereits die beiden eingangs genannten Traditionslinien: Folklore und Aufklärung. Die Entwicklung der Aufklärung ist recht gut erforscht, das gilt auch für die Aufklärung in Rußland. Eine frühkapitalistisch-bürgerliche Entwicklung war die Grundlage für die Emanzipierung des Denkens von der Vorherrschaft der Religion, die im 17. Jh. mit Francis Bacon und Descartes eine neue Qualität erreichte, was in der Gründung wissenschaftlicher Gesellschaften und Akademien auch äußerlich sichtbar wurde. 17 Bestimmt wird diese neue Weltauffassung von der Überzeugung, daß Verstand und Bildung bei entsprechender Ausbildung stark genug sind, die Welt positiv zu verändern, Aberglauben und Rückständigkeit zu überwinden. Die Aufklärung orientierte in der Zeit des beginnenden Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus optimistisch auf eine Aufwärtsentwicklung der menschlichen Gesellschaft. Als wesentliche Merkmale lassen sich angeben: Erstens der Toleranzgedanke; die Entwicklung von Handel und Gewerbe erfordert ganz allgemein die Überwindung aller hemmenden Schranken, vor allem der konfessionellen. Zweitens der Glaube an die Macht des Verstandes; dieser Rationalismus führt bis zu der Überzeugung, daß Verstand und Bildung allein imstande sind, die unbefriedigenden Verhältnisse zu beseitigen. In diesem Sinne wirkten die Aufklärer für eine Erweiterung und Verbesserung aller Bildungsinstitutionen. Drittens die Durchsetzung des „natürlichen Rechtes" der Menschen; diese Forderung wird mit unterschiedlicher Konsequenz erhoben, sie führte im Verlaufe des 18. Jh. in Rußland folgerichtig zur Ablehnung der Leibeigenschaft.18 In Rußland begann sich ein eigenes Bürgertum erst in der ersten Hälfte des 18. Jh. in Ansätzen zu entwickeln; noch blieben die Bürger in den Städten überwiegend ein Stand der feudalen Gesellschaft. Aus diesem Grunde wurden in Rußland vornehmlich fortschrittliche Adlige zu Trägern der Aufklärung, und damit lassen sich manche Inkonsequenzen der russischen Aufklärung erklären. Es fehlte lange Zeit die radikale Schärfe, die in der französischen Aufklärung bereits in der Mitte des 18. Jh. im Schaffen eines Voltaire oder Mably erkennbar ist. Die Zurückgebliebenheit der russischen Verhältnisse führte aber dann dazu, daß, als die gesellschaftlichen Verhältnisse erst einmal in Frage gestellt waren, sich Denker fanden, die von den sich andeutenden Tendenzen aus konsequent weitergehend über die Aufklärung hinaus bis zu revolutionären Anschauungen vordrangen. Die Aufklärung zeigte in verschiedenen Ländern ent16

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Vgl. zusammenfassend: M. K. Azadovskij, Istorija russkoj fol'kloristiki, Bd. I, Moskau 1958, S. 45 f., S. 187 ff., S. 243 ff.; für das 18. Jh. auch: A. Pozdneev, Das Bauernthema in der Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jh., Bd. II, Berlin 1968, S. 62 ff. Vgl. Ju. Ch. Kopeleivic, Vozniknovenie naucnych akademij. Seredina XVII - seredina XVIII v., Leningrad 1974. Vgl. zur Definition des Begriffs Aufklärung: P. Hoffmann, Aufklärung, Absolutismus, aufgeklärter Absolutismus in Rufjland, in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jh., Bd. IV, Berlin 1970, S. 13 und die in den Anmerkungen angegebene Literatur.

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sprechend der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung spezifische Formen und Wirkungen. Gerade am Beispiel der Aufklärung läßt sich zeigen, wie progressive Gedanken, wenn sie einmal ausgesprochen worden sind, selbst von konservativen Kreisen aufgenommen und ihren Interessen dienstbar gemacht werden können. 19 Obwohl der Grundcharakter der Aufklärung als im wesentlichen antifeudale, bürgerliche Ideologie erhalten blieb, wurde sie in Frankreich zum Wegbereiter der bürgerlichen Revolution - ohne selbst revolutionär zu sein - , während sie in Preußen, Österreich und Rußland zumindest zeitweilig vom absoluten Herrscher zur ideologischen Rechtfertigung seiner Macht ausgenutzt werden konnte. In einem sozialökonomisch so zurückgebliebenen Land wie Rußland barg das Gedankengut der Aufklärung noch keinen sozialen Zündstoff, aber auch hier wirkte es auflockernd, half es, die ideologischen Grundlagen des Feudalismus zu untergraben und dem Neuen den Weg zu bereiten. In diesem Sinne ist das Einwirken der Aufklärung in das russische Geistesleben seit der petrinischen Zeit deutlich zu verfolgen. Zar Peter selbst und viele seiner Mitstreiter, vor allem Prokopovic und dann von der jüngeren Generation Tatiscev und Antioch Kantemir, haben in diesem Sinne gewirkt. In der 1725 eröffneten Petersburger Akademie setzte sich das neue Weltbild voll durch, hier war von Anfang an kein Platz für mystische Spekulation, hier stand die exakt-naturwissenschaftliche Forschung im Vordergrund. So war es nur natürlich, daß gerade die Akademie Kantemirs Übersetzung der Schrift Fontenelles über die Vielheiten der Welten - eine populärwissenschaftliche Darlegung des Kopernikanischen Weltsystems - 1740 herausgab, und bezeichnenderweise wurde diese Schrift 1756 auf Betreiben kirchlicher Kreise verboten. 20 Immerhin zerstörte dieses Werk die von der Kirche vertretene Kosmologie in den Grundlagen. In seinen Satiren, die - nachdem 1749 und 1750 zwei französische Ausgaben sowie 1752 eine deutsche Übersetzung erschienen waren - in Rußland 1762 gedruckt werden konnten, entlarvte Kantemir wesentliche Mißstände im damaligen Rußland, ohne jedoch die gesellschaftlichen Verhältnisse als solche bereits in Frage zu stellen. Mit seinen neun Satiren begründete Kantemir in Rußland eine neue Richtung: die gezielte gesellschaftskritische Satire, die für den Fortschritt kämpft, hier für den Fortschritt im Sinne der petrinischen Reformen, die noch nicht über die Grenzen der Feudalordnung hinausreichten. Seine eigene Zielstellung charakterisierte Kantemir im Vorwort zur zweiten Satire, wenn er dort über seine erste Satire schrieb: „Alles was ich schreibe, schreibe ich in Erfüllung meiner Pflicht als Staatsbürger, indem ich alles anprangere, was meinen Mitbürgern Schaden bringt." 21 In der Schärfe der Aussagen ist bis zur zweiten Hälfte des 18. Jh. in Rußland kein Denker über Kantemir hinausgegangen. Wesentliche Impulse erhielt die russische Aufklärung nach der Thronrevolte im Juni 1762, mit der der unfähige Kaiser Peter III. gestürzt und seine ehrgeizige Gattin 19

Vgl. A. N. Cistozvonov, Ponjatie i kriterii obratimosti i neobratimosti istoriceskogo processa (na materialach genezisa kapitaliszma), in: Voprosy istorii, 1969, Heft 5, S. 80. 20 Vgl. M. I. Radovskij, Antioch Kantemir i Peterburgskaja Akademija nauk, Moskau-Leningrad 1959, S. 66ff.; H. Grasshoff, A. D. Kantemir und Westeuropa, Berlin 1966, S. 81 f.; B. E. Rajkov, Ocerki po istorii geliocentriceskogo mirovozzrenija v Rossii, 2. Auflage, Moskau-Leningrad 1947, S. 214 ff., 263 ff. 21 A. Kantemir, Sobranie stichotvorenij, Leningrad 1956, S. 369; vgl. H. Grasshoff, Parteinahme und gesellschaftlicher Auftrag des Schriftstellers in der russischen Literatur der Aufklärung, in: H. Grasshoff/A. Lauch/U. Lehmann, Humanistische Traditionen der russischen Aufklärung, Berlin 1973, S. 26 f.

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Katharina II. auf den Thron erhoben wurde. Als echte Vertreterin eines aufgeklärten Absolutismus war Katharina bestrebt, ähnlich wie Friedrich II. von Preußen, die westeuropäischen Aufklärer für sich zu gewinnen. Sie führte einen umfangreichen Briefwechsel vor allem mit französischen Aufklärern, u. a. mit Voltaire und Diderot, aber auch mit dem eng mit der französischen Aufklärung verbundenen einflußreichen Melchior Grimm. Zugleich waren einzelne Maßnahmen, so die Säkularisierung des Kirchenbesitzes, geeignet, Illusionen über die wahre Lage in Rußland zu unterstützen. Aber auch im Lande selbst gingen von Katharina wesentliche Anregungen aus, die dazu beitrugen, im Sinne der Aufklärung auflockernd zu wirken, den Kreis der öffentlich diskutierten sozialen und politischen Themen wesentlich zu erweitern. Eine solche Wirkung hatten etwa der von Katharina überwiegend aus Schriften Montesquieus, Beccarias, Justis und anderer Aufklärer zusammengestellte Nakaz für die Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Gesetzbuches.22 Die Wahl der Delegierten für diese Kommission und die Verpflichtung an die Wähler, ihren Deputierten ausführliche Richtlinien (Nakaze) für die Kommissionsberatungen mitzugeben, ließ vielfältige Diskussionen aufkommen, auch wenn die Masse der Bevölkerung, die leibeigenen Bauern, dabei von vornherein ausgeschlossen blieben. Bei den Sitzungen der Kommission 1767 und 1768 kam es zu heftigen Diskussionen, die durchaus nicht nur hinter verschlossenen Türen geführt wurden, obwohl Katharina Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte, die den Spielraum dieser Kommission eingrenzen sollten. Bei den Beratungen zu den „Gesetzen über die Justiz" stellte am 29. April 1768 der Deputierte I. V. Suchprudskij, ein Beamter, der mit den Bauern durchaus nicht sympathisierte, offensichtlich gar nicht ahnend, was er damit aufwirbelte, jene Frage, die dann nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden sollte: „Es ist sofort zu erörtern und die Wahrheit zu ermitteln darüber, aus welchen Gründen es bei uns so viele Flüchtige gibt: sind diese Flüchtigen von sich aus unruhig, aufbrausend, eigenwillig und mit anderen Gebrechen behaftet, weshalb sie jeden Befehl über sich ablehnen, oft aus Schuld und verdienter Strafe zu fliehen wagen. Oder gibt es in ihrem Unterhalt Unerträgliches, Mangel an notwendiger Nahrung, Not, oder andere Beschwernisse, unnötige Schikanen und hohe Abgaben, Forderung täglicher übermäßiger Arbeiten, häufige unverdiente Prügel, ungewöhnliche Strenge und andere Grausamkeiten, die ihre Unerträglichkeit wegen die Leute zur Flucht veranlassen?" 23 Das war der Kern des Problems. Einer der Interessenvertreter der Bauern, der selbst zum Adel gehörende G. S. Korob'in, erklärte dazu: „Die Ursache für die Flucht der Bauern ist überwiegend der Gutsbesitzer, der sie durch seine Maßnahmen so sehr bedrückt". Folglich sollte die Versammlung sich nicht damit befassen, Maßnahmen zur Suche der Flüchtigen zu beschließen, sondern sie sollte die Rechte der Gutsherren gegenüber dem Besitz und der Persönlichkeit der Bauern beschränken. 24 Das war eine klare Verurteilung der Leibeigenschaft. Ähnliche Anschauungen vertraten auch andere Deputierte. Ja. P. Kozel'skij forderte, die Arbeit der Bauern für den Gutsherrn 22

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Vgl. E. Donnert, Zur Gesellschaftspolitik und Staatsräson des aufgeklärten Absolutismus in Rußland unter Katharina II., in: Jb. f. Gesch. d. sozialistischen Länder Europas, Bd. 18/2, Berlin 1970, S. 157ff.; ders.. Politische Ideologie der russischen Gesellschaft zu Beginn der Regierungszeit Katharinas II., Berlin 1976, S. 31 ff. Vgl. M. T. Beljavskij, Krest'janskij vopros v Rossii nakanune vosstanija E. I. Pugaceva (Formirovanie antikrepostniceskoj mysli), Moskau 1965, S. 205 f. Ebenda, S. 209.

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auf zwei Tage in der Woche zu beschränken, wobei auch bei Obrokzahlung ein entsprechender Wert eingehalten werden sollte.25 Solche Feststellungen und Forderungen stiegen auf den heftigen Widerspruch der Interessenvertreter des Feudaladels und veranlagten den Abbruch der Beratungen über diese Thematik. 26 Nur wenige Monate später, am 18. Dezember 1768 gab der Krieg mit der Türkei den Vorwand, die Kommissionsarbeit überhaupt einzustellen. Zur gleichen Zeit, da in der Kommission über die Bauernfrage diskutiert wurde, war diese Thematik auch in breiteren Kreisen Gegenstand von Erörterungen geworden. Die auf unmittelbare Anregung Katharinas II. 1765 gegründete Freie Ökonomische Gesellschaft in Petersburg enfaltete eine breite Tätigkeit. 27 Für uns ist die auf direkte, wenn auch anonyme Anweisung Katharinas 1766 gestellte Preisfrage bedeutungsvoll: »Ob es dem gemeinen Wesen vorteilhafter und nützlicher sei, dag der Bauer Land oder nur bewegliche Güter als Eigentum besitze? Und wie weit sich das Recht desselben auf Eigentum erstrecken sollte, dag es am nützlichsten für das gemeine Wesen sei?"28 Mit dieser Fragestellung wurde letztlich die Leibeigenschaft überhaupt zur Diskussion gestellt. Diese Preisfrage fand ein augerordentlich breites internationales Echo, 162 Arbeiten gingen ein, davon 129 in deutscher Sprache, 21 in Französisch, 7 in Russisch, 3 in Lateinisch und je eine in Holländisch und in Schwedisch. Zu den ausgezeichneten Arbeiten gehörte die von Polenov in russischer Sprache eingereichte Schrift mit dem Titel „Über den leibeigenschaftlichen Zustand der Bauern in Rugland", die aber selbst nach Überarbeitung wegen ihrer scharf antifeudalen Tendenz nicht veröffentlicht wurde, obwohl die Ausschreibung zur Preisfrage ausdrücklich die Publizierung der prämiierten Arbeiten vorsah. Erst 1865 wurde sie der Öffentlichkeit zugänglich. 29 Mit der scharfen Ablehnung der Leibeigenschaft stand Polenov nicht allein, eine ganze Reihe anderer Arbeiten enthielten eine ähnlich scharfe Absage an die Leibeigenschaft - und bezeichnenderweise gehören dazu auch zwei weitere in russischer Sprache eingereichte Arbeiten. 30 Die Preisfrage der Petersburger Freien Ökonomischen Gesellschaft trug jedenfalls ganz wesentlich dazu bei, die Diskussion um die Bauernfrage in breitere Kreise hineinzutragen. So schlug - um hier einige weitere Beispiele anzuführen - I. A. Tret'jakov, Professor der Moskauer Universität, für einen Festvortrag der Universität im Sommer 1768 das Thema vor: „Ergibt sich der grögte Nutzen im Staat von Sklaven oder von Menschen freien Standes und über die Beseitigung der Skla25

Ebenda, S. 211 f. -« Vgl. ebenda, S. 238. 27 Vgl. allgemein: V. V. Oreskin, Vol'noe ekonomiceskoe obscestvo v Rossii 1765-1917, Moskau 1963, S. 4 ff., 58 ff.; E. Donnert, Zum Wirken der Petersburger Freien ökonomischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jh., in: Jb. f. Geschichte der soz. Länder Europas, Bd. 17/1, Berlin 1973, S. 161 ff.; ders., Pol. Ideologie, S. 133 ff. 23 Hier zitiert nach: Leipziger Zeitung, 7. Juni 1768; eine stilistisch abweichende Formulierung zitiert E. Donnert, Aleksej Ja. Polenov und die russischen Preisschriften der Petersburger Freien ökonomischen Gesellschaft der Jahre 1766-1768, in: Jb. f. Geschichte der soz. Länder Europas, Bd. 17/2, Berlin 1973, S. 195; ders., Pol. Ideologie, S. 159, 181 ff.; vgl. weiterhin: M. T. Beljavskij, Krest'janskij vopros . . . , S. 281 ff. 20 Veröffentlicht in: Izbrannye proizvedenija russkich myslitelej vtoroj poloviny XVIII veka, o. O. (Gospolitizdat) 1952, Bd. II, S. 7 ff., vgl. Kommentar S. 549 ff.; weiterhin E. Donnert, Aleksej Ja. Polenov . . . , a. a. O., S. 198. 30 Vgl. E. Donnert, Aleksej Ja. Polenov . . . , a. a. O., S. 202.

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verei". Daß dieser Vorschlag bei der in seinem Kollegenkreis bekannten gegenüber den in Rußland bestehenden Verhältnissen weitgehend ablehnenden Einstellung Tret'jakovs keine Zustimmung fand, ist nicht verwunderlich. Zur gleichen Zeit veröffentlichte J a . P. Kozel'skij, der Bruder des Deputierten, seine „Philosophischen Sätze", in denen er eine republikanische Staatsordnung als Grundlage menschlicher Verhältnisse darlegte, die die Unterdrückung anderer Menschen ausschließt, während die Abhängigkeit eines Menschen von einem anderen „zum Laster" führe. 31 Katharina hatte zwar nichts gegen die Diskussion allgemein, aber diese sich immer deutlicher abzeichnenden Tendenzen veranlagten sie doch zum Eingreifen und dazu, ihre Anschauungen ausführlich breiteren Kreisen darzulegen. Geeignet erschien ihr das Gebiet der Literatur und Publizistik. Die bloße Förderung der Literatur „in tyrannos", von der sich Katharina nicht getroffen fühlte, da sie großen Wert darauf legte, daß ihre Selbstherrschaft von einer Tyrannei unterschieden werde, hatte nicht das gewünschte Ergebnis gezeigt. Größere Möglichkeiten schien die Publizistik zu bieten: Unter ihrer unmittelbaren Ägide und Beteiligung erschien seit Januar 1769 eine satirische Wochenschrift mit dem Titel „Vsjakaja vsjacina". Katharinas Ziel war es dabei, die sozialen Gebrechen des feudalen Rußlands als allgemeinmenschliche „Schwäche" zu bagatellisieren, der Kritik damit die gesellschaftliche Schärfe zu nehmen. 3 2 Diese Zielstellung wurde aber von ihren Gegenspielern schnell durchschaut und entlarvt. Die Aufforderung, daß die „Vsjakaja vsjacina" nicht isoliert bleiben möge, fiel auf fruchtbaren Boden - noch im gleichen Jahr erschienen sieben weitere Zeitschriften, von denen verschiedene den Titel der kaiserlichen Zeitschrift variierten, so nannte M. D. Öulkov seine Wochenschrift „I to se", V. G- Ruban und S. Basilov die ihrige „Ni to i ni se v proze i stichach"; andere Herausgeber suchten dagegen bewußt nach neuen Wegen, so Novikov mit dem Titel „Truten'", der offensichtlich als Kontrast zum Titel von Sumarokovs 1759 herausgegebenen allgemein-literarischen Monatsschrift „Trudoljubivaja pcela" gewählt wurde. Der Begriff satirisch darf hier natürlich nicht wörtlich im heutigen Sinne verstanden werden. Es waren im allgemeinen unterhaltende Beiträge, meist ohne höhere literarische Ansprüche, die diese Zeitschriften füllten. Nur wenige Zeitschriften erhoben sich über dieses Niveau, das gilt besonders von Novikovs „Truten'", dann aber auch für die Wochenschrift „Smes" - ihr Herausgeber ließ sich bis heute nicht ermitteln - und für die von Emin herausgegebene Monatsschrift „Adskaja poeta". 33 In diesen Zeitschriften finden sich echt satirische Beiträge, die teilweise so klar auf einzelne Personen, auf bestimmte Vorgänge zugespitzt sind, daß die Zusammenhänge für die Zeitgenossen sofort erkennbar waren. In vielen Fällen hat die Forschung diese Zusammenhänge wieder aufhellen können. Das war doch etwas ganz anderes, als die von Katharina gewünschte allgemeine, unverbindliche „Satire". Die klare Zuspitzung verschaffte vor allem Novikovs „Truten'" große Verbreitung; die Auflage stieg von anfangs 626 Exemplaren bald bis auf 1240 Exemplare an 3 4 , während in der gleichen 31

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Vgl. M. T. Beljavskij, Krest'janskij vopros . . . , S. 2 5 3 ; die Schriften von Tret'jakov und Kozel'skij, in: Izbr. proizv. russk. mysl., Bd. I, S. 335ff., S. 411 ff., die zitierten Gedanken Satz 386 und 415, S. 528 und 534. Vgl. B. N. Aseev, Russkij dramaticeskij teatr XVII-XVIII vekov, Moskau 1958, S. 164. Vgl. P. N. Berkov, Istorija russkoj zurnalistiki XVIII veka, Moskau-Leningrad 1952, S. 166 ff., A. V. Zapadov, Russkaja zurnalistika XVIII veka, Moskau 1964, S. 77. Vgl. Svodnyj katalog russkoj knigi XVIII veka, Bd. IV, Moskau 1966, S. 201 (Nr. 251).

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Zeit die Auflage der kaiserlichen Zeitschrift von anfangs 1500 Exemplaren bis auf 500 absank. 35 Was war die Ursache dieser unterschiedlichen Entwicklung? Die kaiserliche „Vsjakaja vsjacina" druckte durchaus nicht, wie im Titel versprochen wurde. Alles und Jedes, sondern nur das, was der Kaiserin gefiel und nur in der Form, wie es die Kaiserin wollte. Und Novikov wie auch Herausgeber und Autoren anderer satirischer Zeitungen polemisierten erfolgreich gegen diese Art der Darlegung wichtiger politischer Fragen - und das konnten sie um so leichter, da ja die „Vsjakaja vsjacina" nicht offiziell als kaiserliche Zeitschrift proklamiert war. So finden wir beispielsweise im „Truten'" vom 16. Juni 1769 folgende Ausführungen: „Frau Vsjakaja vsjacina ist auf uns böse und nennt unsere moralische Belehrungen Beschimpfungen. Aber jetzt sehe ich, daß sie weniger schuldig ist, als ich dachte. Ihre ganze Schuld besteht darin, dag sie sich in russischer Sprache nicht auszudrücken versteht und russisch Geschriebenes nicht begreifen kann, aber diese Schuld ist vielen unseren Schriftsteller eigen."36 Hier wird mit Unschuldsmiene, als wisse man nicht, wer hinter der „Vsjakaja vsjacina" steht, der Kaiserin eine ungenügende Kenntnis der russischen Sprache vorgeworfen. Und wie hier, so war in einer ganzen Reihe anderer Fragen die Kaiserin letztlich die Unterlegene. 1769 wurde in der „Vsjakaja vsjacina" ein Beitrag zur Bauernfrage veröffentlicht - ein Reisender hört Schreie und erfährt, daß der Gutsherr „gnädiger Weise seine Untertanen bestraft" und auf weitere Fragen wird ihm geantwortet, daß solche Bestrafungen „außer an Feiertagen und zu Familienfesten der Herrschaft fast täglich" stattfinden. Und dann wird in der „Vsjakaja vsjacina" das Fazit gezogen: „Aber wer wagt es, für die Leute einzutreten? Obwohl das Herz Mitleid mit ihren Qualen empfindet. Oh allgütiger Gott . . . sähe Menschenliebe in die Herzen deiner Menschen!" 37 Gerade dieser Beitrag zeigt deutlich, wie Katharina die Bauernfrage behandelt sehen wollte: als ein Problem der „Menschenliebe", nicht aber als ein gesellschaftliches Problem. Nicht das System der Leibeigenschaft, sondern der zufällige Charakter des jeweiligen Herrn sei an der Lage der Bauern schuld, also seien nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern, sondern die Menschen - das war die nicht mehr ausgesprochene Schlußfolgerung. Novikov griff im „Truten'" dieses Thema auf - aber in ganz anderer Weise: Ein verarmter Bauer wendet sich mit einer Bittschrift an den Herrn - er kann wegen Viehseuche und Mißernte die Abgaben nicht zahlen und bittet den Herrn, den er „Vater" nennt, um Unterstützung. Der Gutsherr läßt den Bauern auspeitschen, weil er ihn nicht mit „Herr", sondern mit „Vater" angeredet habe. Der Bauer erklärt dazu: „Das habe ich aus Dummheit gesagt, und weiterhin werde ich Dich, Herr, nicht mehr Vater nennen".38 Die Sentenz, die nicht ausgesprochen werden konnte, ist eindeutig: nicht die menschlichen Beziehungen, sondern die gesellschaftliche Stellung bestimmen das Verhältnis des Bauern zum „Herrn", es ist „Dummheit", vom Herrn „Menschenliebe" zu erwarten. Eine solche satirische Gegenüberstellung wurde von den Zeitgenossen verstanden, sie entlarvte die Verlogenheit der offiziellen Darlegungen. 35 38

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Vgl. ebenda, S. 124 (Nr. 139). Truten' Nr. VIII, vgl. N. I. Novikov i ego sovremenniki, Izbrannye socinenija, Moskau 1961, S. 24. Der Beitrag in der Vsjakaja vsjacina Nr. 66, auf den Novikov antwortet, ist erneut veröffentlicht, in: Russkie satiriceskie zurnaly XVIII veka, Moskau 1940, S. 49 f. Vgl. A. Zapadov, Novikov, Moskau 1968, S. 73. Truten' Nr. XXVI (20. Okt. 1769); Novikov i ego sovremenniki, S. 53 ff.

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Auch für den heutigen Leser ist die Art und Weise beeindruckend, mit der Novikov die kaiserliche „Vsjakaja vsjacina" parodierte: oft werden längere Ausführungen fast wörtlich übernommen, nur die Veränderung eines Adjektivs oder eines Verbs gibt den Darlegungen einen völlig konträren Sinn.39 Novikov gehörte zu den besten Vertretern der russischen Aufklärung. Er verstand es, die brennenden Fragen seiner Zeit in der damals möglichen Weise zu stellen; eine Antwort zu suchen, sah er nicht mehr als seine Aufgabe an. Um einem Verbot zu entgehen, das Novikov die weitere Tätigkeit als Verleger erschwert hätte, stellte er seine Zeitschrift nach der 17. Nummer der zweiten Jahrgangs (1769 waren insgesamt 36 Hefte erschienen) selbst ein. Auch die »Vsjakaja vsjacina" brachte es nur auf insgesamt 70 Hefte. In den Jahren 1771 und 1772 suchte Katharina ihre politischen Anschauungen in 5 Komödien zu propagieren, die ihr zugeschrieben werden, obwohl offensichtlich die wesentliche Arbeit von ihrem Kabinettsminister I. P. Elagin geleistet wurde. Drei dieser Komödien sind nur in der Handschrift Elagins überliefert, die anderen enthalten umfangreiche Korrekturen von der Hand Elagins. Aber die Frage der Autorschaft ist letztlich zweitrangig. Wichtig ist, daß hier mit den Mitteln des Theaters politische Aufgaben gelöst werden sollten.40 Katharinas Absicht war es dabei auch, wie sie selbst äußerte, dem russischen Theater, das sich vor allem durch das Wirken solcher Schauspieler wie F. G. Volkov seit den fünfziger Jahren des 18. Jh. rasch entwickelt hatte, zu einem weiteren Aufschwung zu verhelfen. Mit solchen Stücken zu typisch russischen Sujets wie die Dramen Sumarokovs oder die Komödien Fonvizins waren Grundlagen für ein entsprechendes Repertoire gegeben. Während Sumarokov sich Stoffe aus der russischen Geschichte als Vorlage für seine Tragödien nahm, schilderte Fonvizin in seinen Komödien in satirischer Zuspitzung das Leben des russischen Adels in der Gegenwart Das gilt für die bereits 1759 entstandene Komödie „Brigadir", aber in weit größerem Maße für die Ende der siebziger Jahre verfaßte Komödie „Der Landjunker" 41 . Gegenüber solchen Bühnenwerken konnten die oberflächlichen und literarisch unbedeutenden offiziellen Komödien nicht bestehen. Katharinas Grundgedanke, daß eine vernünftige Regierung sich von sich aus um das Wohl des Vaterlandes kümmere, daß irgendwelche Reformprojekte die Regierung nur ablenke und hemme, war von vornherein irreal. In der Auseinandersetzung mit diesen von Katharina propagierten Gedanken findet Novikov in seiner neuen Zeitschrift „Zivopisec" (1772/73) Worte, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen: Er kommentiert die von Katharina und ihren Anhängern gezeichnete Idylle mit dem Satz: „Armer Autor, du betrügst andere und dich selbst!"42 Der für unsere Thematik bedeutungsvollste Beitrag in dieser Zeitschrift Novikovs ist der in zwei Teilen veröffentlichte „Auszug aus einer Reisebeschreibung nach *** I*** T***"43, eine in dieser Schärfe in der russischen Literatur bisher unbekannte Anklage gegen die Leibeigenschaft. Der Autor dieses Beitrages ist bis heute nicht ermittelt, obwohl es verschiedene Hypothesen gibt. 44 GeM Vgl. Berkov, a. a. O., S. 176 f. Vgl. V. N. Vsevolodskij-Gerngross, Russkij teatr vtoroj poloviny XVIII veka, Moskau 1960, S. 137 f. 41 Vgl. G. P. Makogonenko, Denis Fonvizin. Tvorceskij put', Moskau-Leningrad 1961. 42 2ivopisec, Nr. 2; vgl. N. I. Novikov i ego sovremenniki, S. 93. 43 Zivopisec, Nr. 5 und 14; N. I. Novikov i ego sovremenniki, S. 100 ff. und 113 f. 44 Vgl. T. Witkowski, Der Otryvok putesestvija v*** I*** T*** und das Problem seiner Attribuierung, in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur, Bd. III, S. 470ff. (W. hält 40

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schildert wird ein typisches russisches Dorf, das den sprechenden Namen „Razorennaja" - „das verheerte Dorf" - trägt. Die unerträglichen Lasten, die Armut, die Sklaverei, die hier herrschen, werden als Selbstverständlichkeit geschildert. Die versprochene Fortsetzung, ein Bericht über das Dorf „Blagopolucnaja" - „das wohlhabende Dorf" - ist nie erschienen. Solch ein Dorf konnte es im feudalen Rußland nicht geben. Und noch fast ein Dreiviertel Jahrhundert später sollte Gogol' an der sich selbst gestellten Aufgabe scheitern, zu den im Roman „Die toten Seelen" geschilderten heruntergewirtschafteten und verarmten Dörfern der Gutsbesitzer eine positive Variante zu zeigen. Letztlich erwiesen sich Katharinas Versuche, Literatur, Satire, Theater zur Festigung und Rechtfertigung ihrer Herrschaft einzusetzen, als erfolglos, weil keine echten Lösungswege für die heranreifenden gesellschaftlichen Probleme gezeigt werden konnten. Der Bauernkrieg unter der Führung Pugacevs bildet eine deutliche Zäsur: nach der Niederschlagung des Bauernkrieges stützte sich Katharina ausschließlich auf den Adel, sie verzichtete darauf, im Sinne der Aufklärung ihre Herrschaft zu rechtfertigen - an die Stelle der Diskussion trat das Machtwort, und nicht nur das Wort, wie wenige Jahre später viele Vertreter des fortschrittlichen Rußlands erkennen mußten. Aber all das hinderte Katharina nicht daran, ihren Briefwechsel mit westeuropäischen Aufklärern weiterzuführen. Offensichtlich hat Katharina in den ersten Jahren ihrer Regierung nach Möglichkeiten gesucht, die anstehenden sozialen und politischen Fragen zumindest zu entschärfen; wie weit diese Suche ehrlich war, läßt sich kaum entscheiden, ist letztlich auch belanglos. Aus dieser Situation heraus trägt ihre Innenpolitik in dieser Zeit einen Januskopf: Einerseits wirkte sie mit ihren Initiativen im Sinne der Aufklärung auf die Entwicklung des geistig-kulturellen und politischen Lebens außerordentlich anregend, andererseits waren ihre Regierungsmaßnahmen von vornherein eindeutig im Interesse der Erhaltung und Festigung der bestehenden feudalen Verhältnisse, also ausgesprochen konservativ, teilweise reaktionär. Auch ihre Regierung beweist: Aufklärung und Absolutismus lassen sich auf die Dauer nicht verbinden. Und vor die Wahl gestellt, zögerte Katharina nicht einen Augenblick, auch nicht in der oft als liberal bezeichneten ersten Phase ihrer Regierungszeit. Das läßt sich an der Bauerngesetzgebung leicht illustrieren: Schon in einem ihrer ersten Ukase erklärte Katharina ganz eindeutig, daß sie nicht gewillt sei, an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen irgendwie zu rütteln. Am 3. Juli 1762 ließ sie verkünden: „Wir haben die Absicht, die Gutsbesitzer in ihren Besitzungen unangetastet zu bewahren und die Bauern im nötigen Gehorsam ihnen gegenüber zu halten . . ."45 Katharina folgte in dieser Frage bewußt den bestehenden Traditionen. Hatte Elisabeth am 13. Dezember 1760 den Gutsbesitzern das Recht gegeben, Bauern zur Ansiedlung nach Sibirien zu verbannen, 64 so verschärfte Katharina diese Bestimmung am 17. Januar 1765 dahingehend, daß die Gutsbesitzer ihnen unliebsame Bauern die Autorschaft für umstritten, eindeutig für Novikov als Autor äufjert sich neuerdings auch Zapadov, Novikov, a. a. O., S. 86, Anm.). 45 Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii, Serie 1, Petersburg 1830 (weiterhin: PSZ); Bd. XVI, Nr. 11593, S. 11. ® PSZ, Bd. XV, Nr. 11166, S. 582-584 (vgl. Chrestomatija po istorii SSSR, XVIII vek, Moskau 1963, S. 281 ff.).

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ins Zuchthaus (Katorga) schicken konnten; und wenn der Gutsherr es wollte, war ein solcher Bauer wieder zu entlassen.47 Zur gleichen Zeit wurden die Rechte der Bauern immer stärker eingeschränkt. Wenn gegen bäuerliche Unruhen Militär eingesetzt werden mußte - das erfolgte auch nur auf Anforderung des Gutsherrn dann hatten die Bauern die entstehenden Kosten zu tragen. Das besagte ein Gesetz vom 11. Juli 1763.48 Und am 22. August 1767 folgte das grundsätzliche Verbot für alle Bauern, sich bei der Kaiserin direkt zu beschweren. Die Berechtigung einer solchen Beschwerde wurde nicht überprüft, für das Überreichen von Bittschriften an die Kaiserin wurden schwere Strafen angedroht: für die erste Beschwerde sollen die Beschwerdeführer für einen Monat, bei Wiederholung für ein Jahr ins Zuchthaus wandern, eine dritte Beschwerde wurde mit lebenslänglicher Zwangsarbeit in den Bergwerken in Nercinsk bestraft, wobei Leibeigene dem Gutsbesitzer als Rekrut anzurechnen waren. 49 Damit sind nur einige wenige, besonders charakteristische Gesetze herausgegriffen. Die Durchsicht der dicken Bände der „Vollständigen Sammlung der Gesetze des russischen Reiches" für die Jahre 1762 bis 1772 ergibt eine überreiche Fülle von Materialien zur Bauerngesetzgebung. Es verging kaum ein Monat, in dem sich nicht in irgendeiner Weise der Gesetzgeber veranlaßt sah, zur Bauernfrage Stellung zu nehmen - sei es wegen Beschwerden der Bauern oder Unruhen, sei es wegen Übergriffen der Gutsherren und der Verwaltung, Mißernten oder aus anderen Gründen. Dabei wurde den Bauern immer schärfste Strafe angedroht, während Gutsherren und Verwaltungsinstanzen die Empfehlung erhielten, durch strenge Gerechtigkeit und Milde bäuerlichen Unruhen vorzubeugen. 50 Der Widerspruch zwischen der offiziellen Propaganda, dieser moderne Begriff erscheint hier durchaus am Platze, und der Wirklichkeit des russischen Dorfes ließ die Bauernfrage immer mehr zur Kernfrage der Erneuerung der russischen Gesellschaft werden. Diese Tatsache wurde einsichtigen Vertretern schon damals durchaus bewußt, aber viele scheuten sich vor den notwendigen Schlußfolgerungen. Nur auf der Grundlage des hier angedeuteten Gegensatzes - Ideologie der Aufklärung und russische Wirklichkeit - läßt sich der Entwicklungsweg und die Weltanschauung Aleksandr Radiscevs erfassen. Aleksandr Nikolaevic Radiscev wurde am 29. August 1749 (a. St.) geboren. Sein Vater war Gutsbesitzer; auf Besitzungen im Wolgagebiet, aber auch in der Nähe Moskaus, besaß er 1762 rund 1000 Leibeigene. Da der Besitz noch weitgehend naturalwirtschaftlich organisiert war, brachte er nur geringe Geldeinnahmen. Andererseits gehörte die Familie Radiscev offensichtlich zu den Ausnahmen unter den Gutsbesitzern, denn während des Bauernkrieges wurden die Familienangehörigen von den eigenen Bauern vor den Aufständischen versteckt. Nach der Kindheit, die er wahrscheinlich im Wolgagebiet, in Verchnee Abljasovo, verbracht hatte, gelangte Aleksandr 1756 nach Moskau in das Haus A. M. Argamakovs, eines Verwandten seiner Mutter 51 , der als Direktor der neugegründeten Mos47 48 49

50

51

PSZ, Bd. XVII, Nr. 12311, S. 10 (vgl. Chrestomatija po ist. SSSR, XVIII vek, S. 284). PSZ, Bd. XVI, Nr. 11875, S. 310 (vgl. Chrestomatija po ist. SSSR, XVIII vek, S. 283 f.). PSZ, Bd. XVIII, Nr. 12966, S. 335 f. (vgl. Chrestomatija po ist. SSSR, XVIII vek, S. 284 ff., dort ohne Titel veröffentlicht). Für die Jahre 1762 bis 1774 werden die Gesetze - wenn auch trotz des Titels nicht vollständig - erfafjt von den Bänden 16-19 der PSZ. Vgl. G. Storm, Potaennyj Radiscev. Vtoraja zizn' „Putesestvija iz Peterburga v Moskvu", Moskau3 1974, S. 84. Obersichtlich habe ich die Verwandschaftsverhältnisse in Tabellen

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kauer Universität vorstand. Hier erhielt er zusammen mit den Kindern seines Pflegevaters Hausunterricht von Lehrern und Professoren der der Universität angeschlossenen Gymnasien. 1762 wurde er in das Pagenkorps aufgenommen und lebte seitdem in Petersburg am Hofe Katharinas II. In Vorbereitung der Arbeit der Kommission zur Ausarbeitung des neuen Gesetzbuches sandte Katharina 1767 verschiedene von ihr ausgewählte junge Adlige zum Studium vor allem der Rechtswissenschaften an die Leipziger Universität. Unter den Ausgewählten befand sich auch der junge Radiscev, der von 1768 bis 1772 in Leipzig Vorlesungen bei Geliert, Hommel, Platner und anderen Professoren hörte. Einen weit stärkeren Eindruck als die Vorlesungen hinterließ aber bei Radiscev das Studium besonders der französischen Aufklärungsliteratur, vor allem der Schriften von Helvetius, Rousseau und Mably. 52 Hier in Leipzig formte sich offensichtlich endgültig die Weltanschauung Radiscevs, denn nach der Rückkehr vertritt er bereits eindeutig Anschauungen der radikalen Aufklärung. Über die Erlebnisse, die in Leipzig zu seiner weltanschaulichen Formung beitrugen, hat er später in der autobiographischen Erzählung „Das Leben des Fedor Vasil'evic Usakov" selbst berichtet. 53 Aber in diese, in den achtziger Jahren verfaßte Schrift sind offensichtlich auch spätere Erkenntnisse eingeflossen. Im Dezember 1771 nahm Radiscev eine Tätigkeit im Senat auf 54 , auf eigenen Wunsch wechselte er im Mai 1773 in den Militärdienst, er wurde Ober-Auditor, eine Stellung, die etwa dem heutigen Gerichtsoffizier in einer Division entspricht. In dieser Zeit übersetzte er für Novikov, dem Initiator und Leiter der in diesem Jahr gegründeten „für die Übersetzung ausländischer Bücher in die russische Sprache sich bemühenden Versammlung", von Mably das Buch: „Observations sur l'histoire de la Grèce". Diese Übersetzung ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert, zeigt sie doch bereits ganz klar die Weltanschauung Radiscevs. Das Wort „despotism" übersetzt er mit „samoderzavstvo" und erläutert diesen Begriff in einer bisher nicht in deutscher Sprache vorliegenden Übersetzungsanmerkung: „Die Selbstherrschaft ist der der menschlichen Natur am stärksten widersprechende Zustand. Wir können über uns nicht jemandem unbeschränkte Gewalt geben; und auch das Gesetz, Ausdruck des allgemeinen Willens, hat kein anderes Recht der Bestrafung von Verbrechern, als das Recht der eigenen Erhaltung. Wenn wir unter der Macht der Gesetze leben, dann das nicht deswegen, weil wir das unveränderlich tun müssen, sondern

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53 M

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als Beilage zu meiner Rezension zur ersten Auflage 1965 dargelegt (vgl. Zeitschrift f. Slawistik XI, 1966, Heft 3, S. 446). Mein Anliegen hat Storm offensichtlich nicht begriffen, wie die Anmerkung in der zweiten und dritten Auflage seines Buches beweist 1968, S. 188; 1974, S. 164). Vollständigkeit konnte nicht meine Absicht sein. Storm hat auch in seinen späteren Auflagen keine genealogische Übersicht beigefügt. Immerhin enthält die dritte Auflage erstmals ein Namensregister. Vgl. zum Leipziger Aufenhalt Radiscevs neuerdings : A. G. Tatarincev, A. N. Radiscev v Lejpcige. K 225-letiju so dnja rozdenija, in: Zeitschrift für Slawistik XIX, 1974, Heft 5, S. 629 ff. sowie die Beiträge von E. Hexelschneider und S. Hillert im Band : A. N. Radiscev und Deutschland. Beiträge zur russischen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts ( = Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil. hist. Klasse, Bd. 114, Heft 1), Berlin 1969 sowie die dort angegebene weitere Literatur. Vgl. A. N. Radistschew, Ausgewählte Schriften, Berlin 1959, S. 31 ff. Vgl. zur Biographie Radiscevs: G. P. Makogonenko, Radiscev i ego vremja, Moskau 1956; L. B. Svetlov, Aleksandr Nikolaevic Radiscev. Kritiko-biograficeskij ocerk, Moskau 1958; A. Starcev, Radiscev v gody „Putesestvija", Moskau 1960. Klassenkampf

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deshalb, weil wir dabei Vorteile finden. Wenn wir den Gesetzen einen Teil unserer Rechte und unserer natürlichen Macht abtreten, dann deswegen, damit sie für unseren Nutzen verwandt werden; darüber haben wir mit der Gesellschaft einen stillschweigenden Vertrag abgeschlossen. Wenn dieser Vertrag verletzt wird, dann sind auch wir von unseren Verpflichtungen befreit. Unrechtsprechung des Herrschers gibt dem Volk, seinen Richtern, das gleiche und noch mehr Recht über ihn, als das Recht ihm über die Verbrecher gibt- Der Herrscher ist der erste Bürger der Gesellschaft des Volkes."55 (Alle Hervorhebungen von Radiscev!). Radiscev tritt hier als Anhänger der Lehre vom Gesellschaf tsvertrag auf, die von Rousseau entwickelt worden war, und zwar der fortschrittlichen Variante dieser Lehre, die das Widerstandsrecht einbezieht. Auch an anderen Stellen ist die Übersetzung Radiscevs recht eigenwillig, darauf hatte zu Beginn unseres Jahrhunderts bereits Miakovskij hingewiesen; so übersetzt Radiscev „L'amour de l'independance" als „ljubov k bespoddanstvu", also Unabhängigkeit wird in der Interpretation Radiscevs zu „NichtUntertänigkeit"56. Diese Übersetzung ist für die Analyse des Entwicklungsvorganges Radiscevs von besonderer Bedeutung, beweist sie doch, daß seine späteren revolutionären Anschauungen sich logisch und konsequent aus der Aneignung der fortschrittlichen Gedanken der Aufklärung entwickelt haben. Im Frühjahr 1775 nahm Radiscev „aus häuslichen Gründen" seinen Abschied. Er heiratete, im September 1776 bereits stellte er den Antrag, erneut in den Staatsdienst aufgenommen zu werden, aber erst im Dezember 1777 erfolgte seine Ernennung zum Kollegien-Assessor im Kommerzkollegium. Leiter dieses Kollegiums war A. R. Voroncov, der bald zu einem echten Freund Radiscevs werden sollte. Voroncov gehörte zu jenem Teil des Hochadels, der zu Katharina in einer, wenn auch nicht konsequenten, Opposition stand. Aber es ist für ihn kennzeichnend, daß er nach der Verurteilung Radiscevs auf eigenen Wunsch aus dem Staatsdienst ausschied und mit seinem Freund in Sibirien in ständigem Kontakt blieb, ihn u. a. regelmäßig mit Literatur versorgte. Der Briefwechsel zwischen beiden 57 gibt über manche Details im Leben Radiscevs wichtigen Aufschluß. Bei aller persönlicher Ehrlichkeit darf aber die politische Tragweite der im Grunde genommen liberalen Haltung Voroncovs nicht überbewertet werden, die revolutionäre Konsequenz Radiscevs blieb ihm unverständlich. Im März 1780 wurde Radiscev auf Empfehlung Voroncovs zum Stellvertretenden Leiter des Petersburger Zollamtes ernannt. Leiter war Hermann Dahl, ein Livländer, der alt war und kein Russisch konnte. Die neue Dienststellung brachte Radiscev nicht nur Rangerhöhung, 1780 wurde er Hof rat, 1783 Kollegienrat, sondern endlich auch finanzielle Sicherstellung. Nach dem Tode Dahls erhielt Radiscev im April 1790, drei Monate vor seiner Verhaftung, die Ernennung zum Leiter des Petersburger Zollamtes. Das war der äußere Lebensweg in der Zeit, in der Radiscev seine bis zu revolutionären Schlußfolgerungen führenden Gedanken schriftlich ausformulierte. Der Bauernkrieg unter der Führung Pugacevs hatte Katharina und ihrem Kreis gezeigt, daß für die bestehenden feudalen Verhältnisse die Aufklärung wohl doch nicht so ganz ungefährlich ist. Dementsprechend wurde die Zensurgesetzgebung verschärft, 55

56 57

A. N. Radiscev, Polnoe sobranie socinenij (Pss), Bd. II, Moskau-Leningrad 1941, S. 282: vgl. Fotokopie bei Starcev, Radiscev v gody . . . , gegenüber S. 32. V. V. Miakovskij, Gody ucenija A. N. Radisceva, in: Golos minuvsago 1914, Nr. 5, S. 92. Radiscev, Pss III, Moskau 1952, S. 307 ff. (von den hier insgesamt 108 für die Jahre 1779 bis 1802 veröffentlichten Briefen sind nur 19 nicht an A. R. Voroncov gerichtet!), teilweise veröffentlicht in: A. N. Radistschew, Ausgewählte Schriften, S. 403 ff.

