Menschen und Welten in Bewegung: Der Ostalpen- und Donauraum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert 9783534273720, 9783534273744, 9783534273737, 3534273729

Aus der Perspektive der globalen Migrationsgeschichte erzählt diese Studie die Geschichte des Ostalpen- und Donauraums b

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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Einführende Gedanken und umfassende Danksagung
Eine umfassende Danksagung …
… und eine spezifische Danksagung
1 Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung
1.1 Ausgangsposition und Sprache
1.2 Konventionen: Zeitrechnungen und Periodisierungen
1.3 Wissenschaftler*innen mit und ohne Migrationshintergrund und pluralen Erfahrungen
1.4 Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften
1.5 Die Ostalpen- und Donau-Region über die Zeiten
Welt und Region von den Anfängen bis zum 8. Jahrhundert u. Z.
2 Naturregion und menschliche Besiedlung
2.1 Erdgeschichte und Naturgeschichte
2.2 Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen
2.3 Kulturentwicklungen: Am Anfang war das Handeln
2.4 Fruchtbarkeitsverehrung und weitläufiger Handel in donauländischen urbanen Kulturen
2.5 Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z.
3 Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.
3.1 Bronze herstellende Gesellschaften: Neue Ressourcen, neue Hierarchien
3.2 Transeuropäische Kulturen, vielfältige lokale Eigenarten, veränderte Kontaktzonen
3.3 Salzbergwerker- und Handwerker-Familien: Lebens-, Arbeits-, Herrschaftsweisen
3.4 Stoffe – Bekleidung – Werkkultur: Funds of knowledge von Frauen
3.5 Körperlichkeiten und Spiritualitäten
3.6 Fernhandel und Nahmigration in vernetzten Ökumenen
4 Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.
4.1 „Völker“: Konstrukte ohne empirische Daten
4.2 Keltisch-sprachige Menschen bis zum 1. Jahrhundert v. u. Z.
4.3 Einheimische und imperiale Migrationen in Noricum, 1. bis 2. Jahrhundert
4.4 Alltagsleben im keltisch-römischen Noricum
4.5 Transmittelmeerisches Reich, 2. bis 5. Jahrhundert: Krisen, Neuerungen, Verschiebungen
4.6 Reichswirren, Großverbände, Verödungen: Die Krisenzeiten des 3. bis 5. Jahrhunderts
4.7 Keltisch-romanische Überlebende und bayerisch- sowie slawisch-sprachige Zuwander*innen
4.8 Macht über Menschen: Zuwandernde Militärführer etablieren „Grundherrschaft“
5 Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft
5.1 Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus
5.2 Gründungsmythen: Mensch (Adam) und Leben (Hawa) im Kontext
5.3 Die Entwicklung der „Israeliten“ und ihrer Narrative zu Gesellschaft und Geschlecht
5.4 Traditionelle und hellenisierte Juden, abweichende Christus-Gläubige
5.5 Von vielfältig gelebter zu staatlich akzeptierter christlicher Religion
5.6 Métissage in transeuropäischen Verflechtungen
5.7 Zuwandernde Kirchenmänner und Religiose im Voralpenraum
Die Entwicklung Lateineuropas im Kontext der „Alten Welt“ als Rahmen für Regionales
6 Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts
6.1 Kriegsherren, Magnaten und Bischöfe: Eliten zwischen Kontinuität und Neuerfindung
6.2 Die Institutionalisierung der Lateinischen Kirche
6.3 Fränkische Herrscher und ihre vielkulturellen Untertanen
6.4 Weltliche und kirchliche Herrschaft im Ostalpenraum, 7. bis 10. Jahrhundert
6.5 West-/ Lateineuropa in der tri-kontinentalen Welt
6.6 Zentrale Herrschaft, Familien, Fehden: Prozessuale oder holperige Strukturen?
6.7 Herrscher-Familien im ZWH und Kirchenherrscher in Rom bis zum 13. Jahrhundert
6.8 Herrschaft im Ostalpenraum, Ost- und Südostexpansion
6.9 Besitzverhältnisse und Konsolidierung in der Kirchenprovinz Salzburg
6.10 Herrscher und Territorien bis zum 14. Jahrhundert: Staufer, Přemysl, Habsburg
6.11 Kreuzkriege und Mongolenhorror: Attraktive Levante und Pax mongolica
6.12 Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug
Lebens- und Bewegungsweisen vom 8. bis zum 15. Jahrhundert
7 Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger
7.1 Chroniken ohne Menschen …
7.2 … und Schenkungen-Handel mit Menschen
7.3 Konzepte: Eigenleute und Sklaven in komparativer Perspektive
7.4 Konsolidierung von Grundherrschaft in der vielsprachigen Kirchenprovinz
7.5 Prozessuale Strukturen: Lebenseigene/ Sklaven, Zwangsarbeit und -abgaben
7.6 Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen
7.7 Waldwirtschaft und Bergbau
7.8 Bevölkerung, Geldwirtschaft und Sozialstruktur: Entwicklungen bis ins 13. Jahrhundert
7.9 Widerständigkeiten selbstständig denkender Männer und Frauen
7.10 Neue Diskurse über ländliches Leben: Städter, Sänger, Wandermönche
7.11 Die Krise des 14. Jahrhunderts als demografische und alltagsweltliche Zäsur
8 Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten
8.1 Vernetzte Marktorte: Wege der Zirkulation von Menschen, Geld und Waren
8.2 Markt- und Ackerbürger-Städte
8.3 Zentraler und Residenz-Ort: Salzburg-Stadt
8.4 Handwerker*innen
8.5 Berufe und Prozesse: Haus-Werk-Stätten, Wohnräume, Stadtlandschaften
8.6 Elitenkonsum: Schreib-, Bekleidungs- und Dombau-Handwerk
8.7 Salzburg-Stadt: Soziale Schichtung, caritas, Selbstverwaltung
8.8 Alltagsmobilität und Fahrende, Reisende, Durchziehende
8.9 Fernes Nahes: Venedigerhandel und „Venediger“ in Erzählungen
8.10 Fernkaufleute: Transkontinentale Routen und Waren
9 Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege
9.1 Natur, Dämonen, Gottheiten: Überlagerungen und Verschmelzungen
9.2 Kirchenglaube: Praktische, erzählerische und visuelle Neuerungen
9.3 Helfer*innen und Mittler*innen: Die Besiedlung des spirituellen Zwischenraumes
9.4 Mönche, Nonnen, Priester: „Niedere“ Geistlichkeit im institutionellen Zwischenraum
9.5 Menschenbilder: Kindheiten, Emotionen, Gender
9.6 Totalitäre Kurie, „elende“ Humanität, neue Orden
9.7 Institution Kirche: Apparat und hohe Kleriker in der Kirchenprovinz Salzburg
9.8 Die Familie Habsburg nähert sich, Erzbischöfe reagieren
9.9 Fragen und Satiren zu rechtem Glauben und sozialer Gerechtigkeit
9.10 Eigene Wege und Bewegungen
9.11 Institutionelle Innenkämpfe: Konstanzer Konzil, viele Päpste, Scheitern
9.12 Religionskriege, Reformen und Judenvernichtung in Böhmen, Salzburg und Österreich
10 Wirtschaft, Alltagsleben und Herrschaft vom Großen Sterben bis zum 16. Jahrhundert
10.1 Wirtschaft und Herrschaft nach der Pest
10.2 Leben in kleineren Städten und Marktorten
10.3 Stadt und Land: Ordnungen, Weistümer, Bräuche
10.4 Gewerbetreibende und „Gemeine“
10.5 Ländliche und landstädtische Menschen
10.6 Wirtschaften in Wald und Gebirge
10.7 Die FEB-Krisen 1462 bis 1495
10.8 Gesellschaft und Machtstrukturen
11 Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre
11.1 Familie Habsburg, Herrschaft – Großreich – Kolonien, und FEB Matthäus Lang
11.2 Annäherung: Osmanisch-muslimische Heere und Herrschaft
11.3 Die „Last der Kirche“ und das „rechte“ Evangelium
11.4 Kritisches Denken und Befreiungsversuche seit 1462
11.5 Befreiungsforderungen: Von Beschwernissen zu Selbstbestimmung und gerechter Obrigkeit
11.6 Der FEB und seine Räte: Was tun?
11.7 Befreiungskriege 1525/26 und ihre Niederschlagung
11.8 Die Landesordnung von 1526: Weistum und Diktat
11.9 Bilder eigener und weiterer Welten
Veränderte Welten, 15./16. Jahrhundert
12 Globale Perspektiven bis zum 16. Jahrhundert, regionaler Ausblick bis 1803/16
12.1 Weltbilder: Geografie, Renaissance, seelenlose, aber arbeitsfähige Wesen
12.2 Fernes Nahes: Globale Veränderungen im 15. und 16. Jahrhundert
12.3 Europas weltweite „Vororte“ … und Küchen und Wohnzimmer im Ostalpen- und Donauraum
12.4 Ausblick: Vom Ende bürgerlicher Freiheiten bis zum Herrschaftsende, 1803/16
Knappe Hinweise zu Literatur und Abbildungsnachweisen
Literatur zur Ostalpen- und Donauregion und, herrschaftlich, zur Salzburger Kirchenprovinz
Zu „Salzburg“ im engeren Sinn
Teilregionen Österreichs, Österreich-Ungarn, Habsburger Vielvölkerstaat und Vorläufer
Benachbarte und entfernte Kontaktregionen und jüdische Diaspora
Entfernte Kontaktregionen
Europäische Geschichte
Weltgeschichte
Angaben zu Quellen und Copyright
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Menschen und Welten in Bewegung: Der Ostalpen- und Donauraum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert
 9783534273720, 9783534273744, 9783534273737, 3534273729

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Dirk Hoerder

Menschen und Welten in Bewegung Der Ostalpen- und Donauraum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert

Dirk Hoerder Menschen und Welten in Bewegung

Dirk Hoerder

Menschen und Welten in Bewegung Der Ostalpen- und Donauraum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert

Gedruckt mit Unterstützung durch RD Foundation Vienna Gemeinnützige Privatstiftung

Land Salzburg, Abteilung Kultur und Wissenschaft

Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Abt. Wissenschaft und Forschung

Amt der Oberösterreichischen Landesregierung, Abt. Kultur

Kulturland Oberösterreich

Institut für Historische Sozialforschung, Arbeiterkammer Wien

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlagsabbildung: Natural Earth; Bearbeitet von P. Hinterndorfer Satz und eBook: SatzWeise, Bad Wünnenberg Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27372-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-27374-4 eBook (epub): 978-3-534-27373-7

Inhaltsverzeichnis

Einführende Gedanken und umfassende Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung . . . . . . 1.1 Ausgangsposition und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Konventionen: Zeitrechnungen und Periodisierungen . . . . . . 1.3 Wissenschaftler*innen mit und ohne Migrationshintergrund und pluralen Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Ostalpen- und Donau-Region über die Zeiten . . . . . . . .

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Welt und Region von den Anfängen bis zum 8. Jahrhundert u. Z. 2

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Naturregion und menschliche Besiedlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Erdgeschichte und Naturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen . . . . . . . . . . . . 2.3 Kulturentwicklungen: Am Anfang war das Handeln . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Fruchtbarkeitsverehrung und weitläufiger Handel in donauländischen urbanen Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z. . . 3.1 Bronze herstellende Gesellschaften: Neue Ressourcen, neue Hierarchien . . . . . 3.2 Transeuropäische Kulturen, vielfältige lokale Eigenarten, veränderte Kontaktzonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Salzbergwerker- und Handwerker-Familien: Lebens-, Arbeits-, Herrschaftsweisen 3.4 Stoffe – Bekleidung – Werkkultur: Funds of knowledge von Frauen . . . . . . . . 3.5 Körperlichkeiten und Spiritualitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Fernhandel und Nahmigration in vernetzten Ökumenen . . . . . . . . . . . . . .

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z. . . . 4.1 „Völker“: Konstrukte ohne empirische Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Keltisch-sprachige Menschen bis zum 1. Jahrhundert v. u. Z. . . . . . . . . . 4.3 Einheimische und imperiale Migrationen in Noricum, 1. bis 2. Jahrhundert 4.4 Alltagsleben im keltisch-römischen Noricum . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Transmittelmeerisches Reich, 2. bis 5. Jahrhundert: Krisen, Neuerungen, Verschiebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Reichswirren, Großverbände, Verödungen: Die Krisenzeiten des 3. bis 5. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

4.7 Keltisch-romanische Überlebende und bayerisch- sowie slawisch-sprachige Zuwander*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.8 Macht über Menschen: Zuwandernde Militärführer etablieren „Grundherrschaft“ 112 5

Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft . . . 5.1 Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus . 5.2 Gründungsmythen: Mensch (Adam) und Leben (Hawa) im Kontext . . . 5.3 Die Entwicklung der „Israeliten“ und ihrer Narrative zu Gesellschaft und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Traditionelle und hellenisierte Juden, abweichende Christus-Gläubige . . 5.5 Von vielfältig gelebter zu staatlich akzeptierter christlicher Religion . . . . 5.6 Métissage in transeuropäischen Verflechtungen . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Zuwandernde Kirchenmänner und Religiose im Voralpenraum . . . . . .

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Die Entwicklung Lateineuropas im Kontext der „Alten Welt“ als Rahmen für Regionales 6

Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Kriegsherren, Magnaten und Bischöfe: Eliten zwischen Kontinuität und Neuerfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Institutionalisierung der Lateinischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Fränkische Herrscher und ihre vielkulturellen Untertanen . . . . . . . . . . . . 6.4 Weltliche und kirchliche Herrschaft im Ostalpenraum, 7. bis 10. Jahrhundert . . 6.5 West-/Lateineuropa in der tri-kontinentalen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Zentrale Herrschaft, Familien, Fehden: Prozessuale oder holperige Strukturen? . 6.7 Herrscher-Familien im ZWH und Kirchenherrscher in Rom bis zum 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8 Herrschaft im Ostalpenraum, Ost- und Südostexpansion . . . . . . . . . . . . . 6.9 Besitzverhältnisse und Konsolidierung in der Kirchenprovinz Salzburg . . . . . 6.10 Herrscher und Territorien bis zum 14. Jahrhundert: Staufer, Přemysl, Habsburg . 6.11 Kreuzkriege und Mongolenhorror: Attraktive Levante und Pax mongolica . . . 6.12 Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug . . .

151 153 156 163 170 173 177 183 187 193 196 202 207

Lebens- und Bewegungsweisen vom 8. bis zum 15. Jahrhundert 7

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Chroniken ohne Menschen … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 … und Schenkungen-Handel mit Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Konzepte: Eigenleute und Sklaven in komparativer Perspektive . . . . . . . 7.4 Konsolidierung von Grundherrschaft in der vielsprachigen Kirchenprovinz 7.5 Prozessuale Strukturen: Lebenseigene/Sklaven, Zwangsarbeit und -abgaben 7.6 Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Waldwirtschaft und Bergbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8 Bevölkerung, Geldwirtschaft und Sozialstruktur: Entwicklungen bis ins 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

7.9 Widerständigkeiten selbstständig denkender Männer und Frauen . . . . . . . . 262 7.10 Neue Diskurse über ländliches Leben: Städter, Sänger, Wandermönche . . . . . 266 7.11 Die Krise des 14. Jahrhunderts als demografische und alltagsweltliche Zäsur . . 271 8

Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Vernetzte Marktorte: Wege der Zirkulation von Menschen, Geld und Waren 8.2 Markt- und Ackerbürger-Städte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Zentraler und Residenz-Ort: Salzburg-Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Handwerker*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Berufe und Prozesse: Haus-Werk-Stätten, Wohnräume, Stadtlandschaften . 8.6 Elitenkonsum: Schreib-, Bekleidungs- und Dombau-Handwerk . . . . . . . 8.7 Salzburg-Stadt: Soziale Schichtung, caritas, Selbstverwaltung . . . . . . . . . 8.8 Alltagsmobilität und Fahrende, Reisende, Durchziehende . . . . . . . . . . . 8.9 Fernes Nahes: Venedigerhandel und „Venediger“ in Erzählungen . . . . . . . 8.10 Fernkaufleute: Transkontinentale Routen und Waren . . . . . . . . . . . . .

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Natur, Dämonen, Gottheiten: Überlagerungen und Verschmelzungen . . . . . 9.2 Kirchenglaube: Praktische, erzählerische und visuelle Neuerungen . . . . . . . 9.3 Helfer*innen und Mittler*innen: Die Besiedlung des spirituellen Zwischenraumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Mönche, Nonnen, Priester: „Niedere“ Geistlichkeit im institutionellen Zwischenraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Menschenbilder: Kindheiten, Emotionen, Gender . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6 Totalitäre Kurie, „elende“ Humanität, neue Orden . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7 Institution Kirche: Apparat und hohe Kleriker in der Kirchenprovinz Salzburg 9.8 Die Familie Habsburg nähert sich, Erzbischöfe reagieren . . . . . . . . . . . . 9.9 Fragen und Satiren zu rechtem Glauben und sozialer Gerechtigkeit . . . . . . 9.10 Eigene Wege und Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.11 Institutionelle Innenkämpfe: Konstanzer Konzil, viele Päpste, Scheitern . . . . 9.12 Religionskriege, Reformen und Judenvernichtung in Böhmen, Salzburg und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10 Wirtschaft, Alltagsleben und Herrschaft vom Großen Sterben bis zum 16. Jahrhundert 10.1 Wirtschaft und Herrschaft nach der Pest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Leben in kleineren Städten und Marktorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Stadt und Land: Ordnungen, Weistümer, Bräuche . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Gewerbetreibende und „Gemeine“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Ländliche und landstädtische Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Wirtschaften in Wald und Gebirge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.7 Die FEB-Krisen 1462 bis 1495 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.8 Gesellschaft und Machtstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

11 Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre . . . . 11.1 Familie Habsburg, Herrschaft – Großreich – Kolonien, und FEB Matthäus Lang 11.2 Annäherung: Osmanisch-muslimische Heere und Herrschaft . . . . . . . . . . 11.3 Die „Last der Kirche“ und das „rechte“ Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Kritisches Denken und Befreiungsversuche seit 1462 . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Befreiungsforderungen: Von Beschwernissen zu Selbstbestimmung und gerechter Obrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6 Der FEB und seine Räte: Was tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7 Befreiungskriege 1525/26 und ihre Niederschlagung . . . . . . . . . . . . . . . . 11.8 Die Landesordnung von 1526: Weistum und Diktat . . . . . . . . . . . . . . . . 11.9 Bilder eigener und weiterer Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Veränderte Welten, 15./16. Jahrhundert 12. Globale Perspektiven bis zum 16. Jahrhundert, regionaler Ausblick bis 1803/16 . . . 12.1 Weltbilder: Geografie, Renaissance, seelenlose, aber arbeitsfähige Wesen . . . 12.2 Fernes Nahes: Globale Veränderungen im 15. und 16. Jahrhundert . . . . . . . 12.3 Europas weltweite „Vororte“ … und Küchen und Wohnzimmer im Ostalpenund Donauraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Ausblick: Vom Ende bürgerlicher Freiheiten bis zum Herrschaftsende, 1803/16

Knappe Hinweise zu Literatur und Abbildungsnachweisen

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Abkürzungen EB, FEB Erzbischof, Fürsterzbischof Hz, Ehz Herzog, Erzherzog a. amtierte, h. herrschte, d.G. der Große, a.D. außer Dienst a.d.F. auf der Flucht EBExil im Exil HB Herrschaftsbereich HRR Heiliges Römisches Reich RR Römisches Reich, westlich bis etwa 500 und östlich bis 1453 ZWH Zentraleuropäisch-Weltlicher Herrschaftsbereich ZWR Zentraleuropäisches Weltliches Reich, nach Goldener Bulle 1356 MGSL – Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburgische Landeskunde

8

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r.

regierte

EBKonkurrent Gegen-Erzbischof

Einführende Gedanken und umfassende Danksagung Gewidmet allen, von denen ich in meinem Leben gelernt habe Erarbeitet im Sinne einer chinesischen Weisheit: „Besser auf einem neuen Weg etwas stolpern, als in alten Pfaden auf der Stelle zu treten.“ Regionen und Orte, das heißt die Menschen in ihnen, sind Teile weitläufiger, mittlerer und kleinerer Gesellschaften in Beziehungen zu vielen anderen. Menschen handeln nicht in umgrenzten Staaten, ummauerten Städten, isolierten Dörfern. Der Donau- und Ostalpenraum, den ich hier untersuche, war Teil weltweiter, in die Anfänge menschlichen Lebens zurückreichender Entwicklungen. Die dort Lebenden stehen hier beispielhaft für „glokale“ – globale und lokale – Vernetzungen und Perspektiven. Kurz-sichtige Meinungen erklären die spezifische Globalisierung am Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem neuen und bedrohlichen Phänomen. Weit-sichtigere Perspektiven zeigen, wie seit dem Beginn menschlicher Geschichte Lokales und Regionales mit Makroregionalem und Transkontinentalem verbunden waren. Globalisierung ist die langanhaltende oder dauerhafte Verbindung zwischen großen Teilen der Welt in unterschiedlicher Intensität. Jede Entwicklung, die die Region – administrativ seit etwa 800 Salzburger Kirchenprovinz – erreichte, führe ich von ihrem Ausgangsort dorthin, von der Menschwerdung in Ostafrika über Religionsschaffende in dem Raum zwischen östlichem Mittelmeer, iranischem Hochland und Zwei- und Einstrom-Region bis zu denen, die Gesellschaften und Kulturlandschaften zwischen Pannonien und Adria, Tauern und Donau erschaffen haben. Ich stelle die Region natur- und humangeschichtlich von den Anfängen bis ins 8. Jahrhundert unserer Zeit dar (Kap. 2–5) und den mittelmeerisch-europäischen Rahmen für regionale Entwicklungen, 5. bis 15. Jahrhundert (Kap. 6). Danach konzentriere ich mich auf die Menschen der Region und ihre weitläufigen Vernetzungen bis zum Einschnitt der Krise des 14. Jahrhunderts (Kap. 7–9) und Entwicklungen von der Pest bis zu den Befrei-

ungskriegen (Kap. 10 und 11). Abschließend öffne ich die Perspektive auf die am Beginn des 16. Jahrhunderts erweiterte Welt (Kap. 12). Ich hebe die Leistungen der jeweils Lebenden in Landwirtschaft und Handwerk hervor: Mikrokosmos alltäglichen Lebens im Makrokosmos der Herrschaftsrahmen und Ökonomien der drei Kontinente. Angesichts der traditionellen Dominanz der Blickrichtung „von oben“ tue ich dies ausführlich, denn „oben“ umfasste nur etwa zwei Prozent der jeweils Lebenden. Doch mit diesen Macht- und Diskurs-Herrschern mussten alle „Unteren“ sich auseinandersetzen. Alle Menschen weltweit sind migratorischen Hintergrunds. In der Region, die noch nicht „Salzburg“ oder „Habsburg“ hieß, haben einst Zugewanderte Salz weitläufig gehandelt und fremde Güter und Bräuche eingeführt. Nachfolgende entwickelten eine keltische Kultur, romanisierte „Kelten“ und keltisierte „Römer“ sahen sich im 2. Jahrhundert durch angreifende „Germanen“ bedroht. Sie alle ahnten nicht, dass spätere Kulturfixisten sie mit diesen Gruppenetiketten versehen würden. Die Menschen schufen sich eigene lokale Glaubenswelten und adaptierten Religionen aus dem Orient. Im 6. Jahrhundert bedrohten „Awaren“ sie und „Franken“ nahmen ihr Land und machten sie „leib-“ bzw. „lebenseigen“. Erinnerer sprachen und sprechen von Awaren-„Einfällen“, aber vom merowingisch-karolingischen „Reich“. Selbstbezogene, das heißt parteiliche Bezeichnungen und Erzählungen übernehme ich nicht. Die Zwei-Prozent-Elite setzte nicht nur Rahmen, sondern ließ auch vieles zerstören. Herrscher ließen ihre Söldner Hütten, Äcker und Höfe brandschatzen, verpfändeten Kärntner*innen und Steirer*innen an Gläubiger, benachbarte Grafen ließen im 12. Jahrhundert Salzburg-Stadt niederbrennen, ein fundamentalistischer 1 Erzbischof 1731/32 an-

Als Fundamentalisten bezeichne ich Mächtige, Individuen oder Gruppen gleich welcher Religion oder politischer Linie, die ihre dogmatisierte Überzeugung anderen mit Gewalt aufzwingen.

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dersgläubige Christen vertreiben. 1934/38 vertrieben alteingesessene und zugewanderte Nazis alteingesessene Juden und Andersdenkende. „Einfache“ Menschen, nicht die Mächtigen, erschufen Schritt-weise Kulturlandschaften, Märkte und Zentralorte. Die Vernetzung des Lokalen und Globalen ebenso wie die Verankerung des Globalen im Lokalen war augenfällig. Keltische Magnaten erwarben Schmuckmuscheln aus dem Indischen Ozean; römische Legionäre an Donau und Rhein stammten aus Syrien; einheimische Säumer transportierten begehrte Güter aus Venedig über transalpine Saumpfade; dörfliche Familien in den „frühe Neuzeit“ genannten Jahrhunderten konservierten ihre Perchtenmasken mit Ölen aus Arabien. Ein Fürsterzbischof investierte am Ende des 17. Jahrhunderts in die Niederländisch-Ostindische Kompanie und den dafür abgeschöpften Mehrwert erwirtschafteten ländliche Menschen. Nach einem verbreiteten Narrativ war der Kleriker Rupertus, Zuwanderer aus Franken und später als „Heiliger“ bezeichnet, um 700 Gründervater von Salzburg-Stadt. Doch hatte die Siedlung bereits lange Geschichte. Die in Salzburg-Stadt residierenden Kirchenherren hatten sich um 800 unserer Zeitzählung (u. Z.) eine Provinz von der Donau bis zur Drau, von Isar und Etsch/Adige bis in die pannonische Ebene mit den Flüssen March, Wenia und Leitha als Grenzen erobert, von weltlichen Magnaten schenken lassen oder erkauft. Die Erzbischöfe selbst waren „Fremdarbeiter“ mit hohen Unterhaltsforderungen und teurer Esskultur. Im Osten waren Vindobona/Wien und Poetovio/Pettau, die zur Zeit römischer Herrschaft bis zu 40.000 Einwohner*innen zählten, zu kleinen Orten geschrumpft. Im Westen war das zukünftige Freising eine Burg, München eine kleine Siedlung, die erst im 12. Jahrhundert als Markt benannt wurde. Keine Entwicklung beginnt oder endet an nur einem Ort, in nur einer Region. 2 Menschen erscheint ihre „Muttersprache“ bodenständig und klar. Doch schon der Name der Kirchenprovinz, „Salzburg“, hat viele Bedeutungen.

Salz bauten Menschen in den zwei Jahrtausenden vor unserer Zeitzählung (v. u. Z.) an vielen Orten der Region ab, Zuwander*innen aus dem Süden nannten die Region Noricum und die Stadt Iuvavum, eine Burg als befestigte Wohnanlage ließen aus Westen herangezogene bayerische Herrscher erbauen. Das mittelalterliche „Salzburg“ war gleichzeitig Stift, Diözese und Kirchenprovinz von jeweils anderer, veränderbarer geografischer Ausdehnung und seit Mitte des 14. Jahrhunderts, weltlich, ein Fürstentum. Die Region war nach 800 Teil zentraleuropäischer Herrschaftsbereiche von wechselnder Ausdehnung und nach 1918 Teil eines kontrahierenden Staates. Die jeweils aktuellen Grenzen legten nahe und ferne Macht-Träger fest oder änderten sie; den flexiblen Wirtschaftsraum bestimmten natürliche Gegebenheiten und das Handeln arbeitender Menschen. Die Geschichte der Region ist schwierig zu schreiben: Erinnerer haben sie in „Bayern“ und „Österreich“ geteilt, haben sich auf Salzburg-Diözese oder auch nur Salzburg-Stadt konzentriert, Hierarchie-Liebhaber sie auf „Erzbischof“ reduziert, andere in der Gegenwart auf dahoam. 3 Reisende schufen sich Bilder: Gebirgsschönheit? Mozart-bezogene, intensiv vermarktete Musikkultur? Hirnforscher*innen wissen, dass Menschen Bilder sehr viel schneller aufnehmen als Wort und Text und dass im Gehirn Hunderte von Einzelwahrnehmungen zu einem schematischen Bild zusammengesetzt werden. Warum diese Region als Ankerpunkt für eine transkulturell-regional-globale Untersuchung? Für Regionen um Hafenstädte wie Triest oder Messestädte wie Leipzig wären globale Verbindungen sofort ersichtlich; für kleinere Industrieorte wie Wiener Neustadt oder Linz wären wirtschaftssektorale und migratorische Einbindungen ebenfalls selbstverständlich. Doch war auch die Ostalpen-Donauregion bereits in früher Zeit durch Stein- und nachfolgend Kupferhandel sowie, wiederum später, als Hallstatt-und-Dürrnberg-Kultur weitläufig vernetzt, als römische Noricum-Kultur Teil imperialer Kontexte, dann Teil europa- und westafrikaweiter Edelmetallproduktion. Am Nordrand floss ein

David Thelen, „Of Audiences, Borderlands, and Comparisons: Toward the Internationalization of American History“, Journal of American History 79 (1992), 432–462. 3 Die Provinzialität haben kritische, zum Teil verfolgte Schriftsteller*innen betont. Die Lokalzeitung publiziert seit Herbst 2013 das „Wohlfühlmagazin“ Dahoam, lokaler Dialekt für „Heimat“, und ein in Österreich weitbekannter Heimatsänger verkündet, „da bin ich geboren und da nur bin ich dahoam“. 2

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transeuropäischer Wasserweg, Pässe ermöglichten Süd-Nord-Verbindungen bis zur Adria, die Flüsse Mur, Drau und Save flossen west-östlich. Als Residenz des Erzbischofs war die Stadt Salzburg zentral, kleinere Städte jedoch auch von überregionaler Bedeutung. Der Raum kann als prototypisch für lokalmakroregionale Verbindungen gelten. Die Wahl des Blickpunktes setzt auch Perspektiven: Passau als Ausgangspunkt hätte Donauhandel und Pannonien stärker in den Vordergrund gestellt, Sabaria/Stein am Anger/Szombathely am östlichen Rand der Kirchenprovinz – Markt an der Römerstraße (später: Bernsteinstraße) von der Ostsee nach Aquileia; dann Siedlungsregion von Onoguren, Awaren und Slawen; nach 797 fränkische Grafschaft und ab 860 Besitz des Salzburger Erzbischofs; Zuwanderung deutschsprachiger Siedlerfamilien und, in der frühen Neuzeit, kroatischer – hätte eine bessere Hervorhebung der Beziehungen zwischen Ostalpen und Pannonien/Karpaten ermöglicht. Um die mikroregional-globalen Vernetzungen zu verstehen, muss der Blick auf handelnde Menschen aller Schichten, Kulturen und Berufsgruppen gerichtet werden und auf das, was nicht offensichtlich ist. Was ist wichtig, was unwichtig – und aus wessen Sicht? Wie würde eine Geschichte, wenn es sie gäbe, so gestaltet, geglättet, verwoben, strukturiert werden, dass sie alle Menschen der Region umfasst und doch lesbar ist? Die Region hat viele Aspekte – dies wird ein langes Buch werden. Damit es nicht zwei dicke Bände werden, ende ich die analysierende Erzählung am Übergang zum 16. Jahrhundert, als sich vom Rhein bis zur Steiermark ländliche und städtische Menschen gegen Mächtige wehrten und europäische Herrscher begannen, viele Menschen und ihr Dahoam in Südostasien und Südamerika zu annektieren. Kindeskindern der zeitgenössischen Bewohner*innen würden die von dort importierten Produkte neue Essgewohnheiten ermöglichen (Kap. 12). Für meine Analyse und Interpretation nehme ich Anregungen aus den mir bekannten englisch-, französisch- und deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskursen auf: Beginne ich meine Untersuchung mit Fragen und Hypothesen? Mit „je me pose la question“? Oder mit großem Theorierahmen? Die theoretischen Ansätze, die Studierende in den 1970er Jahren aus gutem Grund forderten, haben Adepten in Theoriegebirge gewandelt, in

die Daten oft nicht Einlass finden. Hypothesen ermöglichen es, Fragestellungen mit Ansätzen und Interpretationen zu verbinden – sie sind flexibel. Das schätze ich. „Ich stelle mir die Frage“ bringt die Position und Sozialisation des Autors/der Autorin ein. Das sollte selbstverständlich sein. Die deutsche Sprache lässt mit ihren Passivund Substantiv-Konstruktionen historisches Handeln kaum fassen; die Mehrzahl der Begriffe, die Historiker*innen und Schulbuch-Autor*innen verwenden, sind unhistorisch, denn vorangehende interessen-geleitete und zeitspezifische DiskursSchaffende formten sie. Der Herrscher Karl wurde erst im 10. Jahrhundert aus politischen Gründen zu „dem Großen“ stilisiert; von den vielen Menschen, die über Jahrhunderte ihre lokalen Priester und die Rom-Kirche kritisierten, hieß nur einer Martin Luther. Die Geschichte der deutsch-dialekt-sprachigen Ostsiedlung ist ebenso Geschichte slawisch-dialektsprachiger Westsiedlung. Ich werde die Sprache prozessangemessen verwenden und sie dafür, wenn notwendig, aktiv formen. Menschen machen ihre Geschichte selbst, jedoch unter Bedingungen, die nicht sie, sondern vorangehende Generationen, Oberschichten, Wirtschaftsordnungen, Normensysteme und Sprachregimes geschaffen haben. Im Rahmen von Naturgegebenen Einschränkungen und Herrscher-gegebenen Belastungen nutzen sie Optionen und setzen sich mit Beschränkungen auseinander, leisten Widerstand oder passen sich an. Wenn sie ihre Lebenswege gestalten, bedeutet jede Entscheidung für eine Option den Ausschluss anderer. Der Blick auf Optionen statt der Unterstellung, dass Leben linear verlaufen, erfordert differenzierte Formulierungen: Menschen „konnten“ etwas tun, doch nur manche – und nicht die Menschen – entschieden sich dafür: Bestimmte Artikel reduzieren Vielfältiges. Gesellschaftliche Schichtungen erfordern angemessene Formulierungen: Nicht ein Erzbischof baute den Dom, er ließ bauen und dafür Spezialisten aus der Ferne anwerben und ansässige Fronarbeiter*innen Fundamente ausschachten. Hierarchien, Gender und Intergenerationelles erfordern Sprachreflexion. Nach herkömmlichem Verständnis kontrollierten Salzherren den Bergbau – oder waren es Familien, die von Produktion und Vermarktung profitierten? Ansässige Männer und Frauen, Kinder als kommende Generation, Zu- und Abwandernde stelle ich in Familienkontexten ins Zentrum. Das ist 11

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schwierig. Die Einfluss-Reichen haben ihre Geschichte geschrieben – diese Texte dienten Erzählern oft als Quellen. Bauern- und Handwerkerfamilien schufen materielle Produkte – sie galten vielen nicht als Quellen. Kleriker änderten das Gebot der Bibel-Autoren, „du sollst vom Baum der Erkenntnis nicht essen“, zu „du sollst Lesen und Schreiben nicht lernen“. In diesem Denkrahmen hinterließen „einfache“ Menschen scheinbar so wenig Spuren wie ein Schiff im Wasser. Real veränderten sie die feste, physische Erdoberfläche, schufen durch zielorientierte Arbeit Kulturlandschaften und durch ihre vielen Lebenswege Gesellschaften. Ortsgeschichte beginnt nicht mit „der Kirche“ oder „der Burg“, sondern prozesshaft: Wer trägt die Steine heran? Wer baut? Wer richtet ein? Sie beginnt mit der Frage nach der Basis von Macht: Wer zahlte? Wie ernährten die Dom- und Wohnbauer sich und wie bauten sie ihre Unterkünfte? Ihre Welten schufen die Menschen mit Händen, Augen und mit Konzepten in ihren Köpfen. All dies machten die Herrscher über Erinnerung vergessen: damnatio memoriae 4. Mit ihren fest geknüpften Diskursen haben sie Geschichte zur Monokultur gemacht, glatt wie eine Wasseroberfläche, öde wie eine Plantage. Auch die Leben dieser Rahmen-Setzer werde ich behandeln. Die Leben der Menschen und die Gesellschaften, die sie entwickelten, waren hochkomplex. Im

Sektor Landwirtschaft mussten Haus- und Dorfgemeinschaften ein Gleichgewicht zwischen Ressourcen, Arbeitsaufkommen und Mindestbedürfnissen erreichen. Im Sektor Handwerk mit früher Spezialisierung arbeiteten Produzent*innen zusammen, sprachen Produktionsverläufe ab und gestalteten Familienarbeit. Für die Massenproduktion – Faustkeile in der Steinzeit oder Bogensteine in der Kathedralen-Zeit – mussten Produktion von Einzelteilen und zeitgerechte Anlieferung auf Markt oder Baustelle prozessangemessen sein. Beschicker*innen der Märkte für den täglichen Bedarf mussten diesen genau kennen und weder zu viel noch zu wenig anbieten. Diese Leistungen versuche ich ausführlich darzustellen. So, wie Entscheidungen von Menschen für eine Option Alternativen ausschließen, hängen Antworten und Schweigen von Historiker*innen davon ab, wie sie Fragen stellen und für welche sie sich entscheiden. Ich versuche darauf zu achten, dass Begriffskonstrukte und umgrenztes, zeitgebundenes und anderweitig vorbelastetes Denken das Stellen von Fragen nicht be- oder verhindert. Die Schuttschichten einseitiger Begrifflichkeiten und Erzählungen müssen abgetragen werden und diese Studie ist Stadium eines ebenso individuellen wie umfassenden Denk-, Erinnerungs- und Analyseprozesses. Sie bietet vielfache Optionen, sie weiterzuführen.

Eine umfassende Danksagung … Diese Untersuchung und Synthese sind das Ergebnis meiner Entwicklung und der Anregungen durch Kolleginnen und Kollegen, Familie, Studierende, Menschen aus meinen alltäglichen Begegnungen, denen ich umfassend danken will. Geboren wurde ich 1943 im Norden des faschistischen Großdeutschen Reiches. Die Großväter waren im Ersten Weltkrieg umgekommen. Mit sieben Jahren lebte ich, ohne nur einmal migriert zu sein, bereits im dritten Staatssystem: ephemere Systeme und Kontinuität in Einzelleben. Beeinflusst haben mich, Kind in bürgerlicher Familie, Mitschüler aus proletarischen Schichten in meiner Nach-

kriegsschulzeit am Hamburger Hafen; später Handwerker und Arbeiter, denen ich bei der Arbeit zugesehen oder geholfen habe; dann die kritischrebellierenden Studierenden der 1960er Jahre. Intellektuell befreiend war ein erster Studienaufenthalt an der Universität Minnesota 1966/67, wo Sozialgeschichte nicht aus der Disziplin „Geschichte“ ausgegliedert wurde; geholfen haben seit 1977 die kritischen Kolleg*innen der Universität Bremen und später in Toronto, Paris und anderswo. Feministische Freundinnen beförderten mein Verständnis für Geschlechterhierarchisierung 5 und gendered perspectives; unsere, einst kleine, Tochter

Durch damnatio memoriae ließen römische Herrscher die Erinnerung an missliebig gewordene Personen, zum Beispiel in der Kaiserzeit an einen Thronkonkurrenten, auslöschen. 5 Geschlechterhierarchie wäre eine statische Bezeichnung, der Prozess geschieht aktiv. 4

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weckte Verständnis für das Erschließen der Welt durch kindliche Augen und Denkformen, für intergenerationelle Entwicklungen. Beeinflusst haben mich intensive Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen in allen Kulturen, in denen ich gelebt habe – neben Deutschland und Österreich die USA, Kanada, Frankreich, England. In den 1960er und 1970er Jahren, als „einfache“ Menschen in der historischen Erinnerung (Singular) fehlten, haben wir uns sehr vieles selbst erarbeiten müssen. Damals haben auch wir sie als inarticulate bezeichnet, weil wir uns nicht vorstellen konnten, Quellen zu finden, die eine Annäherung ermöglichen würden. Nur in „Bauernkriegen“ und Revolutionen gäbe es Zeichen ihres Handelns. Dies wurde in der DDR erforscht. Doch die Menschen hatten sich sehr gut ausdrücken können, wir mussten lernen zuzuhören. Da die deutsche Sprache es zielbewusst schwer macht, Handlung auszudrücken, bin ich in die englische Sprache abgewandert und habe mich dort wohlgefühlt. Außerdem war die Diskussionskultur unter nordamerikanischen Kolleg*innen offener und zielführender. Anregungen gaben mir die vielen Fachvorträge, die ich irgendwo, irgendwann gehört habe und die so wichtig waren, dass sie mir in Erinnerung geblieben sind, wenn auch nicht mehr in jedem Fall mit Namen und Personen verbunden. Zu den hervorragenden Kolleginnen und Kollegen, die oft auch Freundinnen und Freunde geworden sind, gehören die der Netzwerke der Social Science History Association und der European Social Science History Conference sowie der vielen Symposien, an denen ich habe teilnehmen können oder die ich dank der Unterstützung von Stiftungen selbst habe organisieren können. Besonders wichtig waren und sind für mich Museen und Ausstellungen, Public History. Die Umsetzung von wissenschaftlichen Fachtexten in lesbare, präzise, zum Nachdenken anregende Kurztexte in Ausstellungsräumen ist eine hohe Kunst: Respekt den Kurator*innen. Ich versuche meine Darstellung so zu gestalten, dass sie für historisch Interessierte verständlich ist und die in zahllose Teildisziplinen aufgespaltenen Forschungen verbindet. Viele meiner Denkpartner*innen kamen aus anderen Fachgebieten, der Humangeografie, Öko-

nomie, Soziologie, der Alten Geschichte und der Byzantinistik. Das Schreiben war anstrengend, durch Illustrationen hoffe ich vieles anschaulicher zu machen. 6 In allen Bereichen waren Frauen aktiv und unsere Sprache wäre differenzierter, wenn sie ohne Einfügung von Sternchen Geschlechterdifferenzierung ermöglichen würde oder dies gar von Anbeginn getan hätte. „Historikerinnen“ generisch mit dem Zusatz „dies schließt auch Männer ein“ zu verwenden, ist ebenfalls keine Lösung. Zu erklären ist, weshalb Frauen gegebenenfalls in einzelnen Bereichen nicht aktiv sein durften und wer sie aus der Erinnerung ausgeschlossen hat. Unter Studierenden habe ich vor allem von jungen Frauen und Männern „mit Migrationshintergrund“ gelernt: In zwei Kulturen lebend, waren sie nicht der Gleichförmigkeit nationaler Monokultur verhaftet. Ohnehin sind „mono“ und „Kultur“ unvereinbare Gegensätze. Sie haben mich an der Reichhaltigkeit ihrer Geschichte und Geschichten teilhaben lassen, zeigten sich in Seminargesprächen freier von kulturellen Einbahnstraßen. Dies gilt für Teilnehmer*innen meiner Seminare an der Universität Bremen, der York University (Toronto) und der University of Toronto und vor allem an der Université de Paris 8 Vincennes-St. Denis. Dort waren 95 Prozent meiner Studierenden Zuwander*innen oder Söhne und Töchter zugewanderter Eltern überwiegend aus afrikanischen Ländern. Hervorheben will ich diejenigen, deren Dissertationen mich Neues gelehrt haben. Für all diese Austauschprozesse danke ich. Begonnen habe ich meine kritischen Fragen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mit einer Untersuchung der „kleinen Leute“ in Zeiten beschleunigter sozialer und politischer Veränderungen: crowd action in der Zeit der Revolution in dreizehn der nordamerikanischen Kolonien. Fortgeführt habe ich sie mit Recherchen zur Arbeiterbewegung, -kultur und -widerstand unter anderem als Mitherausgeber der Zeitschrift Gulliver sowie als Herausgeber von Struggle a Hard Battle und anderen kooperativ erstellten Bänden. Gemeinsam konnten wir mehr erreichen als jede*r einzelne von uns in einer Monografie-Einzelschrift. In einem nächsten Schritt habe ich für Creating Societies Lebens-

Ich werde Daten und Orte auch wiederholt benennen. „Eberhard II.“, dahoam gut bekannt, muss für jenseits regionaler und disziplinärer Grenzen Denkende eingeordnet werden.

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geschichten von Männern und Frauen gelesen und nach-gedacht. Sie haben als Zuwander*innen Kanadas viele Regionen gestaltet und gestalten sie weiter, haben eine transkontinentale Gesellschaft von unten her, „from the bottom up“, aufgebaut und bauen weiter an ihr. Auch diese begriffliche Konvention wirft Fragen nach Sprach- und Denkstrukturen auf:

Weshalb wird das Leben „einfacher“ Menschen „at the bottom“ lokalisiert, das der Herrschenden hingegen „at the top“? In meinem Denken wurden Migrant*innen immer zentraler. Nach einer globalen Perspektive, Cultures in Contact, war ein lokaltranskulturell-globaler Blick eine sinnvolle Option.

… und eine spezifische Danksagung An der Lebendigkeit meines Un-Ruhestandes hat die Migrationsforscherin Sylvia Hahn, die diese Studie angeregt hat, mitgewirkt. Sie hatte allerdings Salzburg-Stadt, nicht die Großregion, gemeint. Anregungen habe ich erhalten von Michael Brauer und Norbert Ortmayr (Universität Salzburg) sowie von Sabine Veits-Falk und Peter F. Kramml (Stadtarchiv Salzburg) und Stan Nadel (Historiker); an der Universität Wien von Karl Brunner (Historiker), Josef Ehmer und Ewald Kislinger (Sozial- und Wirtschaftsgeschichte), Johannes Koder (Byzantinistik), Claudia Theune (Archäologie), Johannes Preiser-Kapeller (Anatolien bis China), Claudia Rapp (Glauben und Mobilität in Spätantike und Frühmittelalter), Lioba Theiss (Kunstgeschichte);

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an der Oxford University von John Blair, Kate Cooper, Sarah Foot und Conrad Leyser. Frühe Fassungen einzelner oder mehrerer Kapitel haben, soweit nicht schon genannt, Ernst Langthaler, Reinhold Reith und Juliane Schiel gelesen. Geholfen haben mir Lukas Neissl, Christine Scholten und Rudolf Scholten, Johannes M. Tuzar, Susan Zimmermann und viele andere. Sie teilen nicht alle meiner Interpretationen. Für die große Hilfe, den Text lesbarer zu gestalten, danke ich ganz besonders Anne Kuhlmann, für das Erstellen der Karten Peter Hinterndorfer. Ich danke ganz besonders Claudia Rapp, die inmitten ihrer eigenen intensiven wissenschaftlichen Arbeit immer Ansprechpartnerin war.

1 Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

Menschen schaffen sich ihre Geschichte, spezifisch individuell und gemeinsam kollektiv. Umgangssprachlich „haben“ Institutionen – Staaten, Städte, umgrenzte Gesellschaften – eine Geschichte. Nur eine? Und wer gab sie ihnen? Erinnernde Menschen sehen sich oft als Maßstab und stellen sich selbst ins Zentrum. Diese Ausgangsposition ist verständlich, doch negativ, wenn Ausgangs- und Endpunkt identisch-identitär bleiben. Lineare Erinnerung und Selbstbezug lassen Denken und Handeln provinziell werden. 1 Menschen entwickeln Persönlichkeit und Gemeinschaft prozessual. Von Ostafrika über Anatolien und die Steppen kommende Männer, Frauen und Kinder erreichten vor vermutlich mehr als 200.000 Jahren die alpinen Welten Europas. Sie ernährten sich, schützten sich gegen Kälte und schufen Knochen- und Steinwerkzeuge; sie transportierten und entwickelten Vorstellungen von übermenschlichen Kräften und stellten wie Verwandte von Sibirien bis Palästina in weiblichen Figurinen Fruchtbarkeit dar (Kap. 2). Sie waren wenige, um 8000 v. u. Z. im Raum des heutigen Österreichs vermutlich 7000 Personen, weniger als 60.000 um 3000 v. u. Z., vielleicht 500.000 um das Jahr 0. Salz und Kupfer abbauende „Kelten“ und mittelmeerweit handelnde „Etrusker“ kannten sich, tauschten Produkte und verschmolzen Vorstellungen von Übernatürlichem (Kap. 3). Die Ostalpenund Donauregion annektierten kurz vor dem Jahr 0 u. Z. Soldaten des aus Stadt-Rom dirigierten mittelmeerweiten, vielkulturellen Imperiums. Dessen Kaufleute unterboten Dürrnberger Stein- durch billigeres Meersalz, kauften waffentaugliches norisches Eisen und verehrten neben den römischen Staatsgottheiten sowie Mithras und Isis später auch Christus. Linksdanubisch lebten „Germanen“ und später große Wanderverbände aus dem südlichen Ostseeraum. Im 6. Jahrhundert bewegten sich Sied-

ler*innen entlang der Donau, andere vom Peloponnes in die Tauern, wieder andere von der Weichsel zur Elbe: „Bayern“ scheinen ansässige „Keltoromanen“ in Abhängigkeit gedrückt zu haben, „Slawen“ siedelten bis zum Enns- und Pustertal sowie von Waldviertel und Böhmen bis zur Ostsee. Ein mit bewaffnetem Anhang heranziehender Herrscherclan, als „Franken“ ethnisiert, versklavte Ansässige und ansässig Gewordene. Zuwandernde fränkische und irische Bischöfe verkündeten ihre Version christlicher Religion und zogen Abgaben ein (Kap. 4 und 5). Der Metropolitanverband Salzburg, mit Kirchen zu „Sakrallandschaft“ gestaltet, umfasste um 800 die Suffraganbistümer Freising, Regensburg, Passau und Brixen. Bis ins 13. Jahrhundert hatten die Erzbischöfe sich in Salzburg-Diözese vier Unter-, sogenannte „Eigenbistümer“ eingerichtet – Gurk, Seckau, Lavant, Chiemsee – und unterstellten die südöstlich lebenden slawisch- und deutschsprachigen Menschen ihren Vizedomämtern in Friesach und Leibnitz. Nördlich der Tauern regierte ein Hofmeister in Salzburg-Stadt mit Ämtern vom steirischen Ennstal über Habsburg-Österreich bis Mühldorf und Zillertal am Inn (Habsburg-Tirol). Der Suffraganbischof in Passau regierte bis zum Rand der pannonischen Ebene. All dies umfasste strukturelle und individuelle Aspekte, wirtschaftliche und rechtliche. Bei denen, die der erzbischöflichen Macht ausgesetzt waren, konnten somatisch Magengrimmen und psychisch Wut entstehen. Oder nahmen sie Herrschaft unberührt, vielleicht dankbar hin? Nur in Meistererzählungen enden Nationen und Kirchenprovinzen an Grenzen, die Menschen beiderseits der gedachten Linien leben in Kontakträumen. Das Paradigma umgrenzter Geschichte entwickelten Nationalhistoriker 2 des 19. Jahrhunderts und (er-)fanden so in Zirkelschluss stabile

Die Rolle Europas, von dort sozialisierten Historikern als führend, modellhaft und implizit als „weiß“ dargestellt, wird seit der Dekolonialisierung in globale Entwicklungen eingeordnet. Bartolomé Bennassar und Pierre Chaunu sprechen von einem sich aus intellektueller Enge und Selbstisolierung lösenden Europa, désenclavement (L’ouverture du monde, XIVe–XVIe siècles, Paris 1977), Dipesh Chakrabarty von einer Makroregion unter vielen (Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, übers. von Robin Cackett, Frankfurt/M. 2010, amerikan. 2000); für den deutschsprachigen Raum vgl. besonders die Werke von Sebastian Conrad, Peter Feldbauer und Jürgen Osterhammel. 2 Für die Zeit, in der nur Männer Historiker werden konnten, benenne ich sie geschlechtsspezifisch. 1

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Abb. 1.1 Kirchenprovinz Salzburg mit Nachbar-erz-bistümern

nationale Identitäten. Da noch in der Gegenwart manche Schulbücher in „wir“ und „die Anderen“ trennen, werde ich nationale Versionen kritisch vermerken. 3 In deutscher Benennung gilt Historiografie oft als Geisteswissenschaft; doch da Geist Gesellschaft voraussetzt, heißt es in anderen Sprachkulturen humanities, sciences sociales, histoire des mentalités. Die Urheber*innen historischer Erzählungen in Wissenschafts- wie Alltagsdiskursen bezeichne ich im Folgenden als „Erinnerer“. Sie stehen – wie ich selbst – als Vermittelnde (negotiators)

zwischen einer Vielfalt von Daten und einer verständlichen, das bedeutet vereinfachten, Darstellung. Das Kernprinzip jeden Rechtssystems, dass beide – oder mehr – Seiten gehört werden müssen, audiatur et altera pars, ist unabdingbar für Gesellschaftswissenschaft. 4 Seit der oft punktuell als „1968“ bezeichneten Konzeptrevolution 5 hinterfragen Wissenschaftler*innen die „Meister“-Erzählung, die nie Meisterin-Erzählung war: „Grabe, wo du stehst“, „erinnere, wie du gelebt hast“ oder, statt steinerner Denk-

James W. Loewen fasste am Beispiel der USA die Wertlosigkeit nationaler Geschichtsschreibung zusammen, Lies my Teacher Told Me. Everything Your American History Textbook Got Wrong, New York 2007 (11995). Für Österreich Christiane Hintermann, „Eingrenzung und Ausgrenzung im Schulbuch […]“, in: Dirk Hoerder (Hg.), Humane Einwanderungspolitik – Ist sie zu schaffen? Von der Ankunft über die Teilnahme zur Integration, Frankfurt/M. 2019, 47–60. 4 Arno Borst, „Alpine Mentalität und europäischer Horizont im Mittelalter“, Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 92 (1974), 1–46, bietet eine mustergültige Verbindung von mentalen und sozialen, lokalen und weitläufigen Aspekten regional-menschlicher und praxisorientierter Vorstellungswelten. 5 Fragende Gesellschaftswissenschaftler*innen hatten viele der „neuen“ Konzepte Jahrzehnte früher entwickelt. Das war weder den Diskursmachern noch den Neudenker*innen bekannt. Ich werde sie nennen. 3

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mäler, lebendiges „denk mal lieber selbst“. Denk mal: In der Stadt Salzburg passieren am Beginn des 21. Jahrhunderts Einheimische und Besucher*innen, die sich an Straßennamen orientieren, auf dem kurzen Weg vom Hauptbahnhof zum Fluss Salzach oder zur Altstadt gesammelte Kriege: den Südtiroler Platz, die Kaiserschützenstraße, den Pioniersteg und den Gebirgsjägerplatz sowie die Rainerstraße 6. Welche Absichten hatten diejenigen, die diese Namensschilder annageln ließen? Nach Thomas Bernhard, der nach dem Faschismus und Zweiten Weltkrieg kritisch und bitter über die Stadt-Kleriker schrieb, ist eine Straße im abgelegenen Arbeiter- und Zuwanderer-Stadtteil Lehen benannt. 7 Bernhard arbeitete dort als Jugendlicher. Für die Opfer der faschistischen Machthaber der 1930er und 1940er Jahre werden nur kleine „Stolpersteine“ gelegt – und auch dies erst seit 2007 als Teil einer internationalen Aktion. Es gibt vieles zu tun, vieles Verschüttete auszugraben, sehr vieles neu zu denken und zu erinnern. Im Gebiet der ehemaligen Kirchenprovinz, das heute zu Österreich, Slowenien, Italien und Deutschland gehört, lebten 2015 viele Millionen Menschen, allein im Bundesland Salzburg 538.575 Individuen: Erinnerungen von 276.378 Frauen und 262.197 Männern aller Altersgruppen oder 460.710 Geschichten von Menschen mit österreichischer und 77.865 Geschichten von Menschen mit anderer Staatsbürgerschaft. Auch die Eltern vieler StaatsAngehöriger sind von anderswo zugewandert: Gehören Menschen dem Staat oder in einen Staat? Weshalb zählen Statistiker*innen einen Ausländer*innen- statt einen Zuwander*innen-Anteil? Wie ändert man die Kategorien? Staatsbürgerschaft wird „verliehen“ – über die Ethik des „Verleihens“, die Ideologien der Einordnung und die Ökonomie der Gebühren ließe sich debattieren. 8 Statistiken pauschalisieren Menschen als „Bevölkerung“. Das ist analytisch und kommunikativ notwendig: Einzelne ergeben weder Muster (patterns) noch Trends. Doch lassen sich die Katego-

rien, ebenso praktisch wie gefährlich, mit Eigenschaften verbinden: Der Salzburger ist verschlossen, der Jude treibt Handel, der Österreicher ist Almbauer – alle sind Männer. In einem nur kleinen mentalen Schritt wird aus oft notwendiger Zusammenfassung Vorurteil und gender-bias sowie, für ein zusammenfassendes Wir-Gefühl, „Nation“: Heimat, my home is my castle, dahoam. Wer nicht „wir“ ist, ist „anders“ – im Englischen ein Vorgang mit Täter*innen, othering, im Deutschen eine Eigenschaft, „seltsam“ oder, wenn sehr seltsam, „exotisch“. 9 Illustrieren will ich Urteile und Eigenheiten am Beispiel eines Ehepaars – und vernachlässige, dass es andere Lebensgemeinschaften gibt. 10 Die beiden kleiden sich gern in Dirndl und Lodenjanker, um zu zeigen, dass sie einheimisch sind und überkommene Kleidungsformen schätzen. Sie wachen morgens in einem Bett auf, dessen Grundform im östlichen Mittelmeerraum entstand. Ihre warme Decke aus Baumwolle, Leinen oder vielleicht Seide geht auf die Züchtung von Kulturpflanzen und ihre Veredelung zu Textilien durch Menschen in Indien, Westasien und China zurück; die Webtechniken stammen aus dem Vorderen Orient. Ihre „Pyjamas“ folgen indischer Bekleidungstradition, Filzpantoffeln oder Mokassins, die sie überstreifen, denen früher Kulturen Asiens oder pelzverarbeitender Kulturen Nordamerikas. Im Bad verwenden sie Seife, ein Reinigungsmittel, das Sumerer*innen und Menschen anderswo erfanden, und Armaturen, die vor nicht allzu langer Zeit in Europa und Nordamerika entwickelt wurden. Vor dem Frühstück gehen sie zur Trafik oder, in anderen Versionen der deutschen Sprache, zum Kiosk, persisch und türkisch für einen kleinen – französisch – Pavillon. Sie kaufen mit Münzen – eine Erfindung der Lydier*innen – eine Zeitung und lesen Buchstaben semitischen Ursprungs auf Papier chinesischen Ursprungs, erstellt mittels Buchdruck Mainzer Ursprungs. Sie trägt eine Brille mit Stahlrahmen, er eine Krawattennadel aus Gold: Stahl und Gold sind Produkte

Erzherzog Rainer (gest. 1913) war „Inhaber“ des k.u.k Infanterieregiments Nr. 59, von dessen Soldaten im Ersten Weltkrieg 5000 umkamen. Laut Denkmal „besiegelten unsere Landessöhne ihre Treue mit dem Blute“ (Stand 2016). Sie ließen geschätzte 15.000 „Hinterbliebene“ im Leben. Deren Ansichten wurden nicht erfragt. 7 Thomas Bernhard (1931–1989) erschien das (nationalsozialistische) Johanneum und nach 1945 das Humanistische Gymnasium als „Geistesvernichtungsanstalt“. Dafür verfolgte einer der Lehrer ihn gerichtlich. 8 Bevölkerung Land Salzburg. Stand und Entwicklungen 2015, hg. von Peter Kurz, Salzburg 2015. 9 Wolfgang Benz, Legenden, Lügen, Vorurteile: Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte, München 1990. 10 Teile der Beschreibung paraphrasieren Ralph Linton, „One Hundred Per Cent American“, The American Mercury 40 (1937), 427–429. 6

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Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

globaler Warenketten, die sich von Bergwerken mit Arbeitsmigrant*innen in Südamerika oder Südafrika über Verhüttung und Vermarktung irgendwo in der Welt, oft wiederum durch Arbeitsmigrant*innen, bis zur Verarbeitung und zum Endprodukt beim Optiker und Juwelier um die Ecke erstrecken. Wo die Pizza, die sie am Mittag essen, die Orangen am Nachmittag und die Gänseleberpastete, die sie sich abends gönnen, herkommen, lassen wir offen, um ihr Leben nicht zu komplex erscheinen zu lassen. Einfügen wollen wir, dass seine Krawatte eine adaptierte Lautfolge für „kroatisch“ ist, denn Kroaten trugen ihr Halstuch-Brauchtum an den Wiener Hof. Heimisch bleiben die beiden bei Getränken, sie trinken gern Zweigelt 11 oder Stiegl 12 und kaufen Käse auf „der Schranne“. Dies Wort müssten sie Sprecher*innen anderer deutscher Dialekte erläutern: Es ist, vereinfacht, der Markt- und Gerichtsplatz. Hier verlassen wir die beiden Heimatverbundenen, die von morgens bis abends, Tag für Tag, globale Verwobenheit leben, aber bei Spaziergängen skeptisch auf ihnen fremd erscheinende Einwohner*innen blicken. Die Mitarbeiterin ihres Zahnarztes in Salzburg-Stadt kommt aus Burkina Faso und ist, eigentlich, ganz nett. Sie kann sich in zwei Kulturen bewegen. Sie fühlen sich wohl in ihrem Leben; sie könnten sich ihre globale Verwobenheit bewusst machen. Traditionalisten lehnen Andere – „die Ausländer“ der Statistik, „die Fremden“ des Diskurses – ab und bewahren „die“ Tradition und nicht derer viele. Doch lehnen sie nur Humanes ab, materiell modernisierten sie immer dann, wenn es ihnen praktisch schien. Das traditionelle Leben, 1910 ohne Autos und 1950 ohne Fernseher, veränderten sie schnell, obwohl das Neue manchen anfangs bedrohlich schien. Wer entscheidet, welche Tradition zu bewahren, welche zu verändern ist? Wer hat das Kapital, Fabriken zu bauen, wer die Macht, Geschichtsbilder zu stanzen? Viele Fragen, wenig Antworten. Ich werde Fragen stellen, auch wenn ich sie nicht beantworten kann. Es ist besser Lücken zu erkennen, als blind hineinzustolpern. Tradition ist ein langsam fließender breiter Fluss, der sich zu immer neuen Ufern bewegt und

dabei Ufer verändert, Inseln entstehen lässt, Altes hinwegschwemmt. Bäche bringen Zufluss, sei es klares Wasser oder nach einem starken Regenguss herabgewaschenes Altholz, Gestein, ganze Baumstämme. Traditionsbauer leiten Wasser für ihre Zwecke ab, Propagandamühlen zum Beispiel, oder verlangsamen und kanalisieren den Traditionsfluss durch Dämme. Tradition ist schwer anzuhalten – von Vereisungen in kalten Wintern abgesehen. Aber auch unter dem Eis fließt die Tradition. Ständig angepasste Erinnerungen und ihre Umsetzung sind Teil der Gedanken und Gefühle, von Kopf und Herz jedes/r Einzelnen. Zusammen ergeben sie ein Selbstbild: „Ich bin“. Diese Individuen und Vielfältigkeiten haben Staatserzähler im Rahmen des Kampfes von Bürgertum versus Nobilität zu unveränderlicher, genetisch-blutsmäßiger Einheit verschmolzen und Salzburger Nazi-Identitäre haben zur Durchsetzung 1938 das Heer des faschistischen Dritten Deutschen Reichs gerufen: ein Volk, ein Staat, eine Geschichte. Nach 1945 riefen sie anders – „identitär“ ist flexibel, wenn nützlich. Archivare gingen umfassender und komplexer vor. Sie sammelten alles, auch die Lebensdaten von Frauen und Kindern, Gewöhnliches und Ungewöhnliches. Nebensächlichkeiten sind immer Teil der Hauptsache. Erzähltes „Ich bin“ oder „Wir sind“ erfordert ein Eingehen auf, Verständnis für oder eine Auseinandersetzung mit Zuhörer*innen: Geschichte soll und Geschichten sollen amüsieren oder lehrreich sein, Werte und Normen vermitteln, Leistungen hervorheben. Dafür geben die Erzähler*innen ihren Worten Struktur, Rhythmus, Reim. Sie gestalten sie. Auch reist Geschichte mit ihren Erzähler*innen. Sie wird verändert, wenn Reisende sich niederlassen und so von Besuchern zu Migrant*innen werden. Geschichten überschreiten mit ihren Bewahrern Grenzen und werden „übersetzt“, wie Fährleute Menschen an ein anderes Ufer über-setzen. Kleriker nannten dies für ihren Bereich translatio. Bevor Menschen beginnen, ihre individuellen Geschichten (Plural) zu erzählen, und Historiker*innen diejenige (Singular) ganzer Gesellschaften, müssten sie sich und den Zuhörenden Rechen-

Friedrich Zweigelt, ursprünglicher Züchter der Rebsorte, war frühes Mitglied der NSDAP und ab 1938 aktiver Faschist und Funktionär des Interessenverbandes der Winzer. Der große österreichische Weinbetrieb Lenz Moser benannte 1975 die Sorte nach ihm. 12 Ein im „Hauß by der Stigen auf der Gstetten“ gebrautes Bier. 11

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Ausgangsposition und Sprache

schaft ablegen. Wie sind sie dorthin gekommen, wo sie ihre Erzählung beginnen? Durch männliche oder weibliche Sozialisation? Aus Arbeiter*innenklasse, Mittelstand oder Patriziat? Als Migrant*innen oder Sesshafte? Fachleute, die sich mit der Entwicklung und den Problemen von Individuen beschäftigen, müssen im Rahmen ihrer Ausbildung zu Psycho-Analytiker*innen eine Selbstanalyse durchlaufen, um ihre unbewussten und unausgesprochenen Sichtweisen zu erkennen. Für Geschichts- und Gesellschafts-Analytiker*innen, die

sich mit der Entwicklung und den Problemen von Kollektiven beschäftigen, war und ist unabdingbar, sich vor Beginn ihrer Forschungen eigenes Werden, Standpunkte, Interessenlagen und Grenzen offenzulegen. 13 Es ist notwendig Zuhörer*innen Standpunkt und Ausgangsposition zu vermitteln und zu begründen, für welche Konventionen von Zeitrechnung, Periodisierung, Begrifflichkeiten sie sich entschieden, für welche Wege und Irrwege ihrer Sprache.

1.1 Ausgangsposition und Sprache Die Folgen nationalstaatlicher Sozialisation waren und sind gravierend, denn dem Anker-punkt „Nationalstaat“ – im Gegensatz zur Schifffahrt auch Endpunkt – fehlte von Beginn an Logik: „Staat“ postuliert seit dem Zeitalter der Revolutionen die Gleichheit aller vor dem Gesetz, „Nation“ stellt eine Mehrheit über sogenannte Minderheiten und basiert auf Ungleichheit. Die Beschränkung auf herrschende Schichten – „frauschende Schicht“ fehlt im Register der intendierten und deshalb sprachlich vorgegebenen Möglichkeiten – schloss proletarische Männer aus und Frauen hatten „Nationalität“ nur abgeleitet über den Vater- oder Ehe-Mann. Alte Menschen galten, abgesehen von Monarchen oder Staatsmännern, als unwichtig, Kinder als unreif. Empirische Untersuchungen zeigen, dass in der Zeit der karolingischen Herrscherfamilie weniger als zwei Prozent zur Elite zählten, etwa 200 Männer in der Ottonischen Zeit, und in der Residenzstadt Salzburg lebte der Erzbischof samt Dienstmannen und sechzig bis achtzig Mönchen und Nonnen neben 5000 Einwohner*innen. Die Einbeziehung des Alltagslebens zeigt, dass Küchengeschichtsschreibung, food history, lokale Land-Stadt-Verflechtun-

gen erkennt und für eine spätere Zeit globale – Zucker, Gewürze, Südfrüchte. Verflechten und Begrenzen sind Gegensätze. 14 Traditionelle Vertreter des methodischen Nationalismus, Elitismus und Territorialismus 15 betonen Quellentreue, doch sind Quellen interpretierbar und „Treue“ ist ein Postulat, dem die Entscheidung vorausgeht, wem Treue zu halten ist. Quellen sind zu befragen und ein nachdenklicher Historiker, der über Alltagskultur im antiken Rom forschte, unterschied zwischen intentional verfassten und zufällig entstandenen Zeugnissen: Erstere seien für eine Geschichte einfacher (ordinary) Menschen irrelevant, letztere wesentlich oder gar ausschlaggebend (crucial). Die „einfachen“ Menschen hatten vielfach besonders schwierige Lebensumstände zu meistern. In Staats- und Kirchenarchiven gelagerte Quellen ließen Institutionen anonym handeln: „Das Konzil beschloss“ – doch den Beschluss fassten als Konziliare – die es laut Duden (Stand August 2020) als Agierende nicht gibt. 16 Die Menschen in Herrschaftsbereichen waren nicht Einheit, sondern lebten lokal-regionale Kultur oder bildeten bei Wanderungen wechselnde Identi-

„The only choice we do have is whether we make our vision as explicit, coherent and compatible with available facts as we can, or whether we employ it more or less unconsciously and incoherently“, schrieb Ernest Gellner und zitierte John Maynard Keynes: „Practical men, who believe themselves to be quite exempt from any intellectual influences, are usually the slaves of some defunct economist“ (1936); Gellner, Plough, Sword and Book. The Structure of Human History, Chicago 1988, 11–12. 14 Pioniere der Alltagsgeschichte im deutschsprachigen Raum waren die Forschungsgruppe um Peter Kriedte, Alf Lüdtke, Hans Medick, Jürgen Schlumbohm (Göttingen) sowie Sigrid Jacobeit und Wolfgang Jacobeit (Berlin-DDR), der Arbeitskreis für Regionalgeschichte (Konstanz, Gerhard Zang u. a.) und das Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft (Salzburg und Wien) mit Gerhard Botz, Josef Ehmer, Helmut Konrad, Helene Maimann u. a. Wegweisend waren die Werke von Arno Borst (Konstanz), Heinrich Fichtenau (Wien), Caroline Ware (Westchester, NY, und Washington, D.C.) u. a. 15 Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller, „Methodological Nationalism, the Social Sciences, and the Study of Migration“, International Migration Review 37 (2003), 576–610. 16 Robert Knapp, Invisible Romans, Cambridge, MA 2011. Alltagsgeschichten der Antike verfassten Hans Kloft, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, 13

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Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

fikations- oder Schwur-Verbände (Kap. 4). Nach einem Zusammenschluss mag Vereinheitlichung stattgefunden haben, doch haben sich Menschen aus Verbänden immer wieder gelöst, andere sich ihnen angeschlossen. Im verschobenen 19. Jahrhundert von 1815 bis 1914, als methodischer Nationalismus üblich wurde, verließen etwa sechzig Millionen Männer und Frauen Europa, die Mehrzahl transatlantisch, etwa zehn Millionen transkontinental ostwärts. Für die Zeit des Römischen Reiches und des lateineuropäischen Mittelalters (und für andere Weltregionen) ist der Ansatz „interner Kolonialismus“ im Sinne eines Nettotransfers Wert-voller Ressourcen lokal Ansässiger zu nahen und fernen Eliten zielführend. Kolonialismus, seit den Unabhängigkeitsbewegungen der 1950er Jahre gut untersucht und theoretisiert, bedeutet, dass eine sich selbst hochstellende, bewaffnete, oft sehr kleine Gruppe eine andere Gruppe mit eigener Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur unterjocht, sie ausbeutet und kulturell unterdrückt. In Lateineuropa verschenkten oder verkauften weltliche und kirchliche Adlige Arbeitskräftige oder stifteten sie als „Seelgerät“ für ihr eigenes Seelenheil. Die MachtHabenden sahen sich mit den Unter-worfenen nie als Einheit. Sie bildeten eine transeuropäische, wenn auch oft fragmentierte Elite. Historiker*innen, auch umfassend vorgehende, verwenden die Sprache ihrer Zeit. Sie sind ihr verhaftet. Das ist so selbstverständlich wie problemschaffend. Begriffe und Namen suggerieren Gegenwärtiges, wo Historisches ausgedrückt werden soll, und Namengebende stehen in hierarchischem Verhältnis zu Benannten. Letztere verwendeten andere Sprachregister und Konnotationen. Um Handeln und Dynamik möglichst inklusiv wiederzugeben und um unbewusste Konnotationen und einseitige Perspektiven ins Bewusstsein zu heben, forme ich Worte gelegentlich neu oder zerlege sie in ihre Bestandteile. Umgangssprachlich ist es Ziel, die eigene Sprache zu „beherrschen“ oder „der Sprache mächtig zu sein“ – doch kann Sprache mentale Haftanstalt sein. Dass die „sekundäre Funktion der Sprache […] zur primären Kraft einer Weltdeutung“ wird, ist üblich, aber vermeidbar. 17

Eine Ver-ort-ung legt fest, eine Be-weg-ung zeigt Fortschreiten, aber nicht immer Fortschritt; Be-greifen macht etwas physisch anfassbar oder geistig fassbar. Eine Be-deut-ung ist immer auch eine Deutung, ein Moment ist ein aktiver AugenBlick. Diese Bindestrich-Schreibweise macht das Lesen nicht einfacher. Aber wie bei dem Wort Denkmal/denk-mal will ich unter die glatte Oberfläche unseres Sprachflusses schauen und zum Nach- oder Weiter-Denken anregen. Gelegentlich verwende ich Synonyme parallel, um unterschiedliche Konnotationen und Interpretationsmöglichkeiten anzudeuten. Schließlich teile ich zusammengesetzte Worte vielfach durch Bindestrich in die Bestandteile, um Bedeutungen hervorzuheben. In Abwandlung des Aphorismus „unter dem Pflaster liegt der Strand“ lässt sich formulieren: Unter der Sprache liegt die Vielfalt, das intentional Vergessene. Namensgebungen werfen die Frage auf, ob sie dem historischen Kontext angemessen sind. Mit Leib-/Lebenseigenschaft institutionalisierten frühe bayerische Herzöge Sklavengesellschaften und Erzbischöfe waren Menschenbesitzer mit Lebenseigenen. Oder handelte es sich – abmildernder Begriff – um „Unfreie“ (Kap. 7.3)? Was ist historisch, was un-historisch? Für Salzburg-Stadt beschrieb ein Autor den Bau des Chores der „Franziskanerkirche“ – doch war die Stadtpfarrkirche „Unserer Lieben Frau“ gewidmet und Kirche der Petersfrauen. Franziskanische Männer übernahmen sie erst später im Zuge der Gegenreformation. „Historisch angemessen“ erfordert Genauigkeit und Einordnung. In einer frühen Fassung dieses Textes hatte ich versucht, alle ein-seitigen Begriffe durch Anführungszeichen zu kennzeichnen. Das hat den Text unleserlich gemacht. Ich vermeide Etikette, welche „die Nachwelt“ – genauer: individuelle Legendenbildner oder Legendenbildner-Kollektive – historischen Akteuren aufgeklebt hat. Kaiser X „der Große“, Bischof Y „der Heilige“, Herzog Z „der Milde“. Frauen erhalten seltener lobende Beinamen. Wenn möglich erläutere ich, welcher Bio- oder Hagiograph die schmückenden Beinamen erfunden hat. Gelegentlich verwende ich eigene Schreibformen, EBKonkurrenz für sich be-

Mainz 2006; Johannes Koder, Die Byzantiner. Kultur und Alltag im Mittelalter, Wien 2016; und Viktoria Räuchle, Die Mütter Athens und ihre Kinder. Verhaltens- und Gefühlsideale in klassischer Zeit, Berlin 2017. 17 Horst D. Schlosser, Die Macht der Worte. Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert, Wien 2016, Zitat 10.