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die Adelsrechte fanden am 21. April 1785 in einer speziellen „Gnadenurkunde" ihre ausdrückliche Betonung. Zugleich zeigte sich nach dem Bauernkrieg bei den meisten Vertretern der fortschrittlichen Ideologie eine Unsicherheit in ihrer Haltung gegenüber der Aktion der Bauern: Sie erkannten an, daß vor allem die Leibeigenen in menschenunwürdigen Verhältnissen zu leben gezwungen waren, aber schreckten doch davor zurück, den Bauern das Recht zuzusprechen, selbst ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Novikov suchte zeitweilig den Ausweg im Mystizismus der Freimaurerei, die aus Gründen, die hier nicht zu untersuchen sind, in Rußland nichteine solche fortschrittliche Bedeutung erlangen konnte, wie beispielsweise in Frankreich, wo diese Bewegung in der Vorbereitung der Revolution doch eine recht beachtenswerte Rolle spielen konnte. Radiscev hatte zeitweilig Kontakte zur Freimaurerei, wurde aber nie Mitglied einer Loge. 58 Im russischen Geistesleben war die nach der Niederschlagung des letzten großen Bauernkrieges festzustellende Resignation nicht von Dauer, schon bald konnten vorwärtsweisende Tendenzen wieder das Übergewicht gewinnen. Der Freiheitskampf der amerikanischen Kolonien gegen das englische Mutterland (1775-1783) wurde von progressiven Kreisen in Rußland aufmerksam verfolgt, veröffentlichte doch die Presse recht ausführliche Berichte, und schon bald erschienen auch erste Bücher über den amerikanischen Unabhängigkeitskampf, wie etwa die 1783 von Novikov herausgegebene Übersetzung des Werkes von F. W. Taube über den englischen Handel, dem, wie es im Untertitel ausdrücklich heißt, ein „zuverlässiger Beweis f ü r die rechtmäßigen Ursachen des gegenwärtigen Krieges in Nordamerika" beigefügt war. 5 9 Seit den achtziger Jahren kam es in der russischen Literatur wieder zu Diskussionen um brennende soziale Fragen. Novikov pachtete im M a i 1779 die Druckerei der Moskauer Universität und entwickelte große Aktivität. Vor 1760 waren in keinem Jahr in Rußland mehr als 40 Bücher gedruckt worden, in den folgenden anderthalb Jahrzehnten meist etwas über hundert Titel, 1775 wurden 160 Titel erreicht. An dem nach 1775 einsetzenden allgemeinen Aufschwung des Buchwesens hat Novikov entscheidenden Anteil - von den 1788 gedruckten 439 Titeln hatte 155 Novikov verlegt, von den insgesamt 2685 Titeln des Jahrzehnts 1781 bis 1790 tragen 749 Titel das Verlagssignum Novikovs. 6 0 Die Gesellschaftskritik erreichte im Schaffen einzelner Schriftsteller und Künstler erneute Schärfe, so schrieb Kapnist eine „Ode auf die Ausrottung des Begriffs Sklave in Rußland durch Katharina II. am 15. Februar 1786", in der die formale Bestimmung, daß sich Untergebene nicht mehr ihren Vorgesetzten gegenüber als „Sklave" bezeichnen sollten, in einer Art und Weise als reale Befreiung gefeiert wurde, daß dieses Werk von Zeitgenossen als scharfe Satire aufgefaßt wurde. Von der Forschung wird diese Ode aufgrund ihrer gegen die Leibeigenschaft gerichteten Tendenz mit Radiscevs Hauptwerk verglichen, auch wenn bei Kapnist revolutionäre Konsequenzen fehlten. 6 1 1783 versuchte auch Katharina noch einmal, mit der Zeitschrift „Sobesednik" politisch-literarischen Einfluß zu gewinnen. Als Herausgeber zeichnete offiziell die ihr 58

5!)

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Vgl. A. G. Tatarincev, Radiscev und die Freimaurer, in: Jb. f. Geschichte der UdSSR u. d. volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 9, Berlin 1966, S. 171 ff. Vgl. N. N. Bolchovitinov, Stanovlenie russko-amerikanskich otnosenij 1775-1815, Moskau 1966, S. 91 ff. ; Svodnyj katalog, Bd. III, Moskau 1966, S. 212 (Nr. 7164). Zahlenangaben nach: Chrestomatija po istorid SSSR, Bd. II, Moskau 1949, S. 397 f. Vgl. V. V. Kapnist, Socinenija, Moskau 1959, S. 179 ff.; Einleitung von D. D. Blagoj, S. 7 ff.

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damals nahestehende Gräfin Daskova, die als Direktorin der Akademie der Wissenschaften und als Präsidentin der Russischen Akademie weit über die Grenzen Rußlands hinaus bekannt war. Unter anderem wurde auch Fonvizin zur Mitarbeit gewonnen, der mit seiner Komödie „Nedorosl" 1781 einen großen Erfolg erzielt hatte. Aber die Mitarbeit Fonvizins sah anders aus, als die Kaiserin erhofft hatte. Er stellte Fragen, die schon in sich einen Angriff auf die bestehenden Verhältnisse bedeuteten, beispielsweise: „Warum ist es bei uns nicht verächtlich, vom Nichtstun zu leben?" O d e r : „Warum erhielten in früheren Zeiten Narren und Possenreißer keine Hofränge, während sie heute teilweise sehr hohe Ränge bekleiden?" 6 2 Es ist verständlich, daß Fonvizin auf solche Fragen keine direkte Antwort erhielt. Katharina griff zu anderen Maßnahmen: Fonvizin erhielt Publikationsverbot. Aber damit wurde nicht verhindert, daß seine Arbeiten in Handschriften kursierten, darunter auch die 1788 entstandene „Allgemeine höfische Grammatik", eine so scharfe Satire auf das höfische Leben der Zeit, daß dieses Werk auch im 19. Jh. in Rußland noch nicht ungekürzt erscheinen konnte. Aus der Vielfalt des geistig-kulturellen Lebens, das allein unter den damaligen Verhältnissen in Rußland den politischen und sozialen Bestrebungen Ausdruck geben konnte, wurden hier einige Beispiele zur Charakterisierung der progressiven Strömungen herausgegriffen, um jene Atmosphäre zumindest anzudeuten, in der Radiscevs revolutionäres Werk heranreifen konnte. Zugleich sind diese Hinweise auf die gesellschaftskritische Literatur der Zeit notwendig, um das Wollen und Wirken Radiscevs richtig einzuordnen, um zu zeigen, daß seine Tat aus ihrer Zeit erwachsen ist, auch wenn sie darüber weit hinausreicht. In den achtziger Jahren sind die entscheidenden Schriften Radiscevs entstanden. 1782 war das berühmte Reiterstandbild Peters I., der „eherne Reiter", in Petersburg enthüllt worden. Diesem Ereignis ist Radiscevs „Brief an einen Freund, der aus dienstlichen Gründen in Tobolsk lebt" gewidmet, auch wenn dieser „Brief" erst 1790 gedruckt wurde. Inhaltlich ist dieser Brief eine Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Zaren Peter I., dem Radiscev durchaus den Beinamen „der Große" zuerkennt, zugleich aber doch auch sein Wirken sehr kritisch einschätzt: „Peters Ruhm könnte größer sein, wenn er sich selbst und sein Vaterland durch Befestigung der persönlichen Freiheit erhöht hätte." 6 3 Aber zugleich erkannte Radiscev auch, daß er damit doch letztlich Unmögliches fordert und schließt den Brief mit der Bemerkung: „Aber bis an das Ende aller Tage wird es wohl nicht vorkommen, daß ein Herrscher auf dem Throne sitzend freiwillig etwas von seiner Macht aufgibt." 6 4 Die weiteren Schriften Radiscevs sind nicht so eindeutig zu datieren. Wohl 1783 hatte er die erste Fassung seiner Freiheitsode abgeschlossen. In den achtziger Jahren sind auch die „Aufzeichnungen über das Petersburger Gouvernement" entstanden. Erhalten ist diese unvollendete Schrift im Manuskript auf Papier mit Wasserzeichen des Jahres 1789. 65 Bemerkenswert ist auch diese Arbeit durch einige klar antifeudale Aussagen. So finden wir die Feststellung: „Der Zustand jener Bauern, die Landwirtschaft f ü r Rechnung des Herrn treiben . . . ist am drückendsten." Es folgt 62 63

64 65

D. I. Fonvizin, Sobranie socinenij, Bd. 2, Moskau-Leningrad 1959, S. 273 f. Radiscev, Pss I, Moskau-Leningrad 1938, S. 151; dt. Obersetzung: A. N. Radistschew, Ausgewählte Schriften, S. 30. Ebenda (Übersetzung korrigiert). Radiscev, Pss III, S. 591 (Kommentar).

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dann der Hinweis, daß in vielen Gegenden Rußlands drei Tage Fronarbeit in der Woche üblich seien, aber dieser Brauch werde im Petersburger Gouvernement nur selten eingehalten.66 Und auch andere Themen, die dann in der „Reise" ihre literarische Bearbeitung gefunden haben, sind hier bereits zu finden. So heißt es beispielsweise über die Rekrutierung, daß sie „für die Bewohner als besonders drückend anzusehen ist" 67 . Die heranreifende Revolution in Frankreich und die ersten revolutionären Aktionen fanden in Rußland einen breiten Widerhall, auch wenn von der russischen Regierung schon sehr bald alle Nachrichten aus Frankreich der strengsten Zensur unterworfen wurden. Über den 14. Juli war aber noch recht ausführlich in den Zeitungen berichtet worden, gleichfalls über die ersten Sitzungen der Constituante, auch die Erklärung der Menschenrechte war noch in Übersetzung veröffentlicht worden. 68 Unter dem Einfluß dieser Ereignisse veröffentlichte Radiscev 1789 zwei weitere wahrscheinlich kurz zuvor entstandene Schriften: den stark autobiographische Züge tragenden Bericht über die Leipziger Zeit „Das Leben des Fedor Vasil'evic Usakov" sowie den polemischen Aufsatz „Wer ist ein Sohn des Vaterlandes?" 69 Diese Arbeiten entstanden parallel zum Hauptwerk Radiscev zur „Reise von Petersburg nach Moskau". Wann Radiscev die einzelnen Kapitel dieses Werkes niedergeschrieben hat, konnte bisher von der Forschung nicht geklärt werden. Bekannt ist nur, daß das „Loblied auf Lomonosov", das in der Druckfassung den Abschluß des Werkes bildet, bereits zu Beginn der achtziger Jahre geschrieben wurde. Und auch die Freiheitsode lag - wie bereits erwähnt - in erster Fassung wohl schon 1783 vor. Sonst wissen wir nur, daß Radiscev sich immer wieder mit seinem Hauptwerk beschäftigt hat; weiterhin ist bekannt, daß er die einzelnen Kapitel nicht in der Reihenfolge verfaßt hat, in der sie dann im Buch veröffentlicht wurden. Da vielfach reale Ereignisse die Grundlage für die Darlegungen bilden, ist anzunehmen, daß die entsprechenden Kapitel der „Reise" teilweise schon kurz nach diesen Ereignissen in Erstfassung ausgearbeitet wurden. Über dieses Hauptwerk gibt es eine außerordentlich umfangreiche Literatur. Die antifeudale Ausrichtung ist völlig unbestritten, aber lange Zeit suchte die bürgerlichliberale Forschung dieses Werk in ihre Traditionslinie einzubeziehen. Das gilt für vormarxistische russische Publikationen genauso wie für die heutige bürgerliche Literatur. 70 Die sowjetische Forschung hat dem gegenüber schon früh die revolutionäre Zielstellung Radiscevs betont. Eine solche Sachlage führt zu der berechtigten Frage, wie so unterschiedliche Interpretationen zu erklären sind? Ist die bürgerlich-liberale Auffassung als reine Fälschung zu klassifizieren? Werden von der marxistischen Forschung die revolutionären Tendenzen bei Radiscev überbetont? m 67 68

69

79

Radiscev, Pss III, S. 131. Radiscev, Pss III, S. 119. Vgl. M. M. Strange, Russkoe obscestvo i francuzskaja revoljucija 1789-1794, Moskau 1956, S. 47 ff. Radiscev, Pss I, S. 153 ff., 213 ff.; dt. Übersetzung: Radistschew, Ausgewählte Schriften, S. 31 ff., 110 ff. Vgl. Ju. F. Karjakin/E. G. Plimak, Zapretnaja mysl' obretaet svobodu. 175 let bor'by vokrug nasledija Radisceva, Moskau 1966, vgl. Rez. in Jb. f. Geschichte d. soz. Länder Europas, Bd. 14/1, Berlin 1970, S. 241 ff.; außerdem D. M. Lang, The first russian radical Alexander Radishchev 1749-1802, London 1959, Rez. v. T. Witkowski, in: Zeitschr. f. Slawistik VII" (1962,4), S. 624ff.: weiterhin: P. Hoffmann, Radiscevliteratur in Westdeutschland, in: ebenda VI (1961, 1), S. 120 ff.

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Eine Antwort auf diese Frage kann nur eine ausführliche Analyse des Werkes selbst und seiner Aufnahme in der Zeit des Entstehens geben. Wesentliche Ergebnisse dieser Analyse sollen hier resümiert werden. Auf den ersten Blick scheint sich Radiscevs Hauptwerk kaum von der in der zweiten Hälfte des 18. Jh. weit verbreiteten Gattung der Reiseliteratur zu unterscheiden. Auf die Anregungen, die er von der Form her durch Sternes „Sentimental journey" erhalten hatte, verwies seinerzeit Radiscev selbst im Prozeß. 71 Nur so ist es zu erklären, daß dieses Werk von einem nicht sehr aufmerksamen Zensor zum Druck freigegeben wurde. Äußerlich sieht auch alles wirklich recht harmlos aus. Als Überschrift tragen die einzelnen Kapitel die Namen der Poststationen zwischen Petersburg und Moskau. Und zu jeder Poststation wird irgendein Erlebnis, ein Gedanke mitgeteilt, der nur in wenigen Fällen, wie etwa der Exkurs in die - idealisierte - Geschichte Novgorods, mit der Kapitelüberschrift direkt verbunden ist. Aber es ist doch eine recht eigenartige Reise im Vergleich mit der damals sonst üblichen Literatur. Schon die Vorbemerkung sollte aufhorchen lassen. Hier lesen wir: „Ich blickte um mich - und meine Seele wurde wund unter den Leiden der Menschheit." 72 Und dann folgen - aufeinander aufbauend - eine Episode nach der anderen, von denen jede einzelne auf die Zeitgenossen wie eine bittere Satire wirkte. Radiscev begnügte sich nicht damit, wie es in seiner Zeit vielfach üblich war, allgemeine Mißstände in fernen Ländern und ohne unmittelbaren Bezug auf die russische Gegenwart zu schildern. Bei ihm hat jede Episode ihren Namen und ihre Adresse, auch wenn sie nicht immer voll genannt werden. Die Forschung hat inzwischen für viele Einzelheiten den dokumentarischen Nachweis ihrer Authentizität beibringen können. 73 Wie von den Zeitgenossen wurde auch von der späteren Forschung dieser scharf satirische Charakter des Werkes erkannt. Puskin kleidete ihn in die treffenden Worte: „Ein satirischer Aufruf zum Aufstand" 74 . Trotzdem blieb in der Forschung dieser Grundzug des Werkes lange Zeit fast völlig unbeachtet. Einer der bedeutendsten Radiscev-Forscher der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, Ja. L. Barskov, schrieb zwar in einem Briefkonzept darüber, daß Radiscevs Buch „weit enger mit der ihn umgebenden Wirklichkeit verbunden ist, als bisher bekannt war" und vergleicht dann die satirische Wirkung Radiscevs mit dem Schaffen Saltykov-Scedrins 75 , aber diese Erkenntnis spiegelte sich in den Publikationen Barskovs nur ungenügend wider. Erst in jüngster Zeit ist Radiscevs Werk unter diesem Aspekt zusammenfassend gewürdigt worden. 76 Was schildert Radiscev? Im Kapitel Ljubani wird der Bauer gezeigt, der am Sonntag seinen Acker pflügen muß, da er in der Woche 6 Tage für den Herrn zu arbeiten hat; im Kapitel Cudovo wird die Bürokratie angeklagt - Menschen sind in Not, aber keiner 71 72

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7(i

D. S. Babkin, Process Radisceva, Moskau-Leningrad 1952, S. 189. Radiscev, Pss I, S. 227, dt. A. N. Radistschew, Die Reise von Petersburg nach Moskau, Berlin 1961, S. 5. Vgl. P. Hoffmann, Probleme des Übergangs von der Aufklärung zu revolutionärer Thematik im Schaffen A. N. Radiscevs, in: Zeitschr. f. Slawistik XVIII (1963, 3), S. 426 ff.; A. G. Tatarincev, Real'nost' i vymysel v „Putesestvija iz Peterburga v Moskvu" (Po soderzaniju glavy „Spasskaja Polest'" i archivnych materialov), in: Filologiceskie nauki, 14 (1971, 1), S. 14 ff. A. S. Puskin, Polnoe Sobranie socinenij v decjati tomach, Bd. VII, Moskau 1964, S. 353. Briefkonzept Barskovs, etwa Mitte der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts, zitiert in: P. Hoffmann, Probleme des Übergangs . . . , S. 425. A. G. Tatarincev, Satiriceskoe vozzvanie k vozmuseniju, Saratov 1965.

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wagt von sich aus zu helfen, da der allein Verantwortliche nicht in seiner Ruhe gestört, aber ohne seine Anweisung auch nichts unternommen werden darf. Und so folgen in jedem Kapitel neue Episoden aus dem russischen Alltag: Leben der Bauern, Handel, Rechtspflege, Rekrutierung usw. Die Schilderung ist in vielen Fällen so exakt, daß später Katharina II. beim Lesen in Randbemerkungen auf das „Vorbild" verweisen konnte. 7 7 Aber Radiscev sieht nicht seine Aufgabe darin erschöpft, die russische Wirklichkeit zu schildern. Die „Reise" ist mehr als nur eine Rahmenhandlung, die einzelne selbständige Erzählungen zusammenfassen soll; Inhalt und Bedeutung jeder einzelnen Erzählung sowie die Absicht Radiscevs erschließen sich erst dann voll, wenn man von der Gesamtkonzeption des Werkes ausgeht. Während in den ersten Kapiteln die Verhältnisse in Rußland mit kritischem Blick dargestellt werden - den ersten Höhepunkt bildet das Kapitel „Spasskaja Polest'" mit seiner Entlarvung der Mißstände und des Machtmißbrauchs in der höheren Verwaltung bis hin zum Zaren - , folgen dann im zweiten Teil jene Kapitel, die in die Zukunft gerichtet sind, in denen aus der Schilderung der russischen Gegenwart Schlußfolgerungen bis hin zur Bejahung der revolutionären Aktion gezogen werden. Den Höhepunkt dieses zweiten Teiles bildet das Kapitel Tver', in dem große Teile der Freiheitsode Radiscevs wiedergegeben werden. Hier wird der Tag der endgültigen Freiheit bereits vorausgeahnt, „O herrlichster, o schönster Tag!" 76 , der am Ende einer langen Kette von Kämpfen stehen wird, in denen immer wieder Perioden der Freiheit von Perioden der Unterdrückung abgelöst werden. Und folgerichtig findet sich im folgenden Kapitel „Gorodnja" die Bejahung des Kampfes der Bauern um ihre unmittelbaren persönlichen Rechte. Radiscev schreibt hier: „Oh, wenn die Sklaven von schweren Fesseln gedrückt, in ihrer Verzweiflung rasend, mit dem Eisen, das ihre Freiheit hindert, unsere Häupter, die Häupter ihrer unmenschlichen Herren, zerschmetterten und mit unserem Blute ihre Äcker röteten! Was verlöre dabei der Staat? Bald würden aus ihrer Mitte große Männer hervorgehen, das niedergemetzelte Geschlecht zu ersetzen; aber diese wären anderer Meinung über sich selbst und des Rechts der Unterdrückung beraubt. Das ist kein Traum, sondern der Blick durchdringt den dichten Schleier der Zeit, der die Zukunft vor unseren Augen verhüllt; ich blicke durch ein ganzes Jahrhundert hindurch 79 !" Radiscevs „Reise", die auf den ersten Blick als eine Aneinanderreihung einzelner zufälliger Episoden erscheint, erweist sich als eine kunstvolle, logisch aufeinander abgestimmte Komposition, die dem Leser von einer anfangs selbst für einen Anhänger der fortschrittlichen Theorien der Aufklärung durchaus annehmbaren kritischen Sicht der russischen Wirklichkeit über die in der Aufklärung üblichen Reformprojekte hinaus (das ist die Funktion der Kapitel Chotilov und Vydropusk, die von der bürgerlichliberalen Forschung immer besonders betont werden) bis zur Bejahung des revolutionären Kampfes führen soll. Die soziale Sprengkraft, die Radiscevs Hauptwerk auszeichnet, ist schon früh genug erkannt worden, schon Katharina hat nicht zufällig Radiscev als „Aufrührer schlimmer als Pugacev" bezeichnet. 80 Wie wir gezeigt hatten, waren zwar auch andere Werke der Zeit durchaus nicht frei von scharfer sozialer Kritik, aber Radiscev ging über die für 77 78 79 80

Vgl. Babkin, Process Radisceva, S. 158, 161. Radiscev, Pss I, S. 362, dt. S. 204. Radiscev, Pss I, S. 368 f., dt. S. 213. Babkin, Process Radisceva, S. 318.

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P. Hoffmann

die Aufklärung typische Theorie des Fortschritts, die in gewissen Grenzen selbst für Katharina zeitweilig annehmbar schien, hinaus, er entwickelte sie weiter zur Theorie der revolutionären Umwälzung. 81 Damit hatte Radiscev die Grenzen der Aufklärung überschritten. 82 Trotz der Genehmigung durch die Zensur fand Radiscev keinen Verleger, der die Veröffentlichung seines Hauptwerkes übernommen hätte. Sein 1789 erschienenes Buch „Das Leben des Fedor Vasil'evic Usakov" war von der Kaiserlichen Druckerei in Petersburg gedruckt worden 83 , aber für die „Reise" fand sich eine solche Möglichkeit nicht. Deshalb kaufte sich Radiscev selbst Lettern und Druckstock und begann in seinem Hause eine eigene Druckerei aufzubauen. Als erstes druckte er hier eine kleine Schrift, den „Brief an einen Freund " und dann im gleichen Jahr 1790 „Die Reise von Petersburg nach Moskau". Aber von den 650 Exemplaren, die Radiscev hergestellt hatte, sind nur sehr wenige in Umlauf gekommen. Die an Freunde verschenkten Exemplare wurden von der Untersuchungskommission zurückgefordert, an den Buchhändler Zotov hatte Radiscev 25 Exemplare zum Verkauf gegeben, nach den Aussagen Zotovs vor Gericht kann man annehmen, daß er möglicherweise noch weitere 25 Exemplare erhalten hatte. 84 Alle anderen Exemplare hat Radiscev, als er von der Verhaftung Zotovs erfuhr und auch seine eigene Verhaftung befürchten mußte, selbst verbrannt. 85 In einer langwierigen Gerichtsfarce wurde Radiscev erst zum Tode verurteilt, dann von der Kaiserin „gnädigerweise" zu zehn Jahren Verbannung nach Sibirien „begnadigt".86 Offensichtlich hatte Radiscev bei der Veröffentlichung seiner „Reise" auch ein solches Schicksal durchaus mit einkalkuliert. Er blieb ungebrochen seinen Anschauungen treu, wie ein kleines Gedicht bezeugt, das er auf dem Wege in seinen Verbannungsort Ilimsk 1791 in Tobolsk niederschrieb: Du willst wissen, wer und was ich bin, wohin ich reise? Ich bin derselbe, der ich war und immer werde sein: Nicht Vieh, nicht Holz, nicht Sklave, sondern Mensch allein. Wo es noch keine Spuren gibt, den Weg zu weisen Für kühne, schnelle Dichtertat in Wort und Reim Die Wahrheit und die fühlend Herzen bangen mein Muß nach Ilimsk ich reisen.87 Der Tod Katharinas brachte ihm 1796 die Genehmigung zur Rückkehr in das europäische Rußland, er erhielt sein Dorf Nemcovo im Gouvernement Moskau als Aufenthaltsort angewiesen. Nach der Thronbesteigung Alexanders I. wurde Radiscev völlig rehabilitiert, er wurde wieder in den Staatsdienst aufgenommen. Auch jetzt bejahte er nach wie vor seine früheren Ideale. Der Kernpunkt seiner Anschauungen war die im 81

Vgl. G. P. Makogonenko, Radiscev i ego vremja, Moskau 1956, S. 321. - Vgl. P. Hoffmann, Probleme des Obergangs von der Aufklärung zu revolutionärer Thematik im Schaffen A. N. Radiscevs, in: Zeitschrift für Slawistik VIII (1963, 3), S. 442 ff. 83 Vgl. Svodnyj katalog russkoj knigi XVIII veka, Bd. III, S. 6 (Nr. 5798). 84 Vgl. Babkin, Process Radisceva, S. 154,171, 199. 85 Vgl. ebenda, S. 214. 86 Vgl. ebenda, S. 245, 249. 87 Radiscev, Pss I, S. 123; deutsche Fassung veröffentlicht bei P. Hoffmann, Radiscev und die Anfänge der russischen revolutionären Tradition, in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jh., Berlin 1963, S. 145. 8

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Sinne der Aufklärung abstrakt interpretierte allgemeine Freiheit von jeglicher Unterdrückung. Eine solche Auffassung stand aber im schroffen Widerspruch zu den Ereignissen seiner Zeit. Die französische Revolution hatte gesiegt, aber nicht das Reich der Freiheit gebracht, sondern die napoleonische Diktatur. Ist es da verwunderlich, daß er diese Revolution nicht begriff und deshalb in seinen letzten Lebensjahren recht distanziert beurteilte? Radiscevs Antwort auf die Fragen seiner Gegenwart mußten utopisch bleiben, aber es ist sein Verdienst, überhaupt erstmals in der historischen Entwicklung Rußlands versucht zu haben, eine solche Antwort zu geben. Radiscev konnte in seiner Zeit noch nicht erkennen, daß jede Freiheit nur konkret sein kann, daß die Freiheit f ü r eine Klasse in der Klassengesellschaft notwendigerweise die Unterdrückung anderer Klassen und Schichten voraussetzt. Radiscev glaubte fest daran, daß eine Zeit kommen werde, in der sich seine Träume verwirklichen. Daran änderte auch die Enttäuschung über die Gegenwart nichts, eine Enttäuschung, die sich in seinen letzten Schriften widerspiegelte. 8 8 Schwer krank, geistig gebrochen und von neuen Verfolgungen bedroht, geht Radiscev am 11. September 1802 (a. St.) in den Freitod. 8 9 Obwohl Radiscev gegen Ende seines Lebens offensichtlich resignierte, hatte er doch „den Weg gewiesen". Seine Tat war nicht vergeblich. In der Traditionslinie der russischen revolutionären Bewegung bildet sein Wirken das Bindeglied zwischen den spontanen Bauernkriegen und dem bewußten Aufstand der Adelsrevolutionäre im Dezember 1825. Bis in die fünfziger Jahre des 19. Jh. durfte sein Name nicht im Druck genannt werden. Bis zur ersten russischen Revolution 1905/07 fielen alle Versuche Radiscevs „Reise" in größerer Auflage in Rußland herauszubringen, dem Verbot zum Opfer. All das beweist nur die Lebendigkeit und Aktualität der revolutionären Aussage Radiscevs „über ein Jahrhundert hinaus". Von Radiscevs „Reise" sind heute 19 Exemplare des Erstdrucks erhalten; und über 60 Abschriften, überwiegend aus den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jh., liegen in den Archiven und Handschriften-Abteilungen in der UdSSR. 90 Das Werk Radiscevs war den Dekabristen gut bekannt; in den Prozeßmaterialien taucht sein Name zwar nur vereinzelt auf 9 1 , es läßt sich aber nachweisen, daß viele Dekabristen mit Leben und Werk Radiscevs vertraut waren. 9 2 Sehr intensiv haben sich die revolutionären Demokraten, besonders Dobroljubov und Herzen, mit Radiscev befaßt. 9 3 Und als Lenin 1914 die Traditionslinie in der russischen revolutionären Be88

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Vgl. Ju. F. Karjakin/E. G. Plimak, Zapretnaja mysl' obretaet svobodu . . . vor allem Kapitel 10 und 11; vgl. meine Rezension in: Jb. f. Geschichte der soz. Länder Europas, Bd. 14/1, Berlin 1970, S. 252 f.; P. Hoffmann, A. N. Radiscev nach der Rückkehr aus der Verbannung, in: A. N. Radiscev und Deutschland ( = Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse, Bd. 114/1), Berlin 1969, S. 119 ff. P. Hoffmann, Radiscevs Tod - Selbstmord oder Unglücksfall? in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jh., Bd. III, 1968, S. 526 ff. Vgl. P. Hoffmann, Radiscev und die Anfänge der russischen revolutionären Tradition, in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jh. (Bd. I.), Berlin 1963, S. 147. Vgl. beispielsweise: Vosstanie Dekabristov. Materialy, Bd. 2, Moskau-Leningrad 1926, S. 167. Vgl. Vi. Orlov, Radiscev i russkaja literatura, Leningrad 1952, Kap. 5 (Die Dekabristen und Radiscev),S. 129 ff.; M. V. Neckina, Dvizenie dekabristov, Bd. I/II, Moskau 1955 (vgl. Namensregister, Bd. I, S. 478, Bd. II, S. 502). Vgl. P. Hoffmann, Die russischen revolutionären Demokraten und Radiscev, in: Zeitschr. f. Slawistik XI (1966, 2), S. 158 ff.

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wegung in seinem Beitrag: „Über den Nationalstolz der Grogrussen" andeutete, da nannte er durchaus berechtigt den Namen Radiscev an erster Stelle. 94 Der Weg zur Ausarbeitung der einzig richtigen revolutionären Theorie, des Marxismus-Leninismus, und der allein erfolgreichen revolutionären Praxis, wie sie in der Partei neuen Typus realisiert ist, war lang und in sich widersprüchlich. Lenin schrieb dazu: Die Richtigkeit der marxistischen Theorie als einzige revolutionäre Theorie haben „insbesondere auch die Erfahrungen mit den Irrungen und Wirrungen mit den Fehlern und Enttäuschungen des revolutionären Denkens in Rußland bewiesen." 95 Im vorliegenden Beitrag wurde versucht, die Anfänge dieses Weges nachzuzeichnen. Die Erfahrungen der Klassenkämpfe hatten gezeigt, daß der revolutionäre Kampf allein, wie er sich in den spontanen Bauernaufständen und in den Bauernkriegen entwickelt hatte, keine Veränderung der sozialen Verhältnisse im Interesse der unterdrückten Volksmassen erzwingen konnte. Andererseits hatte sich mit dem Einsetzen kapitalistischer Entwicklungstendenzen die Lage breiter Schichten der Bevölkerung, vor allem der leibeigenen Bauernschaft, in einem solchen Maße verschlechtert, daß selbst aufmerksame Vertreter der herrschenden Klasse das Widersinnige und Unnatürliche dieser Verhältnisse erkennen mußten. In der Aufklärung fanden diese Kreise eine ihren auf Reformen ausgerichteten Bestrebungen adäquate Ideologie, die unter feudalen Verhältnissen - ohne selbst revolutionär zu sein - wesentliche Grundlagen der damals bestehenden Ordnung in Frage stellte. Die Aufklärung bereitete den Weg für weiterführende revolutionäre Anschauungen vor, ja mehr noch, die Aufklärung warf Fragen auf, die bei einer konsequenten Beantwortung zu revolutionären Schlußfolgerungen führen mußten. Und diese Konsequenz des Denkens hebt Radiscev über seine Zeitgenossen hinaus, läßt ihn zum ersten revolutionären Denker in der russischen Geschichte werden. Nicht ignoriert werden sollte, daß die Aufklärung nicht ohne weiteres zur revolutionären Konsequenz hinführen muß. Sie kann auch - und das trifft für die meisten Denker der Zeit zu - die Grundlage für eine sich mit Teilreformen begnügende bürgerlichliberale Haltung bieten. Eine solche Auffassung gehört dann in die Traditionslinie des russischen Liberalismus, der im Verlaufe des 19. Jh. immer stärker seine anfängliche Progressivität einbüßte, bis er zu Beginn des 20. Jh. endgültig reaktionär wurde. Auf diese Entwicklungsmöglickeit sei als Alternative zumindest hingewiesen. Im Schaffen Radiscevs vereinigen sich die revolutionären Potenzen zweier Traditionslinien - einerseits die sich aus den Bauernkriegen herleitenden Traditionen der revolutionären Aktion, andererseits die Infragestellung der feudalen Verhältnisse durch die radikale Aufklärung. Diese Verbindung kennzeichnet in der Geschichte des Klassenkampfes und der revolutionären Bewegungen in Rußland eine neue Qualität: Die so entstehenden Anfänge einer revolutionären Ideologie bedeuten trotz ihres utopischen Charakters und trotz vieler ihr noch anhaftenden Inkonsequenzen den Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte der revolutionären Bewegung Rußlands. Damit wird der Weg gewiesen, der über die Dekabristen, die revolutionären Demokraten und die Narodniki der siebziger Jahre zur proletarischen Arbeiterbewegung führen sollte. Erst sie konnte unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei in der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution den Sieg über die Ausbeuterordnung erringen. 94

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Vgl. W. I. Lenin, Über den Nationalstolz der Gro5russen, in: Lenin, Werke, Bd. 21, Berlin 1968, S. 92. W. I. Lenin, Der „linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Lenin, Werke, Bd. 31, Berlin 1966, S. 10.

FRITZ

STRAUBE

Die Dekabristen und die revolutionäre Bewegung ihrer Zeit

Der Dekabristenaufstand von 1825, die erste bewaffnete Aktion gegen Leibeigenschaft und zaristische Selbstherrschaft, die von einem ausgearbeiteten Plan der gesellschaftlichen Umgestaltung Rußlands ausging, hat von jeher Historiker und politisch engagierte Menschen bewegt. Wie alles, was in der Geschichte groß ist und Grundfragen berührt, ist auch dieses Thema bis auf den heutigen Tag von der Parteien Gunst und Haß umstritten. Zwei Hauptkonzeptionen stehen sich hierbei von Anfang an gegenüber: die revolutionäre und die reaktionäre. Während die revolutionäre Konzeption, deren Grundlagen die Dekabristen selbst legten, im Laufe der Entwicklung und Reifung der russischen revolutionären Bewegung immer fundierter und einheitlicher wurde und schließlich durch den Marxismus-Leninismus eine umfassende, in sich geschlossene wissenschaftliche Begründung erhielt, ist die ihr entgegenstehende Konzeption trotz einiger spezifischer Grundzüge in sich uneinheitlich und widersprüchlich. Die Haupturheber der reaktionären Konzeption waren seit dem Tage der Niederschlagung des Aufstandes Zar Nikolaus I. und seine Umgebung. Nikolaus I. gab die Anweisung, aus der öffentlichen „Mitteilung" der Untersuchungskommission alles auszumerzen, was die Entwürfe zur Abschaffung der Leibeigenschaft, zur Aufteilung des Bodens, zur Beschränkung der Militärdienstzeit und andere Forderungen betrifft, d. h. gerade jene Forderungen, die aus den gesellschaftlichen Bedürfnissen Rußlands in der Übergangsperiode vom Feudalismus zum Kapitalismus erwuchsen und für den Zarismus eben deshalb bedrohlich waren, weil sie den Interessen breiter Bevölkerungsschichten entsprachen. Der Regierung kam es darauf an, die Dekabristen als Einzelgänger, als moralisch verkommene Individualisten darzustellen, die im russischen Volk nicht verwurzelt und ausländischen Einflüssen erlegen wären. Im zaristischen Manifest vom 13. Juli 1826 hieß es über die Bestrebungen der Dekabristen: „Dieses Vorhaben entsprach nicht den Eigenschaften und der Sittlichkeit der Russen. Von einer Handvoll Scheusale ausgedacht, hat es ihre nähere Umgebung, unzüchtige Seelen, die von verwegener Schwärmerei erfüllt waren, angesteckt, - ist aber trotz jahrzehntelanger boshafter Bemühungen nicht tiefer eingedrungen, konnte nicht tiefer eindringen. Das Herz Rußlands blieb dafür uneinnehmbar und wird es immer bleiben."1 Liest man diese Zeilen, so erscheint im Gedächtnis unwillkürlich die Persiflage Heinrich Heines: „Ausländer, Fremde sind es meist. Die unter uns gesät den Geist Der Rebellion. Dergleichen Sünder, Gottlob! sind selten Landeskinder."2 1 2

Dekabristy i tainye obscestva v Rossii, Moskau 1906, S. 109. H. Heine, Sämtliche Werke, 1. Bd., Hamburg o. J „ S. 208.

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Wahrhaftig! Aus Furcht vor sozialen Befreiungsbewegungen waren die reaktionären Regimes aller Schattierungen, ob nun in Rußland, in Deutschland oder anderswo, schon immer bestrebt, die tieferen Grundlagen dieser Bewegungen zu leugnen. Es gehört geradezu zu ihrem ideologischen Arsenal, durch die Hervorhebung äußerer Einflüsse von den entscheidenden inneren Ursachen revolutionärer Bewegungen abzulenken. Aus diesem Bestreben entstanden in der Geschichte solche reaktionären Schreckensbilder wie die von der sogenannten revolutionären französischen Seuche im 18. und 19. Jh., dem „Gespenst des Kommunismus", der „langen Hand Moskaus" im 20. Jh. usw. Die geistige Verwandtschaft dieser Konstruktionen und der reaktionären Konzeption über die Dekabristenbewegung ist offensichtlich. Unter den gegenwärtigen bürgerlichen Varianten der Beurteilung der Dekabristen ist die These von der nicht vorhandenen Bodenständigkeit der Dekabristenbewegung, ihrer Losgelöstheit vom russischen sozialökonomischen Milieu die beständigste und durchgehende. „Der voluntaristische Ansatz", so schreibt W. Philipp über die Tat der Dekabristen, „wurzelte nicht in der russischen Wirklichkeit, sondern in einem idealistischen Entwurf." 3 H. Lemberg bezeichnet die Dekabristen einseitig als Generation, die sich „unter der Wirkung des prägenden Kriegserlebnisses 1812-1815 . . . entwickelt, bis unmittelbar an die Schwelle der nachfolgenden Generation der Anhänger der deutschen romantischen Philosophie" 4 . W. Markert betrachtet die russische Kultur- und Geistesentwicklung jener Zeit fast ausschließlich unter dem Aspekt westlicher Einflüsse, um dann mit hoffnungsloser Geste zu schlußfolgern, daß aus dem alten Rußland dennoch „kein Weg zu dieser aufgeklärten Wissenschaft, zu dieser Kultur der europäischen Aufklärung führt" 5 . Selbst G. Stökl, der die Dekabristenproblematik tiefer erfaßt, unterstreicht als Hauptfaktor vor allem das „Europaerlebnis", das „gebildeten jungen Menschen aus den besten Familien des russischen Adels . . . im empfänglichsten Lebensalter" 6 zuteil wurde. In der in Fischers Taschenbuchreihe erschienenen Rußlandgeschichte wird in ähnlicher einseitiger Weise der „Einfluß der europäischen Bewegung" 7 hervorgehoben. Natürlich wäre es abwegig, die äußeren Einflüsse auf die Dekabristenbewegung leugnen zu wollen. Sie waren sogar recht erheblich und es gibt in der russischen Geschichte nicht allzuviel Beispiele, wo ihnen ein ebensolches Gewicht zukam. Doch nähere wissenschaftliche Betrachtung zeigt stets erneut, daß die Wirksamkeit äußerer Faktoren bestimmte innere Bedingungen voraussetzt und aufs engste mit dem erreichten gesellschaftlichen Entwicklungsniveau des betreffenden Landes verknüpft ist. Um eine einseitige Verabsolutierung der Wirksamkeit innerer bzw. äußerer Faktoren zu vermeiden, müssen diese in ihrer wechselseitigen Bedingtheit und insgesamt auf der Grundlage der historischen Hauptgesetzmäßigkeiten und im Rahmen des weltgeschichtlichen Prozesses untersucht werden. Das besondere Anliegen des Aufsatzes ist es, entsprechend dieser Forderung einige welthistorische Aspekte der Dekabristenbewegung zu beleuchten, die Dekabristen in 3

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W. Philipp, Rußlands Aufstieg zur Weltmacht 1815-1917, in: Historia mundi, Bd. 10, Bern und München 1961, S. 192. H. Lemberg, Die nationale Gedankenwelt der Dekabristen, Köln-Graz 1963, S. 34. W. Markert, Osteuropa und die abendländische Welt, Göttingen 1966, S. 40. G. Stökl, Russische Geschichte, Stuttgart 1973, S. 470. Rußland, hg. und verfaßt von C. Goehrke, M. Hellmann, R. Lorenz, P. Scheibert, Fischer Weltgeschichte Bd. 31, Frankfurt a. M. 1972, S. 213.

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diesem Sinne im Konnex der internationalen revolutionären Bewegung ihrer Zeit zu zeigen. Angesichts der Breite und der Vielschichtigkeit des Themas sind im Rahmen eines Aufsatzes allerdings schwerpunktmäßige Einschränkungen auf einige wichtige Gesichtspunkte und Zusammenhänge geboten. So erscheint es dem Autor zweckmäßig und fruchtbar, speziell der Frage nachzuspüren, wie die Dekabristen die Ereignisse und den Verlauf der europäischen und außereuropäischen revolutionären Bewegung ihrer Zeit aufnahmen und verarbeiteten, wie diese Vorgänge die Evolution ihrer Ideologie beeinflußten, welche Schlußfolgerungen für Rußland sie daraus zogen. Eine solche Fragestellung impliziert ohne Zweifel auch Fragen nach der internationalen Verbundenheit der Dekabristenbewegung, ihrem Platz in der weltgeschichtlichen Epoche von 1789 bis 1871, ihrer universalhistorischen Einbettung. Der Autor stützt sich in seinen Erörterungen vor allem auf die Aussagen der Dekabristen selbst und zwar größtenteils auf jene aus der Zeit vor dem Dezemberaufstand von 1825. Spätere Äußerungen der Dekabristen, Erinnerungen und dgl. werden als solche gesondert vermerkt. Die inneren und äußeren Bedingungen für das Auftreten der Dekabristen reiften schon viele Jahre vor dem Zeitpunkt heian, als sie die Bühne der Geschichte betraten. Der eigentliche Boden, auf dem die Dekabristenbewegung erwuchs, war der Zersetzungsprozeß der Feudalordnung, der in Rußland in der zweiten Hälfte des 18. Jh. begonnen hatte und zu Beginn des 19. Jh. sich in verschärften Formen fortsetzte. Die herannahende Krise des Feudalismus kündigte sich gegen Ende des 18. Jh. auf verschiedenen Ebenen an. Schon im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jh. verzeichnen wir in Rußland das sporadische Entstehen kapitalistischer Wirtschaftsformen, die jedoch infolge der Lebenskraft und des absoluten Vorherrsohens feudaler Produktionsverhältnisse im feudalen Sinne deformiert und völlig in die dominierende Produktionsweise integriert wurden. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. beobachten wir eine qualitativ neue Erscheinung: die feudale Produktionsweise besitzt nicht mehr die Kraft, die entstehenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu absorbieren; der Prozeß ihrer Ausbildung wird irreversibel und beginnt seinerseits - zuerst kaum merklich - die feudale Produktion zu untergraben. Es ist hier nicht der Platz, den komplizierten Mechanismus aufzuzeigen, der in der ökonomischen Struktur Rußlands das allmähliche Anwachsen kapitalistischer Verhältnisse bedingte. Neben den ausschlaggebenden inneren Ursachen, vor allem der Entwicklung der Produktivkräfte und des gesamtrussischen Marktes, sind besonders der Vormarsch des Kapitalismus in den fortgeschrittensten europäischen Ländern, die industrielle Revolution in England, die Herausbildung des kapitalistischen Weltmarktes bedeutungsvoll, die zersetzend auf den russischen Feudalismus einwirkten. Das wichtigste Symptom der Zersetzung des Feudalsystems war jedoch die anwachsende Bauernbewegung, die 1773 bis 1775 im Bauernkrieg unter der Führung von Emel'jan Pugacev einen besonderen Höhepunkt erlebte und trotz grausamster Unterdrückung in den folgenden Jahren weiter zunahm. Obwohl der Zarismus die Aufstände und Unruhen der Landbevölkerung mit immer brutaleren Methoden niederschlug, vermochte er nicht, sie einzudämmen. Sie flammten wieder von neuem auf, ergriffen immer mehr Gebiete des Russischen Reiches und wurden auch in den Kampf formen erbitterter und hartnäckiger. Als mit der Großen Französischen Revolution von 1789 bis 1794 eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte begann, die Epoche der Durchsetzung des Kapitalismus im Weltmaßstab, bedeutete diese Zäsur auch für die russische Geschichte einen außer-

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ordentlich wichtigen Einschnitt. Sie bedeutete es vor allem deshalb, weil der aus inneren Ursachen fortschreitende Prozeß der Zersetzung des Feudalismus und der Herausbildung kapitalistischer Verhältnisse in Rußland sich durch vielfältige Einflüsse der Französischen Revolution und der ihr folgenden internationalen Erschütterungen und Umwälzungen noch mehr vertiefte. Freilich waren die Folgeerscheinungen der Französischen Revolution inRußland nicht einschneidend, wie in anderen Ländern. Rußland war den Einflüssen der Französischen Revolution nicht so unmittelbar ausgesetzt und verfügte über ein weitaus stabileres Feudalsystem als diese Länder. Doch die auf der Tagesordnung stehende Durchsetzung des Kapitalismus im Weltmaßstab machte auch vor dem zaristischen Rußland nicht halt. Mit dem Sieg der Französischen Revolution waren Feudalismus, Leibeigenschaft und Absolutismus, also auch die in Rußland herrschende Gesellschafts- und Staatsordnung, endgültig ein welthistorischer Anachronismus geworden, den die Völker über kurz oder lang beseitigen mußten. Deshalb bedeuteten die Jahre 1789 bis 1794 auch für die russische Geschichte einen Wendepunkt, mochten die Zeitgenossen es verstehen oder nicht, und mochte nach außen hin vorerst noch nichts Sichtbares geschehen sein. Einige wenige Russen erkannten aber schon damals die große internationale Bedeutung der Französischen Revolution. 1790 schrieb der aus Rasnocincen-Kreisen kommende Moskauer Professor P. A. Sochackij, daß 1789 „eine neue Epoche des Menschengeschlechts begonnen" habe, „eine Epoche, in der die Geschicke der sogenannten niederen Stände revidiert, die selbstherrschaftliche Macht beseitigt" würden. 8 N. M. Karamzin schrieb Mitte der neunziger Jahre, die Französische Revolution gehöre „zu jenen Ereignissen, die das Schicksal der Menschheit für viele Jahrhunderte" bestimmen. 9 Die künftigen Dekabristen, die in der Mehrzahl um die Jahrhundertwende geboren waren, waren als Patrioten ihres Landes zugleich im besten Sinne Kinder der 1789 eingeleiteten neuen Epoche. Ihre Größe bestand u. a. darin, daß sie, obwohl sie der Adelsklasse angehörten, die Zeichen der Zeit auch für Rußland verstanden und bereit waren, dafür bis zur Selbstaufopferung einzutreten. Natürlich war ihre Ideologie nicht etwas von Anfang an Gegebenes. Sie reifte in einem langjährigen Prozeß unter dem Einfluß einer Vielfalt verschiedenartiger Faktoren. Vergleicht man die Wertigkeit dieser Faktoren miteinander, so treten eindeutig die innerrussischen als die bestimmenden in den Vordergrund. Alles Sinnen und Trachten der Dekabristen entsprang in seinem tiefsten Grund den sozialen und politischen Verhältnissen in Rußland und war mit ganzer Leidenschaft eben darauf gerichtet, diese Verhältnisse im Geiste des Fortschritts zu verändern. Da die historische Entwicklungstendenz Rußlands zu Beginn des 19. Jh. bürgerlich determiniert war und als solche objektiv mit der Grundtendenz der Menschheitsgeschichte in der Epoche 1789 bis 1871 übereinstimmte, Rußland aber dabei hinter einigen fortgeschrittenen Ländern zurückblieb, erlangten die Errungenschaften und Erfahrungen dieser Länder für Rußland eine besondere Bedeutung. Auf dieser Basis, oder anders ausgedrückt, weil die Grundaufgaben dieselben waren, konnten die bürgerlichen Ideen, die Erfahrungen der bürgerlichen Revolutionen Westeuropas und Amerikas in Rußland wirksam werden. Der wache, forschende Sinn der Dekabristen für das revolutionäre Geschehen außerhalb der russischen Grenzen hatte somit seine primären Ursachen in der russischen Wirklichkeit selbst. Das besondere Interesse für diese Ereignisse war seinerseits ein 8 9

Politiceskij zurnal, Bd. 1, Moskau 1790, S. 8. N. M. Karamzin, Pis'ma N. M. Karamzina k I. I. Dmitrievu, St. Peterburg 1866, S. 480.

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Reflex objektiver gesellschaftlicher Bedürfnisse Rußlands. Die Aufmerksamkeit, mit der die Dekabristen die revolutionären Vorgänge jenseits der russischen Grenzen verfolgten, war, wie die sowjetische Historikerin M. V. Neckina feststellt, „gesetzmäßig und charakterisierte in positiver Weise die Lebensfähigkeit dieser Bewegung selbst. Hätten sich die Dekabristen in sich verschlossen, hätten sie sich passiv zu den revolutionären Erfahrungen anderer Völker verhalten, hätten sie kein gemeinsames Leben mit den fortschrittlichen Bewegungen anderer Länder gelebt, so würde das gegen ihr revolutionäres Wesen sprechen und von ihrer mangelhaften Bodenständigkeit, ihrer Schwäche und Lebensuntüchtigkeit zeugen" 10 . Die Schriften der bürgerlichen Denker des Westens, die nationalen und revolutionären Bewegungen des Auslands konnten zwar die russische Befreiungsideologie befruchten, ihren Reifungsprozeß beschleunigen - und dieser Einfluß war in der Tat beträchtlich, - sie allein waren aber nie imstande, diese Ideologie hervorzubringen. Die Dekabristen betonten selbst wiederholt, daß der Ursprung ihres Denkens und Handelns in der russischen Wirklichkeit, in den gesellschaftlichen Verhältnissen ihres Vaterlandes begründet ist. Deshalb waren und blieben die Forderungen nach der Vernichtung von Leibeigenschaft und Selbstherrschaft von Anfang an ihre Hauptforderungen, die keinem westeuropäischen und überseeischen Vorbild entlehnt waren. In den zahlreichen Schriften der Dekabristen findet sich nirgends eine Begründung f ü r die Notwendigkeit der Beseitigung von Leibeigenschaft und Selbstherrschaft in Rußland, die primär aus ausländischen Gesellschaftsverhältnissen abgeleitet wird. Wenn die russischen Adelsrevolutionäre ein historisches Ereignis vorrangig mit dem Werdegang ihrer Ideologie verknüpften, so war das, trotz der gewaltigen internationalen Bedeutung, nicht die Französische Revolution und auch nicht der Auslandsfeldzug von 1813/14, sondern der Vaterländische Krieg von 1812. „Gerade 1812 und nicht der Auslandsfeldzug brachte die nachfolgende gesellschaftliche Bewegung hervor" 1 1 , schrieb M. I. Murav'ev-Apostol. Die Bewegung aber, unterstrich derselbe Adelsrevolutionär, „war ihrem Wesen nach nicht entlehnt, war keine europäische Bewegung, sondern eine rein russische" 12 . Der von italienischen Vorfahren abstammende Dekabrist Alexander Poggio, dem die Revolutionsereignisse der zwanziger Jahre in Italien besonders nahe gegangen waren und der mit Eifer die Schriften bürgerlicher Staats- und Rechtsideologen gelesen hatte, wandte sich sogar während der Untersuchungshaft in der Peter-PaulsFestung entschieden gegen den Versuch, die Dekabristenbewegung als eine dem Ausland entlehnte auszulegen: „Aus welchen Büchern schöpften wir die Überzeugung von der Notwendigkeit, ausgerechnet die republikanische Regierungsform einzuführen? . . . Welche Reformen des Staats hätten wir f ü r die Umgestaltung der Regierungsform unseres Staates anwenden können, um zur Ansicht zu gelangen, nachahmen zu müssen? . . . Wäre es möglich, daß wir etwas aus der Lektüre [ . . . ] die Überzeugung gewonnen hätten, auch in Rußland eine Republik [ . . . ] einzuführen? (gemeint ist die republikanische Verfassung der USA - F. St.) . . . Nein, unsere ganze Sache ist unsere ureigene Sache und sie besitzt eine Ausprägung, die sie von allen anderen mit der unseren vergleichbaren völlig unterscheidet!" 1 3 10 11 12 13

M. V. Neckina, Dvizenie dekabristov, Bd. I, Moskau 1955, S. 305. V. E. Jakuskin, M. I. Murav'ev-Apostol, in: Russkaja starina, 1886, Nr. 7, S. 156. Ebenda. Vosstanie dekabristov. Dela Verchovnogo ugolovnogo suda i Sledstvennoj komissii, Bd. XI, Moskau 1954, S. 42 f.

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Schließlich waren die russischen Adelsrevolutionäre gar nicht darauf angewiesen, demokratische Anleihen unbedingt im Ausland machen zu müssen. Das russische Volk besaß ebenfalls uralte demokratisch-republikanische Traditionen, was viele bürgerliche Historiker geflissentlich übersehen möchten. Die altrussische Vecetradition, der jahrhundertelange, zähe Kampf der Volksmassen um ihre Erhaltung bezeugen deutlich genug, wie tief gerade die demokratisch-republikanische Denkweise im Volke wurzelte. Diese Denkweise war auch nicht ausgestorben, als allrussische Monarchen ihre Macht immer selbstherrlicher ausübten. Wenn Rußlands historischer Aufstieg sich in mehreren Jahrhunderten über die Ausbildung der Selbstherrschaft vollzog, so bedeutet dies keineswegs, daß günstigere geschichtliche Konstellationen nicht auch andere Wege zugelassen hätten. Nicht umsonst hegten die Dekabristen besonderes Interesse für die Geschichte der Republik Novgorod und für all das, was in ihr an Selbstverwaltung, Volksinitiative, republikanischer Souveränität etc. angelegt war. Um die Dekabristenbewegung in ihrer internationalen Verflechtung und nationalen Eigenständigkeit komplex zu erfassen, genügt es nach dem Gesagten keineswegs, wenn man ihre inneren und äußeren Entstehungs- und Entwicklungsfaktoren möglichst vollständig aufzeigt. Eine wirklich komplexe Betrachtungsweise erfordert, daß diese Faktoren in ihren ursächlichen Zusammenhängen, in ihrem Werden, in ihrer dialektischen Wechselwirkung erforscht werden. Um diese Zusammenhänge, namentlich die internationale Verquickung der Dekabristenbewegung zu ergründen, sind aber solche Termini wie „Einfluß", „Nachahmung", „Entlehnung" denkbar ungeeignet. „Solche unrichtigen und unpräzisen Wörter", schreibt M. V. Neckina, „dienen nicht der wissenschaftlichen Forschung, liefern kein Kriterium für die Bewertung und die Auswahl der Fakten und lenken den Historiker eher vom richtigen Weg ab" 14 . Nehmen wir die für die russische gesellschaftliche Bewegung nicht unwichtige Erscheinung der Rezeption bürgerlichen Gedankengutes aus den westlichen Ländern. Die Lektüre der Werke von Voltaire, Rousseau, Montesquieu und anderen bürgerlichen Ideologen war im russischen Adel seit dem 18. Jh. bekanntlich keine Seltenheit. Wenn es bei vielen Zeitgenossen vorübergehend eine Modeangelegenheit war, die Literatur bürgerlicher Denker zu kennen, so bildete sich unter Adligen und Rasnocincen gleichzeitig eine kleinere Schicht ständiger Leser heraus, die neben Voltaire und Rousseau auch für radikalere französische Schriftsteller ein anhaltendes Interesse zeigten. Es fragt sich nun, wie diese Tatsache zu bewerten ist. War das bloß Einfluß, Entlehnung oder ähnliches? Konnte ein dauerhaftes und sich auf radikalere Ideen ausrichtendes Interesse platonischer Natur und ohne tiefere Gründe sein? Natürlich nicht! Dafür mußte es eine beständige, nicht versiegende Quelle geben, die nur die russische Wirklichkeit selbst sein konnte. Die sozialen Zustände des eigenen Landes, die Krisensymptome des russischen Feudalismus, die entwürdigenden Verhältnisse der Leibeigenschaft, die endlose Kette von Bauernunruhen im 17. und 18. Jh., die in vier großen Bauernkriegen gipfelten, veranlaßten die fortschrittlichen Geister Rußlands immer wieder, nach einem Ausweg für ihr Vaterland zu suchen. Zwangsläufig wurde so das Interesse an den Erfahrungen der gesellschaftlichen Umgestaltung westlicher Länder, an den bürgerlichen Ideen schlechthin genährt. Die besondere Vorliebe des russischen Publikums für Voltaire, der nach 14

M. V. Neckina, Dekabristy vo vsemirno-istoriceskom processe, in: Voprosy istorii, 1975, Nr. 12, S. 14.

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kompetentem Urteil „im gewissen Sinne Teilnehmer der russischen gesellschaftlichen Bewegung" 10 war, läßt sich nur in diesem Wesenszusammenhang erklären. Schließlich hatte Rußland gegen Ende des 18. Jh. in der Person Aleksandr Radiscev selbst einen großen revolutionären Denker hervorgebracht. Sein 1790 veröffentlichtes Hauptwerk die «Reise von Petersburg nach Moskau" war zwar verboten worden, aber einige Exemplare und viele Abschriften kursierten illegal unter dem Publikum. In seinem Buch legte Radiscev die ganze Fäulnis des feudalen Rußlands bloß und entwickelte Gedanken einer radikalen gesellschaftlichen Umgestaltung. Er drang zu den Wurzeln des Übels vor, indem er die Notlage der Bauern und die Gebrechen der Adelsklasse auf die Leibeigenschaft zurückführte. Von revolutionärer Leidenschaft erfüllt, ging er so weit, den Kampf der Bauern gegen ihre Unterdrücker und gegen das absolutistische System als berechtigt anzuerkennen. In der Ode „Freiheit", deren wichtigste Strophen er in sein Hauptwerk übernahm, preist er den Tag der kommenden russischen Revolution mit den Worten: „O herrlichster, o schönster Tag!" 1 6 Das Erscheinen von Radiscevs Buch in einer Zeit, als die Französische Revolution ihren Fortgang nahm und in Rußland als Folge zunehmender Bauernunruhen eine zugespitzte politische Lage herrschte, führten zur Verstärkung des Polizeiterrors der Zarenregierung. Radiscev wurde in die Verbannung geschickt, nachdem ihm vor Gericht sogar das Todesurteil gesprochen worden war. Gleichzeitig erhöhte sich trotz der Repressalien und der verschärften Zensur in breiteren Kreisen das Interesse für bürgerliches Gedankengut im allgemeinen und für die Französische Revolution im besonderen. Radiscevs Buch hatte dazu nicht unwesentlich beigetragen, denn es bedeutete einen qualitativen Sprung im fortschrittlichen russischen Denken, das damit erstmals eine bewußt antifeudal-revolutionäre Ausrichtung erhielt. Von da ab nahm das Interesse an bürgerlichen Ideen und an der bürgerlichen Revolution Dauercharakter an. Der Dekabrist A. E. Rozen schrieb in seinen späteren Erinnerungen, daß in verschiedenen Kreisen der russischen Gesellschaft „zu Beginn des 19. Jh. viel über die Französische Revolution diskutiert wurde". 17 Die Französische Revolution selbst und die stürmischen Weltbegebenheiten in den Jahrzehnten danach boten genügend Stoff, das Thema stets aufs neue unter den verschiedensten Blickwinkeln zu erörtern. Die zeitgenössische Publizistik und die anschwellende Geschichtsliteratur über die Revolution trugen noch das ihrige dazu bei. Wenn im folgenden einige Urteile von Dekabristen über die Französische Revolution wiedergegeben werden, so stehen sie gleichsam als typische Meinungsäußerungen stellvertretend für die Ansichten anderer Adelsrevolutionäre, wobei es selbstredend gewisse Abstufungen gab, die ihre Begründung in den Auffassungen der einzelnen Personen und in dem Zeit- und Wesenszusammenhang finden, in dem sie geäußert wurden. Besonders auffallend ist die von fast allen Dekabristen jahrzehntelang vertretene Meinung über die Unterschiede zwischen den Zielen und den Mitteln der Französischen Revolution. Als Adelsrevolutionäre, die das Schrifttum der bürgerlichen Ideologen kannten, begrüßten sie im allgemeinen die Ziele der Revolution, konnten sich aber mit ihrem konkreten Verlauf und insbesondere mit dem historisch notwendig gewordenen revolutionären Terror nicht abfinden. Der künftige Dekabrist N. I. Turgenev 15

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M. V. Neckina, Vol'ter i russkoe obscestvo, in: Vol'ter, Stat'i i materialy, pod. red. V. O. Volgina, Moskau 1948, S. 93. A. N. Radistschew, Reise von Petersburg nach Moskau, Berlin 1961, S. 204. A. E. Rozen, Zapiski dekabrista, St. Peterburg 1907, S. 316. Klassenkampf

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war schon während seines Studiums, wie er selbst gestand, allein bei dem Gedanken an die Sansculotten von Entsetzen ergriffen. 18 Während er 1814 die liberalen Schriften von E. M. Arndt und noch später die von Madame de Staël las und die Notwendigkeit grundlegender Umgestaltungen erkannte, verurteilte er nach wie vor die „Schrekken der Französischen Revolution"19. Der Dichter W. K. Küchelbecker, ein glühender Patriot und Freiheitsgeist, verdammte bereits während seiner Lyzeumsjahre in Carskoe Selo und dann selbst noch am Vorabend des Dekabristenaufstandes das patriotische Massenaufgebot der Franzosen von 1793. Die berühmte Abteilung der Marseilleer bezeichnete er als „Rotte von Tigern und Blutsaugern"20. Die russischen Adelsrevolutionäre waren imstande, einen Mirabeau und Lafayette, d. h. die dem Bürgertum dienenden französischen Adelsrevolutionäre von 1789, zu preisen und selbst den großbürgerlichen Girondisten gewisse Sympathien zu bekunden; die Jakobiner flößten ihnen aber fast ausnahmslos Furcht ein. Während der Untersuchung in Sachen des Dekabristenaufstandes prägte der eingekerkerte M. F. Orlov einen Satz, den man ohne Übertreibung auf die übergroße Mehrheit aller Dekabristen anwenden kann: „ich haßte die Verbrechen und liebte die Grundsätze der Revolution"21. Oder anders ausgedrückt, die Dekabristen begrüßten das Jahr 1789, verschmähten aber das Jahr 1793. Trotz dieser adlig beschränkten Stellung zur Französischen Revolution unterschieden sich die Ansichten der Dekabristen himmelweit von denen des reaktionären Adels, wie z. B. des Joseph de Maistre und anderer, die in der Revolution eine Gottesgeißel sahen, um die glaubensvergessenen Franzosen zu züchtigen. Die russischen Adelsrevolutionäre machten sich aus Sorge um die künftige Entwicklung ihres Vaterlandes ernste und tiefe Gedanken über die Ursachen und die Wege der Revolution. Besondere Verbreitung fand unter ihnen das Buch von Madame de Staël „Considérations sur les principaux événements de la Révolution Française", das 1818 in der Reaktionsperiode der Heiligen Allianz erschien. Wie aus der schriftlichen Hinterlassenschaft der Dekabristen zu ersehen ist, solidarisierten sie sich mit den liberalen Grundgedanken der französischen Literatin, die u. a. die Französische Revolution als eine bestimmte Etappe des historischen Fortschritts betrachtete. Der Gedanke über die Gesetzmäßigkeit der Revolution, sowie die bedingungslose Verurteilung der alten Ordnung durch die Schriftstellerin fanden die volle Zustimmung der Dekabristen. Das Nichtabfindenwollen mit den alten Zuständen betraf natürlich nicht nur die zeitlich zurückliegenden vorrevolutionären Verhältnisse in Frankreich, sondern hatte seinen aktuellen Bezug vor allem auf die den Dekabristen gegenwärtigen Verhältnisse in Rußland, mit denen sie sich ständig konfrontiert sahen. Ein ähnliches Herangehen, das die französischen und die russischen Zustände vergleicht, spürt man auch in anderen Bemerkungen der Dekabristen. Die Ursachen der Revolution, erklärte A. N. Murav'ev mit einem deutlichen Seitenblick von Frankreich auf Rußland, liegen allein „in den Unterdrückungen und den Vergünstigungen der adligen und geistlichen Stände gegenüber dem Volk"22. N. I. Turgenev schlußfolgerte, daß angesichts der bevorzug18 19 20 2J 22

Dnevniki i pis'ma N. I. Turgeneva, Bd. I, St. Peterburg 1911, S. 15, 207. Ebenda, Bd III, Petrograd 1921, S. 241. V. K. Kjuchel'beker, Massilija, in : Syn otecestva, 1825, S. 104. M. V. Dovnar-Zapol'skij, Memuary dekabristov, Moskau 1906, S. 5. A. N. Murav'ev, Otvet socinitelju reci..., in : Ctenija v Obscestve liDR, Bd. 3, Moskau 1859, S. 50.

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ten Stellung und der Stärke der Aristokratie „eine demokratische Macht nicht anders entstehen konnte, als durch eine fürchterliche Revolution" 23 . In der letzten Äußerung schimmert schon schwach die Erkenntnis durch, daß auch der revolutionäre Terror seine Berechtigung haben kann oder zumindest, was Frankreich anbelangt, im konkreten Verlauf der Ereignisse seine Erklärung findet. Wohl in diesem Zusammenhang hatte N. I. Turgenev in seinem „Versuch einer Theorie der Steuern" die in der Vorstudie ursprünglich enthaltene giftige Bemerkung über die in „Raserei geratene" 24 revolutionäre französische Regierung gestrichen. Die Einsicht in die Notwendigkeit der Revolution und die Furcht vor einem unkontrollierten Verlauf kennzeichnet die Schlußfolgerungen, die die Dekabristen daraus für Rußland zogen. Wie viele Adelsrevolutionäre meinte M. P. Bestuzev-Rjumin, daß man, um die Dauer und die Schrecken der englischen und der französischen Revolutionen zu vermeiden, in Rußland vorher eine Verfassung ausarbeiten müsse. 25 Ungeachtet aller Einschränkungen, die aus solchen und ähnlichen Äußerungen abzulesen sind, muß als das Entscheidende die grundsätzliche Bejahung der Französischen Revolution durch die Mehrheit der Dekabristen, die Möglichkeit, ihre Lehren konstruktiv anzuwenden, hervorgehoben werden. P. I. Pestel konstatierte, auf die bleibenden Werte der Französischen Revolution hinweisend, daß nach der Restauration der Bourbonen „der größte Teil der während der Revolution erlassenen Grundbestimmungen . . . beibehalten und als sachdienlich anerkannt wurden." „Die Revolution", so schlußfolgerte er daraus, und man spürt geradezu den Willen zur Nutzwendung auf Rußland, „ist anscheinend gar nicht so übel, wie man von ihr spricht, und sie kann wohl sogar höchst nützlich sein." 26 Der Dekabrist P. G. Kachovskij betonte wie viele andere die internationale Bedeutung der Französischen Revolution, die „die europäischen Throne stark erschüttert" und einen mächtigen Einfluß auf alle Völker ausgeübt habe. 2 7 Das für alle Länder Gültige betonte auch K. F. Ryleev. Es begann, so erklärte er, der große „Kampf der Völker gegen die Zaren" 28 . Am tiefsten erkannte die Probleme P. I. Pestel. Als im Januar 1817 über das Statut der adligen Geheimgesellschaft, des Rettungsbundes, beraten wurde, knüpfte Pestel an die Erfahrungen der Französischen Revolution an. Direkt auf den Kern zusteuernd und die adligen Vorbehalte beiseiteschleudernd, bemerkte er, daß „Frankreich unter der Regie des Wohlfahrtsausschusses sich glücklich fühlte." 29 In Auswertung der Amerikanischen und der Französischen Revolution verteidigte Pestel auch für Rußland die Idee einer revolutionären provisorischen Regierung. In einem solchen Riesenreich wie Rußland mit seiner komplizierten Sozialstruktur stelle die beabsichtigte gesellschaftliche Umwälzung erst recht eine schwierige historische Entwicklungsphase dar, die eben deshalb nur von einem revolutionären, initiativreichen zentralen Machtorgan erfolgreich forciert werden könne. Wenn Pestel einige Praktiken der Französischen Revolution für russische Verhältnisse für unzweckmäßig hielt, so verlangte er anderer-

Dnevniki i pis'ma N. I. Turgeneva, Bd. III, Petrograd 1921, S. 63. V. M. Tarasova, O rannej rabote N. I. Turgeneva „Rassuzdenie o bankach", in: Ucenye zapiski Marijskogo gos. pedagog. instituta, Bd. X, Joskar-Ola 1956, S. 81 f. 2 5 Vosstanie dekabristov, Bd IX, Moskau-Leningrad 1950, S. 92. 2 6 Ebenda, Bd. IV, Moskau-Leningrad 1927, S. 90. 27 Iz pisem i pokazanij dekabristov. Pod red. A. K. Borozdina, St. Peterburg 1906, S. 12. 2 8 K. F. Ryleev, Polnoe sobranie socinenij, Moskau-Leningrad 1934, S. 412. 2!» Zapiski S. P. Trubeckogo, Moskau 1905, S. 12 f. 23

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seits, daß in den Gouvernements nach französischem Vorbild Generalbevollmächtigte eingesetzt würden, um die Stimmung des Volkes zu beleben. 30 Darüber hinausgehend erkannte Pestel bereits einige soziale Beschränktheiten der Französischen bürgerlichen Revolution und nahm damit Gedankengänge vorweg, die später die revolutionär-demokratische Ideologie kennzeichnen sollten. Im Gefolge der Revolution, stellte er fest, habe in den westeuropäischen Ländern lediglich eine Ablösung der „Aristokratie des Feudalismus" durch die „Aristokratie des Reichtums" stattgefunden und in gewisser Beziehung seien die Völker „in eine noch schlimmere Lage versetzt worden, da sie in die gewaltsame Abhängigkeit von den Reichen gebracht wurden" 31 . Mit Genugtuung vermerkte er aber, daß der Kampf weitergeführt werde und die Völker „mit heißem Herzen danach streben . . . , sich von dem unerträglichen Joch der Aristokraten und der Reichen zu befreien" 32 . Doch nicht nur an der Französischen Revolution, so unerschöpflich dieses Thema auch war, entzündeten sich die Gedanken und die Gefühle der Dekabristen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. Die internationale und die innerrussische Entwicklung nach der Großen Revolution in Frankreich, die Napoleonischen Kriege, der Vaterländische Krieg von 1812, der antinapoleonische Befreiungskampf der Völker, die reaktionäre Politik der Heiligen Allianz, die Studentenbewegung in Deutschland, die Revolution in den italienischen Staaten und in Spanien, der griechische Befreiungskampf, die Bauern- und Soldatenunruhen in Rußland, der Wechsel von Reaktion und Scheinliberalismus in der zaristischen Innenpolitik - all das beschäftigte den wachen Geist der Dekabristen, trug bei zur schöpferischen Ausformung ihrer Ideologie, beeinflußte ihr Handeln. Die exemplarische Verurteilung A. N. Radiscevs hatte es nicht vermocht, die von ihm propagierten Gedanken in der russischen Gesellschaft auszulöschen. Die „Reise von Petersburg nach Moskau" erwies sich für viele Jahrzehnte als die wichtigste, immer wieder gelesene Schrift zur radikalen gesellschaftlichen Umgestaltung Rußlands. Ähnliche Gedanken wie Radiscev entwickelte der deutsch-baltische Publizist G. H. Merkel, dessen 1796 in Leipzig erschienenes Buch „Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts" eine flammende Anklage gegen die Leibeigenschaft ist. Das in deutscher Sprache verfaßte Buch wurde in Rußland verboten, kursierte aber bald in Handschriften in lettischer Übersetzung. Der Autor kämpft gegen die Leibeigenschaft und gegen die soziale und nationale Unterdrückung der Völker der russischen Ostseeprovinzen durch die privilegierten deutsch-baltischen Barone. Merkels Schriften widerspiegelten objektive Zusammenhänge der Lage der Bauern im Baltikum und in Preußen und beeinflußten im gewissen Sinne die späteren Bauerngesetze des Zarismus und der preußischen Regierung für diese Gebiete. Zu den Nachfolgern Radiscevs zählten I. P. Pnin, I. M. Born, V. V. Popugaev, deren Verdienst vor allem darin bestand, in den Jahren nach der Jahrhundertwende die hohen Ideale des großen russischen Revolutionärs wachgehalten zu haben. In seinem 1804 erschienenen und kurz darauf verbotenen „Versuch über die Aufklärung im Hinblick auf Rußland" bezeichnete I. P. Pnin die Bauern als den nützlichsten Stand der Gesellschaft und trat entschieden für die Beseitigung der Leibeigenschaft ein. 33 Sich mit aufklärerischen Illusionen auseinandersetzend, verlangte er, daß man die 30 31 32 33

Vosstanie dekabristov. Bd. X, Moskau-Leningrad 1952, S. 231. P. I. Pestel, Russkaja Pravda, St. Peterburg 1906, S. 214. Ebenda, S. 212. Vgl. Russkie prosvetiteli, Bd. I, Moskau 1966, S. 193.

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Bauern erst befreien müsse, ehe man überhaupt von ihrer Aufklärung sprechen könne. V. V. Popugaev verurteilte in seinen Schriften die Tyrannei und die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. 1807 bewies er im Traktat „Über die Wohlfahrt nationaler Gemeinwesen" die Notwendigkeit einer auf der allgemeinen Gleichberechtigung der Bürger gegründeten republikanischen Regierungsform. Im Aufsatz „Über die Sklaverei, ihren Ursprung und ihre Folgen in Rußland" (1815/16) prangerte er erneut die Leibeigenschaft an. Viele Gedankengänge dieser Schriften und vor allem des Hauptwerkes von Radiscev waren den Dekabristen bekannt und wirkten auf die Ausprägung ihrer Ideologie ein. Die europäischen Ereignisse im ersten Jahrzehnt des 19. Jh. spielten ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle bei der Reifung der gesellschaftlich-politischen Anschauungen der Adelsrevolutionäre. Durch die Wandlung des revolutionären Generals Bonaparte zum Kaiser der Franzosen und zum Unterdrücker der Völker, durch die Napoleonischen Kriege, wurden die Dekabristen angeregt, die Probleme der Revolution und ihrer Dynamik, das Verhältnis von Volksvertretung und persönlicher Macht, die Fragen der internationalen Rolle Rußlands gründlicher und differenzierter zu betrachten. Die Niederlage der verbündeten Truppen bei Austerlitz im Jahre 1805 und der schwere Tilsiter Frieden von 1807 warfen Fragen nach den tieferen Ursachen für Rußlands Schwäche in diesen Kriegen auf. Auch von hierher begann man Kritik an den inneren Zuständen im Lande zu üben, und landete in der Regel beim Übel aller Übel - der Leibeigenschaft. Die hieraus erwachsende Sorge um das Vaterland unterschied sich wesentlich von dem bestellten Staatspatriotismus, wie er für den herrschenden Adel charakteristisch war. Den tiefsten und nachhaltigsten Einfluß auf die Ausformung der Ideologie der Dekabristen übte ohne Zweifel der Vaterländische Krieg von 1812 aus. Das lag zu einem großen Teil darin begründet, daß viele der Adelsrevolutionäre selbst unmittelbare Kriegsteilnehmer waren. Doch damit ist nicht alles und nicht einmal das wichtigste gesagt. Denn jene Dekabristen, die wegen jugendlichen Alters oder aus anderen Gründen nicht an den Kampfhandlungen teilnahmen, räumten dem Vaterländischen Krieg von 1812 in ihrem Denken eine ebensolche Rolle ein, wie die Helden von Borodino, Malojaroslavec und Krasnoe. Außerdem gab es unter den Teilnehmern des Vaterländischen Krieges auch mehrere, die schon Austerlitz und Friedland erlebt hatten, und die dennoch und gerade auf 1812 schworen. In der Hauptsache war es „das Gewitter von 1812", die große patriotische Tat des Volkes, die einen unauslöschlichen Eindruck auf alle Dekabristen machte und einen Wendepunkt in der Ausbildung ihrer politischen Ansichten bedeutete. Ob an der Front oder im Hinterland - der Krieg vereinte den künftigen Dekabristen und den russischen Bauer zu gemeinsamen Anstrengungen fürs Vaterland und offenbarte die werktätigen Massen als die ausschlaggebende historische Kraft. Das Jahr 1812 bedeutete für das Denken der russischen Adelsrevolutionäre auch deshalb eine Wende, weil es ihnen die Gewißheit brachte, wie ehrlich der aus dem Volke kommende Patriotismus war, und wie kläglich und heuchlerisch dagegen sich in der Stunde der Gefahr das Verhältnis vieler Gutsbesitzer zur Heimat ausnahm. Die einfachen Menschen, schreibt F. N. Glinka, „zeigten damals solche Beispiele der Mißachtung eigener Vorteile und der Hingabe zum Nutzen aller, wie wir sie bisher nur in der Geschichte bewundert hatten" 34 . Im Oktober 1812 kam es zwischen Alex3i

F. N. Glinka, Pis'ma russkogo ofizera, Teil V, Moskau 1815, S. 199.

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ander I. und dem künftigen Dekabristen S. G. Volkonskij zu folgendem Wortwechsel über die Stimmungen im Kriege. Zar: „Wie ist der Geist in der Armee?" Volkonskij: „Majestät! Vom Oberkommandierenden bis zum einfachen Soldaten sind alle bereit ihr Leben für die Verteidigung des Vaterlandes hinzugeben." Zar: „Und die Stimmung im Volk?" Volkonskij: „Majestät! Sie können stolz darauf sein: ein jeder Bauer ist ein Held." Zar: „Und der Adel?" Volkonskij: „Majestät! Ich schäme mich, ihm anzugehören. Es gab viele Worte, doch in der Tat geschah nichts." 35 Treffend charakterisiert N. M. Murav'ev die Siegesfaktoren Rußlands im Krieg von 1812. Neben den Talenten der russischen Heeresführer und einer wohlausgebildeten starken Armee hebt er besonders die patriotische Stimmung des ganzen Volkes hervor. 36 Dieser von allen Dekabristen mit Genugtuung registrierte patriotische Geist des einfachen Volkes äußerte sich besonders sichtbar im Partisanenkrieg. Die nach Proviant umherstreifenden französischen Truppen, schreibt F. N. Glinka, stießen überall auf „bewaffnete Bauern, auf die Lanzen der Donkosaken und die Bajonette russischer Soldaten." Infolge des Partisanenkrieges „sah sich der stolze Eroberer Moskaus plötzlich in deren Trümmern belagert" 37 . „Von Stunde zu Stunde", so berichtete F.N.Glinka, „äußert sich der Volkskrieg in neuem Glanz. Es scheint, daß die brennenden Siedlungen die Flammen der Rache in den Adern neu entzünden. Abertausende Landbewohner verbergen sich in den Wäldern und ohne Kriegskunst, allein durch ihren Mut schlagen sie die Missetäter zurück, indem sie Sicheln und Sensen in Verteidigungswaffen verwandeln. Selbst die Frauen kämpfen." 38 Der beeindruckende nationale Befreiungskampf des Volkes führte die Dekabristen schon während des Krieges von 1812 und in den darauffolgenden Jahren zu weitreichenden Schlußfolgerungen über die tieferen Ursachen des Sieges. „Sämtliche Befehle und Anstrengungen der Regierung", schreibt I. D. Jakuskin, „hätten nicht ausgereicht, die in Rußland eingefallenen Gallier mitsamt dem Dutzend anderssprachiger Stämme zu vertreiben, wenn das Volk wie früher in Erstarrung verblieben wäre." 39 Hier haben wir wohl den wichtigsten Grund. Das Volk hatte sich entschlossen gegen die Eindringlinge erhoben und war sich in diesem Kampf in nicht geringem Maße seiner Kraft und Würde bewußt geworden. Plötzlich wurde sichtbar, wie es einige neue Erscheinungen des sozialen Kampfes der Werktätigen seit der Jahrhundertwende ankündigten, daß die Wandlungen des Zeitalters an dem niedergebeugten russischen Bauer doch nicht spurlos vorübergegangen waren. Die Invasion des äußeren Feindes brachte innenpolitisch keinen Klassenfrieden, wie das adlige und bürgerliche Historiker zu beweisen versuchten. Die soziale Komponente floß inniger als in früheren Zeiten in den nationalen Widerstand gegen die Eroberer ein und erzeugte einen höheren Grad von staatsbürgerlichem Bewußtsein und Patriotismus im Volke. Gerade dieses Phänomen beeindruckte die Dekabristen am meisten. Sie entdeckten gewissermaßen ihr eigenes Volk, erkannten seine wahre Größe. „Der Volkskrieg des Jahres 1812", schrieb A. E. Rozen, „weckte eine ungeheure Zuversicht in die Kraft des Volkes und in die patriotische Begeisterung, wovon wir vordem nicht die ge35 38 37

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S. G. Volkonskij, Zapiski, St. Peterburg 1901, S. 193. N. M. Druzinin, Dekabrist Nikita Murav'ev, Moskau 1933, S. 80 f. F. N. Glinka, SraZenie pri Tarutine, in: Voennyj zurnal, St. Peterburg, 1818, Bd. 10, S. 38, 41. F. N. Glinka, Pis'ma russkogo oficera, Teil IV, Moskau 1815, S. 46 f. Zapiski, stat'i, pis'ma dekabrista I. D. Jakuskina, Moskau 1951, S. 7.

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ringste Vorstellung, nicht die geringste Ahnung hatten." 40 Für die künftigen Dekabristen waren die progressiven Wandlungen im russischen Volk, die der Vaterländische Krieg von 1812 hatte sichtbar werden lassen und die sich weiter steigerten, selbst wichtiger Stimulus ihrer eigenen ideologischen Entwicklung. Zurecht stellt der sowjetische Historiker A. Z. Manfred fest: „Die Schlacht von Borodino, der Vaterländische Krieg von 1812 bereiteten ihren Übergang zum Dekabrismus vor; das war die erste und wahrlich wichtigste Schule der staatsbürgerlichen Erziehung." 41 Der Leiter der zaristischen Untersuchungskommission in Sachen der Dekabristen wiederholte in seinem Bericht an Nikolaus I. die Meinung der Adelsrevolutionäre über die Bedeutung des Krieges von 1812 für die Entwicklung ihres freiheitlichen Denkens: „Napoleon brach in Rußland ein, und da begann das russische Volk seine Kraft zu spüren, da erwachte in den Herzen das Gefühl der Selbständigkeit, zuerst der politischen und später auch der staatsbürgerlichen. Hier liegt der Beginn des freiheitlichen Denkens in Rußland."42 In eben diesem Sinn ist der bekannte, für alle Dekabristen zutreffende Satz von M. I. Murav'ev-Apostol zu verstehen: „Wir sind Söhne des Jahres 1812."43 Die russischen Adelsrevolutionäre, die Söhne von 1812, empfanden aus dieser Einstellung heraus bald das Bedürfnis, eine Geschichte des Jahres 1812 zu schreiben. Der unermüdliche F. N. Glinka publizierte bereits 1815/16 eine „Abhandlung über die Notwendigkeit einer Geschichte des Vaterländischen Krieges von 1812". Die Dekabristen betonten, dies müsse eine Geschichte des russischen Kriegers und des Volkes werden, der eigentlichen aktiven Gestalter des historischen Geschehens. Sie konnten sich nicht mit den kriegsgeschichtlichen Werken von D. P. Buturlin, A. I. Michajlovskij-Danilevskij u. a. abfinden, die vor Lobhudelei für Alexander I. strotzten. N. I. Turgenev hielt es angesichts der in Westeuropa verbreiteten Ansicht, Napoleon sei durch den russischen Winter besiegt worden, für dringend notwendig, diese „Meinung zu widerlegen." „Die Armee und das Volk und nicht der Frost haben die Franzosen vertrieben" 44 , schrieb er. M. F. Orlov hielt es für notwendig, einen Trennungsstrich zwischen den kriegerischen Leistungen des Volkes und den Taten des Zarismus zu ziehen, indem er davor warnte, die Eroberungen des Zarismus zu preisen. 45 Die Auslandsfeldzüge der russischen Truppen 1813/14 stellten im politischen Reifungsprozeß der Dekabristen eine weitere wichtige Phase dar. Die Dekabristen lernten Länder kennen, wo die Völker ohne die Fesseln der Leibeigenschaft lebten, und wo ein neuer demokratischer Aufschwung heranreifte, stimuliert durch die nationale Befreiungsbewegung, die sich gegen das Napoleonische Joch richtete und ihrem inneren Wesen nach zugleich dem Feudalismus und Absolutismus feindlich war. Die Kompliziertheit der europäischen Situation 1813/14, die Gegensätzlichkeit der im antinapoleonischen Lager vereinigten gesellschaftlichen Kräfte gaben den Dekabristen neue Nahrung zu Überlegungen über die Rolle der Regierungen, der Völker und verschiedener sozialer Schichten im nationalen Befreiungskrieg. 40 41 42 43 44 4=

A. E. Rozen, Zapiski dekabrista, St. Peterburg 1907, S. 56. A. Z. Manfred, Napoleon Bonapart, Moskau 1971, S. 648. Zit. nach: M. V. Neckina, Dvizenie dekabristov, Bd. I, S. 112. V. E. Jakuskin, M. I. Murav'ev-Apostol, S. 159. N. I. Turgenev, Dnevniki i pis'ma, Bd. II, St. Peterburg 1913, S. 257 f. M. F. Orlov, Pis'mo k Bulturlinu, in: Dekabristy i ich vremja. Sbornik, Bd. I, Moskau 1928, S. 203.

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Schon während der Auslandsfeldzüge und kurz danach bewiesen viele Dekabristen einen recht klaren Blick für wichtige politische Zusammenhänge der europäischen Lage. Vom Vaterländischen Krieg 1812 ausgehend, verstanden sie sehr wohl, daß die Befreiung Europas von der Napoleonischen Unterdrückung ohne die patriotische Bewegung der Völker unmöglich war, und den europäischen Monarchen nichts anderes übrig blieb, als sich „an die Volksinstinkte zu wenden"46. K. F. Ryleev schlußfolgerte unmißverständlich: „Die Zaren haben mit Hilfe der Völker" Napoleon besiegt.47 Wenn es anfangs Illusionen hinsichtlich der Absichten der Monarchen und speziell Alexanders I. in den Befreiungskriegen gab, so wurden sie recht bald abgebaut. Bereits 1813 schrieb N. A. Bestuzev, daß die alliierten Mächte „einzig und allein unter oligarchischen Gesichtspunkten" Krieg gegen Napoleon führen, „um auf dem europäischen Festland den Despotismus zu errichten"48. 1815, nach der Beendigung der Befreiungskriege, vermerkte N. I. Turgenev mit Bitternis: „Die Zaren haben über die Völker triumphiert." 49 Mit dem Zusammenbruch des Napoleonischen Reiches ging eine Periode schärfster politischer, sozialer und militärischer Erschütterungen zu Ende. In den zwei Jahrzehnten europäischer Geschichte seit der Französischen Revolution hatten lange blutige Kriege einander abgelöst und insgesamt 7 Millionen Menschenleben verschlungen. Die Völker hatten das Napoleonische Joch abgeschüttelt, doch nicht alle hatten die nationale Unabhängigkeit erlangt. In einigen Ländern, wie z. B. in Italien und Belgien, waren an die Stelle der alten Unterdrücker lediglich neue getreten. Auch die liberalen und demokratischen Bestrebungen des Bürgertums und breiter Schichten der Bevölkerung in Stadt und Land hatten sich nicht bzw. nur teilweise erfüllt. Das nationale Selbstbewußtsein der Völker und die Zuversicht in kommende politische und soziale Veränderungen waren indes trotz des Terrors der restaurativen Kräfte nach 1815 beträchtlich gestiegen. Die Völker knüpften an den langersehnten Frieden große Hoffnungen. Verschiedene Schichten der russischen Gesellschaft und insbesondere die künftigen Dekabristen blieben von diesem Geist der Zeit nicht unberührt. „Die Epoche des militärischen Ruhmes", erklärte der junge Adelsrevolutionär M. P. Bestuzev-Rjumin, „hat mit Napoleon ihr Ende gefunden. Jetzt ist die Zeit angebrochen, die Völker von der sie bedrückenden Sklaverei zu befreien; und sollte es etwa nicht möglich sein, daß die Russen . . . , die Europa vom Joch Napoleons befreiten, nicht auch das eigene Joch abschütteln und sich nicht durch edlen Eifer auszeichnen, wenn es gilt, das Vaterland zu retten?" 50 Doch die siegreichen Monarchen mit Alexander I. an der Spitze, die sich in Wien zur „Heiligen Allianz" vereinigt hatten, dachten nicht im geringsten daran, den Völkern irgendwelche Freiheiten zu gewähren. Der Sinn ihres reaktionären Bündnisses bestand darin, jegliche revolutionären und nationalen Befreiungsbewegungen zu unterbinden, die Einhaltung der restaurativen Beschlüsse des Wiener Kongresses zu sichern. F. Engels charakterisierte diese Allianz geradezu als eine „Verschwörung aller europäischen Fürsten gegen ihre Völker unter russischem Präsidium"51. Auch 4fi 47 48 49 50 51

N. V. Basargin, Zapiski, Petrograd 1917, S. 268. K. F. Ryleev, Polnoe sobranie socinenij, S. 413. N. A. Bestuzev, Stat'i i pisma, Moskau-Leningrad 1933, S. 102. Dnevniki i pis'ma N. I. Turgeneva, Bd. II, St. Peterburg 1913, S. 283. Vosstanie dekabristov, Bd. IX, S. 117. F. Engels, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 22, Berlin 1962, S. 30.