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kriegende Erzbischöfe, Karl d. G. für „den Großen“. Genau müsste es heißen Karl (seit dem 10. Jh. d. G.) oder Ludwig (seit dem 18. Jh. der Deutsche). Ich vermeide gängige Be-zeichnungen, die Sichtweisen bestimmen. Nahmen Kleriker an „bewaffneten Pilgerzügen“, „Kreuzzügen“ oder „Kreuzkriegen“ teil? In der Gegenwart gilt für Lebensmittel eine Deklarationspflicht des Inhalts, für intellektuelle Lebensmittel – Begriffe und Kategorien – sollte dies auch gelten. Beschönigende Fotos auf zum Beispiel Müsli-Packungen müssen als „Serviervorschlag“ gekennzeichnet sein; die Bezeichnung „Heiliges Römisches Reich“ ist ein Interpretationsvorschlag. Historiker*innen, sozialisiert in der Gesellschaftsform ihrer Zeit, erforschen eine vergangene Zeitebene und verwenden dabei Begriffe, die keiner der beiden Zeitebenen entsprechen, sondern in anderen Interessenlagen und Gesellschaftsformen erfunden und modelliert wurden. 18 Entsprechend „kontaminiert“ sind ihre Konzepte. Maurice Halbwachs hat dies bereits in den 1920er Jahren analysiert. Die faschistischen Diskursherrscher brachten ihn 1945 im KZ um. 19 Historiker*innen und Sprach-Macht-Haber konstruieren eine Sequenz von Ereignis oder Entwicklung zu Erinnerung → Namensgebung in sozialem und physischem Raum, lieu de mémoire, memory space. Dies führt alltagssprachlich zu generischer Verwendung ohne Trennung der Sozialebenen. „Die Tauern“ sind Gebirgskette, Ort von Ressourcen, Kontaktzone. Historiker*innen verwenden meist die Sprache der Kolonial-Herren und -Mächte, wenn sie in post-kolonialer Zeit in Europa oder den Amerikas die Geschichten der Kolonisierten schreiben. 20 Historiker*innen Europas verwenden die Sprache der Oberschichten. Es ist ein mühseliges Unterfangen, Sprache neutraler zu gestalten. Auch ich werde mich von den Sprachverhaftungen nicht immer lösen können. Ein weiteres Problem entsteht aus der Singularisierung und Personifizierung von Ereignissen: „Das Christentum kam nach Salzburg“ – doch gab es viele Versionen der Religion. Den Plural „Chris-

tentümer“ kennt die deutsche Sprache nicht und sie verschweigt, dass aktiv Handelnde die Gedanken weitertrugen. „‚Die Bayern‘ kämpften gegen ‚die Österreicher‘“ verkehrt erstens eine kommunikativ übliche Verkürzung pars pro toto ins Gegenteil: Das Ganze (die Bayern, die Österreicher) steht für einen Teil (die jeweiligen Herrscher). Zweitens verschleiert Territorialisierung (Bayern, Österreich) die kämpfenden Familien (Babenberg, Wittelsbach, Habsburg). Drittens handelte es sich nicht um Personen und Territorien, sondern um Heere, die speziell zu diesem Zweck aufgestellt und zum Töten ausgebildet worden waren. Auch implizite Hierarchien der Sprache bedürfen der Nachfrage: der Kleriker Burkhard von Weispriach, aber nicht der Handwerker Hans von Augsburg; neutraler wäre, zum Beispiel, „Rudolf, aus der einst auf der Habsburg ansässigen Familie“. Ich werde Herkunftsangaben („aus“) als Familiennamen verwenden. In vielen gängigen Sprach-Denk-Strukturen ist Handeln nicht vorgesehen. Dem Ausblenden dienen Passivkonstruktionen sowie Substantivierungen handelnder Sachen und Kräfte: Die Hohensalzburg „wurde gebaut“, Kriege „brechen aus“, „die Revolution begann“, „die Stadt entwickelte sich“. Intransitive Verben benötigen kein Objekt, sie beschreiben, was mit einer Sache (Nominativ) geschieht, ohne eine/n Akteur/in, der oder die das bewirkt. Viele Worte, wenig Klarheit. Mobilität, Migration, Dynamik sind oft nicht Teil der Umgangssprache. Lebensläufe sind dynamisch, aber sie laufen nicht selbst. Ist Kindheit Zustand, wie das Suffix suggeriert, oder Prozess? Ist Familienstand – Kindheit, Ehe, Verwitwung – Event, Sequenz oder Lebenslauf? Andere Sprachen sind weniger handlungs- und zukunftsfeindlich. Den englischen Begriff „transitory“ übersetzen Standardlexika mit „vergänglich“. Dies reduziert den Begriff auf Verlust und beraubt ihn seines zukunftsweisenden Aspektes. „Übergänglich“ wäre eine sinngemäße und sinnvolle Übersetzung. Wenn Menschen ihrem Leben Sinn geben, tun sie dies aktiv. Dem sollte Sprache gerecht werden.

Cláudio Costa Pinheiro, „Blurred Boundaries. Slavery, Unfree Labour and the Subsumption of Multiple Social and Labour Identities in India“, in: Marcel van der Linden und Prabhu P. Mohapatra (Hg.), Labour Matters. Towards Global Histories. Studies in Honour of Sabyasachi Bhattacharya, New Delhi 2009, 173–194, hier 173. 19 „KZ“, hier wie jetzt üblich verwandt, war ein bewusst geschaffener faschistischer Begriff. 20 Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925; Pierre Nora et al., Les Lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1984–1992; Aleida Assmann, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Stuart Hall mit Bill Schwarz, Familiar Stranger. A Life Between Two Islands, London 2017, 24. 18

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Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

Sprachliche und konzeptionelle Genauigkeit wären ein Ziel, doch verwischt und verändert prozesshaftes Handeln alles kontinuierlich. Kann Wahrheit, Objektivität, Ziel sein? Schiffer verwendeten „Wahr-nehmen“ als „Wahr-schauen“: Ein Matrose im Ausguck am Mast eines Segelschiffes oder mit dem Senkblei am Bug eines Flussschiffes, also in Bewegung, wahrschaute Küstenlinien, Riffe, Wassertiefen und gab die Daten an den Steuermann weiter. Eine Fehlinformation hätte Schiff und Mannschaft gefährdet. Falsche Beschreibungen vergangenen Kursverlaufes steuern menschliche Gemeinschaften in falsche Richtungen und belasten und verwirren ihre Mitglieder. Auch dies will ich mit einem Beispiel aus dem maritimen Bereich erläutern. Beim Beladen großer Frachtschiffe vor Einführung der Container konnte ein Kranführer nicht in die Tiefe des Laderaums blicken. An der Ladeluke stand deshalb der Wahrschaumann, blickte hinab und informierte durch genau definierte Handzeichen („Kategorien“) den Kranführer, wie die Last am Haken zu bewegen sei, ohne Ladearbeiter zu verletzen oder ihnen durch Fehlplatzierung die Arbeit zu erschweren. Historiker*innen blicken in die Tiefe der Geschichte – ihre Texte dürfen nicht als fehlplatzierte Last Menschen erdrücken und ihnen Wege zur eigenen Erinnerung, zu Identitäten und Lebenszielen erschweren oder gar verstellen. In der Frühzeit war genaues Sehen – wahr schauen – für Menschen überlebenswichtig: Die falsche Beurteilung der Bewegung eines Beutetieres konnte für Jagende tödlich sein und für auf Nahrung Wartende Hunger bedeuten. Ihre Wandbilder in Höhlen geben die Bewegungsdynamik von Tieren genauer wieder als die Gemälde späterer Künstler. 21 Für Individuen beginnen Lebenserfahrungen

nicht an einem Ort oder enden dort, auch wenn – ereignisgeschichtlich – Geburt, Heirat und Tod an diesem Ort verzeichnet sind. Sie leben in Regionen, die als Arenen ihres Lebens Sinn-gebend oder Sinnfordernd sind: Lebenswandel und Erfahrungen. Selbstbilder – eigentlich Selbst-moving pictures – müssten ganzheitlich sein. Die um 1540 in der Diözese Salzburg lebenden etwa 60.000 bis 70.000 Menschen inkorporierten Praktiken aus vielen Teilen der Welt – universell – in ihr Leben. 22 Mit der Zeit erinnerten und erinnern sie sich an die Herkunft ihrer Lebensweisen nicht mehr, so selbst-, aber auch so un-verständlich sind sie geworden. In Salzburg-Stadt der Gegenwart gelten Mozartkugeln 23 als Kennzeichen. Das für sie verwendete Wort „Confiserie“ ist nicht urdeutsch, ihr Erfinder war Kind bayerischer Zuwander*innen und bildete sich nach seiner Lehre in Wien, Budapest, Paris und Nizza fort. Die im Osten der ehemaligen Kirchenprovinz verortete „Wiener Küche“ war Kreation zugewanderter böhmischer Köchinnen mit ungarischen Gewürzen und balkanische Rezepten für ansässige Mittelschichtsfamilien mit burgenländischen Dienstmädchen. Erinnerung schließt vieles aus, denn Differenzierung verwirrt. Wer „das Sagen hat“, hat die Macht, der „gezaghebber“ ist im Niederländischen auch der Boss. Die Umsetzung von Vielfalt führt, auch bei der Entwicklung meines Textes, zu Schwierigkeiten: Komplexität ebenso wie Vorsicht vor Generalisierungen erfordert komplexe Sätze – Schachtelsätze. Die deutsche Grammatik erlaubt und ermutigt sie, sie nehmen jedoch Leser*innen den Spaß. Schreiber*innen übrigens ebenfalls. Genauigkeit und Wahrheit sind ein schwieriges Gut.

1.2 Konventionen: Zeitrechnungen und Periodisierungen Menschen schaffen sich Strukturen als Referenzrahmen für ihre Kommunikation. Das heißt auch, dass sie Dynamiken kanalisieren. Was waren die Bauplä-

ne, Zeitrechnungen, Begriffskonstruktionen für die Architektur der Erinnerung? Waren sie zeitgebunden? Sind sie noch zeitgemäß? Ist historische Er-

G. Horvath u. a., „Cavemen Were Better at Depicting Quadruped Walking than Modern Artists: Erroneous Walking Illustrations in the Fine Arts from Prehistory to Today“, PLoS ONE 7.12 (2012): e49786, https://doi:10.1371/journal.pone.0049786 (6. Dezember 2012). 22 Kurt Klein, „Die Bevölkerung Österreichs vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts“, in: Heimold Helczmanovszki (Hg.), Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1973, 47–107, hier 72–73. 23 Für Fremde erläutert ein Hersteller: Ausgesuchte Pistazien, erlesene Mandeln und frisch geröstete Haselnüsse als Basis für die Kugeln aus feinstem Marzipan, heller und dunkler Nougatcrème und zartherber Edelschokolade. Ulrike Kammerhofer-Aggermann, „Die Mozartkugel. Von der lokalen Spezialität zum ‚nationalen Symbol‘ Österreichs“, Salzburg Archiv 15 (1993) 275–292. 21

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Konventionen: Zeitrechnungen und Periodisierungen

innerung ein Wabenbau mit gleichförmigen Wohnungen? Ist sie ein Gebäude mit feuchten Kellerwohnungen, lichten großen Räumen im Erdgeschoss, vielleicht gar Prunkräumen, kleinen Wohnungen mit niedrigen Decken, erreichbar über enge Stiegen, in oberen Stockwerken und unbeheizbaren Kammern für Dienstbot*innen unter dem Dach? Wie verhält sich die Fassade zum Hinterhof und das Fundament zum Dach? Der Zeitverlauf Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft scheint klar und doch gehen Menschen in ihrer Gegenwart konträr an Zukunft und Vergangenheit heran. Zukunft können sie aus ihrem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont nur vermuten, versuchen sie vielleicht gemäß ihren Hoffnungen zu planen oder durch Analyse vergangener Entwicklungen (unter großer Vorsicht) zu projizieren. Vergangenheit hingegen erscheint einfach und fest, sie kann sich nicht mehr verändern. Wieder weiß die Sprache nicht von Täter*innen. 24 Die Langzeitperspektive scheint eindeutig: Vorgeschichte, Stein-Bronze-Eisenzeit, Beginn der Zeitrechnung, Altertum, Mittelalter, Neuzeit. Doch beginnt dies mit einem Stolperstein: Weshalb Vorgeschichte? 25 Hatten die damals Lebenden keine Geschichte? Wer gab den Namen und nahm damit Erinnerung an sie weg? Sind nur Menschen mit Schriftsprache geschichtlicher Erinnerung würdig? 26 Der vertraute Ankerpunkt, Beginn der Zeitrechnung, ist trügerisch, denn es ist unsere und es gibt ihrer viele. Der im überwiegend christlichen Segment der Welt gefeierte Jahrtausendwechsel 1999/2000 fiel, zum Beispiel, ins jüdische Jahr 5760/5761, ins buddhistische 2544, ins islamische 1420/1421, und zu diesem Zeitpunkt lebten in den Regionen der Alpen und der Donau altkatholische, katholische und protestantische Christen, Muslime, Juden, Buddhisten – von Agnostiker*innen und Atheist*innen ganz zu schweigen. Zeitzählung be-

ruht, wie die Temperaturangaben Celsius, Fahrenheit oder Réaumur, auf Absprachen. Zudem berechnete der Komputistiker das Jahr Null, in dem Maria ihr später Christus genanntes Kind gebar, falsch. Ich verwende die Benennung „vor unserer Zeitzählung“ (v. u. Z.) und „unsere Zählung“ (u. Z.). 27 Auch die traditionellen Periodisierungen beruhen auf Problem-schaffenden Sichtweisen und Interessenlagen. Ist es richtig (oder fair), die Jahrhunderte nach dem (angeblichen) Ende des Italisch-Römischen Reiches und vor dessen (angeblicher) Renaissance in Norditalien ein knappes Jahrtausend später als ein „Dazwischen“, ein „Mittelalter“ abzutun? Zu behaupten, dass etwa vierzig Generationen vom 5. bis 14. Jahrhundert in einem Dazwischen lebten, erfordert sehr viel Überheblichkeit. 28 Die frühen Eliten von Gallien bis zur Steiermark kannten die Dramatisierung des Niedergangs des Römischen Reiches nicht, kauften Luxusgegenstände aus dem römischen Konstantinopel, wiesen oströmische Christlichkeit ab. Die nordalpinen christlichen Chronisten stellten sich und den karolingisch-ottonisch-staufischen Raum in die Mitte. Dies taten andere auch: Chinas Eliten sahen sich im „Reich der Mitte“, für Muslime ist Mekka die Mitte. Es gibt viele „Mitten“ und viele „Dazwischen“. Wer mit Worten spielt, spielt – meist unabsichtlich in je gegebenen mental frames – mit Leben. 29 Verortung in Raum und Zeit ist Festlegung. Jedoch entsteht der gegenwärtige Augen-Blick aus Vergangenheit und ist übergänglich in Zukunft. „Momentaufnahmen“ schaffen Zustand, indem sie ihn aus einem oder mehreren Prozessen herausreißen. Diese fallacy ist nach „Gesetzen“ suchenden, aber erkenntnistheoretisch vorgehenden Naturwissenschaftler*innen bekannt: In der Relativitätstheorie (A. Einstein) und der Unschärferelation (W. Heisenberg) zeigten sie, dass, erstens, Phänomene in Relation zueinander und nicht „objektiv“

Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979. Der deutsche Historiker Ernst Bernheim kritisierte den Begriff bereits 1908 in seinem Lehrbuch der historischen Methode und Geschichtsphilosophie, das in österreichischen Universitäten als Einführungstext verwendet wurde. 26 Hermann Parzinger, Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor Erfindung der Schrift, München 2014. 27 In anderen Konzeptionen, zum Beispiel einiger nordamerikanischer First Peoples, ist Zeit unveränderbar wie der Grand Canyon. Menschen entscheiden, ob sie schnell oder langsam hindurchgehen. 28 Patrick J. Geary und Gábor Klaniczay (Hg.), Manufacturing Middle Ages. Entangled Histories of Medievalism in Nineteenth-Century Europe, Leiden 2013. Noch im 20. Jahrhundert bezeichnete der niederländische Kulturwissenschaftler Johan Huizinga (1872–1945) das Mittelalter als „Kindheit der Menschen“; der bayerische Landeshistoriker Karl Bosl (1908–1993) sah mittelalterliches Volk als geschichtslos, da nicht staatsmächtig. 29 „Qui joue avec les mots joue avec les vies“, in: Aminata Traoré, Le viol de l’imaginaire, Paris 2002, 69. 24 25

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Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

beobachtet werden, und dass, zweitens, der beobachtende Blick den Prozess beeinflusst. Ort und Impuls bedingen sich. Dies gilt für Namensgebungen, Territorien-Umgrenzungen und erinnerte Zeitpunkte. Sie sind Kürzel und müssen dekodiert oder ent-ziffert werden, lassen sich nicht einfach be-greifen. Durch sie werden Ereignisse klar, doch Sichtweisen und Analyse unklar. Allerdings lassen die Erläuterung von Namen und die Auflösung von Kürzeln Texte langwierig werden. Narrative werden kommuniziert und jedes Wort, jeder Satz, jede historische Erzählung gehört zur Hälfte dem – oder den – Zuhörenden. Jede mit klaren Begriffen arbeitende Lokalgeschichte wird von vielen gelesen, von jeder/jedem mit eigenem Bezugsrahmen. Slowen*innen wunderten sich über die erzbischöfliche Darstellung der Christianisierung, die Kanzlisten des Metropoliten von Aquileia über die behaupteten Grenzen der Salzburger Kirchenprovinz. Die Einstimmigkeit eines Narrativs

legt die Frage nach anderen Stimmen nahe. Dies reflektierten bereits die Autoren des Talmud: Richter hatten Angeklagte freizusprechen, wenn sie einmütig deren Schuld feststellten. Ein-mut und Einstimmig-keit seien höchst verdächtig; moderne Mathematiker*innen wiesen die Wahrscheinlichkeit systemischer Fehler nach. „Zu schön, um wahr zu sein“, war volkstümlich lange bekannt. 30 Konventionelle Sprache und Denkformen, die vielfach als unverzichtbarer Bestandteil einer (je-weilig spezifischen) Kultur gelten, gleichen Treibsand: ständig sich verändernd, manchmal die Redenden verschlingend. Der Philosoph und Schriftsteller Fritz Mauthner (1849–1923), der im vielkulturellen Prag Rechtswissenschaft und Experimentalphysik studiert hatte, schrieb: „Die Sprache ist ein Werkzeug, mit dem sich die Wirklichkeit nicht fassen lässt“. Ich werde versuchen, mich ihr wenigstens anzunähern. 31

1.3 Wissenschaftler*innen mit und ohne Migrationshintergrund und pluralen Erfahrungen Das Spannungsverhältnis zwischen Sprache und der Viel-schichtigkeit oder -deutigkeit von Zeit und Ort wandelten nationale Erinnerer: eine Stimme, keine Stimmigkeit. Sie benannten zum Beispiel 1914 als „Schicksalsjahr“ statt als Jahr von Kriegserklärungen, deren Folgen 52,8 Millionen Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge als Untertanen der Familie Habsburg, darunter die in der vormaligen Salzburger Kirchenprovinz, erlebten. Nur wenige politisch-ökonomisch-soziologisch forschende Staatswissenschaftler und Statistiker stellten Daten zusammen, bezogen Frauen und Kinder ein und verstanden Ort und Region als entscheidende Größen für Sozialisation und Rechte. Der polnischhabsburgisch-jüdische, mehrsprachige Ökonom Leopold Caro (1864–1939) in Lwów-LembergLwiw fasste bereits 1909 zusammen, dass die – sich zu deutsch-österreichisch mutierende – Vielvölkermonarchie „Minderheiten“ Investitionen und

Schulbildung verweigerte, obwohl diese in ihrer Region die Mehrheit bildeten. Große Teile des Reiches wurden ökonomische Desaster-Regionen, aus denen Menschen intern oder überseeisch abwandern mussten: 32 Heimat ohne Nahrung, „Heimatrecht“ genanntes Abschubwesen für Verarmte. 33 Millionen Untertanen, das heißt Unter-getane, verwandelten sich in Selbst-Handelnde und wanderten zu besseren Bedingungen. In der gleichen Zeit verkauften Fotografen Bilder scheinbar statischer „nationaler Trachten“ als Postkarten. Plurale Lebenserfahrungen, wie in Mauthners und Caros Sozialisation, haben das empirische und theoretische Einbeziehen von Pluralität gefördert. Forscher*innen erlebten multiple Referenzsysteme, unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe, Bedeutungsmuster, Konnotationen und Kontexte. Unter frühen Gesellschaftswissenschaftlern konstatierten der irisch-englische George Berkeley (1684–1753)

Lachlan J. Gunn u. a., „Too Good to Be True: When Overwhelming Evidence Fails to Convince“, Proceedings of the Royal Society A, 23. März 2016, DOI: 10.1098/rspa.2015.0748. 31 Fritz Mauthner, „Kritik der Sprache“, in: ders., Erinnerungen, München 1918, 204–235. 32 Auswanderung und Auswanderungspolitik in Österreich, Leipzig/Lipsk 1909. 33 „Rückschub“ verarmter interner Migrant*innen in ihre Geburtsorte. Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2008. 30

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Wissenschaftler*innen mit und ohne Migrationshintergrund und pluralen Erfahrungen

und die schottischen Pragmatisten durch vergleichendes Vorgehen die Relativierung fester Positionen. Berkeley hatte als Missionar in den Gesellschaften Bermudas und in Rhode Island gelebt. Er beobachtete, wie englische Eroberer die irischen und schottischen Kulturen überlagerten und Gälisch Sprechende zwangen, englische Sprache und Bedeutungsstrukturen zu übernehmen. Wilhelm von Humboldt (1767–1835) setzte in seinen Sprachstudien in Java multiperspektivische Wissenschaft um; der Kommunikationsanalytiker Ferdinand de Saussure (1857–1913) lebte in der viersprachigen Schweiz. Historiker scheinbar besonders fremder, „exotischer“ Gesellschaften – als Ethnologen oder Anthropologen abgegrenzt – erkannten Vielfalt: Franz Boas, Marcel Mauss, Michel Leiris, Bronisław Malinowski, Claude Lévi-Strauss und viele andere warfen durch Analyse der Andersartigkeit ihrer Subjekte Licht auf das Eigene und verund entfremdeten „Normales“, das eigentlich Normiertes ist. Von den einflussreichen französischsprachigen Theoretikern lehrte Roland Barthes Französisch als Fremdsprache in Rumänien und Ägypten; Jacques Derrida und Pierre Bourdieu hatten in Algerien gelebt, letzterer sowohl als Soldat wie als Soziologe. Michel Foucault untersuchte die Vielfalt sexueller Ausrichtungen und entwickelte nach Aufenthalten in Schweden, Polen, Tunesien und anderswo eine „Archäologie“ impliziter Bedeutungsstrukturen und, mit psychiatrischen Patient*innen, eine Theorie vielfältiger Realitäten. Michail Bachtin und Antonio Gramsci, russisch- bzw. italienischsprachig, mussten Brüche in den Referenzsystemen ihrer eigenen Gesellschaften durch Stalinismus und Faschismus erleben. Englischsprachige Theoretiker*innen aus der New Left und, wie C. L. R. James und Stuart Hall, aus der Karibik 34 erhielten durch Kolonialisten und Dekolonisierung entscheidende Impulse und verweigerten hegemonialen Diskursen Loyalität oder Untertänigkeit. Raymond Williams untersuchte Referenzsysteme in der Sprache der Arbeiterklasse, Paul Willis jugendliche Kulturen. Ihnen und anderen war bewusst, dass unerwünsch-

te Teile der Gesellschaft unsichtbar gemacht wurden: Afro-Amerikaner*innen als invisible men and women (Ralph Ellison, 1952) oder Frauen aller Kulturen, „symbolisch vernichtet“ durch Männersprache (Luise Pusch, 1984). Die kanadische Autorin Miriam Toews bezeichnete in A Complicated Kindness (2004) monokulturelle Sozialisation als Lebensraum ohne Zäune und ohne sichtbaren Ausgang. Viele Menschen suchen Auswege aus monolingualen Narrativen. Einsprachigkeit ist Hindernis. Mehrsprachige Kontakte entstanden neben Kriegszügen, Handel und Reisen überwiegend durch Migration: oft massenhafte, gegebenenfalls aggressive Zuwanderungen (wave of advance-model) oder ein langsames Vordringen, um natürliche Ressourcen zu nutzen oder sich Techniken Ansässiger, oft zuvor selbst Gewanderter, anzueignen (acculturation model). Die Migrant*innen, die früh die Alpenregion erreichten, konnten, je nach Bedürfnissen und vorgefundener Natur, ein Gebiet durchqueren, durchstreifen oder bereisen, besiedeln und dauerhaft bewohnbar machen, von einem Ort aus bewirtschaften oder spezifische Ressourcen – Salz als Würzmittel, Erz als Rohstoff – nutzbar machen. Im Rahmen ihrer Fähigkeiten eigneten sie sich die physische und natürliche Geografie und Geologie an und gestalteten sie. Sie trugen nicht Wissensrepertoires mit sich, sondern veränderbare und erweiterungsfähige funds of knowledge, das heißt Erfahrungen und Fähigkeiten, oder savoir-faire als aktives Können, modern: Humankapital. Sozialkapital als kollektive Leistung und Fähigkeiten konnten nur Personenverbände transferieren. 35 Wenn Handwerker und Gelehrte oder Pilger*innen christliche Stätten Kleinasiens und Syriens weitläufig besuchten, bedeutete dies eine „Erweiterung ihres Horizonts“. Handwerker*innen zielten bewusst darauf, andere Methoden oder Ansätze kennenzulernen. Ihre natürliche, das heißt, in kindlicher Sozialisation akquirierte Sprache differenzierten sie durch Kennenlernen anderer Konnotationen und Betonungen. Das Instrument, das Identität begrenzte, wandelten sie zu Ausdrucksformen, die Optionen boten.

In der europäischen Zwischenkriegszeit kamen Söhne kolonisierter indischer, karibischer, westafrikanischer und vietnamesischer Eliten als Studierende in die imperialen Zentren, um die Überlegenheit westlicher Kultur kennenzulernen. Sie erfuhren Diskriminierung. Ihre Schriften beeinflussten die Theoretiker*innen der 1950er Jahre. 35 Christiane Harzig, Dirk Hoerder mit Donna Gabaccia, What is Migration History?, Cambridge 2009; Dirk Hoerder, „Transnational – Transregional – Translocal: Transcultural“, Handbook of Research Methods in Migration, hg. von Carlos Vargas-Silva, Cheltenham, UK 2012, 69–91. 34

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Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

Informierter als master-Märchen sind VolksMärchen und -Lieder. Die kollektiven Autor*innen bezogen Migration, Hunger, Brotherren und Netzwerke ein. Verzweifelte Eltern schickten Kinder in den Wald, weil sie sie nicht ernähren konnten. „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“, überlegten die Bremer Stadtmusikanten, bevor sie abwanderten. Emotionen waren Teil des Lebens: Der Abwanderer in „muss i denn zum Städtele hinaus“ ließ seinen „Schatz“ zurück, „Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein“ eine weinende Mutter – und vielleicht auch einen Vater. Selbst Kinder wussten Bescheid: „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, wo ist denn der Hans geblieben – ist nicht hier, ist nicht da, ist wohl in Amerika.“ Christliche Handwerker wussten: „Wem Gott will rechte Gunst

erweisen, den schickt er in die weite Welt!“ und ein „rechter Müller“ musste bewandert sein. Manche Erzählungen „einfacher“, aber komplex informierter Menschen beruhten auf Wissen um andere Gesellschaften: Unterschichten im katholischen Neapel war Mitte des 17. Jahrhunderts bekannt, dass im muslimischen Osmanen-Reich das Leben freiheitlicher und die Ernährungslage besser waren. Eine Aschenbrödel-Geschichte in Westafrika ging vermutlich auf eine chinesische Erzählung zurück. Auch die deutsche Sprache zeigt, dass Lebensgestaltung Bewegung erfordert. Menschen sind bewegt, wenn sie Eindrucksvolles wahrnehmen, kluge Menschen bewandert, da sie sich Anderes erschlossen haben. Das Kennenlernen eines Anderen schafft Erfahrung.

1.4 Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften „Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften“, in denen empirische Daten transdisziplinär mit theoretischen Ansätzen verbunden werden, bieten die Möglichkeit, Gesellschaften umfassend in ihrer Komplexität zu erforschen und zu verstehen. 36 Das Konzept Transkulturation entwickelten lateinamerikanische und kanadische Wissenschaftler*innen der 1930er bis 1950er Jahre. Der Soziologe Gilberto Freyre untersuchte in Brasilien, wie im Zusammenleben (mestiçagem) die Nachfahren afrikanischer Zwangsmigrant*innen und europäischer Kolonialmigrant*innen mit überlebenden Einheimischen eine neue Kultur entwickelten. Trotz rassistischer Hierarchien war ihr Handeln untrennbar verflochten. Fernando Ortiz analysierte wirtschaftliche und rechtliche, ethische und religiöse, institutionelle, sprachliche und künstlerische, psychologische und sexuelle transculturación in Kuba. Beteiligt waren Einheimische und Menschen von der iberischen Halbinsel, aus Afrika und Asien – unterschieden in

Ciboney, Taíno, Wolof, Katalonier, Genueser, Juden und Kanton-Chinesen nach Alter und Geschlecht. In rigorosen spanisch-kolonialen Ausbeutungsstrukturen entwickelten sie eine Agrarexport- und urbane Gesellschaft. 37 Im bi-kulturellen Montreal argumentierten Everett Hughes und Helen MacGill Hughes, dass keine Aufnahmegesellschaft Neuankommenden nur ein Akkulturationsmodell bietet: Nicht „sie sollen werden wie wir“, sondern Akkulturation an eine unserer zahlreichen Kulturvarianten und Einbringen ihres Eigenen bei gleichzeitiger Aufnahme des Neuen durch die Ansässigen. 38 Trotz dieser konzeptionellen Leistungen blieben im nordatlantischen hegemonialen Kerngebiet der Wissensproduktion „Assimilation“ an nationale Kulturen (Chicago Men’s School of Sociology) und Klischees „entwurzelter Migranten“ (O. Handlin, Harvard) Ton-angebend und Forschungsansatz-bestimmend. 39 Kultur umfasst komplexe Systeme, die im Ver-

Dirk Hoerder, „Transkulturelle Gesellschaftsstudien – Transcultural Societal Studies“, Sozial.Geschichte 21.1 (2006), 68–78; und Hoerder, „To Know Our Many Selves“: From the Study of Canada to Canadian Studies, Edmonton 2010, Kap. 14. 37 Gilberto Freyre, Casa-Grande e senzala (1933), engl. The Masters and the Slaves (1946), überarb. Aufl. Berkeley, CA 1986; Fernando Ortiz, „Del fenómeno de la transculturación y su importancia en Cuba“, Revista Bimestre Cubana 27 (1940), 273–278, engl. Cuban Counterpoint: Tobacco and Sugar (1947), Durham, NC 1995. 38 Everett C. Hughes, „The Study of Ethnic Relations“, Dalhousie Review 27 (1948), 477–482; ders. und Helen MacGill Hughes, Where Peoples Meet: Racial and Ethnic Frontiers, Glencoe, IL 1952. 39 Dirk Hoerder, „‚A Genuine Respect for the People‘ : The Columbia University Scholars’ Transcultural Approach to Migrants“, in: ders. (Hg.), „Reintroducing Early Transcultural Approaches: The Case of the Paradigmatic U.S. Scholarship in an Atlantic and Pacific Perspective“, Journal of Migration History 1.2 (2015), 136–170; Patricia Madoo Lengermann und Jill Niebrugge-Brantley, The Women Founders: Sociology and Social Theory, New York 1998. 36

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Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften

lauf der kindlichen und jugendlichen Sozialisation erworben werden, verbale und Körpersprache, Künste und Überzeugungen, materielle und immaterielle Produktion. Sie wird in geschlechts-, klassen- und altersspezifischen Varianten geschaffen von Menschen, die, um zu überleben, für ihre materiellen, emotionalen, spirituellen und intellektuellen Bedürfnisse sorgen müssen. Transkulturelle Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit, in zwei oder mehr Kulturen zu leben und grenzüberschreitende, verflochtene Kulturräume zu schaffen. Strategische transkulturelle Kompetenz bedeutet die Gestaltung von Lebensentwürfen in mehr als einer Gesellschaft und die Fähigkeit, zwischen Optionen zu wählen. Transkulturationen sind Prozesse, in denen sich Einzelne oder Gesellschaften an Berührungsorten oder in Kontaktzonen ändern, in denen unterschiedliche Lebensformen in ein dynamisches, plurales, neues Ganzes übergehen. Dieses ändert sich – in der transitorischen Eigenschaft aller Gesellschaften – durch nachfolgende interne Entwicklungen und durch Abwanderung Ansässiger oder Einflüsse Neuankommender. Transkulturation ist integraler Bestandteil von Kulturen: Metamorphosen im Griechischen, shapeshifting in ersten nordamerikanischen Kulturen, in modernen Sprachen Zusammengestelltes, mixté oder Mosaik, völlige Verschmelzung, fusion, oder eigenständiges creole. Im Deutschen ist „Mischling“ und „Kulturvermischung“ negativ konnotiert: nationalsozialistische Unsprache einerseits und Fehlen von „Übergänglichkeit“ im Sprachrahmen andererseits. Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften umfassen Gesamtheiten: Die Sozialwissenschaften im engeren Sinne erforschen Verhaltensmuster, Institutionen, Strukturen sowie Wirtschaft und politische Organisation; Diskurswissenschaften (humanities) analysieren alle Varianten der Selbst- und Fremddarstellung in literarischen und anderen Ausdrucksformen; way-of-life- oder Habitus-Wissenschaften tatsächlich gelebte Praxis im Kontext rechtlicher, religiöser und ethischer Normen (normative Wissenschaften Ethik, Theologie, Jura); somatisch-psychisch-emotional-spirituell-intellektuelle Aspekte von Individuen analysieren life sciences, Lebenswissenschaften; und natur- und sozialräumliche Kontexte die earth sciences oder Um40

weltwissenschaften. Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften behandeln geschlechtsspezifisch und intergenerationell das „Werden“, das heißt die historische Dimension, das „Sein“ in der Gegenwart, die Erwartungen und Ziele für die Zukunft. Menschen pro-agieren entsprechend ihren Lebensplänen, verwirklichen ihre Lebensziele oder re-agieren von Tag zu Tag auf Umstände. Sesshafte tun dies im Rahmen monokultureller Fähigkeiten, die durch ihr stationäres Leben vorgegeben sind, Migrant*innen nutzen vielfältige Fähigkeiten, die sie durch Erfahrung zwischen Orten und Räumen, cultural spaces, erworben haben. Regional gelebte Kulturräume sind meist innerhalb von Strukturen eines größeren Gemeinwesens (polity) angesiedelt, die ihrerseits prozessual sind. Bei Überqueren einer zwischenstaatlichen Grenze wechseln Männer und Frauen in eine andere Gesellschaft mit ihrerseits dynamischen Normen, Diskursen und Praktiken. Migrant*innen handeln in gegebenen sozialen Räumen – Unterdrückungsregimes, Arbeitsmarktzwänge und -optionen, Rassismus oder Offenheit. Gesellschaften können sich selbst transkulturieren, können Ungleichheiten verfestigen, können durch eine oft winzige, machtvolle Minderheit an Veränderung gehindert werden. Die polities der Vergangenheit – ob IuvavumSalzburgensis, Bavaria, Karolingia oder Pannonia – bestanden seit dem 6. Jahrhundert aus vielen Regionen mit dynamisch-vielfältigen Praktiken und Vermischung-métisage-mixté von einheimischen Romanen, zuwandernden Bayern und Slawen sowie gewaltsam die Herrschaft übernehmenden Franken. Wie später Brasilien und Nordamerika, waren die Alpen- und Donauregionen Kontaktzonen, frontier societies. Umfassende historische Erinnerung benötigt Daten, die jedoch oft fragmentarisch sind. Historiker*innen finden nicht immer Wege, um Lücken zu schließen. Notwendig ist eine sensible accurate imagination, ein akkurates Wiederherstellen des Ausgelassenen durch Vorstellungskraft. Der Soziologe C. Wright Mills und die Historikerin Louise Tilly forderten „a sociological and historical imagination“, französischsprachige Kolleg*innen ein „imaginaire social“, 40 um „Meistererzählungen“ von Burg-Ruinen-Landschaften mit Leben zu füllen. Akkurate Imagination ist das Gegenteil von

C. Wright Mills, The Sociological Imagination, New York 1958; Louise Tilly in einer persönlichen Information an Leslie Page Moch; Fernand Duval

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Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

Fantasien, seien es Heiligenlegenden, Adelsgenealogien oder Heroengeschichten. Nur eine Historiografie, in der sich alle zeitgenössischen Akteure und

Akteurinnen in ihren spezifischen sozialen Räumen und natürlichen Umwelten wiederfinden, ist vertretbar.

1.5 Die Ostalpen- und Donau-Region über die Zeiten In dieser Studie blicke ich weit zurück. Die Region lag, wie viele Teile Europas, am Äquator, dann unter dem Pannonischen Meer oder unter Gletschern. Nach Jahrzehntausenden transkontinentaler Wanderungen eigneten sich Menschen Orte (place) an, machten sie zu Lebenzwecken nutzbar (gelebte Räume, space) und schufen sich Bilder von Zusammenhängen (scape, land-scape), von eigenen oder anderen Gemeinschaften (socio-scape) und von Unerklärlichem oder sogenanntem Übernatürlichen (spirit-scape). Es gab viel zu transkulturieren über die Jahrtausende, Jahrhunderte, Jahrzehnte und, in ihren Lebenszeiten, von Jahr zu Jahr. 41 Migration, Handeln und Handel, Kulturkontakt und Vernetzungen in Meso- und Makroregionen sind Themen meiner Darstellung. Transkulturation kann unmerkliches Hinübergleiten sein, glissement als sozialwissenschaftlicher Begriff im Französischen. Alles Neue erfordert Hinausschauen aus dahoam. Die indoeuropäischen Vorfahren der „Dahoam“-Sprechenden haben östlich von Anatolien und dem Schwarzen Meer gelebt, die von ihnen verehrte Maria und ihr Kind in der Levante: immer neues synkretisches Alltagsleben und Alltagskultur. Die schreibkundigen Chronisten der Religion (Singular), die zwischen 700 und 1500 in der Kirchenprovinz aktives Vergessen betrieben, wurden in einer Ironie des Erinnerung-Machens ihrerseits fast vergessen, denn sie lebten laut späteren NationalErzählern zwischen „Bayern“ im Westen und „Österreich“ im Osten. 42 Um diese Lücke zu schließen, ziehe ich Studien über vergleichbare Entwicklungen in anderen Teilen Lateineuropas heran. Für meine synoptische Darstellung fasse ich Forschungen vieler Spezialist*innen zusammen, de-

ren lebendige Details und oft faszinierende Anschaulichkeit ich nicht wiedergegeben kann. Ich beginne mit dem Naturraum und der Zuwanderung der frühen Menschen (Kap. 2) und den großräumlich vernetzten Gesellschaften bis zum 1. Jahrhundert vor unserer Zeitzählung (Kap. 3). Anschließend frage ich nach Besiedlung und Transkulturationen bis zum 6./7. Jahrhundert u. Z., dem geopolitischen Rahmen des Römischen Reiches und sozial-temporären Periodisierungen (Kap. 4) und stelle Verehrungsvarianten von Fruchtbarkeit und Gottheiten dar (Kap. 5). Die Periode vom 7. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts ist Thema der folgenden Kapitel: herrschaftsorganisatorischer und kirchenpolitischer Rahmen (Kap. 6), die ländlichen Menschen, etwa 95 Prozent der Gesamtbevölkerung (Kap. 7), und die noch kleine städtische Bevölkerung samt den winzigen Macht-Eliten (Kap. 8). Angesichts ihrer Wirkungsmacht behandle ich die sozial-spirituellen Welten einfacher Menschen und, mit ihnen, der Kleriker*innen separat (Kap. 9). Kapitel 10 ist den Entwicklungen vom Einschnitt der Pest bis zum Ende des 15. Jahrhunderts gewidmet. Abschließend wende ich mich dem fälschlich als „Bauernkrieg“ bezeichneten Freiheitskampf der nach unten Geschichteten zu (Kap. 11) sowie dem westwärts gerichteten Ausgreifen der osmanischen Herrscher über balkanische in pannonische Gesellschaften und dem iberischer Herrscher über afrikanische Küsten- und transatlantisch-amerikanische Gesellschaften (Kap. 12). Letzteres war für Menschen zwischen Tauern und Donau nur scheinbar weit entfernt. Es würde ihr tägliches Essen, ihre Steuerlast und belastende Klischees, ihre Ästhetik und vieles andere beeinflussen.

und Yves Martin (Hg.), Imaginaire Social et représentations collectives, Quebec 1982; William Kilbourn in Literary History of Canada, hg. von Carl F. Klinck et al., 4 Bde., Toronto 1976, 21990, 2:22–52; vgl. Lawrence Buell, The Environmental Imagination, Cambridge, MA 1996. 41 Arjun Appadurai, „Global Ethnoscapes: Notes and Queries for a Transnational Anthropology“, in: Richard Fox (Hg.), Recapturing Anthropology: Working in the Present, Santa Fe, NM 1991, 191–210; Steve Pile und Nigel Thrift (Hg.), Mapping the Subject: Geographies of Cultural Transformation, London 1995; Allen F. Roberts, „La ‚Géographie Processuelle‘ : Un nouveau paradigme pour les aires culturelles“, Lendemains 122/123 (2006), 41–61. 42 In dem Standardwerk zur Diözese, Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs: Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, betont der Hauptautor H. Dopsch Institutions- und erzbischöfliche Kirchengeschichte. Wichtige wirtschaftshistorische Beiträge bieten die Direktoren des Landesarchivs Herbert Klein und Fritz Koller in Beiträgen in den Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburgische Landkunde.

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Die Ostalpen- und Donau-Region über die Zeiten

Durchgehend setze ich mich mit Wissenschaftsgeschichte, besser: Verständnisgeschichte, auseinander. Das Leben früher Menschen ist umfassend erschlossen durch transdisziplinäre Forschungen zu materieller Kultur. Mit der Etablierung christlicher Schriftlichkeit schrumpfte die Aussagebreite der Quellen massiv, mit monodisziplinärer Schriftquellen-basierter Historiografie auch die Interpretationsbreite. Ich suche die Perspektiven aus-

zuweiten, weiß aber, dass eine Hundert-ProzentGeschichte, histoire totale, nicht zu erreichen ist. Soweit sprachlich fähig, nehme ich den transeuropäisch-vielkulturellen Charakter von Erkenntnisgewinn und Erinnerung auf. Dem von mir geschätzten Ansatz, „je me pose la question“ mit großem Spannungsbogen, muss als Nachsatz leider folgen: „ich weiß, dass ich auf beschränktem Raum nur Teilaspekte abhandeln kann“.

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Welt und Region von den Anfängen bis zum 8. Jahrhundert u. Z.

2 Naturregion und menschliche Besiedlung

Praesapiens- und sapiens-Menschen erreichten vor etwa 210.000 bis 180.000 Jahren bzw. 40.000 Jahren Europa. Neu-Zuwander*innen siedelten sich um 9500 v. u. Z. in geeigneten Naturräumen separat von Ansässigen am nördlichen Alpenrand an. Über zehntausende Generationen hatten sie vom östlichen Afrika ausgehend Kontinente und Meere erschlossen und gelernt, die Ressourcen ihrer jeweiligen Umwelt zu nutzen und Werkzeuge herzustellen. Im Rahmen der Erd- und Naturgeschichte schufen sie Humangeschichte in Natur-gegebenen und Natur-dynamischen Räumen. Ich fasse die Nah- und Fernwanderungen zusammen und beschreibe die Handlungsoptionen am Übergang zu homo und femina sapiens. Dann wende ich mich am Beispiel der Gesellschaften des unteren Donauund Schwarzmeerraums Formen der Fruchtbarkeitsverehrung und großräumlichen Handels zu. Abschließend lenke ich den Blick auf die Kulturen im Voralpenraum im 1. Jahrtausend v. u. Z. Möglich ist dies dank interdisziplinär umfassender Forschung. Die Erdgeschichte stellt Fixpunkte geografischer Weltbilder und scheinbar selbstverständliche Standorte heutiger Menschen in Frage. Sicht-, Sprach- und Denkweisen setzen Gegebenheiten als unveränderlich – „Europa“ als Kontinent, die „Alpen“ als Gebirge – und verstecken Bewegung und Unbestimmtheit: Kontinente drifteten und ver-

formten sich, Meeresböden wurden Hochgebirge. In tiefer Zeitperspektive drifteten die physischen Standpunkte späterer Menschen. Dies beeinflusst das Leben in der Gegenwart. Die Prozesse des Erforschens und Verstehens der Erd-, Natur- und Humangeschichte verliefen im 19. Jahrhundert zeitlich parallel, aber in völligem Gegensatz zu dem methodischen Territorialismus der Historiker. 1 Den entscheidenden Perspektivwandel vollzogen Geografen und Geologen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Obwohl im Dogma eines Erschaffungsmythos mit fixiertem Zeitpunkt sozialisiert, lösten sie sich von „Fixismus“ und suchten Dynamik zu verstehen, statt Mythen zu glauben. Als Historiker Nationalterritorien und -identitäten festschrieben, entwickelten sie ein Verständnis für Mobilität. Ein Pionier der Geologie, Mineralienkunde, Botanik und des Bergwerkswesens in der Ostalpenregion war Belsazar de la Motte Hacquet (1739– 1815), ein Polymath und europäischer Kosmopolit, geboren in Frankreich, Studium in Wien, Chirurg und Geburtshelfer der Quecksilber-Bergwerker-Familien in Idrija und Professor in Ljubljana und Lwów. In der Wachau, im Kremstal und im Horner Becken, einst Rand des Pannonischen Meeres, begannen um die Mitte des 19. Jahrhunderts interessierte Laien Ausgrabungen. Ohne transdisziplinäre und transnationale Forschung gäbe es wenig Wissen über die Entwicklungsgeschichte der Region.

Richard Pittioni, Urzeit von etwa 80 000 bis 15 v. Chr. Geb., 2 Bde., Wien 1980; Otto H. Urban, Wegweiser in die Urgeschichte Österreichs, Wien 1989; Johannes-Wolfgang Neugebauer, Österreichs Urzeit. Bärenjäger, Bauern, Bergleute, Wien 1990 (erw. Aufl.); Amei Lang, „Die Vorzeit bis zum Ende der Keltenreiche“, in: Alois Schmid (Hg.), Das alte Bayern. Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter, München 2017, 11–44; Franz Pieler u. a., Geschichte aus dem Boden. Archäologie im Waldviertel, Waidhofen 2013. Zur Kritik deutschsprachiger Forschung 1933/34–1945 Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014. Für Salzburg Robert Obermair, Kurt Willvonseder. Vom SSAhnenerbe zum Salzburger Museum Carolino Augusteum, Salzburg 2016, 155–158; und Forschungen Gert Kerschbaumers. Parallel zerstörte der stalinistische Partei-„Wissenschaftler“ T. Lysenko die sowjetische Forschung; der empirisch arbeitende Botaniker und Genetiker Nikolai I. Vavilov wurde umgebracht.

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Transstaatlich-kooperativ arbeitende Wissenschaftler*innen untersuchten Lebewesen vergangener Erdzeitalter (Paläontologie): Georges Cuvier (Frankreich, 1769–1832), in Bezug auf die Gattung homo korrigiert von Charles Lyell (Großbritannien, 1797–1875) und ergänzt durch Otto Hauser (Schweiz, 1874–1932) sowie Ernst Haeckel (Preußen/ Deutschland, 1834–1919). Obwohl die Idee einer „Urgeschichte“ von eingegrenzten Räumen keinen Sinn macht, behinderten Nationale und Klerikale den Wissensfortschritt: Französische Wissenschaftler lehnten die Arbeiten des Schweizers ab, preußische diffamierten Haeckel als „Affenprofessor“. Die Botaniker und Moorforscher Lennart von Post (Schweden, 1884–1951) und Carl A. Weber (Deutschland, 1856–1931) datierten durch Blütenstaubanalysen die Entwicklungen früher Kulturen; US-amerikanische Nuklearforscher*innen entwickelten diese Palynologie durch Messung radioaktiven Zerfalls (C14Methode) zur Ökostratigrafie weiter. Andere bearbeiteten den Abkühlverlauf von Gesteinen radiometrisch (Spaltspurdatierung) und entwickelten die Jahresringdatierung von Hölzern (Dendrochronologie). Im deutschsprachigen Raum verlief die kleinstaatlich fragmentierte Forschung langsam. Gustaf Kossinna (1858–1931) er-fand eine germanische Urheimat und scharf begrenzte Territorien und Rassen; Carl Schuchardt (1859–1943) verlegte den Beginn europäischer Kultur (Singular) ins Nordische (1919, letzte Neuauflage 1944); in Wien konstruierten Georg Heinrich Ritter von Schönerer (1842–1921) und Oswald Menghin (1888–1973) rassische-rassistische Ideologie. Faschistische Akademiker betrieben eine „Archäologie unterm Hakenkreuz“ und gruben für Germanien. In Wien musste 1938 der zwar empirisch arbeitende, aber einer „Stammeskunde“, indogermanischem Volkstum und „Rassendiagnostik“ verpflichtete Richard Pittioni wegen seiner katholischen Grundhaltung die Universität verlassen. Nach 1945 verschwanden seine Faschismus-verhafteten Kollegen nach Argentinien (Oswald Menghin), wurden verurteilt (Eduard Beninger) oder setzten ihre Karrieren einfach fort (die Salzburger Kurt Willvonseder, ehemals SS-Offizier, und Josef Brettenthaler, NSdAP-Parteimitglied seit 1931). In den 1980er Jahren publizierten Forscher an der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften faktografische, aber entsprechend ihrem intendierten Leserkreis und ihrer finanziellen Einbindung austrozentrische Überblicksdarstellungen. Ein „Österreich“ hatte es stein- und keramikzeitlich nicht gegeben.

2.1 Erdgeschichte und Naturgeschichte Die heutigen Alpen und der Donauraum lagen, völlig anders geformt, vor 250 bis 200 Millionen Jahren nur wenig nördlich des Äquators. Die beiden damaligen Kontinente, Laurasia und Gondwana, trennte ein (viel später) nach Tethys benanntes Meer. Tethys war, so dachten antike Griechen, eine der Titaninnen und die Göttin des Wassers und der Wasser der Welt. Sie war eine Tochter von Uranos, Urgott des Himmels, und Gaia, Urgöttin der Erde, und Mutter der größten, den Griechen bekannten Flüsse – Nil, Alpheios (Peloponnes), Mäander (südwestliche Türkei) – sowie zahlloser Töchter, der Okeaniden.

In diesem Urmeer lagerten sich Meeresorganismen ab, die, über Jahrmillionen versteinert, gegenwärtig im Dachsteinmassiv, Tennengebirge und im Horner Becken zu finden sind. Dort suchen heutige Fossiliensammler äquatoriale Lebewesen, in der Glasenbachklamm zum Beispiel Fisch- oder Ichthyosaurier aus anderen Erdregionen und Klimazeitaltern. 2 Als vor 65 bis 60 Millionen Jahren die Saurier ausstarben und Sande und Gesteine ihre Knochen einbetteten, driftete ein Teil der LaurasiaGroßplatte in einem Prozess neuer Kontinentwerdung nach Norden. „Fossil in Stein“ bedeutet pro-

Ben Thuy et al., „First Glimpse into Lower Jurassic Deep-Sea Biodiversity: In Situ Diversification and Resilience against Extinction“, Proceedings of the Royal Society: Biological Sciences 281, Nr. 1786 (21. Mai 2014), https://doi: 10.1098/rspb.2013.2624 (5. September 2020).

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Erdgeschichte und Naturgeschichte

Abb. 2.1 Kontinentaldrift: Trias vor 250–200 Mio. Jahren und Kreide vor 143–66 Mio. Jahren

zesshaftes Versteinern. Die Formen der heutigen Erdteile zeichneten sich seit der Kreidezeit ab und erreichten ihre gegenwärtige Form vor 16 Millionen Jahren im Miozän. Während des tektonischen Driftens entstanden in einem Quetschvorgang die Bergketten der Pyrenäen und des Atlas im Süden sowie die der Alpen im Norden über Pamir bis zum Himalaya. Als die Verbindung zwischen Alpen und Karpaten einstürzte, entstand die Pannonische Ebene – zeitweise Meer – mit dem Wiener und Horner Becken im Westen. In einer besonders bewegungsintensiven Phase drückten sich im Ostalpenraum Gesteine wie ein Keil aus der Tiefe durch die Kalke und die Tauern entstanden. Die heutige Region stammt also teils vom Äquator, teils aus dem Erdinneren. Allein im Gebiet des modernen Bundeslandes Salzburg bilden 42 unterschiedliche Gesteine und Erden den Rahmen für die Bodennutzung. Da die kristallinen Gesteine geologisch älter sind als die kalkigen Ablagerungen, schreiten Wander*innen auf ihrem Weg von den Nördlichen Kalkhochalpen in die Tauern Millionen Jahre in die Erdgeschichte zurück. Weltbekannt ist dieses Phänomen für den Grand Canyon. In der Wimbachklamm nahe Berchtesgaden durchschreiten Wandernde über rund 200 Meter etwa 50 Millionen Jahre des JuraZeitalters: Radiolarit aus Skeletten unzähliger mikroskopisch kleiner Lebewesen, Rotkalke mit weißen Kalzitkristallen aus Resten von Seelilien, rötli-

che Flaserkalke, graue verfaltete Hornsteinkalke des einstigen Meeresbodens. 3 Diese „Rohprodukte“ veränderten die Vereisungen in den Günz-, Mindel-, Riß- und Würmkaltzeiten. Der Meeresspiegel sank bis zu 120 Meter und die Landmasse „Europa“ wurde entsprechend größer. Die Schneegrenze lag etwa 1200 bis 1300 Meter niedriger als in der Gegenwart, Gletscher erreichten während der Weichsel-Würm-Phase vor ca. 75.000 bis ca. 12.000 Jahren 4 mit einem Kältehöhepunkt vor 21.000 Jahren am Gebirgsrand eine Dicke von 1400 Metern. Das bis zu dreißig Meter pro Jahr fließende Eis schliff Täler ins Gestein und schuf Abbruchkanten. Wo der Fluss des Eises endete und das Eis schmolz, sanken verschobene Schotter und Feinmaterialien zu Boden und formten Moränenhügel und Senken. Schmelzwässer der Salzachund Salach-Gletscher zum Beispiel bildeten einen etwa dreißig Kilometer langen und zehn Kilometer breiten See. Auf dessen Ablagerungen, einer achtzig Meter starken Schotterschicht, steht die heutige Innenstadt Salzburgs. Östlich hatte das Pannonische Meer Muscheln und Seetiere abgelagert. Steinzeitlich Werkende nutzten das entstehende Gestein, ihre Nachkommen in der Gegenwart betreiben dort Steinindustrie. Dadurch findet sich unter den Füßen der heutigen Menschen der Region eine sechsfache geologische Gliederung: (1) in den Tauern sehr alte kristalline Gesteine wie Gneise, Granite und andere, die

Egon Lendl mit Walter Pfitzner und Kurt Willvonseder (Hg.), Salzburg-Atlas. Bundesland Salzburg in 66 Kartenblättern, Salzburg 1955, Karten 4–8, Text 14–23. 4 Angaben zu Beginn, Dauer und Ende variieren je nach Forschungsstand und Definitionen. 3

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.2 Gesteinsvermischung vom Altpaläozoikum zu nacheiszeitlichen Sedimenten Die geologische Karte zeigt, dass ihre Wanderungen Menschen nicht nur durch unterschiedliche Vegetationszonen führten, sondern auch über verschiedene geologische Einheiten mit einer breiten Palette von Gesteinen. Diese boten Materialien für die Herstellung von Werkzeugen (Silex, Erze), die Gewinnung von Nahrungsmitteln (Salz) oder die Herstellung von Unterkünften (Baugesteine, natürliche Höhlen). Allein das inneralpine Becken (sog. autochthone Molasse) bestand aus Ton, Mergel, Mergelstein, Sand, Kies, Kalkstein (blassgelb); die oberostalpine Region aus mehr als drei Dutzend Gesteinssorten.

schwer zu bearbeitendes, haltbares Baumaterial liefern; (2) von Tirol im Westen bis Oberösterreich im Osten eine Grauwackenzone mit metallischen und mineralischen Einschlüssen, die den Erz- und Salzabbau ermöglichen. Es folgen (3) die Nördlichen Kalkhochalpen, hohe Plateauberge wie das Dachsteinmassiv, und (4) die mittelgebirgsartigen Formationen der Kalkvoralpen mit Baumwuchs und Almwiesen. (5) Eine Sandstein- oder Flyschzone 36

bildet den Übergang ins (6) hügelige Alpenvorland. Am Westrand des Pannonischen Meeres (Horner Bucht) leben Menschen der Jetztzeit auf Muschelablagerungen und auf Graniten, die vor ca. 550 bis 320 Millionen Jahren entstanden und verwitterten. Fossiliensammler finden dort Skelette von Krokodilen und Delfinen, Steinwerker Gesteinsmetamorphosen und Kristalle vieler Formen und Verwendungsmöglichkeiten. Jede Region bot und bietet

Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen

unterschiedliche Optionen oder Beschränkungen für die menschliche Nutzung: Ressourcen aus dem Erdinneren, abgelagerte Salze, in Adern erkaltetes Kupfer, Kristalle. Die Hügelgebiete und Ebenen bis zu den Karpaten entstanden, als vor zehn Millionen Jahren das Pannonische Meer abfloss, die SeenHügel-Landschaft des heutigen Alpen- und Donaulandes, als die Gletscherseen abflossen. Kontinuierlich wirkende Naturkräfte wie Wind, Schnee, Spaltenfrost und Wasserabfluss schufen kleinräumliche „Feinprodukte“. Verwehungen von Feinmaterial lagerten lösshaltige fruchtbare Böden ab, breite Schmelz- und Meerwasser schrumpften zu Bächen, die die Region be- und entwässerten. Die zuwan-

Abb. 2.3 Geologie der Wimbachklamm

dernden Menschen fügten der Erd- und Naturgeschichte ihre eigene Geschichte hinzu.

Abb. 2.4 Eis- und Tundrazeit, 25.000–12.000 Jahre vor heute

2.2 Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen 5 Menschwerdungen begannen im östlichen Afrika, afrogenesis, und seit der letzten Phase ist das Erbgut aller gegenwärtig weltweit lebenden Menschen zu mehr als 99 Prozent identisch. Einteilungen in

5

„Stämme“ oder „Rassen“ sind Ideologeme, „deutschstämmig“ ist Unsinn. Das Wissen um den Zeitverlauf der Menschheitsentwicklung verändert sich angesichts neuer Funde und Genanalysen

Dies Kapitel reflektiert den Forschungsstand von Ende 2017.

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.5 Pannonisches Meer vor ca. 10 Mio. Jahren (Miozän)

schnell 6 und von Anfang an arbeiteten Forscher transkulturell zusammen: Die empirische Evolutionslehre Charles Darwins (1809–1882) beruhte auf der Systematisierung lebender Organismen durch Carl von Linné (1707–1778). Nationalideologen kategorisieren Darwin als britisch und Linné als schwedisch – doch ersterer entwickelte seine Gedanken während einer weltumspannenden Forschungsreise, letzterer lebte in Holland, England und Frankreich und unterhielt Kontakte im gesamten Europa. T. H. Huxley („Engländer“) begründete die Primatenlehre 1863, während in den USA – in weiße, diskriminierte schwarze und marginalisierte indigene Gesellschaften gespalten – Rassisten die Erforschung des afrikanischen Ursprungs noch im

späten 20. Jahrhundert bekämpften. Die Evolutionsanalytiker ersetzten Fixismus und Schöpfungsmythen durch die life sciences. Die Vorgänger der Menschen in Alpen, Donauraum, Pannonien und anderswo hatten eine Evolution verwirklicht, die sich in sechs Phasen zusammenfassen lässt: (1) Lebewesen in Ostafrika teilten sich vor etwa 17 bis 5 Millionen Jahren in die Entwicklungslinien der great apes, im Deutschen unglücklich als „Menschenaffen“ bezeichnet, 7 und der aufrecht gehenden Hominini oder „Vormenschen“. (2) Letztere erschlossen sich Regionen in Afrika, passten sich Umwelten an und differenzierten sich. (3) Ihre Kinder und Kindeskinder entwickelten sich in einer Art Experimentierphase vor etwa 3,4 bis

Steve Olson, Mapping Human History. Genes, Race, and Our Common Heritage, New York 2002; Herbert Thomas, L’Homme avant l’homme. Le scénario des origines, Paris 1994; Johannes Krause, „Ancient Human Migrations“, in: Reinhard Neck und Heinrich Schmidinger (Hg.), Migration, Wien 2013, 45–63; Miriam N. Haidle, „Homo migrans: Spuren menschlicher Expansionen von 7 Millionen bis 5000 v. Chr.“, in: Robert Rollinger und Harald Stadler (Hg.), 7 Millionen Jahre Migrationsgeschichte. Annäherungen zwischen Archäologie, Geschichte und Philologie, Innsbruck 2019, 41–90; Merry E. Wiesner-Hanks, A Concise History of the World, Cambridge 2015, 11–68. 7 Namensgebungen idiosynkratischer Wissenschaftler wie die römische Amtsbezeichnung „Proconsul“ für eine Meerkatzen-ähnliche PrimatenGattung verwirren zusätzlich. 6

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Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen

2,1 Millionen Jahren zur Gattung homo, zu den Urmenschen homo erectus, aufrecht, und homo ergaster, arbeitend. Ihre Beine wurden länger. (4) Sie wurden innerhalb Afrikas mobiler und erreichten out-of-Africa vor zwei bis einer Million Jahren Südwestasien und von dort Europa und Ostasien. (5) Vor ca. 380.000 Jahren erreichten Frühmenschen Europa von Marokko (Jebel Irhoud) über die Meerenge von Gibraltar und, über die Levante (Misliya, Berg Carmel), Balkan und Ostalpen. Dort entwickelten sich homines heidelbergenses und neanderthalenses 8, auf dem Weg in den Süden Afrikas naledi und in Südostasien floresienses. Sie hatten Stimm- und Hörapparate und kommunizierten miteinander. (6) Vor mehr als 300.000 Jahren entwickelten sich, ebenfalls in Ostafrika (Äthiopien), homo und femina sapiens, einsichtsfähige Frauen, Männer und Kinder. Da ihre Körperbehaarung abnahm, mussten sie sich kleiden und für Kleinkinder wurde es schwieriger, sich an ihre Mütter zu klammern. 9 Kleinverbände gestalteten jedes Teilstück ihrer Wege. Jede Herausforderung verlangte Überlegungen und intelligente, praktikable Lösungen. Sie ertasteten schrittweise Nachbarlandschaften – ein Weg über 10.000 Kilometer in 10.000 Jahren bedeutet rechnerisch nur einen einzigen Kilometer pro Jahr –, doch ihre Schweifgebiete um Siedlungen waren weitläufig. Manche querten die Flachwasser zwischen Djibouti und Jemen (später: Rotes Meer) oder bewegten sich durch das Niltal zur Sinai-Halbinsel. Von Südwestasien wanderten Verbände entlang der Küsten des Indischen Ozeans und weiter über den eiszeitlichen südostasiatischen Teilkontinent Sunda zu Inseln (Sahul Teilkontinent) oder nach Ostasien. Dort entschieden einige, sich nach Westen zu wenden und erreichten über Steppengebiete Europa, andere sehr viel später über eine Landbrücke (später: Beringstraße) den amerikanischen Doppelkontinent. Wissenschaftler*innen debattieren die Gründe für die Migrationen: Neugier und Suche, Erschöpfung lokaler Ressourcen, Zwist innerhalb von Gruppen? 10 Praesapiente Sammler- und Jäger*innen aus

Abb. 2.6 Siedlungswanderung des homo sapiens < 300.000 Jahre vor heute

dem Nildelta, dem Zweistromland oder dem nördlichen Südasien bewegten sich entlang der östlichen Mittelmeerküste durch Palästina-Anatolien, über das Kaukasus-Gebirge oder von Osten durch die Steppen nördlich des Balkhash-Sees (Denisova-Kultur) und erreichten die Steppen nördlich des Schwarzen Meeres. In dem tundren- und steppenartigen Flachland und in alpinen Gebieten ernährten sie sich von Pflanzen und Tieren. Vor etwa 210.000 Jahren nutzen sie die Repolust-Höhle bei Peggau an der Mur und stellten durchbohrte Wolfszähne als Schmuck her. Andere nutzten über Jahrtausende (vor etwa 130.000–45/30.000 Jahren) die Gudenus-Höhle im Tal der Kleinen Krems und später die Ramesch-Höhle im Toten Gebirge. Sie waren nicht „Höhlenmenschen“, sondern erhielten diese Bezeichnung von Forscher*innen der Gegenwart, denen die Höhlen – klimatisierte Räume – gewissermaßen zu Museumsmagazinen wurden. Modellbildende Sprachforschung und, seit kurzem, Genetik können Wanderungsrichtungen und Aspekte sozialen Lebens rekonstruieren: Menschlich-kulturelle Entwicklung ist eine Geschichte dynamischgroßräumlicher Bewegungen. 11 Homo und femina sapientes aus Kenia und Äthiopien, die wirkende Dinge, also Werkzeug, Speerspitzen und Schmuck entwickelt hatten, agierten und ernährten sich in vielen Um-Welten. Sie

Die ersten Fossilien wurden 1856 im Tal der Neander (heutiges Nordrhein-Westfalen) gefunden. Die Gemeinschaften lebten im gesamten Europa und Zentralasien. 9 Immanuel Ness u. a. (Hg.), Encyclopedia of Global Human Migration, 5 Bde., Oxford 1913, bes. Bd. 1, hg. von Peter Bellwood, 9–48. 10 Separat und früher erreichten Menschen aus Sibirien das nördliche Nordamerika, wie DNA-Untersuchungen der Inuit zeigen. 11 Zu Forschungsmethoden vgl. Patrick Manning, Migration in World History, New York 2005. DNA-Untersuchungen zeigen, dass traditionellklischeehaft als „Jäger“ identifizierte Bestattete oft Frauen waren. 8

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Naturregion und menschliche Besiedlung

suchten diese durch innewohnende oder übernatürliche Kräfte zu erklären und schufen sich einen animistischen Referenzkosmos. Ihre spirituellen Welten bildeten sie oft an Höhlenwänden ab, so in der dicht besiedelten Dordogne in Lascaux, in der ägyptischen Sahara bei Uweinat und im Gilf elKebir, im südlichen Afrika in der Apollo-11-Höhle sowie auf der Insel Sulawesi (Maros Karst). An offenen Felswänden hinterließen Männer und Frauen farbige Handabdrücke. War dies, wie vermutet wird, eine Form der Kommunikation mit unerklärbaren Kräften? In der vereisten Alpenregion überdauerten Zeugnisse zum Beispiel in der Schlenken-Durchgangs-Höhle auf 1600 m Höhe und in der wärmebegünstigten Wachau an der Donau. Als sapientes mit ihren Fähigkeiten vor etwa 80.000 bis 60.000 Jahren das westliche Europa erreichten, 12 lebten sie meist parallel zu den praesapientes, doch belegen DNA-Analysen auch gemeinsame Kinder. 13 Viele siedelten in Mittel- und Südfrankreich, wo überhängende Felsen (abri) Schutz und Wohnraum boten und Höhlenwände Platz für Zeichnungen geistig-spiritueller Bedeutung. In Willendorf (Wachau) und in Westpannonien (Niederösterreich) lebten sapientes seit ca. 30.000 Jahren. Ihre Geschichte wird gemäß ihren Werkstoffen in Lithikum (griech. Stein), Keramikum (griech. Lehm, Erde, ab ca. 5000 v. u. Z.) und Metallikum (ab ca. 3900 v. u. Z.) unterteilt. Allerdings wäre besser von Holz- und Knochenzeiten zu sprechen: Holzhütten und, vereinzelt, Langhäuser, Holzfeuer, Holz- und Knochengeräte. Beginn und Dauer der Perioden variierten zwischen Großregionen nach Ankunftszeitraum, Klima und natürlichen Ressourcen. Wissenschaftler benannten Kulturepochen nach Fundorten spezifischer Werkstücke, Gravettien nach dem Abri Gravette (Dordogne, 30.500– 22.000) zum Beispiel oder Lepenski Vir (Serbien, 20.000–8000). Doch lebten die Menschen transmitteleuropäisch und bis nach Zentralasien: Man fand gleichartige, oft ritz- und farbverzierte Werkstücke in Sibirien und, später, in der Wachau-Region und am Don bei Kostënki. „Wachau-Kostënki“ könnte Epochenname sein und andere Konnotationen hervorrufen. Die Wandernd-Sesshaften lernten auf

ihren Wegen Verbände mit anderen materiellen Praktiken, kollektiven Mentalitäten und Identifikationen kennen. Sie unterhielten Kontakte, steinerne Artefakte belegen den Austausch zwischen Regionen des Steinabbaus und der Bearbeitung. Mit der Berechnung der durchschnittlichen sommerlichen Sonnenstrahlung, die der serbischhabsburgische Natur- und Technikwissenschaftler Milutin Milanković (1897–1958) und nachfolgend Klimaforscher*innen entwickelten, lässt sich nachvollziehen, wann sich Menschen während interglazialer Wärmeperioden ausbreiten konnten, wann sie sich mit erneuter eiszeitlicher Kälte auseinandersetzen mussten und sich wieder zurückzogen oder vielleicht in der Kälte zugrunde gingen. Frauen mussten Schwangerschaften und Geburten auch während Wanderungen und in großer Kälte gestalten oder ertragen. Historiker*innen der französischen Schule der Annales haben auf die Bedeutung von Umwelt, Strukturen, Traditionen und Diskursen in der Perspektive der longue durée hingewiesen, marxistische Kolleg*innen die ökonomische Basis, gesellschaftliche Hierarchien und Machtverhältnisse untersucht. Sie haben das Leben von Menschen umfassend betrachtet. Im Vergleich zu den Pyrenäen und dem Dordogne-Plateau waren die Regionen der Alpen, der Donau und Pannoniens dünn besiedelt. Jede Mikroregion, seien es einzelne Alpentäler und in ihnen Nord- und Südhänge, seien es Hügel wie im Bayerisch-Böhmischen Wald, seien es Seen, Flüsse oder geschützte Täler wie an der Donau in den südlichen Karpaten, bot unterschiedliche Rahmen und Ressourcen. Die Menschen entwickelten mentale Karten der Fundorte von Rohmaterialien in ihrem Schweifgebiet (Abb. 2.2). Die mehrgenerationellen (Familien-) Verbände erschlossen sich Neues, wandelten es in Habitate und machten sich zu Einheimischen. Natur veränderte sich schnell, die Durchschnittstemperaturen zum Beispiel stiegen über nur wenige nacheiszeitliche Generationen um sechs Grad und durch die erneute Wirkung des Golfstroms stiegen Niederschläge. Enorme Klimaschwankungen zwischen 8500 und 5500 veränder-

Nach neuen Funden (Juli 2019) erreichten sapientes den Peloponnes bereits vor 210.000 Jahren. T. Higham et al., „The Timing and Spatiotemporal Patterning of Neanderthal Disappearance“, Nature 512 (August 2014), 306–309, https://doi.org/ 10.1038/nature13621 (5. September 2020); und Iosif Lazaridis et al., „Ancient Human Genomes Suggest Three Ancestral Populations for Present-Day Europeans“, Nature 513 (September 2014), 409–413, https://doi.org/10.1038/nature13673 (5. September 2020).

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Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen

ten Landschaftsformen und erforderten schnelle Anpassungen. Die wenigen Menschen 14 in den Ostalpen siedelten auf hochwassersicheren Terrassen nahe Gewässern. Sie gaben den Dingen Namen, erzeugten Geräte aus Feuer- und Hornstein, bauten Fischreusen, nutzten Werkzeug, um feineres Werkzeug herzustellen und ernährten sich von Früchten, Nüssen, Körnern, Wildgemüsen, Wurzeln und Knollen, von Kleintieren und Großwild sowie Fischen. Sie bestatteten ihre Toten, hatten also Vorstellungen eines Jenseits-dieser-Welt, einer Anderwelt. Alle erbrachten in der Gegenwart unvorstellbare Leistungen, um in (nach-) eiszeitlicher Umgebung Kinder großzuziehen. Weisen Kindergräber auf Emotionen der Eltern und, vielleicht, der Gemeinschaft? Anrührend ist ein Doppelgrab, in dem zwei Kinder sich in den Armen zu liegen scheinen. 15 Zwischen Eis- und Besiedlungszeit „wanderten“ aus Rückzugsgebieten überlebende Floren und Faunen wieder zu: aus dem Mittelmeerraum Gehölzpflanzen, aus der Wärmenische der Wachau-Region zwischen Melk und Krems anfangs Sträucher, dann Marillen (Aprikosen), im Osten aus der Schutzzone des Djerdap (südwestliche Karpaten). Die Wiederbewaldung begann im Boreal ca. 9600 v. u. Z. mit Rosskastanien und wohl auch Fichten. Eichen und Buchen aus Südeuropa sowie Linden; Eschen, Ahorn und Erlen kamen später. Als Pflanzen Nahrung und Schutz boten, folgten Tiere. Doch lange blieb die Artenvielfalt geringer als vor der Eiszeit. Optionen der Menschen nahmen zu, als die Atlantikum genannte feuchtwarme Mittlere Wärmezeit von ca. 8000 bis, im nördlichen Europa, ca. 4000 v. u. Z. die Lebensbedingungen verbesserte. Jede Klimaveränderung beeinflusste die Wassermengen in Flüssen und Seen und die Lebensbedingungen in Uferzonen. Eine intensivere Bewaldung mit dichtem Laubdach nahm Sträuchern und manchen Tierarten das Licht. 16 Die post-glazialen Veränderungen forderten von den Menschen Entscheidungen über ihre Ernährung: Großsäugetiere wie das Mammut zogen ab, Rentiere verbreiteten sich – Menschen fertigten

Abb. 2.7 Emotion, Ritual, Zufall? Doppelkindergrab, Unterhautzenthal, Niederösterreich, frühbronzezeitlich

vor ca. 20.000 Jahren Flöten aus Rentierknochen – und verschwanden, als Steppen zu Mischwäldern wurden. 17 Männer und Frauen, die ihre Lebensform beibehalten wollten, mussten dem Großwild folgen; diejenigen, die sesshaft bleiben wollten, mussten sich dem neuen Klima anpassen. Sie entwickelten neue Nahrungspraktiken oder übernahmen sie von Neuzuwander*innen aus dem Südosten. Statt der Umzingelung riesiger Tiere entwickelten sie die Technik der schnellen Verfolgung kleinerer Tiere und andere Formen der Fellverarbeitung. Zur Herstellung von Werkzeugen und Kultgegenständen verwendeten sie Knochen, Stoßzähne und Geweihe. Im Unterschied zum Mammut konnten die Menschen sich Rentiere gefügig machen („domestizieren“). Die neue Jagdkultur erforderte auch eine spirituelle Neuorientierung, denn Beutetiere waren Nahrung und wurden verehrt – je nach Kleinregion Bison, Braunbär, Rothirsch, Gämse, Steinbock,

Eine Schätzung der Bevölkerung in der Region Krems bis Horn ergab nur etwa 450 Personen. Pieler u. a., Waldviertel, 124. Ein reich ausgestattetes Doppelgrab von zwei Säuglingen aus der Gravettien-Periode wurde nahe Krems/Donau gefunden. 16 Andreas Lippert, Wirtschaft und Handel in den Alpen: Von Ötzi bis zu den Kelten, Stuttgart 2012, 10–15. 17 Manche Forscher*innen argumentieren, dass die fleischhungrigen Menschen mit ihren verfeinerten Jagdinstrumenten die Großsäugetiere vernichteten. Die irreführende Bezeichnung „Jagdkultur arktischen Typs“ erfanden Gelehrte in einer Zeit, als Rentiere nur im hohen Norden lebten. Überreste von Sumpfschildkröten bis Südskandinavien deuten auf Warmperioden in diesen Regionen. 14 15

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.8 Zeitleiste: Klimaabschnitte und Kulturperioden, 425.000 v. u. Z. bis 0

Wildschwein, Marder, Wildkatze, Biber, Fischotter. Die Menschen jagten viele Arten von Vögeln und sammelten Schnecken und Muscheln. Sie schufen sich in Holz oder Knochen gefasste, also mit Griff versehene Steinklingen. Pfeile mit Steinspitzen ermöglichten die Jagd aus der Distanz und, als Waf42

fen verwendet, eine aggressivere Kriegführung. Ritzverzierungen deuten auf eine geometrisch orientierte Ästhetik. Vermutlich legten die Menschen bei ihren Lagern, meist auf Süd- und Osthängen oder an Wildwechseln, kleine Wildgras-Felder an. Sie lebten in Verbänden und begannen einen öko-

Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen

Abb. 2.9 Frauenfigurinen, (a) Willendorf, Wachau, vor 30–25.000 Jahren (Oolith-Kalkstein vermutlich aus Mähren, Rötelbemalung, 10,5 cm); (b) Stratzing/ Krems-Rehberg, vor 32–29.000 Jahren (7,2 cm) Die in Willendorf gefundene Figurine haben Interessierte retrospektiv als „üppig“ bezeichnet und zur Standardabbildung für die frühzeitliche Verehrung erhoben. Zeitgenoss*innen stellten zahlreiche andere Figurinen her, darunter eine als „tanzend“ bezeichnete Frau mit erhobenem Arm. Die Interpretation „kultisch“ schließt Sex ein. Haben andere Figuren sich auf Sex beschränkt? Ein im Waldviertel (Niederösterreich) gefundenes „Amulett“ (?) stellt zwei Frauenbrüste und einen Penis dar (Krahuletz-Museum).

logischen Fußabdruck zu hinterlassen. Auch wussten sie um andere: Am Horner Becken lebende Gemeinschaften bezogen ihre Feuersteine aus Südmähren und nutzten die kürzeste Verbindung dorthin. 18 Frühe Menschen nahmen ihre eigene Körperlichkeit wahr und töpferten und schnitzten anthropogene Figurinen. 19 Fruchtbarkeit sahen sie als weiblich: Neue Lebewesen kamen aus der Vulva in die Welt und nährten sich an Brüsten. Dies war

Überlebens-wichtig und deshalb Verehrungs- sowie spirituell-künstlerisch Darstellungs-würdig, so vor etwa 37.000 Jahren die Vulva-Darstellungen im südwestlichen Frankreich 20 und Frauenfigurinen von der Wachau bis zum Burgenland zwischen 30.000 und 7000 v. u. Z. Vergleichbare andere Kulturverbände von den Pyrenäen bis Sibirien und vom östlichen Mittelmeer bis zur Wolga formten über Jahrzehntausende meist 5 bis 30 cm hohe Figurinen. 21 Neuzeitliche Kunstinteressierte etiket-

Dorothee Brantz (Hg.), Beastly Natures: Animals, Humans, and the Study of History, Charlotteville 2010. Figurinen in Berakhat Ram (Golanhöhen) und Tan-Tan (Marokko) stammen aus über 230.000 bzw. 200.000 Jahre alten Erdschichten. Francesco d’Errico und April Nowell, „A New Look at the Berakhat Ram Figurine: Implications for the Origins of Symbolism“, Cambridge Archaeological Journal 10.1 (2000), 123–167, https://doi.org/10.1017/S0959774300000056 (5. September 2020); Jenifer Neils, Women in the Ancient World, London 2011; Jill Cook, Ice Age Art. Arrival of the Modern Mind, London 2013. 20 Forschungen am Centre National de la recherche scientifique (Jean-Michel Chazine, Arnaud Noury, Jean Courtin und Luc Henri Fage), an der University of Central Lancashire (John Manning) sowie von Randall White (New York University) mit 15 Kolleg*innen, „Context and Dating of Aurignacian Vulvar Representations from Abri Castanet, France“, Proceedings of the National Academy of Sciences, United States 109.22 (29. Mai 2012) 8450–55, https://doi.org/10.1073/pnas.1119663109 (5. September 2020). Die Grabung bei Willendorf (Wachau) leitete Josef Szombathy (1853–1943), habsburgischer und österreichischer Prähistoriker mit internationaler Erfahrung durch die Wiener Weltausstellung von 1873. 21 Abbildungen von Figurinen in Pieler u. a., Waldviertel, 59, 88, 159, 163. 18

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Naturregion und menschliche Besiedlung

tierten sie mit dem Namen der römischen Göttin der Schönheit, Liebe und Erotik, „Venus“. Doch werden weder Antikisierung – die in diesem Fall Modernisierung war – noch moderne Erotik der frühzeitlichen Spiritualität gerecht. Gender war eine zentrale Kategorie der Weltbilder, Schaffensgeschichte (s. Kap. 5) ist „gendered“ – ein Konzept, für das die deutsche Sprache kein Wort hat: „geschlechtsspezifisch“ drückt Zustand, nicht Prozess aus. 22 Diese anpassungs- und neuerungsfähigen materiell-spirituellen Kulturen sind nicht „Vorgeschichte“, sondern vor-textliche Geschichte. Interdisziplinär rekonstruieren Wissenschaftler*innen mit Hilfe mikroskopischer Untersuchungen Herkunftsorte und Verarbeitungstechniken („Technokomplexe“) von Rohstoffen. Herstellungs- und Nutzungsprozesse erschließen sie experimentell durch Nachbau und Nachahmung. Materielle Zeugnisse, zum Beispiel Begräbnisbeigaben, und Fundorte wie am Kalenderberg (Wienerwald und Burgenland) dienten der Namensgebung. Die flexiblen Mentalitäts- und

Identitätsverbände entwickelten Netzwerke und Kontaktzonen und nutzten aus anderen Regionen und Kulturen entlehnte Materialien und Techniken. Grabbeigaben und Skelette ermöglichen die Rekonstruktion von Lebens- und „Jenseits“-Vorstellungen. Personen am Übergang in eine Anderwelt (Verstorbene) und ihre Beigaben, die aus dem Wirtschaftskreislauf der Lebenden ausschieden, als „Spiegel des Lebens“ zu sehen, ist eine notwendige, aber bedenkenswerte Methode. Sie erfasst nur Männer und Frauen der Funktionsoberschicht, denn nur sie konnten materiellen Besitz zur Repräsentation aufbringen. Archäobotanik und -zoologie untersuchen Lebensweisen anhand von Alltagszeugnissen in Abfallgruben und Misthaufen – Getreidereste, Tierknochen, fossile Fäkalien und Haushaltsgegenstände wie Getreidemühlen. Holzund Metallwerkstätten hinterließen Erkenntnis-liefernde Produkte ebenso wie Ausschussware, die fehlgelaufene Prozesse bezeugen. All dies ist aussagekräftiger als der Schmuck der wenigen Magnaten. 23

2.3 Kulturentwicklungen: Am Anfang war das Handeln Die frühen Menschen bemühten sich, ihre Lebensumstände in die Hand zu nehmen und entwickelten kleinschrittig und doch umfassend händisch, intellektuell und spirituell Sichtweisen und Neuerungen. Wo immer die durchaus klugen „Vorwissenden“ ankamen, machten sie die Umwelt mit ihren Händen für sich verwendbar, begriffen sie. Am Anfang stand nicht „das“ Wort (Singular), sondern kontinuierliches händisches Tun, Beobachten und Verarbeiten von Eindrücken im Gehirn, das ähnlich komplex war wie das der sapientes. Handfertigkeiten und Denkfähigkeiten sicherten in immerwährenden Adaptionen das physische Überleben und soziale Leben. Scheiterte dies, mussten die Menschen weiterwandern oder umkehren – wenn sie denn ihr Scheitern überlebten. Sie begannen das Feuer zu verstehen und lernten, es selbst zu entzünden sowie, ebenso wichtig, es

wieder zu löschen. Wärmende Feuerstellen wirkten gemeinschaftsbildend. Die heute als „vorwissend“ Bezeichneten eigneten sich die Beherrschung des Feuers selbst an; heute als „wissend“ eingeordnete „antike“ Menschen glaubten noch Hunderttausende Jahre später, das Feuer sei den Gottheiten vorbehalten gewesen und ein Prometheus habe es ihnen an mythischem Fixpunkt gebracht. Mit ihrem Handeln entwickelten sich ihre Körper: Angesichts der Herausforderungen, die sie bewältigen wollten, expandierte ihre Gehirngröße. Allerdings verengte der aufrechte Gang den Geburtskanal und je größer der Kopf, desto schwieriger die Geburt. Im Vergleich zu Tieren war bei den frühen Menschen das Verhältnis von Gehirn- zu Körpermasse siebenfach größer und, noch wichtiger, die Vernetzung der Zellen – 16 Milliarden bei modernen Menschen – durch Neuronen wurde

Auch auf einem Kegelhalsgefäß (Maiersch) stellte ein*e Töpfer*in eine tanzende Frau dar. Pieler u. a., Waldviertel, 213. Susanne Brather-Walter und Sebastian Brather, „Repräsentation oder Religion? Grabbeigaben und Bestattungsrituale im frühen Mittelalter“, in: Niklot Krohn und Sebastian Ristow (Hg.), Wechsel der Religionen – Religionen im Wechsel, Hamburg 2011, 117–139; Andrea Augenti und Roberta Gilchrist, „Life, Death and Memory“, in: M. Carver und J. Klapste (Hg.), The Archaeology of Medieval Europe, Bd. 2: 12th to 16th Centuries, Aarhus 2011, 494–515.

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Kulturentwicklungen: Am Anfang war das Handeln

Abb. 2.10 Zentren intensiver agrarischer Entwicklungen: im Niltal und Zweistromland, Südostasien mit Südchina, Ost- und Westafrika, westliches Mesoamerika, Neu-Guinea sowie später Nordchina und Regionen der Amerikas

weit komplexer. Dieses Denkorgan benötigte Treibstoff in Extra-Qualität und mit Hilfe des Feuers begannen die Menschen Rohnahrung aufzubereiten und deren Nährwert zu verbessern, die Anfänge der Kochkunst. Ihre Geräte verzierten sie ästhetisch-kunstvoll. Seit dieser Phase aßen nicht mehr fleischfressende Tiere Menschen, sondern die Menschen konnten die Fleischfresser mundgerecht zerlegen. Um den Wert von Zusammenarbeit statt Konkurrenz oder Kampf zu nutzen, schufen sie offenbar ein Konzept von community und entwickelten als Kernpunkt der Evolution kooperative Intelligenz. Hatten sozial Fähige bessere Überlebenschancen als risikobereite, un-vor-sichtige AlphaMännchen? 24 Diese habilis (lat. geschickt, fähig, begabt) genannten Frauen und Männer verbesserten über Jahrzehntausende ihr körperliches Universalwerkzeug, die Hände, durch seitlich flexiblere Daumen und durch den Faustkeil als Universalhilfsmittel. Sie wurden Werkzeugmacher*innen und fertigten Utensilien zum Schaben, Schneiden und Stechen, Spezialwerkzeuge mit Breitklingen und Nadeln mit Öse und Spitze für die Fellbearbeitung. Sie stellten Holzkohle her und bearbeiteten Knochen, Geweihe,

Mammut- und andere Zähne. Sie erfanden die biface-Technik zweiseitiger Kantenschärfung für SilexWerkzeug. Weit verstreute Personenverbände verfeinerten auch unabhängig voneinander ihre Techniken; werkkulturelle „Gerätereihen“ belegen Ähnlichkeiten und deuten auf großräumliche Austauschbeziehungen, Migration und kontinuierliche Vermischung. Um ihren geringen Besitz während Fort-Bewegungen effizient tragen zu können, begannen Männer, Frauen und Kinder Körbe zu flechten, Tücher zu weben, Garne und Seile herzustellen. Gab es bereits eine Arbeitsteilung nach Geschlecht? Ausgehend von der Fähigkeit der Frauen, Leben zu geben und die Säuglinge durch ihre Milch am Leben zu erhalten, ließe sich vermuten, dass stillende Frauen weniger umherstreiften und dadurch Fähigkeiten wie das Flechten entwickeln konnten. Stunden, Tage und längere Zeiten von Ortsfestigkeit hätten dies erleichtert. Wir wissen es nicht. 25 In einer zweiten Phase schneller Entwicklung, etwa 15.000 bis 10.000 v. u. Z., begannen experimentierfreudige Gemeinschaften in Natur-gegebenen, besonders günstigen Regionen, Pflanzen und Tiere nutzbar zu machen. Dies war „Kunst“ und

Suzana Herculano-Houzel, The Human Advantage. A New Understanding of How Our Brain Became Remarkable, Cambridge, MA 2016; Martin A. Nowak mit Roger Highfield, Kooperative Intelligenz. Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, übers. von Enrico Heinemann, München 2013 (amerikan. 2011); Lee A. Dugatkin und Lyudmila Trut, How to Tame a Fox (and Build a Dog): Visionary Scientists and a Siberian Tale of Jump-Started Evolution, Chicago 2017; Richard Wrangham, „Feuer fangen“: Wie uns das Kochen zum Menschen machte, übers. von Udo Rennert, München 2009 (engl. 2009). 25 Alice Roberts, Evolution: The Human Story, New York 2011; Richard Potts und Christopher Sloan, What Does It Mean to Be Human?, Washington 2010; J. M. Adovasio, Olga Soffer und Jake Page, The Invisible Sex: Uncovering the True Roles of Women in Prehistory, New York 2007. 24

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.11 Migration von Menschen mit landwirtschaftlichen funds of knowledge und know-how

„Tun“: von natürlicher zu gestalteter (art-ificial) Umwelt. 26 Regional differenziert gingen sie von sammelnden zu produzierenden Lebensweisen über. Sie züchteten aus Süßgräsern (Gramineen) Getreidepflanzen, deren Samen in einer Ähre blieben, besonders Roggen und Hafer, und sie adaptierten den Anbau der Cerealien während ihrer Wanderungen unter immer neuen Bedingungen. Ihre Erfahrungs-bedingte Boden- und Klimakunde ist in der Gegenwart ein komplexes interdisziplinäres Forschungsfeld. 27 In dem klimatisch günstigen fruchtbaren Bogen (fertile crescent) – von der Euphrat-Tigris-Ebene über das iranische Hochland und vom Roten Meer und der Straße von Hormus über die Levante bis Anatolien – „domestizierten“ Menschen zwischen ca. 10.500 und 9000 v. u. Z. Wildtiere wie Esel und einhöckerige Kamele zu nutzbaren Arbeitstieren und erreichten durch Züchten höhere Milchpro-

duktion sowie größere Zug- und Tragfähigkeit. Domestizierung ist Beherrschen. Milch konnten sie nur verwenden, wenn sie Laktosetoleranz entwickelten (seit dem 5. Jahrtausend). Migrant*innen trugen ihre Fähigkeiten zur westeuropäischen Halbinsel des Großkontinents, besonders als eine temporäre Abkühlung des Klimas in Westasien zu einer langen Dürrezeit führte, in West- und Mitteleuropa jedoch zu höheren Niederschlägen. Ab 8000 v. u. Z. trugen sie Hühner aus Südostasien und Samen aus dem südwestasiatisch-nordostafrikanischen Raum (zum Beispiel Emmer, Weizen, Gerste) oder aus Zentralasien (zum Beispiel Buchweizen) über Anatolien und die Mittelmeerinseln in ostmitteleuropäische Regionen. Dort hatten Ansässige Ur- und Auer-Rinder sowie das Wildschwein nutzbar gemacht, andere den Wolf zum Hund adaptiert, wieder andere in den Bergen Ziegen zu Nutztieren gezüchtet. Sie verbesserten ihre Werkzeuge, ent-

Peter Bellwood, „Neolithic Migrations: Food Production and Population Expansion“, in: Encyclopedia of Global Human Migration, 1:79–86; Manning, Migration in World History, 59–76. Sehr differenziert zu Forschungsgeschichte und -stand David R. Harris, The Origins and Spread of Agriculture and Pastoralism in Eurasia, London 1996, 1–9 und 552–571; Colin Renfew, „Language Families and the Spread of Farming“, in: ebd., 70–91; und Julian Thomas, „The Cultural Context of the First Use of Domesticates in Continental Central and Northwest Europe“, in: ebd., 310–322. 27 Pionierarbeit leisteten der russische Geograf und Geologe Wassili W. Dokutschajew (1846–1903) und die Universität für Bodenkultur Wien (gegr. 1872). 26

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Kulturentwicklungen: Am Anfang war das Handeln

wickelten feuerfeste Keramik zum Kochen und die Steinbohrung zur Herstellung von Schaftäxten. 28 Die Menschen lernten haltbare, witterungsbeständige Behausungen und mobile transportable Unterkünfte zu bauen und erwarben experimentell Kenntnisse über die verschiedenen Erden: Feuchte ließen sich verdichten, viskose zu Baumaterial verarbeiten, plastische für Gefäße verwenden. Fußboden, Wände und Dach erforderten unterschiedliche irdene Materialien und Stützvorrichtungen. Das Formen von Ziegeln bedeutete, modern ausgedrückt, Modulverwendung. Die um 10.000 v. u. Z. in Südostanatolien errichtete Kultstätte Göbekli Tepe erforderte die koordinierte Arbeit von vielen Hunderten. Die Menschen erweiterten zwischen 5500 und 2000 ihre Handlungsfähigkeit erheblich. War dies eine „landwirtschaftliche Revolution“ 29 oder eine politische? Die Änderung mag bedeutet haben, dass Mächtigere den Anbau kontrollierten, um Abgaben zu erheben, denn die Großproduktion von Getreide mit kurzer Erntezeit und Messbarkeit des Ertrags ermöglichte Steuerschätzung und -einhebung. Subsistenz-wirtschaftende Menschen in Verbandsökonomien auf der Grundlage von bedarfsgerechtem Sammeln und Leguminosen-Anbau hatten möglicherweise kein Interesse an einer Herrschafts- und Abgaben-Revolution. 30 In Regionen mit dünner Vegetation boten Hügel als Siedlungsorte Aussicht auf Wild als potenzielle Nahrung. In solchen mit Flüssen, Seen oder am Meer lernten Uferanrainer Fische zu angeln, zu speeren oder mit Flechtreusen und geknüpften Netzen zu fangen. Wasser beschleunigte die Fortbewegung, vorausgesetzt die Menschen lernten, Hölzer in Transportmittel umzuwandeln. Aus Garnen stellten sie Netze her und verbanden mit Seilen Hölzer zu Flößen. Kinder bezogen sie vermutlich in ihre Tätigkeiten ein. Gruppengröße, Friedfertigkeit oder Gewaltbereitschaft, Interessen und Intentionen beeinflussten das Leben und Überleben der frühen Menschen. Ein Aufeinandertreffen, das eine Bedrohung knapper Ressourcen oder Optionen bedeutete, erforderte Entscheidungen: Kampf, unsicheres Beäugen, kos-

tenneutrale, Konkurrenz vermeidende Änderung der Wanderungsrichtung oder ein Zusammengehen zur Verbesserung der Ressourcen? Ein Zusammenschluss konnte auf Augenhöhe erfolgen oder, wenn ein Verband einen anderen in Arbeitsverhältnisse zwang, in Hierarchisierung münden. In den Gemeinschaften blieben Menschen beieinander, wenn es nützlich war, und mussten sich trennen, wenn Ressourcen knapp wurden. Sie konnten sich trennen, wenn sie unterschiedlicher Meinung waren über die Wanderungsrichtung oder, unter Sesshaften, über Anbaumethoden, oder wenn entstandener Streit sich nicht schlichten ließ. Unterschiedliche Meinungen eröffneten unterschiedliche Möglichkeiten. Einzelne Familien und ganze soziale Schichten wanderten ab oder flohen, um sich Unterdrückung und Ausbeutung durch entstehende Oberschichten, durch kulturell Andere oder durch mobile Krieger zu entziehen. Viele suchten Zugang zu Ressourcen für ihre arbeitsteilige Produktion von Keramik und ab etwa 2300 v. u. Z. von Kupfer und Bronze. Ästhetisch und spirituell produzierten sie Flechtwerke mit Mustern und brandverzierte Keramik. Ihre spirituellen Konzeptionen stellten sie in Bildern dar und sie schufen symbolhaft vereinfachende oder realistisch abbildende Tierfiguren, Nachbildungen von Mond oder Sonne als Objekte der Verehrung oder als Versuche ritueller Beeinflussung. In der Wieselburg- oder Gáta-Kultur waren offenbar Frauen für die Berechnung des Mondkalenders zuständig. Materielles und Geistiges bildeten eine Einheit. Männer und Frauen testeten Möglichkeiten zielgerichtet oder erkannten Neues durch Zu-fall. Innovative Menschen nahmen mehr Optionen wahr als Traditionalisten; manche übersahen Optionen, die andere realisierten. Nicht jede Innovation war erfolgreich oder für alle Beteiligten zweckmäßig. Hierarchisierung, in der einige sich zu Kriegern und Führern erhoben, konnte dem Interesse der gesamten Gemeinschaft, eines Segments oder dem Eigeninteresse dienen; auch benötigten die Herrscher Unterhalt. Der Übergang von sammelnder zu sesshafter Lebensweise mit systematisierter

Zu den engmaschigen Handelswegen zwischen etwa 2600 und 2200 v. u. Z. und früher siehe Michele Massa, http://www.archatlas.dept.shef.ac. uk/workshop09 (26. März 2013). 29 Forschung und Begriff durch den australischen Archäologen Gordon V. Childe, New Light on the Most Ancient East: The Oriental Prelude to European Prehistory, London 1934, und den russischen Botaniker und Genetiker Nikolai I. Vavilov, Origins and Geography of Cultivated Plants, aus dem Russischen von der schwedischen Botanistin Doris Löve, Cambridge 1992 (russ. 1926). 30 James Scott, Against the Grain: A Deep History of the Earliest States, New Haven 2017. 28

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Landwirtschaft bedeutete höheren Arbeitsaufwand, die Gefahr einer Kontrolle „von oben“ und die Ge-

fahr der Abschöpfung von Teilen der Ernte oder anderer Produkte (J. Scott).

2.4 Fruchtbarkeitsverehrung und weitläufiger Handel in donauländischen urbanen Kulturen In dicht besiedelten Räumen differenzierten die Menschen ihre Fertigkeiten und lebten in konzentrierten Ansiedlungen: städtische Kulturen in der Region des Gelben Flusses (ca. 4000–2000 v. u. Z.), die Harappa-Lebensweise im Industal (ab ca. 3300), in Mesopotamien und der Levante (ca. 3000). Eine Kultur in den mikroklimatisch geschützten Seitenschluchten der Donau mit Zentrum in Lepenski Vir begann um 7000 und erreichte größte Intensität 5300 bis 4800 v. u. Z. 31 und eine Donauländische Kultur mit Blütezeit von 5000 bis 4300 v. u. Z. erstreckte sich von den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres über den unteren Donauraum und die Karpaten bis zur Pannonischen Ebene. Die Kulturschaffenden bildeten von einem anatolischen Entwicklungskern aus zahlreiche meso- und mikro-regionale Gesellschaften in fruchtbaren Lössebenen, erzhaltigen Gebirgen und an fischreichen Küstengewässern. Intensiv betrieben sie agrarische und handwerkliche Produktion sowie Fernhandel und verehrten weiterhin die Fruchtbarkeit. Ihre Güter und Impulse erreichten Menschen im mittleren Donau- und Voralpenraum (s. Kap. 3.5, 5.1). 32 Die Menschen dieses „Alten Europas“ errichteten sowohl offene, geräumige Flachlandsiedlungen wie konzentrisch um einen Kern geplante Städte, insgesamt mehr als 600, die größten mit bis zu 4,5 km2 Ausdehnung. Letztere erhoben sich nach und nach auf Hügeln (engl. tell) von bis zu zwanzig

Metern Höhe, da die Bewohner*innen ihre Häuser – aus rituellen Gründen? – nach etwa zwei Generationen abbrannten, den Schutt planierten und neu bauten. 33 In der Kultur von Cucuteni-Tripol’ye bedurften „Megastädte“ mit 5500 bis 7700 Einwohner*innen hoch entwickelter Logistik für die Versorgung. Wohnbauten deuten auf egalitäre Strukturen, Begräbnisbeigaben und manche Stadtstrukturen hingegen auf soziale Hierarchien. Die als Ursprung des abendländischen Europas herangezogene minoische Kultur begann um etwa 3600 v. u. Z. (Kreta), die dorischen und ionischen Wanderungen, aus denen später „griechische Antike“ (konstruiert) werden würde, um 1000 v. u. Z. 34 Die Großregion bot zahlreiche, weitläufig handelbare Rohstoffe und an deren Fundorten errichteten Menschen Werk- und Wohnstätten, so zum Beispiel die Hersteller*innen messerscharfer Obsidian-Klingen in den Karpaten (Tokaj-Berge) und auf der Insel Melos (Ägäis) sowie von SpondylusMuschelschmuck an den Küsten von Ägäis und Adria. Andere bauten in den Karpaten unterschiedliche Steinsorten ab und bereiteten Erze auf. Landwirtschaftliche Haus-, Dorf- und Stadtgemeinschaften (communities) nahe den Zuflüssen von Theiß und Velika Morava in die Donau waren Pioniere in der Herstellung von Keramik seit etwa 5600 und anschließend während der Starčevo-Körös-CrişKultur bis 4400 v. u. Z. Mit Hilfe von Blasebälgen erreichten sie 800 bis 1100 oC Hitze und erweiter-

Die dort Lebenden handelten bis zum Schwarzen, Ägäischen und Adriatischen Meer. Als Pionierin forschte dazu Marija Gimbutas (geb. in Litauen, Studium in Kaunas, Vilnius und Tübingen, Auswanderung in die USA 1949), Göttinnen und Götter im Alten Europa. Mythen und Kultbilder 6500 bis 3500 v. Chr., übers. von Baal Müller, Uhlstädt-Kirchhasel 2010 (amerikan. 1974, rev. 1982), 9–144. Ihre Thesen, anfangs oft rigoros abgelehnt, haben Archäolog*innen modifiziert. Douglass W. Bailey, A. Whittle und D. Hoffmann (Hg.), Living Well Together: Sedentism and Mobility in the Balkan Neolithic, Oxford 2008; David W. Anthony mit Jennifer Y. Chi, The Lost World of Old Europe. The Danube Valley, 5000–3500 BC, New York 2010; Barry Cunliffe, Europe between the Oceans. Themes and Variations: 9000 BC–AD 1000, New Haven 2011, 19–29, 88–119, 140–177; Cyprian Broodbank, Die Geburt der mediterranen Welt. Von den Anfängen bis zum klassischen Zeitalter, übers. von Klaus Binder und Bernd Leineweber, München 2018 (engl. 2013); Katalin T. Biró u. a., An der Grenze von Orient und Okzident: Die Geschichte der Völker auf ungarischem Boden, 400.000 v. Chr.–804 n. Chr., Budapest 2003; Mehmet Özdoǧan, „Anatolia and the Balkans: Archaeology“, in: Encyclopedia of Global Human Migration, 1:135–149; Agathe Reingruber, „Mobilität an der Unteren Donau in der Kupferzeit: Pietrele im Netz des Warenverkehrs“, Altertum 52 (2007), 81–100. 33 In der altägyptischen und griechischen Mythologie existierte der Sonnenvogel Phönix, der flammend oder sich selbst verbrennend und neu entstehend dargestellt wurde. 34 Robert Hoffmann, Fevzi-Kemal Moetz und Johannes Müller (Hg.), Tells: Social and Environmental Space, Bonn 2012. 31

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Fruchtbarkeitsverehrung und weitläufiger Handel in donauländischen urbanen Kulturen

Abb. 2.12 Erzfunde und -verarbeitung sowie Spondylus- und Bernstein-Handel nach 3500 v. u. Z. und Donauländische Kulturkreise

ten ihre Linearband-verzierte Produktpalette ab etwa 4750 durch Farbverzierung. 35 Gemeinsam entwickelten gewerblich-kulturell Schaffende und ihre mehrheitlich agri-kulturell arbeitenden Nachbar*innen eine exportorientierte Produktion westwärts über den kostengünstigen Wassertransport Donau-aufwärts und weiter durch das Alpenvorland bis zur Seine, ostwärts über ein Netzwerk von Routen bis an die Wolga und den Ural (Abb. 3.22). 36 Spirituell stellten die Menschen Fruchtbarkeit ins Zentrum. Bedeutete dies eine hohe Wertschätzung für Frauen? Standen Göttinnen im Zentrum einer Religion (s. Kap. 5.1)? Waren die Figurinen Ikonisierungen des reproduktiven Körpers von Frauen für Frauen? Handelte es sich um Symbole des eigenen Lebens, die – vielleicht bei Tod – zerbrochen wurden, wie unter Menschen im KamptalHorner Becken-Komplex üblich? Die Figurinen

wurden in den oft mehrräumigen Wohnhäusern verwendet, nicht in Kultzentren. Andererseits statteten die Menschen nur die Gräber weniger Männer reichhaltig aus. Besaßen Frauen einen hohen Rang in der materiell-spirituellen Lebenswelt und einzelne Männer Kontrolle über Rohmaterialien, Handwerk und Fernhandel? 37 Die Verehrungspraktiken, über die Wissenschaftler*innen debattieren, waren Teil makroregionaler Vorstellungen. Manche ältere Forscher mit Kirchen-christlichem Standpunkt sahen „Götzen“ und Darstellungen weiblicher Fruchtbarkeit als Idole, männliche Fruchtbarkeit als Zeichen von Transzendenz. Empirisch standen den vielen weiblichen wenige männliche Figurinen gegenüber. Marija Gimbutas sah in der donauländischen magna mater „das schöpferische Prinzip der Quelle und AlleinSpenderin verleiblicht“, das männliche Element seien „lebensfördernde – nicht aber lebensschaffende

Hämatit (rot), Gips (weiß), Grafit (grau). Ioan Opriş und Cătălin Bem, „A History of Archeology and Museography in Romania“, in: Anthony und Chi, Old Europe, 59–72; Michel L. Séfériadès, „Spondylus and Long-Distance Trade in Prehistoric Europe“, ebd., 179–190. 37 Cook, Ice Age Art. 35

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.13 Transeuropäische Schmuckbedürfnisse, a) Spondylus-Kette, b) Produktpalette, c) Werkstücke

Abb. 2.14 Vermutete Handelswege in und aus Pannonien sowie um Wien und um Langenlois, Kamptal

– Kräfte“. War die matrifokale und vermutlich matrilineare Kultur egalitär und friedlich? Fruchtbarkeit – ebenso wie Sexualität und Gewalt – würde am Beginn vieler Ursprungslegenden stehen: Zeus, athenische und römische Krieger raubten Frauen. In manchen levantinischen und östlichen Erzählungen zeugen sich liebende Männer und Frauen 50

Kinder als Beginn eines Identifikationsverbandes. Menschen der nachfolgenden pannonischen Kulturen schufen Vorratsgefäße für lebenserhaltende Nahrung und, zur Anderwelt übergänglich, Urnen in anthropomorpher Form.

Fruchtbarkeitsverehrung und weitläufiger Handel in donauländischen urbanen Kulturen

Abb. 2.16 Nähnadeln aus Tierknochen, Ösen mit feinen Steinbohrern erzeugt (vor ca. 20.000 Jahren, Grubgraben bei Krems)

Abb. 2.15 Männlich-anthropomorphes Gesichtsgefäß vermutlich keltischer Scordisker aus dem römischen Kastell Viminatium an der Donau (östlich Sirmiums) seit Beginn des 1. Jahrhunderts

Werkzeuge und Harpunen aus Geweih oder Meißel mit Geweihgriff erscheinen in heutiger Ästhetik als formschön. Kupfer (ab 4400 und bis 4300 v. u. Z.) und Bronze ermöglichten verfeinerte Werkzeuge und exquisiten Schmuck. In hochkultureller Rückschau dominiert der Schmuck; überlebenswichtig waren jedoch Äxte, mit denen Holz behauen werden konnte, und Schlagsteine, um Werkzeuge und Mahlsteine herzustellen. Werkzeughersteller*innen waren lebens- und kultur-wichtig. 38 Als das Klima ab 4000 v. u. Z. abkühlte, sank die Bedeutung der donauländischen Kultur. Aus den bereits kühleren Steppen, in denen Menschen der Botai-Kultur (Nordkasachstan) das Pferd nutzbar gemacht und gezüchtet hatten, erreichten Hirtenverbände der Suvorovo-Novodanilovka-Kultur das nördliche Donaudelta, dessen riesige Schilf-Flächen

Winterfutter boten. Weder archäologische noch mythologische Zeugnisse deuten auf gewaltsame Auseinandersetzungen, Vertreibung oder Flucht. Hatten Händler die Neuankömmlinge über das Kupfer der Karpaten informiert? Die Verbände waren nicht „Reitervölker“, denn ihre Pferde konnten Menschen noch nicht tragen. Östlich des Kaspischen Meeres entstand die Oxus-Zivilisation (Gonur Depe) mit Blütezeit um 2300. Die Frauen und Männer der Großregion entfalteten eine sprachschaffende Kreativität. Um 8500 v. u. Z., so der gegenwärtige Forschungsstand, entwickelten Ackerbauende mit proto-indoeuropäischer Sprache in Nordostanatolien, vielleicht gemeinsam mit Menschen der Jamnaja-Kultur, in den Steppen des unteren Don-Wolga-Ural-Gebietes die Basis der indoeuropäischen Sprachfamilie. Aus ihr gingen südöstlich das Indo-Iranische und westwärts das Griechische, Keltische, Romanische, Germanische und Slawische hervor. Die Europäer*innen der Gegenwart, die ihren Ursprung in Ostafrika haben, sprechen in Ostanatolien und Zentralasien entstandene Sprachen. Sprachvermittelnd wirkte vermutlich unter anderem eine – für die Zeit – Massenwanderung von Männern aus den Steppen (Ukraine) nach Westen ca. 3000 bis 2500 und von Frauen ca. 2500 bis 1700 v. u. Z. 39

Frühe Menschen haben, um Geweihe einsammeln zu können, vielleicht Rotwild in Großgehegen gehalten. J. D. Vigne, „Domestication ou appropriation pour la chasse: historie d’un choix socio-culturel depuis le Néolithique. L’example des cerfs (Cervus)“, in: Exploration des animaux sauvages à travers le temps, Juan-les-Pins 1993; Frans W. M. Vera, Grazing Ecology and Forest History, Wallingford/Oxford 2007. 39 Wolfgang Haak, Iosif Lazaridis und 37 weitere, „Massive Migration from the Steppe Was a Source for Indo-European Languages in Europe“, Nature (März 2015), https://doi.org/10.1038/nature14317 (5. September 2020); Eske Willerslev, P. de Barros Damgaard und 49 andere, „The First Horse Herders and the Impact of Early Bronze Age Steppe Expansions into Asia“, Science (9. Mai 2018), DOI: https://doi.org/10.1126/science.aar7711 (5. September 2020). 38

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.17 Geräte und Werkzeuge aus Stein und Knochen geschliffen, südliches Waldviertel

Abb. 2.18 a) und b) Bearbeitung von Silex (rekonstruiert): Die Steinwerker stellten Klingen, nicht größer als ein Fingernagel, mit einer Stärke von < 1 mm her

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Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z.

Abb. 2.19 Ausgangsregion und migratorische Verbreitung der indoeuropäischen Sprachen

2.5 Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z. Unter den Verbänden, die das Voralpenland in der Mittleren Stein-Knochen-Geweih-Holz-Zeit erreichten, mögen karpatische Migrant*innen gewesen sein. Sie erlebten um die Mitte des 4. Jahrtausends einen Rohstoffengpass, da sie Oberflächenvorkommen von Erzen und Gesteinen erschöpft, aber noch nicht gelernt hatten, Stollen abzuteufen. In der March-Ybbs-Region entstanden Kulturen und überlagerten sich, zum Beispiel die kupferzeitliche Jevišovice-Kultur, 3100 bis 2600 v. u. Z. Sammler- und Jäger*innen aus der Tardenoisie (Nordfrankreich) ließen sich an der Glan, einem Nebenfluss der Salzach, nieder und entwickelten in der Hügel- und Seenlandschaft die voralpin-alpinen Altheimer (3800–3300 v. u. Z.) und Mondsee-Attersee-Alltagswelten (2800–1800 v. u. Z.). Sie stellten Geräte aus lokal reichlich vorhandenem Material her, importierten spezielle Steinsorten aus den Karpaten und der Ägäis und erhandelten Tierzahn-Elfenbein.

Die Lösszone von Pannonien und voralpinem Flachland ist Teil des Lössgürtels vom Don bis zur Nordseeküste. Die Menschen ernährten sich von selbst Angebautem und konnten durch kleine Überschüsse Spezialist*innen, zum Beispiel Töpfer*innen aus der Donau-Velika Morava-Region, unterhalten. Prospektoren erkundeten inneralpine Gebiete und erkannten verwertbare Erze durch salzhaltiges oder gefärbt austretendes Wasser und Mineral-aufnehmende „Zeigepflanzen“. Die Menschen errichteten ca. 2300 v. u. Z. eine metallerzeugende und -verarbeitende Industrie-Kultur und benötigten Logistik und Mobilität für die Zulieferung von Nahrungsmitteln und den Abtransport ihrer Produkte. Über zehn Jahrhunderte nahm die Bevölkerung zu, Händler*innen verbreiteten das Wissen über Ressourcen entlang ihrer Wege. Menschen gingen zu Orten, über die sie Informationen hatten, selten oder nie orientierungslos „in die Fremde“. Migrant*innen verließen differenzierte Sozial53

Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.20 Kulturwandel: Formgebungen der Keramik-Spezialist*innen nach 4500/ 2000 v. u. Z.

räume und entwickelten bei Niederlassung je nach Umwelt spezifische Kulturpraktiken: die westpannonische (Proto-) Lengyelkultur seit ca. 4700/4300, die mährisch-niederösterreichische Střelice (Strelitz)-Kultur, Kontakte zur Bükk- und nachfolgenden Theiß/Tisza-Kultur im heutigen Ungarn und westlich die großräumlichen Rössener und Michelsberger sowie die kleinräumlichen Chamer und Munzinger Kulturen (heutiges Bayern). In den Gebieten zwischen Enns und Inn besiedelten Zuwander*innen zuerst und langfristig Höhenzüge sowie Inselberge entlang der Salzach und der Saalach. Archäologen benannten die etwa ein Jahrtausend später lebenden ostpannonisch-karpatenländischen Kulturschaffenden (bis ca. 2800 v. u. Z.) je nach Perspektive und Nationalität als Badener Kultur (österreichisch), Péceler Kultur, Baden-Pécel, als BolerázGruppe (ungarisch) oder Promienista-Kultur (polnisch). Die Gemeinschaften beeinflussten materielle Kulturen bis in Drau-Save- sowie Elbe- und donauaufwärts liegende Gebiete. Über anderthalb Jahrtausende schufen und lebten die Menschen eine reiche kulturelle Vielfalt. Transkontinental und zirkumliteral handelten 54

Kleinhändler*innen, Flussschiffer, Großhändler, Seeschiff-Investoren und Seeleute mit Praktischem ebenso wie Schönem. Baltischer Bernstein – fossiles Harz, dem auch medizinische Wirkungen zugeschrieben wurden – fand zahlungskräftige Abnehmer*innen an Donau, Rhône und südlich der Alpen; Perlen aus dem ägyptisch-levantinischen Raum und Schmuck-Muscheln von vielen Orten begehrten Käufer*innen bis an die Atlantikküste. Um 3000 v. u. Z. lernten die Menschen vierrädrige Karren zu bauen und Rinder als Zugtiere einzuspannen sowie, beeinflusst durch östliche Hirtengemeinschaften, größere Pferde zu züchten. Später lernten sie massive Holzräder durch leichte Speichenräder zu ersetzen. Kulturräume waren nicht „globalisiert“, aber Menschen an spezifischen Orten wussten um wertvolle Rohmaterialien und Fertigprodukte an fernen anderen. Obsidian-Klingen erleichterten im Vergleich zu zerbrechlichen Knochengeräten die Fellbearbeitung und Fleischverarbeitung. „Ausgetretene“ Wege verwandelten Naturlandschaften in mentale Öko-scapes. Wie die Karpaten-Bewohner*innen vor ihnen, handelten Alpen-Ansiedler*innen die wertvollen,

Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z.

Abb. 2.21 Kulturwandel: Lengyel- und Theiß-Kulturraum nach 4700 v. u. Z.

Abb. 2.22 Isolationistische Sicht: Keramiker*innen-Kulturen in „Österreich“, 17.–15. Jh. v. u. Z. Diese aus einem national vorgehenden Standardwerk zitierte Karte (J.-W. Neugebauer, Österreichs Urzeit. Bärenjäger, Bauern, Bergleute, Wien 1990, 113) reproduziert Information korrekt, aber losgelöst von ihrem räumlich-humangeschichtlichen Kontext.

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.23 Kulturen in transeuropäischer Sicht, 2200–2000 v. u. Z.

wenn auch schweren Rohstoffe und Halbfertigprodukte über große Entfernungen: Silex (Feuerstein, Flint) aus den Kalkalpen; Bergkristall, dessen Schneidkraft seit Jahrzehntausenden bekannt war; Werkzeug-tauglichen Grünstein aus Höhenlagen im Kleinwalser-Tal und den Allgäuer Alpen; das seltene Jadeit vom Monte Viso und Monte Begua (Piedmont). Bis über 2000 m Höhe sprengten sie durch Feuersetzen Material und schlugen Rohstücke für Beile; die Endfertigung erfolgte in Talsiedlungen. Aus Silex-Rohlingen fertigten sie in Zuschlagtechnik Faustkeile, später durch Abschlagtechnik messerscharfe Klingen und Mikroklingen. Händler vermarkteten Jadebeile bis in die Bretagne 40 und trugen Kupfergeräte von transsylvanischen „Nachbarn“ zu Menschen in Alpentälern. Spezialist*innen verfeinerten das Töpferei-

Handwerk, auch „Hafnerei“ genannt, zu hoher Perfektion. Ihre Wahr-nehmung ließ Naturgegebenes zu Roh-Stoff zum Ver-Arbeiten werden: Sie erkannten Fixes und Ton als formbar; erprobten das Trocknen ihrer Produkte in der Sonne; lernten, dass sie durch mineralische Zuschläge härten und einfärben konnten; experimentierten, wie sie mit Feuer härten und nach Investition in Öfen Eigenschaften durch Temperaturvariation und Atmosphäre im Brennraum beeinflussen konnten. Sie produzierten „brandneue“ Gefäße für Vorräte und als Kultobjekte. Da ihre Produkte zerbrechlich und Transport zeit- und kostenaufwändig waren, wanderten Töpfergemeinschaften zu Abnehmer*innen, denn Tonvorkommen gab es an vielen Orten. Die Bandkeramiker*innen im Voralpenland waren, wie DNAUntersuchungen zeigen, nicht mit den Sesshaften

Silex: aus Meerestierchen vor Jahrmillionen entstandenes spaltbares Kieselgestein; Grünstein: basaltisch mittelkörnig, schleifbar; Jadeit: kristallines Silikat, oft mit faseriger oder verfilzter Struktur. Lippert, Wirtschaft und Handel, 93–94; Jean-Pierre Mohen und Christiane Eluère, L’Europe à l’âge du bronze, Paris 1999.

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Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z.

verwandt. Anhand ihrer Produkte können moderne Forscher*innen den meso- und makroregionalen Austausch von Form- und Dekorationsstilen nachvollziehen. Mitteleuropäische Töpfer*innen begannen ab 2600/2500 eine neue „Glockenbecher“Formgebung. Sie war begehrt und lokale Fachleute ahmten aus der Ferne erhandelte Gefäße nach. 41 Alle trafen Entscheidungen: Die Menschen der Badener Kultur adaptierten die neuen Formen, die der Mondsee-Kultur blieben traditionell, die des inneralpinen Raums scheinen, vielleicht angesichts der längeren Wege, eigenständig geblieben zu sein. Die Herstellung zunehmend großer Vorratsgefäße seit 1500 v. u. Z. erforderte wachsendes fachliches Können und entsprechend große Öfen. In Individualisierungsprozessen entwickelten Keramikwerker*innen komplexere und fantasievollere Dekorationen, setzten künstlerische Empfindungen und spirituelle Vorstellungen in Gegenständlichkeit um und verbanden Ornamentales und Kultisches. 42 Hatten Töpfer*innen angesichts ihrer Kreativität spirituelle Aufgaben? Anthropomorphe Gefäße deuten auf eine Verwobenheit von Alltag und Kult. Schufen auch Holzwerker*innen kultische Gegenstände, die die Zeiten nicht überdauert haben? Funde im Handelszentrum Roseldorf (Niederösterreich) deuten darauf hin. Überfamiliäre Verbände gewährleisteten wirtschaftliche Sicherheit, Perspektiven und Austauschbeziehungen, Verwandtschaftsökonomien das physische Überleben. Über zweieinhalb Jahrtausende verbesserten sie gemeinsam Wohnstätten, Nahrung und Kleidung. Die Gemeinschaften der MondseeAttersee-Kultur und im Gebirge bauten sich bis zu 6 x 4 m große Häuser, landseitig auf Steinsockeln, an Seeufern auf Pfählen. Sie behauten Stämme zu Balken und fügten sie zu Rahmen und Dach, verbanden sie durch Kerben, Schlitze, einfache Zapfen und Scherzapfen 43, Dübel und Holzstifte. Sie legten Fußböden aus waagerechten Grundschwellen und errichteten Wände aus Flechtwerk mit Lehmverstrich. Die sehr solide Konstruktion erforderte gute

Zimmereikenntnisse und lokal hergestelltes oder importiertes, scharfkantiges und aufgabenspezifisches Werkzeug. Die Menschen ernährten sich weiterhin von Wildfrüchten und -samen und begannen Gemüseund Obstanbau (Horti-Kultur) sowie Getreideanbau (Agri-Kultur). Sie höhlten Einbäume aus und lernten Harpunen und Angelhaken aus Hirschgeweih, Reusen aus Korbgeflecht und unterschiedliche Netze mit Nadeln herzustellen. Die feinen und wertvollen Nadeln bewahrten sie in ausgehöhlten Knochen auf. Da Jagd zeitaufwändig war, trugen Jäger im Vergleich zu Sammelnden wenig zum Kalorienbedarf bei. Geweihe und Knochen waren jedoch unabdingbare Rohmaterialien für Werkzeug und Schmuck, die besonders harten Gämsenknochen für Spezialwerkzeuge, feuergehärtetes Hirschgeweih zum Spalten von Feuersteinen für Äxte und Messer, hartes Bergahornholz für Schäfte. 44 Fleisch lieferten Rind und, je nach Region, in zweiter Linie entweder Schwein und Schaf oder Ziege. Mangels Winterfutter mussten die Menschen Vieh, mit Ausnahme von Zuchttieren, im Herbst schlachten. 45 Kleidung nähten sie sich aus Fellen und für die Verarbeitung von Wolle, Lein und Flachs erfanden sie Webstühle; Arbeitsgeräte für Küche und Feld stellten sie aus Holz her: Quirle, Löffel, Schalen, Schaufeln, Spindeln, Spinnrocken und andere. Sie konnten zählen, abstrakte Zeichen verwenden und nutzten Kerbhölzer für Abrechnungen. Kühle Erdgruben dienten der Vorratshaltung. Sie nahmen Praktiken aus dem östlichen Mittelmeerraum auf und entwickelten eigene: Ihre Fähigkeiten mussten genau auf lokale Böden und das jeweilige Klima abgestimmt werden. Abfallgruben der Zeit sowie luftlos abgeschlossene Seeufer- und Moorablagerungen geben Forscher*innen Aufschluss über ihre Lebensweisen. Am Mondsee Lebende betrieben im 4. Jahrtausend v. u. Z. eine Steinwerkzeug-Manufaktur für die gesamte Region. Sie ließen sich aus Moränen-Ablegungen Steine in etwa anderthalb Dutzend Sorten

Andere Forscher*innen vermuten den Beginn der Neuerung im Rheintal. Da nachfolgend Bronze-Werkstücke nahe an Erzvorkommen gefertigt wurden, waren sie europaweit relativ gleichförmig. 42 Die kreative Verbindung von Praktischem und Schönem ist im Englischen deutlich: Die Künste (arts) Ausübenden sind „art-isans“ und „art-ists“, Handwerker und Künstler. 43 Zapfen eines Balkens, eingepasst in den gegengleichen Schlitz eines anderen. 44 M. R. Jarman, „European Deer Economics and the Advent of the Neolithic“, in: E. D. Higgs (Hg.), Papers in Economic Prehistory, Cambridge 1972. 45 Am südwestlichen Alpenrand – den zentralfranzösischen Höhlenkultorten am nächsten gelegen – stellten sie ihre landwirtschaftliche Tätigkeit in Felszeichnungen dar. 41

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.24 a) Getöpferte Gebrauchsgegenstände

liefern, bearbeiteten sie durch Schlagen und Schleifen zu Äxten, Hobelmessern, Sägen und Sägeplättchen mit unterschiedlichen Schäftungsformen und boten Griffe aus gegabelten Zapfen aus zehn Holzarten an. Die Herkunft ihres vulkanischen Gesteins ist nicht geklärt; Serpentinit verwendeten sie wegen der hervorragenden Schleifeigenschaften besonders oft. Ferne „Kolleg*innen“ in Rijckholt (Limburg, Niederlande) analysierten nach ca. 4000 v. u. Z. die Feuersteinqualität unterschiedlicher Kreideschichten und ergruben in anderthalb Jahrtausenden etwa 20.000 Tonnen Silex der höchsten Qualität, verarbeiteten die Rohlinge zu Klingen und Halbfertigprodukten und belieferten einen überregionalen Markt. Nicht weit entfernt, im Hennegau (Spien46

nes, Belgien), betrieben Steinwerker*innen der Michelsberger Kultur (Pariser Becken bis MittelrheinGebiet, 4400–3500) etwa 8000 Schächte von bis zu 15 m Tiefe. 46 Am Beispiel eines Mannes, dessen gefrorene Leiche 1991 gefunden wurde, lässt sich eine Vorstellung vom Leben im Alpenraum um etwa 3250 v. u. Z. gewinnen. Seine Mutter war alpiner, sein Vater asiatischer Herkunft. Er war etwa 1,60 m groß, wog zwischen 50 und 60 kg und fand, ca. 45 Jahre alt und vermutlich von Süden kommend, seinen Tod in der eisigen Gletscherlandschaft der Ötztaler Alpen (Südtirol). Seine nur gering abgenutzten Gelenke zeigen, dass er keine schwere Arbeit hat leisten müssen, die Metallkonzentration in seinen Haa-

Violetta Reiter, Ressourcenmanagement im Pfahlbau. Technologie und Rohmaterial der Steinbeilklingen vom Mondsee, 2 Bde., Wien 2013.

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Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z.

Abb. 2.24 b) ritzverzierte Tontöpfe und Schalen mit plastischem Dekor, eiserne Pfeilspitzen, Messerklingen (Horner Becken, Waldviertel) Vielfach werden als Illustration für die töpferischen Leistungen der Frühzeit gut erhaltene und schöne Gefäße gezeigt. Die hier gewählten scheinen eher im Alltag gedient zu haben – oder verweisen auf soziale Differenzierung: Wer konnte sich wieviel Dekor leisten?

ren, dass er vermutlich in der Nähe von Kupferverhüttung gelebt hatte; die Mineralien seiner Zähne deuten auf das Eisacktal, 47 ihre Abnutzung auf Getreide- und Fleischnahrung. Tätowierungen, zum Teil an therapeutischen Punkten, mögen auf Akupunktur-Kenntnisse deuten. Er trug einen Fellmantel, mit Tiersehnen genähte Beinlinge und gepolstertes Schuhwerk, darüber einen Schutzmantel aus Grasbinsen. Derartigen Witterungsschutz, leicht im do-it-yourself-Verfahren herzustellen, trugen mobile Schafhirten im Balkan bis zum Beginn des

20. Jahrhunderts. Die Klinge seines im Süden hergestellten Beils mit Knieholzschaft bestand aus Kupfer; sein Bogen aus Eschenholz ermöglichte eine Jahresring-Datierung; Spitzen und Befiederung seiner Pfeile waren mit Birkenpech verklebt, die Köcherklappe kunstfertig genäht. Sein Magen- und Darminhalt zeigte die in den letzten Lebenstagen aufgenommene Nahrung, Vitamine bezog er aus der Frucht der Schlehe. Er trug einen Glutbehälter, um Feuer entzünden zu können, hatte also einen längeren Weg geplant. Eine schwere Verletzung be-

Die Analyse des Vorkommens von Strontium- und Sauerstoff-Isotopen, abgelagert im Zahnschmelz, zeigt die Strahlungsintensität der Umwelt, kann also besonders kindliche Aufenthaltsorte identifizieren.

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.25 „Ötzi“, multidisziplinär rekonstruiert (Stand 2011)

legt eine Verwicklung in Gewalt. „Ötzi“ hatte als handelndes und denkendes Individuum gelebt. 48 Der Fokus auf die in Donau- und Alpenregion und im gesamten Europa Lebenden und sich Bewegenden darf nicht zu einem lokal oder eurozentrisch verengten Blick führen. Aus dem Lechtal südlich von Augsburg wanderten junge Menschen of-

fenbar ab und kamen später zurück, exogam heiratende Frauen wanderten zu. Ein in den Alpen geborener Mann wurde bei der Kreisanlage Stonehenge (England, ca. 2350 v. u. Z.) begraben, eine aus dem Schwarzwald stammende Frau in Dänemark. Frauen aus Steppenkulturen wanderten von ca. 2800 bis etwa 1500 v. u. Z. in das Voralpenland und transferierten Metalltechnologie. Sie alle müssen entlang ihrer Routen Unterkünfte gefunden haben und, vermutlich gemäß zwischen Verbänden geteilten Protokollen über die Beherbergung Fremder, Sicherheit haben erwarten können. 49 Andere Menschen entwickelten gleichermaßen komplexe Kulturen weltweit. Als Beispiel mögen Gesellschaften im nordöstlichen Thailand und Vietnam dienen: Um 3000 v. u. Z. verwendeten die Menschen Bronzegeräte; um 500 v. u. Z. betrieben Spezialist*innen bei Non Nok Tha (Khon Kaen Provinz) Eisenmanufakturen und stellten Querhacken in wiederverwendbaren Sandstein-Gussformen für den Export her. Zur gleichen Zeit exportierten Bewohner*innen von Dong-son (am Ma-Fluss) Trommeln für rituelle Zwecke in den südostasiatischen Raum bis nach Neu-Guinea. Sie hatten regional spezifisch um 7500 v. u. Z. gelernt Leinen herzustellen, um 7000 Wolle, um 5000 Baumwolle, um 2640 Seide. 50 Europa-zentrische Historiker-Ideologen haben diese globale Vielfalt nicht verstanden; ihre Griechenland-Hellenismus-Verehrung, die Martin Bernal schon 1987 kritisierte, verdeckt, versteckt und vergisst vieles. Ihre weiß-häutige, griechische Athene als Trägerin von Erkenntnis und Weisheit hatte in der „schwarzen Athene“ Ägyptens eine Schwester. 51 Dort erprobten um 2900 v. u. Z. Handwerker*innen die Herstellung von Glas und ihre Nachkommen stellten um 2700 Bronze her; diejenigen im Ostseeraum erlangten diese Fähigkeit erst 1000 Jahre später. Um 2500 errichteten sie Großgräber, sogenannte Pyramiden; um 1450 entwickelten sie Bla-

Lippert, Wirtschaft und Handel, 45–46. Südtiroler Archäologiemuseum (Bozen), Naturhistorisches Museum (Wien), Freilichtmuseen im Ötztal und Schnalstal. 49 Robert Schumann und Sasja van der Vaart-Verschoof (Hg.), Connecting Elites and Regions. Perspectives on Contacts, Relations and Differentiation during the Early Iron Age Hallstatt C Period in Northwest and Central Europe, Leiden 2017; Corina Knipper u. a., „Female Exogamy and Gene Pool Diversification at the Transition from the Final Neolithic to the Early Bronze Age in Southern Germany“, PNAS, 5. September 2017, https://doi.org/10. 1073/pnas.1706355114 (2. Oktober 2019). 50 Colin Mason, A Short History of Asia, Houndmills 32014, 31–32; Donn T. Bayard, „Excavation at Non Nok Tha, Northeastern Thailand, 1968. Interim Report“, Asian Perspectives 13 (1970), 109–143. 51 Martin Bernal, Black Athena. The Afroasiatic Roots of Classical Civilization: The Fabrication of Ancient Greece, 1785–1985, 3 Bde., New Brunswick 1987– 2006. Bernals Argument löste eine intensive, zum Teil rassistisch-ablehnende Debatte aus. Seither ist cross-fertilization weitgehend akzeptiert. Edith Hall, „When Is a Myth Not a Myth? Bernal’s ‚Ancient Model‘“, in: Thomas Harrison (Hg.), Greeks and Barbarians, New York 2002, 133–152. 48

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Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z.

sebalg und Wasseruhr. Keramiker*innen in der benachbarten südwestasiatisch-iranischen Hochebene entwickelten die Töpferscheibe. Levantinisch-urbane Seehändler befuhren im 1. Jahrtausend v. u. Z. mittelmeerische Routen und atlantische Küstengewässer. Für die notwendige Tele-Kommunikation entwickelten sie Alphabet und Zeitrechnungen. Wollten sie, wenn sie sich im Westen befanden, an ihr Zuhause, ihre Familien erinnern, dann blickten sie nach Osten – sie orientierten sich. Sterngucken als Methode der Ortsbestimmung entwickelten sie zur Astronomie. Kreisförmige, auf Himmelsphäno-

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mene ausgerichtete Anlagen am Rand des Waldviertels (5000 v. u. Z. bis zur keltischen Eisenzeit) deuten auf entsprechende Kenntnisse dort. 52 Karawanen-Händler erreichten in China Menschen, die komplexe Bewässerungsanlagen geschaffen hatten, in Südostasien solche, die komplexe Stoffe webten, und im östlichen Großraum Handwerker*innen, die das Brennen von Keramik und ihre Vertrautheit im Umgang mit hohen Temperaturen zum Schmelzen von Eisen- und anderen Erzen nutzten. Erst sehr viel später lernten Erzwerker-Familien in der Alpenregion, norisches Eisen zu produzieren.

Pieler u. a., Waldviertel, 160–166.

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3 Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z. Die Topografie des Voralpen- und Alpenraums bot wie gebirgige und hügelige Gebiete weltweit den Menschen Vor- und Nachteile. Hügel waren schwerer zu bewirtschaften als Flachland, ermöglichten aber, je nach Höhe, die Nutzung unterschiedlicher Pflanzen und Erntezeiten. Auch konnten die Menschen nahe Berge erkunden und sie sich neu-gierig

Abb. 3.1 Metall- und Bernsteinhandel in West- und Nordeuropa, um 2000 v. u. Z.

aneignen. Für Bergkristall, Kupfer, Silber, Gold und anderes mussten sie ihren Blick entwickeln und probieren, diese Kuriositäten in Rohstoffe und in einem weiteren Schritt in Gebrauchsgegenstände zu ver-wandeln. Sie traten Pfade aus und Flüsse erleichterten den Transport. Für die Lebenden zählten Endprodukte, für die Zukunft ihrer Kinder war ein kontinuierliches Erproben, Entwickeln, Verfeinern von Fähigkeiten entscheidend. Von Natur zu Hand-werk, Kunst-fertigkeit und Verfahrens-technik: lat. genius als erzeugende Kraft. Bei ihrem Suchen fanden sie, wie andere in den Karpaten und im nahen und fernen Osten, Kupferkies und erkannten, dass sich dieser Rohstoff durch

Wärme in verwendbare Materialien umwandeln ließ. Fachleute für Hochtemperaturprozesse übertrugen um 3400 v. u. Z. ihre Fähigkeiten von der Keramik- auf die Kupferbearbeitung: vom Begehen der Bergwelt zu ortsfester, chemisch-physikalischer Metallverhüttung. Kupfer war weich und für Werkzeuge brauchten die Menschen ein härteres Metall: Sie experimentierten und „produktive Fehler“ halfen. Um 2300/2200 gelang es ihnen, Bronze als Legierung aus Kupfer und Zinn herzustellen. Doch Zinn gab es in ihrem Wirtschaftsraum nicht. 1 Mittelmeerisch-urbane phönizische Seehändler und Seeleute, die Routen zu reichen Vorkommen in Cornwall entwickelten, 2 verbanden dortige Zinnbergwerker-Familien mit Bronzegießer-Familien in den Alpen. Statt „Familien“ wäre Haus- oder Wirtschafts-Genossenschaft die ökonomisch und sozial angemessenere Bezeichnung, drückt aber weder die emotionalen Bindungen noch die Fürsorge für Kinder innerhalb der Gemeinschaften aus. Die Menschen der Alpenregion lernten zwischen etwa 1300 bis 750 v. u. Z. Eisen herzustellen. Andere in Anatolien hatten dies ein Jahrtausend früher erreicht, doch ihr Wissen, ihre „Patente“, geheim gehalten. Ihre nützlich-ornamentierten Geräte und Gegenstände ermöglichen die Rekonstruktion und Periodisierung von Kulturen, benannt nach den ersten wichtigen Fundorten: Hallstatt (Region Salzburg) oder Kalenderberg (Westrand Pannonische Ebene), 8. bis 6./5. Jahrhundert v. u. Z., und Latène (Westschweiz), Mitte 5. bis Ende 1. Jahrhundert v. u. Z., beide von trans-, aber nicht gesamteuropäischer Ausdehnung. Die materielle Kultur bis zum 5. Jahrhundert ist Thema dieses Kapitels, die Latène-Kultur und die vielkulturellen Zuwanderungen und Ansiedlungen bis ins 7. Jahrhundert u. Z. das des nachfolgenden. Ihre spirituellen Vorstellungen stelle ich im 5. Kapitel in den Vorder-

Kleinere Vorkommen im Harz, Erzgebirge und Mittelitalien waren noch nicht bekannt. Die Emissionsspektralanalyse der Zusammensetzung von Erzen, Schlacken und Werkstücken analysiert Fundort-spezifische Spurenelemente, die sich im Schmelzprozess nicht ändern. Die Herkunft des verwendeten Zinns wird weiter debattiert. Heide W. Nørgaard, Ernst Pernicka und Helle Vandkilde, „On the Trail of Scandinavia’s Early Metallurgy: Provenance, Transfer and Mixing“, PloS ONE 14(7): e0219574, 24. Juli 2019, https://doi.org/ 10.1371/journal.pone.0227504 (6. September 2020).

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Bronze herstellende Gesellschaften: Neue Ressourcen, neue Hierarchien

grund. Waren Materielles und Spirituelles eine Einheit? Die nordische Mythologie und ihre englische Adaption kannten die magischen Kräfte des Schmiedes Völundr/Wayland; Grob- und Schwertschmiede waren Töpfern in Griechenland um 500 v. u. Z. darstellungswürdig. In Kulturverbänden der Sahelzone arbeiteten Frauen als Töpferinnen und

Männer als Schmiede gemeinsam, denn beide benötigten hohe Temperaturen und letztere Gussformen aus Ton. Schmiede hatten angesichts ihres Umgangs mit der Kraft des Feuers oft kultisch-religiöse Funktionen, Töpfer*innen in Pannonien schufen dreigesichtige und anthropomorphe Gefäße mit spiritueller Bedeutung.

3.1 Bronze herstellende Gesellschaften: Neue Ressourcen, neue Hierarchien Anders als Keramikwerker*innen waren Bergwerker- und Schmelzer-Familien ortsgebunden. In der Großregion fanden sie gediegenes Kupfer und Freigold zuerst im ressourcenreichen Transsilvanischen Erzgebirge. „Finden“ und „Nutzen“ sind Kürzel für die Erkenntnis- und Arbeitsschritte Aufsuchen, Aufschließen, Abbau, Aufbereitung der Stein-, Erzoder Salzbrocken, Grubenausbau mit Fahrung, Förderung, Wasserhaltung, Wetterführung, Beleuchtung, Weiterverarbeitung durch Schmelzen – all dies eingebettet in Weltbilder und mental maps der umgebenden Kräfte. Aus dem Erzgebirge belieferten Händler-Familien Mitteleuropa bis Südskandinavien. Um 1600 v. u. Z. erschlossen Zuwander*innen die Kupferfundstätten der alpinen Grauwackenzone. An der ergiebigsten, Mitterberg am Hochkönig an der Südseite des Salzachtals, arbeiteten in etwa 1400 m Höhe um 1250 v. u. Z. bis zu 1000 Bergleute (gender- und generationsneutral) in Schächten von bis zu 180 m Tiefe. Kinder mussten Erze in engen Strecken hauen und transportieren: schmale Gänge, geringerer Aufwand. 3 Brechen und Scheiden – wie der Rücktransport tauben Materials zum Versetzen der Gänge – war meist Frauenarbeit: Sie zerkleinerten mit Klopfsteinen die geförderten Brocken trockenmechanisch und trennten in Wassertrögen unter Ausnutzung des spezifischen Gewichtes das Kupfer nassmechanisch aus dem Grus.

Schwefel wurde anschließend in einem – umweltschädigenden – Röstvorgang herausgelöst; Schmelze erforderte Quarz- und Spat-Zuschlag und Blasebälge für die hohen Temperaturen. Männer und Frauen strukturierten Arbeitsprozesse, entwickelten Verhüttungsanlagen und erzeugten über ein Jahrtausend ca. 20.000 Tonnen, in der gesamten alpinen Region ca. 50.000 Tonnen Rohkupfer. Es handelte sich um ein „technologisch und logistisch eng zusammenhängendes Geflecht von Revieren“. 4 Andere förderten Gold besonders im Karpatenraum und Blei besonders in Littaj (bei Laibach/ Ljubljana). Bergwerker-Familien übertrugen ihre chemisch-technischen Erfahrungen von Bronze auf Eisen zuerst bei Tillmitsch (Steiermark). In der Veredelung waren Männer und Frauen tätig; eine mit Steingeräten, Amboss, Hammer- und Schlagsteinen begrabene Frau (Geitzendorf, Niederösterreich) war offenbar als Schmiedin respektiert oder stand dem Beruf nahe. 5 An der Grube bei Schwaz (Tirol) entstand vermutlich durch Zufall als Nebenprodukt beim Schmelzen blau- und rotgefärbtes Glas und die Arbeiter*innen diversifizierten ihre Produktpalette durch Schmuckperlen. 6 Die Versorgung der Erzwerker-Familien erforderte agrarische Überschüsse in benachbarten Talregionen und Handwerker*innen, um ihren Bedarf an Keramikgegenständen und Werkzeugen zu decken. Die Erschöpfung der Vorkommen – im

In einer um 4000 v. u. Z. benutzten Radiolaritgrube bei Wien wurden Kinderskelette in verfüllten Strecken gefunden, in einer schmalen Ader eines antiken südwestafrikanischen Bergwerks das Skelett eines Mädchens. 4 Gerd Weisgerber, „Montanarchäologie. Grundzüge einer systematischen Bergbaukunde für Vor- und Frühgeschichte und Antike“, Anschnitt. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau 41.6 (1989), 190–204, und 42.1 (1990), 2–18; Thomas Stöllner, „Der vor- und frühgeschichtliche Bergbau in Mitteleuropa bis zur Zeit der Merowinger“, in: Christoph Bartels und Rainer Slotta (Hg.), Der alteuropäische Bergbau. Von den Anfängen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Münster 2012, 25–110, hier 54–63, Zitat 58–59. Schmelzöfen (später „Hoch-“ Öfen) waren oft hüfthoch und ergaben je Schmelzvorgang nur geringe Mengen, später, im 9./10. Jahrhundert, 2–3 kg Metall. 5 Niederösterreichisches Urgeschichtemuseum, Asparn/Zaya; archäologischer Teil des Fabricius-Museums, Sopron. 6 Richard Pittioni, Urzeit von etwa 80.000 bis 15 v. Chr. Geb., 2 Bde., Wien 1980, 1:33–41; Otto H. Urban, Wegweiser in die Urgeschichte Österreichs, Wien 1989, 125–132. 3

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

5. Jahrhundert in Mitterberg 7 und im 1. Jahrhundert v. u. Z. in Schwaz – bedeutete sinkenden Arbeitskräftebedarf und, mangels Ein- und folglich Auskommen, Notwendigkeit zur Abwanderung: aus Not Hin-wendung zu Neuem. Rezession und Abwanderungsdruck trafen auch die Zulieferanten-Familien. Die Erforschung lebendiger Alltagskultur schloss die Spiritualitäten der Totenbräuche ein. Vom Peloponnes bis ins nördliche Mitteleuropa veränderten die Menschen ihre anderweltlichen Vorstellungen und gingen von Hocker- oder Flachgräberkulturen (ab 2300/2200 v. u. Z.) über die Hügelgräberkultur 8 (ab 1600/1500) zur feuerbestattenden Urnenfeldkultur (ab 1300/1200) über. Im Vergleich zu den vorangegangenen agri-kulturellen Gesellschaften deuten Grabbeigaben in zentralen Orten und Produktionszentren auf Hierarchisierung. Um 2000 entwickelten Machteliten eine „Streit-“ oder „Prunkaxt“-Kultur oder setzten sie gewaltsam durch. Luxusutensilien und aufwändige Befestigungsanlagen, deren militärischer Sinn nicht deutlich ist, dienten vermutlich der Schaustellung. Die Menschen scheinen in dieser Zeit weder Kriege noch Raubzüge geführt zu haben, doch ermöglichten Handelswege und Erzlagerstätten die Akkumulation von Ressourcen und Reichtümern. Eliten von der oberen Donau bis zum Ostalpenraum ließen sich Luxusgüter unter anderem von GoldwerkerFamilien der Karpaten liefern und manche ihrer Knochen- sowie Bronzewerkstücke zeigten „mykenische Spiralverzierung“. Bestanden Beziehungen zu dieser Kultur im Peloponnes, in Attika und Kreta (1700–1100 v. u. Z.)? Oder handelte es sich um eine eigenständige Entwicklung? Gold aus Zentralasien importierten Händler*innen bis ins nördliche Elbe-Ems-Gebiet. Körperlichkeit reflektierte Arbeit und Reichtum: je mehr Arbeit, desto abgenutzter Gelenke und Knochen; je geringer die Körpergröße, desto geringer auch die Grabbeigaben. Männer der Oberschicht waren im Durchschnitt 170 cm groß, die der ärmeren Schichten nur 166 cm: hierarchisierte Körper. 9 Die Wohlhabenden – in späteren Begriff-

lichkeiten rückprojizierend oft als Adel, Fürsten, Krieger oder Salzherren bezeichnet – stützten sich auf Familienökonomien. Bezeichnungen wie „Herrenschicht“ oder „Salzherren“ und die Einengung auf Herr-schaft blendet die Beteiligung von Frauen aus. Doch gehörten zum Leben der Herren gutes Essen, Sex und der Wunsch Kinder zu haben. Frauen benötigten für die Hauswirtschaft ManagementFähigkeiten. Nach den Bevölkerungsbewegungen am Wechsel zum 2. Jahrtausend (s. Kap. 2.5) veränderten Natur und menschliche Macht vom 15. bis 13. Jahrhundert Netzwerke erneut tiefgreifend. Ein Vulkanausbruch bei der Insel Thera (Santorin) um 1613 v. u. Z. bewirkte regionale Flucht- und Wiederbesiedlungs-Migrationen. Durch Aschenflug verursachte Kälte ließ in den Alpen die Waldgrenze sinken und dort Lebende mussten die Nutzung hochalpiner Viehweiden und Verehrungsstätten ändern. Im Osten kühlte das Klima um 1200 deutlich ab und in Kleinasien bedrückte ein raubgieriger Hethiter-Herrscher Untertanen, Vasallen und Nachbarn. Verbände, die sich vermutlich aus seiner Herrschaft lösten, wanderten aggressiv über-see und -land. Sie zerstörten die Mykenische Kultur (17.–11. Jh. v. u. Z.) und griffen als, laut ägyptischer Bezeichnung, „Seevölker“ im Niltal ein. Menschen dorischer und später äolischer und ionischer Kultur wanderten in die Ägäis-Attika-Peloponnes-Region, italische zur Apennin-Halbinsel, illyrische in den westlichen Balkan. In der Steppenzone bewegten sich „Kimmerer“ (9. Jh.), „Thraker“ und „Makedoner“ bildeten sich im 7. Jahrhundert vermutlich durch Gemeinschaften zugewanderter und einheimischer Familien. So wie Optionen – zum Beispiel Erzvorkommen oder fruchtbare Ebenen – Migration anregten, induzierten oder erzwangen (besser) Bewaffnete und Kriege sie. Bedrängte und vertriebene Verbände, Familien und Einzelne mussten sich neue Sozialräume suchen und in Ankunftsgesellschaften re-agierten Ansässige auf sie. Dies alles lässt sich nicht auf „Athen-Sparta“ und „Rom“ als Ursprung „europäischer Kultur“ reduzieren. 10

Das Vorkommen wurde erst 1827 wiederentdeckt und zum größten Kupferbergbau in Habsburg-Österreich entwickelt. Dieser auf die weit sichtbaren Gräber der Oberschicht fokussierte Begriff grenzt sozial aus, denn für die Unterschichten gab es nur Flachgräber. Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hg.), Die Welt der Kelten. Zentren der Macht – Kostbarkeiten der Kunst, Stuttgart 2012, 92–93. 9 Vgl. Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 2001, 23–29. 10 Christel Müller, „Mobility and Belonging in Antiquity: Greeks and Barbarians on the Move in the Northern Black Sea Region“, in: Ulbe Bosma, Gijs Kessler und Leo Lucassen (Hg.), Migration and Membership Regimes in Global and Historical Perspective, Leiden 2013, 23–50. 7

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Transeuropäische Kulturen, vielfältige lokale Eigenarten, veränderte Kontaktzonen

Abb. 3.2 Kulturregionen und mittelmeerische Diasporen vor dem 4. Jh. v. u. Z.