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in Rußland hielt die Feudalreaktion ihre Zeit für gekommen. Bereits 1814 hatte Alexander I. in Paris erklärt: „Die äußeren Feinde sind für lange Zeit geschwächt, jetzt werden wir gegen die inneren vorgehen." 52 Es nimmt deshalb nicht wunder, daß die Politik der „Heiligen Allianz" und der reaktionäre innenpolitische Kurs der Zarenregierung auf die Ablehnung der Adelsrevolutionäre stieß. Die europäischen Herrscher, schrieb rückblickend M . A. Fonvizin, „träumten von der Restauration der von der Französischen Revolution untergrabenen monarchistischen Grundsätze" 53 . P. G. Kachovskij konstatierte, daß nach der Bildung der „Heiligen Allianz" die „Völker bald erkannten, wie sehr sie betrogen wurden. Die Monarchen dachten nur daran, die uneingeschränkte Macht zu behaupten, ihre ins Wanken geratenen Throne zu sichern und auch die letzten Funken der Freiheit und Aufklärung auszulöschen" 5,5 . Die russischen Krieger, die Teilnehmer an den Feldzügen von 1812 bis 1815, empfanden den Kontrast zwischen ihren Hoffnungen und dem, was sie in ihrer Heimat vorfanden, besonders kraß. Die von den Schlachtfeldern unter das Joch der Leibeigenschaft zurückkehrenden Soldaten und Landwehrmänner, deren Zahl in die Hunderttausende ging, waren mit den fortgeschrittenen politischen und sozialen Verhältnissen in West- und Mitteleuropa konfrontiert worden. Sie verglichen diese Verhältnisse mit den Zuständen in ihrem Vaterland. Nach den Aussagen von A. A. Bestuzev konnte man von den ehemaligen Soldaten nicht selten solche Worte hören wie diese: „Wir haben unser Blut vergossen, und man zwingt uns erneut unter die Fron. Wir haben die Heimat vom Tyrannen erlöst, und wir werden von den Herren tyrannisiert wie ehedem." 55 Viele der Kriegsteilnehmer, „die Leibeigene waren", schreibt N. I. Turgenev, „glaubten ganz natürlich, daß ein so heldenhafter Widerstand, daß die Überwindung so vieler Gefahren, denen sie tapfer entgegen gingen, und die vielen selbstlos getragenen Entbehrungen für die allgemeine Befreiung, - ihnen das Recht auf Freiheit gegeben haben" 56 . Um so höhnischer mußte den leibeigenen russischen Bauern nach dem Sieg das Dankesmanifest des Zaren erscheinen, in dem es hieß: „Die Bauern, unser treu ergebenes Volk mögen ihren Lohn von Gott erhalten." 57 Für die werktätigen Massen Rußlands gestaltete sich die Lage nach den Kriegen gegen Napoleon aus einer Reihe von Günden besonders schwer. Der Krieg hatte riesige Menschenverluste mit sich gebracht und weite Landstriche verwüstet. In keinem der mittel- und westeuropäischen Länder waren während der Kampfhandlungen auch nur annähernd so viele Städte und Dörfer niedergebrannt worden. Die alte Hauptstadt Moskau - ein bedeutendes Wirtschafts- und Handelszentrum Rußlands - war in Schutt und Asche gelegt worden. Die Gutsbesitzer versuchten aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten herauszukommen, indem sie die bäuerlichen Fronleistungen bzw. den Obrok erhöhten. Die Hoffnungen auf Befreiung aus der Leibeigenschaft blieben unerfüllt. Lediglich im Baltikum wurde 1816 eine Agrarreform eingeleitet, die jedoch den Bauern keine echte Freiheit brachte, da die Bauern ohne Land „befreit" 62

V. I. Semevskij, Politiceskie i obscestvennye idei dekabristov, St. Peterburg 1909, S. 78. M. A. Fonvizin, Obozrenie projavlenij politiceskoj zizni v Rossii, St. Peterburg 1907, S. 83. 5 '' Iz pisem i pokazanij dekabristov. Pod red. A. K. Borozdina, St. Peterburg 1906, S. 12. 65 Ebenda, S. 35 f. 36 N. I. Turgenev, Rossija i russkie, Bd. I, Moskau 1915, S. 17. 57 Zit. nach: S. B. Okun', Ocerki istorii SSSR, Leningrad 1956, S. 312.

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wurden und dadurch oft in noch größere wirtschaftliche Abhängigkeit von den Gutsbesitzern gerieten. Es kam zu Unruhen und Aufständen. Dem neuangeschlossenen Königreich Polen gewährte Alexander I. vor allem aus außenpolitischen Erwägungen eine Verfassung, die zu den liberalsten in Europa gehörte. Die dadurch genährten Erwartungen auf liberale Veränderungen in den russischen Kernlanden erwiesen sich jedoch als trügerisch. Nach kurzer Zeit begannen die zaristischen Statthalter in Polen, die vorher verkündete Verfassung selbst zu verletzen. An eine Verfassung für das Russische Reich war unter diesen Umständen nicht zu denken. Statt dessen ging der Zarismus 1816 dazu über, Militärkolonien zu errichten, ein ausgeklügeltes System, in dem Staatsbauern im Alter von 18 bis 45 Jahren strengsten Militärdienst leisten mußten und zugleich mit ihren Familien die Wirtschaften zu besorgen hatten. Die Militärkolonien erfaßten insgesamt fast eine Million Menschen. Auf allerhöchste Anordnung errichtete der Vertraute des Zaren Graf A. A. Arakceev im ganzen Lande ein militärisch-despotisches Regime, das in die Geschichte unter dem Namen Arakceevtum eingegangen ist. Die reaktionäre Innenpolitik des Zarismus widerspiegelte sich in seiner Außenpolitik und entsprach in ihrem Wesen dem ganzen System der „Heiligen Allianz". Doch weder Arakceevtum noch „Heilige Allianz" konnten auf die Dauer die bürgerliche Entwicklung und die Freiheitsbestrebungen der Völker unterbinden. Bürgerliche Produktionsverhältnisse breiteten sich weiter aus und progressierten auch in Rußland. Die von England ausgehende industrielle Revolution hatte in Frankreich große Fortschritte gemacht, in Deutschland und in einer Reihe anderer Staaten in Europa und in Übersee bahnte sie sich an; und auch in Rußland kündigte der seit der Jahrhundertwende allmählich zunehmende Einsatz von Maschinen vor allem in der Leichtindustrie die gleiche Entwicklungsrichtung an. Und schließlich bewirkte der von den Regierungen ausgehende reaktionäre Druck einen revolutionären Gegendruck der Völker. Auf dieser Grundlage kündigte sich ein neuer Aufschwung der revolutionären Bewegung an. In verschiedenen Teilen Italiens aktivierten die Karbonari ihre Tätigkeit gegen die wiedereingesetzte Habsburger Dynastie sowie gegen die Bourbonen und die kleinen feudalen Splittermächte. In Spanien bildeten sich neue Geheimbünde. In England und Frankreich entwickelten Owen und Saint-Simon utopisch-sozialistische Ideen. An den deutschen Universitäten gerieten die Studenten in Bewegung. In Rußland widerspiegelte sich die allgemeine Unzufriedenheit am tiefsten in der Zunahme von Bauernunruhen. Bei der Einrichtung von Militärkolonien kam es zu Auflehnungen der davon Betroffenen. Viele fortschrittliche Offiziere quittierten aus Protest gegen das Arakceevregime demonstrativ den Militärdienst. Nach den Erinnerungen N. A. Bestuzevs begründete K. F. Ryleev wie folgt seinen Rücktritt aus der Armee: „Ich habe dem Vaterland gedient, als es den Dienst seiner Bürger brauchte und ich war nicht mehr gewillt, den Dienst fortzusetzen, als ich erkannte, daß ich nur den Launen eines selbstherrlichen Despoten dienen werde."58 V. F. Raevskij erklärte rückblickend: „Die eisernen blutigen Krallen Arakceevs machten sich schon überall bemerkbar. Der Dienst wurde schwer und verletzte das Ehrgefühl. Der grobe Ton der neuen Kommandeure und die erniedrigende Kriecherei vor den jungen Korpsoffizieren war widerlich . . . Im Dienst wurde kein Edelmut verlangt, sondern sklavische Gefügigkeit. Ich nahm meinen Abschied."59 In dieser Atmosphäre der Unzufrieden58 59

Vospominanija Bestuzevych, Moskau-Leningrad 1951, S. 10. P. E. Scegolev, Dekabristy, Moskau-Leningrad 1926, S. 13.

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heit und der gesellschaftlichen Gärung entstanden die ersten revolutionären Organisationen Rußlands. Fortschrittliche Vertreter des Adels schickten sich an, von der Verurteilung der Leibeigenschaft und des Despotismus zur revolutionären Tat überzugehen. Um die Verwurzelung der Dekabristenbewegung in der gesellschaftlichen Entwicklung der Zeit zu verstehen, muß man, wie es sich aus den bisherigen Ausführungen andeutet, einige allgemeine Erscheinungen dieser bewegten Epoche inner- und außerhalb Rußlands aufzeigen. Es handelte sich eben nicht um eng aufzufassende Äußerungen der Unzufriedenheit unter einigen adligen Offizieren und Intelligenzlern, sondern um tiefergreifende gesellschaftliche Prozesse, die in der Zersetzung der Feudalwirtschaft, der Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse, den Unruhen der Bauern ihren Grund hatten. Die Formierung der revolutionären Demokratie in Mittel- und Westeuropa war ein Prozeß, der durch Polizeiverfolgungen zwar gestört, aber nicht aufgehalten werden konnte. Alle Zensurbeschränkungen konnten nicht verhindern, daß die Nachrichten über die Weltbegebenheiten bekannt wurden. Die Gegenwart lieferte unaufhörlich neues Material, das Herz und Hirn der Zeitgenossen bewegte. Auf die Kunde von unterdrückten Bauernrevolten und Soldatenaufständen aus dem Inneren Rußlands folgten Nachrichten von Studentenbewegungen in Deutschland, von republikanischen Verschwörungen in Italien und Spanien. Aus Übersee erfuhr man, daß selbst die Kolonialsklaven begannen, ihre Ketten abzustreifen. Mit Argwohn verfolgten fortschrittlich gesinnte Adlige und Intelligenzler die Unterdrückungsaktionen der „Heiligen Allianz" und besonders die Tätigkeit der russischen Diplomatie, die so gar nicht den nationalen Interessen des russischen Volkes entsprach. Trotz Knebelung des geistigen Lebens hatten sich in Rußland verschiedene Lehranstalten zu Stätten liberaler Ideen entwickelt. Das Lyzeum von Carskoe Selo und die Moskauer Universität waren die wichtigsten. Eine Reihe fortschrittlicher Professoren vermittelten das neue bürgerliche Ideengut an die wißbegierige Jugend. Hervorragende Persönlichkeiten wie Puskin, Küchelbecker, Griboedov u. a. waren durch die Pforten dieser Lehranstalten gegangen. In heißen Diskussionen wurde Kritik an der Leibeigenschaft geübt, wurde darum gerungen, einen Weg in die Zukunft zu finden. Die Entstehung von Offizierszirkeln und später der ersten revolutionären Geheimgesellschaft in Rußland gerade in dieser Zeit und unter diesen gesellschaftlichen Verhältnissen ist deshalb alles andere als ein historischer Zufall gewesen. Es war eine gesetzmäßige Folge der Gegensätze der Zeit, die nach einer Lösung drängten. Auf der Tagesordnung der Weltgeschichte - und Rußland war davon nicht ausgeschlossen standen die Aufgaben der bürgerlichen Revolution. In ganz Europa und in mehreren überseeischen Ländern reifte, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, eine revolutionäre Situation heran. Doch in Rußland verlief dieser Prozeß langsamer und qualvoller als in Mittel- und Westeuropa und wies gleichzeitig einige Besonderheiten auf. „Die Feudalordnung mußte auf dem Territorium eines riesigen Landes zerbrochen werden, unter den Bedingungen einer seit langen Jahren fest verankerten Leibeigenschaft und eines starken zentralisierten selbstherrschaftlichen Staates und beim Nichtvorhandensein einer revolutionären Bourgeoisie."60 Unter den ausgebeuteten Klassen Rußlands fand sich zu Beginn des 19. Jh. ebenfalls keine gesellschaftliche Kraft, die in der Lage gewesen wäre, im Kampf gegen die Feudalordnung die Führung zu übernehmen. Die Bauernschaft kämpfte spontan und unorganisiert. Eine selbständige 60

M. V. Neckina, Dvizenie dekabristov, Bd. I, S. 80.

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Arbeiterklasse existierte nicht. Der Prozeß der Formierung des Proletariats als Klasse hatte erst begonnen, die Arbeiter ragten noch nicht als solche aus der Masse der übrigen Werktätigen heraus. Die Schwäche des russischen Bürgertums, das unter den Fittichen der Selbstherrschaft keine eigenen revolutionären Traditionen entwickelt hatte, und das Nichtvorhandensein einer anderen revolutionären gesellschaftlichen Kraft, trugen dazu bei, daß fortschrittliche Teile des Adels sich als erste für eine soziale Umgestaltung Rußlands einsetzten. Analoge Erscheinungen adliger revolutionärer Aktivität hat es in den antifeudalen Bewegungen vieler Länder gegeben, so in der Englischen Revolution des 17. Jh., in der revolutionären Bewegung in Spanien und besonders in der polnischen Befreiungsbewegung des 19. Jh. Rußland stellte in dieser Beziehung keinen Sonderfall dar. Die objektiv heranreifenden Aufgaben der historischen Entwicklung fanden in den fortschrittlichsten Vertretern des Adels ihre Widerspiegelung und zugleich ihre Träger. Im Februar 1816 gründeten die jungen Offiziere A. N. Murav'ev, N. M . Murav'ev und S. P. Trubeckoj die Geheimgesellschaft „Rettungsbund". Die Gesellschaft formierte sich endgültig mit dem Beitritt P. I. Pesteis im Herbst 1816. Nach kurzer Zeit umfaßte sie etwa 30 Mitglieder. Im organisatorischen Aufbau ähnelte der Bund dem von Weishaupt gegründeten Illuminaten-Orden. Einige Mitglieder der Gesellschaft hatten sich mit den Statuten des Tugendbundes befaßt, um daraus Anregungen zu erhalten. Als Pestel 1816 S. P. Sipov für den Eintritt in die Gesellschaft warb, berief er sich unter anderem auch auf das Beispiel des Tugendbundes. Nach einem von Pestel entworfenen Statut erhielt der Bund den Namen „Gesellschaft der wahren und treuen Söhne des Vaterlandes". Die Hauptziele waren: Beseitigung der Leibeigenschaft, Errichtung einer konstitutionellen Monarchie. Wenn über die Ziele der Gesellschaft in den Hauptzügen Einmütigkeit bestand, so war man sich hinsichtlich des Weges zu ihrer Verwirklichung im unklaren. Der Zarenmord wurde von der Mehrheit verworfen. Für die erste Zeit wurde lediglich empfohlen, die Ideen der Geheimgesellschaft zu propagieren. Die Schwäche der Organisation und die Unklarheit in taktischen Fragen veranlaßten die Mitglieder schließlich, die Gesellschaft aufzulösen und neue Wege zu suchen, um dem erstrebten Ziel näherzukommen. Nachfolger des „Rettungsbundes" wurde der von demselben Personenkreis Anfang 1818 gegründete „Wohlfahrtsbund". Unter Beibehaltung der Grundziele wurden einige wesentliche Änderungen vorgenommen. Vor allem war man bestrebt, der Organisation eine breitere Basis zu geben. Zu diesem Zwecke hatte man die Aufnahmebedingungen erleichtert und neben der zentralen Leitung örtliche Leitungen geschaffen. Die Geheimgesellschaft orientierte sich darauf, die öffentliche Meinung zu erobern, worunter man damals die Gesinnung der Mehrheit des Adels und der Adels- und Raznocincenintelligenz verstand. Dieser öffentlichen Meinung sprach man in Anlehnung an die Philosophie der Aufklärung eine gesellschaftliche Allmacht zu, unter deren Druck die erstrebten sozialen und politischen Veränderungen durchgesetzt werden sollten. Bis 1819 war die Zahl der Mitglieder auf 200 angestiegen und in Petersburg, Moskau, in der Ukraine und einigen anderen Städten und Gebieten gab es örtliche Leitungen. Sie versuchten, die Stimmung der Öffentlichkeit im Sinne des Bundes zu beeinflussen. Darüber hinaus war man bestrebt, Verbindungen zu Gesinnungsfreunden zu knüpfen, die in philanthropischen und literarischen Gesellschaften vereinigt waren. Von den letzteren ist vor allem die Petersburger literarische Gesellschaft „Grüne Lampe" zu nennen, in der auch Puskin wirkte. Nach Eroberung der öffentlichen Meinung sollten die örtli-

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chen Leitungen aus der Illegalität heraustreten und die Aktionen für den politischen Umsturz unterstützen. Um die öffentliche Meinung zu gewinnen und den Umsturz vorzubereiten, rechnete man mit einem Zeitraum von zwanzig Jahren, schob also die Realisierung der Ziele weit hinaus. Die Mehrheit der Mitglieder hielt es in der gegebenen politischen Situation für unmöglich, den Kampf zur Umgestaltung Rußlands zu beschleunigen. Die nachfolgende Entwicklung der Dekabristenbewegung vollzog sich jedoch viel stürmischer als die Mitglieder des Geheimbundes es ursprünglich beabsichtigt hatten. Auch der ideologische Reifungsprozeß machte qualitativ äußerst wichtige Fortschritte. Gerade diese Abweichungen von den ursprünglichen Plänen, die zu neuen Erkenntnissen und Aktionen führten, zeigen anschaulich die tiefe Verwurzelung der Dekabristenbewegung in ihrer Zeit, resultierten sie doch unmittelbar aus der sich ändernden politischen Situation in Europa. Seit 1818 kündigte sich in Europa, einschließlich Rußlands, eine neue Welle im antifeudalen und nationalen Befreiungskampf der Völker an, die von den Monarchen mit drakonischen Gegenmaßnahmen beantwortet wurde. Die allgemeine Lage war gekennzeichnet durch einen verschärften Kampf zwischen einer breiten gesellschaftlichen Bewegung für soziale und politische Freiheiten und den in der „Heiligen Allianz" vereinten Kräften der Reaktion. Am 17./18. Oktober 1817 hatten die Burschenschaften auf dem Wartburgfest öffentlich ihre Ziele proklamiert: Einheit Deutschlands, Souveränität des Volkes, Kampf den Adelsprivilegien, Kampf gegen die Leibeigenschaft. Im September 1818 verkündeten die Monarchen auf dem Kongreß der „Heiligen Allianz" in Aachen gleichsam als Antwort offen die Losung der bewaffneten Intervention zur Unterdrückung revolutionärer Bewegungen. Die Maßnahmen des Aachener Kongresses richteten sich in erster Linie gegen Frankreich, weil die Monarchen besonders in diesem Land neue Volksbewegungen befürchteten. Zugleich ließ Alexander I. auf dem Kongreß eine von ihm veranlaßte „Denkschrift über den gegenwärtigen Zustand Deutschlands" verteilen, in der die liberale Gärung in den gefährlichsten Farben geschildert und die Vision einer deutschen Revolution beschworen wurde. Harte Maßregeln, u. a. gegen die Pressefreiheit wurden empfohlen. Der Dekabrist M. A. Fonvizin brachte die Meinung vieler Adelsrevolutionäre zum Ausdruck, als er in einem 1823 publizierten Aufsatz über die Beschlüsse des Aachener Kongresses schrieb: „Das Hauptübel besteht in der Gewährung des Rechtes, sich in fremde Angelegenheiten einzumischen", denn „jede . . . Nation hat das unbestreitbare Recht, die ihr angemessene Regierungsform zu wählen, die Gesetze zu ändern und neue zu beschließen."61 Im Januar 1819 wurde in Spanien eine Verschwörung unter Oberst Quiroga niedergeschlagen, die sich die Aufgabe gestellt hatte, die bürgerliche Verfassung von 1812 wieder einzuführen. In Baden, Bayern und Württemberg erzwang die gesellschaftliche Bewegung eine verfassungsmäßige Beschränkung der königlichen bzw. großherzoglichen Macht. Im März 1819 tötete der Burschenschaftler Karl Sand den reaktionären Schriftsteller und Zarenagenten August Kotzebue. Die Tat galt sowohl der feudalen Reaktion in Deutschland, als auch ihrem mächtigen Verbündeten, dem zaristischen Rußland. Die Karslbader Beschlüsse lösten eine Verfolgungswelle aller liberal Gesinnten aus. 1820 wurde Sand hingerichtet. Seine Tat und sein Schicksal erregten die Gemüter 6)

M. A. Fonvizin, O povinovenii vysnej vlasti, in: Dekabristy. Sbornik, sostavil V. Orlov, Moskau-Leningrad 1951, S. 490.

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weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. In dem Gedicht „Der Dolch" feierte Puskin den Jüngling Sand als Märtyrer und wies auf die Gemeinsamkeit der Freiheitsbestrebungen in Deutschland und in Rußland hin. Im Januar 1820 entflammte in Spanien die Revolution- Die Aufständischen unter der Führung Riegos stellten die bürgerliche Verfassung von 1812 wieder her und ließen eine Volksvertretung wählen. Im Juli desselben Jahres brach die Revolution in Neapel und im August in Portugal aus. Es kam zu revolutionären Erhebungen in Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern. Ihrem Charakter nach handelte es sich um antifeudale Umwälzungen. Sie richteten sich gegen die Restauration der feudal-absolutistischen Ordnung und oft auch gegen fremdländische Unterdrückung. Die italienischen Revolutionäre kämpften für die nationale Einheit ihres Landes und gegen das österreichische Joch. Im März 1821 war in Piemont die Revolution ausgebrochen und kurz darauf hatten sich die Griechen gegen das türkische Joch erhoben. Aus Furcht vor der umsichgreifenden revolutionären Bewegung machte der Zar das Angebot, die österreichische Interventionsarmee durch 100 000 Mann russischer Truppen zu verstärken. Den griechischen Freiheitskämpfern versagte er gemäß den legitimistischen Prinzipien der „Heiligen Allianz" jegliche Hilfe. Auf dem Kongreß in Verona im Jahre 1822 verurteilte er die griechische Befreiungsbewegung und wies ihre Abgesandten zurück. Einige Zeit später machte er sogar den perfiden Vorschlag, drei griechische Kleinstaaten unter türkischer Oberherrschaft zu bilden. Damit hoffte er, die Türkei zu schwächen, ohne den Preis zahlen zu müssen: die Schaffung eines unabhängigen griechischen Nationalstaates. Die Nachrichten von den bewegenden Zeitereignissen in der Welt gelangten schnell nach Rußland, wo sie vor allem unter den um die Geschicke ihres Vaterlandes besorgten Adelsrevolutionären, die ihre Geheimgesellschaft ausbauten, lebhaft diskutiert wurden. Die Stellungnahmen fielen ziemlich eindeutig zugunsten der Freiheitsbewegungen aus, und noch viel eindeutiger wurden die Unterdrückungsaktionen der reaktionären Regierungen verurteilt. Die Heldentat Riegos und seine Hinrichtung entzündeten die Herzen der Dekabristen. A. Poggio und andere Adelsrevolutionäre begeisterten sich an seinen selbstlosen Taten fürs Vaterland. 62 K. F. Ryleev preist ihn in dem von Herzen unter dem Titel „Der Bürger" 1856 erstmals veröffentlichten Gedicht. 63 P. G. Kachovskij schrieb über die Geschehnisse in Italien und Deutschland: „Die Völker forderten das Versprochene, das ihnen Gehörende - und Ketten und Kerker wurden ihr Los. Die Gefängnisse Piemonts, Sardiniens, Neapels und überhaupt ganz Italiens und Deutschlands füllten sich mit in Fesseln geschlagenen Staatsbürgern . . . Das sind jene Fälle", schlußfolgerte der Adelsrevolutionär und sprach damit die Erfahrungen seiner Gesinnungsfreunde aus, „an denen sich der Verstand der Menschen schulte, und woran sie erkannten, daß die Völker mit den Zaren keine Verträge schliessen können."64 In der Griechenfrage bezogen die fortschrittlichen Vertreter Rußlands eine diametral entgegengesetzte Position als der Zarismus. A. S. Puskin, K. F. Ryleev und W. K. Küchelbecker grüßten begeistert das aufständische Griechenland: 62 63

64

Vosstanie dekabristov, Bd. XI, S. 73. K. F. Ryleev, Polnoe sobranie stichotvorenij, Leningrad 1971, S. 97; vgl. Poljarnaja zvezda na 1856 god, Nachdruck Moskau 1966, S. 26. Iz pisem i pokazanij dekabristov. Pod red. A. K. Borozdina, St. Peterburg 1906, S. 13.

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„O Freunde! Hellas' Söhne warten. Wer leiht uns Schwingen? Fliegen wir!" 65 rief Küchelbecker. In den Gedichten „An A. P. Ermolov" (1821), „Auf den Tod Byrons" (1824) und anderen sprach K. F. Ryleev seine Sympathien für die Freiheitskämpfer aus. Aus Puskins Lyrik dieser Jahre ist das Thema Griechenland nicht hinwegzudenken. In dem Gedicht „Du treue Griechin, weine nicht . . . " (1821) ehrt der Poet die Opfer für die gerechte, heilige Sache. In seinem Kisinever Tagebuch ist zu lesen: „Ich bin fest überzeugt, daß Griechenland triumphieren wird und die 2 500000 Türken das blühende Land Hellas den rechtmäßigen Erben Homers und Themistokles überlassen werden müssen."66 Als Mittler zwischen der freiheitsliebenden russischen und westeuropäischen Literatur betätigte sich W. K. Küchelbecker, der schon seit langem den Dekabristen nahestand und im Dezember 1825 aktiv am Aufstand auf dem Senatsplatz teilnahm. Küchelbecker war eng mit K. F. Ryleev, dem Führer des radikalen Flügels der Dekabristen in Petersburg, befreundet. 1820 hatte er Goethe und Tieck aufgesucht und mit ihnen Probleme der deutschen und russischen Literaturentwicklung erörtert. Aus dem Munde Küchelbeckers hörte man 1821 in Paris den ersten freien Bericht über das andere, das revolutionäre Rußland. In einer eindrucksvollen Rede wies er darauf hin, daß die flammenden Ideen der Zeit nicht nur von den Jünglingen beiderseits des Rheins verstanden würden, sondern auch an den Ufern der Neva und der Moskva. Als Antwort auf die verderbliche „Heilige Allianz" der Monarchen rief er die Revolutionäre Europas auf, ihre Kräfte zu vereinigen. Küchelbecker verurteilte ebenso wie andere Dekabristen die Eroberungspolitik des Zarismus, die mit den wahren Interessen des Volkes nichts gemein habe. „Die Russen", so sagte er, „werden der Geschichte andere Ruhmesblätter vererben als den Ruhm, Eroberer und Zerstörer zu sein."67 Die leidenschaftliche Parteinahme der Dekabristen für die revolutionären Bewegungen außerhalb Rußlands ist nicht nur, wie bereits hervorgehoben, als einfacher Widerhall auf diese Ereignisse zu verstehen. Sie ist vor allem darin begründet, daß in Rußland dieselben politisch-sozialen Grundaufgaben anstanden und trotz der relativen Stärke des spätabsolutistischen russischen Staates und harter Verfolgungen aller progressiven Kräfte ebenfalls ein gesellschaftlicher Aufschwung zu verzeichnen war. Nach der Großen Französischen Revolution und während der antinapoleonischen Befreiungskriege hatten sich in vielen europäischen und überseeischen Ländern „potenzielle Kräfte für einen revolutionären Ansturm angehäuft" 68 . Sie basierten auf den in dieser Periode in allen Sphären erstarkenden bürgerlichen Elementen und den Fortschritten des nationalen Selbstbewußtseins und Freiheitsstrebens der Völker, wovon bekanntlich auch Rußland nicht unberührt blieb. Nach 1815 verzeichnen wir eine neue Welle fortschrittlich-bürgerlicher Bewegungen, die zur weiteren Ausreifung einer viele Länder umfassenden revolutionären Situation führte. Während die Monarchen unter der Leitung des Zaren und Metternichs die revolutionäre Bewegung in Westeuropa bekämpften, mehrten sich auch in Rußland die antifeudalen Aktionen, vor allem unter den Bauern, den Arbeitsleuten und den Mili65 66 67 (!S

Zit. nach: O. B. Sparo, Osvobozdenie Grecii i Rossija, Moskau 1965, S. 109. A. S. Puskin, Polnoe sobranie socinenij v desjati tomach, Bd. 8, Moskau 1965, S. 17. Literaturnoe nasledstvo, Bd. 59, Moskau 1954, S. 380. M. V. Neckina, Dekabristy vo vsemirno-istoriceskom processe, in: Voprosy istorii, 1975, Nr. 12, S. 5.

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tärkolonisten. In den Jahren 1816 bis 1820 wurden auf dem Lande über hundert zum Teil recht ausgedehnte Unruhen registriert. Besonders lang und hartnäckig war die Bauernbewegung am Don von 1818 bis 1820. Die Zahl der Teilnehmer erreichte 45 000. Die Bauern verweigerten die Arbeit für die Gutsbesitzer, wählten eigene Anführer, traten den zaristischen Strafexpeditionen offen entgegen. Nur mit großer militärischer Übermacht konnte der Widerstand gebrochen werden. In einigen Fällen verschmolz die Bauernbewegung mit Unruhen unter den Arbeitsleuten der Manufakturen und Fabriken. Mehrere Aufstände brachen in den Militärkolonien aus. Der bedeutendste ereignete sich im Sommer 1819 in Öuguev. Die Kolonisten vertrieben die Vorgesetzten, forderten die Auflösung der Militärsiedlungen und die Rückgabe der von ihnen früher einzeln bearbeiteten Bodenteile. A. A. Arakceev leitete selbst die Unterdrückungsaktion. Er benötigte dafür 4 Infanterieregimenter und 18 Kavallerieschwadronen unterstützt von Feldartillerie. Der rücksichtslose Einsatz dieser Truppen führte zu einem Blutbad. Die Ereignisse von Öuguev riefen tiefe Empörung in der fortschrittlichen russischen Öffentlichkeit hervor. Im Oktober 1820 kam es in Petersburg zu Unruhen im Semenovregiment, einer der berühmtesten Formationen der Kaiserlichen Leibgarde. Der vom Zaren neueingesetzte Regimentskommandeur wollte in arakceevscher Manier „Ordnung" schaffen und praktizierte aller Art Schikanen und Spiegrutenlaufen. Nachdem eine Kompanie offen ihren Protest gegen die unmenschliche Behandlung vorgebracht hatte und dafür in die Kasematten der Peter-Paul-Festung geworfen worden war, erhob sich das ganze Regiment. Die Soldaten unterstützten den Protest ihrer Kameraden und verweigerten den Gehorsam. Am nächsten Tag gelang es, dieses Regiment zu entwaffnen und ebenfalls einzukerkern. Trotz des relativ harmlosen Verlaufs war die Regierung aufs äußerste beunruhigt, da sich herausstellte, dag die Forderungen der Soldaten in der ganzen Garnison begrüßt wurden und sogar eine Proklamation gegen den Zaren, die Selbstherrschaft und die Leibeigenschaft im Umlauf war. Eine ähnliche Gehorsamsverweigerung ereignete sich im Dezember 1821 im Kamcatka-Regiment der 16. Division. Zu Unruhen kam es in den Preobrazenskij- und Izmailovskij-Regimentern. Viel Aufsehen erregte auch die Strafsache des Dekabristen V. F. Raevskij, der im Februar 1822 verhaftet und wegen revolutionärer Agitation unter den Soldaten und angehenden jungen Offizieren angeklagt wurde. Raevskij hatte vor seiner Kerkerhaft die Abhandlungen „Über den Soldaten" und „Über die Sklaverei der Bauern und die Notwendigkeit einer baldigen Umgestaltung in Rußland" verfaßt, in denen er entschiedener als andere Dekabristen die Leibeigenschaft verurteilte. Die Nachricht von den Unruhen im Semenovregiment erreichte den Zaren auf dem Kongreß der „Heiligen Allianz" in Troppau, wo die Monarchen über Maßnahmen gegen die Revolution in Italien berieten. Die ganze innenpolitische Situation in Rußland, der Schock über die Semenovaffäre und die revolutionären Ereignisse in Westeuropa veranlaßten Alexander I., daß er außen- und innenpolitisch auf den letzten liberalen Schein verzichtete. Die Regierung verschärfte die ohnehin drückenden Zensurvorschriften. 1820 wurden mehrere fortschrittliche Professoren, unter ihnen der Statistiker, Geograph und Historiker K. I. Arsen'ev, der Statistiker K. F. Hermann, der Rechtswissenschaftler A. P. Kunicyn wegen Verbreitung der Lehren von Marat und Robespierre vor Gericht gezerrt. Besonders ereiferte sich der Obskurant M. L. Magnickij. Als Kurator des Kazaner Lehrkreises ordnete er an, daß selbst der Mathematikunterricht nach der christlichen Lehre zu erfolgen habe und naturwissenschaftliche Vorlesungen mit reli-

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giösen Handlungen zu verbinden seien. Besonders schwierig gestaltete sich die Lage fortschrittlicher Dichter. Mißtrauisch schnüffelte man in den neuen Werken Puskins herum und merzte in kleinlicher Weise alle irgendwie verdächtigen Stellen aus. A. S. Griboedovs „Verstand schafft Leiden" durfte weder gedruckt noch aufgeführt werden. Für politische Themen galten strenge Tabus. Der Gesinnungsterror gegen liberales Denken wurde ergänzt durch das Wüten der Geheimpolizei. Nicht nur das Ministerium des Innern, sondern auch Graf A. A. Arakceev und der Petersburger Generalgouverneur besaßen ihren eigenen Spitzelapparat. Klerikal-feudaler Gesinnungsterror, politische Verfolgungen Andersdenkender standen jedoch nicht nur in Rußland auf der Tagesordnung. Ein weiterer Hort der Reaktion und nationalen Unterdrückung war der Vielvölkerstaat Österreich, dem auch die junkerliche Regierung Preußens nach Kräften nacheiferte. Die gemeinsame Unterdrückung des polnischen Volkes durch Rußland, Preußen und Österreich bildete ein wichtiges Element des reaktionären Bündnisses dieser Staaten. Ähnlich wie Arakceev, aber mit etwas verfeinerten Methoden und internationalen Ambitionen, verfolgte Metternich die freiheitlichen Regungen der Völker. Und nicht nur das Habsburger Reich, sondern fast das ganze mittlere Europa wurde mit wohlwollender Duldung reaktionärer Monarchen zum Betätigungsfeld des österreichischen Kanzlers, der zugleich den Vorsitz im Deutschen Bund inne hatte. In mehreren deutschen Staaten, namentlich in Hessen und Hannover wurden nach 1815 in der Landwirtschaft erneut feudale Abhängigkeitsverhältnisse eingeführt. 1819 verbot der Bundestag die Burschenschaften, verfügte die Vorzensur für alle Zeitungen und Broschüren, setzte eine Zentrale Untersuchungskommission gegen fortschrittliche Persönlichkeiten ein. Das preußische Kabinett schränkte durch die Deklaration vom 29. Mai 1816 die Bauernbefreiung teilweise wieder ein. Die bürgerliche preußische Heeresreform wurde zur Festigung des Militarismus mißbraucht, nachdem man die progressiven Reformer aus den wichtigsten Ämtern vertrieben hatte. Die konservativen Regierungen anderer Länder verfolgten ebenfalls eine spätfeudale Restaurationspolitik im Sinne der Prinzipien der „Heiligen Allianz". Nach der Ermordung des Herzogs von Berry begann in Frankreich eine Welle wütender Verfolgungen gegen die erstarkenden bürgerlichen Liberalen. Karl X. schlug den Kurs der Klerikalisierung und der Entschädigung der Emigranten ein. In Spanien bildeten die Klerikalen 1821 die Junta Apostolica und führten den Kampf gegen die Revolution als einen Glaubenskrieg. Im zersplitterten Italien ging die Feudalrestauration noch weiter als in den übrigen Ländern. In Piemont, Sardinien und anderen Teilstaaten wurden erneut die Adelsprivilegien eingeführt. Beim Militär und im Staatsdienst galten wiederum die alten Rangeinstufungen. Die am „Code civil" sich ausrichtenden Gesetze wurdten aufgehoben. Sowohl im Hinblick auf die antifeudalen Bewegungen als auch auf die Gegenmaßnahmen der Regierungen sind im Westen und im Osten Europas somit deutliche Parallelen wahrnehmbar. Hier wie dort zeitigte die Reaktion bedeutende Teilerfolge, wenn sie auch nirgendwo imstande war, die ingesamt progressive Tendenz der historischen Entwicklung dauerhaft aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen. Der Aufschwung der gesellschaftlichen Bewegung in Rußland erlangte allerdings nicht denselben Umfang wie in Westeuropa, so daß die revolutionäre Situation der zwanziger Jahre als gesamteuropäische Erscheinung auf russischem Boden nicht voll ausreifte. Das mußte sich zwangsläufig auf die Dekabristenbewegung, auf ihre revolutionäre Konsequenz und zugleich ihre Beschränktheiten auswirken. 9

Klassenkampf

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Die stürmischen Ereignisse außerhalb der russischen Grenzen, aber insbesondere die Zuspitzung der Lage im eigenen Lande, die Bauernbewegung am Don, die Unruhen in den Militärkolonien zeigten den Adelsrevolutionären, daß ihr Plan einer langsamen Gewinnung der öffentlichen Meinung von der Geschichte selbst überholt wurde. Die Erfahrungen bewiesen außerdem, daß die Mittel reiner Propaganda nicht ausreichten. Eins wurde vor allem immer klarer: welche Verbitterung über das Terrorregime Arakceevs auch herrschte, welche flammenden Gedichte man gegen die Selbstherrschaft auch schrieb - damit allein war die Leibeigenschaft nicht zu vernichten. In dieser Atmosphäre gesellschaftlicher Gärung in Rußland und im Ausland fand Anfang 1820 in Petersburg eine Sitzung der Hauptleitung des „Wohlfahrtsbundes" statt. Pestel hielt einen Vortrag, in dem er die republikanische Regierungsform der monarchistischen gegenüberstellte. Im Ergebnis der Diskussion wurde von der Mehrheit als Ziel beschlossen, die Selbstherrschaft in Rußland zu stürzen und die republikanische Ordnung zu errichten. Der politische Umsturz sollte durch eine Militärrevolution erreicht werden. Die Zielsetzung, in Rußland die Republik zu errichten, stellte eine neue Qualität in der ideologischen Evolution der Adelsrevolutionäre dar. Der Übergang von der einfachen Aufklärungsarbeit zur Taktik der Militärrevolution war gleichfalls ein wesentlicher Schritt nach vorn. Allerdings war die Idee einer Militärrevolution selbst wieder Ausdruck für die Klassenbeschränktheit der Adelsrevolutionäre: der revolutionäre Umsturz im Interesse des Volkes sollte ohne Beteiligung des Volkes vollzogen werden. Das rücksichtslose Vorgehen der Reaktion gegen die Volksbewegungen inner- und außerhalb Rußlands war einer der Hauptgründe, warum die Mehrheit der Dekabristen sich für die Republik als die künftige Regierungsform in Rußland entschied. Die blutige Unterdrückung der Revolution, die Einkerkerung und Hinrichtung von Freiheitskämpfern, die Verfolgung der liberalen Presse ließen es offenkundig werden, daß die Monarchen alles daran setzten, das Volk in Unmündigkeit zu halten, seine Rechte zu beschneiden und bereits erkämpfte demokratische Errungenschaften wieder rückgängig zu machen. Die Haltung der europäischen Konterrevolution hat nach Pesteis Worten entscheidend dazu beigetragen, die Evolution seiner republikanischen Auffassungen voranzutreiben. „Die Ereignisse in Neapel, Spanien und Portugal", schrieb er, „lieferten mir den unbestreitbaren Beweis der Labilität monarchistischer Verfassungen und völlig ausreichende Gründe dafür, mißtrauisch gegenüber einem sogenannten ehrlichen Einverständnis der Monarchen mit den von ihnen angenommenen Verfassungen zu sein. Die letzteren Überlegungen festigten maßgeblich meine republikanische und revolutionäre Denkweise." 69 Auch die übrigen Adelsrevolutionäre erkannten in ihrer Mehrheit auf Gi%nd der historischen Erfahrungen, daß die konstitutionelle Monarchie nicht ausreicht, um die Rechte und Freiheiten der Staatsbürger dauerhaft zu sichern, geschweige denn sie weiter auszubauen. Der zaristische Despotismus bot in dieser Beziehung erst recht keine Gewähr, Hoffnungen keimen zu lassen. Die monarchistischen Illusionen unter den Adelsrevolutionären verloren deshalb gerade seit Beginn der zwanziger Jahre zusehends an Boden, wenngleich sie bis zum Dezemberaufstand 1825 nie völlig verschwanden und bei einzelnen Dekabristen sogar weiterhin vorherrschten. Die Taktik der Militärrevolution, zu der sich die Dekabristen durchgerungen hatten, hing gleichfalls aufs engste mit den politischen Ereignissen dieser Jahre zusammen. In die Zeit nach der Petersburger Sitzung des „Wohlfahrtsbundes" fallen die bereits er69

Vosstanie dekabristov, Bd. IV, Moskau-Leningrad 1927, S. 91.

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wähnten Unruhen im Semenovregiment. Diese Vorgänge, die brodelnde Unzufriedenheit unter den Militärkolonisten sowie die Teilerfolge der Militäraufstände in Spanien und Italien schienen den Revolutionären einen Fingerzeig zu geben, welcher Weg beschritten werden könne, um die Ziele des Geheimbundes zu verwirklichen. V. L. Davydov und P. N. Svistunov bestätigen, daß die Mitglieder des „Wohlfahrtsbundes" in den Diskussionen sich oft auf die spanische Revolution und andere ähnliche Ereignisse bezogen, um die Zweckmäßigkeit eines Militäraufstandes zu begründen.70 Der Übergang der Dekabristen zur Taktik der Militärrevolution läßt sich mit annähernder Genauigkeit auch aus den Tagebuchaufzeichnungen von N. I. Turgenev ablesen, den die Idee eines Militäraufstandes schon früher beschäftigte. Am 24. März 1820, nach dem Eintreffen der Nachricht vom Sieg der spanischen Revolution, notierte er in beziehungsreicher Weise: „Ruhm dir, du prachtvolle spanische Armee! Ruhm dem spanischen Volke! . . . Vielleicht wird Spanien den Nachweis über etwas erbringen, was wir bis jetzt als unmöglich hielten."71 Einen Tag später, am 25. März 1820, vermerkt P. Ja. Öaadaev unter Bezug auf die spanischen Ereignisse in einem Brief an seinen Bruder: „Das ist ein hervorragendes Argument zugunsten der Revolutionen. In all' dem ist etwas enthalten, was uns sehr nahe angeht."72 Lebhaftes Interesse zeigten die Adelsrevoluüonäre, wie bereits ausgeführt, für den griechischen Befreiungskampf, dem sie besondere Sympathien entgegenbrachten. Einer der Gründe bestand darin, daß er eng mit dem Wirken von Geheimgesellschaften verknüpft war. Die führende revolutionäre Organisation der Griechen am Vorabend des Aufstandes, die „Philike Hetairia" („Gesellschaft der Freunde") war 1814 von griechischen Patrioten auf russischem Boden in Odessa gegründet worden. Sie hatte maßgeblichen Anteil an der Auslösung der griechischen nationalen Befreiungsbewegung. Die Adelsrevolutionäre P. I. Pestel, M . F. Orlov, V. F. Raevskij, K. A . Ochotnikov und andere unterhielten in Odessa und Kisinev Kontakt mit den griechischen Revolutionären, namentlich mit den Gebrüdern Ypsilanti. Pestel weilte 1821 dreimal als Kundschafter in den vom Aufstand erfaßten Gebieten der Moldau, wo auch die griechische Freiheitsschar unter A. Ypsilanti operierte, und machte sich mit der Organisation der „Hetairia" und dem Verlauf der Kampfhandlungen vertraut. Er sammelte alle erreichbaren Proklamationen A . Ypsilantis an das griechische Volk und übergab sie an P. S. Puscin, einem aktiven Adelsrevolutionär, um sie ins Russische zu übersetzen. In Kisinev, Tul'cin, Tiraspol', Odessa, Kiev, aber auch Moskau und Petersburg wurden diese Proklamationen im Kreise der Dekabristen und anderer mit dem griechischen Befreiungskampf Sympathisierender lebhaft beraten.73 Obwohl über den konkreten Verlauf der Diskussionen nur spärliche Angaben bekannt sind, ist doch so viel klar, daß die Dekabristen dem griechischen Befreiungskampf aus vollem Herzen zustimmten, über die revolutionäre Taktik der Griechen jedoch heftig untereinander stritten und sie verschiedenartig bewerteten. Im Unterschied zu Pestel, der den Massencharakter der „Hetairia" nicht nur erkannte, sondern auch zu würdigen verstand, schätzte S. I. Murav'ev-Apostol den Kampf der griechischen Patrioten fälschlich als einen engverschwörerischen Aufstand ein, bei dem „der eiserne Wille einiger Personen" genügte „um das zersplitterte und durch drei Jahrhun-

70

M. V. Neckina, Revoljucija napodobie ispanskoj, in: Katorga i ssylka, 1931, Nr. 10.

71

N. I. Turgenev, Dnevniki i pis'ma, Bd. III, Petrograd 1921, S. 223, 226.

72

V. I. Semevskij, Politiceskie i obscestvennye idei dekabrdstov, St. Peterburg 1909, S. 244.

73

O. B. Sparo, Osvobozdenie Grecii, S. 103.

9*

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derte der Sklaverei niedergedrückte Volk zur Wiedergeburt zu bringen." 74 Die hier zum Ausdruck kommende Voreingenommenheit gegenüber der griechischen Befreiungsbewegung als einer aus den gesellschaftlichen Verhältnissen des Landes entspringenden echten Volksrevolution ist in einigen Abstufungen für alle Dekabristen typisch und zeugt von der adligen Klassenbeschränktheit dieser für das Volk einretenden, aber von ihm gelösten Revolutionäre. Auch Pestel vermochte es nicht, aus dem Massenkampf des griechischen Volkes, den er bewunderte, weiterführende Schlußfolgerungen für die Organisierung des Kampfes zum Sturz der russischen Selbstherrschaft zu ziehen. Insgesamt trug jedoch der griechische Befreiungskampf ähnlich wie die revolutionären Ereignisse in Westeuropa, Lateinamerika und die Unruhen in Rußland zur Radikalisierung der Ansichten vieler Dekabristen bei. Die Dekabristen und ihre Gesinnungsfreunde beriefen sich in ihrer revolutionären Agitation wiederholt auf den Freiheitskampf der griechischen Patrioten, wobei sie nicht selten die sozialen Zustände des unter türkischem Joch schmachtenden Griechenland mit denen in Rußland verglichen. Mit Bitternis vermerkte N. I. Turgenev: „Viele unserer Bauern haben es unter den Gutsbesitzern nicht besser als die Griechen unter den Türken." 75 Daß solche Vergleiche nicht dazu angetan waren, die russischen Adelsrevolutionäre mit dem Zarismus und dem Leibeigenschaftssystem zu versöhnen, dürfte außer Zweifel stehen. Die bewegenden Nachrichten aus den griechischen Aufstandsgebieten versetzten die Vertreter des fortschrittlichen Rußland ohnehin immer mehr in einen Zustand revolutionärer Bereitschaft und Entschlossenheit. Die weite Verbreitung der patriotischen Militärhymne der Griechen in Rußland, die als „Griechische Marseillaise" unter dem Publikum kursierte, ist dafür nur ein Symptom. „In der erhitzten Situation der Jahre vor dem Dezemberaufstand klang die „Griechische Marseillaise' in Rußland wie eine revolutionär zugespitzte poetische Proklamation."76 Die Diskussionen über die einzuschlagende Taktik nahmen in dieser Stimmungslage unter den Dekabristen immer konkretere Formen an, und an den Fragen Republik, Zarenmord, konstitutionelle Monarchie schieden sich die Mitglieder des „Wohlfahrtsbundes" in mehr oder weniger Gemäßigte und in Radikale. Die Annahme eines republikanischen Programms und einer neuen, auf den Militäraufstand orientierten Taktik, machte eine Reorganisation des Geheimbundes notwendig. Als die gemäßigten Elemente 1821 ein deutliches Mißbehagen gegenüber den republikanischen Forderungen zeigten, wurde der Beschluß gefaßt, den „Wohlfahrtsbund" aufzulösen. Auf diese Weise konnte man sich am besten von den schwankenden und unzuverlässigen Elementen trennen. Die Auflösung des „Wohlfahrtsbundes" war demnach nicht das Ende der Geheimgesellschaft der adligen Revolutionäre, sondern ein bedeutsamer Schritt für die Fortsetzung ihrer Tätigkeit in neuen Formen. Die neue Organisation wurde in der Folge zweigeteilt: in einen „Nordbund" mit dem Zentrum in Petersburg und in einen „Südbund" im Bereich der Garnisonen der 2. Armee in der Ukraine. Beide Bünde stellten nichtsdestoweniger ein Ganzes dar und waren darauf ausgerichtet, eng koordiniert zusammenzuwirken. Die Bildung von zwei Schwerpunkten diente lediglich praktischen Bedürfnissen eines beweglichen, operativen Vorgehens und brachte bereits zum Ausdruck, wo die Dekabristen ihre Hauptschläge gegen die 71

75 76

Zit. nach: B. E. Syroeckovskij, Balkanskaja problema v politiceskich planach dekabristov, in: Ocerki iz istorii dvizenija dekabristov, Moskau 1954, S. 210. N. I. Turgenev, Dnevniki i pis'ma, Bd. III, Petrograd 1921, S. 279. O. B. Sparo, Osvobozdenie Grecii i Rossija, Moskau 1965, S .105.