3.2 Transeuropäische Kulturen, vielfältige lokale Eigenarten, veränderte Kontaktzonen An die bronzezeitliche südliche Urnenfelder- und die eng verbundene Lausitz-Kultur im Nordosten schlossen die bronze- und eisenzeitlichen Hallstattund Latène-Kulturen an. Sie umfassten etwa die gleiche Makroregion, jedoch mit veränderten Schwerpunkten materiell-kultureller Produktion und mit neuen Formgebungen. Kunstwerker*innen gestalteten Artefakte mit kultisch-fantasievoller Formensprache in meso- und mikroregionalen Formdialekten: All-gemeines und Eigen-artiges. Eine imaginäre, im alltäglichen Kontakt poröse Süd-Nord-Linie entlang Enns, Moldau, Oberelbe trennte östliche und westliche Ausdrucksformen. Die Eisenbearbeitung bewirkte makroökonomisch wie alltagsweltlich tiefgreifende soziale Veränderungen. Um 1000 v. u. Z. hatten BronzeNutzende ihre frühen dörflich-unbewehrten Wohnstätten zu ausgedehnten Flachlandsiedlungen erweitert. Die Oberschichten, die die Kupfer- und Zinnhandelswege zwischen Mittelmeer, Cornwall

und baltischem Raum kontrollierten, lebten in befestigten Wohnanlagen auf Hügeln. Diese zentralen Orte verloren mit dem Aufstieg und durch die Konkurrenz von Eisen Produzierenden ihre Bedeutung, die Eliten ihre Stellung, die werkenden Familien ihr Einkommen. Hinzu kam eine Klimaverschlechterung. Neue materielle Produkte, neue gesellschaftliche Hierarchien und neue spirituelle Vorstellungen bewirkten um 800 v. u. Z. von der Rheinmündung über das Main-Gebiet bis zur Donau und den Karpaten einen graduellen Übergang zur „Hallstatt“ genannten Kultur. Diese Generationen verringerten ihre traditionellen Kontakte nach Norden und entwickelten neue zum Mittelmeerraum und in die Steppen. Wandel und Neuformierungen in entfernten Gesellschaften beeinflussten die Menschen in der Voralpenregion. Anschließend an phönizische Seefahrer begannen, erstens, im 8. Jahrhundert v. u. Z. unternehmerisch Handelnde aus den vielen unter65

Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.3 Keltische Kulturvarianten in der Latènezeit

Abb. 3.4 a Gussform, Kupfergusskuchen, Rillenschlägel (östliches Waldviertel)

schiedlichen städtisch-ländlichen Gesellschaften des Raumes Ephesus-Attika-Peloponnes Niederlassungen entlang der Mittelmeerküsten zu gründen. Sie bezeichneten sich summarisch als „Griechen“ und waren oft Minderheit unter den Ansässigen. Historiker*innen haben die Pauschalbezeichnung übernommen. Händler*innen in Cumae (ca. 750 v. u. Z.) und Massalia (ca. 600 v. u. Z.) verkauften in Apennin-Gesellschaften und Rhône-aufwärts bis zur Saône und Seine mittelmeerisch-griechische Tonwaren und Weine (Abb. 3.22). Dortige Ober66

Abb. 3.4 b Werkzeugdepot eines Eisenschmiedes, Golling (Salzburg), 4. Jh. v. u. Z.

schichten nahmen das Angebot auf und handelten ihrerseits mit dem Ostalpenraum.

Transeuropäische Kulturen, vielfältige lokale Eigenarten, veränderte Kontaktzonen

Abb. 3.5 Transalpine Routen: Handel mit etruskischem Bronzegeschirr und Fundorte (rot) von Entenkopf-Fibeln – Wasservögel als Sonnensymbol – mit korallenverziertem Bügel

In dem spirituellen Raum der – auf dem Rechnen mit der Basiszahl „12“ beruhenden – „heilige Zwölf“-Spiritualität (Clane, Apostel, Tierkreiszeichen, Monate und vieles andere) bildeten, zweitens, Menschen der zwölf etruskischen Kulturen – vielleicht einheimische Italiker, vielleicht Zuwander*innen aus Kleinasien oder auch beider – im nördlichen Mittelitalien eine urbane, eng mit den Peloponnes-attischen Stadtökonomien verbundene Kultur. Von dort wanderten Kunst- und Handwerker*innen zu, die sich von den übersee-handelnden Seefahrern unabhängig machen wollten. Die etruskisch beeinflusste Golasecca-Kultur (spätere Lombardei) und die eisenverarbeitende Este-Kultur im Veneto (späteres Venedig und Slowenien) wurden Mittler im Austausch mit der Kalenderberg- und Hallstatt-Kultur am nördlichen Alpenrand. 11 In den Steppen als drittem Raum neben dem keltischen und etruskischen hatten Verbände ihre Pferde zu Reittieren gezüchtet und bedrängten, vermutlich angesichts von Trockenheit und Futter11

mangel, westasiatisch- und griechisch-dialektsprachliche Kulturverbände. Ihre Reitutensilien und Bewaffnung adaptierten in der östlichen Hallstatt-Region diejenigen, die es sich leisten konnten. Im westlichen Saône-Oberrhein-DonauquellenRaum erhob sich um 600 v. u. Z. eine machtvolle Oberschicht und ließ ausgedehnte, zum Teil mediterran inspirierte Befestigungen errichten. Sie kontrollierte von Mont Lassois am Oberlauf der Seine und von Heuneburg am Oberlauf der Donau die Umgebung. Während die bronzezeitlichen Eliten Überschüsse offenbar Göttern geopfert und, um soziale Spannungen zu verringern, breiter verteilt hatten, häuften die eisenzeitlichen von der Champagne über Böhmen bis in die Karpaten Luxusgüter an, wie auch in den etruskischen und griechischen, auf der Arbeit von Sklavinnen und Sklaven beruhenden Gesellschaften üblich. Die Sozialverbände der Zentren an der oberen Donau und dem oberen Rhein profitierten als Mittler zwischen Voralpenraum und

Stöllner, „Vor- und frühgeschichtlicher Bergbau“, 68–80.

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.7 Salz und Fleisch: Mögliche Viehzuchtgebiete und Transportwege

Massalia. Erst ab Mitte des 5. Jahrhunderts erhielten ostalpine Pässe und Täler Bedeutung für den Handel nach Süden, doch war die Besiedlung des Salzachtals und anderer Flusstäler südlich des Tennengebirges und Pass Lueg spärlich. Abb. 3.6 Hallstatter Gräberfeld (Ausschnitt)

3.3 Salzbergwerker- und Handwerker-Familien: Lebens-, Arbeits-, Herrschaftsweisen Bronze und Eisen waren den Menschen wichtig, Salze überlebenswichtig: Chloridische Salze dienten der Umwandlung von Nahrung in Energie (Metabolismus), sulfatische therapeutischen Anwendungen. Die Menschen lernten Salzfleisch als Wintervorrat zu konservieren und so die Ernährungslage zu stabilisieren. Trotz dieser lebenssichernden Funktion sind Nahrungs- und Würzmittel, im Gegensatz zu Bronze und Eisen, nie für die Namensgebung von Perioden genutzt worden. 12 Die Menschen, die Salzvorkommen bei Hallstatt, Hall an der Saalach, am Dürrnberg, Hall in Tirol und anderswo lokalisierten, begegneten in diesen Vorkommen dem äquatorialen Tethys-Meer. Tektonische Kräfte hatten dessen Ablagerungen zu einem Salzstock zusammengeschoben, der sich waagerecht gelagert

von Innsbruck bis nach Ostgalizien erstreckt. Ohne Erdgeschichte kein Salinar und kein Salz in der Suppe. Die Hallstatter Lagerstätte bestand aus einem Gemisch von Steinsalz (62 Prozent), Ton und sogenannten Nebensalzen. Dies „Haselgebirge“ nutzten Menschen der Region über 200 Generationen (5000 Jahre) und handelten Salz nach Süden. In der Hauptabbauperiode, 1400 bis 550 v. u. Z., arbeiteten sie tief unter Tage und hatten zwischen ca. 750 und 550 das Exportmonopol in der Großregion. „Gesalzene Preise“ für das „weiße Gold“ ließen die Produzierenden oder ihre Oberschicht wohlhabend werden. In mehr als 2500 Gräbern hinterließen sie Beigaben. Archäolog*innen rekonstruieren ihr Leben durch von Salz konservierten Abfall in den

Ludwig Pauli, Der Dürrnberg bei Hallein III. Auswertung der Grabfunde, München 1978; Heinz Dopsch, Barbara Heuberger und Kurt W. Zeller (Hg.), Salz. Salzburger Landesausstellung 1994, Salzburg 1994; Thomas Stöllner, „Bergbau und Gewerbe am Dürrnberg“, in: Elisabeth Jerem u. a. (Hg.), Die Kelten in den Alpen und an der Donau, Budapest 1996, 225–243; ders., „Der Dürrnberg, sein Salzwesen und das Inn-Salzach-Gebiet als Wirtschaftsraum“, in: Claus Dobiat (Hg.), Dürrnberg und Manching. Wirtschaftsarchäologie im ostkeltischen Raum, Bonn 2002, 77–94; Kurt W. Zeller, Der Dürrnberg bei Hallein. Ein Zentrum keltischer Kultur am Nordrand der Alpen, Hallein 2001; Stefan Moser, Die Kelten am Dürrnberg. Eisenzeit am Nordrand der Alpen, Hallein 2010; Archäologie in Salzburg, Ausstellung im Salzburg Museum und Keltenmuseum, Salzburg 2013.

12

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Salzbergwerker- und Handwerker-Familien: Lebens-, Arbeits-, Herrschaftsweisen

Abb. 3.8 Eisenpickel mit Schaft, Schnüre, Holzschaufel (Bruchstück), Dürrnberg

Abb. 3.9 Förderkorb: Tragen und Entleeren, Hallstatt (Rekonstruktion)

Stollen: Pickel aus Hirschgeweih, Schuhleistenkeil aus Ton, Rucksack, Textilfragmente. 13 Die Bergwerker-Familien lösten in Steinsalzbänken von ein bis zwei Metern Stärke größere Brocken durch geschickte Vorritzung und schafften sie mit Tragsäcken aus Rinderhaut oder einem mit Schulterriemen getragenen Korb an die Oberfläche. Dort konnten sie, wiederum durch geschickte Konstruktion, den Sack kippen und entleeren, ohne ihn von der Schulter zu nehmen. Von BronzewerkerFamilien erhandelten sie Werkzeuge. Da sie weder am engen Seeufer noch in der großen Höhe der Stollen Schweine und Rinder züchten konnten, lieferten ihnen ländliche Familien im Gosau-, Traunund Ennstal nicht nur alltäglichen Nahrungsbedarf, sondern auch große Mengen teil-zerlegten Schweinefleischs und in geringeren Mengen Rinderfleisch: Die Hallstatter diversifizierten in Pökelfleisch. Züchter-Familien verkauften angesichts der hohen Reproduktivität von Schweinen die männlichen Jungtiere; gegen den Verkauf von Rinderfleisch sprach die niedrigere Reproduktivität von Kühen und die zunehmende Milchverwertung. Pferdefleisch, nur in geringen Mengen angeliefert, kam von kleineren Tieren aus westlicher Zucht und von größeren aus pannonischer, mit skytischer Schwarzmeer-Kultur vernetzter Zucht. Lastenträger schleppten vermutlich bis zu fünfzig Kilogramm Rohfleisch aus dem Tal über einen Aufstieg von zehn Kilometern bei 780 Höhenmetern. Dort legten die Hallstatter das Fleisch in überdachten Block-

Abb. 3.10 Schuhe und Textilreste, Dürrnberg, späteisenzeitlich

wand-Pökeltrögen von bis zu fünf Metern Seitenlänge ein und produzierten Sur, Speck und Schinken, die sie in kühlen Stollen aufbewahrten, wo Kupfersulfide sie zusätzlich konservierten. Sie erreichten Qualitäten, die Standards der Gegenwart entsprechen. Fleischsaft, Schlachtreste, Knochen und Lauge verkochten sie offenbar zu „Bouillontafeln“. Auf den Verkaufswegen lernten ihre Händler*innen Konsument*innen in fernen Ansiedlungen kennen und konnten von ihnen berichten. Waren sie es, die auf dem Rückweg aus Wäldern passende Stiele für Pickel und anderes Holzgerät heranschafften? 14 Die industriemäßige Produktion endete im 6./5. Jahrhundert v. u. Z. katastrophal durch, wie es scheint, Murenabgänge und Wassereinbrüche. Menschen mussten abwandern. Angesichts einer Klimaverschlechterung seit etwa 400 v. u. Z. sank die Bevölkerung in der gesamten Alpen- und Voralpenregion. 15 Zur gleichen Zeit wuchs die Konkurrenz durch neue Salzfundstätten von Mitteldeutschland bis Osteuropa und, in der Nahregion, durch die Dürrnberger Salzwerker-Familien. Die Dürrnberg-Lagerstätte in etwa 1000 m Höhe war seit der Jungsteinzeit durch salzhaltigen Wasseraustritt bekannt. Sie erforderte Investitionen und intensive Arbeit. Zuwander*innen aus der Umgebung und, ihre Bergbaukenntnisse herantragend, aus Hallstatt begannen im 5. Jahrhundert, mehrere Gruben gleichzeitig durch Deckschichten von 30–50 m Stärke kooperativ oder unternehmerisch geleitet zu graben.

Die Hallstattkultur: Frühform europäischer Einheit, Ausstellung Steyr 1980 (Linz 1980); Kerstin Kowarik und Hans Reschreiter, „Provisioning a Salt Mine. On the Infrastructure of the Bronze Age Salt Mines of Hallstatt“, in: Archäologie in den Alpen – Alltag und Kult, hg. von Franz Mandl und Harald Stadler (Haus I.E. 2010), 105–116; Ruth Drescher-Schneider u. a., Sölkpass. Ein 6000 Jahre alter Saumpfad über die Alpen, Gröbming 2003. 14 Funde aus Bergwerken lassen sich in Bezug auf Technologie, Arbeitsvorgänge und Berufsgruppenkultur weltweit komparatistisch untersuchen, vgl. zum Beispiel Gabriela Ruß-Popa, „Leather, Fur and Skin Technology in the Iron Age Salt Mines at Dürrnberg and Chehrābād/Iran (a PhD-project)“, in: Archaeological Textiles Review 57 (2015), 114–118. 15 Erich Pucher u. a., Bronzezeitliche Fleischverarbeitung im Salzbergtal bei Hallstatt, Wien 2013. 13

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.11 Männer an Haspelrad, Ritzung auf einer Schwertscheide, Hallstatt (Nachzeichnung)

Abb. 3.13 Frauen beim Spinnen und Weben um 630 v. u. Z. (Nachzeichnung einer Darstellung auf einem bronzenen Klapperblech), Bologna, „Tomba degli Ori“

den Abbaurückgang während der Sie verwendeten Schrägstollen Abb. 3.12 Frauen beim Spinnen und Klimaverschlechterung folgte eine und Baumstämme mit eingekerbIntensivierung im ausgehenden Aufspannen eines Webstuhls ten Trittstufen als Stiegen. Über (Nachzeichnung als Abrollung eines 3. Jahrhundert. 400 Jahre schlugen sie Stollen von Kegelhalsgefäßes), Fabricius-Museum, Für ihre kräftezehrende Arbeit Sopron/ Ödenburg etwa 5500 m Gesamtlänge in bis ernährten sich die Menschen zu 200 m Tiefe. 16 Sie arbeiteten überwiegend von Spelzgerste, Rismit Geräten aus Eisen und bedienpenhirse und Hülsenfrüchten als Eintopf, gewürzt ten als Bergbauprofis auf hohem technischen Nimit einheimischem Leindotter (ähnlich Senf). 18 veau über Salzach sowie Inn und Donau einen Wohlhabende verwendeten Anis und Kümmel: Schmackhafte Mahlzeiten waren ebenso mit dem Wachstumsmarkt vom Oberrhein bis Böhmen. 17 Süden vernetzt wie die Formensprache der MetallIm 1. Jahrhundert v. u. Z. erhielten die Dürrnberger Familien Konkurrenz: Im benachbarten Saaprodukte. Als Beigabe diente gepökeltes Schweinelachtal produzierten Quell-Salzsieder-Familien kosfleisch. Vitamine lieferte Obst – Samen für tengünstiger, obwohl der Prozess technische AnlaApfelbäume hatten einst zentralasiatische Migen und Brennholz in großen Mengen erforderte. grant*innen aus dem Tien Shan-Gebirge herangetragen. Eingespielte Liefersysteme versorgten die Dies bot Holzfäller-Familien und ländlichen FamiSalzwerker-Familien mit Getreide und, zum Beilien Arbeit im Winter. Kurzfristig zeigte sich ihr Erfolg in der neuen, offenbar mächtigen Siedlung spiel, mit Schuhen und Holzgegenständen. 19 Karlstein; langfristig waren abgeholzte Berghänge Die Erinnerung an die Bergwerker-Kulturen ist einseitig. Bronze und Gold wecken Interesse; große, und Umweltschäden die Folge. Konkurrenzen, eine publikumswirksame Ausstellungen zum „Gold der veränderte Nachfrage und neue Handelsrouten Kelten“ werden Sponsoring Event, nicht jedoch zwangen Erz- und Salzwerker zur Anpassung. Sie zum „Spelzgersten-Eintopf der Kelten“. Die Menbedeuteten mehr oder weniger Arbeitsplätze aus Sicht der Arbeitenden, Arbeitskräftebedarf oder schen hätten ohne Gold, aber nicht ohne Salz, Pö-überschuss aus Sicht der Oberen. Wanderungen kelfleisch und Werkzeuge leben können. Sie schufen sich in der mittleren Bronzezeit in Zentraleurozwischen Gebirgsregionen und Vorgebirgszonen, pa, der unteren Donauregion und Norditalien „inner“ und „ausser Gebirg“, waren vielfältig. Auf Mittelalterliche Bergwerker, die diese antiken Stollen wiederfanden, bezeichneten sie nach christlichem Diskurs als „Heidengebirge“ oder, gender-einseitig, als „Grube Alter Mann“. 17 Viele der Gräber am Dürrnberg wurden beschädigt: Im 19. Jahrhundert gruben bemühte Laien wie Vincenz M. Süss und Oliver Klose wenig planmäßig. Vergeblich blieb die Schatzsuche von Gasteiner Bergleuten in den 1890er Jahren, sehr erfolgreich war die eines Tagelöhner-Ehepaares, das in den 1930er Jahren den Münchener Kunsthandel belieferte. Erste wichtige Studien lieferten der Salzburger Landesarchäologe Martin Hell, oft gemeinsam mit Karolina Hell, sowie Fritz Moosleitner und J. W. Neugebauer. Erst 1966 begann mit Kurt Zeller, Keltenmuseum Hallein, wissenschaftlich exakte und international vernetzte Arbeit. Moser, Dürrnberg, 10. 18 2017 bot das Zentrum „Keltenwelt am Glauberg“ in Hessen eine Ausstellung „Mahlzeit. Ernährung bei den Kelten“. 19 Angela Kreuz, „Von Ackerbau und Viehzucht: Landwirtschaft und Ernährung“, in: Welt der Kelten, 78–83; und Manfred Rösch und Elske Fischer, „Mensch und Umwelt: Natur- und Kulturlandschaft“, ebd., 83–87; für das 7.–4. Jahrhundert ebd., 106–110. Siehe auch Helmut Birkhan, Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur, Wien 1997, 1053–1117. 16

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Salzbergwerker- und Handwerker-Familien: Lebens-, Arbeits-, Herrschaftsweisen

Abb. 3.15 Armreifen aus farbigem Glas, um 200 v. u. Z., Region Horn

Abb. 3.14 Schnabelkanne, Dürrnberg, Grab der Oberschicht, 400–380 v. u. Z. (siehe auch Abb. 5.9: Detail Henkel)

„Brot-Idole“ – so die archäologische Interpretation. Erinnerung ist perioden- und kulturspezifisch: Von oberitalischen Kunstwerkern angeregte Friese auf Metallgegenständen und Fresken zeigen Handarbeit, so einen Teig knetenden, von einem Flötisten unterhaltenen Bäcker (Etrurien), Frauen beim Weben (Bologna und Sopron), zwei Männer am Haspelrad einer Winde (Alpenraum). Spätere christliche Kunstschaffende würden Arbeiter*innen nicht mehr zeigen. Handwerkende verbesserten Werkzeuge und Werkstücke ständig, schliffen Metallscheiden mit

Steinen, härteten Bronzepickel durch Kaltschmieden, verwendeten besonders belastbares Knieholz für Pickelschäfte, versahen Hammerköpfe mit vierkantigem Stielloch, versetzten tönerne Gussformen für größere Hitzebeständigkeit mit Quarzsand. Einfache metallene Töpfe und Karaffen für den Alltagsgebrauch importierten sie. Feinschmiede und Gießer brachten eine komplexe Formenvielfalt hervor: „Kunst kommt von Können“, heißt es volkstümlich. Brachten Kund*innen ihre Bedürfnisse in die Gestaltung ein? Wir wüssten gern, warum bestimmte Formen den Nutzer*innen schön erschienen. Fibeln (lat. fibula) als „Sicherheitsnadeln“ zum Schließen von Kleidungsstücken zeugen ebenfalls von den ästhetischen Vorlieben ihrer Träger*innen. Ritzungen, erhabene oder vertiefte Stellen und das Einsetzen von Schmucksteinen erforderten Werkzeuge und vielfältiges Können. Waren die Hersteller, wie oft angenommen, nur Männer? Schmuck war beliebt bei Hochgestellten, die ihn bezahlen konnten, die Ausführungen abhängig von der Verfügbarkeit von Rohmaterial aus der Ferne und hochqualifizierter lokaler Arbeit. Hausgemeinschaften lebten in ebenerdigen oder eingetieften Hütten aus behauenen Stämmen mit Firstdach, wobei die maximal mögliche Länge des Firstbalkens der Hausgröße Grenzen setzte. Sie fügten anfangs Wände aus durchgehenden, behauenen Stämmen zusammen; später setzten sie senkrechte Ständer in kurzen Abständen und konnten so kürzeres Holz nutzen und Tür und Fenster leich71

Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.16 Modell der Interaktionen zwischen Dürrnberg, Umland, Ferne

ter einsetzen. Für die Dächer verwendeten sie Holzschindeln, für die Fußböden Holz oder Lehm. Zimmerleute entwickelten sich passende Werkzeuge und konnten Spezialhölzer wie zum Beispiel genutete Riegelbalken herstellen. Bessergestellte Landbesitzerfamilien im Flachland lebten im 6./5. Jahrhundert mit ihrem Gesinde in Häusern von bis zu 70 m2 Grundfläche und in Hofkomplexen. Für alle stellten holzverarbeitende Handwerker*innen KienLeuchtspäne und Spanschachteln her und Keramiker*innen arbeiteten mit der schnell laufenden, von Migrant*innen aus dem östlichen Mittelmeerraum vermittelten Töpferscheibe. Dies ermöglichte neue Formen, eine leichtere Herstellung von Rundungen und insgesamt feinere, homogenere Produkte. 72

Die Exportwirtschaft bedeutete Reichtum nur für wenige, mächtig gewordene Familien. In ihren Gräbern fanden Archäolog*innen Zaumzeug für Pferde und vereinzelt vierrädrige Wagen: Symbole für Status, denn einen praktischen Nutzen hatten sie in den bergigen und bewaldeten Regionen nicht. Männer ließen die Griffe ihrer Schwerter – die erste explizit als Waffe hergestellte Gerätschaft – von lokalen Schmiede-Kunstwerkenden mit Ornamenten versehen; Frauen besaßen Bernsteinschmuck und Arm- und Fußreifen. Was mögen die arbeitenden Familien gedacht haben, wenn sie ihr alltägliches bescheidenes Leben mit dem Wohlstand oder gar Überfluss der Herrschenden verglichen?

Stoffe – Bekleidung – Werkkultur: Funds of knowledge von Frauen

3.4 Stoffe – Bekleidung – Werkkultur: Funds of knowledge von Frauen 20 Wie der Nahrungs- hat auch der Bekleidungssektor kaum akademisches Interesse gefunden, bis Frauen die schriftliche historische Erinnerung mitgestalten konnten. Alltagspraxen und Mythologien deuten darauf hin, dass Spinnen und Weben überwiegend weibliche Tätigkeiten waren; Schäfer und ältere Männer waren ebenfalls beteiligt. Ihre Produkte aus organischem Material waren nicht verwitterungsbeständig, doch im (Vor-) Alpenraum konservierten Salze und Feuchtböden Textilien. Seit Menschen vor Jahrhundertausenden ihre Behaarung verloren und wärmere Klimazonen verließen, war Kleidung unabdingbar und bereits in Ostafrika stellten sie Nähnadeln her. Die textile Produktion erlangte hohe spirituelle Bedeutung, die sich in sprachlichen Bildern in einem Ausmaß spiegelt, das nur wenige andere Tätigkeiten erreicht haben. Beim Spinnen, dem ersten Schritt, haben Frauen „den Dreh raus“ – diese Sprachfigur wird im Deutschen auch für Tätigkeiten von Männern verwandt. Wenn die Nerven dünner werden, „reißt der Geduldsfaden“. Die Fähigkeit, kurze Fasern in einen kontinuierlichen, endlosen Faden zu verwandeln, ist symbolträchtig für viele Lebensbereiche. „Fäden ziehen“ bedeutet Einfluss nehmen, Männer wirkten als „Drahtzieher“ erst seit dem 14. Jahrhundert. Die drei Schicksalsgöttinnen – griechisch Moiren, römisch Parzen – spannen den Lebensfaden. Sie konnten den Faden abschneiden und Lebenszeit beenden. Ebenso wichtig war das Weben. In griechischen Vorstellungen webte die Göttin Athene besser als die seit Kindheit geübte Schäferstocher Arachne; Penelope webte, um sich vor Männern zu schützen; Ariadne wusste um die lebenssichernde Kraft der Fäden und rettete damit ihren Partner Theseus; Andromache webte, als sie die Nachricht erhielt, ihr Mann Hektor sei im Krieg umgekommen. Gesellschaften beruhten auf produktiver Arbeit: Die Athenerin Lysistrata, genervt und für viele Frauen sprechend, geißelte um 440 v. u. Z. die Dummheit der ewig kriegführenden Männer. Der Komödiendichter Aristophanes ließ die Frauen sich unter dem Motto „ohne Frieden

kein Sex“ verbünden, die Akropolis besetzen und den Magistratsbeamten Wolle geben, damit diese etwas Nützliches täten, während sie selbst die Politik sinnvoll umgestalteten. Webkundige Frauen galten im Mittelmeerraum als wertvolle Kriegsbeute; keltische Handwerker*innen stellten Spinnerinnen und Weberinnen auf Friesen dar; in römischer Zeit erhielten Frauen zur Hochzeit eine Spindel und dieser Brauch hielt sich im Alpenraum bis ins 19. Jahrhundert. Haben die Spinnwirtel, Stangen mit einem radförmigen Schwunggewicht, als Anregung für Fahrzeuge gedient? Ein weiteres Rad am anderen Ende ergibt Achse und Räder. Für den Weg in die Anderwelt erhielten Frauen Spinnwirtel und Nähnadeln ebenso wie Messer und Wetzsteine ins Grab. 21 In einem reich ausgestatteten Grab (Uttendorf, Pinzgau, 8. Jh. v. u. Z.) fand sich neben exquisitem Schmuck ein Handwerksset aus sieben steinernen Webgewichten, einem Spinnwirtel und einem Eisenmesser. Deuten derartige Ausstattungen auf „Könnerinnen“? Das Textilhandwerk und Frauenarbeit besaßen Status in antiken Weltbildern. Der Produktionsprozess begann mit Weideflächen (zum Beispiel für Schafe) oder Anbauflächen (zum Beispiel für Lein), erforderte Werkzeug für Schur (Schere) und Ernte (Sicheln) und bedurfte eines Arbeitsraums für die Aufbereitung wie das Zupfen und Kardieren von Wolle und das Hecheln von Flachs. Pflanzliche Fasern gewannen die Menschen aus Lein (Flachs), Hanf, Brennnessel und Baumbast, tierische, die kürzer sind und anders verarbeitet werden müssen, von Schaf, Ziege, Pferd, Wildtieren. Die Naturform des Leins kam, wie das domestizierte, das heißt hauswirtschaftlich nutzbare Schaf, von Menschen des östlichen Mittelmeergebiets. Sie hatten Lein bereits um 9000 v. u. Z. geschnitten und sich im 7. Jahrtausend Sicheln hergestellt. Weberinnen verwendeten die stabilen Schweifhaare von Pferden für Bänder, Baumbast und lange Gräser für Regenüberhänge. In Mitteleuropa sind Tierfasergewebe aus der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends belegt; Hallstatter und Mitter-

Karina Grömer, Prähistorische Textilkunst in Mitteleuropa. Geschichte des Handwerks und der Kleidung vor den Römern, Wien 2010. Darstellungen von Webarbeit datieren bereits aus dem pharaonischen Ägypten. 21 Webutensilien fanden sich in seltenen Fällen in Männergräbern, Scheren seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. u. Z. Grömer, Textilkunst, 250–251. 20

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.17 Web- und Verzierungstechniken in Mitteleuropa, Bronze- bis Eisenzeit

berger Familien verwendeten Wollgewebe ab Mitte des 2. Jahrtausends v. u. Z. Bei der Flachsverarbeitung rauften Frauen zuerst die Pflanzen samt Wurzel aus dem Boden. Es folgte das Trocknen, damit die Epidermis um die Fasern rissig wurde, und Riffeln mit Kämmen (Brettchen mit Schwarzdornspitzen, später Eisenzinken), um die Samenkapseln für die Ölgewinnung abzustreifen. Biochemisches Aufschließen auf feuchtem Feld oder unter Wasser – Tauröste und Rotte – löste durch Mikroorganismen und Pilze die Fasern. Sensenschnitt statt Raufe und falsch kalkulierte Röstdauer hätten die Fasern geschädigt. Nach einer weiteren Trocknung folgten Flachsbreche und Hecheln als gemeinschaftliche Arbeiten oder, hierarchisch, unter Aufsicht. Weiteres Hecheln ließ die Fasern spinnfähig werden. Bei der Herstellung von Wolle mussten die Frauen Vliese reinigen und die oberen wasserabweisenden Grannenhaare von den unteren feinen und wärmeisolierenden Wollhaaren trennen. 74

Aus den Roh-Stoffen spannen die Frauen seit der Jungsteinzeit Garne mit Spinnrocken (Holz, später Eisen), Spindelstab und Wirtel aus Holz, Stein oder Keramik. In der Bronzezeit stellten sie Fäden nur mit wirren oder flauschigen Fasern versetzt her, um 500 mit parallelen Fasern und um 100 v. u. Z. züchteten sie feinwolligere Schafe. Hallstattzeitliche Fadenstärken waren bereits 0,3–0,5 mm fein und die Frauen erzielten durch Rechts- oder Linksdrehung beim Spinnen unterschiedliche optische Wirkungen. Haltbaren Zwirn stellten sie durch gegenläufige Verdrehung zweier Fäden her. Ihre Tätigkeiten waren eng verbunden mit der Schnurbandkeramik, dem Korbflechten und der Schnürenbindung von Hölzern. Textilwerkende entwickelten wie Töpfer*innen ästhetische Vorstellungen und Ansprüche. In der „Bronzezeit“ genannten Phase ihres textilen Wirkens entwickelten sie Färbetechniken und bauten dafür Färbepflanzen an, stellten pflanzliche und tierische Beiz- und Farbstoffe her oder erwarben spe-

Stoffe – Bekleidung – Werkkultur: Funds of knowledge von Frauen

Abb. 3.18 Textilbindungen, Hallstadt, ältere Eisenzeit 1 und 2: Leinwandbindung 1 : 1; 3 und 4: Abwandlung „Rips“ für Ränder und Bänder; 5 und 6: Panama 2 : 1 und 2 : 2.

zielle Farbstoffe durch den Fernhandel. Die Färber*innen mussten passende Gefäße herstellen und für die Wärmebehandlung Brennholz heranschaffen. Rinden, Kräuter und Gallen 22, wie zum Gerben von Leder verwendet, ergaben in Direktfärberei beständige Brauntöne von rötlich bis gelblich. Farben von Krapp, Birkenblättern und Brennnesseln ließen sich auf Stoffe übertragen, solche von Blüten nicht. Mit Übernahme des Färber-Waids, einer im Industal bereits um 2000 v. u. Z. verwendeten, gelb-blühenden Pflanze, lernten sie blau zu färben: Das in den Blättern enthaltene Waidblau (Indigotin) ließ sich in mit Urin versetztem Wasser lösen (Küpenfärberei). Die Färber*innen lernten die Gelbfärbung durch Wasserlösung von grünen, mit gelben Blüten vermischten Pflanzenteilen, hatten jedoch Mühe mit der Rotfärbung, die nur mit sehr teuren Materialien wie weiblichen Blutschildläusen oder Wurzeln von Rötegewächsen möglich war. Sie lernten

Farbtöne zu variieren; der Zusatz von Heidel- oder Brombeeren ergab zum Beispiel Violett. Um Färbungen zu konservieren, experimentierten sie mit der Wirksamkeit von metall- und gerbstoffhaltigen Beizen. Am Dürrnberg lebende Frauen kannten fünf der zwölf Färbe-Rohstoffe, 23 die Frauen im Mittelmeerraum für blaue, violette und purpurrote Garne, feines Leinen und Materialien aus Ziegenhaar verwendeten. Laut Bibel, die eine Vielzahl handwerksgeschichtlich interessanter Passagen enthält, verzierten sie feine Leder mit Granatapfelmustern, Symbol der Fruchtbarkeit und der syrisch-semitischen Göttin Atargatis (Exodus 35,22–23 und 36,39). Um zu weben, entwickelten jungsteinzeitliche Menschen zuerst im Gebiet zwischen Anatolien und Nordirak den Webkamm, hölzerne Schiffchen und Webstühle handbetriebener Mechanik: Die erste „Maschine“ der Menschheitsgeschichte. 24 Im

Oft gerbstoffreiche, durch tierische oder pflanzliche Parasiten verformte Pflanzenteile. Hinzu kam der von ägyptischen Färber*innen entdeckte, aluminiumhaltige Alaunschiefer und im Voralpenland Bärlappgewächse. Regina Hofmann-de Keijzer, „Färben“, in: Grömer, Textilkunst, 143–162. 24 Band- und Brettchen-Webgerät aus Holzrahmen, Litzenstäben und Halterungen aus Holz mit Webgewichten, geformt aus Stein oder Ton. Obwohl 22 23

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.19 Komplexe Bänder, Brettchen-Gewebe, Hallstatt, ältere Eisenzeit (Rekonstruktionen der Muster)

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Stoffe – Bekleidung – Werkkultur: Funds of knowledge von Frauen

Alpenraum bauten sie seit dem Spätneolithikum Webstühle mit 60–90 cm, selten mit bis zu 370 cm Breite. In der Bronzezeit fertigten sie überwiegend grobe (5 Fäden/cm2) und mittelfeine Gewebe, in der Hallstattzeit feine und sehr feine Gewebe (über 15 Fäden/cm2). 25 Um Stoffe zu säumen und Gürtel, Tragriemen und Wickelbänder herzustellen, schufen sie manchmal gemusterte Bandgewebe. Ab Mitte des 1. Jahrtausends stellten Textilwerker*innen Leinengewebe her sowie Mischgewebe aus Festigkeit gebenden, dünnen Leinenfäden und Querfäden aus wärmender dicker Wolle. Anfangs deckten Familien und Gemeinschaften ihren Eigenbedarf, später produzierten sie für (mikro-) regionale Märkte. In einer dritten Phase begannen sie zu exportieren und standardisieren: in der Dürrnberg-Siedlung einfache Leinwandstoffe, in Nové Zamky (Slowakei) bestickte Leinentuche für ein anderes Marktsegment. In Vollzeitarbeit schufen Spezialist*innen Luxuskleidung für zahlungskräftige Klient*innen. Die Beschickung entfernter Märkte erforderte Wanderung von Händler*innen oder Familienmitgliedern im Herbst, Winter und Frühjahr. Der Vorgang umfasste zunächst die Konzeption des Tuches und die Fähigkeit, Fäden parallel aufzuziehen (Ketten zu schären) und Muster einzurichten. Hinsichtlich der Haltbarkeit und Weiterverarbeitung unterschieden die Produzierenden bei der Fadenführung Leinwand-, Panama- und Köperbindung (heutige Bezeichnungen). Sie erweiterten ihr Know-how, schufen variantenreich gemusterte Stoffe, wirkten Goldfäden ein und verwendeten kunstvoll geflochtene Fransen. Nach dem Weben begannen sie das „Ausrüsten“, zum Beispiel das Walken, um Stoffe zu verfilzen, also dichter, wasserabweisend und strapazierfähig zu machen. Für besondere Effekte rauhten oder glätteten sie Stoffe. Für den Zuschnitt und zum Nähen stellten die Textilwerker*innen Bein- und Eisennadeln mit Öhr, Schneidwerkzeuge aus Stein, Bronze, Eisen und, seit der Latènezeit, Scheren her. Schneiderinnen vernähten die Teile mit Zwirn, nutzen unterschiedliche Zierstiche und brachten Applikationen an. Familien, die es sich leisten konnten, trugen bronze-

Abb. 3.20 Webgerät für Leinwandbindung. Köperbindungen erforderten mehrere Litzenstäbe (Rekonstruktion)

verzierte lederne Gürtelgarnituren und Fibeln und ergänzten ihren Schmuck durch Bronzeringe an Armen und Beinen. Für schwer Arbeitende nähten Lederverarbeiter*innen Tragetaschen, Fellmützen und Kleidung, mit Fruchtkernen oder einfachen Blechen verziert. Zu allem hinzu kam das Flicken, Reparieren und die Wiederaufbereitung alter Kleidung (modern: Recycling). Die Gesellschaften passten ihre Kleidung den Berufen (zum Beispiel Bergmann oder Schmied), dem sozialen Stand, Geschlecht und lebenszyklischen Phasen an: „Berufstracht“ setzt eine spezifische Schnittführung sowie Naht- und Saumformen voraus. Die „unglaubliche Kreativität“ und die in dieser Zeit geschaffene Werkkultur bedurften über die folgenden anderthalb Jahrtausende weniger Neuerungen. 26

nach dem Baukastenprinzip zusammengesetzt und leicht demontier- und transportierbar, waren Webstühle bei sesshafter Lebensweise ökonomisch sinnvoller als bei nomadischer. 25 Moderne Gewebe aus Baumwolle oder Leinen bestehen aus je 30 Quer- und Längsfäden pro cm2. 26 Grömer, Textilkunst, 233; Helga Rösel-Mautendorfer, „Nähen und Schneiderei“, ebd., 201–220; Moser, Dürrnberg, 37–40.

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

3.5 Körperlichkeiten und Spiritualitäten Nahrung, Kleidung und Schmuck formen Körper: Der „kulturell geformte Körper“ bildet das Einleitungskapitel einer modernen Kulturgeschichte 27 und Körpersprache drückt Status und Beruf aus. Manches, wie Fibeln, trugen Männer und Frauen, Grabbeigaben hingegen waren meist geschlechtsspezifisch. Männer erhielten oft Waffen, Frauen Schmuckstücke: starke Männer und sich schmückende Frauen? Muskeluntersuchungen zeigten, dass die Männer im Leben nie gekämpft hatten. Dolche, anfangs steinerne, zweischneidige Stichmesser mit Griff, nutzten Männer als Symbol; Waffen mit verzierten Griffen und, manchmal, verzierten Klingen wurden Schmuck und Signifikant von Macht. Materialwert und Verzierungsaufwand de-

Abb. 3.21 Jungsteinzeitliche Dolche aus Silex (Griff rekonstruiert) und Hammer aus der Region Horn

monstrierten Position. Dies sahen alle am Begräbnis teilnehmenden Lebenden. Beides, Schmuck und Waffen, waren Accessoires. Gelegentlich erhielten Frauen Waffen und Männer Ringe als Beigaben. Über die Zeiten haben sich schwerttragende Männer (und Historiker) schwergetan, Waffen unter Accessoires zu subsumieren.

Männern dienten auch Helme als Schmuck und zur Stilisierung. Schmiede der voralpinen Region fertigten im 13. Jahrhundert v. u. Z. einen Helm nach griechischem Vorbild (Fundort Pass Lueg) mit einem Spalt im Kamm zur Aufnahme weiteren Zierrats wie etwa Federn. Männliche Wehrhaftigkeit oder Aggressivität war vereint mit Zierbedürfnis. Die nach südöstlichen Vorbildern um die Mitte des 5. Jahrhunderts gefertigten Spitz- und Kammhelme ließen Männer größer erscheinen; spätere, einfachere und praktischere Kappenhelme waren in Produktionstechnik wie Verwendung massentauglich. Implizierte die auffällig unterschiedliche Formgebung der Accessoires eine sexuelle Symbolik? Speere und Schwerter der Männer vs. Ringe der Frauen: Phallus und Vagina, Instrument und schützende Umhüllung, Äußerlichkeit und Innenraum? Die Unterschiede sind erklärungsbedürftig und Körpergeschichte fragt, welchen Raum Sexualität oder, umfassender, Körpergefühl in schmückenden Darstellungen einnahm. Ein Perspektivwechsel von Organ zu Funktion ließe die Formgebung als Symbol lebensspendender Körperlichkeiten erscheinen: Generationenfolge und Kontinuität. Jedoch wurde aus der männlichen Fähigkeit, Kinder zeugen zu können, auch die Symbolik der Macht, mit vorgestreckten Lanzen (später: Feuerwaffen) töten zu können. Für Frauen waren „lebens-spendende“ auch „lebens-gefährliche“ Vorgänge, denn jede Schwangerschaft und Geburt bedeutete Lebensgefahr. In keltisch-römischen Zeiten galt die Göttin der Liebe auch als Göttin des Todes. Mit der Geschlechtsreife junger Menschen und damit der Gebärfähigkeit stieg die Sterblichkeit bei Frauen. Im Alter von 20 bis 39 Jahren starben 50 Prozent der Männer, bei Frauen begann die hohe Sterblichkeit im Alter von 15 Jahren und bis zum 39. Lebensjahr starben 76,5 Prozent. Nur wenige Frauen erreichten das 60., manche Männer das 70. Lebensjahr. 28 Für Neugeborene lag die Sterblichkeit in den erst fünf Lebensjahren bei etwa 50 Prozent. Künstler*innen stellten Geschlechterrollen und

Karl Brunner, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters, München 2012. Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 26; Birkhan, Kelten, 1059–1061; Ernst Lauermann (Hg.), Schatzreich Asparn. Ur- und Frühgeschichte und Mittelalterarchäologie in Niederösterreich, Asparn/Zaya 2014, 196, 232–245.

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Fernhandel und Nahmigration in vernetzten Ökumenen

Sozialverhalten dar, doch sind Dar-Stellungen nur schwer prozesshaft zu interpretieren. Frauen, Männer und Kinder arbeiteten, eine Halbierung des Arbeitskraftpotenzials durch Beschränkung von Frauenarbeit konnten sich die Menschen nicht leisten. Frauen waren Heilkundige oder Handwerkerinnen, konnten einen hohen Rang und sichtbare Rollen in der Religion einnehmen. Überwiegend in Männergräbern gefundene, mittelmeerisch-norditalisch beeinflusste bronzene Situlen ab dem 5. Jahrhundert v. u. Z. zeigten jedoch Frauen kaum und nur in dienender Funktion. Die Darstellungen betonen gemeinschaftliche Aktivitäten wie Festmahle, Jagd, Kampf. Manche sind sehr realistisch, neben nackten zweikämpfenden Männern je ein Stapel gefalteter Kleidung; andere, auch auf Schwert- und Dolchscheiden, zeigten griechisch-ägyptisch-persische Sphinxen, Flügel- und Mischwesen, menschenfres-

sende Löwen, Elefanten. Eine aus Elfenbein geschnitzte Sphinx mit aufgesetztem Gesicht aus Bernstein in einem Grab bei Asperg (nahe Stuttgart) hatten Händler aus der Hafenstadt Tarent in Süditalien importiert. Nordalpine Friese zeigen südalpine Kleidung wie breitkrempige Hüte oder Schnabelschuhe. Bei Darstellungen von Opferprozessen, zum Beispiel eines Rindes mit orakelartiger Leberschau, mag es sich um Kultisches und Kulinarisches gehandelt haben. Aber stellten Trinkszenen rituelle „Libation“ eines speziellen Gebräus zu Ehren einer Gottheit oder eines Verstorbenen dar oder war es Alkoholkonsum ohne weitere Bedeutung? Vereinzelt tauchten in „Situlenfesten“ Sexszenen auf: rituelle Vereinigung oder offenes Vergnügen? Die Kunsthandwerker*innen haben der Nachwelt kein Handbuch der Bedeutungen hinterlassen. 29

3.6 Fernhandel und Nahmigration in vernetzten Ökumenen Weitläufige Austausch- und Migrationsbeziehungen verbanden lokale mit fernen Identifikationsverbänden. Bergwerker nutzten Handelswege zu konkurrierenden oder ergänzenden Re-/Produktionsstätten, um Kupfer aus Mitterberger und Tiroler Verhüttung zu exportieren oder aus dem (slowakischen) Erzgebirge und den Karpaten zu importieren. Kupfer diente als Ware und als Zahlungsmittel oder, gehortet, als Absicherung für schlechte Zeiten. Träger und Lasttiertreiber, Packer und Hilfspersonal begingen Routen in beide Richtungen. Fernhändler waren nur selten Fernreisende; sie bewegten sich über kürzere Strecken zu einem Austauschort und kehrten mit dem Erhandelten zurück. Manche der mobilen Händler*innen ließen sich nieder, andere lebten dauerhaft itinerant. 30 Die Nutzung von Wegen in gebirgigen oder unbesiedelten Regionen erforderte genaue Kenntnisse. Säumer, die auf einer Rückentrage Fibeln von Etrurien zum Dürrnberg brachten, hatten einen langen und mühseligen Weg mit vielen Höhenmetern zu

überwinden. Entlang der Flüsse und überseeisch – über den See von Neuchâtel und entlang der mittelmeerischen Küsten – beschleunigten Fluss- und Segelschiffe, in den Steppen Pferde Reise und Transport. Bewegungsräume und -geschwindigkeiten beruhten auf vielen Faktoren, Landwege waren nur Teil des Ganzen. 31 Über die Jahrhunderte verbanden Händler*innen die Inn-Salzach-Enns-Region über den oberen Donauraum mit Rhône-Häfen; östlicher Lebende erreichten die Lausitzer Kultur und das Baltikum; andere vom Westrand der Pannonische Ebene Steppen und die Krim oder den Balkan und Peloponnes; manche überwanden die Klippen des „Eisernen Tores“, die mittlere von unterer Donau trennten; weitere handelten entlang von Drau und Save oder über Pässe ins Italische. Sie versorgten die Regionen mit Erzen und Salzen und lieferten Güter aus anderen Kulturen: Seekauffamilien der Ägäis und Etruriens unterhielten Beziehungen nach Nordafrika, Arabien und in die Levante; über Mit-

Stilspezifika lassen sich mit Mikroregionen verbinden. Welt der Kelten, 171–182. Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen der frühgeschichtlichen Archäologie, Berlin 2004, 583. 31 ArchAtlas (www.archatlas.com), begründet von Andrew Sherratt, University of Sheffield, UK; dort besonders Sherratt, „East-West Contacts in Eurasia“, 2005; Tony J. Wilkinson, „Ancient Near Eastern Route Systems: From the Ground Up“, November 2007; Toby Wilkinson, „Pathways and Highways: Routes in Bronze Age Eurasia“, Oktober 2009 (Februar 2013). Barry Cunliffe, Europe between the Oceans. Themes and Variations: 9000 BC–AD 1000, New Haven 2011, 38–61. 29

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.22 Transeuropäische Bewegungsrichtungen nach Sebastian Brather mit Doubs-Saône-Rhône-Route nach Massalia und vom Oberrhein in die Seine-Loire-Region

telsleute boten Händler der Indus-Region und Seefahrer in Oman Produkte an, andere solche von Handwerker*innen in Persien und Zentralasien. Die nordalpinen Händler*innen nutzten in der Hallstattzeit besonders die Verbindungen von und nach Westen, in der Latènezeit ab Mitte des 5. Jahrhunderts solche von und nach Süden. Auskunft über dies vernetzte Leben bietet als Quelle die reichhaltige Abfallhalde der mehrere hundert Menschen umfassenden Dürrnberger Oberschichtssiedlung. Was interessiert, sind nicht nur einzelne Importgegenstände, sondern auch, durch wie viele Hände sie gegangen sind und auf welchen Wegen und Umwegen sie herangetragen wurden. Entlang der Route nach Massalia verkauften und kauften Händler*innen Waren bereits in den oberen Rhein- und Saône-Tälern. In der hochentwickelten südwestdeutsch-elsässisch-nordschweizer Region erhandelten sie Schmuck: Reiche Dürrnberger besaßen um 300 v. u. Z. einzelne Stücke. Die Händler boten ihrerseits die blauen Glasperlen aus Schwaz und Armreifen aus gelb unterlegtem Glas zum Verkauf. Die Familien, die diese Produkte in Massalia an der Rhône-Mündung kauften, hielten ihrerseits Kontakte zu ihren Herkunftsorten in Kleinasien, Städten des Peloponnes und Attikas und den ligurischen Häfen. Aus dem Baltikum erhandelten Rohbernstein schliffen ostalpine Schmuckschaffende zu feinen

Perlen und fertigten Ketten. Das Austauschvolumen blieb jedoch gering, denn Nordeuropa hatte nur wenig Erhandelnswertes zu bieten. Anders die südostalpinen krainischen Menschen: Sie benötigten Salz und boten Gebrauchs- und Verbrauchsgut, zum Beispiel Glasschalen aus Santa Lucia/Sv. Lucija. Aus dem Isonzo-Gebiet in den Julischen Alpen kamen gerippte, honigfarbene Glasschalen ebenso wie ein gerippter, schwarzglänzend überzogener Pokal. Die Menschen dieser Kontaktzone waren für viele kulturelle Einflüsse offen und schufen einen eigenen Stil. Südrouten führten zu den Eisen verarbeitenden Este- und zu Golasecca-Kulturen (ca. 9.–4. Jh.) und nach Etrurien (seit 9.–8. Jh.). 32 Hallstatter Salzbergwerker waren zu dieser Zeit schon Jahrhunderte aktiv; Rom zu „gründen“ war noch niemand in den Sinn gekommen. In der sogenannten orientalisierenden Zeit des etruskischen Zwölfstädtebundes (720–580) unterhielten (See-) Kauffamilien intensive Kontakte zu hellenistischen Häfen. Besonders schöne Vasen (2. Hälfte 6. Jh.) stammten vermutlich aus der Werkstatt eines Töpfers aus Kleinasien, der sich um 550 allein oder mit Gehilfen in Caere niederließ. Attische, korinthische und ionische Künstler-Handwerker*innen siedelten sich in Vulci an. Sie spezialisierten sich auf Gebrauchskunst in Felsina mit Forcello als Handelsknotenpunkt. Zahlungskräftige Kundschaft der Hallstatt-Region erwarb feine Keramik, besonders schwarzfigurige Amphoren. Der Inhalt, Wein, mag sie mehr interessiert haben als die Kunstfertigkeit. 33 Der zirkumalpine Raum war Arena intensiver Transkulturalität und im Voralpenland nahmen Wohlhabende Neues schnell auf: Kleider- und Schuhmoden, Fibeln, Korallenschmuck, Dolche. Kunst-Handwerker*innen veränderten ihre von Keramiker*innen übernommenen geometrischen Muster zu südlichen, fantastischen. Parallel zum Produktaustausch wanderten mutmaßlich Handwerker*innen. Am Dürrnberg fanden Archäolog*innen ein Bronzegewicht aus der korinthischen Region, eine schwarzgefirnisste attische Trinkschale (1. Hälfte 5. Jh.) und eine norditalische pintadera, ein Stempel zur Verzierung von Kleidung, Keramik

Händler der Melauner Zone (Tirol) nutzten die Brenner-Route. Raymond Bloch, Die Kunst der Etrusker, übers. von Ursula Seyffarth, Zürich 1966, 10 passim; Hermann Ament u. a., Frühe Völker Europas, Darmstadt 2003, 74–95; Etrusques. Un hymne à la vie, Ausstellung, Musée Maillol, Paris, September 2013–Februar 2014.

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Fernhandel und Nahmigration in vernetzten Ökumenen

oder Brot. Dies Utensil hatten einst bronzezeitliche Menschen aus Anatolien und dem unteren Donauraum ins Norditalische transferiert. 34 Wie bezahlten die nord- und voralpinen Oberschichten ihren Luxus? Für die Dürrnberger Herren war Salz die Währung – diese finanzielle Basis für die repräsentative Ausstattung erwirtschafteten Bergleute in Gemeinschaftsarbeit. Die Führungsgruppen der oberen Rheinebene, die keine Bodenschätze kontrollierten, bereicherten sich von ihren Wallburgen aus durch Raubzüge ins umliegende Land und bezahlten Importe mit Sklav*innen. Etwa vierzig Liter Wein kosteten einen Sklaven/eine Sklavin, das heißt eine Lebensperspektive. Situlenfriese deuten auf hohen Weinkonsum. Die Zwangsmigrant*innen beeinflussten in den ihnen gesetzten Grenzen die aufnehmenden Kulturen. Sie kannten Grenzziehungen: Soziale Grenzen bestimmten schon vor Verkauf ihren Lebensalltag. Konnte ein soziales Gefüge, in dem sie Waren wurden, community oder Heimat sein? 35 Ost-West Routen über Land oder über die Donau mögen neu entstanden sein oder frühere Kontakte fortgesetzt haben; Zielorte waren Handelsplätze am Schwarzen Meer und in Anatolien. Die Ladung eines Schiffswracks aus dem 14. Jahrhundert v. u. Z. bei Ulu Burun im südlichen Anatolien 36 und Ausgrabungen in Tell Abu al-Kharaz in Jordanien bezeugen das vielfältige Angebot. Über die Routen wurden Kaurimuscheln (Cypraeidae) aus dem Indischen Ozean gehandelt, eine gelangte als Beigabe in ein Dürrnberger Grab. Beliebt waren neben Spondylus andere Muscheln, rote Korallen und balkanische Knotenbügel-Fibeln. 37 Von Kimmerern und Skythen der thrakischen Kulturregion, der pontischen Steppen und der Krim scheinen Pferdetrensen und Streitwagen sowie Dolche zu stammen und Schmucksteine wie Gagat und Sapropelit aus Dorset, Süddeutschland und Nordböhmen. 38

In der „Zeit der Herrensitze und Hügelgräber“ (750/700–500/400 v. u. Z.) und der ganz Mitteleuropa umfassenden „Zeit der Prunkgräber“ (400–350 v. u. Z.) lebten Mächtige ein nach heutigem Ermessen „überzogenes Renommierbewusstsein“. Riefen sie mobile Architekten aus mediterranen Kulturen, wie die Schutzmauer um Heuneburg, die der Hafenmauer von Gela (Sizilien) ähnelte, suggeriert? War ein lokaler Handwerker gewandert und hatte die erlernte Technik zurückgetragen? Oder war die Verwendung luftgetrockneter Lehmziegel das Werk von Bauleuten aus Massalia? Innerhalb der Wallanlagen lebten Handwerker*innen in gesonderten Vierteln, auf dem unbefestigten Dürrnberg in der Ramsauer Siedlung. Sie und andere einfache Menschen konnten Luxusgüter nicht selbst besitzen, doch sie sahen die Kleidung und den Schmuck der Oberschichten und dienende Frauen und Männer hatten Einblick in den Wohlstand und sprachen, wie vermutet werden kann, mit anderen darüber. Ob Prunk und Macht Respekt weckten, wissen wir nicht. Wir wissen, dass untertänig gemachte Menschen kritisch-widerständig denken konnten. 39 Die Zentren Mächtiger und die Nutzung von Naturressourcen erforderten Arbeitskräfte und boten Optionen: Migrant*innen kamen selbstbestimmt, durch Anwerbung und Abwanderung oder unter Zwang und sie wanderten meist kleinräumlich: Zuwanderung zu Erz- und Salzabbaustätten; Abwanderung bei Erschöpfung der Vorkommen oder Eintreten widriger Umstände. Jeder Abwanderung von einem Ort folgte die Ankunft an einem anderen – es sei denn, Menschen starben unter-wegs. Da Männer und Frauen ihre Ressourcen sinnvoll investieren müssen und wollen, migrierten sie beim Niedergang einer Bergwerksregion in eine andere ohne eine Zeit des Umlernens, die minderes Einkommen oder Einkommenslosigkeit bedeutet hätte. Menschen, die der besseren Nut-

Zeller, Dürrnberg, 25; Pittioni, Urzeit, 1:78; David W. Anthony mit Jennifer Y. Chi, The Lost World of Old Europe. The Danube Valley, 5000–3500 BC, New York 2010, 33. 35 Welt der Kelten, 177. 36 Unter anderem Zinn aus Zentralasien, afrikanische Edelhölzer, Harze aus dem Libanon, Siegel, Nilpferdzähne. Ünsal Yalcin et al., Das Schiff von Uluburun. Welthandel vor 3000 Jahren, Bochum 2005. 37 Cypraeae, Bärenzähne, Hirschhornscheiben und Bergkristalle oder farbige Steine und Bruchstücke keltischer Glasarmringe waren Teil von Amuletten im 8. Jahrhundert v. u. Z. (Funde in Süddeutschland). 38 Peter M. Fischer und Teresa Bürge (Hg.), „Sea Peoples“ Up-to-Date: New Research on Transformations in the Eastern Mediterranean in the 13th–11th Centuries BCE, Wien 2017; Urban, Wegweiser, 146. 39 Zeller, Dürrnberg, 45–48, Zitat 48. 34

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

zung ihrer Arbeitskraft halber einzeln oder in Familien wanderten, wollten bekannte, oft im doppelten Sinn naheliegende Optionen wahrnehmen. Sesshafte Menschen veränderten in Zeiten wirtschaftlicher Expansion ihre Alltagspraktiken; Migrant*innen brachten ihre Sozialisation, Alltagskultur und Spiritualität ein. Sie mussten sich vielfach am unteren Rand der aufnehmenden Gemeinschaft ansiedeln, „unter-wanderten“ also das Althergebrachte. Ohne wirtschaftliche Entwicklung und migrantische Neuerung wären traditionell geschätzte und manchmal als altehrwürdig angesehene Lebensweisen von Stagnation oder gar Verfall bedroht gewesen. Migrantisches Handeln bedeutete Veränderung und Neuankommende beschleunigten oder initiierten Entwicklungen. Die Sesshaften mussten sich mit ihnen auseinander- oder zusammen-setzen. Ausgrenzung war eine Möglichkeit, kooperative Intelligenz eine andere. 40 Sesshaftigkeit und Bewegung waren (und sind) untrennbar miteinander verbunden. Sesshafte Menschen in ressourcenreichen Regionen zogen andere – meist aus Regionen mit geringeren (Arbeitsmarkt-) Optionen – an. Steigende Bevölkerungs- und, folglich, Konsument*innenzahlen ermöglichten es Handwerker-Familien, sich zu spezialisieren. Zuwanderung wurde „selbsttragend“ (self-sustaining), wenn Neuankömmlinge durch positive Informationen zu Nachwanderung motivierten. Wachsende Bevölkerung ermöglichte die Differenzierung in agrar-, bergbau- oder handelszentrierte Siedlungen und erweiterte für junge Männer und Frauen Optionen bei der Partnerwahl. Die Dynamik begünstigte auch die Abtrennung von Stallungen oder Werkstätten in Hütten oder Häusern und so die Verbesserung von Hygienebedingungen, individuellen Überlebenschancen und kollektivem Gesundheitszustand. Bewegten sich Arbeitsmigrant*innen nur einmal und ließen sich dann nieder? Bergbau – wie

zum Beispiel am Dürrnberg – war, so scheint es, saisonunabhängig und bedurfte der stabilen Präsenz von Arbeitskräften. Doch war, wie Umweltund Technikwissenschaftler*innen gezeigt haben, die Schachtarbeit Luft-abhängig. Nur der deutliche Unterschied zwischen Stollen- und Außentemperatur im Winter garantierte die richtige Belüftung. Daraus folgten eine intensivere Produktion in den kalten Monaten und zusätzlicher Arbeitskräftebedarf. Lokal unübliche Grabbeigaben lassen vermuten, dass „Fremdarbeiter“ aus süd- und ostalpinen Regionen zuwanderten oder angeworben wurden: Waren die Verstorbenen saisonale Pendelwanderer? Oder zufällig hingeschiedene Händler aus der Ferne? Die Beschränkung auf lokale Grabbeigaben muss, andererseits, nicht als abgeschieden oder randständig gedeutet werden, sondern kann eine geringe Aufnahmebereitschaft für „Fremdes“ signalisieren. 41 „Fernes“, wie Muscheln aus der Ägäis und dem Indischen Ozean, war Teil des Voralpin-Lokalen. Als die Menschen der Hallstatt- und Latènezeit ihre Stollen, Schmelzöfen, Kochstellen und Kunstgegenstände nutzten, begannen andere in Japan eine Zeitrechnung zu entwickeln, wieder andere in Indien die Lehre des Gautama Buddha zu verbreiten, in China Lebende das Gesellschaftsbild des Konfuzius zu akzeptieren. Auf der Apennin-Halbinsel begannen Migrant*innen eine kleine Siedlung namens Rom und in Zentralasien iranische Sogder Afrasiab (Samarkand) zu errichten. War dies weit weg? In einem reichen Hügelgrab bei Heuneburg fand sich chinesische Rohseide – wenn diese Interpretation von Archäologen richtig ist. Dieses Luxusprodukt wurde auf dem Marktplatz (agora) in Athen gehandelt. Seidenweber-Familien in China arbeiteten, so scheint es, für den Export weit nach Westen. Konnten keltische Frauen östliche Luxusstoffe ebenso nähen wie ihre selbstgewebten Tücher?

Zu Migration und demografischen Brüchen zuerst Luigi L. Cavalli-Sforza; als eine rezente Diskussion unter vielen anderen Stephen Shennan, „Demographic Continuities and Discontinuities in Neolithic Europe: Evidence, Methods and Implications“, Journal of Archaeological Method and Theory 20 (2013), 300–311. 41 Ludwig Pauli, „Die ethnische Zusammensetzung der Dürrnberger Bevölkerung“, in: Pauli, Dürrnberg bei Hallein III, 486–505; Zeller, Dürrnberg, 30. 40

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4 Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z. Im gesamten Europa lebten flexible Verbände von Menschen mit zeitweise gemeinschaftlichen Mentalitäten und Alltagsbräuchen in Kontakträumen mit fuzzy borders. 1 Anhänger traditionsschaffender bzw. -verändernder Eliten, die sich waffentragend und -nutzend ausbreiteten, bildeten Identifikationsgenossenschaften. Ethnonyme, selbstgegeben oder von außen zugeschrieben, blieben vielfach erhalten, wenn identifikatorische Inhalte wechselten. Manche Verbände schufen sich eine historische Erzählung mit Gründungsmythos und fixierten so Erinnerung. Ich fasse eingangs die Kritik an Volks- und Nationszentrismus zusammen und wende mich anschließend der Sozialstruktur und politischen Organisation der latènezeitlichen Bevölkerung im

Voralpenraum zu (Kap. 4.2), der Interaktion Ansässiger mit imperialen Zuwander*innen nach der Annexion „Noricums“ und „Pannoniens“ (Kap. 4.3) und norisch-urbanem Alltagsleben (Kap. 4.4). Auf das Leben und Handeln (Kap. 4.5) und die Wirren des 3. Jahrhunderts im Transmittelmeerischen Reich sowie auf migrierende Großverbände blicke ich anschließend (Kap. 4.6). Das Ausfransen der Reichsränder bedeutete für viele der dort Lebenden Desaster. Zur Romanisch sprechenden Bevölkerung der (vor-) alpinen Gebiete kamen im 5. Jahrhundert Zuwander*innen bayerischer und slawischer Dialekte (Kap. 4.7) sowie Bewaffnete fränkischer Dialekte, die die Ansässigen und sich Ansiedelnden unterwarfen (Kap. 4.8).

4.1 „Völker“: Konstrukte ohne empirische Daten Archäolog*innen bezeichnen Kultur schaffende Menschen ohne Schriftlichkeit nach wichtigen Fundorten ihrer Gebrauchsgegenstände. 2 Textquellen-bezogene Historiker übernahmen ihre Diktion von „antiken“ Autoren und dies schuf Probleme, die bis in die Gegenwart Umgangssprache beeinflussen. In der Zeit der Stadtstaaten des Peloponnes und Attikas werteten Autoren benachbarte oder zureisende Menschen, die das dialektreiche Griechisch nicht oder nur schlecht sprachen, als „Barbaren“ – Stammler – ab, es sei denn, sie waren mächtig wie „die Perser“. Allerdings bekriegten und versklavten sich „die Griechen“ gegenseitig und „die Perser“ waren vielkulturelle Untertanen einer Dynastie. Über Keltisch Sprechende berichteten zuerst ihre Gegner. Manche, wie Hekataios in Milet

(~560–~480 v. u. Z.) an der anatolischen Ägäis-Küste, waren sich ihrer Heterogenität bewusst, andere kannten nur Teile ihrer weiträumigen Kulturen, bewerteten sie aber pauschal als gewaltbereit. Dauerhaft einflussreich wurde die Weltgeschichte von Herodot, der – von seinen bikulturellen hellenischkarischen Eltern ebenfalls an der Ägäis-Küste sozialisiert (490/480–424) – zeitweise in Süditalien und Athen lebte. Er bezog sich weitgehend auf Erzählungen und Schriften anderer und seine Ost ←→ West-Perspektive schloss Süden und Norden aus. Obwohl manche seiner Leser ihn als Schreiber „zahlloser Fabeln“ abwerteten, so Cicero im 1. Jahrhundert u. Z., ernannten Antikengläubige im 19. Jahrhundert ihn zum „Vater der Geschichtsschreibung“. Wie Griechisch Sprechende blickten „rö-

Linda Colley, Britons: Forging the Nation, 1707–1837, New Haven 1992; Robin Cohen, „Fuzzy Frontiers of Identity: The British Case“, Social Identities 1 (1995), 35–62. 2 Fundstücke im Keltenmuseum Hallein, Museum Hallstatt und Laténium – parc et museé d’archéologie de Neuchâtel. Ludwig Pauli u. a., Die Kelten in Mitteleuropa: Kultur, Kunst, Wirtschaft, Salzburg 31980, 16–24; Georg Rohrecker, Die Kelten in Österreich. Auf den Spuren unseres versteckten Erbes, Wien 2003; Alexander Demandt, Die Kelten, München 72011, 114–118; Sabine Rieckhoff, „Spurensuche: Kelten oder was man darunter versteht …“, in: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hg.), Die Welt der Kelten. Zentren der Macht – Kostbarkeiten der Kunst, Stuttgart 2012, 26–36, vgl. auch 52–53, 424–522. Siehe weiterhin Bernhard Maier, Die Religion der Kelten. Götter – Mythen – Weltbild, München 2004, 11–32. 1

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

mische“ Autoren, oft weder in Rom noch auf der Apennin-Halbinsel geboren und sozialisiert, über die Grenzen des Reiches nach außen und setzten sich und ihren Standort als zivilisiertes Zentrum, alle Nachbarn als Unzivilisierte. Die Autoren der Römischen Kirche würden dieses Muster übernehmen und „den Christen“ „die Heiden“ gegenüberstellen. Im Kontext des 19. Jahrhunderts nahmen Historiker – aus heutiger Sicht Volkstumsverehrer – die Begrifflichkeit auf und konstruierten eine Dichotomie Griechen-und-Römer vs. „Völkerwanderungen“. Erstere nutzten sie als „Formationsplattform der eigenen nationalen, politischen und religiösen Identität“ und schlossen die seinerzeit von Griechen und Römern als Barbaren bezeichneten „Völker“, das heißt keltische und nordeuropäische Menschen, vom Status „antik“ aus. 3 Sozialisiert in den entstehenden „nationalen“ Staaten Europas, die empirisch betrachtet vielkulturelle Imperien waren, konstruierten die Erinnerer ihrem jeweiligen Volk eine Ahnenreihe, genealogia. Sie bezeichneten die Salz- und Kunst-werkenden Menschen in Hallstatt, am Dürrnberg und anderswo als „die Kelten“; der von ihnen behauptete Untergang „der Römer“ bedeutete ihnen Leere im Voralpenraum und Illyrien. Anschließend ließen sie „die Bayern“ und „die Alemannen“ die Region besiedeln, während „die Slawen“ als Fremde eindrangen. Ein Blick auf Alltagsgegenstände hätte Kontinuitäten gezeigt. Österreichische und deutsche Geschichtenschreiber stritten, ob keltische, germanische oder imperial-römische Herkunft den besten Gründungsmythos abgäbe. 4 Die Mehrheit präferierte die Germanen, die gemeinsam ein Segment der indoeuropäischen Sprachfamilie bildeten, sich aber nie als einheitliches Volk verstanden haben. Da „die Germanen“ die imperial-kultivierten „Rö-

mer“ besiegten, kürten diese Ideologen das „freie Germanentum“ zum Ursprung des HohenzollernReiches (1871–1918) und der Habsburger-Monarchie (Ende 13. Jahrhundert bis 1918) und annektierten die indoeuropäischen als indogermanische Sprachen. 5 In mittelalterlicher lateinischer Sprache bezeichnete natio Gruppen, innerhalb derer kulturelle Unterschiede geringer schienen als Trennmerkmale zu anderen. Scholaren und Kleriker gruppierten sich nach Herkunftsregionen: An der Universität in Paris (gegr. ~1200) umfasste eine natio Studierende aus Paris und der Isle de France, eine zweite die des übrigen Frankreichs, eine dritte alle englischen, deutschen, skandinavischen und böhmischen, eine vierte diejenigen aus mediterranen Kulturen. An der für das Reich der Habsburger und die Kirchenprovinz Salzburg wichtigen KarlsUniversität in Prag (gegr. 1348) erfolgte die Einteilung in eine tschechisch-deutsch-sprachige böhmische und je eine bayerische, sächsische und polnische natio. Erst seit dem späten 16. Jahrhundert sahen Merkantilisten alle Menschen eines Herrschaftsund Wirtschaftsbereiches unabhängig von ihrer Alltagskultur als leistungsfähig. Aufklärer als frühe analytische Kulturwissenschaftler kontrastierten seit dem 18. Jahrhundert die Lebensweisen des Adels einerseits mit denen der Untertanen, besonders bäuerlicher Schichten, andererseits. Sie selbst standen zwischen beiden als – hier differenziert die deutsche Sprache – Bildungs- und Wirtschafts-/Besitzbürger. In historischen Atlanten ist „Volk“ bis in die Gegenwart Interpretationsraster: flächendeckende Sesshaftigkeit vs. bedrohlich vorstoßende, durch Pfeile dargestellte Fremde. 6 Das Römische Reich

Roland Steinacher, „Zur Identitätsbildung frühmittelalterlicher Gemeinschaften. Überblick über den historischen Forschungsstand“, in: Hubert Fehr und Irmtraut Heitmeier (Hg.), Die Anfänge Bayerns: Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, St. Ottilien 2014, 73–123, Zitat 77; Erich S. Gruen, Rethinking the Other in Antiquity, Princeton 2011. 4 Historiker in Frankreich propagierten „die Gallier“ als „unsere Vorfahren“ (François Malrain und Matthieu Poux (Hg.), Qui étaient les Gaulois?, Paris 2011). Im englischen Teil der britischen Inseln hatten bereits mittelalterliche Dichter die Artus-Legende, spätere die Verehrung keltischer Druiden erfunden. Sie stilisierten Angeln und Sachsen zu kultivierten Engländern, Iren und Schotten als minderwertig. Im Gegenzug erfanden schottische Kollegen per Ossian-Legende eine eigene Vergangenheit (James McPherson in den 1760er Jahren; Hugh Blair annotierte den Text – in seinen Worten – wissenschaftlich). 5 Seriöse Forschung zu keltischer Kultur begann mit Joseph Déchelette (1862–1914); er kam 1914 im Krieg der konstruierten Völker gegeneinander um. Der deutsche Pionierforscher Paul Jacobsthal (1880–1957) musste wegen jüdischer „Abstammung“ 1935 fliehen und veröffentlichte 1944 Early Celtic Art in England. 6 Geprüft wurden ausgewählte französische, englische und amerikanische Atlanten zur Weltgeschichte sowie deutsche und, für Österreich, C. E. Rhode, Historischer Schulatlas, ca. 1880; Julius Strnadt, Historischer Schulatlas von Oberösterreich und Salzburg, 1907; F. W. Putzger Historischer Weltatlas zur allgemeinen und österreichischen Geschichte, bearb. von Egon Lendl, Wilhelm Wagner und Rudolf Klein, Wien 1965. 3

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„Völker“: Konstrukte ohne empirische Daten

(RR) erscheint in fixistischer Tradition als Muster von Ortsfestigkeit: Keine Pfeile stellen das Vordringen imperialer Heere dar, keine den Abtransport Besiegter in die Sklaverei. In dieser flächig erzählenden Kartografie sind auch „die Christen“ plötzlich da (Abb. 5.23), doch betrug ihr Anteil an der Bevölkerung in den als „christlich“ ausgewiesenen Gebieten nur etwa fünf bis zehn Prozent. Für die Voralpenregion zeigen die Suggestivatlanten von einer Karte zur nächsten Bayern ohne Zuwanderung als über die Fläche anwesend und andere, von Alemannen im Westen bis zu Herulern im Osten, als Eindringende. Der alpenslawische Herrschaftsraum Karantanien existiert erst nach der Annexion als ottonische „karantanische Mark“: Karten als Ikonisierung der Mächtigen dienen Teleologien, sie stellen Verflechtungsprozesse, histoires croisées und Akkulturationen nicht dar. 7 Kritik an den Begriffen „Volk“ und „Völkerwanderungen“, englisch barbarian invasions, haben besonders Wiener Historiker entwickelt. In Stammesbildung und Verfassung: Das Werden der frühmittel-

alterlichen gentes (1961) analysierte Reinhard Wenskus die mit ihnen verbundenen Klischees 8 und Herwig Wolfram die Ideologie des Deutschtums in Das Reich und die Germanen (1990). Wolfram belegte die Entwicklung des Begriffs „deutsch“ – althochdeutsch „diutisc“ – von seiner ursprünglichen Bedeutung als „zum Volk gehörig“ und „volkssprachlich“ (~800 u. Z.) hin zur ethnisierenden „lingua theodisca“ des Fränkischen Reichs und zur Umbenennung von „Franken“ in „teutisci“ (Teutonen) seit Mitte des 9. Jahrhunderts. 9 Für den benachbarten Raum zwischen Alpen und Karpaten haben niederösterreichische und ungarische Archäolog*innen die komplexe Zusammensetzung und Interaktion der vielen Verbände bis zur Ankunft der ebenfalls vielfältigen „Magyaren“ um 900 analysiert. 10 In dieser Studie lassen sich Namen wie „Kelten“ und „Römer“ ebenso wenig vermeiden wie „germanische“ oder „Steppenvölker“ – deshalb diese kritische Erinnerung an die Ideologie der Namensgebungen. 11

Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 2001, behandelt Karantanien seit der „bayrische Landnahme“ genannten Eroberung und benennt differenziert slawische Siedlungsgebiete. Sylvia Schraut, Kartierte Nationalgeschichte. Geschichtsatlanten im internationalen Vergleich 1860–1960, Frankfurt/M. 2011; Tillmann Lohse, „Die Völkerwanderungskarte als europäischer Erinnerungsort. Ein Blick in die Geschichtsatlanten und -schulbücher des 18. bis 21. Jahrhunderts“, in: Lohse und Benjamin Scheller (Hg.), Europa in der Welt des Mittelalters. Ein Colloquium für und mit Michael Borgolte, Berlin 2014, 33–98. 8 Walter Pohl, Die Völkerwanderung: Eroberung und Integration, Stuttgart 22005, als knappe Einführung; Peter Heather, Empires and Barbarians: Migration, Development and the Birth of Europe, London 2009; Klaus Rosen, Die Völkerwanderung, München 22003. Siehe auch Walter Pohl, „Telling the Difference: Signs of Ethnic Identity“, in: ders. und Helmut Reimitz (Hg.), Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300– 800, Leiden 1998, 17–69; Roland Steinacher, „Ethnogenese, Gens, Regnum. Die historische Ethnographie“, Latein Forum 50/51 (o. J.), 78–99, bes. 79–80; und ders., Die Vandalen. Aufstieg und Fall römischer Barbaren, Stuttgart 2014. Zur Entwicklung der Wissenschaft in Österreich Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014. 9 Wolfram bezeichnete „Nationalismus“ als eine „schlimme Häresie der biblisch-antiken Humanität“: „Die undeutsche Herkunft des Wortes ‚Deutsch‘“, in: Rajko Bratož (Hg.), Slowenien und die Nachbarländer zwischen Antike und Karolingischer Epoche. Anfänge der slowenischen Ethnogenese, 2 Bde., Ljubljana 2000, 2002, 1:41–56, Zitat 54; Hermann Jakobs, „Diot und Sprache: Deutsch im Verband der Frankenreiche (8. bis frühes 11. Jahrhundert)“, in: Andreas Gardt (Hg.), Nation und Sprache: Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2000, 7–46. Der Rechtsbegriff „diot“ wurde korporativer – nicht territorialer – Begriff im Kontext der vielsprachigen fränkisch-friesisch-sächsisch-u. a. karolingischen Heere. Walter Pohl, Die Germanen, München 2000. 10 Katalin T. Biró u. a., An der Grenze von Orient und Okzident: Die Geschichte der Völker auf ungarischem Boden, 400.000 v. Chr.–804 n. Chr., Budapest 2003. 11 Zur Forschung seit Wenskus vgl. Walter Pohl, „Tradition, Ethnogenese und literarische Gestaltung: Eine Zwischenbilanz“, in: Karl Brunner und Brigitte Merta (Hg.), Ethnogenese und Überlieferung. Angewandte Methoden der Frühmittelalterforschung, Wien 1994, 9–26; und Steinacher, „Zur Identitätsbildung“, 73–123. Patrick J. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt/M. 2002 (amerikan. 2001); Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen der frühgeschichtlichen Archäologie, Berlin 2004. 7

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

4.2 Keltisch-sprachige Menschen bis zum 1. Jahrhundert v. u. Z. 12 Nördlich der Alpen entwickelten Ansässige und Mobile ihre als Urkeltisch bezeichnete Sprache vermutlich gegen Ende des 2. Jahrtausends v. u. Z. 13 Sie mussten vom 7. bis 4. Jahrhundert auf großräumliche Veränderungen reagieren: Verbindungen zum und vom Mittelmeer verloren ihre Bedeutung; Massalia geriet in eine Rezession; die Verbindungen zum hellenistischen Kulturraum nahmen ebenfalls ab, denn Dürre und Epidemien in Attika, griechisch-persische Kriege und der attische Städtekrieg (432–404) veränderten die Machtverhältnisse. Der etruskische Seehandel sank angesichts der Seemacht griechischer Städte und die expansiven, aber noch nicht imperialistischen Römer bedrängten die – ihrerseits durchaus aggressiven – Etrusker und besiegten sie. Hinzu kam, dass nach Mitte des 5. Jahrhunderts eine kühlere Phase vom Ural bis zum Atlantik die Wachstumsperiode beendete. Mit der Verringerung des Fernhandels endete, zuerst im Scharniergebiet von den Donau-Voralpen zur Rhône-Region, die Herrschaft der schwerttragenden Eliten (s. Karten Abb. 3.2, 3.3, 3.22). Sinkende Ernteerträge bedeuteten Instabilität der Versorgung und damit auch des jeweiligen Wohnortes sowie körperliche Schwächung und Seuchen. Unter den vorangehenden guten Bedingungen mag die Bevölkerung zugenommen haben, sodass Ressourcen knapp wurden und ausreichende Ernährung in leere Schüsseln überging. Der zentrale Ort im oberen Donautal, Heuneburg, fiel einer Feuersbrunst zum Opfer. Begannen in dieser Zeit, wie vermutet wird, Aufstands- oder Befreiungskämpfe unterdrückter Schichten? In vielen Gesellschaften hatten Menschen eine Ökonomie maßvollen Verhaltens entwickelt. Im älteren Englischen gab es für Überschreitungen den Ausdruck to riot, für die Anhäufung übermäßigen Reichtums to riot in luxury. Um Schaden für die übrige Gesellschaft abzuwenden, erschien Widerstand mit übermäßiger Gewalt, to riot in violence, legitim. Traten in Heuneburg handwerkende Familien, die den Prunk für diesseitiges Leben und das Jenseits herstellten, de-

nen entgegen, die ihn ostentativ zur Schau stellten? Chronisten des entstehenden römischen Staatswesens hörten von Streitigkeiten zwischen und innerhalb von keltischen Verbänden, die geregeltes Leben unmöglich machten. Die Menschen im Voralpen- und Donauraum, soweit sie trotz der Widrigkeiten sesshaft blieben oder zuwanderten, lebten in konzentrierten Siedlungen (oppida) oder in kleineren Gemeinschaften. Mesoregional bildeten sie Familiengroßverbände: gentes in römischer Bezeichnung, „Stämme/tribes“ in Sprachen, die genetische Einheit postulieren. Der Singular „keltisch-sprachig“ bedeutete Vielfalt: Allein in Gallien lebten und bewegten sich etwa dreißig Verbände, kooperierten in Handelskontakten oder konkurrierten in Kriegsbündnissen. Aus dem sozialhierarchisch spannungsgeladenen oberen Donau-Gebiet wanderten kleinere Verbände west- und ostwärts, trafen auf sesshafte Bevölkerungen und mischten sich unter sie oder überlagerten sie. Autoren, die östliche Verbände als „Reitervölker“ titulierten, hätten sie als „Fußvölker“ bezeichnen müssen. Nach – vielfach gewaltsamer – Niederlassung lebten Alt- und Neusiedelnde meist zusammen oder nebeneinander. Die Menschen der Kulturphase „keltisch“ intensivierten neben den transalpinen auch die Verbindungen in die Donau-Karpaten-Ebene zu skythisch-kulturellen Gemeinschaften (ab Mitte des 7. Jahrhunderts). In nur zwei Generationen um 450 v. u. Z. mischten, verwoben und verschmolzen sie die Formensprachen „Hallstatt“ und „oberitalisch“: Nördliche geometrische Formen verbanden sie mit südlichen. Sozialhierarchisch setzten sich lanzenbewehrte Einzel- oder Gruppenkämpfer durch; ihre Führer kennzeichneten sich mit dem südöstlichen Statussymbol Dolch. Sie benötigten Arbeitskräfte von Diener*innen bis zu Kunsthandwerker*innen und neue Siedlungen erforderten Erd- und Bauarbeiter*innen. Neue oder alte KaufFamilien bedienten die Nachfrage nach mediterranen Luxusgütern; für Menschen nahe der Alpen-

Dieser Teil stützt sich auf Welt der Kelten; Demandt, Kelten; Bernhard Maier, Geschichte und Kultur der Kelten, München 2012; Hermann Ament et al., Frühe Völker Europas, Darmstadt 2003, 26–43; Ian Barnes, Der große historische Atlas der Kelten, aus dem Engl. von Caroline Klima u. a., Wien 2009, 8–91. 13 Immanuel Ness u. a. (Hg.), Encyclopedia of Global Human Migration, 5 Bde., Oxford 2013, 1:157–167; Welt der Kelten, 37–38. Später sprachen auch Gruppen wie die Britannii und Belgae, die nicht als Kelten gelten, keltische Sprachen. 12

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Keltisch-sprachige Menschen bis zum 1. Jahrhundert v. u. Z.

Pässe bedeutete dies einen Standortvorteil. Die keltischen Männer und Frauen, die Städte bauten, neue Siedlungslandschaften kultivierten, Handel trieben und neue Techniken entwickelten, „standen zweifellos an der Schwelle zur Hochkultur“. 14 Zeitgleich hatten die Eliten des vormals kleinen Roms, die ihre lateinische Sprache um die Mitte des ersten Jahrtausends v. u. Z. entwickelten, eine aggressive Ausbreitung in Gang gesetzt. Bewaffnete nordalpine Verbände trafen auf marschierende römische Heere. 15 Bei Kontakt bezeichneten sich die Nordalpinen gegenüber den Südalpinen als Könnende, „kel“, oder Mächtige, „gal“. 16 Griechische und römische Autoren, gewissermaßen „Barbaren ohne Sprachkenntnisse“, glaubten, dass es sich um Gruppennamen handle und schrieben „Kelten“ und „Gallier“ in die historische Erinnerung ein. Diese Bezeichnungen erscheinen, verschriftlicht, späteren Generationen als historisches Wissen. Ebenfalls zeitgleich verließen im keltischen Großraum, vermutlich angesichts von Ressourcenverknappungen, mehr und mehr Menschen ihre Siedlungen. Sie reflektierten ihre Erinnerungen in Wandererzählungen und Gruppennamen wie Tektosagen („ein Dach Suchende“) und Allobroger („anderswo Geborene“). Ein römischer Chronist glaubte zu wissen, dass Gallien übervölkert gewesen wäre und 300.000 Menschen im 6. Jahrhundert nach Norditalien und Pannonien abgewandert seien. Gruppen bewegten sich „auf eigene Faust“: „Faust-recht“ ist rechtlose – recht lose – kriegerische Gewalt. In manchen Siedlungen blieben die Frauen sesshaft, um den Männern die Rückkehr zu ermöglichen, in anderen zogen alle ab und brannten ihre Häuser nieder, in wieder anderen entschieden sich Männer für Arbeitsmigration. Anfangs betraf all dies den Dürrnberg, die Alpentäler und das Waldviertel nicht. 17 Nicht nur durch Händler, sondern auch als

Söldner im RR erfuhren „Kelten“ von den Annehmlichkeiten des Südens. Von alters her ließen sich Arbeit suchende Männer von Gewaltunternehmern, oft als Heerführer bezeichnet, anwerben. Die Männer verdingten sich, gaben also ihre Selbstbestimmung auf; manche suchten entlang der Wege Beute: Sie beuteten Sesshafte aus. Sie dienten unter anderem in Sizilien und auf dem Peloponnes. Eine der keltischen Wander- und Militär-Genossenschaften besiegte in den 380er bis 340er Jahren den etruskischen Städteverband und besetzte Rom (387 v. u. Z.), verlor es aber wieder und siedelte in der Po-Ebene, Gallia Cisalpina in interpretatio romana. Totenbestattungen nebeneinander deuten auf eher friedliche Koexistenz. In einem der Kriege um Vorherrschaft im Mittelmeerraum unterstützten cisalpine Gallier das in einem milden Winter über die Alpen heranziehende karthagische Heer Hannibals. Die RR-Heere siegten, vertrieben überlebende Gallier oder heuerten sie als Söldner an. Das Bild keltischer Gewaltbereitschaft benötigten römische Autoren als Gegenbild zum angeblich zivilisatorischen Vordringen der eigenen Heere. Manche waren gewaltbereit: Ein etwa 20.000 Menschen umfassender, Galater genannter Verband querte die Meerenge nach Kleinasien. Anatolische Bildhauer stellten ihre Gewalttaten im Fries des Altars in Pergamon nahe Ephesus/Izmir dar (184–160 v. u. Z.). 18 In Pannonien und in den Karpaten vermischten sich seit etwa 400 v. u. Z. Teilverbände der keltischen, südöstlichen dakischen und südwestlichen illyrischen Kulturen. Sie betrieben Landwirtschaft mit Eisengeräten und entwickelten einen eigenen künstlerischen Stil. 19 Um 300 siedelten sich von den Römern Norici und Taurisci genannte Krieger, Frauen, Kinder und Alte im später so genannten Böhmen an; in Noricum sowie entlang der Donau siedelten Boier unter anderem in der befestigten Siedlung oppidum (später Pressburg/Bratislava),

Dirk Krausse, „Auf der Schwelle zur Hochkultur. Die etwas ‚anderen‘ Kelten“, in: Welt der Kelten, 90–93. Die Unterteilung der römischen Herrschaft in Republik und Kaiserzeit ab etwa 40 v. u. Z. hat für die Annexionen wenig Bedeutung. 16 Sprachwissenschaftler*innen debattieren die Wortbedeutungen. 17 Barry Cunliffe, Europe between the Oceans. Themes and Variations: 9000 BC–AD 1000, New Haven 2011, 270–316; Sabine Rieckhoff, „Der Untergang der Städte. Der Zusammenbruch des keltischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems“, in: Claus Dobiat (Hg.), Dürrnberg und Manching. Wirtschaftsarchäologie im ostkeltischen Raum, Bonn 2002, 359–379; Welt der Kelten, 97, 300–303; Kurt W. Zeller, Der Dürrnberg bei Hallein, Hallein 2001, 52–53. 18 Welt der Kelten, 257–268; Barnes, Atlas der Kelten, 40–43, 64–79; Cunliffe, Europe between the Oceans, 25; Katharina Winckler, Die Alpen im Frühmittelalter. Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800, Wien 2012, 101–102: Um 100 u. Z. kolportierte der römische Geschichtsschreiber Florus, Frauen in den Alpen hätten ihre Kinder als Wurfobjekte gegen römische Soldaten verwendet. 19 László Kontler, A History of Hungary. Millennium in Central Europe, New York 2003, 24–27; Biró u. a., An der Grenze, 67–87. Den anfangs kleinen Verbänden scheinen zwischen 400 und 350 v. u. Z. schwer bewaffnete gefolgt zu sein. 14 15

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

wo sich Handelswege kreuzten. Andere zogen um 280 nach Makedonien, wieder andere aus Ostfrankreich in den Donauraum und auf die ApenninHalbinsel. Ein Militärtrupp raubte die Schätze des Tempels von Delphi auf dem südlichen griechischen Festland; etwa 170 Jahre später fanden RR-Truppen die Wertgegenstände in einem Tempel in Südgallien und raubten sie ein zweites Mal. Plinius d. Ä. (~23–79 u. Z.) berichtet in seiner Historia von einem in Rom arbeitenden Kelten, der bei seiner Rückkehr mediterrane Köstlichkeiten zu den Helveter*innen trug. Daraufhin entschlossen sich dessen Freunde, so Plinius, zur Auswanderung oder, genauer, zur Zuwanderung in die angenehmeren Gefilde mit besserem Essen. Erneut sesshaft Gewordene schufen sich Verehrungsstätten an naturheiligen Orten wie Gewässern, Quellen, Höhlen (s. Kap. 5.1). La Tène war ein solcher Ort, Velem und Celldömölk südlich des Neusiedlersees sowie Flüsse in der pannonischen Region weitere. Diese transeuropäische Antike erstreckte sich von der Saône bis Anatolien, von den Karpaten und der Donau bis Oberitalien. 20 In der ostalpinen Region schlossen sich um 200 v. u. Z. vermutlich dreizehn Kleinverbände zu einer Herrschaft, römisch: regnum Noricum, zusammen. Wie benachbarte Regionen war Noricum erzreich und Metallwerker-Familien von den Alpen bis in die Sudeten und von der oberen Tisza/Theiß bis in die transsylvanischen Hügel unterhielten Handelsbeziehungen nach Cornwall (Zinn), Kreta (Kupfer), in die Westalpen und die Karpaten (Gold). Sie adaptierten weiterhin eine südliche Werkästhetik und passten sie nordalpinen praktischen und ästhetischen Bedürfnissen an. Schmiede-Familien stellten Gebrauchs-, Kult- und Militär-Utensilien her und erfanden in Kärnten „norisches Eisen“, Markenname für eine stahlähnliche, geschichtete Eisen-Kohlenstoff-Verbindung. Für die Klingen von Schwertern und Dolchen ermöglichten das Erhitzen, Schmieden und die Kaltabschreckung Härtung. Die dabei veränderten Strukturen des Metalls konnten die Fachleute vielleicht nicht benennen, aber sie wussten, dass Klingenrücken und Griffe flexibler sein mussten, damit sie nicht brachen. Ihr Wissen, funds of knowledge, blieb Betriebsgeheim-

nis und ging später verloren. 21 Keramik-produzierende keltisch-kulturelle Familien gaben ihre Kenntnisse an germanisch-kulturelle Kolleg*innen weiter, andere übernahmen Verfahren der Emailund Glasherstellung aus dem Orient oder entwickelten sie selbst. Wieder andere drechselten und stellten Räder her. Die textile Produktion einschließlich der Lederverarbeitung blieb – wie vermutet wird – Angelegenheit von Frauen. Von der Schönheit ihrer nach Italien exportierten Kleidungsstücke berichten römische Autoren. In die umgekehrte Richtung trugen Händler weiterhin Weine, Öle und Luxusgegenstände. Ferne Produkte kamen auch durch Heiratskontakte und -kontrakte, Einzelwanderung und diplomatische Geschenke. Auf den Export von Walross-Elfenbein würden sich Nordleute in Norwegen und später in Grönland und Island spezialisieren. Einzelne Produkte wiesen komplexe Provenienzen auf: Von vier kultischen Figuren eines Bronze-Trinkkessels in Hochdorf im Rhein-Gebiet war eine aus attischem Material, zwei weitere waren in einer griechischen Werkstatt in Unteritalien gegossen worden. Weihrauch, Elfenbein und griechisch-skythische Kunstgegenstände stammten von Handelstreibenden im östlichen Mittelmeerraum. All dies erreichte die breite Bevölkerung nicht. Nahm sie es wahr? Innerhalb der patriarchalen Identifikationsverbände und in Familienökonomien nahmen Frauen eine wichtige Stellung ein. Einzelne Verbände waren matrilinear organisiert, in anderen hatten Frauen politische Mitspracherechte. Sozialhierarchisch standen Landbesitzende über Hintersassen, Bergund Handwerkende waren offenbar frei, alle standen über unfreien Schuldknechten und Kriegsgefangenen. Versammlungen, concilia, der Ältesten oder der wehrfähigen Männer berieten Herrscher; bei wichtigen Fragen konnten Frauen beteiligt sein. Doch nach einem römischen Bericht aus Gallien (um 50 v. u. Z.) behandelten Höhergestellte einfache Menschen fast wie Sklaven. Nach militärischen Niederlagen eines Verbandes mussten sich die Überlebenden in Nachbarverbände eingliedern oder zu entfernteren fliehen. Hatten Klima, Arbeitsstellen und Esskultur keltisch-kulturelle Menschen südwärts gezogen, zeig-

Cunliffe (Europe between the Oceans, 38) sieht einen „mitteleuropäischen Korridor“ entlang der Donau zur Marne und Loire. Caroline von Nicolai, „Unruhige Zeiten: Alles wird anders“, und Maya Hauschild, „Quer durch Europa. Die keltischen Wanderungen“, in: Welt der Kelten, 254–263. 21 Der Herstellungsprozess musste im industrialisierenden Europa zwei Jahrtausende später neu erprobt bzw. erfunden werden. 20

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Keltisch-sprachige Menschen bis zum 1. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 4.1 Römisches Reich, 2. Jh. v. u. Z.–2. Jh. u. Z. Die flächige Darstellung gibt grob das Verkehrsnetz, jedoch nicht die Kriegszüge der Legionen, Zuwanderung von Administratoren, Vertreibungen und Sklav*innen-Transporte sowie die zahllosen Botenritte und Reisen wieder. Sie würden eine unüberschaubare Zahl von Bewegungspfeilen erfordern.

ten im 2. bis 1. Jahrhundert imperiale Militärs des RR ein intensives Interesse an norischen Waffenschmieden und Söldnern. Um 171 v. u. Z. heuerten sie 3000 Noriker an, um eine „Rebellion“ – Freiheitskampf oder Affirmation lokaler Eliten – der Istrier*innen niederzuschlagen. Sold und Beute galten den norischen Kämpfern anfangs als Schatz; sie verwendeten es aber schnell auch als Zahlgeld im Rahmen der transimperialen Silberwährung. Durch Kriege (3.–2. Jh.) kam makedonisches Gold zusätzlich zu Karpaten- und Alpengold in die Hände keltischer Söldner. Andere brachten von Militärdienst in Ägypten hellenische Drachmen mit. 22 Keltische Herrscher begannen Münzen zu prägen und am Übergang zur Latènezeit entwickelten Gebildete auf der Basis des etruskischen Alphabets Schriftzeichen. Da die orale Überlieferungskultur funktional war, entstand keine Literatur. Ein Han-

dels- und Freundschaftsvertrag zwischen dem RR und Noricum 182/181 erleichterte Waffenexport und Söldnerdienste und erhob die „alpinen Wilden“ zu foederati. Damit fungierten sie als Grenzschutz gegen transdanubische Militär-Verbände mit versklavten Menschen, die cisdanubisch Lebende und römische Autoren später pauschal als „Germanen“ bezeichneten. 23 Die Herrschenden in Rom, die so ihre Kosten senkten, entschieden in einem weiteren Schritt, die Regionen zu inkorporieren: Die Kaiser Gaius Iulius und Augustus überzogen die Menschen mit Annexionsheeren. In dem Krieg in Gallia Transalpina, 58–51/50 v. u. Z., an dem sich cisalpin-gallische Söldner beteiligten, kamen Hunderttausende, vielleicht eine Million Ansässige um oder wurden versklavt. Oberschichten flohen mit Gefolgsleuten nach Noricum. Der durch seine Machtgier hoch

Trugen sie, vielleicht über Aquileia, die Sitzstatue eines ägyptischen Beamten und Priesters, der in der Zeit zwischen ca. 1250 und 1200 v. u. Z. lebte, nach Pannonien? Sie wurde im 19. Jahrhundert südlich von Wien gefunden. 23 Stefan Moser, Die Kelten am Dürrnberg, Hallein 2010, 138. 22

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

verschuldete Heerführer Gaius Iulius mit späterem Beinamen Caesar führte einen privaten Beutezug. Er raubte das Gold der keltischen Heiligtümer und den Schmuck der Wohlhabenden, sanierte so seine Finanzen, legte Reserven für den weiteren Machtausbau an und zahlte seinen offenbar unwilligen Truppen erhöhten Sold. Die Vernichtung der um Siedlungserlaubnis im Flussdelta von Maas und Waal in der Provinz Gelderland ersuchenden Usipeter und Tenkterer – geschätzt auf 200.000 Männer und Frauen, Kinder und Alte – glich Völkermord. Die Menschen in Noricum gerieten in eine Zange: im Norden Konflikte mit Menschen germanischer Sprachen, von Süden heranrückende imperiale Truppen. Letztere annektierten Noricum in den Jahren 15 und 14 v. u. Z., das benachbarte Pannonien zwischen 12 und 9 v. u. Z., später Thrakien (heutiges Bulgarien und Rumänien) sowie, vorher, in den Jahren 31 und 30 v. u. Z., Ägypten. Noricums Annexion ist als unblutiger Anschluss bezeichnet worden, doch wehrten sich die Ambisonten (im heutigen Pinzgau oder am Isonzo). Die Besatzer richteten ein Blutbad an, verschleppten die Mehrzahl der überlebenden Männer. Doch verschonten sie die für den Ackerbau notwendigen, um die Region wirtschaftlich nutzen zu können. Raeter verkauften sie als Sklav*innen und transportierten laut

Chronisten die Salasser ab, um die Kontrolle westalpiner Pässe und des Flussgold-Handels zu übernehmen. Widerstand in Pannonien-Dalmatien-Illyrien in den Jahren 6 bis 9 u. Z. schlugen sie nieder. In Noricum mussten die keltischen Bewohner*innen ihre Höhensiedlungen verlassen und in die (neuen) Städte umsiedeln. Dies mag angesichts des höheren Lebensstandards in den Städten eher Adaption als Unterwerfung bedeutet haben. Der Inn-Fluss bildete die Grenze zwischen Raetia im gallischen und Noricum im illyrischen Herrschaftsbereich. Die Armeen besiegten fast fünfzig Verbände, wie ihre Siegessäule in La Turbie (heute Monaco) dokumentiert. Die norddanubischen Menschen betraf dies nicht. 24 Ethnologisch gesehen ist die Chiffre „Römer“ für die neuen Herrscher unzutreffend, denn das Imperium war „ein historisch gewachsenes Konglomerat unterschiedlicher Rechtsbeziehungen zu einzelnen Fürsten, Städten und Völkern“, eine makroregionale „Konföderation mit einer Zentralregierung in Rom“ oder, als weitere Variante, ein exekutiv aufgebauter Verband weitgehend autonomer zirkum-mediterraner und transalpiner Provinzen mit Aufsichtsrat. Auch der Begriff „Legion“ konnotiert zunächst nur die Soldaten selbst, nicht die gewaltigen Trosse mit Tausenden Eseln und Maultieren, die Zelte und Ausrüstung schleppten. 25

4.3 Einheimische und imperiale Migrationen in Noricum, 1. bis 2. Jahrhundert Noricum mit seinen etwa 50.000 Bewohner*innen war vermutlich nach dem Tod des letzten einheimischen Herrschers Provinz geworden. 26 Das Herrschaftskonzept pax romana verbot Verbänden, Städten und Adligen lokale Kriege zu führen, kontrollierte die entsandten Statthalter und ermöglichte Beschwerden über Korruption in Rom. Land-

besitz verblieb gemäß Gewohnheitsrecht der lokalen Bevölkerung, die Steuerpflicht förderte Geldwirtschaft. Da billiges Meersalz, herangeführt über das altkeltische und das neurömische Straßennetz, den Bedarf deckte, endete die Produktion am Dürrnberg und Salzwerker-Familien mussten abwandern oder umlernen. 27 Die Trennlinie entlang

Clemens M. Hutter, Iuvavum. Alltag im römischen Salzburg, Salzburg 2012, 22–23. Michaela Konrad, „Ungleiche Nachbarn. Die Provinzen Raetien und Noricum in der römischen Kaiserzeit“, in: Fehr und Heitmeier, Anfänge Bayerns, 21–71. Namen der besiegten Verbände in: Norbert Heger, Salzburg in römischer Zeit, Salzburg 1974, 18. 25 Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium Romanum. Geschichte der römischen Provinzen, München 72011, Zitat 57, und, zweites Zitat, Heinz Dopsch und Robert Hoffmann, Salzburg. Die Geschichte einer Stadt, Salzburg 2008, 41. 26 Dieser Teil stützt sich auf Hutter, Iuvavum, und Heger, Römische Zeit. Siehe auch Günther E. Thüry, Das römische Salzburg. Die antike Stadt und ihre Geschichte, Salzburg 2013. Raimund Kastler, Felix Lang und Holger Wendling (Hg.), Faber Salzburgi. Festschrift für Wilfried Kovacsovics, Salzburg 2018, erschien nach Abschluss des Textes. Die Überreste Lauriacums an der Enns werden ergraben, diejenigen Iuvavums liegen unter dem Zentrum von Salzburg-Stadt. Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 29–37; Peter Noelke mit Friederike Naumann-Steckner und Beate Schneider (Hg.), Romanisation und Resistenz in Plastik, Architektur und Inschriften der Provinzen des Imperium Romanum, Mainz 2003, bes. Marcus Reuter, „Die ‚keltische Renaissance‘ in den Nordwestprovinzen des Römischen Reiches“, 21–26, und die Sektion „Donauprovinzen“, 327–526. 27 Neuere Forschungen deuten auf einen Rückgang der Salzproduktion bereits in vorrömischer Zeit. 24

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Einheimische und imperiale Migrationen in Noricum, 1. bis 2. Jahrhundert

Abb. 4.2 Römische Soldaten auf einer Schiffsbrücke bei der Überquerung der Donau, vermutlich nahe Carnuntum Szene der Mark-Aurel-Säule, Rom, zw. 176 und 193 u. Z.; 1589 befahl Papst Sixtus V., von der Säule die – nun heidnischen – Siegesgöttinnen zu entfernen und eine christliche Paulus-Figur hinzuzufügen.

der – nach dem keltischen Flussgott Danouios benannten – Donau schnitt Handelsverbindungen nicht ab. Am Nordufer lebten mit Sold und Beute zurückgekehrte germanische Hilfstruppen und römische Kaufleute pflegten transdanubische Beziehungen. Auch Personen von Rang pflegten über die Donau hinweg Kontakt: Im ersten Jahrhundert v. u. Z. ließen sich die herrschenden Familien eines großen oppidum nahe der Mündung der March/ Morava und in Devín eine Art Akropolis auf dem Berg errichten und von Architekten und Mosaikbildnern aus Italia steinerne Häuser nach römischen Mustern bauen. Sie ließen Goldmünzen prägen und importierten Wein. Handel und Zahlungsverkehr müssen intensiv gewesen sein. 28 Römische Legionäre, meist gelernte Kräfte mit einer Dienstzeit von 25 Jahren, kamen aus vielen Kulturräumen. Sie errichteten ihre Lager aus Stein, umgaben sie mit Mauern und verbesserten in ruhigen Zeiten die Infrastruktur. Entlang der Donau von der Hauptstadt Oberpannoniens, Carnuntum (bei Wien), und Vindobona (Wien) über Lauriacum (Lorch/Enns), Batava/Boiodurum (Passau, norisch-raetische Grenze) sowie von Castra Regina (Regensburg) bis Augusta Vindelicorum (Augsburg) siedelten sich in zivilen Städten Händlerund Kauf-Familien, Handwerker-Familien, Alko-

hol- und Sexdienstleistende an. In Carnuntum wurde Bernstein von der Ostsee und Schlachtvieh aus Italien gehandelt, Gold- und Silberschmiede, Gemmenschneider und Steinbildhauer arbeiteten dort. Die Männer sahen sich unter Kaiser Augustus mit einer Neuordnung ihres emotionalen Lebens konfrontiert: Er ersetzte Rekrutierte, die häufig zu Land und Familie zurückkehrten, durch eine „Militärfamilie“ mit Lagerhaltung und Heiratsverbot. Viele der meist etwa 6000 Soldaten hatten jedoch mitziehende de-facto-Familien oder lokale Partnerinnen, die sich in den Zivilstädten ansiedelten. Gelegentlich besaßen sie ein oder zwei Sklav*innen. Für den Tagesverbrauch einer Legion, etwa 7,5 t Lebensmittel, waren gute Straßen und Brücken erforderlich. Einachsige Ochsenkarren mit bis zu 100 kg Last legten pro Tag etwa 12 bis 15 km zurück, zweiachsige Pferdewagen mit bis zu 500 kg bis zu 30 km. Jede Hundertschaft war in Schlafräumen zu je acht untergebracht, der Centurion in eigener Wohnung. Die Legionäre kochten selbst, konnten also die Qualität ihres Essens bestimmen und, wenn Zutaten lokal vorhanden waren, Präferenzen ihrer Sozialisation beibehalten. Die sanitäre und medizinische Versorgung war gut, der tägliche Drill eher gesundheitsfördernd. Ärzte, Sanitätspersonal und Spitäler versorgten die Männer, die jedoch Schikanen durch Offiziere ausgesetzt waren und für kleine Vorteile die Centurionen bestechen mussten. Außerhalb des Lagers und bei Märschen konnten sie ihrerseits Zivilbevölkerungen erpressen. Sie lebten insgesamt besser und gesünder als diese. 29 In der Zeit zunehmender Beutezüge germanisch-sprachiger Identifikationsverbände erbaute die in Oberitalien neu ausgehobene und für Noricum zuständige Legio II Italica 30 zwischen ca. 170 und ca. 195 u. Z. das Kastell Lauriacum (kelt. „bei den Leuten des Laurios“) an der Mündung der Enns in die Donau, gegenüber dem Handelsweg entlang der Aist von und nach Norden. Für den Bau benötigten sie eine Flotte von Lastschiffen für Baumaterial und Getreidezufuhr und von Patrouillenbooten für militärische Zwecke. Sie transportier-

Slovak National Museum, The Celts from Bratislava, Bratislava 2016. Oberösterreichische Direktion Kultur und Stefan Traxler (Hg.), Die Rückkehr der Legion. Römisches Erbe in Oberösterreich, Ausstellungskatalog, Linz 2018; Robert Knapp, Invisible Romans, Cambridge, MA 2011, 196–235; Ernst Lauermann (Hg.), Schatzreich Asparn. Ur- und Frühgeschichte und Mittelalterarchäologie in Niederösterreich, Asparn/Zaya 2014, 228–231; Franz Humer u. a. (Hg.), A.D. 313 – Von Carnuntum zum Christentum, St. Pölten 2014. 30 Im 4. Jahrhundert kam die Legio I Noricorum hinzu. 28

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.3 Donau-Save-Raum und Po-Ebene: Handelswege und Städte

ten mehr als 20.000 m3 Stein zum Bau der etwa 1800 Meter langen, vermutlich zwei Meter dicken und sechs Meter hohen Mauer, das Fundament nicht eingerechnet. Für Villen verwendeten Steinmetze oft griechischen Namens Marmor aus Villach und Melk sowie Granit aus Mauthausen. Sie legten eine Batterie von Kalkbrennöfen an: Ohne Mörtel weder Mauerwerk noch Putz noch Wandmalerei. 31 Ziegelbrenner*innen konnten in serieller Fertigung bis zu 220 Ziegel pro Tag herstellen. Dafür musste der Ton im Herbst gestochen und über den Winter durch Frieren und Auftauen feinkrümelig werden. Sie gaben bei der Formung Sand oder Steinchen bei und trockneten die Rohlinge in dafür gezimmerten, luftigen Holzschuppen. Für Inneneinrichtungen, Lampen zum Beispiel, wanderten Handwerker*innen aus Aquileia zu; norische Fachleute vermittelten nordalpine Kenntnisse. Ein kaiserlicher Legat, der 191 Lauriacum erreichte, war in Numidien (Tunesien) sozialisiert und hatte 31 32

über zwei Jahrzehnte Ämter in Asia, Britannia, Baetica (Iberien), Moesia Superior und natürlich in Rom innegehabt. Heer und Verwaltung kannten die annektierte Welt, je Legion übernahmen 120 Reiter die Kommunikation. Legionäre erhielten 365 Tage im Jahr Lohn und zusätzlich Kleinbeträge für den Besuch der Zivilstädte, viaticum für Reisen und Außendienst, Schuhnagelgeld für lange Märsche, Beutebeteiligung, Zuwendungen der Kaiser und Boni am Ende der Dienstzeit. Da ihr Einkommen der väterlichen Verfügungsgewalt nicht unterlag, konnten sie Ersparnisse ansammeln und (informelle) Familien gründen. Ihre Märsche von Rom bis zum Donauufer 32 oder zu Wegkreuzungen wie Poetovio (Pettau/Ptuj) und Iuvavum (Salzburg) erforderten fünf bis acht Wochen. Viele Legionäre hielten Verbindungen zu ihren Ausgangsgemeinschaften und lebten gemeinsam mit rekrutierten Einheimischen. Ansässige und Legionäre lebten in hierar-

Die deutschen Baubegriffe Kalk, Mörtel, Mauer, Keller, Estrich, Pforte, Kammer, Fenster, Ziegel und andere stammen aus dem Lateinischen. „Limes“, Grenze, ist seit etwa 100 u. Z. verwendeter Name für den Handels- und Flottenweg und die Kontakträume.

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Einheimische und imperiale Migrationen in Noricum, 1. bis 2. Jahrhundert

Abb. 4.4 Provinz Noricum, 1.–2. Jh. u. Z., mit Donaugrenze und Kontaktzone von Boiotro (Passau) bis Carnuntum

chischer Symbiose, in der Zivilstadt Lauriacum zwischen 170 und 488 u. Z. bis zu 25.000 Frauen, Männer und Kinder. Für lokale Produzent*innen und (zugewanderte) Großhändler bedeutete die Versorgung der Militärs Einnahmequellen. Die steuerpflichtigen Annektierten zahlten. Ende des zweiten Jahrhunderts verdoppelte Kaiser Septimius Severus den Sold und hob das Heiratsverbot auf. Damit wurden Verbindungen zwischen fast-sesshaften Militärarbeitern und Frauen aus dem Nahbereich legal. Die Vorstellung einer „Romanisierung“ der Beherrschten ist der Analyse nicht förderlich, da sich nur eine begrenzte Zahl von Zuwanderern inmitten der strukturierten Mehrheitsbevölkerungen der Alaunen, Ambisonten, Ambidravi, Laianci, Norici und anderen niederließ. Als die Truppen abzogen, lebten die Zurückbleibenden nur noch auf dem vor Hochwassern sicheren Stadtberg. Die südliche Drau-Region war im Vergleich zum nördlichen Alpenhang und Donau-Gebiet weit 33 34

dichter besiedelt. Straßen und (wenige) Brücken verbanden Virunum, vorher keltisch Magdalensberg und anfangs Provinzhauptstadt, 33 mit dem Wegekreuz und Handelsort Immurium (lat. immorari verweilen; Moosham). Die Route über den Katschberg-Pass führte nach Teurnia (St. Peter im Holz) und Aguntum (bei Lienz) oder östlich entlang Mur und Drau nach Flavia Solva (Wagna) 34 und Poetovio/Pettau/Ptuj sowie über Celeia/Celje nach Emona/Ljubljana an der Save und nach Aquileia. Municipium-Status erhielt anfangs nördlich des Tauernhauptkammes nur Iuvavum, später Ovilava (Wels) und Cetium (St. Pölten). Nordwestliche Routen führten über Castra Regina und Augusta Vindelicorum mit 8000 bis 12.000 Einwohner*innen, südwestliche über Veldidena (Innsbruck) am Brennerabzweig nach Brigantium (Bregenz) zum Rhein. Östlich sicherten Kastelle die Route über Noricums und Pannoniens Grenzstädte Comagena (Tulln) und Arrianis (Klosterneuburg) nach Aquin-

Nach 200 residierte der Statthalter auch in Lauriacum und Ovilava. Die dort lebende Familie Cassius hatte Beziehungen bis nach Africa.

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.5 Anthropomorphes Gefäß, 2.–3. Jh. u. Z., Tannham nahe Salzburg-Stadt (Bronze, 16 cm mit Fuß und Henkel)

cum (Buda). Alle Wege führten nicht nur nach Rom, sondern vor allem durch Europa und sie verbanden dynamische ländliche Gebiete mit den Zentren, 35 ein Prozess, der in der neueren Sozialgeschichte connectivity genannt wird. Die aus der Symbiose von römischen und hellenischen Praxen entstandene, mittelmeerisch-imperiale Kultur verschmolz in allen Randgebieten mit den Kulturen der – überlebenden – Annektierten. Ansässige besaßen Umwelterfahrungen und stadtrömisch Gekleidete lernten am Alpenrand oder in Syrien, sich den Temperaturen und dem Klima entsprechend anzuziehen. Annektierte Oberschichten, die dies bleiben und die Verwaltung übernehmen wollten, lernten zügig die lateinische Sprache. Als Handlanger der neuen Machthaber entfremdeten sie sich von den Rangniederen (plebs) der „eigenen“ Gruppe, doch waren sie sozial auch vorher Andere gewesen. Die Eliten unterschiedlicher Kulturen ko-

operierten oft besser miteinander als mit den jeweiligen Unteren: Schichten-, nicht sprachspezifische oder „ethno-kulturelle“ Interessen zählten. Die städtischen Bevölkerungen setzten sich zusammen aus zugewanderten römischen Bürger*innen, lokal Freigeborenen überwiegend keltischer Kultur sowie Sklav*innen und Freigelassenen (liberti). Die selbstüberheblichen Neuen bezeichneten die Einheimischen als „Fremde“, peregrini. Diese wurden schrittweise Reichsbewohner*innen und römische Bürger*innen. 36 Die Gouverneure mit Mitarbeiterstab und Diener*innen waren oft nicht „Römer“ im engeren Sinn; die Verwaltung folgte römischem Recht, ohne traditionelle Rechtspraxen zu verbieten. Latein diente als Herrschafts- und Verwaltungssprache. Die Einbeziehung traditioneller Oberschichten stellte diese ruhig und vermied direkte Fremdherrschaft. Allerdings hatten unmittelbar nach der Annexion nur Zugewanderte römische Verwaltungsund Rechtsexpertise. In Iuvavum, mit vermutlich 7000 Einwohner*innen weit größer als die Provinzhauptstadt, bildeten auf Lebenszeit berufene Decurionen mit erheblichem Mindestvermögen einen Rat mit zwei gewählten Bürgermeistern und einem Stadtrichter. Zwei Ädilen für Markt- und Bauaufsicht sowie städtische Hygiene kontrollierten Preise, Maße und Gewichte, ließen die Straßen sauber halten und Abwässer in den Fluss leiten. Zwei Quästoren trieben Steuern und Pachten ein – Defizite hatten die Bürgermeister und Decurionen aus eigenen Mitteln zu decken. Vermögen hatte auch öffentliche Funktion. Der Bürgermeister Marcus Haterius Summus (2. Jh.) half während einer Hungersnot mit seinem Privatvermögen und die Gemeinde setzte ihm ein Denkmal. Sklaverei hatte, nach dem Abtransport Besiegter, nur sehr geringe Bedeutung. Sklav*innen, denen der alltägliche Sprachgebrauch Willen- und Kulturlosigkeit zuschreibt, kamen als sozialisierte Erwachsene und trugen zur kulturellen Heterogenität bei. Manche, oft durch Halsband mit Namen des Besitzers gekennzeichnet, mussten eintönige und schwere Arbeit leisten; einige verdienten durch Nebentätigkeiten die Mittel, sich freizukaufen. Nur

Barnes, Atlas der Kelten, 50–51; Römisch-Germanisches Zentralmuseum, H. Sedlmayer, „Villenlandschaften in Noricum“, vgl. https://www2.rgzm. de/Transformation/Noricum/Villae_Noricum/Villen_Noricum.html (6. September 2020). 36 Formal verlieh Kaiser Claudius den vier Provinzen der Alpen- und Donauregion 43/44 u. Z. Provinzstatus; das Bürgerrecht erhielten alle freien Einwohner Noricums 212 unter Kaiser Caracalla. 35

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Einheimische und imperiale Migrationen in Noricum, 1. bis 2. Jahrhundert

Abb. 4.6 Dienerin in norischer Tracht, Virunum/Zollfeld Diener*innen wurden durch Haartracht, Kleidung und Gerätschaften gekennzeichnet. Die Frau trägt Spiegel und Kästchen, ihr Gürtel und Gehänge sind mit dekorativen Metallbeschlägen und Schnallen verziert. Der Schreiber hält Schriftrollen und ein Futteral für Federn oder Griffel, in der fehlenden rechten Hand vielleicht eine Schreibtafel.

Abb. 4.7 Diener als Schreiber, Teurnia/St. Peter im Holz (121 cm)

wenige scheinen nordafrikanischer oder subsaharischer Herkunft gewesen zu sein, doch setzte die Nachbildung eines Afrikaners auf einem anthropomorphen Gefäß die Kenntnis von Gesichtszügen voraus. Vielfach durften Versklavte heiraten und ihre Kinder zu Handwerkern ausbilden lassen, einzelne wohlhabend gewordene ließen sich Grabsteine meißeln, so ein gewisser Maurus, der seiner „teuersten“ Ehefrau eine Urnentruhe stiftete. Wohlhabende Kelten-Römer ließen sich auf Grabsteinen mit Diener*innen darstellen und mit Sklav*innen

attischer, dakischer und illyrischer Herkunft, die als Lehrer, Verwalter oder Arzt fungierten. Die Sklavin Attiginta, deren Name wohl romanisiert war, wob als Facharbeiterin in Immurium dichtes wollenes Tuch für Mäntel (saga), die, mit Qualitätsplombe analog zum modernen made in versehen, an Römer*innen verkauft wurden. Das imperiumsweite Preisedikt Kaiser Diokletians im Jahr 301 u. Z. nannte ein spezielles norisches Wolltuch. 37 Noriker*innen übernahmen in selektiver Akkulturation Neues und Sinnvolles, blieben gleich-

Hutter, Iuvavum, 73–77; Heger, Römische Zeit, 118, Abb. 99 und Abb. 41 (Grabstele des Sklaven Peregrinus); Joachim Werner, „Bemerkungen zu norischem Trachtenzubehör und zu Fernhandelsbeziehungen der Spätlatènezeit im Salzburger Land“, MGSL 101 (1961), 143–160.

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.8 Plombe, „hergestellt von Attiginta“ (~21 mm)

gültig gegenüber anderen Aspekten, leisteten Widerstand gegen Unerwünschtes. Zuwandernde, gleich ob aus dem Zentrum oder den Provinzen, übernahmen Lokales. Assimilation wäre bedingungslose Übernahme von Kultur gewesen. Die beidseitige Selbstveränderung war, ohne abwertenden Unterton, Provinzialisierung. 38 Der offene, additive Aspekt war für die Macht-Nehmenden preiswert: Bedrückung, Umerziehung und Gewalt hätten kostenträchtige Konflikte verursacht, Akzeptanz wirkte inkorporierend. Weder Romanisierung noch Keltisierung standen zur Debatte, denn für beide Seiten war wohlüberlegte Aneignung vorteilhafter. Während dieser rand-ständigen und rand-dynamischen Entwicklungen verlagerten die Kaiser

das Machtzentrum des RR nach Osten und mit Beginn der Thronfolgekrisen wanderten im 3. Jahrhundert einzelne Stadt- und Halbinsel-Römer in die ruhigeren Provinzen, suchten wirtschaftliche Optionen oder wurden als demobilisierte Soldaten dort angesiedelt. In norischen Städten kamen die Oberen aus Friaul und Venetien, besonders aus der Adriastadt Aquileia (gegr. 181 v. u. Z.). An diesem Hafen für Produkte aus Ägypten, Afrika, Asien einerseits und für norische und baltische andererseits lebten Menschen griechischer, syrischer, ägyptischer und transsilvanischer Herkunft. 39 Freizügigkeit im RR war umfassender als in der Europäischen Union um 2000, Vielkulturalität selbstverständlicher als im Austria von 2020. Norische Menschen waren weder rand- noch eigenständig, Iuvavum eine „römische Kleinstadt mit unverkennbar keltisch-nordalpinem Charakter“. 40 Die Integration ins Imperium ermöglichte – neben der Pflicht zur Steuerzahlung – die Teilhabe an Handelsnetzwerken und Freiheit der Religionen. Das Bürgerrecht bedeutete nicht Zwang zu römischer Identität, sondern bot eine Möglichkeit der Identifikation: belonging and embeddedness, Zugehörigkeit und strukturelle Einbindung.

4.4 Alltagsleben im keltisch-römischen Noricum Die Neuen entwickelten Iuvavum (später: Salzburg) am schmalen Durchfluss der Igonta – nach dem Flussgott Ivarus – als zentralen Ort und ab 45 u. Z. zur Munizipal-Stadt. Dort hatten auf zwei Hügeln Kelten gesiedelt, doch ihre Höhensiedlung am (Reichen-) Haller Burgstein, deren Bewohner*innen Gegenstände aus dem Mittelmeerraum importiert hatten, mag wichtiger gewesen sein. Als eine Überschwemmung im Jahr 85 viele Holzbauten zerstörte, ordnete der Rat Neubauten aus Stein an und erzwang damit eine sozialräumliche Trennung. Wer sich Stein nicht leisten konnte, musste an den Stadtrand ziehen. Eine Brücke verband die Ufer. Nahe dem Asklepios-Tempel lebte die Elite.

Als sich die römischen Verwalter einrichteten, fehlten – von Textilproduzent*innen abgesehen – Ansässige mit passenden Tätigkeitsprofilen. Zuwander*innen errichteten mit einheimischen Arbeiter*innen Gebäude in römischem Stil, die andere mit Fußbodenheizung ausstatteten. Für die von syrischen Handwerkern übernommene griechische Mosaikkunst brachten Spezialisten die kleinen farbigen Tesserae aus Stein, Keramik und Glas mit. Ansässige konnten Ornamentik und Farbe aus Musterbüchern lernen und lokalen Marmor verwenden. Einfache Mosaiken erforderten ein händisches Verlegen von etwa 3000, höchstwertige von 9000 oder mehr Tesserae pro Quadratmeter

Stefan Schreiber, „Archäologie der Aneignung. Zum Umgang mit Dingen aus kulturfremden Kontexten“, Forum Kritische Archäologie 2 (2013), 48– 123; Dirk Hoerder, Jan Lucassen und Leo Lucassen, „Terminologien und Konzepte der Migrationsforschung“, in: Klaus J. Bade u. a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 32010, 28–53. 39 Anne Kolb und Michael A. Speidel, „Perceptions from Beyond: Some Observations on Non-Roman Assessments of the Roman Empire from the Great Eastern Trade Routes“, Journal of Ancient Civilizations 30 (2015), 117–149; Qiang Li, „Relations between the Roman Empire and China: On the Images of the Roman Empire in Chinese Sources, 1–7 century“, Poster, World Historians’ Congress, Jinan, August 2015. 40 Dopsch und Hoffmann, Salzburg Stadt, 42. 38

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Alltagsleben im keltisch-römischen Noricum

Abb. 4.9 Iuvavum vor dem Hintergrund des heutigen Salzburgs

(10.000 cm2). Die Kunsthandwerker (artifex) mussten vorher die Tesserae zugeschnitten, nach Farbe sortiert und den Untergrund so vorbereitet haben, dass er „ewig“ halten würde. Einige können noch heute begangen werden. Reiche Familien ließen sich, wie die Offiziere in Lauriacum, Luxusgegenstände, Delikatessen, Buchrollen und anderes durch Kaufleute sowie Neuigkeiten aus fernen Gebieten durch Kuriere liefern. Sie tafelten exquisit: südliche Weine, Olivenöle, geräucherte oder eingelegte Austern, liquamen als würzige Soße aus Fischinnereien und Meeresfrüchten, Gewürzkräuter. Kenntnis von „Küchenlatein“ darf dabei vorausgesetzt werden – selbst „kochen“ leitet sich vom lateinischen coquere ab. Ob aber Marcus Gavius Apicius’ Rezeptsammlung für sehr reiche mediterrane Haushalte (Wechsel 3./4. Jh.), das älteste erhaltene römische Kochbuch, die Pro-

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vinzstadt erreicht hat, wissen wir nicht. Archäobotanische Forschungen in der südlichen Steiermark und im nördlichen Slowenien ermöglichen Erkenntnisse über Ernährung und Rezepte. 41 Innovative Unternehmer*innen akklimatisierten Gewürzkräuter und begannen den systematischen Obstanbau. Weinbau, in keltischen Zeiten im Burgenland und Südtirol betrieben, weiteten die Neuen aus, doch lieferten nördlichere Anbaugebiete nur ein säuerliches Getränk. Das wertvolle dünnwandige, rot überzogene Sigillata-Geschirr kauften Wohlhabende von weit bekannten Töpfer*innen anfangs aus Italien (1. Jh. v. u. Z.), dann aus Südgallien, später auch von Rhein und Inn. Der Firmenstempel „Sentia Secunda facit Aquileiae“ war Markenzeichen der Unternehmerin Sentia Secunda aus Aquileia für einen makroregionalen Markt. Frauen, in Rechts-Codices schlechter gestellt als Männer,

Interreg Danube Transnational Programme, Eisenzeit bis Mittelalter, 2016–2017, Archäologiemuseum Schloss Eggenberg, Graz.

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.10 Mosaik (Ausschnitt)

führten im Alltagleben mitunter eigene Unternehmen. 42 Transportarbeiter verbanden Noricum mit den etwa 350 km entfernten Adriahäfen. Aus iuvavischer Familie mit griechischem Migrationshintergrund kommend, beteiligte sich vermutlich Quintus Sabinius Asclepiades an dem Handel: Öllampen aus Afrika, Edelsteine aus Indien, mittelmeerische Fischkonserven, Olivenöl aus riesigen Monokulturen in Syrien, den Provinzen Africa und Hispanien, aus spezifischen Regionen Granatäpfel, Feigen, Datteln und Pflaumen sowie Artischocken, Nüsse und Datteln aus Damaskus und Quitten aus Kreta. Amphoren wurden als Einwegverpackungen genutzt, denn Rücktransport als Leergut war teuer.

Analysen des verwendeten Tons zeigen ihre Herkunft aus dem gesamten Mittelmeerraum. Olivenöl lieferten besonders die Siedlungen (villae) der Insel Brijuni nahe Pula (Istrien): In einem einzigen Unternehmen stellten Sklav*innen jährlich bis zu 10.000 Amphoren mit einem Gesamtfassungsvermögen von mehr als 300.000 Litern her. In Aquileia verarbeiteten – vielfach aus dem hellenischen Kulturkreis zugewanderte oder versklavte – Handwerker*innen Gold und Bernstein, stellten Gemmen und Schmuck her, produzierten Bronzen und Glas als Massenware. 43 Auf halbem Weg zwischen Aquileia und Iuvavum unterhielten das Imperium und Großkaufleute Austausch- und Herbergskomplexe. In Virunum am Magdalensberg/Štalenska gora schmolzen Metallwerker Gold aus Schürfungen und Steuerzahlungen zu Barren für den Abtransport. Immurium bot beheizte Unterkunft mit Bädern. Im Gegenzug für das von Bergwerkern und Schmieden produzierte Eisen gingen für den Elitenkonsum produzierte Figuren aus indischem Elfenbein, Glasfläschchen aus Syrien, bronzene Lampenständer aus Pompeji und Bronzegegenstände aus Capua sowie Duftstoffe und Parfüme aus dem Orient nach Norden. Nur wenige Namen von Im- und ExportFamilien sind bekannt. Die Familie Balbi war sowohl in Aquileia wie am Magdalensberg vertreten und die Caesii, Erbonii, Vedii und Barbii handelten im ersten Jahrhundert zwischen Noricum und dem Mittelmeer; letztere besaßen auch Bau- und Ziegeleibetriebe in Iuvavum (s. Kap. 5.1). 44 Öffentliche Schulen gab es nicht. Privatlehrer unterrichteten die Kinder der gehobenen Schichten, Mädchen in Lesen und Schreiben, Jungen auch in Grammatik und Rhetorik. „Bücher“ bestanden aus sehr teuren Papyrusrollen 45 oder gebundenen

Eine Ennia Fortuna in Italien und eine (oder ein) „Neikais“ an der syrisch-palästinensischen Küste führten Töpferbetriebe. Eva M. Stern, Roman Mold-Blown Glass, First through Sixth Century, Toledo, OH 1995, 73. Hutter, Iuvavum, 122; Thüry, Römisches Salzburg, 165–185; Knapp, Invisible Romans, 53–96. 43 Der Import aus nordafrikanischen Gebieten endete mit der Herrschaftsübernahme der ostgermanischen Vandalen (429–6. Jahrhundert). HansJörg Gilomen, Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, München 2014, 19–26. 44 Paola Ventura (Hg.), National Archeological Museum of Aquileia, Aquileia 2013; Cristiano Tiussi, Luca Villa und Marta Novello (Hg.), Costantino e Teodore. Aquileia nel IV secolo, Ausstellungskatalog, Aquileia 2013. Ein Fresko in der Michaeliskirche in Salzburg zeigt Arbeiter bei der Verschnürung eines Stoffballens für den Transport; das Lungauer Heimatmuseum in Tamsweg präsentiert Funde aus Immurium. Franz Glaser (Hg.), Kelten – Römer – Karantanen, Klagenfurt/Celovec 1998, 83–84, 163–164; Walter Vogl, „Das Bundesland Salzburg und die autonome Region Friaul-Julisch Venetien“, Salzburg Archiv 12 (1991), 67–76; Kordula Gostenčnik, „Eisen – Bronze – Gold: Zum Metallhandwerk in der römischen Stadt Alt-Virunum auf dem Magdalensberg“, Carinthia 206.1 (2016), 11–35. 45 Ägyptische Handwerker stellten aus dem Süßgrass cyperus papyrus seit dem 3. Jt. v. u. Z. das gleichnamige Material her. Sie schnitten das Mark der Pflanze in etwa 4 cm breite Streifen, legten sie überlappend aneinander, fügten kreuzlagig eine zweite Schicht hinzu und pressten das Rohmaterial, das durch den austretenden Saft verklebte. 42

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Alltagsleben im keltisch-römischen Noricum

Abb. 4.11 Feinmechanik: Equinox-Fragment mit Andromeda, Perseus und Auriga und den Sternbildern Fische, Widder, Stier und Zwillinge

Schreibtafeln, Verleger mit Schreibsklaven versorgten den Markt. Auf Grabfriesen ließen Männer sich gern mit (römischer) Buchrolle darstellen, Frauen betonten keltische Elemente durch das Tragen eines gebundenen Tuches, der „norischen Haube“. 46 Gelehrte entwickelten die Messtechnik und andere Bereiche der Wissenschaft weiter; aus Ägypten übernahmen sie das Prinzip der Sonnenuhr. Eine astronomische, wasserbetriebene Uhr in Iuvavum zeigte die Zeit, Monate und Jahre, sowie den Lauf der Sonne, der Gestirne und Tierkreiszeichen an. 47 Wohlhabende in steinernen Häusern lebten zum Innenhof (Atrium) hin und besaßen meist einen Altar für die Hausgottheit. Dem Komfort dienten nur ein Tisch und gepolsterte Liegen im Speiseraum, Truhen und einfache Betten im Schlafraum. Ziergegenstände dekorierten einzelne Wohnbereiche und setzten Zeichen für Gäste. Wichtig war ihnen die Muße, otium, als anregendes und gebildetes Nichtstun, während sie die Berufstätigkeit der weniger Wohlhabenden abwertend als negotium verstanden. Spätere Gesellschaften änderten die Wertung: négociant(e) wurde im Französischen die Bezeichnung für Kaufmann und -frau, to neg-

Abb. 4.12 Grobe Mechanik: Handgetreidemühle Die Schwerarbeit des Mahlens leisteten Frauen und Sklavinnen, wie ihre abgenutzten Gelenke zeigen. Hausmühlen hatten meist einen Mahlraddurchmesser von etwa 40 cm. Bei 6 cm durchschnittlicher Stärke und dem je spezifischen Gewicht von Basalt, Granit oder Sandstein waren etwa 18 kg zu drehen sowie der Reibungswiderstand zu überwinden.

otiate bedeutet im Englischen aushandeln und vermitteln. Da Luxus bezahlt werden musste und Vermögen – Besitz, auf dem man bequem sitzen konnte – für diese Lebensführung Voraussetzung war, bedurfte es arbeitender Menschen, die mit

Kulturelle Identitäten lassen sich aus den Darstellungen in der Regel nicht ableiten. In einem pannonischen Grab (um 200 u. Z.) scheint der Mann suebisch gekleidet zu sein, die Frau erhielt dakische, germanische, sarmatische und römische Schmuckstücke als Beigaben. Biró u. a., An der Grenze, 110–111. 47 Zu Mühlen, Wasserschöpfrädern und Stampfwerken: Gilomen, Wirtschaftsgeschichte, 17–18. 46

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

ihrem Vermögen – im Sinne von Können – Mehrwert produzierten. Deren Leben zu rekonstruieren, ist zwar schwierig, doch nur in Texten hinterlässt Armut wenig Spuren, Wirtschafts- und Materialhistoriker*innen erkennen vieles. Handwerkende Familien lebten und arbeiteten in Iuvavum nahe den noblen Vierteln und am rechten Salzachufer. Arbeiter in Rom verdienten – wenn sie Arbeit hatten – am Tag etwa vier Sesterzen = ein Denar, also etwa 300 Denare im Jahr. Daten für die norischen Städte mit vermutlich niedrigeren Löhnen fehlen. 48 Etwa sechzig Staatsfeiertage dienten als Ruhetage, Sonn-Tage für die Sonnengottheit kamen erst um 200 u. Z. hinzu. Zur Einschätzung des Lebensstandards – oder des Grads von Unterversorgung – sind die Löhne mit den Ausgaben für Nahrung, Kleidung und Unterkunft in Beziehung zu setzen. Einfache Menschen ernährten sich zu 80 Prozent von Mehlprodukten, Hülsenfrüchten und Öl. Sie konnten für eine Sesterze vier Pfund Brot erwerben, ein Huhn hätte drei, ein ganzes Schwein 1600 Sesterzen gekostet. Das monatliche Existenzminimum lag bei circa vierzig Sesterzen für eine Familie und etwa 65 Prozent der Bevölkerung des Imperiums lebte „zwischen Armut und Elend.“ 49 Netzwerke und Kreativität waren gefragt, um die vielen kleinen und manche großen Krisen zu bewältigen. Konkurrenzen oder Streitereien konnten Desaster bedeuten, unter Stress war kooperative Intelligenz nicht einfach zu erhalten. Die Wohn-Werkstätten waren wie zu keltischen Zeiten hölzerne Block- und Rutenwandbauten. Handwerker*innen versorgten die Bewohner*innen mit Nahrung und Kleidung, Bein- und Hornschnitzer*innen mit Messergriffen und Nähnadeln. In einem durch Hochwasser mit Lehm überdeckten und dadurch der Erinnerung erhaltenen iuvavischen Töpferbetrieb stellten die Arbeitenden Massenware her. Sie pressten Ton in Formen, entfernten diese nach der ersten Trocknung und brannten die Rohlinge: im Akkord täglich bis zu sechzig Schalen oder Teller. Sie waren qualifiziert; eine falsche Brenntemperatur hätte ihr Tagwerk in Ausschuss verwandelt. Bronzegießereien und eisenverarbei-

tende Betriebe, die Brenntemperaturen von 800 bis 1300 oC erreichten, lagen am westlichen Stadtrand. Wurden die für die Sauerstoffzufuhr notwendigen Blasebälge durch Familienmitglieder betrieben? Gerber und Färber wurden wegen ihrer geruchsintensiven Chemikalien ebenfalls auf Distanz gehalten. 50 Während ihres otium schufen die Einflussreichen Diskurse: Sie ordneten grobe, körperlich anstrengende Arbeiten, trepitalium (daher frz. travaille, span. trabajo, port. trabalho), als knechtisch und folglich „entehrend“ ein, Aufgabe für plebs, das heißt Sklaven und Unfreie. Diese trügen zur Gesellschaft nichts anderes bei, als Kinder, proles, zu zeugen – daher das spätere Etikett „Proletarier“. Für die Wohnhäuser der Diskurs-Schaffer formten Arbeiter*innen in Holzrahmen Lehm zu Ziegeln, trockneten sie in der Sonne und brannten sie, meißelten Quader in den Steinbrüchen und förderten weißen Marmor am Untersberg, roten in Adnet, transluzent-gelblichen am Schaidberg, kristallinen im Lungau. Wie haben sie selbst über sich gedacht? Ihre Hütten waren kärglich, Lichtöffnungen nur durch Holzläden verschlossen: Eine Kochgelegenheit in der Ecke, daneben ein Eimer als Abort für Küchen- und menschliche Abfälle. Die spärliche Ausstattung bestand aus einem Tisch, Hockern aus Ästen und einer Baumscheibe, Gestellen für Geschirr und Vorräte, einfachen Bettgestellen mit Matte oder Strohsack, Decken, Mänteln, Sandalen, Schuhen. Trinkwasser holten die Frauen aus Zisternen und Schöpfbrunnen und tauschten dabei vermutlich tagesaktuell wichtige Informationen aus. Kosten verursachende Öl- oder Talglampen gaben Dämmerlicht. Die Menschen konnten Sexualität und Zeugung durch Verhütungsmittel wie Schafsdarmkondome und Diaphragmen beeinflussen; Abtreibungen waren oft tödlich. Die Hälfte aller Babys starb im ersten Lebensjahr, die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen lag bei 35 Jahren. Nach der Geburt des dritten Kindes konnten sich freie, nach dem vierten Kind unfreie Frauen durch Petition an die römischen Behörden aus der UnterOrdnung unter einen Mann befreien lassen. Um

Hans Kloft, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, Mainz 2006; Werner Tietz, Hirten, Bauern, Götter. Eine Geschichte der römischen Landwirtschaft, München 2015; Knapp, Invisible Romans, 97–124. 49 Hutter, Iuvavum, 35–53; und Heger, Römische Zeit, 98–147, mit Hinweis auf einen Übungssteinblock eines Bildhauerlehrlings, Abb. 70. Römermuseum Flavia Solva und Wagna, Bridging Time, Wagna, o. J. 50 Von außerhalb des RR importierten Händler meist graue, auf Drehscheiben hergestellte „Föderatenkeramik“. 48

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Alltagsleben im keltisch-römischen Noricum

Abb. 4.13 Römischer Gutshof villa Loig (Rekonstruktion), Walz-Siezenheim In der Mitte das zentrale Wohnhaus, rechts Wirtschafts- und Wohngebäude für Personal, weiter entgegen dem Uhrzeigersinn: Badehaus, zwei Schuppen; linke obere Ecke: Räucherkammer, dann Wirtschaftsgebäude, Stall, Remise, Speicher.

Geburten zu fördern, ordnete Kaiser Claudius (41– 54 u. Z.) an, dass Frauen in Rom ab dem dritten Kind, in den Provinzen ab dem fünften Kind eine Art Kindergeld erhalten sollten. 51 Für die Fernstraßen, die oft entlang keltischer Wege verliefen, mussten auf der Route von Iuvavum nach Süden Legionäre und Sklaven das Terrain nivellieren und Steinblöcke heranschaffen. Sie verlegten 38.000 m2 Steinplatten mit einem Gesamtgewicht von etwa 84.000 t. Passhöhen erforderten eine komplexe Planung und anstrengende Terrassierung. Schnurgerade Straßen, oft als Vermessungsleistung bezeichnet, waren notwendig, denn Drehachsen waren noch nicht erfunden und die Zugtiere hätten Karren mit zusätzlichem Kraftaufwand durch Kurven schleifen müssen. Unternehmer*innen und andere Migrant*innen siedelten sich entlang der Straßen an. Legionen und Verwaltung nutzten Flussläufe für zügigen und kosten-

günstigen Transport, oft auf Flößen und über Donau und Inn mit Schiffsflotten. In gut nutzbaren Ebenen ließen UnternehmerFamilien von Unfreien villae rusticae als marktorientierte Großbetriebe anlegen, nicht weiter als 12– 15 km von der Stadt oder einem Legionslager entfernt, damit die von Ochsen gezogenen Karren mit Frischgemüse die Kund*innen in einem Tag erreichen konnten. Die Besitzer nutzten ihre auf Export und Militärversorgung basierende Finanzkraft für Import-basierten Luxus. Gutshöfe nahe Iuvavum erreichten eine Fläche von 180 x 100 m (Liefering); der Gutshof Loig war Zentrum weiträumiger Agrobusiness-Interessen und Ziel von Künstlern, die ihn reich mit Mosaiken ausstatteten. Mehrere hundert Männer und Frauen arbeiteten in der Landwirtschaft, in Werkstätten für Gebrauchsgegenstände und in der Bildhauerei. Manche Betriebe nutzten lokale Ressourcen wie etwa Lehm und saisonal zu-

Hutter, Iuvavum, 71–75; Thüry, Römisches Salzburg, 83–85, 165–191; Römisch-Germanisches Zentralmuseum: https://www2.rgzm.de/ transformation/home/FramesUK.cfm (8. Februar 2020).

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.14 Villae und Donaugrenzlager: Natürliche und anthropogene Topografie

wandernde Ziegelmacher*innen, um zusätzliche Einnahmen zu generieren. Über das Leben der etwa 37.000 Landbewohner*innen Noricums wissen wir nur wenig. In Jahren schlechter Ernten hatten sie oft nicht genug zu essen. Zusammen mit den ca. 3000 Arbeiter*innen der villae versorgten sie die etwa 7000 Bewohner*innen Iuvavums und eine insgesamt etwa gleich große Anzahl in Bedaium (Seebruck, Chiemsee), Pons Aeni (Westendorf, Inn), bei den Zollstationen am Inn und die Reichenhaller Salzwerkerund Immuriums Händlerfamilien sowie einen Teil der meist etwa 6000 Legionäre an der Donau. Die Region war marginal. Zum Vergleich: In der Hauptstadt von pannonia inferior, Aquincum an der Donau, und in der Handelsstadt Poetovia an der Drau

lebten um 200 u. Z. 30.000 bis 40.000 Einwohner*innen mit Mithras-Kultstätten und Weihestätten für Magna Mater und Nutrices (kaiserliche Ammen). Im Jahr 69 u. Z. riefen Legionäre in Poetovio Vespasian zum Kaiser aus, das Stadtrecht gewährte Kaiser Trajan (98–117). Unter Kaiser Hadrian erbauten die Legionäre eine Brücke über die Drau, die bis 1200 die einzige zwischen Villach und der Mündung in die Donau blieb. Ländliche Familien blieben, so wird vermutet, kulturell eher keltisch. Eine gradierte keltisch-romanische Kultur in ländlicher und urbaner Ausprägung entstand. Einheimische, die in die Zivilstädte nahe den großen Kastellen migrierten, interagierten besonders intensiv mit den vielkulturellen Legionären und, indirekt, dem Imperium. 52

Hutter, Iuvavum, 56–68, 109–124 passim; Felix Lang u. a., „Ein römischer Ziegeleibetrieb […] im Wirtschaftstrakt der villa rustica von NeumarktPfongau“, Salzburg Archiv 34 (2010), 25–40; ders., Stefan Traxler und Raimund Kastler (Hg.), Neue Forschungen zur ländlichen Besiedlung in NordwestNoricum, Salzburg 2017.

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Transmittelmeerisches Reich, 2. bis 5. Jahrhundert: Krisen, Neuerungen, Verschiebungen

4.5 Transmittelmeerisches Reich, 2. bis 5. Jahrhundert: Krisen, Neuerungen, Verschiebungen Die Bewohner Noricums und Pannoniens gehörten zu den fünfzig bis sechzig Millionen Menschen, über die eine imperiale Elite von etwa 100.000 Personen herrschte, darunter etwa 5000 Männer als zentrale Superelite und etwa 35.000 weitere in den 250 bis 300 größeren Provinzstädten. 53 Die Teilung der Armeen in Militärfamilien begünstigte unbeabsichtigt die Bildung von auf Generäle eingeschworenen militärischen Verbänden. Mit dem Ende der großen Eroberungen, das heißt der Plünderung des Mittelmeerraums und von Gallien bis Dacien (Provinz 106–271), begannen Verteilungskämpfe, denn die Mittel für Besoldung wurden knapp. Das Ausmaß der Lockerung zeigte sich, als im Jahr 193 u. Z. Truppen in Rom, Syria, Britannica und Pannonia je einen Kaiser ausriefen und Vielkulturalität die Reichsspitze erreichte. Septimius Severus (h. 193–211), in der Provinz Africa geboren und in Carnuntum zum Kaiser ausgerufen, setzte sich durch. Er sprach Phönizisch, Latein und das koiné-Griechisch, das aus den verschiedenen Dialekten entstanden war. War er „Römer“ oder Außenseiter? Er war verheiratet mit einer Frau aus seiner Heimatprovinz und, in zweiter Ehe, mit Julia Domna aus Emesa (Homs) in Syria, die den Sonnengott verehrte. Sie zog Intellektuelle und Gelehrte, Schriftsteller und Philosophen an den Hof. Die Chronisten dieser Zeit entstammten der imperialen Ökumene: Ägypten, Syrien, Palästina, Thrakien, Ravenna, Gallien, Iberien. 54 Reichsbewohner*innen konnten die Neuorientierungen beobachten, sich beteiligen oder Widerstand leisten. Im bereits nachrangigen, von den Schauplätzen der Expansion weit entfernten Rom setzte Kaiser Septimius ein Zeichen, indem er die in Italien rekrutierte Eliteeinheit der Prätorianer durch eine Legio II Parthica aus vielen, auch keltischen Reichsteilen ersetzte. Bereits G. Iulius Caesar hatte eine Verlegung der Hauptstadt nach Alexandrien angedacht: „Rom“ blickte nach Osten, niemals westwärts in die Richtung des abgelegenen Galliens. Dort würden erst spätere Eliten einen Bezug auf Rom konstruieren. 55

Während Kaiserin Julia Domna die Kultur Syriens – in der viele Religionen entstanden – reichsweit zur Geltung brachte, putschten sich in Italia nach 230 u. Z. in nur fünf Jahrzehnten 26 Männer in die Kaiserposition. Sie verlangsamten so die Wirtschaft, behinderten den Steuereinzug und die Versorgung und beendeten eine solide Geldwirtschaft. Res publica verschwand hinter „Privatem“ – das Verb privare bedeutete „berauben“. Ohnehin

Abb. 4.15 Familie von Septimius Severus und Julia Domna um 200 u. Z. (Ø 30,5 cm, Tempera) Im Vordergrund die Söhne Geta und Caracalla, Getas Gesicht in damnatio memoriae vermutlich nach seiner Ermordung durch Caracalla entfernt. Die drei Männer tragen edelsteingeschmückte Goldkränze und halten jeweils ein Zepter in der Hand.

hatte das „Staats“-Konzept nicht verhindert, dass Senatoren-Familien sich extrem bereicherten: „Die öffentlichen Haushalte verarmten, doch die privilegierte Oberschicht verfügte über ungeheuren Reichtum.“ Der aus Illyrien stammende Kaiser Diokletian 56 suchte das Riesenreich zu stabilisieren: Vier Kaiser mit Residenzen im westlichen Kleinasien (Nicomedia), Unterpannonien (Sirmium),

Knapp, Invisible Romans, 1–6, 217–225, 291. Chronisten des fränkischen Reiches um 800 würden ebenfalls aus dessen gesamtem Raum stammen. 55 Gallien und Iberien waren völlig ausgebeutet, die Gebiete nördlich der Alpen hatten wenig zu bieten, die Apennin-Halbinsel war landwirtschaftlich nicht selbstversorgend. 56 Aus der Donau-Morava-Region (etwa Serbien nach 2006) kamen im 3. und 4. Jahrhundert mehr als ein Dutzend römische Kaiser. 53

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Italien (Mailand 286–402, danach Ravenna) sowie Trier im Westen sollten sowohl eine einheitliche Gesetzgebung als auch schnelle Präsenz in Krisenzonen garantieren. Das Projekt scheiterte. 57 Nach Diokletians Tod setzte sich der ebenfalls in der Provinz geborene Konstantin (h. 306–337) gegen die Mit- und Konkurrenzkaiser durch. Er ließ Tausende Handwerker*innen von weit her kommen und in wenigen Jahren die griechische Kleinstadt Byzantion zur Groß- und Hauptstadt Constantinopolis, Stadt des Konstantin, ausbauen. Aus Italia, jetzt Abwanderungsregion, migrierten Senatorenebenso wie Kauf- und Künstler-Familien in das neue Zentrum. Roms christliche Kleriker verloren ihren Einfluss an den Kollegen in Mailand und, nachfolgend, Ravenna; hingegen residierte der Bischof-Patriarch in Konstantinopel nahe der Macht. Strukturell stand das geschwächte und sich ständig verformende Herrschaftsgebiet im Westen (bis ins 5. Jh.) dem potenten „Reich der Römer“ (griech. rhomaioi) im Osten gegenüber, das ein Jahrtausend länger bestand. An den Rändern des West-RR endete die Friedenszeit, die der Mehrzahl der dort Lebenden ohnehin nur bescheidene oder kärgliche Auskommen ermöglicht hatte. Sie wussten vermutlich nicht, dass bereits 260 Kaiser Valerian vernichtend von dem Perserkönig Shapur I. geschlagen worden war. Bekannt war ihnen, dass kleine bewaffnete Verbände jenseits der ripae (lat. Ufer) von Donau und Rhein vordrangen: linksdanubisch „Markomannen“ (im vormaligen Gebiet der „Boier“), „Rugier“, „Quaden“, „Heruler“, „Jazygen“, rechtsrheinisch „Alemannen“ und „Franken“. Epidemien schwächten das römische Heer und die Bevölkerungen ab 165. Markomannen drangen zwischen 165 und 180 in norische Gebiete vor, zerstörten 171 Iuvavum und verkauften wie zuvor die römischen Legionäre ihre Kriegsgefangenen, jetzt Provinzialrömer, in die Sklaverei. 58

Septimius Severus kannte die Region, denn er war Oberbefehlshaber der Donaulegionen gewesen, als ihn seine Soldaten zum Kaiser ausriefen. Er schickte zusätzliche Truppen und ließ ab 206 Iuvavum wiederaufbauen. Dies schuf Arbeitsplätze und verbesserte die Lage der auf etwa 5000 Menschen gesunkenen Bevölkerung. Er ließ das Straßennetz verbessern und Händler profitierten von der verkürzten Verbindung nach Aquileia. Doch schon wenige Jahrzehnte später mussten die Menschen ihr Alltagsleben und ihre Produktionsformen vereinfachen oder abwandern. Die Klimakrise führte zu Missernten, wirtschaftlicher Stagnation und Bevölkerungsrückgang. 59 Stärker als die Razzien der Beutetrupps aus dem Norden bedrohte die Dauerkrise im Süden die Lebensweisen zwischen Donau und Alpen. Kaiser Diokletian, der die Provinz in Ufernoricum (Noricum ripense) zwischen Donau und Tauern und Binnennoricum (Noricum mediterraneum) zwischen Tauern und Karawanken geteilt hatte, hatte mit seiner „Steuerreform“ die unteren Schichten stark belastet und Provinzgouverneure erhöhten die Steuern weiter. Die Männer und Frauen Noricums wehrten sich 430/31. Ihren Hilfeschrei, „Aufstand“ in Eliten- und Historikersprache, ließen die römischen Noch-Herrscher niederschlagen. Menschen in vielen Randzonen wehrten sich: Im Ebrotal und im mittleren und nördlichen Gallien als bagaudae (von kelt. baga, „Kampf“) bezeichnete Landbewohner*innen (rustici); vorher in Nordafrika die als circumcellions (wohl von circum cellas, „um die Vorratshäuser streunend“) bezeichneten Agonistiker, eine Gruppe, die sozialen mit religiösem Protest verband. Der weit gereiste Salvian (um 400–um 475) sah den Grund der Unruhen in der Ausplünderung der unteren durch die oberen Schichten und, als Christ, in den durch die Zirkusspiele symbolisierten „Sünden“ aller Klassen. 60

Herwig Wolfram, Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung, Wien 1987, 23–25, Zitat 27. Ralph W. Mathisen hebt die Entstehung lokaler Zugehörigkeiten in dieser Periode hervor, „Natio, Gens, Provincialis, and Civis: Geographical Terminology and Personal Identity in Late Antiquity“, in: Geoffrey Greatrex und Hugh Elton (Hg.), Shifting Genres in Late Antiquity, Aldershot 2015, 277–286. 59 Eine Schlechtwetterperiode, 535 bis 560, wird mit dem vermuteten Ausbruch eines Vulkans in Südostasien in Verbindung gebracht. 60 Gebara da Silva, „Back in Black: Property, Power and Rural Rebellions in Late Antiquity“, unveröff. Vortrag, International Late Antiquity Network, 2014. 57

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Reichswirren, Großverbände, Verödungen: Die Krisenzeiten des 3. bis 5. Jahrhunderts

Abb. 4.16 Identifikationsverbände und Wanderungen, 4.–5. Jh.