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Selbstherrschaft anbringen wollten: in der Hauptstadt des Russischen Reiches und im Bereich einer der wichtigsten Armeegruppierungen. Die Ideologie der Dekabristen hatte damit einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht, hatte die entscheidende Wende in den langen Jahren ihrer Herausbildung und Reifung vollzogen. Sie hatte in den wichtigsten Punkten jene Gestalt angenommen, wie sie kurz darauf in den Programmschriften der Adelsrevolutionäre und vor allem in der „Russkaja Pravda" Pesteis ihre Widerspiegelung fand. Von 1822 bis 1825, den letzten Jahren vor dem Aufstand, berieten und konkretisierten die Dekabristen in mehreren Sitzungen des Süd- und des Nordbundes ihre Auffassungen von der künftigen Gestaltung Rußlands und dem Weg dorthin. In den Diskussionen nach 1822 ging es im wesentlichen darum, diese Position zu präzisieren und sämtliche Mitglieder der Geheimgesellschaft für sie zu gewinnen. Das ist umso bedeutungsvoller, als es der internationalen Reaktion gelungen war, die revolutionären Kräfte in Mittel- und Westeuropa vorübergehend zurückzuschlagen, und das Terrorregime Arakceevs in Rußland alle fortschrittlichen Regungen zu unterdrükken versuchte. „Wenngleich jetzt in Europa Grabesstille herrscht, so ist dies das Schweigen eines Vesuv"77, charakterisierte K. F. Ryleev die Lage und brachte damit gleichzeitig die Entschlossenheit der Adelsrevolutionäre zum Ausdruck, das von ihnen selbst erarbeitete Programm zu verwirklichen. Umso höher ist es zu bewerten, daß in dieser Situation eine förmliche Abstimmung über die Hauptprinzipien der „Russkaja Pravda" unter den Mitgliedern des „Südbundes" stattfand und sie sich einmütig für die Abschaffung der Leibeigenschaft, den Sturz der Selbstherrschaft, die Beseitigung des Zaren, die Errichtung der Republik etc. entschieden. Die Beständigkeit in der Verfolgung einmal gesteckter Ziele trotz des Abebbens der revolutionären Bewegung in Mittel- und Westeuropa stellt einen weiteren Beweis für die primär innerrussische Verwurzelung des Dekabrismus dar. N. M. Murav'ev, der aktiv an der Schaffung des „Nordbundes" auf republikanischen Grundlagen beteiligt gewesen war, bezog unter dem Eindruck des vorübergehenden Rückschlags der revolutionären Bewegung in seinem Entwurf einer Verfassung gemäßigtere, konstitutionell-monarchistische Auffassungen. Die „Konstitucija" Murav'evs ist jedoch nicht als offizielles Dokument des „Nordbundes" zu bewerten. Über sie erfolgte keine Abstimmung, wie über die „Russkaja Pravda". In Petersburg gruppierte sich um K. F. Ryleev, E. P. Obolenskij, die Gebrüder Bestuzev ein starker radikaler Flügel, der im republikanischen Sinne gegen die Halbheiten der „Konstitucija" Murav'evs auftrat. Wenn, wie oben hervorgehoben, nach 1822 die programmatischen Positionen der Dekabristen im wesentlichen unverändert blieben, so bedeutet das keinesfalls einen Stillstand der ideologischen Evolution der russischen Adelsrevolutionäre. Bis zum Tage des Aufstandes suchten sie nach besseren Lösungswegen der revolutionären Umgestaltung Rußlands, weshalb sie die revolutionäre Bewegung in aller Welt weiterhin aufmerksam verfolgten. Die Niederlagen der europäischen Revolutionen wurden nunmehr Gegenstand kritischer Betrachtungen und eröffneten ihnen manch neue Einsichten. Als im November 1823 die führenden Köpfe des „Südbundes" über die Lehren der spanischen Revolution berieten, beschlossen sie, das verderbliche Beispiel Spaniens, den König nicht unschädlich gemacht zu haben, in Rußland zu vermeiden. Zu ähnlichen Schlüssen gelangte man im „Nordbund". Der Dekabrist D. I. Zavalisin erklärte: „Die 77

K. F. Ryleev, Polnoe sobranie socinenij, Moskau-Leningrad 1934, S. 186 f.

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Spanier haben unklug gehandelt, als sie den Versprechungen Glauben schenkten und den König aus ihren Händen ließen." 78 In den letzten Jahren vor dem Aufstand machten sich unter einem Teil der Dekabristen gewisse demokratische Tendenzen bemerkbar. So wurden erste Versuche der Agitation unter den Soldaten unternommen, wie es das Wirken V. F. Raevskijs und der vor der Mannschaft verlesene „Rechtgläubige Katechismus" S. I. Murav'ev-Apostols beweisen. Einen bedeutenden Schritt weiter ging K. F. Ryleev. Nach den Aussagen von D. I. Zavalisin hielt er einen rein militärischen Aufstand ohne Unterstützung breiterer Volkskreise für wenig zweckmäßig. „Man muß natürlich die militärische Macht auf seiner Seite haben", erklärte er, „doch den Umsturz muß die Bürgerschaft vollziehen, nur dann wird er von Bestand sein." 79 Insbesondere in der dem „Südbund" nahestehenden „Gesellschaft der vereinten Slawen" wurde die Meinung vertreten, ohne Hilfe des Volkes können revolutionäre Veränderungen nicht dauerhaft gesichert werden. 80 Als die russischen Adelsrevolutionäre durch die unvorhergesehenen Umstände des Thronwechsels am 14. Dezember 1825 in Petersburg und einige Tage darauf im Süden Rußlands kurzentschlossen zu den Waffen griffen und der Aufstand blutig niedergeschlagen wurde, fand auch die nichtabgeschlossene ideologische Evolution der Dekabristen ein jähes Ende. Dieses Nichtvollendetsein und diese ständige Höherentwicklung bis zum bitteren Schluß gilt es besonders zu berücksichtigen bei der Würdigung der Dekabristenbewegung als Bestandteil der russischen und der internationalen revolutionären Bewegung. Auch wenn eine gewaltsame Unterbrechung erfolgte - wichtig ist die historisch bedingte Entwicklungstendenz, die über das direkte Ende dieser konkreten Bewegung hinaus weist. Die ganze Geschichte der Dekabristenbewegung und die letzten Jahre vor dem Aufstand haben diese Tendenz bestätigt. Die Ansichten der Mehrheit der Adelsrevolutionäre, auch derjenigen des Nordbundes, evolutionierten in den Jahren von 1822 bis 1825 eindeutig in Richtung der Programmforderungen der „Russkaja Pravda" Pesteis und gingen teilweise darüber hinaus. Diese Tendenz in der ideologischen Evolution der Dekabristen hatte ihre tieferen Ursachen in den ungelösten gesellschaftlichen Aufgaben in Rußland und in der übrigen Welt, die trotz Unterdrückung der freiheitlichen Bestrebungen der Völker nicht aus der Welt geschafft werden konnten. Dazu hatten wie in dem vorliegenden Aufsatz kurz aufgezeigt - die Ereignisse der Jahrzehnte seit der Großen Französischen Revolution und vor allem die ökonomisch-politischen Zustände und die sozialen Unruhen in Rußland selbst sowie die revolutionären Bewegungen in Spanien, Italien, Deutschland, Frankreich, Griechenland und in Übersee, die eine spezifische Entwicklungsphase in der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus ausmachten, maßgeblich beigetragen. Die Dekabristen, die Ausformung ihrer Ideologie, ihre historische Bedeutung sind nur in diesem internationalen Gesamtzusammenhang des Zeitalters zu verstehen. 78

79 80

Zit. nach: O. V. Orlik, Zapadnoevropejskie revoljucii 20-ch godov XIX v. i dekabristy, in: Voprosy istorii, 1975, Nr. 11, S. 147. Zit. nach ebenda, S. 146. Vgl. M. V. Neckina, Dekabristy, Moskau 1975, S. 102.

V A L E N T I N IVANOVIC N E U P O K O E V

Die Bauernbewegung in Rußland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Gegen Ende des 18. Jh. begann in Rußland der Zerfall der Feudalordnung; kapitalistische Verhältnisse entwickelten sich im Schöße der alten Ordnung. In der ersten Hälfte des 19. Jh. zeigte sich immer deutlicher das Mißverhältnis zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den überholten Leibeigenschaftsverhältnissen; die herrschende Feudalordnung wurde immer mehr untergraben. 1 Die sich im zweiten Viertel des 19. Jh. verschärfende wirtschaftliche und politische Krise mündete in der revolutionären Situation der Jahre 1859 bis 1861 und der Aufhebung der Leibeigenschaft. V. I. Lenin schrieb: „Die Verordnung vom 19. Februar ist eine der Episoden in der Ablösung der auf Leibeigenschaft beruhenden (oder feudalen) Produktionsweise durch die bürgerliche (kapitalistische) Produktionsweise-"2 Die Bauernbewegung war die am deutlichsten hervortretende Erscheinung der Zersetzung und der Krise der Feudalordnung und einer der entscheidenden Faktoren für die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland. Gegen die Leibeigenschaft bildete »die Bauernschaft als Ganzes" 3 eine geschlossene Front. Die allseitige Erforschung der Rolle der Bauernbewegung für den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus gehört zu den außerordentlich wichtigen Errungenschaften der sowjetischen Geschichtsschreibung. In der Bauernbewegung der ersten Hälfte des 19. Jh. sind drei Perioden erkennbar: die Zeit vom Ende des 18. Jh. bis zum Aufstand der Dekabristen ( 1 7 9 6 - 1 8 2 5 ) ; die Zeit vom Dekabristenaufstand bis zum Ende des Krimkrieges ( 1 8 2 6 - 1 8 5 5 ) ; die Jahre unmittelbar vor der Aufhebung der Leibeigenschaft (1856-1860). Die Grundlage für diese Periodisierung bilden jene sozialen und politischen Prozesse, die durch die Zersetzung und Krise der Feudalordnung sowie die verstärkte Aktivität der Bauernschaft bedingt waren, wobei immer deutlicher die allgemeine Aufgabe des Klassenkampfes im Dorf hervortrat. Mit jeder neuen Etappe wurde eine höhere Qualität erreicht, kam man näher an das Hauptziel des Befreiungskampfes heran. In den folgenden Ausführungen werden nur einige wichtige Fragen der Bauernbewegung in der Periode der Zersetzung und der Krise der Feudalordnung in Rußland erörtert. Erstrangige Bedeutung kommt den Forderungen und den Zielen der Bauern in der Schlußphase des antifeudalen Kampfes zu. Die sowjetische Geschichtsschreibung untersucht die Forderungen der Bauern sowohl in Hinblick auf die Lage der verschiedenen Kategorien der Bauern (Guts-, Staats- und 1

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Vgl. N. M. Druzinin, Einleitung zu dem Dokumentenband: Krest'janskoe dvizenie v Rossii v 1796-1825 gg., Moskau 1961, S. 6. W. I. Lenin, Zum Jubiläum, in: Lenin, Werke, Bd. 17, Berlin 1967, S. 94. W. I. Lenin, Das Agrarprogramm der russischen Sozialdemokraten, in: Lenin, Werke, Bd. 6, Berlin 1968, S. 102.

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Kronbauern), ihren ökonomischen Status, als auch in Hinblick auf die generelle Stoßrichtung der antifeudalen Bewegung und ihre objektive Bedeutung bei der Entwicklung der Feudalbeziehungen in kapitalistischer Richtung. Die unmittelbaren Forderungen der Bauern richteten sich gegen eine Verschärfung der feudalen Ausbeutung, gegen die Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage, gegen die Willkür der Gutsbesitzer sowie gegen den wachsenden fiskalischen Druck durch den feudalen Staat. Endziel des Kampfes der Bauern war die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Beseitigung des Großgrundbesitzes. Dieses Bestreben trat schon im 17. und 18. Jh. in den Bauernkriegen in Rußland deutlich hervor. V. I. Buganov, der sich mit diesem Problem befaßt hat, schrieb dazu: „Die Aufständischen forderten Land und Freiheit, die Liquidierung der Leibeigenschaft und ihrer Nutznießer, des Adels; sie kämpften um die Macht, an deren Spitze sie ihren guten Bauernzaren sehen wollten."4 In der ersten Hälfte des 19. Jh. zeichnete sich die allgemeine Zielstellung des Befreiungskampfes noch deutlicher ab, die Bewegung gewann an Bewußtsein und an organisatorischer Festigkeit.5 Die Bauernbewegung erreichte ein höheres Niveau und übte immer stärkeren Einfluß auf alle sozialökonomischen Prozesse und auf die gesellschaftliche Entwicklung des Landes aus. V. I. Buganov bemerkt hierzu: „Im Vergleich zu den Bauernkriegen bedeutet die revolutionäre Bewegung des 19. Jh. einen Qualitätssprung in der Entwicklung des Klassenkampfes, der sich durch bestimmte politische Theorien und gewachsenes politisches Bewußtsein abhebt; kennzeichnend für diese Zeit ist das Vorhandensein philosophischer, theoretischer Konzeptionen für den Kampf um die neue Ordnung sowie verschiedener Formen einer wissenschaftlichen Ideologie, während im 17. und 18. Jh. für die Teilnehmer an den Bauernkriegen und an anderen Volksbewegungen nur von primitiven, unwissenschaftlichen, verworrenen und 'unklaren' ideologischen Vorstellungen die Rede sein kann." 6 Die Bauernschaft brachte bewußte Persönlichkeiten hervor, Fürsprecher der bäuerlichen „Dorfgemeinde", die bei Massenerhebungen und örtlichen „Unruhen" (bunt) die Führung übernahmen. 7 Unter ihnen befanden sich auch die Verfasser von Denkschriften und Projekten gegen die Leibeigenschaft, in denen der Gedanke von der Gleichheit aller Menschen mit der Forderung verbunden wurde, die Bauern zu befreien und nach der Zahl der Familienangehörigen und entsprechend den Abgaben und Leistungen (tjaglo) mit Land auszustatten.8 In offiziellen Dokumenten wird zugegeben, daß mit dieser Forderung der Bauern nach vollständiger Freiheit immer ihr Anspruch auf den gesamten Landbesitz der Gutsbesitzer verbunden war. Diese Forderungen entsprachen den Idealvorstellungen der Bauern über die Gesellschaftsordnung nach der Beseitigung der Feudalverhältnisse. In seinem Bericht an Nikolaus I. über das Echo, das das Gesetz vom 2. April 1842 über die dienstverpflichteten Bauern in der Bauernschaft fand, teilte der Chef der Gendarmerie Benckendorff mit, daß diese eine „irrige Auffassung" von der Freiheit hätte, daß sie mit diesem Wort die „Liquidierung der Rechte des Herrn * V. I. Buganov, Krest'janskie vojny v Rossii XVII-XVIII vv., Moskau 1976, S. 4. Vgl. M. A. Rachmatullin, Pod"em krest'janskogo dvizenija i reakcija saraoderzavija posle vosstanija dekabristov, in: Iz istorii ekonomiceskoj i obscestvennoj zizni Rossii, Moskau 1976, S. 169. c Buganov, Krest'janskie vojny, S. 220. 7 Vgl. Rachmatullin, Pod"em krest'janskogo dvizenija, S. 169. 8 Vgl. L. A. Kogan, Ideja ravenstva v russkom narodnom svobodomyslii vtoroj poloviny XVIII - nacala XX veka, in: Naucnye doklady vyssej skoly. Filosofskie nauki, 1964, H. 1, S. 99 ff.; Vesti o Rossii, „Povesf v stichach krepostnogo krest'janina", Jaroslavl' 1961. 5

Bauernbewegung in Rußland erste Hälfte 19. Jh.

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und die Erwerbung seines Eigentums und den Übergang aus der Macht der Gutsbesitzer in staatliche Verwaltung" verbände. 9 In der Denkschrift „Über die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland" (1846)10 führte der Innenminister Graf Stroganov aus, daß das Volk sich die „Freiheit" als „vollständige Anarchie und als die Abschaffung eines jeglichen Gehorsams" und als Befreiung „von jeglichen Leistungen" vorstelle, und daß es damit den Besitz von Land verbinde, denn ohne Land „könne es nicht existieren". „Solche Vorstellungen über die Freiheit oder das Freisein", schloß Stroganov seine Ausführungen, „sind im Volke verbreitet: Es handelt sich um unsinnige und entsetzliche Auffassungen". 1846 und 1848 erreichte die revolutionäre Welle die Westgrenzen des Russischen Kaiserreiches; die damals abgefaßten Berichte geben eindeutig Auskunft über die Vorstellungen der Bauern in Litauen, Belorußland und in der Ukraine westlich des Dnepr. 11 Die Bauern erklärten „der Boden, der Wald und alles, womit jetzt ihre Gutsbesitzer ausgestattet seien, werde ihnen gehören" 12 . Gedanken sozialer Gleichheit fanden unter den Bauern dieser Gebiete weite Verbreitung. Allerorts erklärten die Bauern, jetzt würden alle „gleich sein". In den offiziellen Berichten heißt es, daß unter den Bauern „kommunistische Ideen" Verbreitung finden und daß sich die Überzeugung festige, „der niedere Stand müsse den höheren unterdrücken und das Zentrum dieses Kreises der Menschheit" mit dem Zaren an der Spitze „liquidieren"13. Nach einer Inspektionsreise durch einige Gouvernements Rußlands im Jahre 1857 schrieb der neue Minister für Staatsdomänen M. N. Murav'ev, daß die Bauern die Freiheit auffassen „a) als vollständige und gänzliche Zügellosigkeit bei Einstellung aller Arbeiten und Zahlungen für den Boden; b) als unumschränkte Nutzung aller Ländereien der Gutsbesitzer, die ihrer Ansicht nach die Güter verlassen und in die Städte gehen müßten, da das Land nach Ansicht der Bauern ihnen und nicht den gegenwärtigen Besitzern gehöre; c) Einige sind sogar der Auffassung, daß sie dem Staate keine Steuern zu zahlen hätten; sie sagen, es werde vollständige Freiheit herrschen und sie würden die jetzt bestehenden von der Regierung eingesetzten Gerichtshöfe durch eigene Gerichte der Dorfgemeinden ersetzen"14. Die Bauernbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jh. zeichnete sich durch eine geistige Protesthaltung aus, die zur Herauskristallisierung sozialer Ideale der bäuerlichen Massen führte, sehr häufig im religiösen Gewände. A. I. Klibanov bemerkt dazu in einer Studie: „Der Kampf der Bauern gegen die Feudalordnung wurde nicht blindlings geführt; innerhalb sozial und historisch determinierter Grenzen trat er auch auf theoretischer Ebene in Erscheinung."15 In der Hinwen9

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Zentrales Archiv für Geschichte der Oktoberrevolution, Moskau (CGAOR), f. 109, 1 eksp., 1842, d. 80, c. 2, Bl. 77. Zentrales historisches Staatsarchiv, Leningrad (CGIA), f. 1180, op. 15, d. 148, Bl. 1-30. Vgl. CGAOR, f. 109, 4 eksp, 1846, d. 180; 1848, d. 110; Zentrales historisches Staatsarchiv der Litauischen SSR, Vilnius (CGIA LitSSR), f. 378, Politische Abteilung, 1846, d. 4; 1848, d. 250 u. 251; A. S. Nifontow, Rußland im Jahre 1848, Berlin 1954; V. I. Neupokoev, Kresfjanskie volnenija v pomescic'ej derevne Litvy nakanune ob"javlenija reskripta ot 20 nojabrja 1857 g. (1832-1857 gg.), in: Ucenye zapiski Vil'njusskogo gos. un-ta im. V. Kapsukasa, Serija obscestv. nauk, Bd. 1, 1954. Materialy dlja istorii krepostnogo prava v Rossid, Berlin 1872, S. 187. CGIA, f. 384, op. 4, 1848, d. 470 a, Bl. 17; CGIA LitSSR, f. 378, p/o, 1848, d.98,Bl.9u. 15; d. 251, Bl. 12. V. A. Fedorov, Padenie krepostnogo prava v Rossii. Dokumenty i materialy, Heft 1, Moskau 1966, S. 53 f. A. I. Klibanov, K charakteristike idejnych dvizenij v srede gosudarstvennych i udel'nych

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dung zum „guten" Zaren drückte sich das Bestreben der leibeigenen Bauern aus, sich im Kampfe gegen die Gutsherren und die Polizeiwillkür auf die Autorität und die Macht des Zaren zu stützen. Ch. Ch. Kruus, der unter diesem Gesichtspunkt den „naiven Monarchismus" der Bauern untersuchte, sah darin das Bestreben der Bauern, „im Kampfe gegen den Gutsbesitzer einen Bundesgenossen zu finden" 16 . Die Bauern betrachteten im Kampf um ihre Freiheit das ganze Land als ihr unantastbares Eigentum. 17 Diese Überzeugung der Bauern, die sich in langwierigen Kämpfen herausgebildet hatte, gewann während der revolutionären Situation entscheidenden Einfluß auf die Freiheitsvorstellungen der Bauern. Nach Ansicht von B. S. Okun' gehört es zu den Besonderheiten der Bauernbewegung dieser Zeit, „daß nicht nur um die 'Freiheit' sondern auch um das 'Land', und zwar nicht nur um das bäuerliche Anteilland, sondern in einer ganzen Reihe von Orten auch um das vom Gute bewirtschaftete Land gekämpft wurde" 18 , wobei der Kampf um den „Boden" nicht das bestimmende Ziel der Bewegung gewesen sei. B. G. Litvak vertritt die Auffassung, da ß „die klare Forderung nach Land erst nach Veröffentlichung der Reskripte des Zaren erhoben wurde" und daß in den Jahren der revolutionären Situation das Bestreben der Bauern, sich von den Gutsbesitzern zu befreien, mit dem Wunsche einherging, „das Anteilland für sich zu behalten" 19 . Objektiv kämpften die Bauern für die Umwandlung des feudalen Grundbesitzes in kleinbürgerlichen Besitz. Lenin hob hervor, daß das Streben der Bauern „alle alten Formen und Konventionen des Grundbesitzes zu zerschlagen, das Land zu säubern und an Stelle des Polizei- und Klassenstaates ein Gemeinwesen freier und gleichberechtigter Kleinbauern zu schaffen", sich nicht nur auf die jahrzehntelange Ruinierung „nach der Reform", sondern auch auf den jahrhundertelangen „Druck der Leibeigenschaft" bezog. 20 Die Bauernbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jh. weitete sich nicht zu einem Bauernkrieg mit einem gemeinsamen Führungszentrum aus. Dies besagt jedoch nicht, daß der Kampf gegen die Feudalordnung in Rußland gegenüber der vorhergehenden Etappe (17.-18. Jh.) nachgelassen hatte und schwächer geworden war. Ein charakteristisches Merkmal der Bauernbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jh. war die Vielfalt der Kampfformen und das unaufhörliche Anwachsen des Protestes der Bauern gegen die Leibeigenschaft. Die Geschichtsschreibung, die sich mit der Bauernbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jh. befaßt, betrachtet die „Unruhen" als Hauptform des Klassenkampfes auf dem Lande. Noch 1911 definierte I. I. Ignatovic den Begriff „Unruhen" (volnenie) folgen-



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krest'jan v pervoj treti XIX v„ in: Iz istorii ekonomiceskoj i obscestvennoj zizni Rossii, Moskau 1976, S. 167; vgl. ders., Narodnaja social'naja utopija v Rossii v XIX veke, in: Voprosy filosofii, 1972, Nr. 11. Ch. Ch. Kruus, in: Voprosy istorii 1963, Heft 10, S. 148. (Rezension zu: Ju. Ju. Kachk, Krest'janskoe dvizenie i krest'janskij vopros v Estonii v konce XVIII i pervoj cetverti XIX veka, Tallin 1962). Vgl. V. A. Federov, Trebovanija Krest'janskogo dvizenija v nacale revoljucionnoj situacii do 19 fevralja 1861 g., in: Revoljucionnaja situacija v Rossii 1859-1861 gg., Moskau 1960, S. 133 ff. Krest'janskoe dvizenie v Rossii v 1857 - mae 1861 g„ Moskau 1963, Vorwort S. 16. B. G. Litvak, Opyt statisticeskogo izucenija krest'janskogo dvizenija v Rossii XIX v., Moskau 1967, S. 16 u. 21. W. I. Lenin, Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution, in: Lenin, Werke, Bd. 15, Berlin 1968, S. 201 f.

Bauernbewegung in Rußland erste Hälfte 19. Jh.

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dermaßen: „Unter diesem Terminus verstehen wir die Widersetzlichkeit einer mehr oder minder großen Gruppe von Bauern gegen die Gutsbesitzer oder die Regierung, was juristisch gesehen eine Verletzung der die Leibeigenschaft regelnden Gesetze durch ganze Gruppen von Bauern darstellt. Dieser Widerstand äußerte sich in den verschiedensten Formen, bedeutete aber immer eine Störung der althergebrachten feudalen Abhängigkeitsverhältnisse auf dem Dorfe, dem Gute oder sogar in einem großen Bezirk." 2 ! Der Begriff „Unruhen" fand in der sowjetischen Geschichtsschreibung breite Anwendung. 22 Er wurde auch bei der Darstellung der Bauernbewegungen in anderen Ländern benutzt. 23 In neuester Zeit wird von sowjetischen Historikern eine Synthese der Bauernbewegung im 19. Jh. auf der Grundlage statistischer Angaben angestrebt. 24 In diesem Zusammenhang wird darüber diskutiert, welche Kriterien für solche generalisierende Zusammenfassung herangezogen werden können. N. N. Lescenko ist der Ansicht, daß bei der „quantitativen Bestimmung von Intensität und Formen der Bauernbewegung die Unruhe selbst als Meßwert dienen kann (wobei es notwendig ist, die Zahl der beteiligten Dörfer und der beteiligten Bevölkerung zu berücksichtigen)" 25 . Nach Ansicht B. G. Litvaks „überwand N. N. Lescenko die frühere Methode derartiger Berechnungen und ging darüber hinaus, indem er die Zahl der Ortschaften und die Einwohnerzahlen mit einbezog". Darin liege vor allem die Bedeutung seines Aufsatzes. 26 B. G. Litvak hält jedoch die „Unruhen" nicht für das Grundkriterium, an dem die Merkmale der Bauernbewegung abgelesen werden können. Er empfiehlt, der statistischen Berechnung „vergleichbare und genau bestimmbare Meßwerte" zugrunde zu legen; als solche festen und vergleichbaren Größen könnten die Begriffe „Siedlung" und „Gutsbesitzer" gelten. 27 Ferner sei es notwendig, sich mit den Teilnehmern der Unruhen (wenn entsprechende Angaben greifbar sind) und mit den Formen des bäuerlichen Vorgehens zu befassen. B. G. Litvak wendet sich entschieden gegen eine deskriptive Methode und bemerkt hierzu: „Selbst die glänzendste Schilderung höchst dramatischer Ereignisse dient nur zur Illustration und enthält kein Material für ernstzunehmende wissenschaftliche Verallgemeinerungen - für die aber jetzt die Zeit gekommen ist." 28 Ausgehend von dem mit statistischen Methoden gewonnenen Angaben für die Jahre 1855-1863 unterscheidet B. G. Litvak 48 Formen des Kampfes, die er in zwei Gruppen gliedert: erstens Handlungen, die nicht mit den feudalen Gesetzen kollidieren und zweitens Aktionen, die sich gegen die Gutsbesitzer und gegen die Re-

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I. I. Ignatovic, Krest'janskie volnenija, in: Velikaja reforma, Bd. 3, Moskau 1911, S. 42. - Dieser Terminus wird in Titeln von Aufsätzen und Monographien sowie in Überschriften einzelner Kapitel umfassender Arbeiten über die Bauern und die Agrargeschichte Rußlands in der ersten Hälfte des 19. Jh. häufig benutzt. Vgl. N. M. Druzinin, Gosudarstvennye krest'jane i reforma P. D. Kiseleva, Bd. 1, Moskau 1946, S. 299-475; Bd. 2, Moskau 1958, S. 456-524. 23 Vgl. Issledovanie krest'janskich dvizenij v sovremennom mire (s konca XVIII v. do nasich dnej). Svodnyj doklad, Moskau 1970. v ' Vgl. N. N. Lescenko, Metodika statisticeskogo izucenija razmacha i form krest'janskogo dvizenija, in: Ezegodnik po agrarnoj istorii Vostocnoj Evropy, Kiev 1962, S. 5 3 - 6 4 ; B. G. Litvak, Opyt statisticeskogo izucenija krest'janskogo dvizenija v Rossii XIX v„ Moskau 1967. 25 N. N. Lescenko, Metodika, S. 61. 20 Litvak, Opyt, S. 28. 27 Ebenda, S. 42. 23 Ebenda, S. 29. 2

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gieiung richten. 2 9 Der Begriff „Unruhen" ist verschwunden. B. G. Litvak läßt unberücksichtigt daß viele der von ihm genannten Kampfformen eng verbunden und in der Entwicklung zu betrachten sind (von der passiven Gegenüberstellung bis zur bewaffneten Empörung und zu Zusammenstößen mit Militärabteilungen); man darf sie nicht voneinander trennen. Wenn dies dennoch geschieht, dann machen die statistischen Berechnungen eine reale Einschätzung der Unruhen unmöglich. Die Lösung besteht unserer Auffassung nach darin, daß bei den Unruhen alle Formen des Kampfes, ihr Ausmaß und ihre Intensität zu berücksichtigen sind. Dabei muß man die mit Hilfe der statistischen Methode gewonnenen Angaben mit der Schilderung der Vorgänge und ihrer Wirkung auf die Gutsbesitzer und die Politik der Regierung in der Bauernfrage kombinieren. Für die erste Hälfte des 19. J h . sind unserer Auffassung nach die wichtigsten Formen des Kampfes: Massenbeschwerden der Bauern, die besonders für die westlichen Gouvernements kennzeichnend sind, Unruhen, Empörungen und lokale Aufstände, die Zusammenstöße mit Militärabteilungen zur Folge haben. Die höchste Form der Bauernbewegung, die zur Alltagserscheinung wurde und in den Jahren der revolutionären Situation sich zu einem allgemeinen Bauernaufstand auszuweiten drohte, war nach einem Ausspruch von Marx der „Partisanenkrieg" der Bauern gegen die Gutsherren. 3 0 B. G. Litvak bemerkt zu Recht, daß diese Feststellung von Marx „eine gründliche Erforschung aller Formen des Kampfes der Bauern um bessere Möglichkeiten zur Bewirtschaftung ihres Betriebes und aller Siege und Niederlagen als 'Partisanen' mit ihren Rückwirkungen auf die sozialökonomische Lage der Bauern voraussetzt" 3 1 . Diese Aufgabe kann nur dann gelöst werden, wenn die regionalen Archive ausgeschöpft und geeignete methodische Kriterien erarbeitet werden. Diese Aufgabe ist bisher noch nicht gelöst. Die ständig anwachsende Bauernbewegung erreichte in der Zeit sozialer und politischer Krisen sowie bei elementaren Katastrophen wie Epidemien und Hungersnöten einen Aufschwung. Nach neueren Angaben kam es im ersten Viertel des 19. J h . zu 1034, im zweiten Viertel bereits zu 1904 Protestäußerungen der Bauern. Von 1801 bis 1825 wurden in 147 von insgesamt 547 Aktionen der Bauern Militärabteilungen zur Unterdrückung eingesetzt (26 Prozent). Für das zweite Viertel lauten die entsprechenden Zahlen 1059 und 381 (36 Prozent). 3 2 Die Zahl der Unruhen im zweiten Viertel des 19. J h . erhöhte sich um 84 Prozent, die der Fälle, in denen Militär eingesetzt wurde, um 46 Prozent. Die Bauernbewegung nahm in den fünfziger Jahren des 19. J h . einen neuen bedeutenden Aufschwung. Sie bildete eine der wichtigsten Komponenten der revolutionären Situation der Jahre 1859 bis 1861. Während es im ersten Viertel des 19. J h . pro Jahr durchschnittlich zu 26 Unruhen kam und diese Zahl im zweiten Viertel auf 43 anstieg, wurden in den Jahren 1856 bis 1860 852 Unruhen bzw. 170 im Jahresdurchschnitt registriert. 3 3 Diese Angaben spiegeln nur das Anwachsen der Bauernbewegung wider, die tatsächliche Zahl der Unruhen lag beträchtlich höher, wie in 29 30 31

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Ebenda, S. 65 f. u. 115. Archiv Marksa i Engel'sa, Bd. XII, 1952, S. 14. B. G. Litvak, Sovetskaja istoriografija reformy 19 fevralja 1861 g., in: Istorija SSSR, 1960, Heft 6, S. 119. Vgl. Krest'janskoe dvizenie v Rossii v 1796-1825 godach. Sbornik dokumentov, Moskau 1961, S. 18: Krest'janskoe dvizenie v Rossii v 1826-1849 godach. Sbornik dokumentov, Moskau 1961, S. 817. Krest'janskoe dvizenie v Rossii v 1857 - mae 1861 gg., S. 736.

Bauernbewegung in Rußland erste Hälfte 19. Jh.

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zahlreichen Untersuchungen über die Entwicklung einzelner Regionen nachgewiesen wurde. Bereits am Ende des 18. Jh. (1796-1797) erfaßten die Unruhen 32 Gouvernements. Die Bauern lehnten es ab, sich den Gutsbesitzern unterzuordnen, und forderten, direkt der Staatsverwaltung unterstellt zu werden. Zur Unterdrückung der Unruhen wurden bedeutende militärische Kräfte eingesetzt. Ein heftiger Aufschwung der Bauernbewegung erfolgte während des Vaterländischen Krieges von 1812. Große Teile der Bauern nahmen aktiv an der patriotischen Bewegung zur Verteidigung des Vaterlandes teil, gleichzeitig kämpften sie jedoch auch gegen die Willkür der Gutsbesitzer und gegen den fiskalisch-polizeilichen Druck seitens des Staates.34 Nach Beendigung des Krieges begann die Restauration der ins Wanken geratenen Feudalordnung. Die Bauern warteten vergeblich auf ihre Freiheit, der Lohn für ihren patriotischen Einsatz blieb aus. In den Jahren 1817 bis 1820 schwoll die Bauernbewegung von neuem heftig an. 1818 bis 1820 brach ein Aufstand am Don aus, der ein weites Gebiet erfaßte. Die Zahl der Teilnehmer erreichte fast 45 000. In 256 Siedlungen wurde Militär eingesetzt. Die Triebkraft bildeten hier flüchtige Bauern, überwiegend Ukrainer, die von reichen Kosaken in feudale Abhängigkeit gezwungen worden waren. 33 Besonders dramatisch gestalteten sich die Aufstände in den Militärsiedlungen am Bug (1817-1818) und in Cuguev (1819); sie wurden mit unglaublicher Brutalität unterdrückt. 36 Im ersten Viertel des 19. Jh. dehnte sich die Bauernbewegung auf das ganze Territorium des Kaiserreichs aus. In den zentralen Industriegouvernements und in den von Nationalitäten bewohnten Gebieten Rußlands kam es zu Massenunruhen. Gegen die Leibeigenschaft und die despotische Willkür erhoben sich alle Kategorien der Bauern: Guts-, Staatsund Kronbauern. 37 Die Unruhen griffen auch auf die Armee über: In dem Jahrzehnt von 1815 bis 1825 kam es zu etwa 15 Soldatenerhebungen, die bedeutendste davon war der Aufstand des Semenovskij-Garderegiments. Auch die Erhebungen der Arbeiter nahmen größeren Umfang an, sie waren ein Bestandteil des allgemeinen antifeudalen Kampfes. Mit diesen Ausführungen ist das Anwachsen des Klassenkampfes bis zum Dekabristenaufstand skizziert. Das Programm der Dekabristen sah grundlegende sozialökonomische und politische Veränderungen in Rußland vor, wobei die Aufhebung der Leibeigenschaft im Vordergrund stand. Die Bauernbewegung im ersten Viertel des 19. Jh. trug wesentlich zur Herausbildung des antifeudalen Programms der Adelsrevolutionäre - der Dekabristen - bei und zwang die Regierung zu lavieren, mit dem Liberalismus zu kokettieren und Zugeständnisse an den „Zeitgeist" zuzulassen. Schon Paul I. sah sich veranlaßt, im Manifest vom 5. April 1797 die Zahl der Frondiensttage in der Woche auf drei zu beschränken.38 Und wenn es auch unbegründet ist, daß mit dem Ukas vom 5. April die Beschränkung der Frondienste auf drei Tage in der Woche in Rußland durchgesetzt 34

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Vgl. Otecestvennaja vojna i russkoe obcsestvo, Bd. 5, Moskau 1912; L. N. Byckov, O klassovoj bor'be v Rossii vo vremja Otecestvennoj vojny 1812 g., in: Voprosy isorii 1962, Nr. 8. Vgl. I. I. Ignatovic, Krest'janskoe dvizenie na Donu v 1820 g., Moskau 1937. Vgl. P. P. Evstaf'ev, Vosstanie voennych poseljan v Novgorodskoj gubernii, Moskau 1934; V. A. Fedorov, Bor'ba krest'jan Rossii protiv voennych poselenij (1810-1818), in: Voprosy istorii, 1952, H. 11. Siehe Anhang I. Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj imperii, Serija X (PSZ), Bd. XXIV, Nr. 17 909.

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worden wäre, blieb das Manifest doch geltendes Recht. 39 Während der Regierungszeit Alexander I. wurde eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt, die die Widersprüche der sich zersetzenden Feudalordnung mildern sollten. Im Jahre 1801 erfolgte die Annahme eines Gesetzes, wonach alle „freien Stände" - auch die Staatsbauern wurden dazu gezählt - „unbesiedeltes Land" kaufen konnten, was das Entstehen eines freien bäuerlichen Landbesitzes ermöglichte. In gewissem Grade wurde dadurch das Monopolrecht der Feudalherren auf Grundbesitz durchbrochen/' 0 1803 wurde ein Gesetz erlassen, das den Gutsbesitzern gestattete, die Bauern zu „freien Ackerbauern" zu machen und mit ihnen Verträge abzuschließen, die ihnen den Ankauf ihres Anteillandes ermöglichten. 41 In den Ostseeprovinzen sah sich der Zarismus veranlaßt, mit in den Jahren 1816 bis 1819 erlassenen Gesetzen den Bauern die persönliche Freiheit ohne Landzuteilung zu gewähren. Die jetzt landlosen Bauern gerieten in ökonomische Abhängigkeit zu den gleichen Gutsbesitzern. 42 Unter dem Druck der Bauernbewegung entstanden zahlreiche Projekte zur Aufhebung der Leibeigenschaft. In diesem Zusammenhang ist auf M. M. Speranskijs Projekt einer Bauernreform hinzuweisen- 43 Nach dem Vaterländischen Krieg von 1812 hörte das Kokettieren Alexanders I. mit dem Liberalismus auf, es wurde vom Wüten der Reaktion und von verstärkter feudaler Unterdrükkung abgelöst. 44 Die im zweiten Viertel des 19. Jh. einsetzende sozialökonomische Krise rief einen weiteren Aufschwung der Bauernbewegung hervor. 45 Der Dekabristenaufstand verlieh diesem Prozeß starke Impulse. 46 Anläßlich der Thronbesteigung Nikolaus I. gingen zahlreiche Gerüchte über eine Befreiung der Bauern um, weshalb die Bauern sich weigerten, für die Gutsbesitzer Dienstleistungen zu verrichten und an den Staat Steuern zu zahlen. Im Jahre 1826 kam es zu 178 mehr oder minder großen Bauernerhebungen (1825 waren es 61). Nikolaus I. sah sich veranlaßt, im Manifest vom 12. Mai 1826 die Bauern unter Androhung schwerer Strafen aufzufordern, den Gutsbesitzern und den Behörden Gehorsam zu leisten und Gerüchten über eine Befreiung und über den Weg39

S. B. Okun'/E. S. Paina, Ukaz ot 5 aprelja 1797 g. i ego evoljucija, in: Issledovanija po otecestvennomu istocnikovedeniju, Moskau-Leningrad 1964, S. 291. 40 Vgl. N. M. Druzinin, Kupcie zemli u krepostnych krest'jan, in: Voprosy social'no-ekonomiceskoj istorii i istocnikovedenija, Moskau 1961, S. 176 ff. '«' PSZ I, T. XXVII, Nr. 20 620. 42 Vgl. Ju. Ju. Kachk, Krest'janskoe dvizenie i krest'janskij vopros v fistonii v konce XVIII i v pervoj cetverti XIX veka, Tallin 1962. Vgl. N. M. Druzinin, Krest'janskij vopros v rannich zapiskach M. M. Speranskogo, in: Issledovanija po otecestvennomu istocnikovedeniju, Moskau-Leningrad 1964, S. 254 ff. 44 Vgl. S. B. Okun', Ocerki istorii SSSR, Konec XVIII - pervaja cetvert' XIX veka, Leningrad 1956, S. 2 9 0 f f ; E. I. Indova, Krepostnoe chozjajstvo v nacale XIX veka. Po materialam votciny archiva Voroncovych, Moskau 1955; I. D. Koval'cenko/L. V. Milov, Ob intensivnosti obrocnoj ekspluatacii krest'jan central'noj Rossii v konce XVIII - pervoj polovine XIX v„ in: Istorija SSSR, 1966, H. 4, S. 55 ff. 45 Siehe Anhang II. 46 Vgl. A. Smirnov, Vlijanie vosstanija dekabristov na nastroenie Jaroslavskoj gubernii (po materialam gubarchiva), in: Nas trud, Jaroslavl' 1925, Heft 11 und 12; M. Balabanov, Narodnye massy i dvizenie dekabristov, in: Krasnaja nov', Bd. 3, 1926; M. A. Rachmatullin, Kresfjanskoe dvizenie v Rossii v 20-ch godach XIX v., in: Ezegodnik po agrarnoj istorii Vostocnoj Evropy 1965, Moskau 1970, S. 321 ff.

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fall von Zahlungen keinen Glauben zu schenken. 4 7 M . A. Rachmatullin wies überzeugend nach, daß das Manifest vom 12. Mai 1826 sein Ziel nicht erreichte. 4 8 Anfang der dreißiger Jahre des 19. Jh. wurde Rußland von furchtbaren Katastrophen erschüttert. Von 1830 bis 1831 kam es im Zusammenhang mit einer Choleraepidemie zu Massenbewegungen der Bauern, die die Bezeichnung „Cholera-Auf stand" erhielten. 49 Es erhoben sich die Militärsiedlungen des Gouvernements Novgorod. 5 0 Der polnische Aufstand von 1830 bis 1831 löste eine politische Krise aus und führte in den westlichen Gouvernements zu Aktionen der Bauern. 5 1 In den dreißiger Jahren des 19. Jh. war ein weiteres Anwachsen des Klassenkampfes der Guts-, Staats- und Kronbauern zu beobachten. Die sich verschärfende ökonomische Krise, die zunehmende Ausbeutung der Leibeigenen, der finanzielle Druck und die polizeilich-administrative Willkür führten zu einer unterschiedliche Kategorien der Bauern erfassenden Bewegung, die das gemeinsame Ziel verfolgte: die Liquidierung der Leibeigenschaft. N. M . Druzinin führt dazu aus: „Im Kampf der Bauernschaft traten die persönlichen Gründe und Anlässe immer häufiger und spürbarer hinter dem die Bauern antreibenden Hauptmotiv - dem Bestreben, sich vom Joch der Leibeigenschaft zu befreien - zurück." 5 2 In den dreißiger Jahren erlangte die Bewegung der Staatsund Kronbauern ein bis dahin nicht erreichtes Ausmaß. Die Bewegung der Staatsbauern erfaßte jetzt neben den bisherigen Gebieten - den zentralen und westlichen Regionen sowie dem Wolgagebiet - auch den Norden und das Uralgebiet. 5 3 In den westlichen Gouvernements leisteten die Staatsbauern Frondienste und unterstanden den sogenannten Possessoren (Pächtern oder anderen Privatpersonen); hier bestanden die dringendsten Forderungen der Bauern in der Ü b e r f ü h r u n g auf Obrok (Zins) und Befreiung von den Possessoren. In den übrigen Gouvernements zahlten die Staatsbauern Zins, wobei sie der Willkür der Staatsverwaltung und der Dorfobrigkeit ausgesetzt waren. Hier kämpften sie um die Zuteilung von Guts- und anderen Ländereien, gegen die Erhöhung der Feudalrente und gegen administrative Willkür. Die stürmische Bewegung der Staatsbauern in den Gouvernements Perm und Orenburg in den Jahren von 1834 bis 1835, die von Zusammenstößen mit Militärabteilungen begleitet war, 47

PSZ II, T, I, Nr. 330; vgl. G. M. Deic, O svjazi krest'janskogo dvizenija krest'janskogo zakonodatel'stva v 1826 g., in: Ucenye zapiski Novgorodskogo ped. instituta, Bd. I, Heft 1, 1965. 4S M. A. Rachmatullin, Pod"em krest'janskogo dvizenija i reakcija samoderzavija posle vosstanija dekabristov, in: Iz istorii ekonomiceskoj i obscestvennoj zizni Rossii, Moskau 1976, S. 171. 49 Vgl. S. Gessen, Cholernye bunty (1830-1831 gg.), Moskau 1923. 50 Vgl. P. P. Evstaf'ev, Vosstanie novgorodskich voennych poseljan Moskau 1934. 51 Vgl. L. V. Bazenov, Vosstanie 1830-1831 gg. na praivobereznoj Ukraine, Autorreferat der hist. Kandidatendissertation, Kiev 1973. 52 N. M. Druzinin, Gosudarstvennye krest'jane, Bd. 1, S. 2071. 53 Ebenda, S. 207-244; N. N. Ulascik, Predposylkd krest'janskoj reformy 1861 g. v Litve i Zapadnoj Belorussii, Moskau 1965, S. 414 ff.; I. A. Ancupov, O nekotorych formach bor'by gosudarstvennych krest'jan Bessarabii protiv feodal'nogo gneta v konce 30-40 godov XIX v., in: Izvestija AN Moldavskoj SSR, 1963, Heft 3; G. V. Jarovoj, Bor'ba gosudarstvennych krest'jan Urala za zemlju v pervoj polovine XIX v„ in: Ucenye zapiski Ural'skogo instituta, Bd. 7, Ser. istoric., Heft 9, Sverdlovsk 1969; V. I. Neupokoev, Agrarno-krest'janskij vopros v Litve vo vtoroj treti XIX veka, Doktor-Dissertation Moskau 1972, Teil 2, S. 693 bis 712; T. A. Konjuchova, Gosudarstvennaja derevnja Litvy i reforma P. D. Kiseleva, Moskau 1975, S. 57 ff.

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richtete sich gegen den Austausch von Staatsland gegen Krongüter. Die Bewegung der Kronbauern besaß ihre eigene Spezifik. Sie wandte sich gegen die Neuerungen des Stellvertreters des Ministers des Kaiserlichen Hauses, L. A. Perovskij, die eine Verkleinerung des bäuerlichen Anteillandes, die Erhöhung des Zinses und die Einführung von Frondiensten auf dem Gemeindeland vorsahen. 54 In Smolensk, Simbirsk, Vjatka, Niznij-Novgorod und in anderen Gouvernements trat der Massencharakter der Bauernbewegung besonders deutlich hervor. 55 Die Bewegung der Staats- und Kronbauern erfaßte ein ausgedehntes Gebiet und verschärfte erheblich die Krise des feudalen Staatssystems. Eine wachsende Erregung erfaßte auch die Gutsbauern. Ende der dreißiger Jahre breiteten sich die Unruhen auf 12 Gouvernements aus. Die Bewegung der ukrainischen Bauern unter der Führung von Karmaljuk (1820-1830) nahm den Charakter eines Partisanenkrieges an. Die Bauernunruhen im Baltikum und im Kaukasus zeichneten sich durch außerordentliche Aktivität aus. So dehnte sich die Bauernbewegung in den dreißiger Jahren auf das ganze Reich aus. Da sie jedoch in den verschiedenen Landesteilen nicht gleichzeitig und mit gleicher Intensität in Erscheinung trat, wurde ihre Gesamtwirkung abgeschwächt. Der sich verschärfende Klassenkampf auf dem Lande zwang den Zarismus, sich mit der Bauernfrage zu befassen. Während der Regierungszeit Nikolaus I. wurden 9 Geheimkomitees gebildet, die sich mit Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse im Reiche beschäftigten. Von dem 1835 gebildeten Geheimkomitee wurde unter der Leitung von I. V. Vasil'cikov ein Programm für eine „zweiteilige Reform" ausgearbeitet, das die Reorganisation der Verwaltung der Staatsbauern und die stufenweise Befreiung der Gutsbauern vorsah. Auf der Grundlage dieses Programms führte P. D. Kiselev von 1839 bis 1841 in den großrussischen Gouvernements und von 1840 bis 1857 in den westlichen Gouvernements (Litauen, Belorußland und der Ukraine westlich des Dnepr) die Reform der Staatsbauern durch. In den zuletzt genannten Gebieten führte die Reform zu grundlegenden ökonomischen Veränderungen: Das Pachtsystem und die Gutswirtschaft wurden abgeschafft, die Bauern entrichteten Zins. 56 Die Reform der Staatsbauern führte zu einer weiteren Verschärfung der Krise des feudalen Systems, sie „steigerte das Verlangen nach Freiheit und völliger ökonomischer Unabhängigkeit" 57 . Bei den Gutsbauern der westlichen Gouvernements wurde die sogenannte Inventarreform durchgeführt, die vor allem die Feudalrente normieren sollte; in der Ukraine westlich des Dnepr trug diese Inventarreform radikalere Züge. 58 54

PSZ II, Bd. II, Nr. 1406, BA. V, Nr. 3 4 2 7 u. 3443.

55

N. P. Gricenko, Volnenija udel'nych krest'jan Srednego Povol'za v svjazi s obscestvennoj zapaskoj, i n : Ucenye zapiski Ul'janovskogo gos. ped. instituta, Heft 5, Ul'janovsk 1 9 5 3 ; G. T. Rjabkov, Krest'janskoe dvizenie v Smolenskoj gubernii v period razlozenija krepostnicestva. Konec XVIII -

p e r v a j a polovina XIX v., Smolensk 1 9 5 7 ; A. V. Sedov, Bor'ba

udel'nych krest'jan protiv krepostnicestva (po m a t e r i a l a m Nizegorodskoj gubernii), i n : Ucenye zapiski Gor"kovskogo universiteta, Bd. 58, Gorkij 1963. 56

Vgl. Druzinin, Gosudarstvennye krest'jane; Konjuchova, Gosudarstvennaja derevnja L i t v y ; V. I. Neupokoev, Krest'janskij vopros v Litve vo vtoroj treti XIX v., Moskau 1976.

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Druzinin, Gosudarstvennye krest'jane, Bd. 2, S. S. 455. V. I. Semevskij, Krest'janskij vopros v Rossii v XVIII i pervoj polovine XIX veka, S. Peterburg 1888, Kapitel 1 6 ; Druzinin, Gosudarstvennye krest' jane, Bd. 1, S. 5 8 8 f f . ; N. N. Ulascik, Vvedenie objazatel'nych inventarej v Belorussii i Litve, in: Ezegodnik a g r a r n o j istorii Vostocnoj E v r o p y 1958 g„ Tallin 1959.

po

Bauernbewegung in Rußland erste Hälfte 19. Jh.

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Da die Gutsbesitzer Protest erhoben, verzichtete die Regierung darauf, in den großrussischen Gouvernements die Verpflichtungen der Gutsbauern in Bestandsverzeichnissen, den sogenannten Inventaren, schriftlich zu fixieren. Die Tätigkeit des von 1839 bis 1842 bestehenden Geheimkomitees fand ihren Niederschlag in dem am 2. April 1842 erlassenen Gesetz „Über die zu Dienstleistungen verpflichteten Bauern" 5 9 . In diese Kategorie fielen die Bauern, die mit den Gutsherren Verträge über die Nutzung von Gutsland abgeschlossen und sich dabei zu bestimmten Dienstleistungen verpflichtet hatten. Die Bestimmungen des Gesetzes vom 2. April 1842 wurden nur von 24 700 „Revisionsseelen" (männlichen Dorfbewohnern) wahrgenommen (das Gesetz von 1803* über die freien Ackerbauern - von 66 100). 6 0 Die Nichtdurchführung der Inventarreform auf den Gütern in den großrussischen Gouvernements war ein „Schlag gegen den Gesamtplan der zweiteiligen Reform, den das 1835 gebildete Komitee entworfen hatte" 6 1 . Der Regierung gelang es nicht, die Krise des feudalen Systems zu mildern. In den vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre gewann die Bauernbewegung weiterhin an Stärke. Kiselovs Reform versetzte die Masse der Staatsbauern noch mehr in Aufruhr; die Erregung hielt in den westlichen Gouvernements bis 1857 unvermindert an. 6 2 In den Jahren von 1846 bis 1848 gestaltete sich die Gesamtlage der leibeigenen Bauern bedrohlich. Häufige Mißernten und eine Choleraepidemie hatten eine Verschärfung des Klassenkampfes zur Folge. In den westlichen Gouvernements löste die Inventarreform heftige Auseinandersetzungen aus. Auch die Ereignisse in Galizien im Jahre 1846 und die Revolution von 1848 in Mittel- und Westeuropa trugen erheblich zur Verschärfung des Klassenkampfes bei. 6 3 In den Jahren des Krimkrieges ( 1 8 5 3 1855) zeigte die Massenbewegung der Bauern durch den Krieg bedingte besondere Merkmale. Die Aktivität der Bauern stieg jäh an, wieder entstand die Gefahr einer plebejischen, gewaltsamen Abrechnung mit den Gutsbesitzern und ihren Verwaltern. Die Aushebung von Rekruten löste bewaffnete Aufstände aus. Nach der Niederlage im Krimkrieg war der Zarismus gezwungen, die Aufhebung der Leibeigenschaft einzuleiten. Die Reform von 1861 führte Lenin auf die durch die sozial-politische Krise und die ökonomische Entwicklung bewirkten tiefgehenden Wandlungen, die Rußland den kapitalistischen Weg beschreiten ließen, sowie auf das Anwachsen der die Feudalordnung bedrohenden Bauernbewegung im Lande zurück. Der wichtigste Faktor, der zur Aufhebung der Leibeigenschaft führte, war der allgemeine Aufruhr der Bauern. In den Jahren unmittelbar vor der Reform ( 1 8 5 6 - 1 8 6 0 ) überwogen im Klassen59 60 61 02

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PSZ II, T. XVII, Nr. 15 462. Semevskij, Krest'janskij vopros, Bd. 2, S. 569. Druzinin, Gosudarstvennye krest'jane, Bd. 1, S. 627. Ebenda, Bd. 2, S. 456 ff.; P. G. Ryndzjunskij, Dvizenie gosudarstvennych krest'jan v Tambovskoj gubernii v 1842-1844 gg., in: Istoriceskie zapiski, Bd. 54; T. A. Konjuchova, Gosudarstvennaja derevnja Litvy, S. 210 ff. Vgl. I. I. Ignatovic, Otrazenie v Rossii krest'janskogo dvizenija v Galicii 1846 g„ in: Sbornik trudov professorov i prepodavatelej Irkutskogo gos. universiteta, Bd. 5, Irkutsk 1923; A. S. Nifontow, Rußland im Jahre 1848; A. Z. Baraboj, Pravobereznaja Ukraina v 1848 g„ in: Istoriceskie zapiski, Bd. 34; V. I. Neupokoev, Krest'janskie volnenija v pomescic'ej derevne Litvy nakanune ob"javlenija reskripta ot 20 nojabrja 1857 g„ in: Ucenye zapiski Vil'njusskogo gos. universiteta im. V. Kapsukosa. Ser. obsc. nauk, Bd. 1. 1954. Klassenkampf

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kämpf der Bauern aktive Kampfreformen, die Partisanenaktionen ähnelten. Eine neue Form der Massenaktion stellte die „Enthaltsamkeitsbewegung" dar. Diese Bewegung richtete sich gegen den von der Regierung verordneten Zwangskonsum von Branntwein in den vom Staat privilegierten Schänken. 6/ ' In den Jahren der revolutionären Situation (1859-1861) waren die realen Voraussetzungen für einen allgemeinen Bauernaufstand gegeben. 6 5 Der Klassenkampf der Bauern beeinflußte unmittelbar den Verlauf der Reform; die Regierung wurde gezwungen, die Bestimmungen des Reskripts vom 20. November 1857 abzuändern und eine Befreiung der Bauern mit Landzuteilung durchzuführen, wofür Ablösegelder zu zahlen waren. Diese Bestimmung gab der Reform ein stärkeres bürgerliches Gepräge. Mit der Wirkung des Klassenkampfes ist auch die „liberale" Haltung einiger Gouvernementskomitees zu erklären. In der Periode des Zerfalls und der Krise der Feudalordnung beeinflußte die Bauernbewegung entscheidend die geschichtliche Entwicklung des Landes. Die sowjetische Geschichtsschreibung untersucht die Bauernbewegung in direktem Zusammenhang mit der ökonomischen Krise der Feudalordnung und den anderen Faktoren der sozialökonomischen Entwicklung Rußlands. Gegenwärtig ist zu dieser Thematik ein umfangreiches konkretes Tatsachenmaterial zusammengetragen 6 6 ; nunmehr kommt es vor allem darauf an, dieses Material nach einheitlichen methodischen Prinzipien zusammenzufassen und die grundlegenden theoretisch-methodologischen Fragen weiter zu klären. Mit der Erörterung dieser Fragen beschäftigte sich das XVI. Symposium zur Erforschung von Problemen der Agrargeschichte, das vom 29. September bis zum 2. Oktober 1976 in Kisinev stattfand. 67 Diese Probleme zu lösen, wird eine Aufgabe des fünfbändigen Werkes „Geschichte der Bauernschaft in der UdSSR von den Anfängen bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" sein, das laut Plan in den Jahren 1976 bis 1980 im Institut für Geschichte der UdSSR an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR erarbeitet werden soll.

Anhang I : Weitere Literatur über die Bauernbewegung im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts M. F. De-Pule, Krest'janskoe dvizenie pri imperatore Pavle Petrovice (1797) i dnevnik kn. N. V. Repnina, in: Russkij archiv, 1869, Bd. 3; V. I. Semevskij, Krest'janskij vopros v Rossii v XVIII - pervoj polovine XIX v., Bd. 1, S. Petersburg 1888; I. I. Ignatovic, Krest'janskie volnenija pervoj cetverti XIX veka, in: Voprosy istorii 1950, Heft 9; dieselbe: Krestjanskie '' Vgl. V. A. Fedorov, Krest'janskoe trezvennoe dvizenie v 1858-1860 gg., in: Revoljucionnaja situacija v Rossii v 1859-1861 gg., Moskau 1960. 65 Vgl. W. I. Lenin, Die Verfolger des Semstwos und die Hannibale des Liberalismus, in: Lenin, Werke, Bd. 5, Berlin 1971, S. 29-31. 66 Vgl. B. G. Litvak, Sovetskaja istoriografija reformy 19 fevralja 1861 g., in: Istorija SSSR 1960, Heft 6; Z. D. Vinograd, Krest'janskoe dvizenie v Rossii 1850-1860-ch godov. Ukazatel' sovetskoj literatury, in: Revoljucionnaja situacija v Rossii v 1859-1861 gg., Moskau 1962; V. A. Fedorov, Istoriografija krest'janskogo dvizenija v Rossii perioda razlozenija krepostnicestva, in: Voprosy istorii 1966, Heft 2; ders., Krest'janskoe dvizenie v nacional'nych rajonach doreformennoj Rossii, in: Voprosy istorii 1968, Heft 1. 07 XXV s"ezd KPSS i zadaci istorikov-agrarnikov, Kisinev 1976; Vgl. auch I. D. Koval'cenko/ A. M. Sacharov, Itogi i zadaci izucenija agrarnoj istorii Rossii v sovremennoj sovetskoj istoriografii (tezisy, S. 22-30). 6

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dvizenie v pervoj polovine XIX v., Moskau 1963; M. D. Mel'cer, Iz istorii krest'janskogo dvizenija v Belorussii v pervoj cetverti XIX veka, in: Ucenye zapiski Belorusskogo gos. universiteta. Ser. istoriceskaja, Heft 10, Minsk 1950; V. A. Fedorov, Dvizenie narodnych mass v Rossii v pervoj cetverti XIX v., in: Prepodavanie istorii v skole, 1954, Heft 3; P. G. Ryndzjunskij, Krest'janskoe antikrepostniceskoe dvizenie v promyslovych selach pervoj cetverti XIX v., in: Iz istorii krest'janstva XVI-XIX vekov, Moskau 1955; V. A. Fedorov, Krest'janskoe dvizenie v nacional'nych rajonach doreformennoj Rossii (istoriograficeskij obzor), in: Voprosy istorii, 1968, Heft 1; ders., Krest'janskoe dvizenie v Central'nopromyslennych gubernijach Rossii v 1800-1860-ch godach, in: Ezegodnik po agrarnoj istorii Vostocnoj Evropy 1965 g., Moskau 1970; E. P. Elenevskij, Iz istorii krest'janskogo dvizenija v Kareiii v pervoj treti XIX veka, in: Ucenye zapiski Petrozavodskogo universiteta. Bd. I, Heft 6, 1956; G. T. Rjabkov, Krest'janskoe dvizenie v Smolenskoj gubernii v period razlozenija krepostnicestva. Konec XVIII - pervaja polovina XIX v., Smolensk 1957; E. K. Rozov, K voprosu o razlozenii feodal'no-krepostniceskoj sistemy chozjajstva i dvizenie pomescic'ich krest'jan v pervoj polovine XIX v., in : Smolenskij ped. institut, Ucenye zapiski, Heft 1, 1957; M. P. Muntjan, K istorii sovmestnoj bor'by moldavskich i ukrainskich krest'jan protiv feodal'no-krepostniceskogo gneta v pervoj polovine XIX veka, in : Institut istorii, jazyka i literatury. Ucenye zapiski, Bd. 6, Kisinev 1957; A. Z. Cinman, Klassovaja bor'ba pomesc c'ich krest'jan Vologodskoj gubernii v I-j polovine XIX veka, in : Vologodskij ped. institut, Ucenye zapiski, Bd. 21, Vologda 1958; V. I. Kabas, Krest'janskoe dvizenie v S.-Peterburgskoj gubernii v konce XVIII i pervoj polovine XIX stoletij, in: Leningradskij ped. institut im. A. I. Gercena. Ucenye zapiski, Bd. 194, 1958; T. I. Belenkina, Bor'ba komi krest'jan za zemlju v konce XVIII - pervoj polovine XIX veka, in: Komi ped. institut. Ucenye zapiski, Heft 6, 1958; Ju. Ju. Kachk, Nekotorye obscie problemy istorii klassovoj bor'by castnovladel'ceskich krest'jan v period razlozenija i krizisa feodal'noj formacii, in: Ezegodnik po argrarnoj istorii Vostocnoj Evropy 1958 g., Tallin 1959; A. S. Kocievskij, Krest'janskoe dvizenie v Juznoj Ukraine v konce XVIII - pervoj cetverti XIX v., in: Materialy po istorii sel'skogo chozjajstva i krest'janstva v SSSR, Bd. 5, Moskau 1962; A. I. Parusov, K voprosu o polozenii i pobegach krepostnych krest'jan Rossii v pervuju cetvert' XIX v.# in: Ucenye zapiski Gor'kovskogo universiteta, Bd.41, Heft4, I960; S.S.Dmitriev, Krest'janskoe dvizenie i nekotorye problemy obscej istorii Rossii v pervoj polovine XIX v. (K vychodu v svet sbornikov dokumentov o krest'janskom dvizenii v 1796-1849 gg.), in.- Voprosy archivovedenija, Moskau 1962, Heft 2; L. A. Chanlarjan, Iz istorii klassovoj bor'by v armjanskoj derevne doreformennogo perioda, in-, Izvestija AN Armjanskoj SSR, Ser. obsc. nauk, 1964, Heft 10; A. Ch. Chasanov, Iz istorii klassovoj bor'by v Severnoj Kirgizii v pervoj polovine XIX veka, in: Ucenye zapiski istoriko-juridiceskogo fakul'teta Kirgizskogo gos. universiteta. Ser. istorie., Heft 7, 1964; M. M. Smulevic, K voprosu o dvizenii naselenija russkogo krest'janstva v Zapadnom Zabajkal'e v pervoj polovine XIX veka, in: Étnograficeskij sbornik, Bd. 4, • Ulan-Udé 1965; S. A. Cekmenev, Iz istorii klassovoj borby sredi kazacestva i krest'janstva na Severnom Kavkaze v konce XVIII i v pervoj polovine XIX v., in: Trudy Karacaevo-Cerkesskogo naucno-isled. instituta istorii, jazyka i literatury, Bd. 5, 1966; E. I. Druzinina, Klassovaja bor'ba krest'jan Juznoj Ukrainy v pervoj cetverti XIX v., in: Ezegodnik po agrarnoj istorii Vostocnoj Evropy 1964 g., Kisinev 1966; V. A. Fedorov, Istoriografija krest'janskogo dvizenija v Rossii perioda razlozenija krepostnicestva, in: Voprosy istorii, 1966, Heft 2; K. A. Buldakov, Klassovaja bor'ba krepostnogo krest'janstva v pervoj cetverti XIX v. (Po archivnym materialam Kostromskoj gubernii), in: Jaroslavskij ped. institut. Ucenye zapiski, Bd. 58, Jaroslavl' 1966; A. V. Émmauskij, Formy krest'janskogo dvizenija protiv krepostnicestva v Vjatskoj gubernii v konce XVIII - pervoj polovine XIX veka, in: Ucenye zapiski Gor'kovskogo universiteta. Bd. 85, 1967; Ju. P. Balasova, Krest'janskoe dvizenie v Moskovskoj gubernii v konce XVIII - pervoj cetverti XIX v., i n : Moskovskij oblastnoj ped. institut. Ucenye zapiski. Bd. 191, Moskau 1968; M. A. Rachmatullin, K voprosu o vlijanii rassloenija krest'janstva na Charakter ego bor'by (20-e gody XIX v.), in: Istorija SSSR, 1970, Heft 4; Ders., Krest'janskoe io*

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V. I. Neupokoev

dvizenie v Rossii v 20-ch godach XIX v., in : Ezegodnik po argrarnoj istorii Vostocnoj Evropy 1965 g„ Moskau 1970: Ju. Ju. Kachk/Ch. M. Ligi, K voprosu o territorial'nom rasprostranenii kresf janskich volnenij v Èstonii v pervoj polovine XIX v., in : Ezegodnik po agrarnoj istorii Vostocnoj Evropy 1966 g„ Tallin 1971; G. A. Kavtaradze, Kresf janskij „mir" i carskaja vlast' v soznanii pomescic'ich kresf jan (konec XVIII v. - 1861 g.) Autorreferat der Kandidatendissertation, Leningrad 1972; V. I. Krutikov, Krest'janskoe dvizenie v Tul'skoj gubernii v konce XVIII i pervoj polovine XIX veka. Tuia 1972; ders., Nekotorye voprosy istorii krest'janskogo dvizenija v Rossii v period razlozenija i krizisa krepostnicestva, in: Iz istorii Tulskogo kraja, Tuia 1972; V. A. Vinogradov/E. K. Rozov, Ob istocnikovedceskoj baze izucenija krest'janskogo dvizenija (po materialam fondov Kalininskogo i Novgorodskogo gosudarstvennych oblastnych archivov), in: Ezegodnik po agrarnoj istorii Vostocnoj Evropy 1971 g., Vil'njus 1973; S. A. Cekmenev, Social'nye otnosenija i klassovaja bor'ba kazacestva i krest'janstva v Predkavkaz'e v konce XVIII - pervoj polovine XIX v„ in: Ezegodnik po agrarnoj istorii Vostocnoj Evropy 1971 g., Vil'njus 1974; Ju. S. Zobov, Krest'janskoe dvizenie v Orenburgskoj gubernii v poslednej cetverti XVIII - nadale XIX veka, in : Kujbysevskij ped. institut. Ucenye zapiski, Bd. 143, Heft 4, Kujbysev 1974; I. Ionenko/ A. Zacharenko, Krest'jane Srednego Povolz'ja v bor'be za zemlju i volju, in: Kommunist Tatarii, Kazan' 1974, Heft 7; I. G. Antelava, Iz istorii klassovoj bor"by v gruzinskoj derevne v XVIII v. in : Iz istorii ékonomiceskoj i obscestvennoj zizni Rossii. Sbornik statej k 90-letiju akademika N. M. Druzinina, Moskau 1976.

Anhang II: Weitere Literatur über die Bauernbewegung im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts V. I. Semevskij, Bor'ba krepostnych s pomescic'ej vlasfju v carstvovanie imperatora Nikolaja, in: Russkaja starina, 1887, Heft 2; E. Koc, Volnenija krest'jan v Nikolaevskuju épochu, in: Russkoe prosloe, Petrograd 1923, Heft 2; I. I. Ignatovic, Bor'ba pomescic'ich krest'jan za osvobozdenie, Moskau-Leningrad 1924; Ja. I. Linkov, Ocerki istorii krest'janskogo dvizenija v Rossii v 1825-1861 gg., Moskau 1955; I. D. Koval'cenko, Russkoe krepostnoe krest'janstvo v pervoj polovine XIX v., Moskau 1967; S. V. Tokarev, Kresfjanskie kartofel'nye bunty, Kirov 1939; I. Ja. Fadeev, Krest'janskoe dvizenie v Rossii v konce 40-ch godov XIX v„ in: Ucenye zapiski Moskovskogo obl. ped. instituía, Bd. 27, Moskau 1954; N. N. Kuntikov, Krest'janskoe dvizenie v Rossii, in: Voprosy istorii 1957, Heft 8; É. S. Paina, ¿aloby pomescic'ch krest'jan pervoj poloviny XIX v. kak istoriceskij istocnik, in: Istorija SSSR, 1964, Heft 6; V. A. Fedorov, Istoriografija krest'janskogo dvizenija v Rossii perioda razlozenija krepostnicestva, in: Voprosy istorii, 1966, Heft 2; ders., Krest'janskoe dvizenie v central'no-promyslennych gubernijach Rossii v 1800-1860-ch godach, in: Ezegodnik po agrarnoj istorii Vostocnoj Evropy 1965 g., Moskau 1970. Übersetzt von F. Lemke

WILHELM

ZEIL

Auf der Suche nach einer neuen revolutionären Theorie

Zur Entstehung der revolutionär-demokratischen Ideologie in Rußland im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts Unter den schwierigen Bedingungen des nikolaitischen Regimes, als eine kontinuierlich erstarkende, organisierte, klassenbewußte Volksbewegung gegen das Feudalsystem in Rußland noch fehlte, mußten sich die fortschrittlichen Kräfte auf die Erarbeitung einer neuen, über das Anliegen der Dekabristen hinausgehenden revolutionären Ideologie beschränken. Die knapp zweieinhalb Jahrzehnte zwischen dem Dekabristenaufstand und den bürgerlich-demokratischen Revolutionen von 1848/49 in West- und Mitteleuropa, die sich auch für die Entwicklung der revolutionären Ideen in Rußland als Zäsur erwiesen, waren in diesem Land eine Zeit theoretischer Suche. Herzen sprach von einer aus Unzufriedenheit geborenen, gewaltigen, stummen, aber eifrig betriebenen, ununterbrochenen Arbeit in diesen fünfundzwanzig Jahren, in denen die revolutionären Ideen „mehr an Terrain gewonnen (haben), als in dem ganzen Jahrhundert, das ihnen vorausging". Und doch sei das revolutionäre Gedankengut noch nicht bis ins Volk gedrungen.1 Die theoretische Arbeit in der revolutionären Bewegung Rußlands nach dem Dekabristenaufstand konzentrierte sich auf mehrere eng miteinander verbundene Problemkreise der künfigen Entwicklung Rußlands. Die wichtigste Frage war zweifellos die Aufhebung der Leibeigenschaft. Sie ist nicht zu trennen vom Ringen um die Freiheit der Persönlichkeit, das sich im wesentlichen an den Ideen der Französischen Revolution von 1789 orientierte und den Kampf gegen die zaristische Selbstherrschaft einschloß. Das Scheitern des Dekabristenaufstandes ließ schließlich in den vierziger Jahren des 19. Jh. - trotz Schwankungen und Vorbehalten - die Erkenntnis reifen, daß es notwendig sei, die Volksmassen in den Kampf gegen den Zarismus einzubeziehen. Das wurde zu einer wichtigen theoretischen Leitlinie der revolutionären Bewegung in Rußland. Im Zusammenhang damit bewegte die Frage nach dem Verhältnis des russischen Volkes zum Sozialismus bereits in den dreißiger Jahren, vor allem aber in den vierziger Jahren, die Gemüter. Sie sollte in der Folgezeit besondere Bedeutung erlangen. Als übergreifendes Denkobjekt, das seit dem Befreiungskrieg gegen Napoleon viele Beobachter des Zeitgeschehens beschäftigte, erwies sich schließlich das Verhältnis Rußlands zu den fortgeschritteneren, kapitalistischen Ländern Europas. An diesen Problemkomplexen entzündeten sich die grundsätzlichen Auseinandersetzungen im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts. Der Hauptinhalt der revolutionären Bewegung zwischen dem Dekabristenaufstand ' A. Herzen, Rußlands soziale Zustände (deutsche Übersetzung seiner Arbeit „O razvitii revoljucionnych idej v Rossii"), Leipzig (1948), S. 102 f.

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und dem Ende der dreißiger Jahre war die Suche nach neuen gesellschaftlichen Idealen sowie nach neuen Formen, neuen Methoden und einer neuen Taktik des revolutionären Kampfes. Diese erste theoretische Vorbereitung auf die großen Kontroversen, die in den vierziger Jahren zur Ausformung der jeweiligen Positionen und zur gegenseitigen Abgrenzung der einzelnen Richtungen führen sollten, bot ein kompliziertes Bild. Mit Parteigängern des überwiegend konservativen Slawophilentums, mit Repräsentanten des gemäßigten Liberalismus der Westler und mit Anhängern einer sich erst allmählich profilierenden revolutionär-demokratischen Ideologie waren Vertreter unterschiedlicher Klassenstandpunkte zunächst noch Bundesgenossen in einer sehr differenziert motivierten Auseinandersetzung mit Zarismus und Leibeigenschaft. Die pessimistischen und zynischen Stimmungen in der russischen Intelligenz, die in einen eigenartigen nationalen Nihilismus mündeten, liberale Illusionen und Schwankungen bei führenden Revolutionären, die Verbannung bedeutender Persönlichkeiten und die Zerschlagung oppositioneller Zirkel erwiesen sich als Hindernisse für den Fortschritt der revolutionären Bewegung Rußlands. Dennoch begannen schon bald nach dem Jahr 1825 die konsequenten Gegner des zaristischen Regimes aus den Reihen des fortschrittlichen Adels und der Rasnotschinzen ihre Kräfte zu sammeln. 2 Das Ideengut der Dekabristen erwies sich dabei als ein wesentlicher Ausgangspunkt. Adlige, die sich von ihrer Klasse losgesagt hatten und der Durchsetzung bürgerlich-demokratischen Gedankenguts in Rußland den Weg ebneten, und Rasnotschinzen suchten die historischen Erfahrungen der Dekabristen zu nutzen und deren ideologische Grenzen zu überschreiten. Mit ihrer Tätigkeit schufen sie Grundlagen f ü r den Übergang von der ersten, adligen zur zweiten, bürgerlich-demokratischen Etappe der revolutionären Bewegung in Rußland. Die Literatur wurde im nikolaitischen Rußland trotz der Restriktion, der auch sie sich fügen mußten, zum einzig möglichen Forum einer freiheitlichen Opposition, wie Herzen 1851 feststellte. 3 Ihr gesellten sich Literaturkritik und Publizistik zu. EinNovum waren die revolutionären Proklamationen, deren Verfasser sich an breitere Kreise der Gesellschaft, bisweilen direkt an die Volksmassen wandten. Progressive Ideen wurden auch an den geisteswissenschaftlichen Lehrstühlen der Universitäten verbreitet, die trotz stengster Kontrolle Sammelpunkte der demokratisch-humanistisch gesinnten Intelligenz waren. Von besonderer Tragweite war die Gründung oppositioneller Geheimzirkel, die Herzen eine „natürliche Antwort auf ein tief inneres Bedürfnis des damaligen russischen Lebens" nannte/ 1 In ihnen vereinigte sich die fortschrittliche Intelligenz Rußlands, die „die Entwicklung der Klasseninteressen und der politischen Gruppierungen in der ganzen Gesellschaft am bewußtesten, am entschiedensten und am genauesten widerspiegelt und zum Ausdruck bringt" 5 . Die Gründung solcher illegaler Zirkel, vor allem an der Moskauer Universität, aber auch in relativ abgelegenen Städten wie Astrachan und 2

3 4

5

Vgl. I. A. Fedosov, Revoljucionnoe dvizenie v Rossii vo vtoroj cetverti XIX v. (Revoljucionnye organizacii i kruzki), Moskau 1958. A. Herzen, Rußlands soziale Zustände, a. a. O., S. 82. A. Herzen, Mein Leben. Memoiren und Reflexionen, Bd. 1: 1812-1847, Berlin 1962, S.560; zu den Zirkeln der zwanziger und dreißiger Jahre vgl. I. A. Fedosov, Revoljucionnoe dvizenie, a. a. O., S. 31 ff. W. I. Lenin, Die Aufgaben der revolutionären Jugend, in: Lenin, Werke, Bd. 7, Berlin 1956, S. 32.

Revolutionär-demokratische Ideologie

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Orenburg, war damals die charakteristische Form der revolutionären Tätigkeit in Rußland. Die französische Julirevolution 1830, an der auch Russen teilnahmen 6 , und die anschließenden revolutionären Ereignisse in anderen Ländern Europas führten einige Repräsentanten der studentischen Jugend Rußlands, wie Belinskij, Herzen und Ogarev, zu der Erkenntnis, daß es notwendig sei, um radikale gesellschaftliche Veränderungen zu kämpfen. Auch der polnische Aufstand im November 1830, dem Lenin „vom Standpunkt nicht nur der gesamrussischen, nicht nur der gesamtslawischen, sondern auch der gesamteuropäischen Demokratie aus gesehen, gewaltige, erstrangige Bedeutung" beimaß 7 , hatte großen Einfluß auf die gesellschaftliche Bewegung Rußlands. Die engen Beziehungen der Zirkel Sungurovs und Belinskij s zu fortschrittlichen Polen deuten darauf hin, daß die Mitglieder dieser Gemeinschaften die politische Tragweite des polnischen Aufstandes erkannt hatten. Namentlich Belinskij, der gemeinsam mit dem Studenten und späteren Dichter Tadeusz Zablocki einen polnischen Geheimzirkel in Moskau besuchte, sympathisierte mit revolutionär gesinnten polnischen Studenten und näherte sich der polnischen illegalen revolutionären Bewegung. 8 Die wichtigsten Wesenszüge der in den zwanziger und dreißiger Jahren entstandenen Geheimzirkel waren ein tiefes Gefühl der Entfremdung ihrer Mitglieder vom offiziellen Rußland, ihre leidenschaftliche Ablehnung der Feudalordnung und ihre feste Entschlossenheit, den Grundstein zu einem neuen Rußland zu legen, von dem sie aber im allgemeinen nur verschwommene Vorstellungen hatten. Die meisten Zirkelmitglieder sprachen sich für die Einführung einer Verfassung. Ein Teil trat f ü r die konstitutionelle Monarchie, ein anderer bereits f ü r die republikanische Staatsform ein. Aber konkrete, unter den damaligen Bedingungen realisierbare Pläne f ü r den Kampf gegen die Selbstherrschaft und f ü r die soziale und politische Umgestaltung Rußlands fehlten. Das gilt besonders f ü r die Frage nach der Einbeziehung der Volksmassen in die revolutionäre Bewegung; die im Sungurov-Kreis gehegten Hoffnungen auf die Manufaktur- und Fabrikarbeiter bedeuten dabei einen wesentlichen theoretischen Fortschritt gegenüber der Dekabristenideologie. Von den Zirkeln, die in den dreißiger Jahren entstanden, kam dem 1831 gegründeten Kreis um Herzen und Ogarev eine besondere Bedeutung zu. Seine Mitglieder, deren Mehrheit dem Adel angehörte, fühlten sich wie die Teilnehmer anderer Zirkel als Nachfolger der revolutionären Tradition der Dekabristen und wollten das von diesen begonnene Werk fortsetzen. 9 Wenn vielen von ihnen auch noch die Erkenntnis schwer fiel, daß das russische Volk erwachte und zum Kampf gegen die Feudalordnung angetreten sei, so begannen sie doch die Rolle der Volksmassen in der Geschichte und die Notwendigkeit ihrer Einbeziehung in die revolutionäre Bewegung zu begreifen. Die Beschäftigung mit philosophischen Fragen war f ü r sie schon damals kein Selbstzweck, sondern eine Anleitung zu verantwortungsbewußten sozialem und politischem Handeln. Der Gedanke an eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft ließ den führenden Köpfen dieses Zirkels keine Ruhe. „Wir fühlen", schrieb Herzen im Juli 1833 an Ogarev, „daß die Welt auf eine Erneuerung wartet, daß die B 7

8 9

O. V. Orlik, Rossija i francuzskaja revoljucija 1830 goda, Moskau 1968. W. I. Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in: Lenin, Werke, Bd. 20, Berlin 1968, S. 437. Russkie pisateli v Moskve, Moskau 1973, S. 342. Vgl. A. Herzen, Mein Leben, a. a. O., Bd. 2: 1847-1852, Berlin 1963, S. 401.

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Revolution von 89 nur niedergerissen hat, daß es aber notwendig ist, etwas Neues zu schaffen."10 Herzen schwebte dabei eine Art klassenloser, sozialistischer Gesellschaft vor, die ausschließlich durch eine Revolution erreicht werden könne. Auf der Suche nach einer revolutionären Theorie stießen Herzen und seine Freunde auf den französischen utopischen Sozialismus, vor allem auf den Saint-Simonismus. Dieser zog sie nicht nur durch seine allgemeine Kritik am Kapitalismus an, sondern vor allem durch die Forderung, die arbeitenden Klassen bei der Verteilung der Güter und bei der politischen Führung der Gesellschaft stärker zu berücksichtigen, sowie durch die Betonung der Idee des historischen Fortschritts. Im Gegensatz zu Saint-Simon und anderen utopischen Sozialisten Westeuropas hielten Herzen und seine Freunde jedoch den politischen Kampf für unumgänglich. Obwohl der Kreis um Herzen bereits 1834 der zaristischen Unterdrückungspolitik zum Opfer gefallen war, hatte seine ideologische Arbeit auf die politische Tätigkeit der beiden revolutionären Demokraten Herzen und Ogarev einen nicht zu unterschätzenden Einfluß. „Unser ganzes Leben", schrieb Herzen später, „war nach besten Kräften der Erfüllung des Programms aus der Knabenzeit gewidmet . . . In ständiger Veränderung und Entwicklung begriffen, blieb unsere Propaganda doch sich selbst treu und trug ihren indviduellen Charakter in alles hinein, was uns umgab . . . Zu uns stießen Belinskij, Granovskij und Bakunin, und durch die Aufsätze in den 'Vaterländischen Annalen' stießen wir selbst zu der Petersburger Bewegung der Lyzeisten und der jungen Literatur. Die 'Petraschewzen' waren unsere jungen Brüder, wie die Dekabristen unsere älteren Brüder gewesen sind."11 Die theoretischen Fragen, die im Herzen-Kreis zunächst nur aufgeworfen und erörtert, nicht aber gelöst werden konnten, waren von großer methodologischer Tragweite für die russische revolutionäre Bewegung der Folgezeit. Das Bekenntnis der Zirkelmitglieder zum utopischen Sozialismus Westeuropas erwies sich als ein Wendepunkt in der Geschichte des fortschrittlichen Denkens in Rußland. Mit dem Namen Herzens und Ogarevs ist der Beginn der sozialistischen Tradition in den sozialen Auseinandersetzungen in diesem Land verbunden. In der »Idee des Sozialismus", sahen beide Denker die Grundlage für die Lösung der Frage nach dem künftigen Enwicklungsweg nicht nur Rußlands. Neben dem französischen utopischen Sozialismus war es die Philosophie Hegels, der bei der Begründung der revolutionär-demokratischen Ideologie in Rußland eine besondere Rolle zufiel. Als wichtigster Vermittler erwies sich der 1831/32 an der Moskauer Universität entstandene Stankevic-Kreis, aus dem mit Belinskij, Granovskij, Botkin, Konstantin Aksakov, den Brüdern Kireevskij, Katkov und Bakunin Vertreter der unterschiedlichsten politisch-ideologischen Richtungen hervorgingen. Ein Verdienst dieses Kreises besteht darin, daß er den Anstoß zu einem vertieften Studium der Philosophie Hegels und zu ihrer Verbreitung in Rußland gab. 12 An der Philosophie Hegels entzündeten sich in den dreißiger und vierziger Jahren in Rußland Diskussionen und Auseinandersetzungen über die gegenwärtige und zukünftige Entwicklung des Landes. Ein 10 11 12

A. I. Gercen, Sobranie socinenij v tridcati tomach, Bd. 21, Moskau 1961, S. 20. A. Herzen, Mein Leben, a. a. O., Bd. 2: 1847-1852, Berlin 1963, S. 402. Zur Aufnahme und Verbreitung der Philosophie Hegels in Rußland vgl. auch L. A. Kogan, Iz predystorii gegel'janstva v Rossii, in: Gegel' i filosofija v Rossii. 30-e gody XIX v. -20-e gody XX v„ Moskau 1974, S. 52ff.; M. M. Grigorjan, V. G. Belinskij i problema dejstvitel'nosti v filosofii Gegelja, ebenda, S. 69 ff.; A. J. Abramov, N. P. Ogarev i gegelevskaja filosofija, ebenda, S. 107ff.; A. A. Galaktionov/P. F. Nikandrov, Russkaja filosofija XI-XIX vekov, Leningrad 1970, S. 211 ff.