4.6 Reichswirren, Großverbände, Verödungen: Die Krisenzeiten des 3. bis 5. Jahrhunderts Im 5. Jahrhundert verlor der Donau-limes seine Funktion, die Legionäre erhielten Sold nur noch unregelmäßig. Unter den nördlich des Flusses Lebenden regten die Berichte und die Beute Zurückkehrender Migrationen nach Süden an. Keltische Romanen des Südufers besuchten die Wochenmärkte germanisch-sprachiger Händler*innen am Nordufer und dort adaptierten Rugier römische Wohnformen und lieferten Sklav*innen. Männer beider Seiten verdingten sich als Zeitarbeiter in Heeren. Zwei Entwicklungen, zwischen Nordsee und Weichsel sowie zwischen Zentralasien und dem Chinesischen Reich, veränderten das transkontinentale Machtgefüge und norische Lebenswelten. Dem Klimaoptimum, während dessen das RR seine größte Ausdehnung erreicht hatte, folgte ein Pessimum (regional unterschiedlich bis etwa 750). Vermutlich aus diesem Grund setzten sich südlich der 61

Ostsee Gefolgschaften, farae, unter Militärführern, duces, in Bewegung. Einige schufen sich eigene Traditionserzählungen, anderen gaben die Römer Namen: „Langobarden“ aus der Elbregion, „Sueben“ oder „Quaden“ aus dem Quellgebiet der Elbe, „Vandalen“ von Oder- und Warthe-Gebiet, „Burgunder“ aus der Weichsel- und „Goten“ aus der WeichselNemunas-Region. Die Wanderverbände bewegten sich südwärts, die Goten zunächst ostwärts. Sie rekonstituierten sich über Entfernungen und Generationen in immer neuen Zusammensetzungen, duces-Familien mit bewaffnetem Gefolge formten namensgebende Traditionskerne. Als die RR-Legionen Britannica verließen, drangen von der Nordseeküste später als „Sachsen“, 61 „Angeln“ und „Dänen“ bezeichnete Verbände dorthin vor, in die relativ autonom gewordene Provinz Gallia kleine, als „Franken“ zusammengefasste Kriegerverbände. Diese Bewegungen sind, völlig falsch, als Völker-

Einzelne oder Kleinverbände hatten die Region als römische Söldner kennengelernt.

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.17 Herrschaftsbereiche vom Atlantik bis zum Pazifik Die traditionellen Benennungen, zum Beispiel „Burgunder“, müssten korrekt „variabler burgundischer Identifikationsverband mit flexibler Traditionselite“ lauten und Wanderungsrichtungen müssten die vielen Verästelungen, Umwege, spezifischen Routen mit spezifischen, in Mitleidenschaft gezogenen Ansässigen zeigen. Dies würde die grafische Darstellung unlesbar machen.

wanderungen bezeichnet worden. 62 Die mobilen Tradition-tragenden Eliten glichen den RR-Thronprätendenten: Bewaffnete bildeten immer neue temporäre oder gar ephemere Zusammenschlüsse. Sie verließen klimatisch oder nachbarschaftlich unsicher werdende Regionen und erzwangen sich entlang ihrer Wege Teilhabe an der – oft knappen – Nahrung der Ansässigen. Von diesen, ihres Auskommens beraubt, schlossen viele sich den Wandertrupps an und ebenso „römische Deserteure, entflohene Sklaven, Abenteurer und Menschen, die sich als nun ‚germanische‘ Krieger einfach mehr Chancen erwarteten als in ihrer vorherigen sozialen Umgebung.“ Gruppen kontrahierten und expandierten, lösten sich auf, wurden assimiliert, vermischten sich, nahmen neue Namen an. Wenn ephemere Zusammenschlüsse in langfristige Kon-

glomerate übergingen, ist dies als „Ethnogenese“ bezeichnet worden, doch es handelte sich nicht um eine Genese von „Völkern“, sondern von Bezugsgruppen. 63 In weiter Ferne sahen sich andere Menschen durch das Chinesische Imperium bedroht und beschlossen, zügig westwärts zu ziehen. Aus den Ebenen des Flusses Syrdarja östlich des Aralsees wanderten weitere ab. Ansässige vom Aralsee bis zum Schwarzen Meer sahen sich ihrerseits durch diese als „Awaren“, „Alanen“ und „Hunnen“ etikettierten Menschen sowie durch die am unteren DnjestrFluss ankommenden „Goten“ bedroht. Als Beispiel für Bewegungen, Herrschaft und Askriptionen kann der als „Westhunnen“ 64 benannte, polyethnische Verband dienen, der sich durch hohe Flexibilität und militärisches Können aus-

Der Begriff geht vermutlich auf Wolfgang Laz (1514–1565) zurück, der in De gentium aliquot migrationibus sedibus fixis (1557) antike gotischgermanische Migrationen von Iberien bis zum Schwarzen Meer als Basis der Habsburgischen Herrschaft über die Gesamtregion konstruierte. Der Kaiser adelte Laz zu „von Lazius“. 63 Steinacher, „Ethnogenese“, 88 (Zitat); Peter Heather, Goths and Romans, 332–489, Oxford 1991; Herwig Wolfram, History of the Goths, Berkeley 1988; und ders., „Ethnogenesen im frühmittelalterlichen Donau- und Ostalpenraum (6.–10. Jahrhundert)“, in: ders., Salzburg, Bayern, Österreich: Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit, Wien 1995, 15–67, zu Pannonien 68–71. 62

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Reichswirren, Großverbände, Verödungen: Die Krisenzeiten des 3. bis 5. Jahrhunderts

zeichnete. Die kürzer oder länger Zugehörigen migrierten um 420 in die östliche pannonische Ebene, leisteten den Resten des West-RR Militärhilfe und ließen sich um 430 in der Alföld-Ebene bis zur Theiß/Tisza nieder, denn Kaiser Theodosius II. hatte ihnen die Provinz Pannonia secunda abtreten müssen. Dort Lebende sarmatischer und germanischer Dialekte gliederten sich ein oder mussten dies tun. Den in Noricum Lebenden wurden die fernen Unbekannten unerwartete Nachbarn. Am Hof der „Könige“ lebten Kaufleute, Militärs und Berater aus allen angrenzenden Herrschaften und kommunizierten vermutlich in hunnischen Dialekten sowie auf Griechisch und Latein. Attila (h. 445–453) verbündete sich mit dem im römischen Elitenkonkurrenzkampf aktiven Heerführer Aetius und plante anschließend, diesen niederzuwerfen. Er besetzte im Jahr 452 Aquileia und belagerte oberitalische Städte. 453 zog sein Heer durch Ufernoricum in Richtung Merowingia, wurde jedoch östlich von Paris besiegt. Attila starb plötzlich, der Militärverband gepidischer, thüringischer, rugischer und herulischer, ostrogotischer und alanischer sowie burgundischer Familien zerfiel. Lateineuropäische Propagandisten des 19. Jahrhunderts würden „Hunnen“ – wie „Vandalen“ – zum Inbegriff von Gewalt stilisieren und die „Schlacht auf den Katalaunischen Feldern“ zum Sieg Europas, das heißt Westeuropas, über Ostvölker. Überlebenden in Durchzugsgebieten blieb der Eindruck von Zerstörung und Tod während der nur drei Jahrzehnte kurzen hunnischen Herrschaft. 65 Angesichts der großräumlichen Unsicherheiten entschieden sich die nun in Konstantinopel ansässigen römisch-imperialen Eliten für Lohndumping und banden – wie sie glaubten – einzelne Wanderverbände samt Frauen und Kindern als „Föderaten“ in ihre Strategien ein. Diese lebten nach ihren eigenen Gewohnheiten, ernährten sich durch Berauben der Bevölkerungen am Wegesrand und bewegten sich auf eigene Faust. Sie strebten seit dem 3./4. Jahrhundert die Umwandlung ihres Minderstatus in Teilhabe am Wohlstand an. In Reaktion begann das imperiale Zentrum Planspiele, zum Beispiel die

Ansiedlung der Visigoten in Kärnten. Vandalen und Alanen, denen die Entscheidungen der RRFührung gleichgültig waren, hielten sich bereits in norischen und raetischen Gebieten auf. Anführer ließen sich für Änderungen der Wanderungsrichtung und für Dienstleistungen Getreidelieferungen zusagen, die RR-Anführer den lokal Ansässigen aufbürdeten. Demobilisierte oder sich selbst demobilisierende föderierte Soldaten-Familien ließen sich nieder, ohne Ansässige zu fragen. Bei Bedarf remobilisierte das RR sie und etikettierte sie im Verwaltungsverfahren als ethno-soziale Gruppen. Mobile Verbände hatten eigene, aber nicht lokal angepasste funds of knowledge und Fähigkeiten. Als teilromanisierte Nachfahren der Ostseerand-Bewohner*innen bildeten sie in Aufenthalts- oder Ansiedlungsgebieten für wenige Jahrzehnte oder ein bis zwei Jahrhunderte regnae, die nicht „Germanenreiche“ waren, da Germanisch Sprechende nur etwa zwei bis fünf Prozent der jeweiligen Bevölkerungen ausmachten. Die Dauer ihrer Herrschaften hing von den Beziehungen zu den Ansässigen ab: militärische Repression oder konsensuales connubium. Auf der Apennin-Halbinsel bezogen stadtrömische Thronprätendenten zuwandernde Visigoten 66 in ihre Machtkämpfe und Intrigen ein. Deren Herrscher Alarich suchte Siedlungsland und Macht. Er verhandelte um die beiden Norica und begann, als Faustpfand, Rom zu belagern. Die Stadtelite trickste und er ließ im Jahr 410 seine Truppen einmarschieren, um Machtsymbole zu zerstören und Staatsschätze zu kassieren. Die Soldaten, die statt Sold nur Versprechungen auf Beute erhielten, nahmen sehr viel mehr. Viele Römer*innen kamen um, viele flüchteten und die Zahl der Bewohner*innen sank von 800.000 in imperialen Zeiten auf 50.000, vielleicht sogar auf 20.000 oder weniger. In dem Durcheinander übernahm im Jahr 476 Odoaker, Offizier der Leibwache eines der temporären Kaiser-Usurpatoren in Ravenna, die Herrschaft in Italien. Seine Familie war Teil der Militäraristokratie, die überwiegend aus Männern mit Migrationshintergrund bestand. Vermutlich in Thüringen

Englisch: „Black Huns“; die sogenannten „White Huns“ wandten sich südwärts und zerstörten das Gupta-Reich, eines der drei Großmächte in Indien. 65 Hans-Werner Goetz, Europa im frühen Mittelalter, Stuttgart 2003, 34–48; Walter Pohl, „Rome and the Barbarians in the Fifth Century“, Antiquité Tardive 16 (2008), 93–101; Mischa Meier, Der Völkerwanderung ins Auge blicken. Individuelle Handlungsspielräume im 5. Jahrhundert n. Chr., Heidelberg 2016; Geary, Europäische Völker; Biró u. a., An der Grenze, 115–120. 66 „West-“ und „Ost“- Goten sind irreführende Übersetzungen der schmückenden Beinamen „visi“ und „ostro“ in ihren Selbstbezeichnungen. 64

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geboren, war er am Hof Attilas aufgewachsen und christlicher Überzeugung in arianischer Variante. Er strebte Kontinuität an und bezeichnete sich als Statthalter, patricius, des Kaisers in Konstantinopel. 67 Roms Plünderung und Odoakers Herrschaft stilisierten spätere Ideologen zum „Fall“ Roms, der britisch-imperiale Historiker Edward Gibbon (1737– 1794) gar als „the greatest, and perhaps most awful scene in the history of mankind“. Sie verwechselten die Stadt Rom mit dem Reich. „It is remarkable how little the cataclysm of Rome’s fall in the West affected the millennial association of women and cloth making“, kommentierte David Herlihy. 68 Ein weiterer Machtwechsel folgte im Jahr 493. Der in Pannonien geborene und in Konstantinopel aufgewachsene, als „Ostgote“ etikettierte Kosmopolit Theoderich (493–526) erreichte 490/491 mit etwa 20.000 Bewaffneten und deren Familien die Apennin-Halbinsel. Er ermordete Odoaker, übernahm die Herrschaft und siedelte seine Wandergenoss*innen angeblich ohne Widerstand und Enteignungen an. Vielleicht lagen Teile der Ländereien nach den Thron- und Abwanderungswirren brach. Der Reichsteil, unter verwandtschaftlich gestützter Vorherrschaft des Kaisers in Konstantinopel 69 und später als „Ost(ro)gotenreich“ etikettiert, schloss erneut den Rhône-Raum, Raetia, Noricum, Pannonien und Dalmatien ein. Ob die Menschen in Noricum von Alarichs Plan, ihre Region zu übernehmen, hörten, wissen wir nicht. Sie hörten von Odoaker, denn er ordnete 488 den Abzug der Legionen aus Noricum an. Unter Theoderich erlebten sie Friedensjahrzehnte, aber auch wirtschaftliche Kontraktion. Angesichts der Kosten der reichsweiten Probleme belasteten Präfekten die Menschen so brutal mit Steuern, dass viele flüchteten oder verelendeten. Die Zahl der Bewohner*innen in Noricum und Pannonia superior sank rapide. Die etwa 40.000 zivilen Bewohner*innen und die Legionäre Carnuntums hatte bereits

um 350/360 ein schweres Erdbeben getroffen, um 370 galt es als „trauriger, verwahrloster Ort“. Etwas später hatte Pettau an der Drau seine Rolle verloren (s. Kap. 8.2), Sabaria war in Teilen verfallen. Legionäre zogen zu neuen Standorten, Teile der Bevölkerung wurden umgesiedelt. Aus eigenem Willen Abwandernde gingen oft nur in eine nahe Stadt, denn das italische Reichs-Segment galt als unsicher. Proaktive Migrant*innen transferierten Ressourcen, reaktiv Fliehende wurden verarmte Flüchtlinge. Identifikationsverbände verschoben ihre Aufenthalts-, Herrschafts- und Siedlungsgebiete ohne Unterbrechung. Massenflucht entleerte große Gebiete, Familien aller Schichten wurden ausgeraubt, Städte verwüstet, Felder blieben unbeackert, Eliten verschwanden. Die Spiritualität lokaler Christen litt, wenn fliehende Bischöfe Reliquien mitnahmen. Die Transitwanderungen föderierter Großverbände im 5./6. Jahrhundert bedeuteten steigende Kindersterblichkeit, Hunger und geringeres Sozialkapital, das heißt schrumpfende Netzwerke bei wachsenden Unsicherheiten. Die baltischen Rugier, arianische Christen, die zwischen Enns und Wienerwald mit den dezimierten Legionen Handel getrieben hatten, zogen ab. Theoderich befahl um 507 Noricums Bewohner*innen, „ihre kleineren, aber leistungsstarken Rinder den Alemannen für den Weitermarsch zu überlassen und dafür deren größeres (derzeit erschöpftes) Vieh zum Nutzen des eigenen Ackerbaus zu übernehmen.“ Die Mehrheit der Ansässigen hatte weder Mittel für Abwanderung noch Zielorte. Imperium und Familieneinkommen kontrahierten gemeinsam. 70 Einer der baltisch-vielkulturellen Großverbände siedelte um 520 in Pannonien, zu dem das Wiener und das Horner Becken gehörten. Die später als „langobardisch“ bezeichneten Krieger konkurrierten vermutlich mit aus Schwarzmeer-Regionen heranziehenden germanisch-sprachigen Herulern, alliierten sich 552 mit einem oströmischen Heerfüh-

Sam Moorhead und David Stuttard, AD 410. The Year that Shook Rome, London 2010, 110. Walter Pohl, „Die Anfänge des Mittelalters: Alte Probleme, neue Perspektiven“, in: Hans-Werner Goetz und Jörg Jarnut (Hg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, München 2003, 361–378, Zitat Gibbon 362. David Herlihy, Opera Muliebria. Women and Work in Medieval Europe, Philadelphia 1990, 34. Historiker (er-) fanden 210 Gründe für den Niedergang West-Roms. 69 Martina Hartmann, Die Königin im frühen Mittelalter, Stuttgart 2009, 140, 154–155. 70 Ulrich Bentzien, Bauernarbeit im Feudalismus, Berlin 1980, Zitat 49; Wolfram, Geburt Mitteleuropas, 27–81, beschreibt die vielfältigen Herrschaftswechsel, die Züge von ethnisch benannten föderierten Trupps und die territorialen Aneignungen von Machthabern mit ihren Netzwerken und (innerfamiliären) Konkurrenten. Friedrich Lotter, Rajko Bratož und Helmut Castritius, Völkerverschiebungen im Ostalpen-Mitteldonau-Raum zwischen Antike und Mittelalter (375–600), Berlin 2012, 156–192. 67

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Keltisch-romanische Überlebende und bayerisch- sowie slawisch-sprachige Zuwander*innen

rer gegen weströmisch-ostrogotische Herrscher und lernten dabei die Ressourcen Oberitaliens kennen. Sie beendeten gemeinsam mit den über die Karpaten heranziehenden „Awaren“ die Herrschaft der sowohl föderiert wie eigenständig handelnden ostgermanisch-sprachigen Gepiden (4. Jh.–567). Doch angesichts des abkühlenden Klimas überließen sie 568 ihre temporäre Basis Awaren-Khaganen und wanderten, ohne dies mit Konstantinopel abzusprechen, nach Norditalien. Ihnen schlossen sich unter Bedrohungsszenarien wie unter Zukunftsperspektiven Menschen pannonischer und norischer ebenso wie suebischer, sarmatischer, bulgarischer, herulischer, gepidischer, thüringischer und sächsischer Alltagsbräuche an. Den Weg eines Individuums haben Archäolog*innen nachvollziehen können: Eine Frau, die in Mähren oder Böhmen aufwuchs, schloss sich dem Wanderverband an, gebar in Oberitalien zwei Kinder und zog mit ihnen und einem germanisch-sprachigen, offenbar einflussreichen Mann in eine Siedlung, die ein Jahrtausend später Dortmund genannt werden würde. 71 Wer aus Pannonien abzog, wurde (germanische*r) Langobard*in; wer blieb, wurde Slaw*in oder Awar*in. So einfach und doch komplex kann Ethnogenese sein. In Oberitalien stellten sich ortsfeste Produzent*innen schnell auf die Ankunft der Neuen Menschen ein: Töpferbetriebe nahmen deren einfaches und funktionales Geschirr in ihre technisch weiter entwickelte Produktpalette auf; langobardische Steinmetze und Künstler verbanden Stile

und schufen in Cividale eine „romanische“ Kirche mit beeindruckenden lebensgroßen Statuen. Die Langobarden romanisierten sich schnell und blieben unverändert aggressiv. Im 8. Jahrhundert würde ein stadtrömischer Bischof als „Papst“ um karolingische Hilfe gegen sie ersuchen (s. Kap. 6.2), im 8. und im 12. Jahrhundert Salzburger Bischöfe von dort Steinmetze rufen (s. Kap. 8.6). 72 Die Awaren, vormals polyethnische Alliierte persischer Schahs, bildeten eine migratorische Oberschicht, der sich Gepiden, Bulgaren, Kutriguren (berittene Nomaden) und vor allem Slawen anschlossen. Wie im Westen römisch-gallische Magnaten, erzwangen die Khagane von den Ansässigen Abgaben und beabsichtigten, dies auch gegenüber RR-Konstantinopel und Agilolfing-Bayern durchzusetzen (s. u. Kap. 4.8). Herrscher in Rom-Konstantinopel zahlten zeitweise Tribute, darunter Schmuck, gefertigt von hauptstädtischen Handwerker*innen nach dem Geschmack der Khagane. Diese handelten auch mit Bayern, Alemannen und Gallier-Franziern, verloren aber angesichts von Streitigkeiten zwischen Herrscherfamilien nach nur sechs Jahrzehnten ihre Macht. 73 Die lang andauernde kältere und feuchtere Phase bedeutete sinkende Überlebenschancen. Die Temperaturen fielen im Durchschnitt um 1,5 Grad, Niederschläge stiegen um etwa 20 Prozent. Überlebende Bewohner*innen Iuvavums zogen sich auf die Nonnberg-Hochterrasse zurück, die Noriker*innen insgesamt waren, buchstäblich, ruiniert. 74

4.7 Keltisch-romanische Überlebende und bayerisch- sowie slawisch-sprachige Zuwander*innen Der Fokus auf große Wanderungen und ephemere germanische regnae verdeckt Sesshaftigkeit ebenso wie Prozesse von Siedlungswanderung. Die Fruchtbarkeit der Voralpenregion und mancher Alpentäler war attraktiv. Dort siedelten überlebende keltisch-romanische Menschen – meist nur Romanen genannt – und ab Mitte des 6. Jahrhunderts wan-

derten aus der Donauregion Germanisch und aus Südosten Slawisch sprechende Menschen ein. Sie ahnten nicht, dass awarische ebenso wie merowingische Herrscher Interesse an ihrem Tributpotenzial hatten. Die Herkunft der germanisch-sprachigen Neusiedler*innen wird intensiv debattiert. Vorfahren,

Museum für Kunst- und Kulturgeschichte, Dortmund (Stand Mai 2019). Karin Priester, Geschichte der Langobarden: Gesellschaft, Kultur, Alltagsleben, Darmstadt 2004. 73 Walter Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa, 567–822 n. Chr., München 2002; Peter Štih, The Middle Ages between the Eastern Alps and the Northern Adriatic, aus dem Slowenischen von France Smrke, Leiden 2010, 97–98; Anatoly M. Khazanov, „Pastoral Nomadic Migrations and Conquests“, in: Benjamin Z. Kedar und Merry E. Wiesner-Hanks (Hg.), Expanding Webs of Exchange and Conflict, 500 CE–1500 CE, Cambridge 2015, 359–382. 74 Hutter, Iuvavum, 56–68. 71

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.18 Bayerische, slawische, langobardische Sprachkultur-Regionen 7./8. Jh.

vielleicht von der mittleren Elbe gekommen, hatten als foederati die Grenzverteidigung entlang der Donau von Raetia bis Böhmen übernommen. So besaßen sie – wörtlich – die Kastelle, als das Imperium schrumpfte. In einem der vielen Identifika110

tions-Genesen mit romanischen, alemannischen, langobardischen, ostrogotischen, thüringischen und anderen Familien und Teilgruppen entstanden Baiuwaren/Boier/Baiern. Andere Forscher sehen in der Gruppe einen bereits in keltischer Zeit be-

Keltisch-romanische Überlebende und bayerisch- sowie slawisch-sprachige Zuwander*innen

stehenden Verband. DNA-Analysen zeigen Ähnlichkeiten mit Steppen- und südsibirischen Gruppen einerseits und nordafrikanisch-griechisch-italischen andererseits. 75 Da die Genese in der Zeit ostrogotischer Herrschaft erfolgte, verehrten sie vermutlich den christlichen Gott. Sie siedelten zwischen den Flüssen Lech im Westen und Enns im Osten und zwischen Böhmerwald und Alpen, vermischten sich mit ansässigen Romanisch-Kulturellen und besiedelten die voralpinen Hügel westlich der Salzach und im fruchtbaren Becken der Saalach. Westlich davon bildeten ansässige Alpenromanen und heranziehende Alemannen einen gemeinsamen Herrschaftsraum. 76 Die Slawisch Sprechenden kamen vermutlich aus dem Gebiet zwischen Pripjat und Dnepr. Ihr Name sclavenes mag oströmische Namensgebung gewesen sein; russische Sprachhistoriker diskutieren jedoch seine Ableitung von russisch slowo (Wort), „Sprechende“ im Gegensatz zu nemcy, den Stummen (d. h. Deutschen). 77 Viele wanderten west- und südwestwärts und siedelten von der Ostsee bis zum Peloponnes. Bis zur Trave im Norden und Enns im Süden hatten sie nur etwa zwölfhundert Kilometer zurückgelegt. Zum Vergleich: Die Route zwischen Salzburg und Rom, die Kleriker von Rang oft mehrfach in ihrem Leben zurücklegten, betrug mehr als 850 km, mit Rückreise 1700 km. Im Peloponnes, nach einer Pest nur dünn besiedelt, nutzten die Zuwander*innen kleinere hügelige und gebirgige Regionen, zogen widerstandsfähige Getreidesorten und entwickelten passende Geräte. Nachkommen erreichten das heutige Kärnten, die Steiermark sowie Lungau und Pongau um 600. In den Tälern zwischen Tauern/Karawanken und dem Fluss Mur im Süden lebten neben den

Abb. 4.19 Alpenslawische Ortsnamen im mittleren und östlichen Österreich In den slawisch-kulturellen Ansiedlungsregionen hatten in vorkeltischer Zeit illyrisch-kulturelle Menschen bis zur Salzach und entlang von Drau und Mur gesiedelt, in den westlichen bayerisch-kulturellen raetisch-kulturelle Menschen.

meist christlichen Romanen Kroaten, Duleber 78 und, vermutlich, awarisch-, bulgarisch- und germanisch-sprachige Familien. Sie wuchsen über Generationen zur gens Sclavorum zusammen. Deren westliche Carantani lebten nach Abzug der Langobarden unter einer – vielleicht turksprachigen – awarischen Oberschicht. Vordringende bulgarische Herrscher trennten im 7. Jahrhundert diese südslawische von der nördlich siedelnden westslawischen Sprachgruppe. Als die awarischen Herrscher nach verlustreichen Angriffen auf das RR – Niederlage vor Konstantinopel 626 – ihren Einfluss verloren, bildeten die vermutlich etwa 20.000 „Alpenslawen“ oder Eliten unter ihnen die Herrschaft Karantanien (Steiermark und Slowenien). 79

Bajuwaren sind, da die dritte Silbe auf „vir“ (lat.) und „wer“ (indoeurop.) deutet, „Männer aus Böhmen“. Eine alternative Interpretation deutet „wueren“ als indoeurop. „wohnen“ oder „abwehren“. Die y-Schreibung „Bayern“ ist eine philhellenistische Konstruktion König Ludwigs I. (h. 1825– 1848). Abstammungslegenden des „Stammes“ im 12. Jahrhundert führten ihre Herkunft bis nach Armenien zurück. Zur Kritik Jochen Haberstroh, Ludwig Rübekeil und Alheydis Plassmann in: Fehr und Heitmeier, Anfänge Bayerns; und Hubert Fehr, „Am Anfang war das Volk? Die Entstehung der bajuwarischen Identität“, in: Walter Pohl und Mathias Mehofer (Hg.), Archäologie der Identität, Wien 2010, 211–231; zusammenfassend Roman Deutinger, „Das Zeitalter der Agilolfinger“, in: Alois Schmid (Hg.), Das alte Bayern. Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter, München 2017, 124–212, hier 125–144. 76 Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 38–39. Bernd Schneidmüller, „Die mittelalterlichen Destillationen Europas aus der Welt“, in: Lohse und Scheller, Europa in der Welt des Mittelalters, 11–32. 77 Florin Curta, „The Making of the Slavs Revisited“, in: J. Repič, A. Bartulović und K. Sajovec Altshul (Hg.), MESS and RAMSES II, Mediterranean Ethnological Summer School, Ljubljana 2008, 277–307. Den Raum erklärten großdeutsche Volkstumsplaner, unter ihnen der Rektor der Universität Wien Oswald Menghin, zu einem germanisch zu kolonialisierenden Territorium (Geist und Blut: Grundsätzliches um Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum, 1933). Zur Kritik David Blackbourne, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2008, bes. Kapitel 5: „Rasse und Bodengewinnung“, 307–376. 78 Einer der mythischen, ursprünglich zwölf Stämme der Slawen. 79 Peter Štih, „Von der Urgeschichte bis zum Ende des Mittelalters“, in: ders., Vasko Simoniti und Peter Vodopivec, Slowenische Geschichte. Gesell75

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Von Pannonien bis Illyrien im Osten und Noricum im Westen entwickelten die zum Teil christlichen keltisch- und illyrisch-romanischen Familien sowie die bayerischen und slawischen ihr Zusammenleben. Familien jüdischen Glaubens waren Teil der geschrumpften Gemeinschaften. In Bezug auf Bodenqualität und Witterung hatten Eingesessene einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung, alle lernten voneinander. Jahrhunderte später, 1637, würde René Descartes in seiner oft als wegweisend zitierten „Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen“ argumentieren, dass durch Beobachtung erworbenes, nützliches Wissen angewendet werden könne, um Prozesse der Natur zu beeinflussen. Dies hatten Menschen ohne Schrift seit Jahrtausenden getan. Im vormals binnennorischen Gebiet siedelten Slawisch Sprechende westlich bis ins Pustertal

(Süd-Tirol) und Bayerisch Sprechende über Pass Lueg bis in die Alpentäler. Aus dieser Kohabitation – erweitert durch Nachkommen der zugewanderten Elbgermanen, Ostrogoten und Langobarden – entstanden eine polyglotte Kultur und pluralistische Gesellschaft. Während das Romanische, von Flur-, Fluss- und Ortsnamen abgesehen (Walachei, Strasswalchen, Wals, Seewalchen u. a. m.), bis zum 16. Jahrhundert aus der Sprache verschwand, 80 entwickelten sich „zunächst das Alpenslawische (Altslowenische) einerseits und andererseits etwas später das (germanische) Bairische als Landessprachen“. Die Kommunikationsgemeinschaft verband bayerisches und slowenisches Vokabular. Slawen und Bayern lebten von der Landwirtschaft, Romanen oft in den geschrumpften vormaligen Städten und im Gebirge. 81

4.8 Macht über Menschen: Zuwandernde Militärführer etablieren „Grundherrschaft“ 82 In Noricum und Pannonien beendete der Abzug der Verwalter und Legionäre des RR – anders als im Konstantinopel-römischen Illyrien und im Rom-römischen Gallien – die organisatorische Kontinuität. Bedeutete diese Phase geringerer Herrschaft größere Autonomie für ländliche Familien? Sie besaßen keine Zugtiere und verwendeten nur hölzerne Geräte, denn eiserne waren durch Abnutzung unbrauchbar oder von durchziehenden Gefolgschaften requiriert worden. Frauen bearbeiteten den Boden mit den Händen, communities verloren ihren Zusammenhalt, Übriggebliebene wanderten zu noch funktionsfähigen Gemeinschaften. 83 Wie hunnische und gotische Gefolgschaften aus dem Osten zogen fränkische aus dem Westen heran und annektierten 536 die romanisch-christlichen

post-Noriker*innen. 84 Ein vor Gefolge oder einem Heer ziehender „Her-zog“ namens Garibald (540– 591) eignete sich die obere Donauregion samt ansässigen Romanen, Bayern und Slawen an. Sie waren Freie und Freigelassene, unterschichtet durch hörige Knechte und Mägde. Garibald, warlord mit Führungsenergie, stammte nach Erzählungen aus einer sich „Agilolfinger“ nennenden Magnaten-Familie, die großen Landbesitz und Einfluss in Francia-Merowingia besaß. Garibald wählte das vormalige castra regina (Regensburg) als Herrschaftszentrum. Der Familienzweig setzte sich fest und blieb doch mobil: Garibald und die langobardische Walderada, Witwe eines Frankenkönigs, heirateten; ihre Tochter Theodelinde (um 570–627) ehelichte in Oberitalien den langobardischen Kö-

schaft – Politik – Kultur, Graz 2008, 14–118; und Štih, Middle Ages, 97, 173–174; Joachim Henning, „Untersuchungen zur Entwicklung der Landwirtschaft in Südosteuropa im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter“, Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 25 (1984), 123–130; Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 35–38. 80 Ausnahmen bilden das Ladinische in Südtirol und das Rätoromanische in Graubünden. 81 H. D. Pohl, „Slawische und slowenische (alpenslawische) Ortsnamen in Österreich“, http://wwwg.uni-klu.ac.at/spw/oenf/name1.htm (Graz 2002) (7. September 2020), Zitat; Ernst Schwarz, „Baiern und Walchen“, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 33 (1970), 857–938; Maria Hornung (Hg.), Aus dem Namengut Mitteleuropas. Kulturberührungen im deutsch-romanisch-slawobaltischen Sprachraum, Klagenfurt/Celovec 1972. 82 Herwig Wolfram, „Die Zeit der Agilolfinger. Rupert und Vergil“, in: Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs: Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.1:121–156; und Deutinger, „Agilolfinger“, 145–162. 83 Erzabbau war seit dem 2. Jahrhundert rückläufig und kam im 5. Jahrhundert im Westen weitgehend zum Erliegen. 84 Kärnten und Osttirol wurden 555 oströmisch beherrscht, dann kurzfristig langobardisch.

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Macht über Menschen: Zuwandernde Militärführer etablieren „Grundherrschaft“

nig; 85 deren Sohn Tassilo (I., um 560–619) wurde Herzog der nun „Bayern“ genannten Region, per Fernernennung stimmte Childebert II. in Merowingia 591 zu. 86 Das zirkumalpine, meist als „fränkisch“ oder „langobardisch“ etikettierte Netzwerk beruhte auf Verwandtschaften unterschiedlicher Bindungsintensitäten. Wie von Osten kommende, anders strukturierte Eliten etablierten sich fränkische mit „gefolgschaftsähnlichen“ Heerhaufen (R. Wenskus). Unter der neuen, aber bedürftigen, das heißt geldbedürftigen, Herrscherfamilie wurden die Menschen, wie ihre Vorfahren bei römischer Inkorporation, Teil der Peripherie eines fernen Zentrums. Doch würden sie nicht Bürger*innen, sondern Unfreie oder Sklaven werden (s. Kap. 7.3). Die machtvollen Zuwanderer-Familien erweiterten sich durch Klienten-abhängige Beherrschte zu Clans oder gentes. 87 Hz Tassilo I. plante eine weitere Expansion: Er „zog alsbald [592] mit Heeresmacht ins Land der Slawen und kehrte siegreich und mit großer Beute“ zurück, so der spätere Chronist Paulus Diaconus. Tassilos Einfälle – ein Begriff, den viele Historiker nur verwenden, wenn Slawen und Ungarn vordrangen – waren nicht immer erfolgreich. 595 siegten verbündete slawische und awarische Herrscher, 2000 von Tassilos Kriegern kamen um. Wie deren Familien dies hinnahmen, erwähnen die Chronisten nicht. Freie Bauern waren zu Heerfolge mit selbstgestellter Ausrüstung verpflichtet worden und konnten in dieser Zeit ihr Land nicht bewirtschaften. Verarmten sie, mussten sie sich unter den Schutz eines Herren begeben und wurden von Freien zu Kolonen. Die Familie Agilolfing (mitsamt ihnen später zugeschriebenen Mitgliedern) benötigte ein dauerhaftes, bewaffnetes Gefolge, da die

Durchsetzung von Frondiensten einen höheren Repressionsaufwand erforderte als der Einzug von Abgaben. Gewalt und Zwangsmobilität lassen sich an einem Dreieckskonflikt darstellen: In Karantanien kämpften 631/32 zwei Herrschaftsaspiranten um die Macht, der eine als awarisch, der andere als bulgarisch bezeichnet. Letzterer verlor und floh mit seiner Gefolgschaft – nach zeitgenössischen Angaben 9000 Männer, Frauen und Kinder – in das Gebiet unter der Oberherrschaft der Merowinger-Familie. König Dagobert gestattete ihnen, aufgeteilt in kleinere Gruppen, zu überwintern. Wenig später entschied er sich, die Flüchtlinge umbringen zu lassen. Nur etwa 700 entkamen und ihre Nachfahren wanderten ins lombardisch-annektierte Benevento in Süditalien. Dorthin waren, etwa 200 Jahre früher, norische Christen gewandert. Wussten sie von ihnen? Die mehrsprachigen Menschen in Bayern planten und führten ihr Leben, wirtschafteten nachbarschaftlich, zeugten und gebaren Kinder und betreuten sie beim Heranwachsen. Die Etablierung einer längerfristigen Herrschaft hätte, analog zur pax romana, Ruhe und wirtschaftliche Entwicklung bedeuten können. Doch wandelten die neuen weltlichen und kirchlichen Herrscher in einem Zeitraum von etwa 150 Jahren oder sechs bis acht Generationen 88 die Unterworfenen zu verschenk- und vertauschbaren Unfreien und Sklaven. Die transfränkisch vernetzten Mächtigen hatten so die lokale Gesellschaft zweigeteilt. Diese würde sich Karl („der Große“), dessen Großeltern sich Merowingias bemächtigt hatten, 788 aneignen (s. Kap. 5.7, 6.1).

Sie gewährten Anfang des 8. Jahrhunderts einem vertriebenen Langobarden-Herrscher Zuflucht und entsandten ein Jahrzehnt später eine Armee, um in Thronstreitigkeiten einzugreifen. 86 Fritz Moosleitner, „Merowingerzeit“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:105–120. Die Herkunft der Herrscherfamilie wird weiterhin debattiert. 87 Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages: Europe and the Mediterranean, 400–800, Oxford 2006, 519–588. 88 Die Lebenserwartung, durchschnittlich etwa 25 Jahre, ist errechnet auf der Basis der Gesamtzahl der geborenen Kinder, von denen ein Drittel oder mehr in den ersten fünf Lebensjahren starb. Diejenigen, die das sechste Lebensjahr erreichten, hatten eine Lebenserwartung von etwa vierzig Jahren. 85

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5 Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft Seit Jahrzehntausenden sahen Menschen die Nahrung gebende Natur als belebt oder „animiert“ (lat. animus = Geist, Seele, Mut und anima = Hauch, Atem, Seele, Leben, Wind). Der deutsche Begriff „beseelt“ nimmt christliche Konnotationen auf, „Ehr-furcht“ im Sinne von Respekt und Furcht vor Widrigkeiten wäre eine – vermutlich – adäquate Beschreibung. Natur, Über-Natürliches und Kosmisches schienen einander innezuwohnen: Hilfreiches wie Fruchtbarkeit und Bedrohliches wie Donner und Blitz. Fruchtbarkeit konnte unerklärbar ausbleiben; die Menschen verehrten sie und suchten sie durch Gaben und Riten freundlich zu stimmen. Wichtig und für sie überlebenswichtig waren die Naturzyklen, darunter die fernen, sich regelhaft bewegenden Lichtphänomene der Gestirne, die den Rhythmus der Zeit bestimmten (s. Kap. 2.2, 2.4). Die wärmende Sonne erschien und verschwand. Vielleicht würde sie, so stellten es sich manche vor, durch ein Boot oder Vögel täglich vom Morgen zum Abend getragen. In vielen der Sinnbilder-Ideogramme sind Hände ein zentraler Aspekt. Durch Statuetten mit erhobenen Armen und flach nach oben geöffneten Händen stellten Künstler*innen eine offene, unbewaffnete, grüßende Haltung dar, zum Beispiel bei Kobarid (Slowenien), Nagyrev (Ungarn), bei Strettweg (Steiermark) und im römischen Judea. Bronzene Männerfiguren am Oberlauf des Roten Flusses in Südost-China zeigen ähnliche Haltungen und

gleiche Handgesten (Dian-Kultur, 3. Jh. v. u. Z.). Eine Hand, aus Wolken kommend, war ein israelitisches Bild, „mögen ihre Hände nicht schmerzen“ eine altpersische Dankesformel. Hände aus Bronzeblech formten keltische Handwerker*innen (1. Drittel 6. Jh., Kröllkogel, südl. Steiermark). Händisch setzten Menschen ihre Vorstellungen um: Sie manipulierten, was sie im Blick hatten. Sie verbanden die eigene Schaffenskraft mit Transzendenz. Ich frage zuerst nach den religiösen Überzeugungen und Praktiken keltischer Männer und Frauen. Sie veränderten ihre anthropomorphe und zoomorphe Formensprache im Zuge der Kontakte nach Oberitalien; spirituelle Einflüsse aus dem Norden waren offenbar gering (Kap. 5.1). Aus der Region von der Levante (ital. aufsteigend, Region des Sonnenaufgangs) bis zum iranischen Hochland, in der Ansässige zoroastrische und manichäische, buddhistische und israelitische Glaubensweisen entwickelt hatten, erreichten Migrant*innen im Zuge von Militär-, Handels- und anderen Reisen die Alpen-Donau-Region mit ihrer jeweiligen Spiritualität. Römische Gottheiten kamen hinzu (Kap. 5.2– 5.3) und gemeinsam fusionierten sie Gottheiten (Kap. 5.4). In einer Phase sozialer, politischer und ökonomischer Spannungen transformierten sich unzufriedene Juden zu „Christen“ und bildeten Gemeinden (ecclesiae). In die post-römisch-norischen Gesellschaften kamen „Männer Gottes“ aus Syrien, Franken, Irland und Italien (Kap. 5.5–5.7).

5.1 Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus Keltisch-kulturelle Menschen schlossen an vorangehende religiöse Vorstellungen an. Schon vor Jahrzehntausenden hatten Menschen von Mähren bis zur Donau und den Karpaten weibliche Fruchtbarkeits-Figurinen geschaffen. 1 In Pannonien gestalte-

ten dort Ansässige zwischen dem 18. und 14. Jahrhundert v. u. Z. Vogeldarstellungen und MenschVogel-Figuren. Trugen sie ihre Vorstellungen westwärts, wenn sie Werkzeugstein verkauften? In die Ebene wanderten Skythen ein und schufen – eben-

Figurinen wurden gefunden in Niederösterreich (Stratzing, 34.000 Jahre alt, sowie Langenzersdorf und Falkenstein, 6000 J.), Mähren (Dolní Věstonice/Wisternitz und Střelice, 30.000 bzw. 10.000 J.), Wachau (Willendorf, 30–25.000 J.), Burgenland (Unterpullendorf, 10.000 J.), ein anthropomorphes Gefäß in Draßburg/Darufalva (vor 7200 J.). Eva Lenneis, „Kult und Religion – Figuralplastik und figural verzierte Gefäße“, in: dies. (Hg.), Erste Bauerndörfer – Älteste Kultbauten. Die frühe und mittlere Jungsteinzeit in Niederösterreich, Wien 2018, 108–121.

1

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Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus

Abb. 5.1 Gefäß mit halbplastischer Menschendarstellung, Draßburg/Darufalva, Burgenland, um 5200 v. u. Z. (Ton)

so wie keltische Menschen am Biberg (Saalfelden) – Hirschskulpturen. 2 In vorkeltischer Zeit symbolisierte die (weibliche oder männliche) Sonne kosmische Kraft. Eine bei Nebra in Sachsen-Anhalt gefundene, aus der Zeit zwischen 2100 und 1700 v. u. Z. stammende, offenbar mehrfach überarbeitete bronzene Himmelsscheibe stellt den Vollmond und den zunehmenden Mond, die Plejaden und weitere Sterne zwischen den Himmelsbögen der auf- und untergehenden Sonne dar sowie eine Sonnenbarke. Die Künstlerin oder der Künstler verwendete dafür Kupfer von Erzleuten aus dem etwa 700 km entfernten Mitterberg. Eine um 1400 v. u. Z. geschaffene „Sonnenwagen“-Skulptur im dänischen Trundholm belegt ebenfalls die Verehrung von Himmelskörpern, umfassende astronomische Kenntnisse und eine hohe Fertigungstechnik. 3 Menschen der Kalenderbergkultur südlich von Wien schufen keramische Mond- oder Schiffsdarstellungen; die Schöpfer des „Strettweger Kultwagens“ in der Steiermark stellten im 7. Jahrhundert v. u. Z. eine Frau ins Zentrum. Sie trägt auf erhobenen Händen eine Schale, umgeben von kleineren Reiterkriegern, einem nackten Menschenpaar und einem geführten Hirsch. Schmale Trensen lassen vermuten, dass Hirsche – gezähmt oder gefügig gemacht – geführt

Abb. 5.2 Figurine in Falkenstein, Lengyel-Kultur, 4800–4300 v. u. Z. (Ton, 13 cm)

wurden. Die Figuren sind in gegenläufiger Prozession angeordnet und der Wagen scheint in beide Richtungen zu fahren. Stellt die zentrale Figur eine Göttin, eine Priesterin oder Heilsfigur dar? Führte die Prozession in eine Anderwelt? 4 Viele weitere Fragen sind nicht beantwortet: Symbolisierten Barken ziehende Wasservögel die Sonne oder die Sichel des aufgehenden Mondes? Wasservögel waren Symbol des Lebens, Schiffe Symbol des Überquerens. Die Mondsichel wurde Jahrhunderte später zentrales Symbol des Islam und seit dem 12. Jahrhundert stellten christliche Religionsbildner Maria als auf einer Mondsichel stehend dar. 5 Bedeutungen lassen sich oft nicht klären: Ein am Dürrnberg gefundenes Schiffchen aus Goldblech mit zwei breiten Rudern könnte, sozialhistorisch interpretiert, Zeichen des Berufsstandes der Salzschiffer sein, kosmisch Sonnenbarke oder, religiös, Symbol des Wechsels über ein mythisches Wasser in eine Anderwelt. Sicher ist nur, dass über große Entfernungen Gold, Formensprachen und

Im iranischen Hochland Lebende stellten Hirsche und Stiere als Gottheiten dar, entenartige Wasservögel als Himmelsreisende, yoginis als weibliche Verkörperung yogischer Kraft. Die zoroastrische Religion zentrierte auf Feuertempel als Symbole der Sonne. In Japan kam ein Gott auf einem weißen Hirsch zu den Tempeln bei Nara; Hirsche galten als Götterboten, die weiße Schlange als Bringerin von Wasser. 3 Harald Meller (Hg.), Der geschmiedete Himmel. Die weite Welt im Herzen Europas vor 3600 Jahren, Ausstellungskatalog, Stuttgart 2004. Katalin T. Biró u. a., An der Grenze von Orient und Okzident: Die Geschichte der Völker auf ungarischem Boden, 400.000 v. Chr.–804 n. Chr., Budapest 2003, 36–37 passim; László Kontler, A History of Hungary. Millennium in Central Europe, New York 2003, 24–26. 4 Zur regionalen Differenzierung keltischer Religionen Roland Gschlößl, Im Schmelztiegel der Religionen: Göttertausch bei Kelten, Römern und Germanen, Mainz 2006; Bernhard Maier, Die Religion der Kelten. Götter – Mythen – Weltbild, München 2004; Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hg.), Die Welt der Kelten. Zentren der Macht – Kostbarkeiten der Kunst, Stuttgart 2012, 68–69; Hirsch-Trense im KrahuletzMuseum, Eggenburg. 5 Griechen und Römer verehrten Selene als Mondgöttin. 2

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.3 Sonnenwagen, Trundholm, um 1400 v. u. Z.

Bedeutungen zusammenkamen und „vor Ort“ materiell in eine der vielen möglichen Aussagen übersetzt wurden. 6 Keltische Religionsgelehrte-Weise-InterpretenWahrsager eigneten sich in langen Lehrjahren Wissen über Gestirne, Erde und Natur an. In Gallien versammelten sich „Druiden“ offenbar jährlich am Zusammenfluss von Saône und Rhône (modern: Lyon). Die Bezeichnung für sie mag von dem griechischen Wort für Eichen, auf denen die kultisch verwendeten Misteln wuchsen, stammen. 7 Menschen assoziierten die unsichtbaren Kräfte, die sie spürten, mit sichtbarem Wasser und Leben spendenden Quellen, beeindruckenden Bäumen oder Felsformationen. Bronzewerkende hatten hochalpine Kultstätten für Brandopfer genutzt. Deuten in den Aschen gefundene Tonscherben und Nähna-

deln darauf, dass sie ihr Alltagsleben mit Himmelskräften verbunden sahen? 8 In Wassern legten keltische Menschen Gaben aus Eisen oder Gold nieder – Schwerter und Lanzenspitzen, Ringe und Fibeln. Sie verbogen oder beschädigten sie. Ihre Gründe kennen wir nicht. Vorstellungen übergänglicher Existenz umfassten Anderwelten wie Orkus, Paradies oder unbestimmten Raum. Die Familien in Hallstatt und am Dürrnberg bestatteten Abgeschiedene mit Blick zum Sonnenaufgang, Beigaben deuten auf den Glauben an ein weiteres Leben oder zyklische Wiedergeburt. Das reich ausgestattete Grab eines jungen Mannes zeigt, dass er „getrost ins Jenseits überwechseln [konnte]. Sein mitgebrachter Besitz würde ihm auch dort den gewohnten Lebensstandard garantieren“. Zusätzlich erhielt er ein Kaurischne-

Kurt W. Zeller, Der Dürrnberg bei Hallein. Ein Zentrum keltischer Kultur am Nordrand der Alpen, Hallein 2001, 26, 51–52; Stefan Moser, Die Kelten am Dürrnberg. Eisenzeit am Nordrand der Alpen, Hallein 2010, 78; Leopold Schmidt, „Der norische Himmelsbootfahrer: Mythologische Beiträge zur Kärntner Urvolkskunde“, Carinthia 1, 141 (1951), 717–767; Welt der Kelten, 67–75, 230–244. 7 Welt der Kelten, 396–397. Hinweise auf Druidinnen entstammen späterer Zeit. 8 Peter Haupt, „Bronze- und eisenzeitliche Brandopferplätze auf dem Schlern [Südtirol]“, in: Franz Mandl und Harald Stadler (Hg.), Archäologie in den Alpen – Alltag und Kult, Haus I.E. 2010, 63–72; und Funde in den Niederen Tauern am Sölkpass. 6

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Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus

Abb. 5.4 Kultwagen, Strettweg, Steiermark, 7. Jh. v. u. Z.

cken-Amulett, durch viele Hände aus dem Raum des Indischen Ozeans herangetragen. 9 Als kosmische Kraft verehrten die Menschen eine Muttergöttin und ihren Sohn Cernunnos, den sie in Menschenform mit Hirschgeweih oder als Hirsch visualisierten. Anders als in Magna Materund späteren Jungfrau-Mutter-Vorstellungen, aber in Einklang mit Topoi transzendenter Vorstellungen – „Gläubigkeiten“ – vieler Kulturverbände holte die Göttin ihren Sohn in jedem Frühjahr in ritueller Wiedergeburt und lebensschaffender MutterSohn-Vereinigung aus der Anderwelt. Die Friese eines vermutlich in Ostgallia gefertigten und in Gundestrup (Jütland) gefundenen Silberkessels (1. Jh. v. u. Z.) zeigen Cernunnos mit europäischen 9

und orientalischen Tieren und einer Schlange sowie eine Göttin mit Speer und Stier. Schlangen mit ihren jährlichen Häutungen und Hirsche mit dem jährlichen Wiedererstehen ihres Geweihs dienten Menschen im gesamten eurasischen Raum als Symbole für sich erneuerndes Leben. Schlangen- und Hirsch-Topos waren auch Teil jüdischer Vorstellungen: Schlangen initiieren Erkenntnis und „so, wie der Hirsch das Quellwasser sucht, sucht meine Seele dich, oh Gott“ (Psalm 42). Ägyptisch-syrische Menschen stellten die Göttin Hathor als Kuh oder Frau mit Hörnern dar und Menschen in Hallstatt schufen ein bronzenes Schöpfgefäß mit Griff in Form einer Kuh, gefolgt von einem Kalb. Ins Gold-reiche Rauristal trugen

Zeller, Dürrnberg, 51–52, Grab 44.

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.5 Schiffförmige Motive mit Sonne und Vögeln auf Gebrauchsgegenständen: Bronzegefäß aus Kleinklein, Steiermark; Fibel aus Hallstatt, Oberösterreich

auf unbekanntem Weg Unbekannte einen Skarabäus aus Ton mit Kopf der Hathor, geschaffen in der Zeit des Pharao Ramses II., 1300–1250 v. u. Z. 10 Im Saalachtal Lebende schufen sich eine Cernunnos-Hirsch-Figurine. Als Römer*innen sich im nahen Bisontio niederließen, stellten sie sich eine Schlangen-Figurine her und ein spätantik-früh-

Abb. 5.6 Goldschiffchen, Dürrnberg, Latènezeit, ca. 400 v. u. Z. (6,6 cm)

christliches Mosaik in der Friedhofskirche in Teurnia würde einen Hirsch zeigen. Die Menschen der Hallstattzeit, die Menschen und Tiere nicht darstellten, nahmen während ihrer Kontakte zu den Golasecca- und Este-Kulturen mediterrane und ebenso skythisch-persische Einflüsse auf: Tiere und Personen, oft in Form von Büsten –

realistisch, stilisiert, fratzenhaft-maskenartig oder dämonisch – sowie ornamental verwobene Ranken, Palmetten, Knospen und Lotusblüten. Viele Darstellungen deuten auf eine hohe Bedeutung des Kopfes; aus der persischen Kultur vom 5. bis 3. Jahrhundert zum Beispiel sind Schnabelkannen mit Vogelköpfen erhalten. Am Griff der berühmten Dürrnberger Kanne gestaltete der oder die Schaffende ein dämonisches Fabelwesen mit einem menschlichen Kopf im Maul. 11 An der Verehrungsstätte im oppidum Roseldorf (Niederösterreich) wurden Schädel gefunden, die Gewalteinwirkung belegen: Gab es Zeremonien mit Opferung von menschlichen Köpfen? Römische Autoren behaupteten, dass ihre keltischen Gegner die Köpfe getöteter Feinde trophäenhaft zur Schau stellten. Dies erschien ihnen als besonders barbarisch. Dass die „Barbaren“ den Anblick von Gladiatorenkämpfen oder Iulius Cäsars „Opferung“ von zwei meuternden Soldaten als zivilisatorische Leistung gesehen hätten, ist nicht belegt. 12 Neben der Muttergöttin und Cernunnos umfasste keltische Religiosität regional unterschiedlich Grannus, Esus, Lenus sowie Rosmerta, Maia, Epo-

Michael Altjohann, „Cernunnos-Darstellungen in den gallischen und germanischen Provinzen“, in: Peter Noelke mit Friederike Naumann-Steckner und Beate Schneider (Hg.), Romanisation und Resistenz in Plastik, Architektur und Inschriften der Provinzen des Imperium Romanum, Mainz 2003, 67– 80; Welt der Kelten, 238–239; Alexander Demandt, Die Kelten, München 72011, 42–43; Wilfried Seipel (Hg.), Land der Bibel, 3 Bde., Wien 1997, Bd. „Schätze aus dem Israel Museum Jerusalem“, 48, 113. Kritisch Heidi Peter-Röcher, „Der Silberkessel von Gundestrup – Ein Zeugnis keltischer Religion?“, in: Festschrift für Helmut Johannes Kroll, Neumünster 2013, 189–199. 11 Interkulturell nahmen christliche Autoren das Bild menschenverschlingender Drachen auf. 12 In wenigen Gräbern gefundene Frauenköpfe zeigten keine Gewalteinwirkung; Menschenknochen an Opferstätten mögen Hinweis sein, dass fremde Kriegsgefangene oder Verbrecher geopfert wurden. Richard Pittioni, Urzeit von etwa 80 000 bis 15 v. Chr. Geb., 2 Bde., Wien 1980, 2:59; Otto H. Urban, Wegweiser in die Urgeschichte Österreichs, Wien 1989, 72, 74; Moser, Dürrnberg, 44 passim; Birkhan, Kelten, 441–442; Gschlössl, Schmelztiegel, 68. 10

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Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus

Abb. 5.7 Cernunnos Darstellung, Ausschnitt aus dem Kessel von Gundestrup

na, Ancamna und eine Trinität von Quellgöttinnen, die Xulsigien. „Teutates“ war Beiname für einen obersten Gott. Die Göttin Reitia – Heilerin, Gütige und wohl Schreibkundige – übernahmen sie aus der Este-Kultur. Archäolog*innen erschließen dies aus materiellen Quellen; Schrift-zentrierte Forscher*innen fokussieren auf die interpretatio romana, doch steht „römisch“ bereits für spirituelle Vorstellungen aus dem gesamten zirkum-mediterranen Raum. Norische Männer und Frauen nahmen syrische, iranische, ägyptische, anatolische und italische Kulte reichsweit rekrutierter Legionäre und zwangsmigrierter Sklav*innen wahr und manchmal auf. Keltische Verbände kämpften in vielkulturellen Legionen, hatten Kriegsgefangene anderer Glaubenswelten eingegliedert oder sich selbst während zeitweiser Kriegsgefangenschaft umkulturiert. Im Jahr 55 v. u. Z. zogen germanische Söldner nach Ägypten, andere nahmen um 150/160 u. Z. an Kriegen gegen die Parther teil; syrische Legionäre kamen nach der Zerstörung des israelitischen Zweiten Tempels im Jahr 71 an die Donau; syrische Bogenschützen waren bei Bingen stationiert, arabische und parthische Reiter sowie semitische Ituräer bei Mainz, Damaszener nördlich des Mains und Bogenschützen aus Canatha (Palästina) am Donaulimes Rätiens. Als einen Aspekt von Herrschaft exportierte „Rom“, Zentrum des Reiches bis 286 u. Z., adap-

Abb. 5.8 Hirsch-Statuette, Biberg bei Saalfelden, 1. Jh. v. u. Z. (Bronze, 10,8 cm)

tionsfähige Gottheiten in die Peripherien. Die Stadt, Ziel von Menschen aus dem gesamten Imperium, war eine multikulturelle Gesellschaft und Bewohner*innen sahen animistische Natur und personifizierte Kräfte: Silvanus als Gott der Wälder, Nymphen in Bäumen und Quellen, Ceres als Göttin des Getreides, der Fruchtbarkeit und der Ehe. 13 Den fle-

Norbert Heger, Salzburg in römischer Zeit, Salzburg 1974, 78–97; Gschlößl, Schmelztiegel, 10. Zur interpretatio germana keltischer Religion Peter Danner, „Weltanschauungsfreie Forschung […] nicht einmal wünschenswert“, in: Sabine Veits-Falk und Ernst Hanisch (Hg.), Herrschaft und Kultur. Instrumentalisierung, Anpassung, Resistenz, Salzburg 2013, 198–267, hier 211–213.

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

xiblen Imperialisten galten Gött*innen der Annektierten nicht als Fremde, sondern Un-Bekannte. Es war sinnvoll, sie kennenzulernen und eigene Götter und Göttinnen in lokaler Kleidung und regionalem Kontext erscheinen zu lassen: effektive und zukunftsorientierte Adaption. Kontaktintensive keltisch-gläubige Menschen an Handelswegen und -orten verschmolzen ihrerseits Gottheiten schnell. In anderen Worten: Sesshafte Städter*innen „gingen mit der Zeit“, wandelten offene Baum- und Quellheiligtümer in umgrenzte Orte und errichteten galloromanische Tempel mit umlaufender, offener Vorhalle. In einem weiteren Akkulturationsschritt ersetzten sie Holz durch Marmor, ergänzten mündliche Tradierung durch gemeißelte Inschriften und Druiden übernahmen römische Buchstaben. Steinerne bilingue-Inschriften sind archäologisch auffindbar, vorangehende hölzerne Gött*innen-Darstellungen nicht. 14 Spirituell-kosmologisch erfuhren keltische Söldner als Fernmigranten ebenso wie ansässig-annektierte Menschen von vielen Ursprungsmythen der Welt und des Lebens. In alt-ägyptischer Vorstellung stieg der Sonnengott Re aus dem Ur-Ozean in die Weltordnung-Gerechtigkeit seiner SchwesterGattin Maat; in einer Variante entstieg er einer Lotusblüte und aus einer Träne seines Auges erhob sich die Göttin Hathor (Mutterschoß, Haus, Heim). Sie nahm Re = Sonne des nachts in sich auf und gebar ihn am Morgen neu. Hathor-Maat-Isis gebar den Sohn Horus. In weiterer Variante waren die Geschwister Isis und Osiris (Sarapis) miteinander verheiratet, aber bedroht durch ihren Bruder Seth, die Kraft des Bösen. Er tötete Osiris, doch ließ Isis ihn mit Hilfe ihrer Schwester Nephthys wieder auferstehen und sie zeugten Horus. Osiris empfanden die Verehrenden als Gott des Nachlebens. Nach griechischen Vorstellungen erschuf Gaia oder gē als „Gebärerin“ die Welt. Römisch adaptiert gebar sie als „Terra magna“ unbefruchtet Himmel, Erde und Meer. Gebärende Kraft erschien Menschen vieler Kulturen als schöpferisches Prinzip;

sie verehrten eine Urahnin oder Muttergottheit. Unter Kaiser Aurelian, der hispanische Vorfahren hatte, wurde der Sonnengott Sol (Sol elagabalus, Sol invictus) synkretischer Teil der Staatsgötter; Kaiserin Julia Domna aus Syrien hatte den Glauben an den Sonnengott gefördert. Diesem würde Kaiser Konstantin I. 321 u. Z. den Sonn-Tag (dies solis) als Feier- und Ruhetag widmen. Die in Anatolien und Zentralasien verehrte Fruchtbarkeitsgöttin Kybele übernahmen Römer*innen als Bona Dea, in Ephesus an der kleinasiatischen Ägäis-Küste ergänzt um die vielbrüstig dargestellte Artemis-Diana. Christliche Religionsschaffende lokalisierten das Grab der Maria dort. Diese Mythen um Schöpfungskraft und Fruchtbarkeit trafen im norischen Raum auf einheimische Vorstellungen. In Prozessen der Translation, Abschriften von Texten einbezogen, werden Geschichten durch Raum und Zeit angepasst und neu geformt. 15 Menschen in Pannoniens und Noricums Hauptstädten Carnuntum und Virunum verehrten Isis-Noreia als keltische Muttergöttin. Ein Bild von ihr verwendeten sie bei Hohenstein (Kärnten) als Stirnziegel und sie stellten eine Bronzestatuette von Isis mit Horus her. Die Verehrung von Apis – oder war es bereits transreligiös Jupiter? – belegen Stierstatuetten in Iuvavum und nahe Regensburg. 16 Ägyptisch-syrische Menschen stellten Sarapis mit einem Getreidemaß dar, gelegentlich mit Stierkopf und Schlange: Er symbolisierte Fruchtbarkeit und war Gott der lebenssichernden Getreideversorgung. Menschen imaginierten, anders als in manchen Fruchtbarkeitsfigurinen, Isis als schlank und hochgewachsen. Ist dies aus dem Gegensatz zwischen agrarisch-erdverbundener und städtischer Lebensweise zu erklären? Norische Statuetten zeigen eine doppelte spirituell-ästhetische Formenwelt: einerseits die Magna Mater-Erdmutter, oft mit Kindern auf dem Schoß oder mit Kindern und Frauen schützend in den Armen, andererseits die anmutige Venus, Schutzgöttin der Liebe, Ehe, Familie, der Geburt und des Kindersegens. Da im Leben der

Fachleute rekonstruierten als „Denkmodell“ das Heiligtum von Roseldorf. Ernst Lauermann (Hg.), Schatzreich Asparn. Ur- und Frühgeschichte und Mittelalterarchäologie in Niederösterreich, Asparn/Zaya 2014, 186–191. 15 Marguerite Rigoglioso, Virgin Mother Goddesses of Antiquity, New York 2010; Jenifer Neils, Women in the Ancient World, London 2011; Joan Connelly, Portrait of a Priestess. Women and Ritual in Ancient Greece, Princeton 2007. Vgl. auch die bereits 1903 publizierte Studie von Jane E. Harrison, Prolegomena to the Study of Greek Religion, Neuausgabe Princeton 1991; Land der Bibel, Bd. „Schätze“, 23–56. Auch in diesem Kulturkreis wurden Männer nur selten dargestellt. 16 Heger, Römische Zeit, Abb. 75, zu einem Fundort in Iuvavum; Garth Fowden, Empire to Commonwealth. Consequences of Monotheism in Late Antiquity, Princeton 1993, 44–46; Gschlößl, Schmelztiegel, 79–110. 14

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Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus

Abb. 5.9 Henkel, Schnabelkanne, Dürrnberg, um 400 v. u. Z., Bronzeblech (vgl. Gesamtansicht Abb. 3.14)

Menschen Geburten schwierig und die Kindersterblichkeit hoch waren, galt Venus auch als Göttin des Todes. 17 Männlicher Gegenpol war Zeus-Jupiter als oberster olympischer Gott. Als Stiergott entführt er die phönizische Königstochter Europa, so die Mythologie. Mosaikbildner stellten dies in Iuvavum dar. Keltische Krieger, die den Kriegsgott Mars adaptierten, wandelten ihn zum Schutzgott gegen feindliche Nachbarn und damit zu einer lebenserhaltenden Heilgottheit. Hermes-Mercurius, der Götter und Menschen verband, war Sohn von Maia, griech. Mutter, oder Bona Dea, römisch Göttin der Fruchtbarkeit und Heilung, der Frauen und der Jungfräulichkeit. Merkur (lat. merx = Ware) beschützte die Kaufleute. In Regensburg widmeten ihm gallische Kaufleute aus Trier eine Weihinschrift. Gläubige wandelten den Götterboten, wie Sarapis, zum Beschützer des lebenswichtigen Getreidehandels. Käufer, die mit den Preisen der Händler nicht immer einverstanden waren, sahen Merkur auch als Beschützer der Diebe. In frühen Darstellungen winden sich, wiederum wie bei Sarapis, um seinen Stab zwei Schlangen. Später erschien er mit geöffnetem Geldbeutel: von Lebenssymbol zu Darstellung von Kaufkraft.

Abb. 5.10 Magna Mater, Frauen und Kinder schützend, Gräberfeld beim Bürglstein, Ende 1. Jh. (weißer Ton, 24 cm; Auge und Stirnpartie rechts ergänzt; Erzeugnis aus dem Allier-Gebiet, Auvergne)

Den Geldbeutel tragenden, gelegentlich mit Hirschgeweih dargestellten Merkur begleitete in interpretatio celtici Rosmerta. In einem ungewöhnlichen Relief in Reims steht Merkur mit einem Geldbeutel, aus dem Münzen zu Boden fallen, neben Cernunnos im sogenannten Buddhasitz. Die Füllhorn tragende Rosmerta verehrten besonders niederrheinische Menschen und der Topos des Füllhorns war in vielen Kulturen verbreitet. Es symbolisiert im Hindu-Glauben kreativ-lebensbringende Energie (purnakumbha), meist von einer (Fluss-) Göttin präsentiert. Ländlichen Menschen galt Merkur als Beschützer der Hirten und Herden. Sie opferten ihm Widder oder Ziegenböcke. Nach kelti-

Gerhard Bauchhenß und Günter Neumann (Hg.), Matronen und verwandte Gottheiten, Köln 1987; Sophie Lange, Wo Göttinnen das Land beschützten. Matronen und ihre Kultplätze zwischen Eifel und Rhein, Sonsbeck 1994; FrauenMuseum (Hg.), Die Bonnerinnen. Szenarien aus Geschichte und zeitgenössischer Kunst, Bonn 2000. Zahlreiche Venus-Statuen wurden in Salzburg und am Ufer des Attersees bei Unterach ausgegraben. Heger, Römische Zeit, Abb. 43 und 44.

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.12 Jupiter Dolichenus als Stier, Salzburg, 2./3. Jh. (Statuette)

Abb. 5.11 Venus, Gräberfeld beim Bürglstein

schen religiösen Vorstellungen war Epona Schützerin der Pferde; da Fuhrleute und Maultiertreiber sie verehrten, werteten römische Schriftsteller sie ab. 18 Gläubige in Iuvavum widmeten ihren wohl wichtigsten Tempel der Göttin Hygieia (griech. Gesundheit) und ihrem Vater Asklepios. Ärzte legten ihren Eid seit dem 1. Jahrhundert u. Z. auf Asklepios, Hygieia und deren Schwester Panakeia als Göttin des Heilvorganges und der Heilpflanzen ab sowie, gelegentlich, auf Apollo, Gott des Lichts, der Heilung, des Frühlings, der Sittlichkeit, Mäßigung und der Künste. Ihm entsprach der keltische Heilgott Grannus. In Darstellungen des Asklepios speit die sich um seinen Stab windende Schlange eine verjüngende Arznei in eine Schale. Sirona, Begleiterin des Apollo-Grannus, gleicht in Darstellungen vom Westfrankenreich bis an die untere Donau

Abb. 5.13 Metamorphose: Zeus-Stier entführt Europa, Mosaik, Iuvavum, o. D. (Teile ergänzt)

der Hygieia. 19 In Iuvavum befand sich im HygieiaAsklepios-Tempel eine Magna Mater-Darstellung und die Schlange findet sich in dem iuvavischen Mosaik des Acheloos. Nach griechischer Mythologie war er Sohn der Tethys und des Okeanos und vornehmster für Wasserreichtum und Fruchtbarkeit verantwortlicher griechischer Gott. Wie das

Gschlößl, Schmelztiegel, 12–59. Merkur wird gelegentlich auch mit Schriftrolle in der Hand dargestellt. Hildegard Sobel, Hygieia: Die Göttin der Gesundheit, Darmstadt 1990; Clemens M. Hutter, Iuvavum. Alltag im römischen Salzburg, Salzburg 2012, 106. Etrusker kannten Acheloos ebenfalls.

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Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus

Abb. 5.15 Epona mit Pferden und Fruchtkorb (Kybele wurde mit zahmen Löwen dargestellt)

Abb. 5.14 Merkur mit – vermutlich – Geldbeutel und Schlangenstab, zwischen 1. und 3. Jh., villa rustica bei Rogging (Landkreis Regensburg); Herstellung vermutlich im mediterranen Raum

Wasser seinen Lauf veränderte er seine Gestalt und verkörpert damit einmal mehr das Kulturen übergreifende Motiv des shape-shifting und der Metamorphosen. Als Symbol viriler Fruchtbarkeit galten Hirsch, Stier und Widder. Der Stier war ein vielschichtiges Symbol: Den aus doppeltem Betrug entstandenen menschenfressenden Minotaurus, ein Mischwesen aus Mensch und Stier, bezwang Theseus mit Hilfe von Ariadne und ihrem Faden. Der Gott Mithras – „felsgeboren“ (petra genetrix) wie Jesus in einer Variante – tötete einen weißen Stier, um die Welt zu erneuern. Die ursprünglich persische Mithras-Verehrung und die des römisch-syrischen Soldatengot-

tes Jupiter Dolichenus 20 waren Kulte von Männern. Sie errichteten sich in Poetovio fünf Mithräen und verehrten Jupiter Dolichenus in Carnuntum als Kosmokrator, der in den Himmel, zur Sonne, aufsteigt und dort Weltgericht hält. 21 Deutungen männlicher Gottheiten entbehrten oft nicht einer gewissen Ironie: Merkur als Gott auch der Betrüger; Priapus, Sohn der Aphrodite, geboren mit großem, dauerhaft erigiertem Penis. Menschen in Iuvavum trugen Figürchen dieses fruchtbaren Organs als Amulett. Priapus galt als Symbol für reichhaltige Obsternten und wurde dafür auch als Vogelscheuche aufgestellt. Stiere waren polyfunktional: Götter verwandelten sich in sie; sie wurden Göttern geopfert oder durch Nasenring gefügig gemacht. Als Zugtiere für Pflüge bereiteten sie die Erde für die Samen vor. Ihre Hörner – und die anderer männlicher Tiere – dienten als Trinkgefäße. 22 Weihesteine zeigten verflochtene Kontinuitäten: Ein norischer Stifter widmete seinen Stein dem Gott der keltischen Alaunen Bedaius, ein anderer umfassend „dem besten und höchsten Jupiter und allen Göttern und Göttinnen.“ 23 Die Anderwelt war transreligiöser Topos und ebenso die Zahlenmystik der Dreiheit und der Zahl Zwölf (drei mal vier). Die Zahlen drei und vier entsprachen den drei Jahres-

Von Offizieren im 1.–3. Jahrhundert bis zu den britischen Inseln verbreitet. Anna Collar, Religious Networks in the Roman Empire. The Spread of New Ideas, Cambridge 2013, 79–145. 21 Ulrike Horak, Europa und der Stier, Wien 1998. 22 Heger, Römische Zeit, Abb. 77. 23 Hutter, Iuvavum, 95, 130. 20

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.17 Männliche Bronzefigurinen, (a) mit erhobenen Armen, (b) mit ausgestreckten Armen und erigiertem Penis, Tirol

Abb. 5.16 Kopf des Acheloos, Iuvavum

zeiten im ägyptischen Einstromland, Überschwemmung – Aussaat/Winter – Ernte/Sommer mit je vier Monaten, zusammen 365 Tage. Dreiheit erschien in der „kapitolinischen Trias“ von Jupiter, Juno und Minerva und in den „drei göttlichen Frauen“: griechisch-römisch negativ konnotiert als die Schreckensgestalten der Gorgonen, positiv als Grazien, Göttinnen der Anmut; als Schicksalsgöttinnen die griechischen Moiren, die römischen Parzen und die germanischen Nornen. Dreiköpfig war die griechische Hekate, dreiäugig Shiva im indischen Glauben, dreifach die „Bethen“ als Erd-, Sonnen- und Mondverkörperungen in alpenslawischen und bayerischen Vorstellungen und, christ-

lich, „Anna selbdritt“. Auf dem Magdalensberg/ Štalenska gora in Kärnten findet sich in der frühslawisch-bayerischen, auf einem keltisch-römischen Heiligtum errichteten Helenenkirche ein dreigesichtiges Taufbecken. In der Gesamtregion verehrten Identifikationsverbände je eigene adaptierbare Götter und Göttinnen. Diese „verbindende Universalität“ war bis in die Gegenwart die kreativste und toleranteste Periode der Glaubensentwicklung in der Region. Zwar lassen sich kultische Praktiken sozialen Schichten nicht zuordnen, doch waren es Handwerker*innen, die Mosaike verlegten, Statuen meißelten, Kultstätten ausstatteten und sich dafür mit den Themen intensiv auseinandersetzten. Ihnen sprechen moderne Kunsthistoriker*innen die Qualität italischer Kolleg*innen ab, aber Noriker*innen konnten keine Vergleiche anstellen. Für sie zählte die spirituelle Bedeutung, nicht imperiumsweites Kunstschaffen. 24

5.2 Gründungsmythen: Mensch (Adam) und Leben (Hawa) im Kontext Als Hallstatter Familien ihr Salz- und PökelfleischMonopol entwickelten, kämpften die Herrscher in der Region vom dichtbesiedelten Nil-Einstrom-

über das Zweistrom-Land bis zum iranischen Hochland um Vorherrschaft. Die Großmächte AltAssyrien, Alt-Babylon und Alt-Ägypten deportier-

Heger, Römische Zeit, 78–97; Gschlößl, Schmelztiegel, 12–16, 92–93. Henri Stierlin, Städte in der Wüste. Petra, Palmyra und Hatra: Handelszentren am Karawanenweg, übers. von Guido Meister, Stuttgart 1987 (frz. 1987), 167–212, zu métissage von der Mittelmeerküste bis Persien.