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Teil der russischen Intelligenz glaubte zeitweilig, aus ihr das Recht auf eine Versöhnung mit der Wirklichkeit ableiten zu müssen. Zu ihnen gehörten Belinskij und Bakunin. Für Herzen war sie jedoch nach gründlicher Analyse eine Rechtfertigung der aktiven Hinwirkung auf eine revolutionäre Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse. Ein weiterer Anstoß zu lebhaften Debatten über die Gegenwart und Zukunft Rußlands kam von Öaadaev, einem in fortschrittlichen Kreisen der russischen Gesellschaft bekannten und geschätzten Denker. 1836 erschien sein unmittelbar nach dem Dekabristenaufstand konzipierter und 1829 verfaßter erster „Philosophischer Brief" im „Teleskop". Dieser Brief, der den Anfang eines ganzen Zyklus von Briefen bildete, brachte die widerspruchsvollen philosophischen, religiösen und historischen Anschauungen des unter dem Einfluß Schellings mehr in christlich-ethischen als in sozialpolitischen Kategorien denkenden Russen zum Ausdruck. Aufrichtige Liebe zur Heimat und letztlich auch der Wille zu ihrer Umgestaltung auf der Grundlage einer religiös motivierten bürgerlichen Demokratie sind aus ihm und den folgenden Briefen deutlich abzulesen. Verzweiflung, Pessimismus und nationaler Nihilismus führten Caadaev aber zu einem abwegigen historischen Konzept. Die russische Geschichte qualifizierte er als Geschichte der Leibeigenschaft und der Selbstherrschaft ab. Er zeichnete ein ungerechtfertigt düsteres Bild von der Entwicklung seines Vaterlandes in Vergangenheit und Gegenwart. Die tiefere Ursache der allgemeinen Rückständigkeit des Landes mit seiner angeblich „völlig auf Entlehnung und Nachahmung ruhenden Kultur" 13 wollte Öaadaev in der Isolierung von der europäischen Völkerfamilie sehen, die er aus dem Gegensatz zwischen Orthodoxie und Katholizismus ableitete. „Wir leben der Gegenwart allein in ihren engsten Grenzen, ohne Vergangenheit und Zukunft, inmitten eines toten Stillstandes...", rief er aus. „Wir wachsen, aber wir reifen nicht; bewegen uns vorwärts, aber auf einer schiefen, d. h. zu keinem Ziele führenden Bahn." 14 Daraus ergab sich für Öaadaev die Schlußfolgerung, daß Rußland nur durch Anschluß an die „abendländische" Kultur sich retten könne, worunter er allerdings - nicht zuletzt unter dem Einfluß katholischer Denker wie de Lamennais und de Maistre - Anschluß an die katholische Kirche verstand. In der Zeit zwischen der Niederschrift des ersten „Philosophischen Briefes" und seiner Veröffentlichung unterlagen die Ansichten Öaadaevs einer gewissen Evolution. Die Julirevolution in Frankreich und überhaupt die Ereignisse der dreißiger Jahre in Europa, aber auch die Entwicklung in Rußland bewirkten, daß er sein Vaterland weniger pessimistisch und Westeuropa weniger optimistisch beurteilte. Die postum erschienene „Apologie eines Irrsinnigen" aus dem Jahre 1837 legt davon Zeugnis ab. Er glaubte nunmehr, daß Rußland berufen sei, „die Mehrzahl der sozialen Probleme zu lösen, die Mehrzahl der in den alten Gesellschaften entstandenen Gedanken zu verwirklichen, über die wichtigsten das Menschengeschlecht beschäftigenden Fragen ein endgültiges Urteil zu fällen" 15 . Eine reale Perspektive konnte Caadaev seinem Vaterland allerdings nicht zeigen. Die Frage nach der historischen Mission des russischen Volkes und nach dem künftigen Entwicklungsweg Rußlands, der Öaadaev immer eine große Bedeutung beimaß, erwies sich als aktuelles Problem, das in den vierziger Jahren in den Mittelpunkt i;i

14 15

1. „Philosophischer Brief" Caadaevs, in: Peter Tschaadajew, Schriften und Briefe, übersetzt und eingeleitet von E. Hurwicz, München 1921, S. 40. Ebenda, S. 40 f. P. J. Caadaev, Apologie eines Irrsinnigen, ebenda, S. 152.

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zahlreicher politisch-ideologischer Auseinandersetzungen rückte. Sie wurde das zentrale Thema in den Kontroversen zwischen konservativen Slawophilen und liberalen Westlern, die sich bereits um die Wende der dreißiger zu den vierziger Jahren trotz persönlicher Kontakte und Übereinstimmung in Grundfragen der Geschichte 16 als zwei gegensätzliche Lager des geistigen Lebens in Rußland formierten und in den vierziger Jahren allmählich voneinander abgrenzten. Das unterschiedliche Herangehen an diese Kernfrage der russischen Geschichte war aber auch ein Impuls zu der in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre stattfindenden langsamen Distanzierung der linken Westler und linken Petraschewzen von den Liberalen, damit zur Formierung der revolutionären Demokratie als Richtung der gesellschaftlichen Bewegung in Rußland. Zu den bedeutendsten Vertretern der Slawophilen, die durch ihre Liebe zum russischen Brauchtum, durch ihre Forderung nach einer echten Volksverbundenheit der Kultur und durch ihre von Nationalbewußtsein getragene Pflege des kulturellen Erbes in der russischen Kulturgeschichte teilweise eine progressive Rolle spielten, zählten Chomjakov, die Brüder Kireevskij und Aksakov sowie Samarin und Koselev. Sie waren als im wesentlichen konservative adlige Gutsbesitzer von einer im vorpetrinischen russischen Staat geprägten „Eigenart" und von einer „Eigenständigkeit" der Entwicklung Rußlands überzeugt und verurteilten in diesem Sinne die petrinischen Reformen und die . damit angestrebte „Europäisierung" Rußlands. Sie waren grundsätzlich Gegner der Leibeigenschaft, glaubten aber an einen von dem übrigen Europa unabhängigen Entwicklungsweg ihres Vaterlandes. Die von ihnen idealisierte russische Dorfgemeinde verhüte die Entstehung eines Proletariats, in der Orthodoxie seien die Grundlagen der christlichen Religion in ihrer wahren Gestalt erhalten, und das angeblich harmonische Zusammenwirken von Volk und Staat mache eine Revolution in Rußland unmöglich, den bürgerlichen Konstitutionalismus überflüssig. Die Slawophilen verneinten also die in den dreißiger und vor allem in den vierziger Jahren diskutierte Frage, ob Rußland ähnlich wie die bürgerlichen Nationen Westeuropas den Weg der kapitalistischen Entwicklung gehen würde. Damit leugneten sie die Einheit der Weltgeschichte und das Wirken allgemeiner historischer Gesetzmäßigkeiten. Revolution und Sozialismus lehnten sie ganz entschieden ab. Ihnen stellten sie ihre Ideale eines auf Vernunft und Glauben begründeten friedlichen Nebeneinanders von Gutsbesitzern und Bauern unter dem „Schutz" des Zaren und der orthodoxen Kirche gegenüber. Diese Grundkonzeption der Slawophilen, die bei verschiedenen Vertretern aktuellen Modifikationen in Richtung auf bürgerlich-liberale Denkansätze sowie auf eine gewisse Opposition gegen Willkürakte des Zarismus unterlag 1 7 , erwies sich in wesentlichen Punkten als Stütze der zaristischen Regierung, darf aber nicht mit deren Konzept pauschal gleichgesetzt werden. In grundsätzlicher Opposition zu ihnen standen die Westler als Repräsentanten der bürgerlich-liberalen Intelligenz. Ihre namhaftesten Vertreter waren Granovskij, Kavelin, Botkin, Caadaev, Annenkov und I. S. Turgenev sowie als Exponenten des linken Flügels zunächst auch Belinskij, Herzen und Ogarev. Die Westler unterschieden sich von den Slawophilen durch ihre Auffassung von der Geschichte als einheitlichem Prozeß, der Rußland auf jeden Fall einschließe. Sie waren grundsätzlich der Meinung, daß 10

17

Vgl. E. A. Dudzinskaja, Idejno-teoreticeskie pozicii slavjanofilov nakanune krest'janskoj reformy, in: Istorija SSSR (1972) 5, S. 139 ff. Ebenda; dies., Burzuaznye tendencii v teorii i praktike slavjanofilov, in: Voprosy istorii (1972), Nr. 1, S. 49 ff.

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das russische Volk auch in seiner künftigen Entwicklung den gleichen Weg gehen werde wie die Völker Westeuropas - den Weg des Kapitalismus und des bürgerlichen Fortschritts. Daher wollten sie „die Zeiten, welche seit Peter I. verstrichen waren, die Anstrengungen eines so rauhen, so mühevollen Jahrhunderts" nicht austilgen. „Was man durch so viele Leiden, mit Strömen von Blut errungen hatte, das wollten sie nicht verleugnen, um zu einer beengenden Ordnung der Dinge, zu einer nationalen Abgeschlossenheit, zu einer stabilen Kirche zu gelangen." 1 8 Im Unterschied zu den Slawophilen, die in Westeuropa nur soziale Fäulnis sehen wollten, maßen die Westler, wie Herzen später schrieb, der Tatsache entscheidende Bedeutung für ihr Bekenntnis zum Westen bei, daß dieser, namentlich Frankreich, „kühn die soziale Frage aufwarf", so daß anzunehmen war, „daß es sie wenigstens teilweise lösen würde" 19 . Die Mehrheit der liberalen Westler stimmte mit den Slawophilen allerdings darin überein, daß sie revolutionäre Umgestaltungen, der bestehenden Ordnung in Rußland ablehnte. Im Verlauf der Vierziger Jahre, vor allem 1848/49, zeigte sich deutlich, daß die Majorität der Westler aus Furcht vor revolutionären Aktionen der Volksmassen immer mehr auf reformistische Positionen überging und daß in ihren gesellschaftlichen Idealen die liberalen Anschauungen endgültig über die demokratischen die Oberhand gewannen. Im Interesse der kapitalistisch wirtschaftenden Gutsbesitzer, nicht aber zugunsten der Bauern setzten sie siich für die Aufhebung der Leibeigenschaft und für eine bürgerliche Entwicklung Rußlands ein. Dieser Linie konnten Belinskij, Herzen und Ogarev nicht mehr folgen. Sie distanzierten sich daher in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre in ihren Auffassungen trotz persönlicher Freundschaften von den Slawophilen, zum anderen aber auch bereits von den liberalen Westlern und verteidigten entschieden ihre revolutionär-demokratischen Positionen. Zu den Grundfragen, in denen die Meinungen zwischen Westlern und Slawophilen einerseits und revolutionären Demokraten andererseits diametral auseinandergingen, wobei unterschiedliche Klassenstandpunkte deutlich wurden, gehörten Idealismus oder Materialismus, Liberalismus oder Demokratie, Reform oder Revolution. Die endgültige Abgrenzung der revolutionären Richtung gegenüber konservativer und liberaler Opposition vollzog sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. unter dem Einfluß der Lehren der Revolution von 1848/49 iin West- und Mitteleuropa sowie auf Grund der Zuspitzung der Klassenkämpfe und der revolutionären Situation in Rußland 1 8 5 9 - 6 1 . Die Probleme, vor denen die revolutionäre Bewegung Rußlands in den vierziger Jahren stand, spiegeln sich in der vielseitigen Tätigkeit und in den Werken ihrer grossen Repräsentanten wider, die zu jener Zeit in Rußland wirkten. Das waren in erster Linie Belinskij, Herzen, Ogarev und die Führer der linken Petraschewzen. Jeder von ihnen brachte - trotz vieler Gemeinsamkeiten, sachlicher und persönlicher Verbindungen und auch gegenseitiger Beeinflussung - seine persönlichen Auffassungen in die revolutionäre Ideologie. Der aus armen Verhältnissen stammende Belinskij, mit dem, wie Lenin feststellte, „noch unter der Leibeigenschaft" die völlige Verdrängung der Adligen aus der Befreiungsbewegung Rußlands durch die Rasnotschinzen begann 20 , hatte zu Beginn der vier18 ln

20

A. Herzen, Rußlands soziale Zustände, a. a. O., S. 139. Ders., Briefe an einen Gegner (J. Samarin), 1. Brief, in: Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1949, S. 572. W. I. Lenin, Aus der Vergangenheit der Arbeiterpresse in Rußland, in: Lenin, Werke, Bd. 20, Berlin 1968, S. 242 f.

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ziger Jahre nach langer Suche und wiederholter Überprüfung seiner Auffassungen seine Entwicklungskrise der dreißiger Jahre überwunden, seine Fehlschlüsse aus der Philosophie Hegels erkannt und mutig verurteilt. Einen Anteil an dieser Wende in seinem politisch-ideologischen Reifeprozeß kam den Arbeiten Ludwig Feuerbachs und anderer Junghegelianer zu, die seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre aus der Philosophie Hegels antifeudale und atheistische Schlußfolgerungen gezogen und bei der ideologischen Vorbereitung der bürgerlich-demokratischen Revolution zeitweilig eine progressive Rolle gespielt hatten. Hinzu kamen die Wirkung der kritischen Aneignung des utopischen Sozialismus, insbesondere der Lehren der französischen utopischen Sozialisten Saint-Simon, Blanqud und Cabet, und die Impulse der revolutionären Bewegung in West- und Mitteleuropa. Von entscheidender Bedeutung für den weiteren Entwicklungsweg Belinskijs waren aber die Verhältnisse in Rußland selbst, die Verschärfung der 'Klassengegensätze, der Kampf der Bauern sowie der Fabrik- und Manufakturarbeiter für ihre Rechte und vor allem jener Aufschwung der revolutionären Bewegung, der Anfang der vierziger Jahre einsetzte. Als eine große Hilfe für Belinskij erwiesen sich die realistische russische Literatur und ihr Kampf gegen die Grundlagen der Feudalordnung, die 1840 zur Versöhnung führenden Auseinandersetzungen mit Herzen, den er 1839 kennengelernt hatte, und der Einfluß Petersburgs, wohin er im Oktober 1839 übersiedelte, um den kritischen Teil der „Otecestvennye zapiski" zu leiten, einer Zeitschrift, die unter seinem Einfluß zum führenden Organ der russischen Demokratie und zu einem Sammelpunkt aller progressiven Kräfte des geistigen Lebens im Rußland der vierziger Jahre werden sollte. In Petersburg begann die Entwicklung Belinskijs von einem Anhänger des objektiven Idealismus hegelianischer Prägung zu einem Kämpfer für die materialistische Weltanschauung, vom humanistischen „Aufklärer" zum revolutionären Demokraten und utopischen Sozialisten. Seine Gedanken hat er als Ergebnis qualvoller Suche, die Rückschläge und Schwankungen zwischen den ideologischen Extremen nicht ausschloß, in zahlreichen Rezensionen und Artikeln sowie in seiner umfassenden Korrespondenz niedergelegt, bisweilen auch nur andeuten können. Im Mittelpunkt seiner philosophischen Überlegungen stand der Gedanke der Entwicklung als Entstehung von Neuem. Er war davon überzeugt, daß es ohne das Streben nach Neuem keine Bewegung, keinen Fortschritt in der Geschichte und im Leben geben kann. 2 1 Entstehung von Neuem ist aber immer zugleich Negation von Altem. Mit dieser Erkenntnis war Belinskij zum Verständnis der Dialektik vorgedrungen, die ihn schon früher an der deutschen idealistischen Philosophie besonders angezogen hatte. Die Anwendung dieser philosophischen Erkenntnis auf die soziale und politische Entwicklung in Rußland, die Belinskij stets mehr als rein theoretische Erörterungen interessierte, hieß Negation des Zarismus und Bejahung des notwendigen Kampfes gegen ihn. Diese Idee wurde mehr und mehr zum beherrschenden Moment seines Denkens. „Die Negation ist mein Gott", schrieb er am 20. September 1841 an seinen Freund Botkin. „In der Geschichte sind meine Helden die Zerstörer des Alten - Luther, Voltaire, die Enzyklopädisten, die Terroristen, Byron ('Kain') und andere mehr." 22 Schon in dieser Äußerung läßt sich die Position Belinskijs auf der Traditionslinie der revolutionären Kritik Radiscevs und 21

22

V. G. Belinskij, Rezensionen (März-April 1845), in: Polnoe sobranie socinenij, Bd. 9, Moskau 1955, S. 13. W. G. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1950, S. 186.

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der Dekabristen an der zaristischen Selbstherrschaft und der Leibeigenschaft erkennen, der er bereits in seinem Jugenddrama „Dmitrij Kalinin" 1830 Ausdruck verliehen hatte. Bereits im Januar 1841 hatte Belinskij die Forderung nach einer grundlegenden Neugestaltung der bestehenden Verhältnisse erhoben. „ . . . das ganze gesellschaftliche Fundament unserer Zeit muß der strengsten Revision und einer radikalen Umgestaltung unterzogen werden, was auch früher oder später geschehen wird. Es ist an der Zeit, daß sich die ohnehin unglückliche menschliche Persönlichkeit von den abscheulichen Fesseln einer unvernünftigen Wirklichkeit befreit . . .*23 Belinskij drang zu der Erkenntnis vor, daß die Volksmassen zur entscheidenden Kraft des historischen Fortschritts werden könnten und würden. „Das Volk", schrieb er Mitte der vierziger Jahre in seiner Rezension des Romans „Die Geheimnisse von Paris" von Eugène Sue, „ist ein Kind; aber dieses Kind wächst und verspricht, zum kräftigen, vernünftigen Manne zu werden . . . Es ist noch schwach, aber in seiner Hut allein liegen das Feuer des Lebens der Nation und die frische Begeisterung der Überzeugung, die in den 'gebildeten' Schichten der Gesellschaft erloschen sind."24 Freiheit der Persönlichkeit, auch für die breiten Volksmassen, und folgerichtig Aufhebung der Leibeigenschaft waren für Belinskij in den vierziger Jahren zentrale Fragen, um die sein Denken kreiste und auf die er alle Kräfte seines publizistischen Talents konzentrierte. Sie kennzeichneten auch seinen bekannten „Brief an Gogol" aus dem Jahre 1847, der in Rußland in Abschriften verbreitet wurde und große Resonanz fand. Lenin bezeichnéte ihn als „eins der besten Erzeugnisse der unzensierten demokratischen Presse" Rußlands.25 In diesem Briefe formulierte Belinskij das Minimalprogramm der revolutionären Demokratie der vierziger Jahre. Die „brennendsten und aktuellsten nationalen Fragen in Rußland" waren für ihn „die Vernichtung der Leibeigenschaft, die Abschaffung der Prügelstrafe, die möglichst strenge Einhaltung wenigstens jener Gesetze, die es gibt" 26 . In den vierziger Jahren stand das intensive Studium des französischen utopischen Sozialismus im Mittelpunkt der Interessen Belinskij s. Er hoffte, daraus theoretische Anregungen für die Umgestaltung der Gesellschaft in Rußland zu finden. Am 20. September 1841 schrieb er an Botkin: „Und so bin ich jetzt bei einem neuen Extrem das ist die Idee des Sozialismus, die für mich zur Idee der Ideen, zum Sein des Seins, zur Frage der Fragen, zum A und O des Glaubens und des Wissens geworden ist. Alles aus dieser Idee, für sie und zu ihr hin. Sie ist die Frage und die Antwort auf die Frage. Sie hat (für mich) sowohl die Geschichte als auch die Religion und die Philosophie verschlungen. Und deshalb ist sie für mich jetzt die Erklärung meines Lebens, Deines Lebens und des Lebens aller,denen ich auf demWege des Lebens begegnet bin." 27 Der Inhalt seines sozialistischen Ideals und der Weg, auf dem es erreicht werden könnte, waren Belinskij allerdings in vielem noch unklar. Aber im Gegensatz zu den meisten Vertretern des westeuropäischen utopischen Sozialismus orientierte Belinskij stärker auf sozialen Realismus. Er faßte den Sozialismus vor allem als ein Ergebnis 23

24 25 26

Belinskij an Botkin, 11. 1./4. 2. 1841, in: V. G. Belinskij, Polnoe sobranie, a. a. O., Bd. 12, Moskau 1956, S. 13. W. G. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, a. a. O., S. 367. W. I. Lenin, Aus der Vergangenheit der Arbeiterpresse in Rufjland, a. a. O., S. 243. W. G. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, a. a. O., S. 568. Ebenda, S. 180 f.

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der gesetzmäßigen gesellschaftlichen Entwicklung auf, die die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht umgeht. Das war ohne Zweifel ein großer Fortschritt. Trotz Schwankungen dominierte bei Belinskij die Meinung, daß der Sozialismus nur auf revolutionärem Weg zu erreichen sei. Eng verknüpft mit der Sozialismusauffassung Belinskij s und seinem Bemühen um eine theoretische Fundierung der revolutionären Bewegung in Rußland war seine kritische Einschätzung der sozialen und politischen Vorgänge in Westeuropa, mit der er sich von der Mehrheit der liberalen Westler distanzierte. Unter dem Einfluß der ersten Arbeiten von Marx und Engels 28 sprach er sich gegen die Ausbeutung der Werktätigen, gegen die politische Herrschaft der Bourgeoisie aus und unterzog den bürgerlichen Liberalismus einer scharfen Kritik. 29 Während seines Aufenthaltes im Ausland 1847 lernte Belinskij die Ausmaße der kapitalistischen Ausbeutung auch persönlich kennen. Auf dem Wege nach dem schlesischen Kurort Salzbrunn kam er durch die Elendsgebiete der schlesischen Weber, in denen er zum erstenmal „die furchtbare Bedeutung der Worte Pauperismus und Proletariat verstehen gelernt" habe, wie er in einem Brief an Botkin schrieb. 30 Dennoch stand für ihn trotz gewisser Schwankungen grundsätzlich fest, daß der Kapitalismus ein gesetzmäßiges Stadium der sozialökonomischen Entwicklung sei und Rußland nicht ausklammern werde. Am 27. Februar 1848, kurz vor seinem Tode, schrieb er in diesem Sinne an Annenkov, daß der eigentliche Prozeß der bürgerlichen Entwicklung Rußlands erst dann einsetzen werde, wenn der russische Adel zur Bourgeoisie geworden sei. 31 Die Suche Belinskijs nach einer neuen revolutionären Theorie, sein Glaube an eine große Zukunft seines Vaterlandes 32 und seine Überzeugung, daß es Rußland besser als das übrige Europa verstehen werde, die soziale Frage zu lösen und mit Kapital und Eigentum Schluß zu machen 33 , haben der revolutionären Bewegung in Rußland nachhaltige Impulse gegeben. An der Wende der dreißiger zu den vierziger Jahren kam es zwischen Herzen und den Mitgliedern des Stankevic-Zirkels zu heftigen Auseinandersetzungen um die Schlußfolgerungen, die jene aus der Philosophie Hegels zogen. In einem für die Entwicklung der revolutionären Ideen grundlegenden Meinungsstreit mit Belinskij verteidigte Herzen seine sozialistische Überzeugung und kämpfte - unterstützt von Ogarev - für die Erhaltung der Kontinuität in der revolutionären Bewegung Rußlands. Grundstein der philosophischen Ansichten Herzens war die Idee der ständigen Bewegung in Natur und Gesellschaft. Der Kampf zwischen Neuem und Altem, die Negation des Alten und der unvermeidliche Sieg des Neuen waren für ihn - ähnlich wie für Belinskij, mit dem er sich 1840 versöhnte - ein Entwicklungsgesetz der menschlichen Gesellschaft. 1842/43 erschien als erstes Dokument der Auseinandersetzung Herzens mit dem Hegeischen Idealismus der Artikelzyklus „Der Dilettantismus in der Wissenschaft", der die Suche des russischen Denkers nach einem neuen 28

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Belinskij an Herzen, 7. 2. 1845, in: V. G. Belinskij, Polnoe sobranie, a. a. O., Bd. 12, Moskau 1956, S. 250. Belinskij an Botkin, Dezember 1847, in: W. G. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften; a. a. O., S. 561 ff. Belinskij an Botkin, 19. 7. 1847, ebenda, S. 557. V. G. Belinskij, Polnoe sobranie, a. a. O., Bd. 12, Moskau 1956, S. 468. W. G. Belinskij, Betrachtungen über die russische Literatur des Jahres 1846, in: Ausgewählte philosophische Schriften, a. a. O., S. 408 f. V. G. Belinskij v vospominanijach sovremennikov, Moskau 1962, S. 184.

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philosophischen System reflektiert und noch in der zweiten Hälfte des 19. Jh. bei der revolutionären Demokratie weiterwirkte. In ihm bemühte sich der Verfasser um eine Verarbeitung der Hegeischen Dialektik in materialistischem Sinne. In seinen neuen Erkenntnissen wurde er durch Feuerbachs „Wesen des Christentums" bestärkt. Wenn der Artikelzyklus Herzen auch noch nicht als konsequenten Materialisten ausweist, so half er der fortschrittlichen Intelligenz Rußlands doch, sich vom philosophischen Idealismus zu befreien, und trug dazu bei, ihr die dialektische Denkmethode zu erschliessen. Er war letztlich ein Aufruf zu bewußter Opposition gegen das zaristische Regime, ja gegen Basis und Überbau des ganzen Feudalsystems in Rußland. Darin liegt seine Bedeutung für die russische revolutionäre Bewegung. Ein Höhepunkt im Schaffen Herzens als Philosoph bilden seine „Briefe über das Studium der Natur" (1845-1846), die bei der Begründung und Weiterentwicklung der materialistischen Tradition in der russischen Philosophie eine bedeutende Rolle spielten. Lenin schätzte dieses Werk sehr hoch ein. Herzen habe es in dem leibeigenen Rußland der vierziger Jahre des 19. Jh. vermocht, „sich auf das Niveau der größten Denker seiner Zeit zu erheben". Er habe sich die Dialektik Hegels zu eigen gemacht und begriffen, daß sie die „Algebra der Revolution" sei. Doch Herzen ging, wie Lenin bemerkte, weiter als Hegel. Im Gefolge Feuerbachs rang er sich zum Materialismus durch. „Herzen kam ganz dicht an den dialektischen Materialismus heran und machte halt vor dem - historischen Materialismus." 3 4 Es ist sicher nicht abwegig, die tiefere Ursache dafür, daß Herzen vor dem historischen Materialismus halt machte, auch in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rückständigkeit des zaristischen Rußland zu sehen. Herzens Verdienste um die Erarbeitung der philosophischen Grundlagen der revolutionären Bewegung Rußlands stehen außer Zweifel. Er leitete aus der Philosophie Hegels nicht die Notwendigkeit einer Aussöhnung mit der Wirklichkeit ab, sondern zog aus ihr revolutionäre Schlußfolgerungen. In konsequenter Anwendung der dialektischen Methode deutete er die These Hegels von der Vernünftigkeit alles Bestehenden dahingehend, daß auch die Negation des Bestehenden, wenn sie existiert, d. h. der Kampf gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, „sofern er vorhanden ist" 35 , vernünftig und gerechtfertigt sei. Darüber hinaus erschien Herzen der Sozialismus „als der natürlichste Schlußsatz der Philosophie, als die Anwendung der Logik auf den Staat". Er sprach von einem „Bündnis der modernen Philosophie mit dem Sozialismus", wobei er unter der modernen Philosophie das System Hegels verstand. 3 6 Herzens Denken kreiste auch um die Idee der Freiheit der Persönlichkeit, die dem Gedankengut der Aufklärung entstammte. Noch 1850 bezeichnete er ihre Realisierung als „eine höchst wichtige Sache". „ Auf ¡ihr und nur auf ihr kann die wirkliche Freiheit des Volkes erwachsen" 37 . Kampf um die Freiheit der Persönlichkeit war damals auch f ü r ihn in erster Linie Kampf um eine Einschränkung der Autokratie und vor allem um die Aufhebung der Leibeigenschaft. Gerade dieses Problem bewegte ihn besonders, und zwar aus einer tiefen Sympathie zum russischen Bauern, dessen Leben er auf den Gütern seines Vaters und während seiner Verbannung kennengelernt hatte. Vieles deutete auf Herzens frühe Erkenntnis hin, daß es kein Mittel gab, die Frage der Aufhebung der 34 33 3,5 37

W. I. Lenin, Dem Gedächtnis Herzens, in: Lenin, Werke, Bd. 18, Berlin 1965, S. 10. A. Herzen, Mein Leben, a. a. O., Bd. 1: 1812-1847, Berlin 1962, S. 538 f. Ders., Rußlands soziale Zustände, a. a. O., S. 170. Ders., Vom anderen Ufer, in: Ausgewählte philosophische Schriften, a. a. O., S. 358.

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Leibeigenschaft in Rußland „ohne eine massenhafte Insurrektion der Bauern, ohne eine gewaltsame Erschütterung des Grundbesitzes zu lösen, weil die Veränderung des Besitzes, die mit bewaffneter Hand zu Wege gebracht sind, als faits accomplis betrachtet werden, welche die politische Ökonomie gebührendermaßen legalisiert" 38 . Im Januar 1847 verließ Herzen Rußland und übersiedelte nach Paris. Die Verbindung mit Rußland blieb vor allem über die Korrespondenz mit seinen „Moskauer Freunden" erhalten, zu denen namentlich Botkin, Granovskij, Kavelin und Kors gehörten, die er über seine Ansichten informierte und von denen er über das Geschehen in der Heimat auf dem laufenden gehalten wurde. Im Ausland nahmen Herzen und Ogarev, der 1856 in die Emigration ging, aktiv am politischen Leben teil und machten mit ihren Arbeiten sowie in Briefen und persönlichen Gesprächen die europäische Demokratie mit dem wahren Rußland, dem Rußland des Volkes, bekannt. In Paris erlebte Herzen die politische und soziale Entwicklung des „Westens" am Vorabend der Revolution, die ihn tief enttäuschte. Mit großen Hoffnungen auf die revolutionäre Bourgeoisie Westeuropas war er ausgewandert, und was er vorfand, war jene reaktionäre Bourgeoisie, die in ihrem ganzen Wesen sowohl Herzen und Ogarev als auch Belinskij fremd war. E r fällte zu einer Zeit, da die bürgerliche revolutionäre Bewegung in Westeuropa bereits ihre Kraft verloren hatte und die proletarische noch nicht herangereift war, ein hartes Urteil über die westeuropäische Bourgeoisie, das ihren historischen Verdiensten sicher nicht gerecht wird, aber ihren reaktionären Klassencharakter am Vorabend, während und nach der bürgerlich-demokratischen Revolution treffend kennzeichnet. 39 Die Jahre 1848/49 waren nicht nur in der Geschichte der Länder Europas, in denen Revolutionen ausbrachen, sondern auch in der Geschichte Rußlands, das von keiner Revolution erschüttert wurde, insbesondere in der Geschichte seiner revolutionären Bewegung, eine wichtige Zäsur. 40 Nikolaus I. und seine Anhänger blickten erschrocken auf den Zusammenbruch der reaktionären Regime und auf das Auftreten des Proletariats als selbständiger sozialer Kraft, die bewußt für die Ausgebeuteten kämpfte. Mehr als je zuvor fühlte die russische Reaktion, die sich der zunehmenden Bauernbewegung konfrontiert sah, die Nähe der Revolution und trotz der durch harte Maßnahmen erzwungenen relativen Ruhe im Lande die Möglichkeit ihres Ausbruchs in Rußland. Zündstoff hatte sich genug angesammelt. Der Zarismus verstärkte daher den reaktionären innenpolitischen Kurs, der auf eine noch stärkere Isolierung seines Reiches von den fortschrittlichen Ideen West- und Mitteleuropas orientierte. Es begannen für Rußland die „sieben düsteren Jahre". Die revolutionären Ereignisse führten in allen Ländern zu einer noch deutlicheren gegenseitigen Abgrenzung der unterschiedlichen politisch-ideologischen Richtungen der gesellschaftlichen Bewegung. Rußland bildete darin keine Ausnahme. Auch hier machte die Polarisierung weitere Fortschritte. Die Slawophilen suchten ihre Angst vor der Revolution und ihre Niedergeschlagenheit angesichts der Ereignisse in Europa dadurch zu überwinden, daß sie sich letztlich mit dem Kampf des Zarismus und seiner Ideologen gegen die revolutionäre Bewegung solidarisierten. Ihre Mehrheit gab ihre einstige Linie der gemäßigt

33 39

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Ders., Rußlands soziale Zustände, a. a. O., S. 167. A. I. Gercen, Pis'ma iz Francii i Itaiii, Brief 1: 3. Juni 1847, in: Sobranie socinenij, a. a.O., Bd. 5, Moskau 1955, S. 34; ders., Pis'ma iz Avenue Marigny, Brief 4: September 1847, ebenda, S. 239. Vgl. dazu A. S. Nifontow, Rußland im Jahre 1848, Berlin 1954.

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oppositionellen Haltung gegenüber dem Zarismus auf und ging auf dessen konterrevolutionäre Positionen über. In der Erhaltung der Eigenart und der Integrität der zaristischen Selbstherrschaft, im Verzicht auf alle politischen Reformen sah sie die Rettung ihrer Heimat. Abgrenzung von Westeuropa aus Furcht vor einer revolutionären Massenbewegung war 1848 mehr denn j e die Devise der Mehrheit der Slawophilen, die damit einmal mehr ihren reaktionären Klassenstandpunkt als konservative adlige Gutsbesitzer zum Ausdruck brachte. Auch die Mehrheit der Westler lehnte in den Revolutionsjähren bei aller Distanz zum Zarismus und zu den Slawophilen selbständige revolutionäre Aktionen der Volksmassen entschieden ab. In dieser Haltung wurde das Klassenwesen des gemäßigten bürgerlichen Liberalismus deutlich. Der russische Liberalismus, der später die Stimmungen und die Ideologie der politisch schwachen, eng mit dem Zarismus verbundenen Bourgeoisie reflektierte, erwies sich bereits 1848/49, zu Beginn seiner deutlicheren Formierung, als konterrevolutionäre Strömung. Die fortschrittlichen Kräfte Rußlands hingegen verfolgten den Aufschwung der revolutionären Bewegung in den verschiedenen Ländern Europas mit Begeisterung. Einige Russen, so Bakunin in Prag und in Dresden, beteiligten sich unmittelbar an den revolutionären Aufständen der Volksmassen. Belinskij, den die Nachricht von der Februarrevolution in Frankreich noch lebend erreichte, „starb in der Annahme, ihr Feuerschein sei der anbrechende Morgen" 4 1 . Für ihn war diese Revolution der Triumph seiner „liebsten, innigsten Hoffnungen". 4 2 Im Wirken der Petersburger Petraschewzen erwiesen sich die revolutionären Ereignisse von 1848 ebenfalls als ein deutlicher Einschnitt. Zu den meist unbemittelten Adligen und Rasnotschinzen, die sich seit 1844 bei dem Beamten des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten M . V. Butasevic-Petrasevskij versammelten, gehörten neben so bekannten Persönlichkeiten wie den Schriftstellern Saltykov-Scedrin und Dostoevskij, den Dichtern Plesceev und Majkov, dem Geographen Semenov und dem Pianisten Rubinstejn zahlreiche Lehrer, Studenten, niedere Beamte, Offiziere und Kaufleute. Führende Theoretiker und Organisatoren der Petraschewzen waren Petrasevskij selbst, Spesnev, Chaykov, Balasoglo, Mombelli, Golovinskij und Achia-rumov. 4 3 Im Mittelpunkt der lebhaften Diskussionen standen nicht nur philosophische Probleme, sondern auch soziale und politische Fragen, vor allem die Frage nach dem künftigen Entwicklungsweg Rußlands. In seiner Aussage vor Gericht erklärte Petrasevskij später, daß ihn im Zusammenhang mit den großen europäischen Problemen immer das gesellschaftliche Leben in Rußland, insbesondere die Frage der Bauernbefreiung, interessiert habe. 4 4 Auf allen Versammlungen und in mehreren Arbeiten der Petraschewzen offenbarte sich ihre Entschlossenheit, zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse in Rußland, namentlich zur Aufhebung der Leibeigenschaft, beizutragen. Eine der wichtigsten ideologischen Quellen ihrer revolutionären Theorie war das

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A. Herzen, Mein Leben, a. a. O., Bd. 1: 1812-1847, Berlin 1962, S. 555. A. S. Nifontow, Rußland im Jahre 1848, a. a. O., S. 175. Vgl. zu dieser Problematik Delo petrasevcev, Bd. 1-3, Moskau-Leningrad 1937-1951; Petrasevcy. Sbornik materialov, Bd. 1-3, Moskau-Leningrad 1926-1928; Filosofskie i obscestvenno-politiceskie proizvedenija petrasevcev, Moskau 1953; V. R. Lejkina-Svirskaja, Petrasevcy, Moskau 1965; I. A. Fedosov, Revoljucionnoe dvizenie, a. a. O., S. 265 ff. M. V. Butasevic-Petrasevskij, Pokazanie, in: Filosofskie i obscestvenno-politiceskie proizvedenija, a. a. O., S. 443. Klassenkampf

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System Fouriers. Die akzeptablen Gedanken dieses fanzösischen Denkers, aber auch anderer west- und mitteleuropäischer utopischer Sozialisten suchten sie unter schwierigen Bedingungen in modifizierter Form auf die Verhältnisse im nikolaitischen Rußland anzuwenden. 4 5 Vor allem die Kritik Fouriers an den kapitalistischen Verhältnissen, in denen er die Ursache der Krisen, der Not und des sozialen Elends sah, und sein Zukunftsbild einen harmonischen Gesellschaftsordnung, die auf genossenschaftlicher Arbeit und gerechter Verteilung der erzeugten Produkte beruht, zogen viele Petraschewzen in ihren Bann. Damit wurden freilich auch Mängel des Fourierschen Systems übernommen, obwohl die revolutionär-demokratisch gesinnten Zirkelmitglieder die kleinbürgerliche Beschränktheit der Lehre des Franzosen, seinen Apolitismus, seinen Verzicht auf den Klassenkampf und auf die Revolution ablehnten. Für sie war unter dem Einfluß von Belinskij, Herzen und Ogarev die enge Verbindung zwischen utopischem Sozialismus und revolutionär-demokratischer Ideologie charakteristisch. Dadurch unterschieden sie sich vom utopischen Sozialismus westeuropäischer Denker. Von großer Bedeutung f ü r die theoretische Arbeit der revolutionären Bewegung in Rußland war das unter unmittelbarer Teilnahme mehrerer Petraschewzen 1845/46 entstandene „Taschenbuch der Fremdwörter, die in die russische Sprache Eingang gefunden haben". Initiator und Chefredakteur dieses Unternehmens war Petrasevskij. Das Werk, das in Rußland großes Aufsehen erregte, übte in den Definitionen verschiedener Begriffe scharfe Kritik an der Feudalordnung Rußlands und an den kapitalistischen Verhältnissen Westeuropas. Neben der Mitarbeit an diesem „Taschenbuch" gehörte die Gründung einer eigenen umfangreichen und häufig benutzten Bibliothek als Mittel zur Verbreitung revolutionärer Ideen zu den wichtigsten praktischen Maßnahmen der Petraschewzen. Die systematische Sammlung von Büchern zur Geschichte der revolutionären Bewegung, zu Geschichte und Theorie des Sozialismus, zur Philosophie und zur politischen Ökonomie ließ bald die im damaligen Rußland größte Bibliothek auf diesen Gebieten entstehen; Petrasevskij konnte als Übersetzer im Außenministerium manches konfiszierte Buch abzweigen. 4 6 Unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse von 1848 vertieften die revolutionär-demokratischen Petraschewzen die theoretische Beschäftigung mit den Voraussetzungen, den Grundlagen, dem Charakter und dem Ziel der künftigen Revolution und des Sozialismus in Rußland. Die Zahl ihrer Anhänger nahm zu, neue Zirkel in Petersburg, Moskau, Tambov, Kazan' und Kiev entstanden. Vor allem kam es in diesem Jahr zu einer noch stärkeren Abgrenzung zwischen den verschiedenen Gruppierungen der revolutionär-demokratischen Zirkelmitglieder und den Liberalen, deren Mehrheit sich von Petrasevskij trennte und damit den lange bestehenden sachlichen Meinungsverschiedenheiten auch formalen Ausdruck verlieh. Petrasevskij hatte die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Sozialismus und Liberalismus längst erkannt. Die revolutionäre Bewegung von 1848 in West- und Mitteleuropa bestärkte ihn in seiner Auffassung. Für ihn war „der Sozialismus in der gegenwärtigen Gesellschaft . . . nichts anderes als eine Reaktion des menschlichen Geistes auf den anarchistischen, f ü r das gesellschaftliche Leben so gefährlichen Einfluß der Prinzipien des Liberalismus" 47 . Eine bemerkenswerte Rolle bei der theoretischen Arbeit spielte der reiche Adlige v

> Ders., Nabroski recej, ebenda, S. 388 f. und 392. Vgl. P. P. Semenov-Tjan-Sanskij, Detstvo ii junost', o. O., 1917, S. 195. 47 M. V. Butasevic-Petrasevskij, Ob"jasnenie o sisteme Fur"e i o socializme, in: Filosofskie i obscestvenno-politiceskie proizvedenija, a. a. O., S. 428 f.

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Spesnev. Während seines Aufenthaltes in Westeuropa von 1842 bis 1846 studierte er nicht nur den utopischen Sozialismus, sondern auch die Geschichte und die Erfahrungen der dort tätigen Geheimgesellschaften, weil er sich mit der Absicht trug, in Rußland eine illegale Gesellschaft zu gründen, deren Ziel der revolutionäre Sturz des Zarismus sein sollte. Im Ausland knüpfte er persönliche Verbindungen zu Demokraten und Sozialisten verschiedener Richtungen an. Die Arbeit „Das Elend der Philosophie" von Marx sowie die Ideen von Weitling und Dezamy beeindruckten ihn besonders. Er bezeichnete sich selbst als Kommunisten und grenzte sich von Fourier ab. 1846 kehrte Spesnev nach Rußland zurück und trat dem Kreis um Petrasevskij bei. Die Tätigkeit dieses Stammzirkels des Petrasevskij-Kreises befriedigte ihn aber nicht ganz. Es kam zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und Petrasevskij, der im wesentlichen an der Richtung Fouriers im Sozialismus festhielt. In dem engeren Kreis um Petrasevskij hatten die insgesamt noch ungenügende Entwicklung und die mangelnde Organisation der antifeudalen Massenbewegung der Bauern und Arbeiter, die Unwissenheit der Bauernschaft und ihre Hoffnung auf den Zaren zu zeitweiligen Zweifeln an den Kräften der Volksmassen und auch zu Schwankungen hinsichtlich der Mittel zur Umgestaltung der bestehenden Ordnung geführt. 4 8 M a n erwartete, daß die zaristische Regierung unter dem Druck breiter Kreise der Gesellschaft grundlegende Reformen durchführen werde, und sprach sich im Sinne Fouriers eine Zeitlang f ü r den legalen Kampf um Teilreformen aus. Petrasevskij forderte 1848 in seinem „Projekt über die Befreiung der Bauern" von der zaristischen Regierung als einzig mögliche und einzig gerechte Lösung der ganzen Bauernfrage die unentgeltliche Freisetzung der Bauern mit jenem Land, das sie bearbeiteten. 4 9 Er glaubte, daß diese Maßnahme und die Verfügung der Dorfgemeinde über Grund und Boden zum Sozialismus als der idealen Gesellschaftsordnung führen würden. Seine besondere Aufmerksamkeit schenkte der Kreis um Petrasevskij etwa zur gleichen Zeit wie Herzen und Ogarev daher der russischen Dorfgemeinde als einer wichtigen Grundlage f ü r die zukünftige Entwicklung Rußlands. Die Hoffnungen auf die Reformtätigkeit der zaristischen Regierung schwanden jedoch bald, die Abschaffung der Leibeigenschaft durch einen bewaffneten Aufstand der Bauern wurde wieder als grundsätzlich möglich und notwendig angesehen. 5 0 Spesnev und seine Anhänger, namentlich Golovinskij, gingen von Anfang an weiter. Sie waren nicht nur von der Notwendigkeit einer Nationalisierung des Grund und Bodens und der wichtigsten Industriezweige in Rußland überzeugt, sondern nahmen auch sogleich die Ausarbeitung von Plänen f ü r eine praktische revolutionäre Tätigkeit in Angriff. Ihr Ziel sollte die Vorbereitung eines Bauernaufstandes sein, auf dessen baldigen Ausbruch sie große Hoffnungen setzten, denn sie sahen in den Volksmassen eine aktive revolutionäre Kraft. Den Zirkel Petrasevskijs wollten sie in diesem Sinne sofort in eine revolutionäre Geheimorganisation umgestalten, die ihre Aktivitäten auf den bewaffneten Aufstand zum Sturz der bestehenden Ordnung orientieren und zu diesem Zweck an die Bauernmassen appellieren sollte. Dieses Vorhaben Spesnevs erhielt jedoch nicht einmal von Petrasevskij und seinen Anhängern Unterstützung. Sie hatten zwar grundsätzlich die Notwendigkeit und die Bedeutung revolutionärer Veränderungen erkannt, waren aber der Meinung, daß die 48 49 50

Ders., Cernoivik pris'ma K. J. Timkovskomu, ebenda, S. 385. Ders., Proekt ob osvobozdenii kresf jan, ebenda, S. 363 f. Ders., Karmannyj slovar" inostrannych slov, vosedsich v sostav russkogo jazyka, 2. Folge, ebenda, S. 228.

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Bauern Rußlands auf einen Volksaufstand noch nicht vorbereitet seien. Der Kreis um Petrasevskij plädierte daher für eine allmähliche Heranführung der Massen an den Gedanken eines Volksaufstandes und an die Idee des Sozialismus.51 Als Hauptaufgaben der russischen Revolutionäre sah er die Gründung einer revolutionären politischen Organisation, die Ausarbeitung eines auf den Sturz des Zarismus und die Schaffung einer demokratischen Republik orientierenden verständlichen politischen Programms sowie dessen Propagierung unter dem Volk an. In der Geschichte der revolutionären Bewegung Rußlands nehmen die Petraschewzen, obwohl sie nicht das theoretische Niveau Belinskijs, Herzens und Ogarevs erreichten, einen besonderen Platz ein. Ihre Sozialphilosophie bahnte den revolutionären Demokraten der fünfziger und sechziger Jahre den Weg. Lenin hat die Bedeutung der Arbeit des Petrasevskij-Kreises treffend gewürdigt, als er 1903 darauf hinwies, daß die revolutionäre sozialistische Intelligenz Rußlands „keine Schöpfung 'der letzten Tage', sondern eine Schöpfung (ist), die ein halbes Jahrhundert alt ist und etwa mit dem Zirkel der Petraschewskileute angefangen hat" 52 . Mit der Zerschlagung der Zirkel im April 1849 und der grausamen Abrechnung mit den Zirkelmitgliedern, die zu Verbannung und Zwangsarbeit verurteilt wurden, war es dem Zarismus gelungen, führende Kräfte der revolutionären Bewegung auszuschalten, die trotz gewisser taktischer Unterschiede und wohl auch persönlicher Differenzen das gleiche Ziel verfolgten: eine revolutionäre Umgestaltung der bestehenden sozialen und politischen Verhältnisse in Rußland. Auch in der Entwicklung Herzens bedeutete das Revolutionsjähr 1848 eine Wende. Die revolutionären Ereignisse in Italien und in Frankreich erlebte er als Augenzeuge. Dem Zugriff der Reaktion konnte er sich durch die Flucht nach Genf im Juni 1849 entziehen. Von Genf aus, dem Sammelpunkt vieler Emigranten aus mehreren Ländern, verfolgte er das katastrophale Ende der freiheitlichen Bewegung in Deutschland, Italien und der Habsburgermonarchie. In seinen „Briefen aus Frankreich und Italien", in seiner Schrift „Vom anderen Ufer", in seinen Erinnerungen und in anderen Arbeiten sowie in seiner umfangreichen Privatkorrespondenz brachte er als Demokrat, Revolutionär und utopischer Sozialist seine Empörung über die Bluttaten der französischen Bourgeoisie wie überhaupt über die Niederschlagung der revolutionären Erhebung zum Ausdruck. Kerzen hatte das konterrevolutionäre Wesen der liberalen Bourgeoisie Westeuropas, namentlich Frankreichs, durchschaut. Unter dem Einfluß der Niederlagen von 1848 kam er zunächst zu der Überzeugung, daß in Westeuropa keine Voraussetzungen für die Verwirklichung seines sozialistischen Ideals bestanden. Seine ganze Sympathie galt aber dennoch dem französischen Arbeiter. Äußerungen aus dem Jahre 1847 lassen die Schlußfolgerung zu, daß er bereits damals die Unvermeidlichkeit der künftigen Klassenauseinandersetzung zwischen Bourgeoisie und Proletariat geahnt hat. 53 Im August 1848 schrieb er dann: „Der Mensch ohne Land, ohne Kapital, der Arbeiter wird Frankreich retten . . . Es ist an der Zeit, diesem stumpfsinnigen Europa ein Ende zu bereiten, in ihm für eine neue Welt Platz zu machen."54 Er begann zu erkennen, daß politische 51 52

53 54

Ders., Nabroski recej, ebenda, S. 393. W. I. Lenin, Plan der Briefe über die Aufgaben der revolutionären Jugend, in: Lenin, Werke, Bd. 7, Berlin 1968, S. 28, Anm. A. I. Gercen, Pisma iz Francii i Itaiii, Brief 4: 15. September 1847, a. a. O., S. 66. Herzen an seine Moskauer Freunde, 2./8. 8. 1848, in: Sobranie socinenij, a. a. O., Bd. 23, Moskau 1961, S. 81.