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Gründungsmythen: Mensch (Adam) und Leben (Hawa) im Kontext

ten oder vernichteten Menschen, die ihnen im Weg waren. Dort suchten auch mobile Verbände von Schaf-, Ziegen- und Rinderzüchtern Weidegebiete in engem Kontakt mit Städter*innen, denen sie ihre schlachtreifen Tiere verkauften und bei denen sie Güter des täglichen Bedarfs erwarben. Die Herrscher sind datierbar, die nomadischen Wanderverbände kaum. Zu ihnen zählten Aramäisch Sprechende aus dem Quellgebiet des Euphrats, die nach Mesopotamien und ins Nildelta zogen, darunter ein lange kinderloses Paar, dem die biblischen Erzähler die bedeutungsvollen Namen Abraham (hebr. volksetymologisch Vater der Vielen) und Sara (hebr. Herrin, Fürstin) gaben. Der Erzählung zufolge zeugte Abraham auf Bitten seiner Frau mit der ägyptischen Sklavin Hagar (hebr. Fremde) den Sohn Ismael (hebr. Gott hört), vertrieb aber beide später, als, nach einer Vision, s/eine Gottheit 25 ihm Vaterschaft mit Sarah gewährte und im Gegenzug ein Menschenopfer forderte. Doch sie verhinderte im letzten Augenblick die Opferung des Sohnes Isaak (hebr. Gott hat gescherzt). Eine andere nicht gehorsame Familie vernichtete die Gottheit. Artefakte eines Verbandes, der aus der pharaonischen Provinz Palästina (röm. Land der Philister) um 1550 bis 1200 v. u. Z. vermutlich des Grünlandes wegen ins Nildelta zog, sind archäologisch nachweisbar. Vielleicht informierten die Anführer sich bei den bereits früher zugewanderten Hyksos (griech./ägypt. Herrscher der Fremdländer). Laut ihrer erzählten Erinnerung mussten ihre Nachfahren den Pharaonen Frondienste leisten und entschieden sich, wieder abzuwandern. Intellektuelle dieses einen Verbandes verschriftlichten eine Erzeltern-Genesis im Kontext palästinensischer Landwirtschaft, syrischer Wüste, hoch entwickelter Städte und patriarchaler Verhältnisse. 26 Möglich war dies dank phönizischer Seehändler, die die regional üblichen Schriften von mehr als 1500 Piktogrammen auf 800 Zeichen und schließlich auf 22 phonetische Konsonantenzeichen verringert hatten. Daraus entstanden das griechische, aramäische und südarabische Alphabet. Die Autoren des Verbandes arbeiteten vermutlich in der Jerusalemer Tempel-

schule, nahmen keine Ortsbesichtigungen historischer Stätten vor, wussten von weiteren Frauen und Söhnen Abrahams und verfassten in hebräischer Sprache seit etwa 900 v. u. Z. Tanach und ein halbes Jahrtausend später die End-Fassung der Tora. Hellenen fügten der phönizischen Schrift Vokale hinzu und Textgelehrte übersetzten um 250 bis 100 v. u. Z. die israelitischen Bücher (Plural, griech. biblia). Die Erzähler-Erzählerinnen verblieben im literarisch-kosmologischen Narrativ der Region. Die ägyptische Göttin Neith sagte, „ich bin von selbst gekommen“, Gott JHWH, „ich werde sein“ (2. Mose 3,14). „JHWH“ hatte im Hebräischen kein Geschlechtsmerkmal, unter Sumerisch Sprechenden war „Iahu“ die Große Göttin und die Taube ihr Symbol. „Iiva“ oder „Jeva“, abgeleitet aus dem Assyrischen „Eva“ als Mutter alles Lebendigen, bedeutete in Indien Mutterschoß, im Babylonischen war „Eva“ die Göttin des Lebensbaumes. Im Hebräischen bedeutet „hawa“ Leben, „Adam“ Mensch. 27 In der verschriftlichten Fassung schuf JHWH/ Jāhve die Welt in sechs Tagen, war mit seinem Handwerk zufrieden und ruhte sich am siebten Tag aus. Er hatte „Mensch“ und „Leben“ sich selbst entsprechend aus Lehm geformt. Erst Über-Setzern erschien die Frau (socia) als abgeleitet aus dem Mann oder, sehr viel später bei Luther, als Gehilfin. Oder war, wie im Handwerk üblich, die erste Person ein Probeexemplar, die zweite das Meisterstück? Die beiden lebten in paradiesischer Umgebung, allerdings mit unklarer Identität, denn sie wussten nicht um ihre lebensgebende Sexualität. Die in den Texten vermännlichte Gottheit hatte dies so belassen wollen. Sie/er hatte neben den Baum des Lebens den Baum der Erkenntnis gepflanzt. Das kosmische Symbol „Baum“ verband die Erde (Wurzeln) über die gelebte Welt (Stamm) mit dem Himmel (Äste, Krone) und ist als „Lebensbaum“ Teil von Spiritualität weltweit. Jāhve verbot seinen Kreaturen die Früchte des Erkenntnisbaums zu essen. 28 Die „Genesis“-Autoren nahmen Schöpfung-Lebensschaffung-Geburt aus dem regionalen Reper-

In vorderasiatischen Mythen gewährte eine Baumgöttin Kindersegen. Zu den Unstimmigkeiten des Narrativs u. a. Stephen Greenblatt, The Rise and Fall of Adam and Eve, New York 2017. 27 Ingrid Straube, Die Quellen der Philosophie sind weiblich: Vom Einfluss weiser Frauen auf die Anfänge der Philosophie, Aachen 2001, 21–22; Christfried Böttrich, Beate Ego und Friedmann Eißler, Adam und Eva in Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2011, 13 passim; Carel J. Du Ry, Völker des Alten Orient, Baden-Baden 1969, 25, 29 passim. 28 Gerard van Bussel und Axel Steinmann (Hg.), Wald – Baum – Mensch, Wien 2012, bes. 107–113. Die Tora gilt als Lebensbaum oder wird mit empor25

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.18 Darstellung der Formung oder Schaffung Evas, wie seit dem 12. Jh. üblich (Buchmalerei, 15. Jh.)

toire von Erzählungen auf. In einer früheren Version aus dem 5./4. Jahrhundert v. u. Z. wandelte eine Königin, schwanger, in einem paradiesischen Garten. Als sie den Zweig eines schönen Baumes berührte, entstieg ihrer Seite ein Sohn, Buddha Śākyamuni. Er erschien in frühem Alter klug. Die Mutter hieß Māyā. Paradies (altiran. pairi-daeza) war ein umgrenzter Garten voller Bäume, Früchte, duftender Blumen, exotischer Tiere: Ort der Erbauung, gezähmte Natur, gut bestücktes Jagdgebiet und Zeichen von Macht, denn nur Reiche konnten sich eine solche Anlage leisten. Durch die Umgrenzung schlossen sie andere aus. 29 Eine weitere, zoroastrische (altiran. zaotar = Priester) Version vom 7. bis 4. Jahrhundert bot ein offenes, nie ummauertes Feuer, umgeben von bewohnten Häusern. In wieder anderer Fassung errichtete erst Adam die Ka’ba in Mekka, dann erneut Ibrahim und Ismail. Als sie fertig waren, umkreisten sie sie sieben Mal. Der handwerkliche Aspekt des Er-Schaffens war ebenfalls Teil des Repertoires. Töpfer*innen formten anthropomorphe Gefäße und Gegenstände aus Tonerden: Vereinigung des Menschlichen und Ma-

Abb. 5.19 Geburt des Buddha Siddhartha Gautama „Śākyamuni“, Gandhara, 2./3. Jh.

teriellen, von Schaffenden und Geschaffenem? In einer südostasiatischen Geschichte schuf eine feminine Kraft, spirit woman, Gefäße mit Gesicht aus Ton, die sich selbst in einem Feuer brennen, gehen und entscheiden konnten, stehenzubleiben oder sich auf dem Markt zu verkaufen. Um das Jahr 0 u. Z. berichtete ein Dichter, Ovid genannt, von einem zyprischen Skulpturen-Schnitzer, der aus importiertem Elfenbein die Statue einer Frau schuf, sich in sie verliebte und ihr dank der lebengebenden Aphrodite mit seinem Atem Leben einhauchte. Laut Genesis (2,7–23) und Sure 55 hat eine Kraft „den Menschen aus Ton erschaffen gleich einer Töpferware“. 30 In zeitloser Dialektik hinterfragten Eva und Adam das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu

wachsenden Ranken verziert. Arabisch tuba für Lebensbaum bedeutet wunschloses Glück – ewige Seligkeit – Paradies; ein Lebensbaum war Teil südostasiatischer Religiosität. 29 Mittelalterliche Parks re-kreierten paradiesische Landschaften: Persische Gartenkunst transferierten arabische Herrscher nach Sizilien, normannische Große von dort nach England. Damwild, in Westeuropa seit der Eiszeit ausgestorben, ließen sie einfangen und per Schiff nach England bringen. John Fletcher, Gardens of Earthly Delight. The History of Deer Parks, Oxford 2011. 30 Griechische Mythologen ließen einen Handwerker (demiourgós) für das Formen und Funktionieren der Welt verantwortlich sein. Die Gnostiker sahen einen allumfassenden Gott und einen geringeren Demiurgen, der eigenmächtig die materielle Welt erstellte. Sie identifizierten JHWH, irrtümlich in die Welt gesetzt von einem Wesen namens Sophia (griech. Weisheit), als den Demiurgen.

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Gründungsmythen: Mensch (Adam) und Leben (Hawa) im Kontext

Abb. 5.20 Dea gravida, Zypern, 8.–5. Jh. v. u. Z. (Terracotta, 18.3 cm)

essen, und, wie in fast allen Religionen, war eine Schlange anwesend. 31 Gewunden um den Baum animierte sie Eva, die Frucht – oft interpretiert als Feige oder Apfel – zu kosten. War dies „Versuchung“, wie autoritätshörige Interpreten behaupten, oder Anregung, Neues zu erkunden? „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,5). Die beiden verspeisten die Frucht und wurden, gender-genau, femina und homo sapiens. 32 Die Frau ergriff die Initiative, der Mann teilte sie. Manche Interpreten setzten mangelnde männliche Erkenntnisbereitschaft und behaupteten, die Frau hätte ihn verführen müssen. Sie wandelten sich zu Kinder Erschaffenden und Formenden. Menschen an der syrisch-palästinischen Mittelmeerküste verehrten 31 32

Abb. 5.21 Adam und Eva im Paradies, Lukas Cranach d. Ä., 1526 Maler stellten Eva mit Schlange und Frucht in Körperhaltung ähnlich der römischen Venus dar; Cranach malte mehr als fünfzig Fassungen dieser Szene, oft mit Hirsch.

eine schwangere Göttin, andere eine gebärende Göttin zwischen zwei Tieren (Çatal-Hüyük, Anatolien, um 5750 v. u. Z.), weitere im iranischen Hochland und am Rand der Wüste Negev Göttinnen (Tepe Sarap, um 6000; Beerseba, um 3000 v. u. Z.). Die Schlange hatte viele Fähigkeiten und Formen: als Wasserschlange klug und kreativ; auf der nährenden Erde, manchmal mit Frauenkopf konzipiert, Symbol von Weiblichkeit. Sie bedeutet in Hindustan Erde und Fruchtbarkeit, in Südostasien ist sie Symbol des kosmischen Ozeans. Als anfangs einziges Lebewesen in den Wassern hob sie die Erde aus der Tiefe und, sich wellenartig bewegend, symbolisiert sie nie endende Lebenszyklen. Gewundene Wurzeln von Pflanzen in mittelalterlich-christ-

In alt- und jüdisch-palästinensischem Aramäisch sind die Lautfolgen von „Schlange“ und „Eva“ ähnlich. In der griechischen Variante schenkte die Erdmutter der Göttermutter Hera einen Baum mit goldenen Äpfeln.

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lichen Herbarien hatten Ähnlichkeit mit Schlangen. Diese Kraft wandelten die biblia-Autoren in Traditionsbruch zu listenreich-negativer Kraft. Die Schlange konnte vorschnellen, war also unberechenbar. Hingegen befand ein früher Gnostiker (gnosis, nach Erkenntnis suchend), sie wäre klüger als alle anderen Lebewesen des Paradieses gewesen. Im hohen Mittelalter stellte ein Maler (eine Malerin?) vermutlich aus dem Umkreis von Salzburg und Frauenchiemsee in einem Fresko eine weibliche Figur mit Schlange als Weisheit dar (Burg Otterstein). 33 Die Häutungen-Wiedergeburten, wie Evas und ihrer Töchter Fähigkeit, Leben zu gebären, symbolisieren die Kontinuität des Lebens, „Ewigkeit“. Frauen galten in vielen Religionen physisch als Lebenstor und ebenso als Betreuerinnen Sterbender. 34 Die von Eva und Adam verspeiste Frucht, als Feige interpretiert, ist voller gut verdaulicher Kerne, Symbol für Vielheit und Fruchtbarkeit, Symbol auch für Hoden. Als Apfel interpretiert – auf einem Grabrelief in Iuvavum hält eine Frau einen Apfel in der Hand 35 – ist sie Symbol für Fruchtbarkeit und Leben, Erkenntnis und Entscheidung sowie Sexualität: Liebesapfel (und erotisiert weibliche Brüste); Lebensapfel in nordischer Mythologie, in griechischer ewiges Leben sichernd; begehrenswert, da reichhaltige Ernte und gesunde, lebenserhaltende und vitaminreiche Nahrung versprechend; der goldene Apfel des Paris–Zankapfel–Reichsapfel … Die Erzähler*innen und ihre Zuhörer*innen erfuhren in ihrem makroregionalen Kontext ungeheure Kreativität. Nur getrennt durch ein Gebirge – aber leicht erreichbar über See – erzählten andere die Vita des kontemplativ-itineranten Buddha und trugen sie zu Menschen in China und Japan. In Südasien entwickelten weitere die vedisch-hinduistische Vita des Nataraja Shiva (2. Jh. v. u. Z.–3. Jh. u. Z.), der die Erde in kosmischem Tanz mit graziöser Energie entstehen ließ und über einen Dämon und den Zwerg der Unwissenheit siegte. Tanz ist dynamischer, Erde sich jährlich erneuernder, Was-

ser sich bewegender Prozess. Tanz als religiöse Expressivität und „Inhalation“, Odem–Atem–anima, waren Teil der Glaubenswelten. 36 Drei weitere Ursprungs- und Gesellschaftsgeschichten sollen Vielfalt und Ähnlichkeiten der Narrative verdeutlichen. Als die israelitischen Kulturverbände angesichts urbaner Intellektueller und hoher Schriftlichkeit im Westen ÜberlieferungsFührerschaft erreichten, entwickelten andere in Mesopotamien die Geschichte von Gilgamesch, zwei Drittel Gott und ein Drittel Mensch. Da er sich tyrannisch verhielt, baten die Frauen im urbanen Uruk die Muttergöttin Aruru um Hilfe. Sie schuf aus Lehm in der Wildnis ein menschenähnliches Wesen, Enkidu, und schickte die schöne Šamḫat zu ihm. Nach längerem Liebesspiel erwarb Enkidu Verstand. Enkidu und Gilgamesch trafen aufeinander, aber Enkidu starb und verzweifelt begann Gilgamesch, Unsterblichkeit zu suchen. Nach vielen Abenteuern und einem Weg durch den Edelsteingarten, über die Wasser des Todes und bis zum Land der Seligen fand er die Pflanze der ewigen Jugend. Doch bevor er sie probieren konnte, entwendete eine Schlange sie ihm. Sind Ähnlichkeiten mit biblia-Figuren zufällig? Schlängelte sich die fragende Kraft, die Eva und Adam zur Erkenntnis ihrer lebensspendenden Kraft verhalf, listig aus dem Gilgamesch-Epos in die Bibel? Jahrhunderte später erzählte Scheherazade (Šahrazād) tausendundeine Nacht lang das urbankulturelle Leben der ihr bekannten Welt: Im kosmopolitischen Damaskus, Bagdad und Kairo folgten Menschen Alltagsroutinen, bis ein unerwartetes Ereignis sie zu einer Veränderung, einem shapeshifting, ihres Lebensweges zwang. Sie beschrieb Welten bis China als fremd, überraschend und unvorstellbar. In ihnen agierten Geister, génies: Feen und Magi, Zauberer und Zauberinnen. Paläste waren wie Paradiese Orte des Wunderbaren – geheimnisvoll, aus Smaragden und Kristallen gefügt, für Sterbliche unerreichbar. 37 Das Wunderbare konnte

Elaine Pagels, Adam, Eve, and the Serpent, New York 1988, xix, xxvii, 69. Gnostiker gingen von einem individuellen Zugang zu einer göttlichen Kraft aus. 34 Die von Georg Raphael Donner (1693–1741) in Wien (Schloss Belvedere) geschaffene, vorausschauende „Providentia“ hält eine Schlange als Symbol der Ewigkeit. 35 Hutter (Iuvavum, 144–145) fügt hinzu, dass dem Apfel auch magische Kraft innewohne: Quer durchschnitten erscheint das Kerngehäuse als fünfzackiges Pentagramm, das Böses abwehrt. 36 Zu christlichen Erzähltraditionen Averil Cameron, Christianity and the Rhetoric of Empire: The Development of Christian Discourse, Berkeley 1991. 37 Claudia Ott, Übers. und Hg., Tausendundeine Nacht. Der Anfang und das glückliche Ende, München 2018; Institut du Monde Arabe, Catalogue de l’exposition Les Mille et Une Nuits, Paris 2012. 33

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das Wirkliche sein, denn Herrscher ließen sich Paradiesgärten schaffen und wie génies verwandelten die Nabatäer durch klug geplante Bewässerungsanlagen die Wüste wie in der Oase Al-Ulâ in Arabien in einen Garten und Felsformationen in Petra in monumentale Gräber. Ihre Tempelanlagen in Palmyra/arab. Tadmur/hebr. Tadmor und anderen Städten schienen bewegt „durch räumliche Verschiebungen, Durchdringungen und Verwandlungen“, wiederum shape-shifting und wirklich Märchenhaftes. Ähnliches imaginierten einfache – christliche – Menschen in den Alpentälern: Höhlen mit Feen, Zwergen und unglaublich reichen Königen. Nur besondere Sterbliche durften sie schauen. 38 Eine dritte Erzählung beschrieb Paläste mit Säulen aus Kristall; mit Gold, Silber, Edelsteinen, Bernstein und wundersamen Dingen; mit goldbestickten Teppichen, Filzen und feinem Seidentuch und mit mondglänzenden Perlen, dem „Juwel, das in der Nacht scheint“. Das Land erstreckte sich im Süden bis zum Korallenmeer, im Norden bis zu den Hügeln aus Edelstein. Es handelte sich um Tach’in (chin. größeres, besseres China), wie Fan Ye es rückblickend in seiner Geschichte der späten Han (bis 220 u. Z.) notierte. Er schrieb im 5. Jahrhundert, als auch Scheherazade erzählte. 39 Erzählen war kreativ und vielfältig. Erst schriftliche Nieder- und damit Fest-Legung entzog das Prozesshafte – allerdings nur zunächst, denn Abschreiber würden es erneut verändern. 40 Die biblia-Autoren und deren spätere Interpreten verein-

fachten: Männer- und Frauenfreundschaften, Liebe und Sexualität, Macht und Widerstand verschwanden. Sie ließen Eva und Adam ihre „Nacktheit“ erkennen und fügten wertend hinzu, dass Nacktheit und Sexualität verwerflich und Erkenntnissuche sündhaft seien. 41 Die laut Autoren von Gott verhängte Strafe, Geburten würden schmerzhaft und nährender Ackerbau beschwerlich sein, war den Menschen der Zeit bereits bekannt. Eva stellte Fragen. Wie Athene und Minerva wollte sie Erkenntnis und Wissen erreichen. War sie Rebellin? Viel später würde der antikoloniale Aktivist dunkler Hautfarbe, Frantz Fanon, schreiben: „Ich kam auf die Welt, darum bemüht, den Sinn der Dinge zu ergründen; und meine Seele war von dem Wunsch erfüllt, am Ursprung der Welt zu sein, und dann entdeckte ich mich als Objekt“ der Weißen. 42 Eva und Adam mussten sich als Objekte Gottes erkennen, so die Schriftgelehrten. Die Genesis-Erzählung wirft viele Fragen auf: Warum ist der Wunsch, Erkenntnis zu gewinnen, ein Vergehen? Wer hat, geleitet durch welche Interessen, diese Interpretation erfunden? Warum beginnt diese Version der Menschheitsgeschichte mit Zwangsmigration, der Vertreibung durch Engel mit Flammenschwertern? Weshalb erkennen Eva und Adam, von Kopf bis Fuß unbekleidet, als „Blöße“ nur ihre Lenden? Die Aufgabe, sich fortzupflanzen war den Lebenden nicht neu; die Erde zu bevölkern mag Aufruf zu Migration und zu Herrschaft gewesen sein. 43

5.3 Die Entwicklung der „Israeliten“ und ihrer Narrative zu Gesellschaft und Geschlecht Die israelitische Ursprungslegende, die Christen nach ihrer Abspaltung als Altes Testament übernehmen würden, beschrieb, wie Abrahams und Sarahs Identifikationsgruppe unter einem Mose genannten Sprecher ihre „Auszug“ genannte, reichsinterne Mi-

gration vom Niltal zur Peripherie Kanaan begann. Die Wanderung ist archäologisch nicht belegt. Dass das Pharaonenpaar Amenhotep IV. (Echnaton) und Nefertiti (Nofretete) einen Sonnengott-Monotheismus einführte, gilt als Indiz. Der pharaonische

Petra, Berg Mose und Al-Ulâ liegen nur wenige hundert Kilometer voneinander entfernt. Stierlin, Städte in der Wüste, 49, 81 passim. Johannes Preiser-Kapeller, Jenseits von Rom und Karl dem Großen. Aspekte der globalen Verflechtung in der langen Spätantike, 300–800 n. Chr., Wien 2018. 40 Kim Haines-Eitzen, Guardians of Letters: Literacy, Power, and the Transmitters of Early Christian Literature, Oxford 2000; und dies., The Gendered Palimpsest: Women, Writing, and Representation in Early Christianity, Oxford 2011. 41 Zum Kontext: Griechen zeigten sich bei männlichem Sport nackt, Juden war dies zuwider und sie historisierten ihre Position. Die Gegenüberstellung von Gut und Böse bringt Dynamik und Dialektik, paradiesische Wunschlosigkeit suggeriert Stillstand oder romantische Gleichförmigkeit. 42 Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt 1980 (frz. Orig. 1952), 71. 43 Ernst A. Knauf, Die Umwelt des Alten Testaments, Stuttgart 32003; Böttrich, Ego und Eißler, Adam und Eva, 81. 38

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Würdenträger Mose (alt-ägypt. der Geborene) war als Neugeborenes einem angedrohten Massaker dank dreier Frauen entkommen: seiner israelitischen Mutter Jochabed (Geschenk Gottes), einer ägyptischen Prinzessin und seiner älteren Schwester Mirjam/Maria. 44 In der biblia-Version schloss die Gottheit Abrahams, die der Pharaonen oder eine Synthese beider am Berg Sinai (2285 m) mit Mose einen Bund – auch die griechischen Götter residierten auf einem Berg. Das Wetter war schlecht, Mose verschwand über Tage in Wolken. Es ging um Herrschaft: „Ich aber bin der HERR, dein Gott, von Ägyptenland her, und du solltest keinen anderen Gott kennen als mich“ (Hos 13,4). Auch der assyrische Gott Nabu ordnete an, dass keinem anderen zu trauen sei. JHWH gab Mose Gesetzestafeln, woraufhin dieser versuchte, sich als alleiniger Prophet zu installieren. 45 Doch verhinderten dies seine Geschwister Mirjam und Aaron. Vierzig Jahre zogen die Viehzüchter-Familien durch die „dürre“ Wüste und die „Fleischtöpfe“ der Pharaonen erschienen retrospektiv nahrhafter. Manche erinnerten sich an Chnoubis, Gottheit ägyptischer Unterschichten, andere wandten sich der Sonnengöttin Shemesh zu. Welche Sprache war die ihre: Ägyptisch? Syro-Chaldäisch? Midianitisches Arabisch, wie es Moses Frau Zippora vermutlich sprach? Hebräisch war weder unter Nomaden noch unter Städtern Alltagssprache. Die Gottheit schickte ihre Anhänger geostrategisch in ein „gutes Land, ein Land, darin Bäche und Brunnen und Seen sind, die an den Bergen und in den Auen fließen; ein Land, darin Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume und Granatäpfel wachsen; ein Land, darin Ölbäume und Honig wachsen; ein Land, wo du Brot genug zu essen hast, wo dir nichts mangelt; ein Land, in dessen Steinen Eisen ist, wo du Kupfererz aus den Bergen haust“ (5. Mose 8,7–9). Die Gottheit, die Eva und Adam vertrieb, hatte eine karge, schweißtreibende Landschaft im Blick gehabt; die Gottheit der Zeit der Ankunft vertrieb zwischen Jordan und Mittelmeer Siedelnde

(Amos 1–9) und erfreute sich an von Frauen hergestelltem Tempelschmuck aus Luxusstoffen. Die teils urbanen, teils nomadischen Familien sahen sich im folgenden Jahrtausend vielfach bedroht: Herrschaft der drei benachbarten Großmächte; gewaltsame Konflikte der vielen Stadtherrscher und Anführer von Hirtenverbänden; bedrückende Macht der Könige mosaischen Glaubens. Ein Hirte, David, 46 besiegte eine große Macht, Goliath genannt, und vereinte Judäa und Israel. Doch schon Solomons zwei Söhne teilten 930 v. u. Z. Macht und Menschen in ein Israel und in ein Judah mit Jerusalem. Ersteres eroberte 722 ein neo-assyrisches Heer, letzteres 586 ein neo-babylonisches. Die Neu-Herrscher deportierten Eliten- sowie Handwerker-Familien, etwa ein Fünftel der Bevölkerung, und zerstörten Solomons „Ersten Tempel“ – daneben hatte es andere Tempel gegeben, die Zählung bestimmten jedoch die Schriftgelehrten des Jerusalemer Tempels. In Babylon durften die Deportierten eine Gemeinschaft bilden, sie wurde neues Zentrum. Als Rückkehr möglich wurde, blieben viele in der neuen community, die Rückwandernden drängten sich den zur Zeit der Deportation Zurückgebliebenen als Elite auf und ließen den Zweiten Tempel errichten. Es folgten Perioden persischer (538–332) und hellenischer (332–167) Herrschaft. Die jüdisch-gläubigen Migrant*innen blieben innerhalb ihrer religiösen Makroregion, denn die Grenze zwischen Glauben trennte nicht Ägypter, Iraner und Griechen, sondern diese von Indern. Der Verband vermehrte sich auf die üblichen zwölf Teilverbände („Stämme“), die schriftgelehrte oder zumindest -kundige Elite sicherte sich ein Interpretationsmonopol und im Zuge der Sedentarisierung setzte sie sich von allen Nachbarn ab. Sie lehnte in fundamentalem Bruch erstens den üblichen und im Zentrum Ägyptens wieder aufgenommenen Polytheismus rigoros ab. Zweitens vernichtete sie im „Gelobten Land“ die Ansässigen und ihre Kultstätten (5. Mose 7,1) 47 und entschied sich gegen jegliche körperliche Vermischung mit den Anderen.

Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998. Eine alternative Lesart nahm den Abzug der ägyptischen Oberherrscher aus Kanaan und die daraus folgende scharfe Rezession in den Städten als Ausgangspunkt. Menschen hätten sich ins Bergland zurückgezogen und eine separate, israelitische Kultur gebildet. 45 Am Berg Sinai entstand unter Kaiser Justinian zwischen 548 und 565 das Kloster der „Heiligen Jungfrau“, jetzt St. Katharina. Die Verehrung der Sonne war wie die Ost-Westausrichtung vieler Gräber und Kirchenanlagen Teil des Bauprogramms: Sie scheint während des Morgengottesdienstes durch das Apsis-Fenster auf den Altar und während des Abendgottesdienstes durch das Westfenster. 46 Genealogen von Jesus (Baum des Jesse) und des fränkischen Kaisers Karl würden ihn als Vorfahren nutzen. 47 Fowden, Empire to Commonwealth, 37, 66. Der Mittelalterhistoriker Kurt Flasch sprach von einem „Rohheitspotential“ des AT-Gottes. 44

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Traditionelle und hellenisierte Juden, abweichende Christus-Gläubige

Drittens maskulinisierte sie in ihrer Schriftfassung den Glauben: JHWH sprach als „HERR“. Doch viele verehrten weiterhin die Fruchtbarkeits- und Meeresgöttin Aschera. Sie war vielleicht Gattin eines Gottes der Tiere und des Regens – des JHWH? Westsemitische Verbände verehrten die Fruchtbarkeits- und Liebesgöttin Astarte. Als im 4. Jahrhundert v. u. Z. Alexander (später römisch „der Große“) in die Region zog, verehrte er weibliche Statuetten mit göttlichen Schutzfunktionen. Generationen nach der Maskulinisierung wandten sich hellenistische Ärzte dem Thema Fruchtbarkeit und der Unsichtbarkeit des LebenWerdens zu und erfanden den defizitären weiblichen Körper: Der Uterus wandere und verursache

Beschwerden, ungewöhnliche Menstruation könne uterines Ersticken, griech. hysterike pnix, kurz: Hysterie, bewirken. Die Schriften wurden erst im 2. Jahrhundert zu einem Korpus zusammengefasst, aber dem Arzt Hippokrates (4.–3. Jh. v. u. Z.) zugeschrieben. Aristoteles (384–322) verkündete, dass Ziel jedes Zeugungsvorganges ein Mann sei. Hingegen kannten Natur-interessierte Autoren wie Plinius (Naturalis Historia, XVII 47, um 77 u. Z.) und Palladius (De re rustica, I 34.3, 5. Jh.) Fruchtbarkeit und beschrieben den Brauch, menstruierende Frauen über die Felder gehen zu lassen, um diese zu befruchten. Alexandrinische Gelehrte waren seit dem 3. Jahrhundert v. u. Z. anatomisch genau informiert (s. Kap. 9.5).

5.4 Traditionelle und hellenisierte Juden, abweichende Christus-Gläubige 48 Die Festlegung des Glaubens als „die Schrift“ verhinderte Usurpation von Herrschaft nicht. Hohepriester verwendeten Teile des Tempelschatzes ab 167 v. u. Z. für Paläste und führten Kriege mit Nachbarherrschern. Orthodoxe und hellenisierte Fraktionen, die in Jerusalem stritten, riefen 63 v. u. Z. den Feldherrn des heranrückenden Römischen Reiches (RR) zur Hilfe. Dieser ergriff die Chance und richtete, unter anderem mit Hilfe germanischer und keltischer Söldner, ein Klientenkönigtum ein. Machthaber und -aspiranten bekämpften sich. Herodes I. aus der südlich benachbarten idumäischen Region, die ein vorangehender Hohepriester annektiert und dessen Bewohner*innen zwangsbekehrt hatte, ergriff die Herrschaft über Judäa, Galiläa und Samaria (h. 39–4). 49 Er übernahm die RR-Urbanisierungspolitik, seine Söhne intensivierten Romanisierung und Kommerzialisierung und bereicherten sich rücksichtslos. „Es begab sich“ – eine eigenartige Sprachfigur ohne Handelnde – im Gebiet des Judah genannten Teilverbandes, dass für einen Zensus im Jahr 8 oder 7 v. u. Z. alle Menschen in ihren Geburtsort zurückkehren sollten, um registriert zu werden. Unter

ihnen befand sich eine Maria/Mirjam mit ihrem Mann, dem Zimmerer Joseph. Sie war schwanger und gebar nach schwer zu belegendem Narrativ am Wegesrand einen Knaben, den sie Jesus (hebr.griech. Gott hilft) nannten. 50 Bei der Inkorporation ins RR im Jahr 6 u. Z. war er etwa 12 Jahre alt, sprach das afroasiatische Aramäisch und hinterfragte als kritischer Jugendlicher den Reichtum der Hohepriester, Handel im Tempel und die Autorität der Traditionalisten. Er scheint seine Eltern und Geschwister verlassen zu haben. Sein ebenfalls christlich gesinnter Bruder Jakobus vertrat dezidiert jüdische Traditionen. Wie dachte er über die Vertreibung von vermutlich 4000 Juden im Jahr 19 u. Z. durch die RR-Herrscher? Er wirkte mit seinen zwölf (!) engsten Anhängern als Wanderprediger, heilte Kranke und ging über Wasser: Magische – oder psychologische – Fähigkeiten waren Teil der Erwartungen an außerordentliche Menschen. Die Pharisäer-Aristokratie des Hohen Rates (Synhedrion), die von Tempeleinkünften lebte, fühlte sich von Jesus bedroht, denn neben die orthodox-hellenistische Spaltung trat die rabbinischer vs. christlicher Juden. Sie suchte wiederum Hilfe bei dem RR-Statt-

Robert Knapp, Pilger, Priester und Propheten. Alltag und Religionen im Römischen Reich, Stuttgart 2018 (engl. 2017), bietet einen hervorragenden sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Überblick. 49 Fundamentalistische Rabbiner der Gegenwart behaupten in Blutlinienkonstruktion, dass anerkannte Gläubige von einer jüdischen (Ur-) Mutter abstammen müssten. 50 Je nach Überlieferung gebar Maria unter einem Felsüberhang (älteste Version), unter einer Palme (Quran), in einem Stall (christlich-landwirtschaftlich). Registrierung der Steuerpflichtigen (Lukas-Evangelium) und Herodes’ Kindesmord (Matthäus) sind historisch nicht nachzuweisen. Belegt ist Steuereinzug durch Subunternehmer, „Zöllner“, die ihren Schnitt machten. Sie galten als „Sünder“ (Markus 2,15–16). 48

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halter Pontius Pilatus und dieser ließ, trotz Bedenken gegen die Stichhaltigkeit der Vorwürfe, den fast 40-jährigen Jesus, 51 von seinem ebenfalls kritischen Cousin Johannes kurz vorher getauft, als Hochverräter – gemäß der üblichen Form der Todesstrafe – kreuzigen. 52 Der Tod war schmerzhaft für die Mutter – den Vater erwähnte und erwähnt das offizielle Narrativ kaum – und für alle, die ihrem Sohn nahestanden. In Repositionierung von Gender nahmen Frauen sein leeres Grab wahr und Maria Magdalena, die ihm besonders nahestand, sah ihn als Gärtner vor ihrem Gefühls-Auge. Die Erzählung von Tod und Auferstehung nahm Tod-Wiedererweckung-Geburt der Isis-Osiris-Horus-Verehrung und vielleicht die Kybele-Aphrodite-Verehrung auf. Die neue jüdische Sekte sah, wie im Fall Abraham-Isaak, den von „Gottvater“ bestimmten Tod des „Sohnes“ als Opfer für die Erlösung der, laut ihrer Wort-Führer, sündigen Menschheit. Sie nannten den Toten meschiach und Christos, den Gesalbten. Die Praxis, Kräfte durch Opfer geneigt zu stimmen, war nicht neu. Neu war der Zusatz: Geht es uns gut, verdanken wir es Gott; geht es uns schlecht, sind wir sündig. „Wir“ müssen Gott durch besondere Opfer versöhnen: eine win-win-Situation für jede Interpretenkaste. Der kritische Prediger sprach die Sorgen vieler an. Aus Protest gegen die dynastische und pharisäische Machtausübung hatten Samariter und Essener sich bereits abgesetzt. Erdbeben und Dürre (32 und 25 v. u. Z.) machten allen das Leben zusätzlich schwer. Die neuen römischen Herrscher und mit ihnen die aristokratisch-jüdischen privatisierten gemäß RR-, aber entgegen israelitischem GottesRecht Agrarland, um es effizient und marktorientiert, wohl durch Sklaven, bewirtschaften zu lassen. Ländliche Familien sahen sich nicht nur in ihrem Lebensunterhalt bedroht, sondern auch in ihrer religiösen Identität. In ihrem Glauben blieb Land in Gottes Hand und Offenbarungstext ebenso wie Durchführungsbestimmungen sahen gerechte Be-

sitzverteilung und sozial-ökonomisch faires Verhalten vor. Angesichts des Modernisierungsschubs, der sich auch im Wechsel zur griechischen Koine, einer Dialekte zusammenführenden Alltagssprache, manifestierte, fanden viele den Prediger und seine Verteilung von Brot und Fisch an Hungrige überzeugend. Mangel an „Brot“ würde über die Jahrhunderte Handeln initiieren: Amerikanische Widerständler warfen in den 1760er Jahren dem britischen „Mutterland“ vor, „to take the bread out of our mouth“, und verarmte Männer und Frauen aus vielen Teilen Europas wanderten im 19. Jahrhundert nicht „nach Amerika“, sondern, in ihren Worten, „zum Brot“. Sollte es Jesus als Person nicht gegeben haben, wie eine wachsende Zahl von Historiker*innen und Theolog*innen argumentiert, wäre er eine gelungene und Sinn-hafte Personifizierung des Widerstandes gegen die neuen und alten Eliten. 53 In die nachfolgenden Richtungskämpfe zwischen Hellenisiert-Persifizierten und Puristisch-Israelitischen griffen RR-Truppen anlässlich eines Befreiungsversuchs 70 u. Z. zum dritten Mal ein, zerstörten 71 den Zweiten Tempel und vertrieben Teile der Bevölkerung. 54 Während Markus begann, sein Gründungsnarrativ niederzuschreiben, entschieden sich viele – wie bereits seit Erdbeben, Dürre und Fremdherrschaft – für Abwanderung; Männern ermöglichte der Söldnerdienst Abzug auf Staatskosten. Im RR galt jüdischer Glaube als religio licita und Migrant*innen bildeten in Illyricum und Pannonia diasporische Gemeinschaften mit eindrucksvollen Versammlungsräumen (griech. Synagogen). Sie behielten Elemente der Sonnenverehrung bei und waren vom Kaiserkult befreit. Reformrabbis gestalteten die Religion flexibel und die Tora-Rollen wurden gewissermaßen transportable Heimat. In eng verwobener, paralleler christlicher Übertragung erschien Christus als Sonnengott: Da es ohne Sonne Leben nicht gibt, war sie Symbol für Gottheit. 55 Anhänger der Christen-Sekte entschlossen sich ebenfalls abzuwandern. Da sie Gesellschaftskriti-

Lt. Bibel war Jesus 33 Jahre alt. Wurde er im später errechneten Jahr Null geboren, oder gemäß Neuberechnungen einige Jahre früher? Zweifel an dem historischen Gehalt der Bibel werden seit Langem geäußert. Die brutale Negierung christlicher Ethik im Faschismus regte, noch in den Ruinen, den Journalisten Werner Keller an, Und die Bibel hat doch recht (1955) zu verfassen. Er traf auf ein Bedürfnis, seine Interpretation wurde Weltbestseller. 53 John D. Crossan und Jonathan L. Reed, Excavating Jesus: Beneath the Stones, Behind the Texts, London 2001; Stierlin, Städte in der Wüste, 23–37. 54 Emil Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.–A.D. 135), hg. und überarb. von Geza Vermes und Fergus Millar, 3 Bde., Edinburgh 1973–1987, 3.1:1–86; Ilan Ziv, Exil – enquête sur un mythe, Dokumentarfilm, Montreal 2012. 55 Raphael Gross u. a. (Hg.), Im Licht der Menora. Jüdisches Leben in der römischen Provinz, Frankfurt/M. 2014; Raphael Patai, Jews of Hungary: History, 51

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ker*innen waren, verfolgten RR-Administratoren ihre Diaspora. 56 Sie trugen ihre Überzeugungen und funds of knowledge in westmittelmeerische, danubische, ägyptische, ostafrikanische und persische Welten. Beide Glaubensversionen, singularisiert als Judentum und Christentum, portativ und ortsunge-

bunden, sahen in Jerusalem Ursprung und Anker. Die Festlegung dieses einen heiligen Ortes bedeutete auch Reduktion von über die Jahrhunderte immer neuen synkretischen Varianten und dogmatischen Spaltungen. Sie stellte die Stadt über das Leben in Wanderhirten-Verbänden. 57

5.5 Von vielfältig gelebter zu staatlich akzeptierter christlicher Religion „Jüdisch“ und „christlich“ bezeichnete bis ins 4. Jahrhundert Lebens- und Glaubensweisen mehr als Gruppen. Migrant*innen jüdischen Glaubens blieben unter sich, die christlich Neugläubigen suchten mit ihrer Erlösung versprechenden Religion Kontakte und gründeten im Donauraum kleine Gemeinschaften. In Syria-Judea leitete meist ein presbyteros (griech. Ältester, später Amtsinhaber) und ein/e Diakon*in eine Gemeinde sowie, wo sinnvoll, ein gewählter Bischof. Die ecclesia prima, aus Sicht späterer Kirchen-Hierarchen ecclesia primitiva, galt jüdisch und staatsrömisch Gläubigen als pagan. Ihre Sprecher begannen Zugang zu den Mächtigen zu suchen und mussten dafür erstens darlegen, dass sie keine sozialreformerische oder gar revolutionäre Sekte verträten, und zweitens ihren religiösen Diskurs attraktiv machen. Dafür nutzten sie Berichte, die romanisierte Autoren seit Ende des 1. Jahrhunderts über Jesus, Beiname Christus, in hellenischer Koine verfasst hatten und werteten sie zu autoritativen Evangelien auf: das „Neue Testament“ (NT) als Anschlussband zum AT. Die Schriftgelehrten schufen sich eine Welt komplexer theologischer Debatten und werteten die Gemeindemitglieder als „Laien“ (griech. laos = Volk) ab. In der Dualität von Wanderhirten- und urbanen Familien erschien Jesus-Christus als Schäfer, Gärtner oder Fischer, sein Gottvater eher als urban und mit Warenaustausch vertraut: Gläubige mussten ihm Rechenschaft ablegen, er legte menschliches Leben auf eine Waage; Taufe besiegelte Zugehörigkeit wie Schriftsiegel oder prägte wie Münzhämmer; Menschen waren Gott etwas schuldig,

Christus löschte Schuld durch Opfertod. In anderer Perspektive trugen Gläubige das Mal Christi wie Tiere das Brandmal des Besitzers; Vieh, pecus, wurde Währung, pecunia. Viele vertraten eigene Sichtweisen: Unter syrischen Christen war „Heilige

Abb. 5.22 Christus als Sonnengott in der Nekropole unter der Peterskirche, Rom 3./4. Jh., mit den Attributen Wagen, sich bäumenden Pferden, flatterndem Mantel und Strahlenkranz (Goldmosaik)

Culture, Psychology, Detroit 1996; Collar, Religious Networks, 146–223. In Aquincum waren jüdische Legionäre aus Antiochia und Hemesa (Homs) stationiert; Funde in Carnuntum zeigen jüdische Ornamentik; in Noricum fehlen Hinweise auf Migrant*innen jüdischen Glaubens. 56 Reza Aslan interpretiert Jesus als jüdischen Revolutionär, der die Besetzung Palästinas beenden wollte, aber keine millenaristischen Ziele verfolgte. Reza Aslan, Zelot: Jesus von Nazareth und seine Zeit, Reinbeck 2013 (amerikan. Orig. 2013). 57 Fowden, Empire to Commonwealth, 12–38, 82, Karte vor Rückumschlag.

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Geist“ (grammatisch) weiblich, erst im Griechischen wurde es zum Männlichen gewandelt; ägyptische Christen behielten die WeltordnungsGöttin Maat bei. Manche Autoren verschärften die Ablehnung des Weiblichen: „Petrus sprach zu ihnen: ‚Mariham soll von uns fortgehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht würdig.‘ Jesus sprach: ‚Seht, ich werde sie führen, um sie männlich zu machen, dass auch sie ein lebendiger Geist wird, der euch Männern gleicht‘“ (2. Jh.). Dass ein Sohn die Mutter vermännlicht und zum Leben führt, war eine ungewöhnliche Perspektive. Später betonten andere Weibliches – „Eva-hawa Maria–Ave Maria– Leben Maria“ – und Kirchenmaler würden Maria mit Strahlenkranz darstellen wie ägyptische Künstler den Gott Aton mit Sonnenstrahlen, die in seinen Händen zu enden schienen. Aton, Sohn von Echnaton und Nofretete, hatte Mose inspiriert. 58 Hinzu kam die Verehrung der zweiten Maria: „Magdalena“ aus dem urbanen Fischerzentrum Magdala am See Genezareth, Wegstation der Via Maris von Kleinasien nach Mesopotamien (Abb. 6.3). Um staatsrömische Priester-Institutionen zu stärken, verordnete Kaiser Diokletian zwischen 303 und 305 rigorose Christen-Verfolgungen. Manche nutzten dies, um unliebsame Nachbarn oder Konkurrenten als Christen zu denunzieren und beseitigen zu lassen. An der norischen Peripherie wurden in Lauriacum Christen ergriffen und ein ihnen Hilfe bietender römischer Offizier Florian getötet (Bericht 8./9. Jh.). 59 Als eine in Theben unter koptischen Christen rekrutierte Legion sich weigerte, gegen donauländische Christen vorzugehen, wurden die Legionäre getötet (Bericht 5. Jh.). Ihren obersten Offizier Mauritius würden spätere Christen als Heiligen verehren. 60 In Augusta Vindelicorum wurde Afra, Tochter einer aus Zypern zugewanderten Familie, 304 lebendig verbrannt (Bericht 8. Jh.). Sie war, je nach männlichem Autor, Prinzessin oder Prostituierte und wurde später heiliggesprochen. Eine Salzburger Hausbesitzerin, eine Laienschwes-

ter im Stift Göss, eine begüterte Frau in Weißpriach und vermutlich andere trugen ihren Namen. 61 Manche Zuwander*innen kamen aus der Provinz Africa (heutiges Tunesien), in der, wie in Westanatolien und Armenien, ein großer Teil der Bevölkerung die neue Religion angenommen hatte. Viele Migrant*innen sprachen Griechisch, auf der Apennin-Halbinsel sozialisierte Lateinisch, aus Syrien kommende Aramäisch. 62 Im Rahmen der Konkurrenzen um den römischen Kaiserthron entschied sich Aspirant Konstantin, das Kreuz als „Kampfmagie“ (L. F. v. Padberg) zu verwenden. Er siegte und stellte gemeinsam mit Mitkaiser Licinius, 313, den christlichen Glauben dem jüdischen als religio licita gleich. Konstantin war Teil der kosmopolitisch-imperialen Elite: als Sohn eines römischen Offiziers und der Herbergswirtin Helena aus Bithynien (anatolische Schwarzmeerküste) in Naissus (Niš, Serbien) geboren; zum Kaiser ausgerufen in York (Britannia), Hauptstadt in Trier; Aufenthalt in Mailand. Seine Anerkennung der Minderheitenreligion werteten spätere Wort-Führer als „konstantinische Wende“. In der Levante kommunizierten Menschen in Aramäisch und Koine-Griechisch, verwendeten untereinander lokale Sprachen und mit Behörden Lateinisch. Das gemeindlich-partizipatorische Element erschien Bischöfen störend, seit sie „hoffähig“ geworden waren und um Positionen und Bekanntheitsgrad konkurrierten. Unter Aufsicht des Kaisers legten meinungsstarke und spitzfindige Bischöfe, Asketen und Religionsgelehrte in Nicäa (Iznik, Anatolien) 325 eine rigoros eingegrenzte Auswahl von Schriften als Meistererzählung „Neues Testament“ und einzig „heilige“ Sammlung fest: Christentum Version 2.0 oder „Nicäa“. Die anwesende Mehrheit schloss Andersdenkende aus und etikettierte alternative Lesarten als verborgene, griech. apokryphe, Texte, so das „Buch von Adam und Eva“ (1. Jh.), das „Evangelium der Maria [vermutl. Magdala]“ (vor 160) und alle, die andeuteten, dass

Bild des sog. Kairoer Klappaltars, 14.–13. Jahrhundert v. u. Z., Ägyptisches Museum, Kairo. „Ave“ war in Doppelbedeutung auch ein römischer Gruß. 59 Im Folgenden nenne ich die oft späten Entstehungsdaten der jeweiligen Erzählungen. 60 Otto I. gab die Reliquien des Mauritius in ein Kloster in Magdeburg und ihm wurden zahlreiche Kirchen in Norddeutschland, im Baltikum sowie in Augsburg und in Friesach geweiht. 61 Im 8. Jahrhundert trug die Augsburger St. Afra-Kirche ihren Namen; Bischof Ulrich (a. 923–973), der den hl. Mauritius verehrte, ließ sich dort beerdigen. MGSL 86/87 (1946/47), 28. 62 Die südfranzösische Camargue erreichten im 1. Jahrhundert per Schiff (lt. späterer Erzählung) drei Marien und die „schwarze Sara“, interpretiert als Frauen um Jesus mit ihrer Dienerin. Die im 6. Jahrhundert errichtete Kirche Saintes-Maries-de-la-Mer wurde dank der Ägypterin Sara Wallfahrtsort für Egyptians, engl. gypsies. 58

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Von vielfältig gelebter zu staatlich akzeptierter christlicher Religion

Jesus und Maria Magdala verheiratet gewesen waren. Wie Markus erwähnten sie, dass Joseph und Maria nach Jesu Geburt Kinder hatten, Jesus also Geschwister hatte (Matthäus 1,18–25). 63 Die Sprecher differenzierten sich in Bischöfe, Theologen, Prediger, Hagiographen, Enzyklopädisten, Übersetzer, Kommentatoren und Mystiker und entwickelten in Hunderten von Treffen mit lautstarken Debatten, Tätlichkeiten, elaborierten Zeremonien und Inszenierungen eine Hierarchie (griech. hiera archä = heilige Herrschaft). Sie votierten Steuerprivilegien für Bischöfe, wandelten ecclesia in Karriereoptionen für Männer und appropriierten Weiblichkeit: ecclesia als Mutter, Männer-Lehren als Muttermilch. Anders als Baumhaine in keltischer Verehrung galt ihnen das Kreuz aus Holzbalken als Symbol. Damit wurde die Teilung von Institution (s. Kap. 6.2) und alltäglichem Glauben (s. Kap. 9.1, 9.2) offiziell. Die arrivierten Hierarchen gestalteten „Sonn-Tag“ als christlichen Feiertag, denn der Kaiser verehrte weiterhin den Sonnengott. 64 Da die monopersonale Herrschaft einer Kircheninstitution bedurfte, berief Kaiser Theodosios I. 381 alle – im RR vertretenen – Fraktionen zu einem Konzil nach Konstantinopel. Die Kaiser-gestützte Mehrheit erhob Alleinvertretungsanspruch, schloss Vertreter vieler anderer Glaubensweisen aus und, 451 in Chalcedon, die sogenannten altorientalischen Kirchen: Syrier (über Persien ostwärts), Armenier, (ägyptische) Kopten, Äthiopier, Aramäer und Nestorianer. Die Ansichten von Gnostikern, Donatisten und Arianern erklärte sie für irrig. Bischöfe im Herrschaftsbereich der Sāsāniden würden eigene Konzile einberufen. Von den „heiligen“ Textsprachen Aramäisch (syrische Variante), Hebräisch und Griechisch diente letztere der Textverbreitung nach Westen, erstere im Osten. Der Kaiser legte die autorisierte griechisch-sprachige Version fest und erhob damit dieses eine von vielen Christentümern zwar nicht de-iure, aber de-facto zur Staatsreligion. Seither brachte Zugehörigkeit zu anderen Religionen zivilrechtliche Nachteile. Schrittweise konvertierten

Menschen, oft ohne alte Verehrungen abzulegen; vier Jahrhunderte später würden in Palästina unter Kalifen-Herrschaft viele ebenso schrittweise und ohne Christliches abzulegen zum muslimischen Glauben an denselben Gott übergehen. 65 Die Neuaufstellung veränderte Glauben grundlegend. Polytheistisch Gläubige zogen Kraft aus polymorphen Vorstellungen; Gottheiten, die nicht antworteten, konnten sie fallen lassen und andere ihrem Pantheon hinzufügen. Hingegen erforderte der „unerklärliche Ratschluss“ eines Mono-Gottes Interpreten und Apparate für die Bekämpfung von Abweichlertum, deren Unterhalt die Transaktionskosten erhöhte. 66 Die Wort-Führer mussten einerseits auf Orthodoxie achten und andererseits immer neue Erklärungen für Neues finden. Kanonisierung beendete die Dimension eines souvenir approximatif, einer sich dem Vergangenen annähernden Erinnerung. Auch änderte die Neuaufstellung die Motivation für Mitgliedschaft. Vor Nicäa und Konstantinopel hatte Zuwendung zum christlichen Glauben Systemkritik bedeutet und die Überzeugungstäter*innen mussten wirtschaftliche Nachteile und Verhöhnung hinnehmen. Sie verloren ihre Netzwerke, setzten sich Verfolgungen aus, konnten getötet werden. Nach Anerkennung erwarben Pragmatiker*innen Mitgliedschaft und versprachen sich Vorteile auch bei geringer Glaubensintensität: Aus einigen Hunderttausenden am Beginn des 3. wurden mehrere Millionen am Ende des 4. Jahrhunderts. Religionswechsel zahlte sich aus. Die kaiserlich-klerikale, staatstragende Version des Christentums teilte sich allerdings in die spezifischen liturgischen Bräuche der Metropoliten von Antiochia über Alexandria, Caesarea, Ephesus, Konstantinopel, Illyrien, Aquileia, Mailand, Rom bis nach Arles sowie weiterer, weniger bedeutender Bistümer. Die Bischöfe in Mailand und Rom entfernten sich von der griechischen Sprache und verdrängten das Syrische. Die römischen versuchten früh, sich mit Appropriation von Petrus eine Sonderposition zuzusprechen. Sie würden diese jedoch

Reinhard Nordsieck, Maria Magdalena, die Frau an Jesu Seite, Münster 22006; Margaret Starbird, Das Erbe der Maria Magdalena. Das geheime Wirken der Witwe Jesu, Berlin 2006. Zu dem weibliche Perspektiven aufnehmenden Lukas-Evangelium Kate Cooper, Band of Angels: The Forgotten World of Early Christian Women, London 2013, 42–47. Caroline Walker Bynum, Fragmentation and Redemption: Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York 1992, 79–117. 64 Ramsay MacMullen, Voting about God in Early Church Councils, New Haven 2006; Fowden, Empire to Commonwealth, 106–109; Hartmut Leppin, Die frühen Christen von den Anfängen bis Konstantin, München 2018. 65 Fowden, Empire to Commonwealth, argumentiert, dass zentral geführte Strukturen sich zu pluralistischen auflockern. 66 Leppin, Die frühen Christen, 212–215, über die Debatten um Bezahlung. 63

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.23 Anteil der Menschen christlicher Glaubensvorstellungen, Beginn 4. Jh.

erst um 600 nach Rückverlagerung der Hauptstadt aus Ravenna verwirklichen können und erst um 1000 im Westen Vorrang erreichen. Aus ihrer Macht-vollen Positionierung heraus begannen die „heiligen Männer“ – genauer: Mehrheitsmänner – ein Zerstörungsprojekt. Sie „vandalisierten“ – Vandalen waren Christen – Verehrungsstätten von Menschen anderer Spiritualität und Liturgien: Demolieren von Statuen und Gebäuden und das Verwenden des Schutts als Baumaterial für Kirchen oder, alternativ, ihre Umwidmung – damnatio memoriae aus anderer Sicht – durch Zeremonie und Weihwasser. Statt Wasserheiligtum geweihtes Wasser – portabel und vielfältig einsetzbar und Wertvolles der Anderen konnte als Edelmetall verkauft werden. 67 Hatten frühe Gläubige Jesus als „Gottgesalbten“ gesehen, debattierten neue Theologen eine Christo-

logie: War er Menschensohn, Gottessohn oder beides? Eine Zweinaturen-Lehre, Christus habe „unvermischt und ungetrennt“ eine göttliche und eine menschliche Natur, hatten Cyril (Alexandria) und Vertreter einer muscular christianity in Chalcedon durch Bestechung durchgesetzt; 68 Anhänger des Presbyter Arius (Alexandria) glaubten, „der Sohn ist Gott nicht wesensgleich (homo-usios) sondern wesensähnlich (homoi-usios)“: Streit um ein iota, höhnten Gegner. 69 Vordergründig ging es um Vater und Sohn: War der Vater übergeordnet? Die Arianus-Fraktion wollte das alttestamentarische und alltägliche Patriarchat erhalten. Hintergründig ging es um die Mutter: Die Zwei-Naturen-Fraktion stufte Maria von Gottesmutter, theotokos, zu christotokos ab. Was dachten die Frauen in den Gemeinden? Eine dritte Fraktion war sich bewusst, dass ihre finanzielle Position von der Entscheidung abhing:

Eberhard Sauer, The Archeology of Religious Hatred in the Roman and Early Medieval World, Oxford 2003. Cyril hatte 412 das Amt von seinem ebenfalls aggressiven Onkel Theophilus übernommen, der führend an der Zerstörung des Sarapis-Heiligtums (391) samt eines Teils der berühmten Bibliothek beteiligt war. In den Kämpfen lynchten Christen 415 die pagane Wissenschaftlerin Hypatia. 69 Monophysiten sahen Einheit, „der Sohn ist eines Wesens mit dem Vater“, Nestorius’ assyrische Version sah Christus als Mensch. Ungenaue Übersetzungen vom Syrischen ins Griechische spielten eine Rolle. 67

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Von vielfältig gelebter zu staatlich akzeptierter christlicher Religion

Abb. 5.24 Jüdische Gemeinden als punktuelle Diaspora um 600 Die Bildsprache impliziert Denkvorgaben: Ausbreitung christlich Gläubiger stellen Autoren historischer Atlanten durchgehend flächig dar, Ausbreitung jüdischen Glaubens hingegen punktuell. Hinweise auf andere Religionen und auf ihre Intensität, zum Beispiel durch Säulendiagramme, fehlen.

Nur wenn Christus Gott war, konnten sie als Interpreten-Kaste seinen Tod nutzen. 70 Mit den Streitereien war das Projekt eines einzigen staatschristlichen Imperiums über die bekannte, bewohnte Welt gescheitert. Der entlassene Metropolit von Konstantinopel, Nestorius, wandte sich ins Persische Reich und seine Version fand Anhänger*innen bis ins China der T’ang. Christen im Niltal und bis nach Äthiopien-Aksum entwickelten die koptische Version und Sprache. Goten in der Donauebene, Langobarden in Oberitalien und vielleicht die agilolfingisch-bayerische Herrscherfamilie schlossen sich der arianischen Version an. Andere, zum Beispiel Christen armenischer Kultur, bildeten autokephale Kirchen: „Christen unterschiedlicher Orthodoxien“ oder, als Plural, Christentümer. 71

Hinzu kam Geschlechterhierarchie. Diejenigen, die den Ausschluss von Frauen von allen Ämtern vertraten, bezogen sich auf Paulus, der an die Korinther (1.14,34) und an seinen Mitarbeiter Timotheus in Ephesos (1.2,11–12) geschrieben hatte, dass Frauen sich „in aller Unterordnung belehren lassen“ sollten und zu schweigen hätten. Genau besehen, verehrten zu Paulus’ Zeit Korinther und Epheser viele Gottheiten, darunter Athene, Göttin des Wissens. Paulus selbst kooperierte als Zeltmacher beruflich und spirituell mit Frauen, die in diesem Berufszweig oft selbstständig kleine und große Firmen führten. Fälscher hatten die Textstellen eingefügt, misogyne Kirchenväter sie zum Teil der heiligen Schriften gemacht. 72 Beispielhaft lässt sich das Handeln von Frauen an Berichten über Thekla zeigen, die sich Paulus um

Lutz E. von Padberg, Die Christianisierung Europas im Mittelalter, Stuttgart 1998; Aziz Atiya, A History of Eastern Christianity, London 1968. Fowden, Empire to Commonwealth, 12, 109–110; Robert D. Sack, Human Territoriality: Its Theory and History, Cambridge 1986, 102–110; Philip Wood, „We have no King but Christ“: Christian Political Thought in Greater Syria on the Eve of the Arab Conquest, New York 2010. 72 Cooper, Band of Angels, 1–76; Haines-Eitzen, The Gendered Palimpsest; Crossan und Reed, In Search of Paul. Böttrich, Ego und Eißler, Adam und Eva, 70 71

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

50 in Iconium (Konya) anschloss, fortan asketisch lebte und zum Tode verurteilt wurde, weil sie die Autorität ihrer Familie verlassen hatte und sich gegen die Avancen eines jungen Adligen gewehrt hatte. Auch christliche Dogmatiker forderten ihren Tod: Sie hatte nicht nur ungetauft gepredigt, sondern sich im Angesicht des Todes selbst getauft. Frauen bezogen öffentlich und lautstark für Thekla Stellung, darunter Tryphaina (gest. 111), eine Verwandte des Kaisers. An dem Ort, an dem Thekla nach ihrer Errettung als Eremitin lebte, betete die gallische Pilgerin Egeria. 73 Die Erzählung von einer sich wehrenden Frau stellte einen Gegenpol zu den FrauenraubGeschichten vieler Gründungsmythen dar. 74

In Stadt-Rom gingen die vielfältigen und multilingualen Gemeinden im 3. Jahrhundert zur lateinischen Sprache über. Die später als linear konstruierte Papst-genealogia wäre ihnen unvorstellbar gewesen, denn der Stadtbischof war einer von vielen Sprechern. „Die Kirche“ war immer nur die jeweilige Mehrheit, deren Macht-Haber aus Angst vor Dissidenten coniurationes verboten. Etwa ein Jahrhundert später verboten Konziliare coniurationes clericorum ebenso wie gemeinsame Fürsorge, caritas. Hatten ländliche Kleriker in einer Berufsgilde gemeinsam über geistliche und materielle Probleme nachdenken wollen? 75

5.6 Métissage in transeuropäischen Verflechtungen Christlich Gläubige erreichten um die Mitte des 3. Jahrhunderts Aquincum und über Aquileia Immurium, Cucullis und Iuvavum. Andere trieben Handel Rhône-aufwärts oder segelten bis zu irischen, britischen und friesischen Küsten. Manche der dort Lebenden fügten ihren Überzeugungen die neue Gottheit hinzu. Taufe war für viele ein Initiationsritual unter mehreren, in Noricum schlossen sich vermutlich etwa zehn Prozent den christlichen Praktiken an. Als in dem noch-römischen Lager Ovilava (Wels) Ursa starb, schrieb ihr Mann Flavius Ianuarius: „Geborgen im Grab ruht hier Ursa, eine gläubige Christin mit 38 Jahren. Bei einer Geburt wurde sie unvermutet durch grausame Schicksalsfügung der tiefsten Unterwelt überantwortet und ließ mich plötzlich zurück, den ihr für Lebzeiten verbundenen Gatten. Ich Unglückseliger gehe umher und suche sie, die ich selbst auf ewig in der Erde bestattet habe“ (Hervorhebungen D. H.). Emotionen zeigen auch Grabstelen, auf denen

Mann und Frau offenbar eng verbunden ihre Hände ineinander gelegt haben. 76 Die Legionäre, Händler, Versklavten und Gefangenen, die Glaubensvielfalt Drau- und Mur-aufwärts trugen, sprachen viele Sprachen. In Aquileia hatten Veteranen-Familien bereits im 3. Jahrhundert eine Gemeinde mit Bischof gebildet. Letztere avancierten sich zu Metropoliten und beanspruchten Verwaltungshoheit bis zur Donau. In Pannonia existierten um 300 fünf Bischofssitze, in Dalmatia und in Noricum (Lorch/Enns) je einer. Eine (teil-) christliche „Romania“ lebte von Illyrien und Dalmatien bis Raetien und Augsburg. In Binnen- und Ufernoricum mag die Erlöserreligion vielen attraktiv erschienen sein, denn ihre Gottheiten boten während des Übergangs von Rand- zu Konfliktzone keinen Schutz. „Gott“ half – so spätere Legenden – während der Zerstörungen germanisch-sprachiger Verbände. 77 Métissage ließ eine überzeugte und überzeugende Minderheit zu pragmatischer Mehr-

96–104; Monique Alexandre, „Frauen im frühen Christentum“, in: Pauline Schmitt Pantel (Hg.), Antike, Frankfurt 1993, 451–490 (Bd. 1 der fünfbändigen Geschichte der Frauen, hg. von Georges Duby und Michelle Perrot). 73 Der historische Gehalt der Erzählung ist umstritten, neueste Forschungen sehen Theklas Existenz als gesichert. Renate Eibler, „Die heilige Thekla – eine Schülerin des Apostels Paulus, http://www.piaristen.at/stthekla/pfarre_2008/paulusundthekla.pdf (2. August 2020). Diana Lynn Severance, Feminine Threads: Women in the Tapestry of Christian History, Fearn, UK 2011; Averil Cameron und Amélie Kuhrt (Hg.), Images of Women in Antiquity, London 1983. 74 Patrick J. Geary, Women at the Beginning: Origin Myths from the Amazons to the Virgin Mary, Princeton 2006. 75 Otto G. Oexle, „Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit“, in: Herbert Jankuhn et al. (Hg.), Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, 2 Bde., Göttingen 1983, 1:284–354. 76 Franz Humer et al. (Hg.), A.D. 313. Von Carnuntum zum Christentum, St. Pölten 2014, Zitat 324–326; Universalmuseum Joanneum, Archäologie, Graz. 77 Lt. „Regen-Wunder“-Legende schlossen markomannische Trupps 172 ein durch Hitze und Durst geschwächtes römisches Heer ein. Auf Gebet hin schickte der christliche Gott Regen und, gekühlt, siegten die Legionäre.

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Métissage in transeuropäischen Verflechtungen

heit werden. Gemeinden bildeten Christen in der Brückenstadt Poetovio an der Drau, in Emona/Laibach/Ljubljana (slaw. ljubl = liebliche Gegend), Teurnia, Aguntum, Virunum sowie Celeia an der Save. 78 Zuwander*innen germanischer und slawischer Dialekte mit anderen Glaubenspraktiken kamen hinzu. Der spätere, weit verehrte Bischof Martin (316–397) in Tours wuchs in Sabaria (Stein am Anger/Szombathély) als Sohn eines römischen Tribuns unter Nachbarn auf, die Isis-Sothis verehrten. 79 Quadische und sarmatische Waffengenossenschaften verwüsteten christliche Kultstätten, militante Christen zerstörten Mithräen. Im Voralpenraum fehlen für die post-imperiale Zeit religiöse und materielle Zeugnisse analog der Gräberfelder der Salzwerker oder der Römer, zum Beispiel am iuvavischen Bürglstein. Hinweise bieten zwei religiöse Zentren. Auf einem Berg in Kärnten verehrten keltische Menschen die Gottheit Jovenat, römische Zuwander*innen ihre Gött*innen und das Grab einer Heiligen. Ostrogotische Christen errichteten zwei Doppelkirchen, vielleicht parallel für arianisch-christliche Menschen germanischen Dialektes und mehrheits-christliche, regionales Lateinisch sprechende Romanen. 80 Auf dem Frauenberg bei Flavia Solva/Lipnica/Leibnitz (Steiermark) verehrten die – jeweils zugewanderten – Ansässigen keltische Göttinnen und anschließend die ägyptische Isis als Schutzgöttin stillender Mütter und die nutrices Augustae als römisch-kaiserliche Ammen sowie, später, Isis-Maria lactans. 81 Frauen pilgerten zu den Heiligen und baten um sichere Geburt und gesunde Kinder. In Sichtweite befand sich die Verehrungsstätte auf dem Schöckl (1445 m) im Grazer Bergland, auf dem sich ein keltischer, dann römischer Weiheplatz befand, den besonders Frauen nutzten (620–450 v. u. Z. und 3./4. Jh. u. Z.). Die Ausbreitung der griechischen, wie später der römischen Liturgie erforderte lokale Kommunikationsfähigkeit und „allgemeinsprachenbildende

Abb. 5.25 Hemmaberg: Kirchen mit Nebengebäuden und die gegenwärtig genutzte Kirche St. Hemma

Kultsprachen“ (H. Wolfram). Wulfila (~311–383), Westgote kappadokischer (zentralanatolischer) Herkunft, entwickelte eine Schrift für die gotischgermanische Allgemeinsprache und übersetzte die Bibel. Kyrill und Method (9. Jh.) entwickelten für slawisch-sprachige Gläubige das Altkirchenslawische. Andere schufen frühe germanisch-sprachige Übersetzungen und Mönche im Kloster Mondsee übersetzten fränkische Schriften in altbayerischen Dialekt. Buchblöcke (codices) aus beidseitig beschriebenem Pergament ersetzten seit dem 4. Jahrhundert Buchrollen und vereinfachten und verbilligten die Verbreitung von Texten. Die Annahme des neuen Glaubens geschah besonders in zwei gegensätzlichen Formen: als Selbst-

Atlas of the Early Christian World, Karten 3–4 und 13–14. Die 8 t schweren Säulen des römischen Iseums fertigten Steinhauer in Kleinasien und Transportarbeiter schafften sie heran. Das Brunnenwasser in den Isis-Heiligtümern symbolisierte das heilige Nilwasser und Nilometer die Anzeige der Nilüberflutungen. 80 Jeder Teil der Doppelkirche könnte auch für unterschiedliche Funktionen verwendet worden sein. Michaela Binder und Sabine Ladstätter (Hg.), Die Heilige vom Hemmaberg. Cold Case einer Reliquie, Wien 2018. Die Heilige war vermutlich aus Südosteuropa im Rahmen der römischen Annexion zugewandert. Das Material des Reliquiars stammte aus Steinbrüchen bei Trentino. 81 Archäolog*innen fanden nahe der Wallfahrtskirche für Maria mehr als 60 Votivgaben für „Isis lactans“ (Stand 2017). Gert Christian, Heimo Kaindl und Bernhard Schrettle, Tempel und Kirche. Zur Kult- und Kulturgeschichte des Frauenberges bei Leibnitz, Graz 2011; Göttliche Mütter. Die Ammengöttinnen vom Frauenberg und ihre Schwestern. Ein Blick über Grenzen, Leibnitz 2017. Zusammenstellung überbauter Verehrungsorte in Georg Rohrecker, Die Kelten in Österreich. Auf den Spuren unseres versteckten Erbes, Wien 2003, 141–148. Schöckl: Ausgrabungen seit 2015 durch das Archäologiemuseum Joanneum, Graz. Die römischen Artefakte zeigen Verbindungen zur Rheingegend und in den mediterranen Bereich. 78

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.26 Mönchsmigrationen von Syrien-Ägypten nach Irland und Britannia, 4. Jh., und von dort nach Gallia und post-Noricum, 7.–8. Jh.

besinnung (oft „Konversion“ genannt) in lokalen gesellschaftlichen Kontexten und als machtpolitische Penetration durch Agenten von Herrschern, die so ihre Position festigten. 82 Als Kaiser Theodosios der Staatsreligion die Subsidien entzog, begann unter Nutzung aufgelassener Tempel und Einzug der Tempelschätze christliche „Verortung“ als Kirchen-Bauboom entlang der Donau bis Carnuntum. 83 In Noricums nur noch wenig besiedelten Städten war Kirchenbau nicht sinnvoll. Zu den Entwicklungen im Voralpenraum kam im 6. Jahrhundert gallischer Einfluss hinzu. Den Militärverbänden (s. Kap. 4.8) folgten Kirchenmänner und organisierten Christentum. Beiden war ein Herunter- und Unter-Drücken der romanisch-christlichen Ansässigen selbstverständlich.