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Demokratie allein ohne eine entscheidende Veränderung der bestehenden Besitz- und Machtverhältnisse keine volle Freiheit bringen könne. In der Erkenntnis politischer Zusammenhänge war dies ein wesentlicher Fortschritt, von dem ein spürbarer Einfluß auf die revolutionäre Bewegung in Rußland ausging. Er kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß Herzen sich zu einem tieferen Verständnis der Klassenauseinandersetzungen noch nicht durchgerungen hatte. So konnte er auch den Klassencharakter der bürgerlich-demokratischen Revolution nicht begreifen. In den Ereignissen von 1848/49 vermochte er nicht das Neue zu erblicken, das Marx und Engels gesehen haben : die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse. Die Niederlage der Revolution veranlagte Herzen, sich die Frage vorzulegen, ob Rußland alle Phasen der Entwicklung West- und Mitteleuropas durchlaufen müsse oder ob ihm „eine ganz andere, revolutionäre Entwicklung" bevorstand. 55 Ähnlich wie Öaadaev glaubte er jetzt, es sei ein Vorteil für Rußland, daß es keine beengenden Traditionen wie andere Länder Europas habe. Auf dieser Grundlage reifte seine Überzeugung, Rußland könne den Kapitalismus überspringen und sofort zum Sozialismus übergehen, den „das sterbende Europa . . . der künftigen Welt als Frucht seiner Bemühungen, als Höhepunkt seiner Entwicklung" hinterlassen habe. 56 Auf den „kämpferischen Sozialismus" der Zukunft, dessen Verwirklichung er in Rußland mit dem Bauern und in Westeuropa mit dem Arbeiter verband, setzte er seine ganze Hoffnung. Er war für ihn die einzige Alternative zum Despotismus. Diese „Idee des Sozialismus", der - wie Lenin nachgewiesen hat - im Grunde genommen „überhaupt kein Sozialismus" war 57 , hat Herzen in den ausgehenden vierziger und beginnenden fünfziger Jahren stark beschäftigt. Erst gegen Ende seines Lebens jedoch, nach Schwankungen und Irrungen, stieß er mit dem Blick auf die von Marx geführte Internationale zu mehr Klarheit vor. Wo die Idee der künftigen Umwälzung, an die Herzen und Ogarev glaubten, „ihren Sieg feiern wird - auf dieser Seite des Ozeans oder auf jener, in Frankreich oder in Rußland, in New York oder in Paris", ließen beide Denker offen. Sie sei an kein Land geknüpft, darin liege ihre große Kraft. 58 Aber keinesfalls waren sie der Meinung, „daß die Schicksale der Menschheit und ihre Zukunft wie mit Nägeln ans westliche Europa angeschlagen sind. Wenn Europa mit der sozialen Umgestaltung nicht zustande kommt, so werden sich andere Länder umgestalten; es sind vorbereitete und sich vorbereitende Schauplätze vorhanden. Der eine ist bekannt, . . . die nordamerikanischen Staaten, den anderen voller Kraft aber auch voller Wildheit, kennt man nur wenig oder schlecht"59. Gemeint war Rußland, dessen Entwicklung Herzen nach der gescheiterten Revolution, „inmitten dieses Chaos, inmitten von qualvollem Sterben und schmerzensreicher Wiedergeburt, inmitten dieser Welt, die rings um eine Wiege in Asche zerfällt" 60 , wieder seine besondere Aufmerksamkeit schenkte. In Rußland bestanden nach Herzens Meinung die besten Voraussetzungen für die Verwirklichung des „Sozialismus". Belinskij stieß gegen Ende seines Lebens auf seiner theoretischen Suche zum Verständnis des Sozialismus als eines Ergebnisses der gesetzmäßigen gesellschaftlichen 55

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A. I. Gercen, Staryj mir i Rossija. Pisma k V. Lintonu, 2. Januar-20. Februar 1854, in: Sobranie socinenij, a. a. O., Bd. 12, Moskau 1957, S. 186. Herzen an seine Moskauer Freunde, 5./8. 11. 1848, ebenda, Bd. 23, Moskau 1961, S. 111. W. I. Lenin, Dem Gedächtnis Herzens, a. a. O., S. 11. A. I. Gercen, Pisma iz Francii i Itaiii, Brief 14: 31. Dezember 1851, a. a. O., S. 211. A. Herzen, Rußlands soziale Zustände, a. a. O., S. 3 f. Ders., Das russische Volk und der Sozialismus. Brief an J. Michelet, in: Ausgewählte philosophische Schriften, a. a. O., S. 494.

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Entwicklung vor, die über die Gesellschaftsformation des Kapitalismus verläuft. Herzen, der „das bürgerlich-demokratische Wesen der ganzen Bewegung von 1848 und all der Formen des vormarxschen Sozialismus nicht verstanden hatte" und „um so weniger die bürgerliche Natur der russischen Revolution verstehen konnte" 6 1 , gelangte im Unterschied zu Belinskij unter dem Einfluß des Ausgangs der Revolution zur Konzeption des „russischen Sozialismus". In der vorproletarischen Epoche gehörte sie zu den radikalsten demokratischen Ideologien. Herzen entwickelte sie in seinen „Briefen aus Frankreich und Italien" ( 1 8 4 7 - 1 8 5 2 ) , in den Arbeiten „Rußland" (1849) und „Vom anderen Ufer" (1850), in seinem Brief an den französischen Historiker Michelet „Das russische Volk und der Sozialismus" (1851), in seiner Schrift „Über die Entwicklung der revolutionären Ideen in Rußland" (1851), in seiner Arbeit „Die alte Welt und Rußland" (1854) und in seiner Korrespondenz. Herzens Konzeption des „russischen Sozialismus" ging aus den Auseinandersetzungen zwischen Westlern und Slawophilen in den vierziger Jahren um den künftigen Entwicklungsweg Rußlands hervor, in denen auch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der russischen Dorfgemeinde eine Rolle gespielt hatte. Herzen stand in diesem Streit auf der Seite der Westler und war geneigt, in der Dorfgemeinde ein Element zu sehen, das den Kampf um die Aufhebung der Leibeigenschaft hemmt. 6 2 Er war aber schon um die Mitte der vierziger Jahre unter dem Einfluß der sozialistischen Kritik an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht sicher, ob Weg und Lebensweise der Völker Westeuropas, auf die die Konzeption der Westler ausgerichtet war, wirklich zum Triumph sozialistischer Ideale führen können. Der Aufenthalt in Westeuropa brachte ihm die Überzeugung, daß dieses Westeuropa eine schwere Krise durchlebte und daß die westeuropäische Zivilisation dem Untergang nahe sei. „Im Namen der gleichen Prinzipien, in deren Namen ich gegen die Slawophilen für den Westen kämpfte", schrieb Herzen, „begann ich jetzt auch gegen diesen zu kämpfen." Aber die Entlarvung der Revolution habe ihn nicht verpflichtet, auf die Seite ihrer Feinde überzugehen. „Der Fall der Februarrepublik konnte mich weder auf den Katholizismus noch auf den Konservatismus zurückwerfen, er brachte mich wieder nach Hause." 6 3 Obwohl Herzen einsah, daß die Zukunft seines Vaterlandes auch davon abhänge, ob Westeuropa zu einer sozialen Erneuerung fähig sei oder nicht 6 4 , war er doch überzeugt, daß „in Rußland etwas Besonderes, nur ihm allein Eigenes sei, etwas, das man in seiner Vergangenheit und Gegenwart studieren und verstehen muß." 6 5 Rußland, folgerte er, müsse eigene Entwicklungswege suchen. „Im Lager der Besiegten stehend", schrieb er, „wies ich sie auf das Volk hin, das in seinem Alltagsleben mehr Voraussetzungen für eine ökonomische Umwälzung trägt als die Völker des Westens, die sich endgültig geformt haben." 6 6 Bei der Erarbeitung seiner Konzeption näherte sich Herzen in gewisser Weise wieder den Slawophilen, und zwar in „dem Gefühl einer grenzenlosen, das ganze Dasein umfassenden Liebe zum russischen Volke, zu dem russischen Brauchtum, zu der russischen

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W. I. Lenin, Dem Gedächtnis Herzens, a. a. O., S. 11. A. I. Gercen, Dnevnik, 20. 6. 1843, in : Sobranie socinenij, a. a. O., Bd. 2, Moskau 1954, S. 288. A. Herzen, Briefe an einen Gegner, 1. Brief, a. a. O., S. 572 f. A. X. Gercen, Stary mir, a. a. O., S. 167. Ders., Rossija, in: Sobranie socinenij, a. a. O., Bd. 6, Moskau 1955, S. 218. A. Herzen, Briefe an einen Gegner, 1. Brief, a. a. O., S. 573.

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Geistesart", „in welchem sie eine Erinnerung sehen, wir aber eine Verheißung" 6 7 . Er glaubte jetzt, daß Westler und Slawophile „ungeachtet der verschiedenen Deutungen und Schlußfolgerungen das Problem des Westens in vielem in der gleichen Weise verstanden". Daraus folge allerdings nicht, daß er mit der Theorie der Slawophilen und ihrer Erklärung des Übels einverstanden sei. 6 8 Trotz der zeitweiligen Illusion Herzens, auf der Grundlage des „russischen Sozialismus" eine gewisse Annäherung zwischen revolutionären Demokraten und Slawophilen für möglich zu halten, grenzten er und Ogarev sich auf revolutionär-demokratischen Positionen nach wie vor grundsätzlich von den konservativen Ansichten der Slawophilen ab, die die Interessen des reaktionären Gutsbesitzeradels zum Ausdruck brachten. Auch mit der konservativ-monarchistischen Weltanschauung Haxthausens, der die Dorfgemeinde auf seiner Reise durch Rußland studiert hatte und seine Konzeption in einer umfangreichen Arbeit niederlegte 6 9 , hatten sie nichts gemein, obwohl sie sich einige illusorische Auffassungen des Barons zu eigen machten und konkrete Angaben aus seinem Werk benutzten. Herzen und Ogarev erblickten in der autonomen, russischen Dorfgemeinde, die die Mehrheit der russischen Bauern erfaßte, den Keim der künftigen sozialistischen Ordnung in Rußland. Im Gegensatz zu Haxthausen, der seine feudal-patriarchalische Konzeption vor allem im dritten Band seiner Arbeit ausdrücklich der revolutionär-demokratischen Interpretation Herzens gegenüberstellte, entwickelten sie die revolutionäre Konzeption vom Untergang der Feudalordnung und von der Befreiung der Dorfgemeinde im Sozialismus. Die Bauernbewegung in Rußland hielten sie für eine grundsätzlich revolutionäre Kraft, die unter bestimmten Voraussetzungen eine Revolution durchzuführen, den Zarismus zu stürzen und den Sozialismus zu errichten vermag. Die Grundfrage der russischen Revolution bestand ihrer Meinung nach in der Erhaltung der Dorfgemeinde, in der Befreiung der Persönlichkeit, in der Ausdehnung des „Selfgovernment" des Dorfes und des Amtsbezirks (Volost') auf die Städte und auf den ganzen Staat bei gleichzeitiger Förderung der nationalen Einheit, in der Entwicklung der Privatrechte und in der Aufrechterhaltung der Unteilbarkeit des Grund und Bodens. 7 0 Die Dorfgemeinde repräsentierte „sozusagen die soziale Einheit", „die der Staat immer anerkannt hat", sie sei autonom in allem, was ihre inneren Angelegenheiten betrifft, sie sei von der Leibeigenschaft kaum beeinflußt, und in ihr gebe es genügend Nahrung und Land für jeden, so daß eine Proletarisierung der russischen Bauernschaft, die die absolute Mehrheit der Bevölkerung Rußlands bildete, nicht zu befürchten sei. Entwicklungsfähige sozialistische Elemente sahen Herzen und Ogarev vor allem in der Selbstverwaltung der Dorfgemeinde sowie darin, daß das Land als Ganzes der Gemeinde und nicht ihren einzelnen Mitgliedern gehörte, daß die Gemeinde somit Eigentümer und Objekt der Besteuerung und für jeden einzelnen verantwortlich sei, und daß jedes Gemeindemitglied das Recht auf den gleichen lebenslänglich verfügbaren Landanteil habe, was durch die ständige Neuaufteilung des Grund und Bodens unter den Bauern 07 68 69

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Ders., Mein Leben, a. a. O., Bd. 1: 1812-1847, Berlin 1962, S. 734. Ders., Briefe an einen Gegner, 1. Brief, a. a. O., S. 573. A. von Haxthausen, Studium über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen in Rußland, Bd. 1-3, Hannover/Berlin 1847-1852; vgl. auch N. M. Druzinin, A. v. Haxthausen und die russischen revolutionären Demokraten, in: Ost und West in der Geschichte des Denkens und der kulturellen Beziehungen, Berlin 1966, S. 642 ff. A. I. Gercen, Stary mir, a. a. O., S. 189 f.

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gewährleistet werde. 71 Herzen war fest davon überzeugt, daß die Bauernschaft eine revolutionäre Klasse ist und daß sie bereit sei, sich mit den Arbeitern zur Durchführung der nahen Revolution zu vereinigen. Diese Revolution werde dann „eine wahre Revolution der Volksmassen" sein. 72 Aber die Tatsache allein, dag in der Dorfgemeinde entwicklungsfähige sozialistische Keime liegen, genügten Herzen und Ogarev noch nicht. Im Unterschied zu den Slawophilen sahen sie trotz aller Enttäuschung und Skepsis in dem „machtvoll entwickelten Denken des Westens" die Kraft, die imstande sei, „die Samenkeime zu befruchten, die in den patriarchalischen slawischen Lebensformen schlummern". „Das Artel und die dörfliche Flurgemeinschaft, die Aufteilung der Erträge und die Aufteilung der Äcker, die Gemeindeversammlung und die Vereinigung der Dörfer zu sich selbständig verwaltenden Bezirken - das alles sind Ecksteine, auf denen der ungeheure Tempel unserer künftigen, auf freiem Gemeindebesitz beruhenden Lebensformen aufgebaut sein wird." Ohne das westliche sozialistische Gedankengut würde es jedoch nur beim Fundament für die künftige Kathedrale bleiben. 73 Der Hauptunterschied zwischen den revolutionären Demokraten einerseits und den Slawophilen und Haxthausen andererseits bestand also in der konträren klassenmäßigen Einstellung zu den großen Fragen der Zeit - zu Revolution und Sozialismus. Herzen und Ogarev waren im Gegensatz zu den Slawophilen und Haxthausen davon überzeugt, „daß eine vernünftige und freie Entwicklung des russischen Volkstums zusammenfällt mit den Bestrebungen des westlichen Sozialismus"74. Das Element, das der slawischen Welt das Recht gebe, in Zukunft auf eine vollere Entwicklung zu hoffen, müsse der revolutionären Idee Europas entsprechen.75 „Nie ist die Zukunft Rußlands enger mit der Zukunft Europas verknüpft gewesen, als heute", schrieb Herzen 1850. Das Hoffen und Streben des revolutionären Rußland falle mit den Hoffnungen und Bestrebungen des revolutionären Europa zusammen, das künftige Bündnis beider sei darin antizipiert. In» dieses Bündnis bringe Rußland „eine natürliche Hinneigung zu sozialistischen Institutionen als natürliches Element mit"76. Der Mann der Zukunft in Rußland sei der Bauer ebenso wie es in Frankreich der Arbeiter sei. Beide haben das gleiche Ziel: den Sozialismus.77 Die Verbindung des westlichen sozialistischen Gedankengutes mit der russischen Dorfgemeinde sichere den Sieg des Sozialismus und erneuere zugleich die verfallende westeuropäische Zivilisation. In den russischen Intellektuellen, „die durch die westliche Zivilisation hindurchgegangen sind", sahen Herzen und Ogarev „die Vermittler zwischen dem russischen Volk und dem revolutionären Europa"78. Nicht der Adel als Klasse feudaler Gutsbesitzer, sondern die ihrer Meinung nach über den Klassen stehende, dem eigenen sozialen Milieu entfremdete und dem offiziellen Rußland entgegenstehende adlige Intelligenz, deren Mittelpunkt Moskau war, erschien ihnen als „Keim und geistiges Zentrum der künftigen Revolution". In dieser Schicht schlummerten ihrer Meinung nach „eine Menge Leidenschaften und Kräfte" 79 . " A. Herzen, Rußlands soziale Zustände, a. a. O., S. 180 ff.; ders., Rossija, a. a. O., S. 200. 72 Ders., Pisma iz Francii i Itaiii, Brief 13: 1. 6. 1851, a. a. O., S. 205. 73 Ders., Mein Leben, a. a. O., Bd. 1: 1812-1847, Berlin 1962, S. 706. 74 Ebenda, S. 709. 75 Ders., Das russische Volk und der Sozialismus, a. a. O., S. 501. 76 Ders., Rußlands soziale Zustände, a. a. O., S. 174 f. 77 Ders., Das russische Volk und der Sozialismus, a. a. O., S. 510. 78 79 Ebenda, S. 510. Ders., Rossija, a. a. O., S. 215 f.

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Dieser „russische Sozialismus" Herzens und Ogarevs, der später von den Narodniki aufgegriffen und weiterentwickelt wurde, war eine Utopie. Seine Begründer gingen zwar durchaus richtig davon aus, daß im Prozeß der gesetzmäßigen Entwicklung relativ rückständige Völker nicht unbedingt alle Phasen der gesellschaftlichen Evolution durchlaufen müssen und daß sich in Rußland ein natürlicher Keim des Sozialismus erhalten habe, aber sie hatten weder den Zustand der russischen Dorfgemeinde, über den Herzen seit 1847 nur noch aus zweiter Hand unterrichtet war, noch die Lage in Westeuropa einer konkreten Analyse unterzogen. So übersahen sie nicht nur die konservativen Auffassungen der russischen Bauern, sondern auch die einsetzende Klassendifferenzierung der Bauernschaft im Rahmen der Gemeinde, damit den beginnenden Zerfall dieser Institution im europäischen Rußland. Sie propagierten in ihren Arbeiten, Briefen und Gesprächen weiterhin die abstrakt formulierten Thesen des „russischen Sozialismus", die von einer einseitigen Charakteristik der Wirklichkeit und von dem utopischen Glauben an die Lebenskraft der alten nationalen Institution ausgingen. 8 0 Die Bedeutung der Dorfgemeinde überbewerteten sie, indem sie in ihr ein Bollwerk der revolutionären Bauernschaft gegen die Leibeigenschaft und für sozialistische Umgestaltungen in Rußland sahen. Ihre idealistische Geschichtskonzeption verbaute ihnen den Zugang zur Erkenntnis der ökonomischen und sozialen Grundlagen des historischen Entwicklungsprozesses in Rußland und zum Verständnis der Rolle des Klassenkampfes als Triebkraft in der Geschichte und damit zum Verständnis der objektiven historischen Gesetzmäßigkeit des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus durch die Verwirklichung der weltgeschichtlichen Aufgabe der Arbeiterklasse. Lenin hat auf die Schwächen dieser Konzeption hingewiesen: „Herzen erblickte den Sozialismus in der Befreiung des Bauern mit Landzuteilung", schrieb er, „im Grundbesitz der Dorfgemeinden und in der bäuerlichen Idee vom 'Recht auf Grund und Boden' . . . In Wirklichkeit ist in dieser Lehre Herzens . . . auch nicht ein Gran Sozialismus. Das ist eine ebenso schöngeistige Phrase, eine ebenso gutgemeinte, das revolutionäre Streben der bürgerlichen Bauerndemokratie in Rußland einkleidende Phantasterei wie die verschiedenen Formen des 'Sozialismus von 1848' im Westen." 8 1 Lenin hat aber auch auf die bleibenden Verdienste Herzens und damit zugleich Ogarevs hingewiesen, als er schrieb: „Es ist nicht die Schuld Herzens, es ist sein Unglück, daß er das revolutionäre Volk im Rußland der vierziger Jahre nicht sehen konnte. Als er es in den sechziger Jahren gesehen hatte, trat er furchtlos auf die Seite der revolutionären Demokratie gegen den Liberalismus." Herzen, so faßte Lenin zusammen, habe „für den Sieg des Volkes über den Zarismus" gekämpft und bei der Vorbereitung der russischen Revolution eine große Rolle gespielt. Seine „unverbrüchliche Treue zur Revolution" sei auch dann nicht vergebens gewesen, „wenn ganze Jahrzehnte die Ernte von der Saat trennen". 8 2 Die revolutionäre Bewegung in Rußland stand in den zweieinhalb Jahrzehnten nach dem Dekabristenaufstand im Zeichen intensiver Suche ihrer führenden Repräsentanten nach einem neuen theoretischen Fundament. Diese Suche führte nach den noch wenig ausgereiften Anschauungen der zwanziger und dreißiger Jahre schließlich in den vierziger Jahren über grundlegende Auseinandersetzungen um Fragen der Demokratie, der Revolution und des Sozialismus, über Schwankungen und Illusionen zu einer höhe80

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Vgl. N. M. Druzinin, A. v. Haxthausen, a. a. O., S. 650 f. W. I. Lenin, Dem Gedächtnis Herzens, a. a. O., S. 11. Ebenda, S. 13 u.16.

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W. Zeil

ren Erkenntnisstufe. Im Vergleich mit den utopischen Sozialisten West- und Mitteleuropas gingen die Vertreter der revolutionären Bewegung in Rußland weiter: Sie bezogen in ihre Auffassung vom Sozialismus den antifeudalen Kampf der Bauernmassen mit ein. Dennoch blieb die revolutionäre Bewegung in Rußland im zweiten Viertel noch weitgehend von den breiten Massen isoliert. Erschwert wurde die Entwicklung der revolutionären Bewegung in Rußland dadurch, daß eine fortschrittliche Bourgeoisie fehlte und das russische Proletariat sich noch nicht formiert hatte, so daß das Land über keine revolutionäre Klasse verfügte, die imstande gewesen wäre, an die Spitze der unzufriedenen Volksmassen zu treten und deren spontanes und unbewußtes Aufbegehren zu einem ideologisch untermauerten, zielstrebigen Klassenkampf gegen die Feudalordnung zu organisieren. So kam der vorbereitenden theoretischen Arbeit Herzens, Ogarevs, Belinskijs und der linken Petraschewzen als Führer der revolutionären Demokratie der vierziger Jahre eine besondere Bedeutung zu, Lenin hat sie nicht zufällig zu den Vorläufern der russischen Sozialdemokratie gezählt.^ 83

Ders., Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, in: Lenin, Werke, Bd. 5, Berlin 1966, S. 380 f.

MILICA VASIL'EVNA NECKINA/EVGENIJA

L'VOVNA

RUDNICKAJA

Die erste revolutionäre Situation in Rußland und die revolutionären Demokraten

W. I. Lenin war der erste, der die revolutionäre Situation in Rußland Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre als Problem zur Diskussion stellte. Er ging von der marxistischen Geschichtsauffassung aus, zog ein umfangreiches Tatsachenmaterial heran und analysierte auf dieser Grundlage die sozialpolitischen Erscheinungen und den Klassenkampf in Rußland zur Zeit der Aufhebung der Leibeigenschaft. 1901 kennzeichnete er in seiner Arbeit „Die Verfolger des Semstwos und die Hannibale des Liberalismus" erstmalig auf Grund der Vielschichtigkeit dieser Faktoren die sich Ausgang der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre abzeichnende Lage als das Heranreifen einer revolutionären Krise. Die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland war Folge der wirtschaftlichen Entwicklung und des revolutionären Kampfes, war Ergebnis der in Rußland entstandenen komplizierten Lage, in der die zaristische Regierung bereits nicht mehr in alter Weise weiterregieren konnte. Trotz des der Regierung abgerungenen Zugeständnisses - der Verordnung vom 19. Februar 1861 - dauerte die revolutionäre Krise an. Die Veröffentlichung des zaristischen Manifestes und die Herausgabe der „Verordnung über die Bauernreform" entschärften nicht die revolutionäre Lage. „Das Wiederaufleben der demokratischen Bewegung in Europa, die Gärung in Polen, die Unzufriedenheit in Finnland, die Forderung der gesamten Presse und des gesamten Adels nach politischen Reformen, die Verbreitung des „Kolokol" in ganz Rußland, die machtvolle Propaganda Cernysevskijs, der es verstand, auch mit zensurierten Aufsätzen wirkliche Revolutionäre zu erziehen, das Erscheinen von Proklamationen, die Erregung unter den Bauern, die 'sehr oft' mit Hilfe von Militär und unter Blutvergießen gezwungen werden mußten, die 'Verordnung', die sie bis aufs Hemd ausplünderte, zu akzeptieren, die kollektiven Weigerungen adliger Friedensrichter, eine derartige, 'Verordnung' anzuwenden, schließlich die Studentenunruhen - unter solchen Verhältnissen mußte der vorsichtigste und nüchternste Politiker anerkennen, daß ein revolutionärer Ausbruch durchaus möglich und ein Bauernaufstand eine sehr ernste Gefahr war". 1 Diese Charakteristik enthält eine Fülle von Hinweisen auf konkrete historische Tatsachen und zeichnet sich durch die Breite der erfaßten Erscheinungen aus: Sie erfaßt die gesamtrussische Bewegung die Bauernunruhen, das Wirken Cernysevskijs und seines „Sovremennik", die russische freie Presse im Ausland mit Herzen und der Zeitschrift „Kolokol", die gesetzlichen Verordnungen, die das Leben auf dem riesigen Staatsgebiet bestimmten, den Klassenkampf, der um die Verwirklichung des Gesetzes vom 19. Februar 1861 entbrannte; aber 1

W. I. Lenin, Die Verfolger des Semstwos und die Hannibale des Liberalismus, in: Lenin, Werke, Bd. 5, Berlin 1966, S. 29 ff.

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auch die Bewegung der unterdrückten Völker Rußlands, für die in der damaligen Zeit die nationalen „Randgebiete" - Polen und Finnland - als Beispiel angeführt werden, und das in Bewegung geratene demokratische Europa sind mit einbezogen. In Italien entfaltete sich in jenen Jahren tatsächlich kraftvoll der nationale Befreiungskampf, in England, Deutschland und Frankreich erstarkte die Arbeiterbewegung, die zur Voraussetzung für die Gründung der Ersten Internationale wurde; der Bürgerkrieg zwischen den demokratischen Kräften und den Sklavenhaltern in den Vereinigten Staaten ( 1 8 6 1 - 1 8 6 5 ) , die revolutionären Ereignisse in Indien ( 1 8 5 7 - 1 8 5 9 ) sowie die TaipingRevolution in China ( 1 8 5 1 - 1 8 6 4 ) werden als Teil des damaligen Weltgeschehens mit einbezogen. Das, was sich in Rußland Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre vollzog, war nur Teil einer großen demokratischen, die ganze Welt erfassenden Bewegung. Die angeführte Äußerung zeigt, wie gut Lenin mit dieser Problematik vertraut war. Die von ihm gegebene Charakteristik ist Ergebnis seiner Forschungsarbeit. Er schöpfte das Material aus den Quellen, formte ein einheitliches Bild und bewies anhand der Gesamtheit der vorgelegten Fakten die revolutionäre Krise in Rußland. Bereits diese erste Verallgemeinerung Lenins macht es möglich, diese revolutionäre Krise zeitlich einzuordnen. In dem oben angeführten Zitat gibt Lenin zwar keine Daten für Anfang und Ende, aber die angeführten Ereignisse erlauben doch eine chronologische Fixierung. Einige der von Lenin angeführten Charakteristika beziehen sich auf langwierige Prozesse, die sich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zuspitzten („die Gärung in Polen"), während andere erst in dieser Zeit entstehen („die Verbreitung des 'Kolokol' in ganz Rußland", „die machtvolle Propaganda Öernysevskijs"): Die Zeitschrift „Kolokol" erschien seit dem 1. Juli 1857, bereits 1858 wurde sie „in ganz Rußland" gelesen; Ende der fünfziger Jahre fand auch der „Sovremennik" mit den Beiträgen Öernysevskijs in Rußland weite Verbreitung; da Lenin in das von ihm entworfene Bild der revolutionären Krise die kollektive Weigerung „der adligen Friedensrichter" einbezieht, „die Verordnung vom 19. Februar" in Anwendung zu bringen, kann man das Jahr 1862 voll und ganz der Krisenepoche zuordnen; mit dem „Erscheinen der Proklamationen" meint Lenin sicherlich auch die 1862 in weiten Kreisen bekannt gewordenen Proklamationen der Gruppe „Molodaja Rossija". Lenins Auffassungen von der revolutionären Situation, wie er sie in der Arbeit „Die Verfolger des Semstwos und die Hannibale des Liberalismus" zum Ausdruck brachte, decken sich mit tiefblickenden Beobachtungen von Karl Marx und Friedrich Engels als Zeitgenossen der uns interessierenden Ereignisse. Beide verfolgen mit angespannter Aufmerksamkeit die Ereignisse in Rußland. Die Maßnahmen zur Vorbereitung der Reformen und die an die Vertreter der Gouvernementskomitees ergangene Aufforderung, sich in der Hauptstadt zu versammeln, werteten Marx und Engels als Bestätigung für die revolutionäre Gärung. Die Bauernbewegung dieser Jahre — „den Aufstand der Sklaven in Rußland" - hielten sie für die interessanteste Erscheinung des Klassenkampfes dieser Epoche. Karl Marx beurteilte diese Ereignisse sogar noch entschiedener als Lenin: „In Rußland (hat) die Revolution angefangen, denn als solchen Anfang betrachte ich die Zusammenberufung der 'Notables' nach Petersburg . . ." 2 - schrieb Marx in seinem Brief vom 8. Oktober 1858 an Engels, wobei er die Worte „die Revolution hat angefangen" hervorhob. Etwa drei Monate später (im Januar 1859) führte Marx 2

K. Marx an Friedrich Engels 8. 10. 1858, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 29, Berlin 1963, S. 360.

Die revolutionären Demokraten

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diesen Gedanken weiter aus und schrieb: „ . . . Der Kaiser, der zwischen Staatsnotwendigkeit und Zweckmäßigkeit hin- und hergeworfen wird, zwischen der Furcht vor den Adligen und der Furcht vor den wütenden Bauern, wird bestimmt schwanken, und die Leibeigenen, deren Erwartungen aufs höchste gespannt sind, werden sich in dem Glauben, daß der Zar auf ihrer Seite steht, aber nur von den Adligen zurückgehalten wird, sicherer denn je zuvor erheben. Und wenn sie dies tun, dann wird das russische 1793 anbrechen."3 Lenin faßte in seinen Darlegungen über die revolutionäre Situation in Rußland am Ende der fünfziger Jahre in einer großen historischen Synthese die Tradition des revolutionären Marxismus zusammen. Die revolutionäre Situation von 1859 bis 1861 - diese zeitlich kurze historische Periode - ließ die ungeheure soziale Energie der jahrhundertelang geknechteten Bauern erkennen, auch wenn sie nach außen nicht entsprechend zum Ausdruck kam. Lenin schrieb: „In Rußland war 1861 das Volk, das jahrhundertelang von den Gutsbesitzern in Sklaverei gehalten worden war, nicht imstande, sich zu einem umfassenden, offenen, bewußten Kampf um die Freiheit zu erheben. Die Bauernaufstände jener Zeit blieben vereinzelte, zersplitterte, spontane 'Rebellionen' und wurden leicht unterdrückt." 4 Es kam nicht zur Vereinigung der Protestbewegung der Volksmassen mit der revolutionär-demokratischen Bewegung, eine Vereinigung, die vor allem die autokratische Regierung fürchtete. Die Reformen kamen der Befreiung „von unten" zuvor. „Die Reform von 1861 blieb nur eine Reform infolge der außerordentlichen Schwäche, der Unbewußtheit und Zersplitterung jener gesellschaftlichen Elemente, deren Interessen eine Umgestaltung forderten . . . Aber diese Reform, die infolge der Schwäche bestimmter gesellschaftlicher Elemente eine Reform geblieben war, schuf, ungeachtet aller Hindernisse und Schranken, die Bedingungen für die weitere Entwicklung dieser Elemente " 5 Gerade aus den Bedingungen der Reform von 1861 ergaben sich für Lenin die Grundlagen für die Aufforderung zur Fortsetzung des revolutionären Kampfes. In seinem Beitrag „Die 'Bauernreform' und die proletarisch-bäuerliche Revolution" entwickelte Lenin eingehend diesen Gedanken und analysierte die Schwächen der zersplitterten und politisch unaufgeklärten Bauernbewegung. Hier legte er auch eindringlich die marxistische Auffassung dar, daß Reformen Nebenprodukt des revolutionären Kampfes sind. Bei der Erforschung der revolutionären Situation kommt diesem Gesichtspunkt zentrale Bedeutung zu. Lenin schrieb: „Die Revolutionäre spielten eine sehr große historische Rolle im gesellschaftlichen Kampf und in allen sozialen Krisen selbst dann, wenn die Krisen unmittelbar nur zu halben Reformen führten. Die Revolutionäre sind die Führer der gesellschaftlichen Kräfte, die alle Umgestaltungen bewirken ; Reformen sind ein Nebenprodukt des revolutionären Kampfes."6 Besonders eingehend beschäftigte sich Lenin mit der Theorie der revolutionären Situation in der Arbeit „Der Zusammenbruch der II. Internationale" (1915). Er wies für jede revolutionäre Situation 3 Hauptmerkmale in der Gesamtheit der objektiven Veränderungen nach: 3

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K. Marx, Über die Bauernbefreiung in Rußland, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 12, Berlin 1961, S. 681 f. W. I. Lenin, Der fünfzigste Jahrestag der Aufhebung der Leibeigenschaft, in: Lenin, Werke, Bd. 17, Berlin 1967, S. 111. W. I. Lenin, Zum Jubiläum, in: Lenin, Werke, Bd. 17, Berlin 1967, S. 100. W. I. Lenin, Die „Bauernreform" und die proletarisch-bäuerliche Revolution, in: Lenin, Werke, Bd. 17, Berlin 1967, S. 111.

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„1. Für die herrschenden Klassen ist es unmöglich, ihre Herrschaft unverändert aufrechtzuerhalten; die eine oder andere Krise der oberen Schichten', eine Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riß entstehen läßt, durch den sich die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen Bahn bricht. Damit es zur Revolution kommt, genügt es in der Regel nicht, daß die 'unteren Schichten' in der alten Weise 'nicht leben wollen', es ist noch erforderlich, daß die 'oberen Schichten' in der alten Weise 'nicht leben können'. 2. Die Not und das Elend der -unterdrückten Klassen verschärfen sich über das gewöhnliche M a ß hinaus. 3. Infolge der erwähnten Ursachen steigert sich erheblich - die Aktivität der Massen, die sich in der 'friedlichen' Epoche ruhig ausplündern lassen, dn stürmischen Zeiten dagegen sowohl durch die ganze Krisensituation als auch durch die 'oberen Schichten' selbst zu selbständigem historischem Handeln gedrängt werden. Ohne diese objektiven Veränderungen, die unabhängig sind vom Willen nicht nur einzelner Gruppen und Parteien, sondern auch einzelner Klassen, ist eine Revolution in der Regel - unmöglich. Die Gesamtheit dieser objektiven Veränderungen wird denn auch revolutionäre Situation genannt. Eine solche Situation gab es 1905 in Rußland und in allen Revolutionsepochen im Westen; säe lag aber auch in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland und in den Jahren von 1859 bis 1861 und von 1879 bis 1880 in Rußland vor, obgleich es in diesen Fällen zu keiner Revolution kam. Warum? Weil nicht aus jeder revolutionären Situation eine Revolution hervorgeht, sondern nur aus einer solchen Situation, in der zu den oben aufgezählten objektiven Veränderungen noch eine subjektive hinzukommt, nämlich die Fähigkeit der revolutionären Klasse zu revolutionären Massenaktionen, genügend stark, um die alte Regierung zu stürzen (oder zu erschüttern), die niemals, nicht einmal in einer Krisenepoche, 'zu Fall kommt', wenn man sie nicht 'zu Fall bringt'". 7 In diesen Ausführungen Lenins wird die Frage nicht nur theoretisch klar umrissen, sondern es wird auch konkret auf die revolutionären Situationen in Rußland im 19. Jh. hingewiesen. Beide revolutionäre Situationen (1859-1861 und 1879-1880) fallen in eine Umbruchszeit: Die erste liegt am Ende der Adels- und am Anfang der Rasnotschinzenperiode, die zweite am Ende der Rasnotschinzen- und am Vorabend der proletarischen Periode der revolutionären Bewegung. Beide Male ist es eine andere Klasse, die Anspruch auf die führende Rolle in der Bewegung erhebt, und dementsprechend ändern sich auch die revolutionären Organisationen, die Programme und die Taktik, die die Interessen der entsprechenden Klasse in einer bestimmten historischen Entwicklungsphase widerspiegeln. Lenin zeigt hier den Zusammenhang zwischen der Periodisierung der russischen revolutionären Bewegung und den revolutionären Situationen auf. Die Volksmassen werden nur dann, wenn sich bestimmte objektive Veränderungen vollziehen, aktiv, nicht aber auf Grund willkürlicher Entscheidungen revolutionärer Führer. Daraus ergibt sich die außerordentliche Bedeutung der marxistisch-leninistischen Theorie der revolutionären Situation in Lenins Konzeption der revolutionären Bewegung. Die revolutionäre Bewegung, in der sich die Hoffnungen der unterdrückten Massen widerspiegeln, ist ein Bestandteil, ein lebendiges Element jeder revolutionären Situation: Die revolutionäre Bewegung sucht den durch die Krise der herrschenden Schichten entstandenen Riß dadurch zu vertiefen, daß Unzufriedenheit und Empörung 7

W. I. Lenin, Der Zusammenbruch der II. Internationale, in: Lenin, Werke, Bd. 21, Berlin 1968, S. 206 f.

Die revolutionären Demokraten

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der unterdrückten Klassen dorthin gelenkt werden; sie veranlaßt die unterdrückten Klassen zum selbständigen historischen Auftreten und übernimmt bei revolutionären Massenaktionen der Klasse die Führung. Somit ist die revolutionäre Situation ein echter Prüfstein f ü r die Stärke der revolutionären Bewegung, ein Gradmesser ihrer Kraft und der Richtigkeit ihrer Strategie und Taktik sowie ihrer f ü r das Schicksal der Revolution entscheidenden Fähigkeit, die anfallenden Aufgaben praktisch zu lösen. Die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung im 19. Jh. bildete f ü r Lenins Bestrebungen, eine Konzeption des revolutionären Kampfes zu entwickeln, ein wichtiges Element; sie war der Auftakt zum Studium der russischen Revolutionen im 20. Jahrhundert. In Lenins Konzeption der revolutionären Situation spielt das bewußte, revolutionäre Handeln eine außerordentlich wichtige Rolle. Daraus ergibt sich die Bedeutung dieser Frage für die sowjetischen Historiker, die sich mit der revolutionären Situation von 1859 bis 1861 befassen. Die Aufhebung der Leibeigenschaft, mit der Lenin den Beginn der revolutionär-demokratischen Etappe in der russischen Befreiungsbewegung datiert, rief die Rasnotschinzen auf den Plan „als den wichtigsten, massenhaft auftretenden Träger sowohl der Befreiungsbewegung im allgemeinen als auch der demokratischen, unzensierten Presse im besonderen" 8 . Es ist nicht verwunderlich, daß sich die junge sowjetische Geschichtswissenschaft nach der Oktoberrevolution bei der Erforschung der russischen revolutionären Bewegung, ihrem zentralen Thema, vor allem auf eine so hervorragende Persönlichkeit der Rasnotschinzenperiode wie den Ideologen und Führer der revolutionären Demokraten N. G. Cernysevskij konzentrierte. In den Diskussionen anläßlich seines 100. Geburtstages wurde insbesondere in Anknüpfung an Lenins Ansichten über Cernysevskij als Theoretiker und Revolutionär den Historikern die Aufgabe gestellt, Cernysevskij s Wirken im untrennbaren Zusammenhang mit der revolutionären Bauernbewegung und mit der revolutionären Situation in der Epoche der Aufhebung der Leibeigenschaft 9 zu erforschen. Diese Ansicht wurde später in einem besonderen Aufsatz „N. G. Cernysevskij in den Jahren der revolutionären Situation" 10 eingehend begründet. Die Herausgabe der Werke N. A. Dobroljubovs 1 1 , das Erscheinen der Gesamtausgabe der Werke N. G. Cernysevskijs 1 2 einschließlich der Tagebücher, des Briefnachlasses, der neu aufgefundenen publizistischen Arbeiten sowie der ersten Fassung des von N. A. Alekseev entzifferten Romans „Was tun?" und des vollen Textes des Romans „Alfer'ev" wie auch die Veröffentlichung des Dokumentenbandes „Der Prozeß N. G. Cernysevskijs" sowie die Chroniken des Lebens und Wirkens für N. G. Cernysevskij und N. A. Dobroljubov 1 3 erweiterten wesentlich die Grundlagen f ü r die Erforschung 8

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W. I. Lenin, Aus der Vergangenheit der Arbeiterpresse in Rußland, in: Lenin, Werke, Bd. 20, Berlin 1968, S. 243. M. V. Neckina, Obzor jubilejnoj literatury ob N. G. Cernysevskom, in-, Istorik marksist, 1928, Heft 10. M. V. Neckina, N. G. Cernysevskij v gody revoljucionnoj situacii (K analizu istocnikov temy), in: Istoriceskie zapiskli, Bd. 10, Moskau 1941. N. A. Dobroljubov, Sobranie socinenij, Bd. I-IX, Moskau-Leningrad 1961-1964. N. G. Cernysevskij, Polnoe sobranie socinenij, Bd. I-XVI, Moskau 1939-1953. Process N. G. Cernysevskogo, Archivnye dokumenty, Reaktion und Anmerkungen von N. A. Alekseev, Saratov 1939; N. M. Cernysevskaja, Letopis' zizni i dejatel'nosti N. G. Cernysevskogo, Moskau 1953; S. A. Rejser, Letopis' zizni i dejatel'nosti N. A. Dobroljubova, Moskau 1953.

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der Epoche als Ganzes. Verschiedene Sammelbände, die anläßlich des 50. Todestages öernysevskijs 14 erschienen, enthielten neues Quellenmaterial sowie Forschungsaufsätze. Die Anfang der dreißiger Jahre zum Stillstand gekommene Forschung über Cernysevskij lebte wieder auf, wobei ihr die von der Geschichtswissenschaft der vorhergegangenen Periode bereits gewonnenen Ergebnisse als Grundlage dienten. Es erschienen Arbeiten, die den philosophischen, ökonomischen und juristischen Auffassungen Öernysevskijs gewidmet sind, sowie eine spezielle Untersuchung über die politischen Ansichten Cernysevskijs.15 Die in den Jahren 1936-1958 entstandenen Aufsätze von B. P. Koz'min behandeln die Herausbildung der revolutionär-demokratischen Ideologie. Die Forschungen und Publikationen dieses ausgezeichneten Kenners der Epoche sind den revolutionären Demokraten der fünfziger und sechziger Jahre 16 gewidmet. Ein zentrales Thema dieses Zyklus sind die ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb des demokratischen Lagers, die Wechselbeziehungen zwischen Herzen und Ogarev einerseits und den Vertretern der revolutionären Kreise in Rußland und in der Emigration andererseits während der revolutionären Situation und vor allem in der nachfolgenden Periode. Hierbei werden jene Momente hervorgehoben, die zum Bruch zwischen den Führern der Freien russischen Druckerei und dem Kreis um die Zeitschrift „Sovremennik" und der „Jungen Emigration" in den sechziger Jahren geführt haben. Die späteren Aufsätze lassen erkennen, daß der Verfasser seine Ansichten noch einmal überprüft und sich um exaktere und besser fundierte Schlußfolgerungen bemüht hat. 17 In dem 1958 erschienenen Buch von §. M. Levin über die gesellschaftliche Bewegung in Rußland in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jh. 18 werden zum ersten Mal in der sowjetischen Literatur alle wesentlichen Ereignisse des gesellschaftlichen Lebens während der ersten revolutionären Situation in einer Monographie zusammenfassend analysiert. Der Verfasser untersucht das vielseitige Schaffen Cernyievskijs, Dobroljubovs und Herzens im engen Zusammenhang mit der Bauernbewegung, der Studentenbewegung sowie der Tätigkeit der Organisation „Zemlja i volja" und faßt die Ergebnisse der bis zur Mitte der fünfziger Jahre vorliegenden Forschungen über die erste revolutionäre Situation zusammen. Das Auffinden konspirativer Dokumente N. P. Ogarevs in der „Prager Sammlung" 14

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