„Hinhaltenden Widerstand“ leistete ein „traditionsbewusstes Heidentum“, das heißt Altgläubige, denn „das Christentum entsprach den Bedürfnissen des Königtums und des Adels besser als denen der bäuerlichen Bevölkerung“. 84 Einen weiteren Einfluss trugen „anglo-irische“ oder „iro-schottische“ Glaubensboten, als „heilige Männer“ bezeichnet, in die Region. Levantinische Mönche hatten auf den irischen Inseln missioniert und überzeugte Männer und Frauen hatten Kloster-Gemeinschaften gebildet. Da es Städte nicht gab, gab es keine Bischöfe. In den Klöstern mussten, erster Sonderweg, individuell Sünden gebeichtet und gemäß neuen, in Bußbüchern festgehaltenen „Tarifen“ kompensiert werden: Frömmigkeit wurde zählbar. 85 In einem zweiten Sonderweg

Nora Berend, „Introduction“, in: dies. (Hg.), Christianization and the Rise of Christian Monarchy, Cambridge 2007, 1–46. Modell einer idealisierten Kirchenanlage, 5.–6. Jahrhundert, im norisch-pannonischen Raum in Humer et al., Carnuntum, 314–315. 84 Rudolf Noll, „Die Anfänge des Christentums“, in: Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs: Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.1:93–103, Zitat 93–94; Cordula Nolte, Conversio und christianitas: Frauen in der Christianisierung vom 5. bis 8. Jahrhundert, Stuttgart 1995, Zitat (geringfügig verändert) 20; Wolfgang Haubrichs, „Christentum der Bekehrungszeit“, Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 4 (1981), 510–557; Arnold Angenendt, Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, Stuttgart 1990. 85 Im 9. Jahrhundert wurde Quantität selbstverständlich. König Ludwig (gest. 840) ließ für den Sieg in einem Kriegszug gegen „Bulgaren“ die Mönche in der Abtei Fulda je 1000 Messen und Psalterien lesen. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 22000, 21. 82 83

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Zuwandernde Kirchenmänner und Religiose im Voralpenraum

wählten viele Mönche Heimatlosigkeit, peregrinatio. Sie richteten in Northumbrien eine Klosterbasierte Organisation mit Abtbischöfen ein. Im Süden, wo romano-britische Organisation erhalten blieb, intensivierte 580 die Heirat von Æthelbert (Kent) und Bertha, (Merowinger), die Anglia ←→ Gallia-Verbindungen, da sie sich durch Kleriker begleiten ließ. Ein „griechischer“ Migrant, Theodor aus Tarsu (südöstliches Anatolien) würde um 670 als Erzbischof in Canterbury die Organisation vereinheitlichen. 86 In den transmaritim eng verbundenen Gesellschaften von Anglia über Jütland bis Südskandinavien suchten Herrscher mit un-, aber übergangschristlichem Begräbnisluxus Beherrschte zu beeindrucken. Hochqualifizierte Handwerker*innen verwoben traditionelle und neue britische, gallo-nor-

mannische, keltische und lokal-christliche Symboliken. 87 In einem Grab fanden Archäolog*innen Überreste eines Pfaus, in Indien und Sri Lanka heimisch und seit Alexander d. G. in Europa bekannt. Der männliche Pfau, in vielen Religionen Symbol und im 3. Jahrhundert in Carnuntums Zivilstadt verehrt, stand in der christlichen Religion für Königlichkeit, Eitelkeit und Unsterblichkeit. Die iro-schottisch-angelsächsischen Migranten mussten sich bei Ankunft auf dem Kontinent am merowingisch-karolingischen Hof vorstellen und um Erlaubnis für ihre Mission 88 ersuchen. Sie unternahmen ihre peregrinatio vorrangig für das eigene Seelenheil und nur sekundär zur Verbreitung des Glaubens. An dem Herrscherhof forderten sie Mittel für den guten Zweck, Askese war ihr Ziel nicht. 89

5.7 Zuwandernde Kirchenmänner und Religiose im Voralpenraum Von post-Raetien über Iuvavum und von Regensburg über das Ennstal wirkten adlig-elitär sozialisierte Kleriker unterschiedlicher Persönlichkeiten und Zielvorstellungen. Sie kannten institutionelle Narrative und theologische Texte. Für post-Noricum sind abgesehen von der Vita Severins „alle anderen Zeugnisse für das frühe Christentum in Iuvavum entweder gefälscht oder zumindest zweifelhaft in ihrem Wert“ (H. Dopsch). 90 Der Mönch Severin (~410–482) erreichte Pannonien und Ufernoricum 455, kurz nach dem Durchzug des hunnischen Heeres und vor Abzug der RR-Verwalter und Legionäre. Er war vermutlich Sohn einer vornehmen italischen Familie und hatte seinen Glauben unter syrisch-ägyptischen Mön-

chen gesucht. Er lebte und handelte gemäß dem dreiheitlichen Ideal selbstbestimmter Askese, spiritueller Ausstrahlung und pragmatisch-gesellschaftlicher Handlungs-Fähigkeit. 91 Die hagiographisch beschönigende, aber sozialgeschichtlich informative Vita sancti Severini (511) seines Schülers Eugippius entstand mit Unterstützung römischer Gönnerinnen, die Severins soziale Hilfe und Friedensbemühungen geschätzt hatten. 92 Die Menschen der Region schrieben ihm Wunder zu. 93 In den gefährlichen Zeiten brauchten sie sie dringend: Das Elend nahm zu, die Evangelien wandten sich an Arme und Verachtete. 94 Severin gründete Gemeinden, erreichte die Freigabe norischer Gefangener von benachbarten

Tillmann Lohse, „Heimat und Heimatlosigkeit bei Columban von Luxeuil“, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), 237–249; T. M. CharlesEdwards, Early Christian Ireland, Cambridge 2000. 87 Schiffsgräber in Sutton Hoo (East Anglia), Välsgarde (nahe Uppsala) und in Oseberg und Gokstad (Südnorwegen). 88 Die Bezeichnung „Missionar“ wurde im Deutschen vereinzelt erst im 16. Jahrhundert und allgemein seit dem 17. Jahrhundert verwendet. 89 Vergleichende Perspektive: Im 8. Jahrhundert intensivierten japanische und chinesische Herrscher, Kulturschaffende und Seefahrende Religionskontakte. Der buddhistische Mönch Jiàn Zhēn (jap. Ganjin) wanderte 754 nach Japan, legte in kaiserlichem Auftrag eine „richtige“ Regel fest, richtete Klöster nahe des Hofes ein und ordinierte nur in seiner „Regelschule“ Ausgebildete. Die Gläubigen hingegen verbanden die weit verbreitete animistisch-shintoistische und neue buddhistische Religion zu einer Symbiose. 90 Heinz Dopsch und Robert Hoffmann, Salzburg. Die Geschichte einer Stadt, Salzburg 2008, Zitat 80. 91 Claudia Rapp, Holy Bishops in Late Antiquity. The Nature of Leadership in an Age of Transition, Berkeley, CA 2005, 16–22 passim; Jack Tannous, The Making of the Medieval East. Religion, Society and Simple Believers, Princeton 2018. 92 Vermutlich Frauen der aus Pannonien stammenden Orestes-Familie, deren Männer als Gegner Odoakers in das Einflussgebiet Severins geflohen waren. 93 Im neutestamentarischen Griechisch ist „Wunder“ eine Kraft, ein Zeichen, ein erstaunliches Werk. 94 Christoph Markschies, „Die Entstehung des Christentums als historischer Wendeprozess“, in: Klaus E. Müller (Hg.), Historische Wendeprozesse. Ideen, die Geschichte machten, Freiburg 2003, 72–90. 86

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

„Barbaren“, wendete mit kluger Diplomatie Zerstörungen durch Heranziehende ab und siedelte bereits Entwurzelte in Lauriacum/Lorch an. Wohlhabende und die letzten Legionäre zogen ab, die verarmende Bevölkerung lebte vom Recycling alter Materialien. Severin regte einen freiwilligen Zehnt für Hilfsleistungen an und transmigratio in eine weniger bedrohte Region. Nach seinem Tod 482 95 zogen Anhänger*innen unter einem Vorsteher aus Cucullis/Kuchl nach Umbrien und – auch dies mit Hilfe einer Gönnerin – weiter nach Lucullanum bei Neapel. Sie trugen seine Gebeine mit sich, respektvoller Umgang mit Toten war Teil vieler Religionen. „Italia“ mag für die bedrohten Männer und Frauen Hoffnung geboten haben; für andere war es nach sozial internen Wirren, Übersiedlung der Reichen nach Konstantinopel und Ankunft der Ostrogoten nicht mehr attraktiv. Severins Bemühungen erinnerten viele dankbar, er wurde ein von Zeitgenoss*innen verehrter „lebender Heiliger“. 96 Die irisch-schottischen Mönche, die über Gallia-Francia die Gesamtregion erreichten, passten sich zügig Gallisch-Fränkischem an. Im zeitgenössischen Machtgefüge entschied die Konversion Herrschender über die Religions-Zugehörigkeit ihrer Beherrschten. Überzeugungsarbeit unter „einfachen“ Menschen in den Alpentälern oder entlang der Flüsse von der Donau bis zur Save wäre zeitaufwändig gewesen und hätte lokalkulturelles und agrarpraktisches Verständnis erfordert. Die Mönche folgten dem staatstragenden nicäischen Bekenntnis, allerdings mit Bezugspunkt Rom statt Konstantinopel und mit Texten in translatio, ÜberSetzung von griechischer zu lateinischer Kultsprache mit Begriffsänderungen. Auch sozio-ökonomisch waren Über-setzungen notwendig: Aus dem fruchtbaren, hierarchisierten Gallien bewegten sich zum Beispiel Columbans Gemeinschaft und Ruperts Reisegruppe in Herrschaftsregionen, in denen Freien Hörigkeit aufgezwungen wurde und Landwirtschaft neu zu entwickeln war (s. Kap. 4.8). Columban – geboren 540 in Irland, Gründer

des Ausbildungsklosters Luxeuil (Burgund-Ostfrankreich), gestorben 615 in Italien – zog mit Gallus, Entourage und königlich-bewaffneter Protektion in die Bodenseeregion zu Menschen alemannischer Sprache. Die Männer hinterließen eine Spur der Zerstörung. Im Dorf Tuggen am Züricher See verkündeten sie ihren Glauben, fanden aber keine Interessenten. In „frommem Eifer“ – so ihre Biografen – brannten sie eine ihren Gastgeber*innen heilige Stätte nieder, zerstörten Kultobjekte und warfen die Reste in den See. Sie haben, die Vermutung liegt nahe, sehr schnell davongaloppieren müssen und erreichten Bregenz. Dort fanden sie ein verfallenes, einst der heiligen Aurelia (Elsass, 4. Jh.) gewidmetes Bethaus, das die Ansässigen für „heidnische“ Bräuche nutzten. Gallus, der die alemannische Sprache erlernt hatte, predigte öffentlich, ergriff die Bilder der Gottheiten, zerbrach sie und warf sie wiederum ins Wasser – diesmal des Bodensees. Dann besprenkelten sie die Ruine mit Weihwasser und re-konsakrierten sie als christliche Kirche. Respekt vor Anderem und die Fähigkeit, Vielfalt zu leben, war nicht Teil ihrer Sozialisation. 97 Die einflussreichen Schüler Columbans – Eustasius und Agilus mit ihren Begleitern aus Luxeuil, Emmeram aus Poitiers in Regensburg, Korbinian (Sohn einer Irin und eines Franken, nahe Paris) in Freising – verkörperten liturgische Verschiedenheiten ebenso wie unterschiedliche Egos. Noricum erreichte, zwei Jahrhunderte nach dem Asketen Severin, der fränkische Adlige Hrodbert (Rupert, ~650–716/18) mit Gefolge. Er war als Bischof in Worms mit dem Hausmeier Pippin II. in Konflikt geraten, „begab sich außer Landes“ (oder floh) und suchte verwandtschaftliche Hilfe bei der bayerischen Herzogin Folchaid. In der Residenz Ratisbona (Regensburg) erwartete er um 690 ehrerbietigen Empfang und Ausstattung. Er taufte, wie erst um 800 in der Breves Notitiae behauptet, Hz Theodo II., der vielleicht der Rom nicht genehmen arianischen Variante der Christentümer nahestand. Die Herrscher-Familie hatte sich durch trans-

Nach zeitgenössischem Denken fiel Besitz bei Tod an den jeweiligen Herrscher. Entsprechend nahm sich ein benachbarter christlicher Rugier den Besitz des Klosters der Severin-Gemeinschaft. 96 Walter Pohl und Maximilian Diesenberger (Hg.), Eugippius und Severin. Der Autor, der Text und der Heilige, Wien 2001, 23, 37, 43, darin Kate Cooper, „The Widow as Impresario: Gender, Legendary Afterlives, and Documentary Evidence in Eugippius’ Vita Severini“, ebd., 53–63; englische Übersetzung der Vita, https://www.ccel.org/ccel/pearse/morefathers/files/severinus_02_text.htm#C1 (3. September 2020). Peter Brown, „The Rise and Function of Holy Men in Late Antiquity“, Journal of Roman Studies 61 (1971), 80–101. 97 Sauer, Archeology of Religious Hatred, 10–22, Lebensbeschreibungen von Wetti und Walahfridus (9. Jahrhundert). Martin aus Pannonien, später „der Heilige“, hatte laut Biograf bei Ankunft in Gallia in einem ländlichen Tempel Bildnisse und Altar zerschmettert (ebd., 88). 95

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latio römisch-gallischer Finanzierungspraxen nach Bayern Hof-Haltung und Haltung von Bewaffneten ermöglicht. Nachkommen Garibalds hatten, da sie Fiskalbezirke (pagi) gemäß RR-Praxis nicht einführen konnten, die Ansässigen-Unterworfenen als Unterhaltspflichtige an Mitmigranten von Rang und an einheimische Kleriker verteilt. Die Mönche des Klosters St. Peter erhielten die Orte-mit-Menschen Maxglan und Piding, Rupert 697 Menschen samt ihren kultivierten Ländereien am Wallersee (später Seekirchen) und, wenig später, das günstiger gelegene Areal nach-Iuvavums. Herrscher-Sohn Theodbert, der dort im vormaligen castrum superius (Obere Burg) residierte, schenkte ihm weitere Arbeitskräfte. Zusätzlich erhielt er einen Anteil an (Reichen-) Haller Salzpfannen-mit-Arbeiter*innen und an Teilen des Herrenzinses. Der fränkische Rupert machte sich zum Abt der romanischen Mönchsgemeinschaft, sein Bischofstitel bezog sich auf Worms. Durch Dämonenbann als Form christlicher Magie reinigte Rupert Iuvavum. Die Praxis des Bannens war bekannt, die Gorgo Medusa, deren Fresken ein römisches Haus in Lauriacum/Lorch geschmückt hatten, konnte Lebewesen durch Blick bannen. Ruperts expurgatio negierte Vorangehendes. Doch die Ansässigen hatten bereits eine obere Kapelle erbaut und sie mobilitätsbewusst nach dem Migranten Martin aus Sabaria benannt. Ging Rupert auf Romanisch-Christliches ein oder setzte er Fränkisches durch? Oder lebten Abt und Laien in parallelen Welten? 98 Vom Standpunkt Regensburg und der Perspektive Machtausweitung bot sich der Ausbau nach-Iuvavums an: Station auf der Route zu oder gegen die machtvollen langobardischen Herrscher, Aufmarschgebiet gegen romanisch- und slawisch-sprachig besiedelte östliche Gebiete, Vorposten gegen die Metropoliten in Aquileia. Rupert zog ostwärts, um Awaren zu missionieren, kehrte jedoch bereits

an der Enns um. Die seit RR-Zeiten christlichen Bewohner*innen der Grenzstadt Lorch bedurften seiner nicht und eine Tätigkeit jenseits des Grenzflusses wäre lebensgefährlich gewesen. 99 In einem weiteren Versuch entsandte Rupert Mönche in Richtung Karantanien (vormaliges Binnennoricum) entlang einer südlicheren Route. Zwei Gruppen der nicht immer konfliktfrei kooperierenden romanisch-christlichen homines de genealogia de Albina zogen Salzach-aufwärts, um zu jagen und Gold zu suchen. Überlieferer gaben ihnen neben albinus, Fremder, 100 auch individuell bedeutungsvolle Namen, Tonazan-Urso (Walchen-Bär) und Ledi-Urso (Latinus-Bär). Die beiden bärenstarken Männer entdeckten eine laut Überlieferung verlassene Kultstätte und gründeten in Absprache mit Abt und Herzog eine Siedlung. Sie statteten sie wirtschaftlich mit Wald und kultiviertem Land aus: Die verlassene Gegend war also bewohnt. Zu dieser „Maximilianzelle“ ordnete Rupert Mönche ab. 101 Ansässige wussten, dass die „Entdeckung“ einerseits Zugang zum Tauernpass bot und andererseits durch das Fritztal über den Mandling-Pass ins Ennstal und in slawisch besiedelte Gebiete führte. Der Ort lag, drittens, nahe dem Kupferabbau am Götschenberg und Hochkönig. 102 Abt, Herzogsund Albina-Familie kannten das Straßennetz und richteten Zellen oder Meierhöfe als Nachschubbasen ein. Sie zielten auf Annexion bewohnter Landschaften. Die nahebei ansässigen vicini (lat. vicus oder slaw. wes) slawischer Sprache und Glaubens erkannten dies und zerstörten sicherheitshalber – wörtlich: ihrer eigenen Sicherheit halber – den vorgeschobenen Posten. Rupert kehrte um 715 nach Worms zurück. Spätere Erzähler behaupteten in ihrer Gesta Sancti Hruodberti Confessoris (798), er hätte in nach-Iuvavum nur eine „von Bäumen überwucherte Ruinenstätte“ ohne städtisches Leben vorgefunden, und inszenierten ihn mit dieser Ödnislegende zum Grün-

Die Abtei St. Peter stand auf Mauern römischer Wohnhäuser. Ernst Schwarz, „Baiern und Walchen“, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 33 (1970), 857–938, bes. Karten 870 und 886; Karl Forstner, „Studien zur Frühgeschichte Salzburgs“, MGSL 147 (2007), 137–162. 99 Oberösterreichische Direktion Kultur und Stefan Traxler (Hg.), Die Rückkehr der Legion. Römisches Erbe in Oberösterreich, Ausstellungskatalog, Linz 2018, 45–50, 143. 100 Besitz Fremder fiel bei deren Tod gemäß droit d’aubaine dem jeweiligen Herrscher zu und die Neuen legten ihr Todfall-„Recht“ den Ansässigen auf. 101 Auch ein Bischof von Lorch (gest. ~284) hatte sich Maximilian genannt. 102 Karl Forstner, „Maximilianszell: Der Heilige und sein Kloster in der karolingischen Überlieferung“, MGSL 150 (2010), 9–47. Katharina Winckler, Die Alpen im Frühmittelalter. Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800, Wien 2012, 62–171, zu römischer Sicht auf die Alpen und zu Routen in karolingischer Zeit. 98

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Abb. 5.28 Legendenkontinuität „Heiliger Rupert“: Briefmarke, Serie Schutzpatrone, 2007

Abb. 5.27 Die Ankunft Ruperts, 1859 Der Salzburger Porträtist und Historienmaler Sebastian Stief zeigte im Stil der Nazarener Abt Rupert mit Insignien eines Bischofs vor überwucherten Ruinen. Andere Historienmaler stellten Rupert mit Salzfass dar, obwohl der Abbau erst um 1200 wieder aufgenommen wurde.

dungsheiligen. 103 Für die Menschen nach 488 hatte Urbanität keinen Nährwert. Das Herzogspaar Theodbert ○○ Regintrud hatte die Gründung eines Frauenklosters auf der lang besiedelten Nonnberg-Terrasse angeregt und Rupert setzte seine Nichte Erentrudis (~650–718) als Äbtissin ein. Sie, einzige Frau in der Hierarchie, weihte die Klosterkirche Maria. Die Gemeinschaft diente der Erziehung und Bildung sowie als Wirkungsort von Töchtern des regionalen Adels. Damit enden die im Vergleich zu den Kirchenmännern äußerst mageren Daten. Gläubige verehrten Erentrudis wie einst Severin, Geheilte schrieben ihr Wunder zu, Kleriker jedoch keine Vita. 104 Ein Blick in die Herkunftsregion bietet Hinweise auf Erentrudis’ und ihres Gefolges Sozialisation. Wohlhabende nordfränkisch-flandrisch-angelsächsische Familien richteten Stifte für Frauen aus ihrem Kreis ein und diesen sanctimoniales schlossen sich andere an oder wurden zu ihnen geschickt: „gottgeweihte“ Jungfrauen, von Männern bei Über-

nahme eines Kirchenamtes zurückgelassene oder verlassene Ehefrauen, Witwen. Die Frauen wählten relative Selbstständigkeit mit dem Recht, ihren Besitz zu verwalten. Sie wählten ein Leben ohne Partner, Sex, Gefahren des Gebärens sowie, im Fall von Witwen, ohne Zwang zu Wiederheirat und mit dem Recht, Kinder selbst zu erziehen. Sie durften Dienerinnen haben sowie Schmuck und privaten Besitz. Unter Leitung einer Äbtissin lebten sie oft in „Doppelhäusern“, separat für Frauen und Männer. Die Stifterfamilien ermöglichten, erstens, ihren Töchtern eine materiell gesicherte Existenz. Zweitens war die materielle Ausstattung – anfangs Kostenfaktor – aus Erbteilungen dauerhaft herausgenommen und war, drittens, wie alles für religiöse Zwecke gestiftete Land, von Steuern und Heeresdienst befreit. Viertens ersparte der Verzicht auf Heirat den Eltern Ansprüche-stellende Schwiegersöhne und zu versorgende Enkel*innen. Die Religiosen beteten für das Seelenheil und, vielleicht, den weltlichen Erfolg ihrer Familie, hielten Familiengeschichte fest und festigten durch Überlieferungspflege Herrschaft. Erinnerung von Frauen ist meist Netzwerk- und Beziehungs-orientiert, Gedächtnis von Männern eher Ereignis-orientiert. 105 Sanctimoniales hielten Kontakt miteinander, migrierten entlang der Themse-Rhein-Route zwischen Anglia und Francia und bewegten sich innerhalb der karolingisch werdenden Herrschaft. Sie lebten reich ausgestattete christliche Ethik. 106 Erentrudis mag von Gertrude (~621–659) aus der Karo-

Herwig Wolfram, „Die Zeit der Agilolfinger. Rupert und Vergil“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:121–156, bes. 122–124; Dopsch und Hoffmann, Salzburg Stadt, 68, 80. 104 Das Nonnberg-Kloster ist das älteste noch bestehende Frauenkloster nördlich der Alpen. Irmgard Schmidt-Sommer und Theresia Bolschwing, Frauen vor Gott. Geschichte und Wirken der Benediktinerinnenabtei St. Erentrudis, Salzburg 1990; Lieselotte v. Eltz-Hoffmann, Salzburger Frauen. Leben und Wirken aus 13 Jahrhunderten, Salzburg 1997, 9–15; Germania Benedictina, Band III-3: „Österreich und Südtirol“, München 2002, 209–262. Gerold Hayer und Manuel Schwembacher, Bearb., Die mittelalterlichen Handschriften des Stiftes Nonnberg in Salzburg, Katalog, Wien 2018, 7–18. 105 Eine umfassende Darstellung der Rolle von Frauen, einschließlich Ehefrauen von Bischöfen, bietet Gisela Muschiol, „Men, Women and Liturgical Practice in the Early Medieval West“, in: Leslie Brubaker und J. M. H. Smith (Hg.), Gender in the Early Medieval World: East and West, 300–900, Cambridge 2004, 198–216. 106 Belegt, wie vieles, durch The Ecclesiastical History of the English von Bede (731). 103

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linger-Familie gewusst haben: Diese wählte die Position einer Äbtissin in dem von ihrer Mutter gegründeten Frauenkloster Nivelles (Belgien), um sich vor einer ihre Seele bedrohenden Sequenz von Interessenten an ihrem Besitz zu schützen. Hilda (~614–680), Äbtissin des Doppelhauses Whitby, war einflussreich, Gastgeberin der Synode von Whitby (664) und Beraterin von Königen. Später ließ sich Bonifatius von Nonnen des Klosters Thanet (Kent) ein reich ausgestattetes Evangeliar schreiben (735/736) und er ernannte seine Verwandte Lioba (732/735) zur Äbtissin des Klosters Tauberbischofsheim (Main-Gebiet). In der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts gab Ragyndrudis, vielleicht aus St. Omer (Francia), eine Sammlung theologischer Texte in Auftrag, Walburga aus Wessex war Äbtissin des Klosters Heidenheim (Franken, gest. ~780) und Thekla aus Dorsetshire Äbtissin in Kitzingen (bei Würzburg, gest. ~790). 107 Im Zuge der insular-transkontinentalen Wanderungen stellte sich Fergal, lat. Virgilius (~700– 784), am karolingischen Hof vor, fand Vertrauen und der König oder sein Hausmeier entsandte ihn 745 zu den königsfern agierenden agilolfingischen Herzögen in Regensburg. Diese schickten ihn nach Salzburg, wie nach-Iuvavum seit den 730er Jahren genannt wurde. 108 Virgil war hochgebildet und vertrat wie Aristoteles die Ansicht, dass die Erde eine Kugel sei und Menschen auch auf deren anderer Seite lebten. Oder sprach er, wie vermutet wurde, von keltischer Anderwelt? Angesichts seiner mathematischen, astronomischen und geografischen Kenntnisse erschien er manchen als Universalgelehrter, anderen als Dissident. Er gründete die erste Domschule und führte Adelsklöster in kirchlichen Besitz zurück. Seine angelsächsischen Kunsthandwerker schufen Luxusgegenstände oder brachten sie mit. 109 Machtbewusst ließ er ab 767 in nur zwölf Jahren eine überdimensionierte Kathedrale nach langobardischen Vorbildern bauen; die dafür

zugewanderten Kunsthandwerker*innen bildeten lokale romanische aus. Virgil sah sich, so scheint es, in Rangkonkurrenz zu Abt Fulrad in St. Denis, Ort der Grablege der merowingischen Könige. Fulrad weihte seine Kathedrale erst ein Jahr später, allerdings in Anwesenheit des Königs. 110 So wie einst keltische Handwerker*innen nordund südalpine Formensprachen und Glaubensvorstellungen verbunden hatten, verbanden Handwerker*innen in der Großregion skandinavisch-angelsächsische mit karolingisch-flandrischen, mittelmeerisch-italienisch-oströmischen, syrischen und koptischen. Ihre Ornamentik mit Weinranken und orientalischen Tieren erschien späteren Betrachtern als „exotisch“. Handwerker aus Virgils Umfeld stellten das Bischofshofener, manchmal fälschlich nach Rupert benannte Kreuz her. Sie verwendeten keltisch-angelsächsische Glas- und Emaileinlagen und symbolisierten mit fünf größeren Rundeinlagen die Wunden Christi. Das Kreuz wurde bei Prozessionen durch die Gemeinde getragen. Besaßen die Menschen die funds of knowledge, um die Ornamentik zu lesen? Oder war deren Verständnis nur Teil eines migrantisch-klerikalen Insiderdiskurses? Jedem Detail eines Kunstwerkes waren vielfältige Bedeutungen zugeordnet, gleich, ob ein Stück Brot (Abendmahl) oder ein Einhorn. 111 Kunsthandwerker vermutlich in Salzburg stellten nach Mustern aus dem Königreich Mercia einen Kelch aus vergoldetem Kupfer her, dessen Inschrift – TASSILO DUX FORTIS + LUITPIRC VIRGA REGALIS – betonte, dass Luitpirc aus königlichlombardischer, ihr Ehemann Tassilo (III.) „nur“ aus herzoglich-bayerischer Familie stammte. 112 Die Theologie des Bildprogramms entwarf Virgil: Fünf größere niellierte Silbermedaillons an der Kuppa zeigen Christus und die Evangelisten, kleinere am Fuß Maria und Johannes den Täufer sowie nicht zu identifizierende Personen; die Tier- und Pflanzenornamentik ist anglokarolingisch. 113

Jörg Krichbaum und Rein A. Zondergeld, Künstlerinnen von der Antike bis zur Gegenwart, Köln 1979; Haines-Eitzen, Guardians of Letters; Felice Lifshitz, Religious Women in Early Carolingian Francia: A Study of Manuscript Transmission and Monastic Culture, New York 2014; Nolte, Conversio, 304. 108 Äbte und Bischöfe zwischen Rupert und Virgil waren Vitalis, Flobrigis, vermutlich aus dem insularen Bereich, und Johannes. 109 Der norditalisch-keltische Stil hatte die Inseln in der Zeit 50 v. u. Z.–100 u. Z. erreicht. Leslie Webster, Anglo-Saxon Art. A New History, London 2012, 106–107, 113, 163–164. 110 Die Grundfläche, 66 � 33 m, betrug fast 2200 m2. 111 Für moderne Betrachter sind vielbändige Lexika notwendig, die die oft widersprüchlichen oder überlappenden Bedeutungen auflösen. Stefano Zuffi (Hg.), Bildlexikon der Kunst, Bd. 1–9 zu Religion, Berlin 2003 (ital. 2002); Heinrich Schmidt und Margarethe Schmidt, Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst, München 2007. 112 25,5 cm hoch, 1,75 l Fassungsvermögen, Gewicht über 3 kg. 113 Ein ähnlicher (Cunpold-) Kelch, zwischen 780 und 800 hergestellt und gefunden nahe Sopron, mag EB Arn gehört haben. 107

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Abb. 5.29 Bischofshofener Kreuz (Bergahorn ummantelt mit Goldblech, H. 158 cm, B. 94 cm)

Abb. 5.30 Kelch, hergestellt 763, dem Kloster Kremsmünster 777 gestiftet

Salzburgische Handwerker*innen schufen eine lebendige fusion von Northumbrien bis nach Konstantinopel und Alexandria. 114 Besonders auf Seeund Flusswegen verbreiteten Menschen Anderes schnell, küstennahe Routen verbanden den Mittelmeerraum mit Flandern, wo der erste karolingischsalzburgische Erzbischof (EB) Arn als Abt tätig war. Die Kauf-Familien der Handelsemporien im Nordund Ostseeraum pflegten Kontakte auch zu kaspischen Kaufleuten und die Skriptor*innen in Francia und Regensburg verbanden eigene und migrantische Traditionen, Schichtenspezifik und Macht in ihrer Bildhaftigkeit. Sie vermittelten zwischen transeuropäischen Formensprachen und lokalen Fähigkeiten, sie zu dekodieren. Nur weit reisende kirchlich-weltliche Kunstsachverständige kannten mehr als eine Tradition. Weiträumige Kontakte, auch mit hochstehenden Frauen, zur gegenseitigen

Gebetshilfe und Verankerung ihres Klosters in der institutionellen Erinnerung entwickelten die Mönche von St. Peter seit 784 mit ihrem „Verbrüderungsbuch“. Es diente selbstbezogen dem Seelenheil der – laut Namen gotischen und romanischen – Beteiligten und universell-christlicher Verortung durch Nennung von Heiligen aus Gegenden von Antiochia über Sizilien bis Iberia. 115 Den weltlich-kirchlichen Dualismus und die Rang-eleien unter Klerikern in Bayern beendete der aus Wessex stammende und von Glaubensbrüdern, Soldaten, Handwerkern und Hauspersonal begleitete Wynfreth/Bonifatius (672?–754?). Seine Vorfahren waren 200 Jahre früher von der Elbe an die Themse gewandert, seine Eltern hatten ihn als Kind ins Kloster gegeben. Er zog im Alter von etwa vierzig Jahren auf den Kontinent und erhielt während mehrerer Reisen nach Rom – dessen Päpste

Ein goldener Fingerring, in Salzburg gefunden, nannte Ariacna oder Ariadne, verheiratet mit Kaiser Zenon (h. 474–491) und zur Zeit von Odoakers Herrschaft Statthalterin über Noricum. Thüry, Römisches Salzburg, 91. 115 Wolfram, „Rupert und Vergil“, Geschichte Salzburgs, 1.1:139–150; Rosamund McKitterick, „Geschichte und Gedächtnis im frühmittelalterlichen Bayern. Virgil, Arn und der Liber Vitae von St. Peter zu Salzburg“, in: Meta Niederkorn-Bruch und Anton Scharer (Hg.), Erzbischof Arn von Salzburg, Wien 2004, 68–80; Stefan Karwiese, „Salzburgs vergessene Heilige: Eine archäologische Spurenlese“, Mitteilungen zur christlichen Archäologie 11 (2005), 9–23. 114

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aus hellenischen Kulturen und Syrien stammten – Bischofsweihe und Pallium mit dem Recht, Bistümer einzurichten, sowie Legaten-Status für Germanien. Er gründete Klöster in Friesland, Francia, Germanien und anderswo. Eigenständiges Denken und Ritusvariationen verfolgte er. War seine 748 an den Papst gerichtete Anklage, Virgil verfolge sündhafte und verkehrte Lehren, ein ethno-kultureller Konflikt, „Angelsachse“ gegen „Ire“? Er empörte sich über das mangelhafte Latein mancher Priester, von denen einer im Namen der Tochter (filia) statt des Sohnes (filii) taufte. Bonifatius arbeitete eng mit den fränkischen Herrschern zusammen, die ihre straffe Machtdurch straffe Kirchen-Organisation gestärkt sehen wollten. Er lehnte sich ebenso eng an den Papst an, seine Boten ritten oft über Verona nach Rom, von Regensburg mehr als 850 km Luftlinie und zwei Gebirgsketten entfernt. Die Agilolfing-Familie hatte, um sich Loyalitäten und gleichzeitig Distanz zum König in Francia zu schaffen, mit Ausnahme Virgils alle Bistümer „mit Angehörigen führender bayerischer Familien“ besetzt. Bonifatius organisierte den Herrschaftsbereich in den Bistümern Regensburg (~700), Freising (716), Passau und Salzburg (739) sowie Eichstätt (~740). Regensburg war Herrschersitz und wichtigster Markt an der Donau, Passau wurde zur geografisch größten Diözese im östlichen Reich, doch errichteten Salzburgs Kleriker die wirtschaftlich stärkste Grundherrschaft mit besonders zahlreichen arbeitenden Menschen und

798 erhielt Arn als EB die Spitzenposition. Während eines Gründungsbooms nach 750 errichteten wandernde Mönche mit (Fron-) Arbeitskräften in dem gesamten Raum Meierhöfe, Eigenklöster, kleine Filialklöster (cellae) oder Wirtschaftszellen. Erreichten sie Rentabilität nicht, wurden sie zu Gutshöfen ohne monastisches Leben abgestuft. 116 Anders als die römischen Gouverneure im 1. Jahrhundert, die religiös-kulturelle Praktiken respektiert hatten, forderten die neuen weltlich-geistlichen Adelsherrscher bedingungslose Anpassung. Wie dachten christlich-romanische Männer und Frauen über die ihnen christlich-fränkisch zugewiesene, mindere Rolle? Wie reagierten KeltischGläubige auf den Vorwurf, sie beteten mächtig gewachsene alte Bäume als Idole an, wenn sie sahen, wie Christen in Bischofshofen zwei kreuzweise genagelte, mit Gold ummantelte Ahornhölzer verehrten? Die Neuen legten ihren liturgischen und Heiligenfest-Kalender über die natürlichen und häuslichen Kalender und über die spirituellen Welten der – zukünftig christlich – Gläubigen. Wurden die Menschen der Zeit als Individuen betrachtet, wie manche Historiker gefragt haben? Die Bibel verkündete, dass alle Menschen einzeln (und nackt) vor Gott stehen und nach Lebenswandel statt Kleidung beurteilt werden würden. Eltern war individuelles Seelenheil und Liebe für Kleinkinder wichtig. Vor Herrschern auf Erden hingegen waren Menschen nicht gleich. Dies schuf Probleme.

Stephan Freund, Von den Agilolfingern zu den Karolingern: Bayerns Bischöfe zwischen Kirchenorganisation, Reichsintegration und Karolingischer Reform (700–847), München 2004, 141–407, Zitat 407.

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Die Entwicklung Lateineuropas im Kontext der „Alten Welt“ als Rahmen für Regionales

6 Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts Zur Zeit der Krisen des Römischen Reiches (RR) in Italien und des Aufschwungs des RR-Konstantinopel lebte im früh-dialekt-deutschen Raum weniger als eine Million Menschen. 1 Nur ein bis zwei Prozent von ihnen bewohnten die Herrschaftsarchitekturen der Burgen, Kirchen und Institutionen, weniger als fünf Prozent arbeiteten in den Städten, knapp 95 Prozent auf dem Land. Angesichts ihrer unterschiedlichen Dialekte hätten sie einander oft nicht verstehen können. In Gallien kämpften und kooperierten noch- oder nach-römische Eliten und eindringende Verbände fränkischer Dialekte. Die bescheidene Arbeits- und Wirtschaftskraft der im nach-norischen Raum Lebenden, die randständiger, ärmer und schriftloser wurden, hatte dennoch Begehrlichkeiten ferner fränkischer, awarischer und kirchlich-römischer Macht-Strebender geweckt. Erstere führten das Schwert, die zweiten andere Waffen, letztere die Feder. Für die Ansässigen war dies keine gute Ausgangsposition. Die Schwert- und Federführenden zwangen ihnen ihre Rentenökonomie auf: Akkumulation nicht durch Eigenleistung oder produktiven Faktoreneinsatz, sondern durch strukturelle Stabilisierung der Ausbeutung von Arbeitskraft und Arbeitsleben sowie durch Verknappung der Optionen für Initiative und Innovation. Um die Rahmenbedingungen zusammenzufassen, unter denen zwischen 500 und 1500 dreißig bis vierzig Generationen ihr Leben gestalten mussten, folge ich den Ansätzen der Forscher*innen um die Zeitschriften Annales (seit 1929), Past & Present (seit 1952) und der späteren Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft. Alltag (seit 1993). 2 Anders als Forscher*innen, die vorangehende Gesellschaften interdisziplinär untersuchen, konzentrierten sich ältere Mediävisten oft auf Schriftkundige

und machten sich so zu Herrschafts-Interpreten. Jüngere blicken auf die Umwelt, die tägliche Sonne oder den Regen und die entsprechende Menge oder den Mangel auf dem Tisch: Nach dem Klimaoptimum bis etwa 400 u. Z. folgte bis ca. 600 eine säkulare Verschlechterung, gefolgt von einer Warmphase und einem neuen Optimum. Der Bevölkerungsrückgang seit Beginn der Klimakrise mit der Hungersnot von 1315 und durch „die Pest“ endete erst ein Jahrhundert später, denn nach 1350 folgten häufige, teils regional begrenzte Kältejahre oder -phasen. Knappe Ressourcen führten zu Konkurrenz zwischen Eliten und zu Ab- und Zuwanderungen. Nach 1560 würde die „Kleine Eiszeit“ beginnen. 3 Herrschaftsstrukturen in Francia-Gallia etablierten eine „Merowinger“ und eine „Karolinger“ genannte Familie als personenzentriertes Regime und von dort drangen Mächtige mit Bewaffneten in den Voralpenraum ein. Kleriker folgten ihnen (s. Kap. 4.8, 5.7). Ich frage nach den Merkmalen von Herrschaft, da „Feudalismus“ und „Personenverband“ (im Singular) kein differenziertes Bild ermöglichen und „Reich“ kein zeitgenössisches Konzept war. Die überwiegende Mehrheit der Menschen wurde unter-worfen, nahm Macht also körperlich wahr. Die Professionalisten der Kirche, die Gläubige zu „Laien“ ohne eigenen Zugang zu Gott abgestuft hatten, konstruierten seit dem 7. Jahrhundert ihren lateineuropäischen Herrschaftsraum mit regionalen Bischofszentren. Die Magnaten der Karolinger-Familie etablierten nach 751 durch fast endlose Kriege einen weitläufigen Herrschaftsraum und zersplitterten ihn ab etwa 820 wieder. Für die temporär verfestigten, sich überlappenden und meist fluiden Strukturen und Territorien verwende ich die neutrale Bezeichnung

Karl Brunner und Gerhard Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht: Der Bauer im Mittelalter. Klischee und Wirklichkeit, Wien 1985, 22–23, nannten für den Raum von BRD/DDR maximal 700.000. Andere Schätzungen für die Zeit um 800 nennen bis zu zwei Millionen. 2 Vorangegangen war im Hohenzollern-deutschen Sprachraum die staatswissenschaftliche Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (seit 1903). Habsburgische und nachfolgend österreichische Entwicklungen verliefen oft getrennt und werden in Deutschland bis in die Gegenwart kaum wahrgenommen. 3 Zu Methodik und Entwicklung vgl. Reinhold Reith, Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit, München 2011; und Bernd Fuhrmann, Deutschland im Mittelalter. Wirtschaft – Gesellschaft – Umwelt, Darmstadt 2017, 12–17. 1

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Zentraleuropäisch-Weltlicher Herrschaftsbereich (ZWH). Generisch verwende ich die Bezeichnung Herrschaftsbereiche (HB) für regna oder regnal entities. Die Mächtigen agierten in Kontakt und Konflikt mit den arabisch-islamischen, normannischgermanischen, slawischen und romanischen Herrschaftswelten sowie, merkantil, über Konstantinopel bis zu zentralasiatischen Handelswegen. Die Kauf-Kräftigen beschränkten Kaufleute im 7. Jahrhundert auf die Rolle von Agenten und erst nach wiedergewonnener Eigenständigkeit strukturierten Seekauf-Familien mit hohem Investitionsbedarf und Rom-Kleriker mit hohem Konsumbedarf Finanz-Transaktionen. Die Menschen, die dies Regime finanzieren mussten, entwickelten eigene Gesellschafts- und Weltverständnisse. Ihr Leben bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts behandle ich in Kapitel 7 und 8. Angesichts des realen oder behaupteten Einflusses „des Christentums“, „der Kirche“ und „Roms“ stelle ich die vielfältigen Laien-Religiositäten, die unterste Ebene der Mönche, Nonnen und Priester sowie der Kircheneliten und der Dissident*innen separat dar (Kap. 9). Die Geschichte des „Mittelalters“ zwischen Ende der römischen Warmzeit und vor der transozeanischen Expansion lateineuropäischer MachtHaber und Kauf-Familien haben Erinnerung-Schaffende über Generationen gemäß den sie umgebenden Machtkonstellationen erzählt, wie Frank Rex-

roth, Walter Pohl, Patrick Geary und Gábor Klaniczay gezeigt haben und ihre „Einheit“ der Erzählung kaschierte Vielfalt, wie Karin Hausen 1996 kritisierte. 4 Richtungsweisend waren Georges Dubys wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchungen seit Beginn der 1960er Jahre in Frankreich und Aaron Gurjewitschs mentalitätsgeschichtliche Studien der 1970er Jahre in der Sowjetunion, letztere in deutscher Übersetzung zuerst in der DDR erschienen. 5 In deutscher Sprache legten Heinrich Fichtenau und Reinhard Wenskus (beide Wien) Pionier-Arbeiten vor, 6 in der BRD Arno Borst und Werner Rösener; 7 Wissenschaftler in der DDR bezogen bäuerliche Kulturen ein. 8 Christiane Klapisch-Zuber veröffentlichte in Geschichte der Frauen, herausgegeben von Georges Duby und Michelle Perrot (5 Bde., ital. 1990), den Band „Mittelalter“ (1993), der im Englischen „Silences of the Middle Ages“ betitelt ist. Den gegenwärtigen Forschungsstand reflektieren die von Hans-Werner Goetz, Michael Borgolte und Michael North verfassten Bände im „Handbuch der Geschichte Europas“, herausgegeben von Peter Blickle. 9 Makroregionale Analysen Europas einschließlich Nordafrikas und Teilen Südwestasiens bieten Michael McCormick und Chris Wickham, letzterer jedoch ohne Blick auf die insgesamt randständigen, für meine Untersuchung jedoch zentralen Gesellschaften östlich des Rheins über den Voralpenraum bis zu den Karpaten. 10 Für weltgeschichtliche Verbin-

Karin Hausen, „Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung“, in: Hans Medick und Anne-Charlotte Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte, Göttingen 1998, 15–55; Frank Rexroth (Hg.), Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen, München 2007, darin Walter Pohl, „Ursprungserzählungen und Gegenbilder. Das archaische Frühmittelalter“ (23–41), und Patrick J. Geary, „‚Multiple Middle Ages‘. Konkurrierende Meistererzählungen und der Wettstreit um die Deutung der Vergangenheit“ (107–120); Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt 2002 (amerikan. 2001); Geary und Gábor Klaniczay (Hg.), Manufacturing Middle Ages. Entangled Histories of Medievalism in Nineteenth-Century Europe, Leiden 2013. Zu historiografischen Debatten Hans-Werner Goetz, Europa im frühen Mittelalter 500–1050, Stuttgart 2003, 276–367; und Michael Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt: 1050–1250, Stuttgart 2002, 337–392. 5 Georges Duby, L’économie rurale et la vie des campagnes dans l’Occident médiéval, 2 Bde., Paris 1962; Aaron J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, übers. von Gabriele Loßack, bearb. von Hubert Mohr, Dresden 1978 und München 1980 (russ. 1972); und Gurjewitsch, Stumme Zeugen des Mittelalters. Weltbild und Kultur der einfachen Menschen, übers. von Ulrike Fromm, Wien 1997 (russ. 1990). 6 Heinrich Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts: Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, 2 Bde., Stuttgart 1984; Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln 1961, 21977. 7 Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/M. 1973; Werner Rösener, Bauern im Mittelalter, München 1985; und ders., Die Bauern in der europäischen Geschichte, München 1993, zur Forschung 9–17. 8 Forschungen an der Akademie der Wissenschaften und der Universität Leipzig. Ulrich Bentzien, Bauernarbeit im Feudalismus. Landwirtschaftliche Arbeitsgeräte und -verfahren in Deutschland, Berlin 1980; Siegfried Epperlein, Bäuerliches Leben im Mittelalter: Schriftquellen und Bildzeugnisse, Köln 2003. 9 Michael North, Europa expandiert, 1250–1500, Stuttgart 2007; Karl Brunner, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters, München 2012. Vergleichend Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003 (rev. 2009). Die Begriffe „Sonderweg“ und, im Vergleich zu China, great divergence, sind in der Forschung umstritten. Menschen verfolgten unterschiedliche Ziele auf jeweils eigenen Wegen. 10 Michael McCormick, Origins of the European Economy. Communications and Commerce A.D. 300–900, Cambridge 2001; Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean 400–800, Oxford 2005. 4

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Kriegsherren, Magnaten und Bischöfe: Eliten zwischen Kontinuität und Neuerfindung

Abb. 6.1 Metamorphosen: Wanderterritorium, Expansionen und Frankenstürme, Kontraktion und Teilungen nach blutigem Brüderkrieg 843, ephemere Einigung 885–888

dungen verwende ich besonders die „Cambridge World History“ und die Wiener „Globalgeschichte. Die Welt von 1000–2000“. Beide sehen Mobilität

und Migration als zentralen und dynamischen Bestandteil menschlicher Geschichte. 11

6.1 Kriegsherren, Magnaten und Bischöfe: Eliten zwischen Kontinuität und Neuerfindung Aus Eliten-Familien in Gallia-Francia kommend, eroberte im nach-norischen Raum Garibald die Macht und einige Generationen später Rupert. In ihrer Herkunftsgesellschaft hatten im 5. Jahrhundert die (super-) reichen senatorischen Familien, römische und gallisch-romanisierte Heerführer sowie einheimische „Adlige“ ihre ferne Bezugsgröße „Rom“ verloren. Was tun? Familien mit römischem

Migrationshintergrund konnten Optionen analysieren, Kapital transferieren und abwandern. Gallische Eliten hätten bei Abwanderung ihre Ressource, die Beherrschten, zurücklassen müssen und für ihre Söhne endeten Karriereoptionen in der Militäraristokratie. Die Magnaten-Familien, die bereits post-imperial autonom agierten, mussten den Herrschaftsapparat zügig übernehmen, um ihre

Merry E. Wiesner-Hanks (Hg.), Cambridge World History, 7 Bde., Cambridge 2015, darin: Benjamin Z. Kedar und Wiesner-Hanks (Hg.), Expanding Webs of Exchange and Conflict, 500 CE–1500 CE, und Jerry H. Bentley, Sanjay Subrahmanyam und E. Wiesner-Hanks (Hg.), The Construction of a Global World, 1400–1800 CE; Peter Feldbauer, Bernd Hausberger und Jean-Paul Lehners (Hg.), Globalgeschichte. Die Welt von 1000–2000, 8 Bde., Wien 2008– 2011, darin: Thomas Ertl und Michael Limberger (Hg.), Die Welt 1250–1500, Wien 2009; Dirk Hoerder, Cultures in Contact: World Migrations in the Second Millennium, Durham, NC 2002; Immanuel Ness u. a. (Hg.), Encyclopedia of Global Human Migration, 5 Bde., Oxford 1913. Vgl. auch Peter Frankopan, The Silk Roads. A New History of the World, London 2015.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Macht zu erhalten. Ländliche Familien produzierten weiter, denn wohin hätten sie gehen sollten? Wie Ufernoricums Bewohner*innen durch Markomannen nördlich der Donau sahen sie sich durch „Franken“ (späterer Name 12) von nördlich des Rheindeltas bedroht. Die Mobilität letzterer stellten Autoren historischer Landkarten als Wander-Territorium dar: nördlich des Rheins, hundert Jahre später geschrumpft und als Föderaten südlich, dann in alter Größe in neuer Lage. Herrschaften und Territorien – aber nicht Staaten oder Gesellschaften – entstanden, wenn es einem fähigen Kriegsherrn, warlord, gelang, junge Männer mit dem Versprechen von Beute an sich zu binden, Konkurrenten auszuschalten und zur Finanzierung weniger bewaffnete Menschen zu erbeuten und auszubeuten. Besonders erfolgreich waren die als Merowinger (482–751) und Karolinger (751 bis Ende 9. Jh.) bezeichneten Clans. Die dafür übliche Bezeichnung Frankenherrschaft (Singular) verlagert Familiäres auf Völkisches. 13 In den neun Jahrzehnten vom Tod Pippins des Mittleren, 714, bis zum Ende der Kriege gegen die Sachsen, 803/04, war der fränkische Heerbann nur fünf Jahre nicht „im Feld“, das heißt auf den Feldern ländlicher Menschen. In Gallien, wo alte Macht und Land Besitzende und neue, sie Ergreifende, spannungsgeladen zusammenarbeiteten, schlossen sich der Lokalkönig und hohe römische Offizier Childerich (I., h. 463– 481/482) und seine thüringische Frau Basina mit dem RR-Statthalter Syagrius gegen heranziehende Visigoten zusammen. Nach Childerichs Tod inszenierte Sohn Chlodwig (I., h. 481/482–511) im Interesse seiner Zukunftsplanung (B. Jussen) nahe Tournai eine „erinnerungsprägende“ Totenzeremonie mit Grabbeigaben in einmaliger Menge. Er stand der (formal noch) römischen Provinz Belgica secunda vor, heiratete später die vermutlich burgundische, 14 sicher migrantische Königstochter Chrodechild und erweiterte so seinen Machtbereich nach Süden. Als er die römische Verbindung nicht mehr brauchte, besiegte und tötete er Syagrius (486). Als ihm in einem seiner vielen Kämpfe Niederlage drohte, rief er auf Anregung der Königin den

unvertrauten christlichen Gott an. Als frühestes Beispiel dieses Erzähltopos galt transeuropäisch Kaiser Konstantins angebliches Gebet, 312, und lokal im Donauraum das erst später erzählte Regenwunder des Jahres 172. Der Gott musste, um römischen Mars und germanischen Teiwaz zu ersetzen, seine Überlegenheit beweisen, denn ein Wechsel ergab Sinn nur, wenn der Neue sich für Herrschaftsstrategien als brauchbar erwies. Chlodwig siegte bei Zülpich; den (vermuteten) Beistand schrieben – im wörtlichen Sinn – Kleriker fest: Der Bischof in Reims taufte ihn und sein Gefolge 496/ 498 und nutzte seinerseits die Gelegenheit, um sich über die anderen Bischöfe zu stellen. Das Begräbnis des Vaters und die Taufe des Sohns waren symbolische Akte und politische Kommunikation: Was meinte der taufende Bischof, was hörte der getaufte König? Was legte Chlodwig ab, was nahm er an? Die etwa 200.000 Franken aller Clane waren im Begriff, sich die vermutlich mehr als sechs Millionen getauften und zum Teil urban lebenden GalloRomanen untertan zu machen. Die ferne Elite RRRoms ernannte Chlodwig zum Ehrenkonsul, die des RR-Konstantinopel hatte im Westen keinen Einfluss. Lebensweisen blieben unverändert; Könige lebten in Polygamie und ermordeten männliche Miterben. Dem Chronisten Gregor (538/9–594, Historia Francorum) war dies selbstverständlich. Seine weit vernetzte Mutter Armentaria hatte ihm viel vermittelt, denn nutrire, das Aufziehen der Kinder, bedeutete auch erudire (ausbilden), docere (lehren), instituere (unterrichten). Er war Bischof in Tours, als Roms Bischof Gregor (~540–604) seine Herrschaft ausweitete. Der römischen Kirche und fränkischen Magnaten gleichermaßen verbunden, erfuhr er weder den „Zerfall“ des RR noch die Katastrophe der Antike. Er beschrieb Bistümer, besonders die seiner Familie, und war Stadtherr. Der jeweils überlebende Teil der MerowingerFamilie übernahm politökonomisch geschickt den Großgrundbesitz vertriebener provinzrömischer Familien und beseitigte lokale Granden. Sie vergab das Raubgut-samt-Menschen an genehme Familien und erkämpfte einen Machtbereich vom Rheindelta

Zainab Angelika Müller, „Die Franken sind kein ‚Stamm‘. Neuerlicher Versuch, ihren Namen zu erhellen“, http://www.symbolforschung.de/media/ Volltexte/Die%20Franken%20%20sind%20kein%20Stamm.pdf (8. September 2020). 13 Charles Tilly, „War Making and State Making as Organized Crime“, in: Peter Evans, Dietrich Rueschemeyer und Theda Skocpol (Hg.), Bringing the State Back In, Cambridge 1985, 169–187. 14 Das erste Herrschaftsgebiet dieser ursprünglich baltischen Wandergenossenschaft mit Worms als Zentrum hatte das westhunnische Heer 436 zerstört und in weiterer Umsiedlung besetzte sie das Gebiet um Lyon. 12

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(Francia) bis zum Mittelmeer (Gallia) und von der Atlantikküste bis Noricum. Die warlords beraubten die Ansässigen ihrer Freiheit, zwangen ihnen Unterhaltszahlungen auf und nutzten die Kirche – soziologisch genau: Ravennas und, nachfolgend, Roms Stadt-Bischöfe mit ihren Verwaltungen – als neues Bezugssystem politischer Legitimation, ubi civitas, ibi episcopus. Dies regionalisierte Herrschaft, denn die Bischöfe-Landbesitzer erreichten nur ihr jeweiliges Umland in einem Radius von 200 bis 300 Kilometern, aber sie ergänzten ihre Stadtsitze durch ländliche, Adelskindern vorbehaltene Klöster, etwa 300 an der Zahl. Diese Institutionen schieden mit ihrer, wörtlich, Grund-Ausstattung aus der familiären Erbfolge, aber nicht aus den politischen Netzwerken aus und steigerten Gewinn-orientiert Abgaben der land- und hand-wirtschaftenden Produzent*innen. Ab 511 fasste der amtierende gallische Herrscher die Apparate zu einer familiär kontrollierten lateinsprachigen Kirche zusammen und die (Ober-) Bischöfe in Mittel-Italia mussten dies hinnehmen. 15 Der Personalbedarf ihrer Institution stieg von knapp dreißig Bischöfen um das Jahr 300 auf über hundert im Jahr 400 und bot Söhnen aus Magnaten-Familien neue Karriereoptionen. Dafür wandelten sie das Stellenprofil: Im östlichen Ideal verbanden Bischöfe Askese und Charisma mit pragmatischen Fähigkeiten: Eine passende Persönlichkeit und die Zustimmung der Gläubigen waren gefordert. In neuer westlicher Praxis kamen hohe Kleriker aus reichen Familien und Opulenz war an Bisch-Höfen üblich. Manche zeichneten sich weiterhin durch intellektuelle Fähigkeiten, Spiritualität und Armenhilfe aus. Politökonomisch übernahmen die Neuen, denen eine großflächig funktionierende Verwaltung für Steuereinzug fehlte, das private Finanzierungsregime der Senatoren-Familien: militärisch oktroyierte Kontrolle von „Grund“ und Abschöpfung des

von dort lebenden Familien erwirtschafteten Mehrwerts. Doch verfolgten ihre weltlichen und kirchlichen Zweige entgegengesetzte Akkumulationsstrategien: Besitz arrondierende Heiraten und zersplitternde Erbteilungen vs. Ansammlung und Unveräußerlichkeit. 16 Beide führten die bestehende Sklaverei fort. Im RR hatten freie Ansässige neben ihrer Rechtsstellung meist Land mit Vieh und Geräten besessen. Von ihnen und seinen Dienstleuten ließ der Merowinger Chilperich (I., h. 561–584) Strafgelder eintreiben. Konnten sie, besonders in Hungerzeiten, nicht mehr zahlen, mussten sie für „ein wenig Nahrung“ Unfreiheit hinnehmen. Als er seine Tochter Rigunth an den Kollegen visigotischer Identifikation in Iberien verheiratete, ließ er für ihre Ausstattung „auf den königlichen Gütern viele von den dienstbaren Leuten ausheben und auf Wagen fortschaffen; viele, die sich unter Tränen weigerten fortzuziehen, ließ er in den Kerker stecken […] Viele aber, die vornehmer Abkunft waren, und die man mitzuziehen zwang, machten ihr Testament und hinterließen all ihre Habe den Kirchen“. So notierte es Bischof Gregor. Könige neuen Typs schufen sich Untertanen neuen Typs. 17 Aus Grundrenten und Sklav*innenarbeit bezahlten die Neuen Chronisten und Sänger, die die Machtübernahme als Kontinuität aus biblischen und antiken Zeiten mythologisierten und, da viele der warlords aus der Fremde kamen, Migration in das Narrativ einwoben, biblisch die Ausbreitung der Söhne Noahs, antik den Auszug vornehmer Männer aus dem zerstörten Troja. Der Held Aeneas zog in die Weite – so schon Vergil –, traf schöne Frauen und gründete Rom. Letzteres hatten, laut anderer Erzählung, auch Romulus und Remus getan. Außerdem hatten Menschen dort lange vorher gelebt. Die Hof-Intellektuellen konstruierten legitimierende genealogiae, „Geschlechter“, „Linien“ oder „Dynastien“. Lineare Herkunftserzählung verschweigt Vielfalt von Ort und Stand sowie die Metamorpho-

Patrick J. Geary, Die Merowinger. Europa vor Karl dem Großen, übers. von Ursula Scholz, München 1996 (engl. 1988), betont die Kontinuitäten von römischer und merowingischer Herrschaft, ein Hineinschlüpfen in und Übernahme von Machtstrukturen. Bernhard Jussen, Die Franken. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München 2014, 26–27. Martina Hartmann, Aufbruch ins Mittelalter. Die Zeit der Merowinger, Darmstadt 2003, als gender einbeziehende Sozialgeschichte. Paul J. E. Kershaw, Peaceful Kings: Peace, Power, and the Early Medieval Political Imagination, Oxford 2011, sah neben Gewalt auch Friedensstrategien. 16 Michael Mann, The Sources of Social Power, 3 Bde., Cambridge 1986–2012, Bd. 1: „A History of Power from the Beginning to A.D. 1760“, 301–415; Cordula Nolte, Conversio und christianitas: Frauen in der Christianisierung vom 5. bis 8. Jahrhundert, Stuttgart 1995, 72–86, 199–218; Jussen, Franken, 27; Hartmann, Aufbruch, 119; Jo Ann McNamara, „Living Sermons: Consecrated Women and the Conversion of Gaul“, in: Medieval Religious Women, Bd. 2: Lilian Thomas Shank und John A. Nichols (Hg.), „Peaceweavers“, Kalamazoo, MI 1987, 19–37. 17 Gregor von Tours, VI, 45, zitiert in Hartmann, Aufbruch, 117, 162. 15

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se vom Anführer einer herumziehenden Räuberbande zu sesshaftem Grund- und Macht-Besitzer. 18 Kürzel für das schwierige „mit genealogia ausgestattet“ wurde der Begriff „adlig“. Eine der zukunftsorientierten reichen Familien ließ sich früh als „die Agilolfinger“ genealogisieren. Aus ihrer Mitte

stammte Garibald, Rupert vielleicht aus der „Robertiner“-Familie. Genealogien haben wenig Informationswert für Sozialisation oder Emotionen, aber ihre Verinnerlichung durch die Unterhaltspflichtigen sparte Repressionskosten.

6.2 Die Institutionalisierung der Lateinischen Kirche Als in Noricum→ Bayern Menschen romanischer, bayerischer und alpenslawischer Sprachkulturen gemeinsam oder parallel lebten und in Gallien Bischöfe Verwaltung und Abgabeneinzug übernahmen, organisierten im Mittelmeerraum Einflussreiche oder -anstrebende Männer die Religion und die Institution Kirche. Unter den vielsprachigen Patriarchaten galten Antiochien und Alexandrien als intellektuelle Zentren, Caesarea als Ausbildungsstätte, Jerusalem als Ort christlichen wie jüdischen Heilsgeschehens. „Religion“ (irreführender Singular) bedeutete (1) den aus vielen Traditionen verbundenen praktizierten Glauben einfacher Menschen und ihre Spiritualität; (2) die Summe der syrisch-aramäisch-, griechisch- und, später, lateinisch-sprachigen Zentren; (3) die Institution Kirche auf der Makroebene „Konstantinopel“ und, Jahrhunderte später, „Rom“ (Singular) sowie die Institutionen (Plural) Bischofssitz auf den Mesoebenen und Pfarrbezirke auf den Mikroebenen; (4) praktizierte Liturgie und innere Überzeugungen auf Ebenen oberhalb der Laien; (5) die Rechtfertigung von Gott-gegebener Herrschaft im Sinne von Ideologie; und (6) Theologie als philologisch-philosophisches Denkgebäude. Nach dem Wandel von der oft unauffälligen ecclesia prima umfasste sie sichtbare Professionalisten (institutiones) und Gemeinde (communitas). Die „Anderwelt“ nannten die Gläubigen „Himmel“. Ich bezeichne die Weisen, mit denen Menschen sich Natur- und übernatürliche Kräfte vorstellten und ihren Ort darin bestimmten, als „Spiritualitäten“. Als „religiös“ bezeichne ich die Verringerung der Optionen zu einer mit Nachbar*innen prakti-

zierbaren Auswahl von Inhalten und ihre rituelle Formgebung (Liturgisierung). Als „kirchlich“ bezeichne ich die Strukturierung der Themen und Praktiken durch professionelle Spezialisten. Letztere legten „Profess“ ab, sahen sich als höhergestellt und erwarteten Lebensunterhalt, eine sogenannte Bepfründung, von denen, die sie als laienhaft ungebildet abstuften. Sie entwickelten „christliche Religion“ als Diskurs- und Versorgungsrahmen, doch umfasste christliche Praxis viele Vorstellungen und Bräuche. 19 Akteure auf der oberen Ebene umfassten Denker, die sich der Gemeinde der Gläubigen verpflichtet fühlten, Organisatoren, die Institutionen und Positionen konstruierten, und Kirchenmänner, die Institutionsdiskurse entwickelten. Unter ersteren postulierte Origenes (1. H. 3. Jh., Alexandria) ein Konzept von „Allaussöhnung“: Alle Geschöpfe würden zurückkehren zu dem barmherzigen, gütigen Gott. Der asketische Jovinianus (gest. 405, vermutlich in Rom) argumentierte, dass Keuschheit und Ehe, Askese und dankbarer Nahrungsgenuss in Gottes Sicht gleichwertig seien; dass mit Wasser und im Geist Getaufte von Sünde frei seien und sich diesen Stand durch ihre Lebensweise erhalten müssten; dass nur Götzendiener und Aschenanbeter Reliquien bestaunten. Wie dachten die Migrant*innen, die seit dem 3. Jahrhundert den Glauben nach Noricum trugen? 20 Unter den Organisatoren übernahm ein Teil der Geburtskohorte, die beobachtete, wie Kaiser Theodosios in Rom-Konstantinopel das Christentum einstaatlichte und finanziell absicherte, imperiale Strukturen – Abtrennung wäre aus kaiserlicher

Vergil, Aeneis (29–19 v. u. Z.). Constance Brittain Bouchard, „Those of My Blood“: Constructing Noble Families in Medieval Francia, Philadelphia 2001. Diese Synthese beruht auf einer sehr breiten, oft englischsprachigen Literatur zur Religionsgeschichte. Hartmut Leppin, „Christianisierungen im Römischen Reich: Überlegungen zu Begriff und Phasenbildung“, Journal of Ancient Christianity 16.2 (2012), 247–278. 20 David G. Hunter, „Rereading the Jovinianist Controversy: Asceticism and Clerical Authority in Late Ancient Christianity“, Journal of Medieval and Early Modern Studies 33.3 (2003), 453–470. 18

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Die Institutionalisierung der Lateinischen Kirche

Sicht Häresie gewesen. Hieronymus (~347–420), Johannes Chrysostomos (~349–407), Ambrosius (~340–397) und Augustinus (354–430), andere persönlich ehrgeizige Theologen sowie hohe Kleriker mit Standort-Präferenz konkurrierten oder kooperierten und italisch-africanische entfernten sich von den syrisch-griechischen Ursprüngen. Im italischen Noch-Reichsteil residierten die obersten Kleriker in Mailand und ab 402 in Ravenna. Als Teil der Landbesitzer-Elite von Istrien bis Sizilien hatten sie von der kaiserlichen „Reform“ 287 profitiert, die kleine Landbesitzer als servi terrae an Land band. Die stadtrömischen Bischöfe erreichten im 6. Jahrhundert Bedeutung. Im griechischen Segment verstand die Mehrheit der Gläubigen die Sprache der Kleriker, im Latein-kirchlichen nicht und der Sprachabstand in germanisch-sprachigen Gesellschaften war größer als in romanisch-sprachigen. Der Rhetor Johannes Chrysostomos, gefördert von der hochgebildeten Olympia aus wohlhabender Familie in Konstantinopel, zielte auf Grenzziehung zwischen neu-christlichem und jüdischem Glauben. Er genoss angesichts seines bescheidenen Lebens und seiner Vermittlungsfähigkeit breiten Respekt. Hieronymus war Teil der kosmopolitischen Elite: geboren in Dalmatien, Studentenjahre in Rom, 21 Reisen bis nach Aquileia und Trier, Taufe in Rom, Asket nahe Aleppo, dann Philologe und Pamphletist in Rom und Palästina. Dorthin begleiteten ihn die einflussreichen, mehrsprachigen Römerinnen Lea, Marcella und Blaesilla sowie Paula und Julia Eustochium. Sie gründeten Frauenklöster und ermöglichten ihm ein Leben in Wohlstand. Das Team nahm sich vor, die in den wenigen Jahrzehnten seit Nicäa wieder weit divergierenden SchriftVersionen der Bibel (vetus latina) erneut zu vereinheitlichen und sie übersetzten die hebräisch-griechischen Texte in zeitgenössisches Latein (vulgata). Origenes’ Allaussöhnung verurteilte Hieronymus als „versteckte Schlangen“.

Institutionalisierung strebten Ambrosius und Augustinus an. Ersterer, aus senatorischer Familie und Präfekt der Provinz Aemilia-Liguria in Mailand, ließ sich 374 zum Nachfolger des verstorbenen – in Italia führenden – Bischofs ausrufen. Dafür musste er sich, laut Berichten, sowohl taufen lassen wie Glaubwürdigkeit erreichen. Die Erinnerung an die Christenverfolgungen 304/305 war noch präsent, die Gemeinde „a community waiting to happen“ (P. Brown). Er „fand“ im passenden Moment die Gräber der „Märtyrer“ Gervasius und Protasius und deponierte ihre Gebeine als Reliquien in (s)einer Basilika (heute Sant’Ambrogio). Dies Modell, ursprünglich aus dem Osten, ahmten Bischöfe Westkirchen-weit nach. Ambrosius genealogisierte sich als Nachkomme der Märtyrerin Soteris (gest. 305), instrumentalisierte seine Schwester Marcellina mit dem Traktat De Virginibus (377), verfasste, ältere Texte kopierend, theologische Schriften und begann mit De officiis ministrorum die „Monarchisierung des Klerus und die Klerikalisierung des Mönchstums“ (O. G. Oexle). 22 Im Jahr 387 taufte er den in der Provinz Africa geborenen Augustinus. Dafür wechselte dieser von der gnostischen und asketischen Glaubensrichtung des Manichäismus, die der Lehrer Mani in der iranischen Großregion im 3. Jahrhundert mit jüdisch-christlichen, zoroastrischen und buddhistischen Anregungen entwickelt hatte. Augustinus machte nach bewegten Partnerschaften kirchliche Karriere und amtierte ab 395 als Bischof in Hippo Regius (Annaba, Algerien). 23 Ambrosius (35 J.) und Augustinus (32 J.) entschieden sich im sexuell aktiven Alter für Abstinenz und zeigten intensives Interesse an Jungfräulichkeit und Weiblichkeit. 24 Sie bezeichneten Frauen pauschal als Versucherinnen, die, da oft hässlich, durch Kosmetika täuschten und schwach und verletzlich seien. Das männliche Gesicht hingegen sei Ebenbild Gottes. „Kirche“, so Augustinus, sei gleichzeitig

Stefan Rebenich, Jerome, London 2002. Sehr differenziert zur gesamten Entwicklung Peter Brown, Through the Eye of a Needle. Wealth, the Fall of Rome, and the Making of Christianity in the West, 350–550 AD, Princeton 2012, Zitat 124; Otto G. Oexle, „Dauer und Wandel religiöser Denkformen, Praktiken und Sozialformen im mittelalterlichen Europa“, in: Hans G. Kippenberg, Jörg Rüpke und Kocku von Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, 2 Bde., Göttingen 2009, 1:155–192, hier 181–185, Zitat 181. 23 Neil B. McLynn, Ambrose of Milan. Church and Court in a Christian Capital, Berkeley, CA 1994; Deborah M. Deliyannis, Ravenna in Late Antiquity, Cambridge 2010, 223–224. 24 Augustinus, mit sexuell breit aktivem, häuslich gewalttätigem Vater und monogamer Mutter, bezeichnete sich in seinen Confessiones als lustvoll und ehrgeizig. Eine Partnerin aus niedriger Schicht und das gemeinsame Kind verließ er, als sich eine vorteilhafte Heirat bot; die Ehefrau verließ er, als die Kirchenkarriere möglich wurde. 21

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Abb. 6.2 a) Ambrosius, Sant’Ambrogio, Mailand (Ausschnitt) und b) Darstellung von Giovanni di Paolo, 1465–1470 Das Mosaik könnte ein zu Lebzeiten hergestelltes Porträt sein. Spätere Interpreten stellten Ambrosius oft mit Peitsche dar, um sein energisch-aggressives Auftreten zu signalisieren.

jungfräulich und Mutter. Sie nähre die Gläubigen mit Milch, traditionell Symbol für das Vermitteln von Spiritualität und Weisheit – diese kam jedoch aus dem Mund der Apostel. 25 Er betonte, vielleicht angesichts der sinkenden west-staatlichen Funktionsfähigkeit, Familie und weibliche Häuslichkeit. Frauen sollten in ihrem Verhalten öffentlicher Überprüfung unterliegen, die Öffentlichkeit war männlich. 26 Er behauptete, Evas Bereitschaft zu fragen sei die – vorangehenden Theologen nicht bekannte – Erbsünde und wandte sich gegen die Suche nach Wissen, curiositas. Die hoffnungsvolle Perspektive der Erlösung mit „erfrischendem“ Aufenthalt (refrigerium interim) zwischen Tod und Jüngstem Gericht wandelte er zum Bedrohungsszenarium mit Pein-lichem Fegefeuer. Ahnte er, dass curiositas seine Thesen hinterfragen könnte? Die Ideologen zogen Außengrenzen, Linien zwischen Weltbildern, und schufen als Feindbilder singularisiert „die Heiden“ und „die Juden“.

„[They] carefully painted [pagans] in the most lurid possible colors, derived from cults selected for barbarity, not typicality“ (G. Fowden). 27 Heiden sollten bekehrt werden, waren aber nicht leicht greifbar. Habhaft werden konnten Kleriker ihrer Nachbarn jüdischen Glaubens samt Besitz und in Callinicum, östlich von Aleppo, brannten Mönche um 388 eine Synagoge sowie die Kirche ihrer gnostisch-christlichen Rivalen nieder. Theodosios, Kaiser aller Reichsbewohner*innen, ordnete Bestrafung und Wiederaufbau an. Ambrosius intervenierte, die Täter blieben unbehelligt. So wie Frauen an der Erbsünde hätten Juden Kollektivschuld am Tod Christi, behauptete Augustinus. Nur wenige Jahrzehnte nach Diokletians staatlichen Christenverfolgungen begannen Rom-kirchliche Judenverfolgungen. Augustinus plante ein Handbuch, Gottesstaat (Civitate Dei). Dies wurde unerwartet dringlich, denn kaum hatten Latein-Kleriker ihre Institution als Gottesherrschaft proklamiert, als föderierte, aber nicht entlohnte Visigoten die Stadt Rom 410 eroberten. Begrifflichkeiten seines Buches entstammten dem urban-handwerklich-merkantilen Umfeld: griechisch charakter war der Bildstempel für Münzprägung, Erziehung sollte Kinder durchdringen wie Farbe die Wolle. Den Bund zwischen Gott und Israeliten wandelte Augustinus zu Herrschaft der Institution über Laien. Angesichts des sichtbaren Gegenübers von Reichen und Armen behauptete er, Gott habe Reichtum zielstrebig geschaffen: Er diene der Verherrlichung des Schöpfers und durch Almosen täten Reiche Gutes für ihre eigene Seele. Er fügte hinzu, dass Armut zu Laster zwinge und Arme nicht tugendhaft sein könnten. So hebelte er die Gleichheit vor Gott aus. Als Machtpolitiker behauptete er, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gäbe (extra ecclesiam nulla salus) und dass Kleriker durch Wirken des Heiligen Geistes untilgbar geweiht seien (charakter indelebilis). Dies könnten Menschen auch in Fällen schwerer Verfehlungen nicht rückgängig machen. 28

Elaine Pagels, Adam, Eve, and the Serpent, New York 1988, 123; Kim Power, Veiled Desire: Augustine’s Writing on Women, New York 1996; Deborah Valenze, Milk: A Local and Global History, New Haven 2011, Kap. 2. 26 Maryanne Cline Horowitz, „The Image of God in Man – Is Woman Included?“, Harvard Theological Review 72 (1979), 175–206, bes. 199–200; David Natal, „Family Heroines and the Rhetoric of Vulnerability: The Case of Ambrose of Milan“, in: Kate Cooper und Jamie Wood (Hg.), The Violence of Small Worlds: Conflict and Social Control in Late Antiquity (in Vorbereitung); und Cooper, „The Voice of the Victim: Gender, Representation, and Early Christian Martyrdom“, Bulletin of the John Rylands University Library 80 (1998), 147–157. 27 Garth Fowden, Empire to Commonwealth. Consequences of Monotheism in Late Antiquity, Princeton 1993, 38. 28 Das komplexe Denken vieler Theologen ist Gegenstand zahlloser Darstellungen, die der Geistesgeschichte zuzuordnen sind und für die Entwicklung von Laienglauben ohne Bedeutung waren. 25

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Die Kleriker-Magnaten benötigten eine sichere Finanzbasis und da Schenkungen von Land-mitMenschen ausbleiben konnten, wandelten sie 585 den freiwilligen Zehnten in einen Pflicht-Zehnt: „Daher haben die göttlichen Gesetze zum Trost den Priestern und Kirchendienern als Erbteil allem Volke vorgeschrieben, die Zehnten ihrer Früchte den heiligen Orten darzubringen, damit sie, durch keine Arbeit gehindert, zu den vorgeschriebenen Stunden für die geistlichen Kulte Muße haben“. 29 Auch erkannten sie das Potenzial der noch aus vorangehenden Religiositäten üblichen Beigaben ins Grab: Sie seien an „die Kirche“ (pro salute ecclesiae) für Seelenmessen zu geben. Soziologisch ließ diese Innovation Gebete sanctimonialer Frauen pro salute animae überflüssig werden und sie ermöglichte Mobilität, denn Nachkommen mussten sich nicht mehr um das elterliche Grab sorgen. 30 In Bezug auf Frauen führten die Kirchenmänner, denen Geburt Mysterium war, die jüdische Tradition fort, dass Gebärfähigkeit kultisch unrein sei. Unkontrollierter Blutfluss, bei Männern durch Gewalttat und bei Frauen durch Menstruation, sei schädlich. Menstruierende Frauen dürften das Lebens-Mittel Brotteig nicht kneten. Sie müssten sich nach Geburten von einem Priester reinigen lassen, woraus „Lichtmess“ als kombiniertes „Fest“ der Reinigung der Mutter vierzig Tage nach Geburt – achtzig bei einem Mädchen – und „Darbringung“ des Kindes entstand. Einige Theologen behaupteten, dass Jesus statt aus dem Uterus durch Marias Seite in die Welt gekommen sei, so wie durch die Wand des Grabes nach seinem Tod in den Himmel. Die jährliche Feier der „Auferstehung“, Ostern, stimmte, wie keltisch die jährliche Rückkehr des Cernunnos aus der Anderwelt, zeitlich mit Feiern des jährlichen Wiedererwachens der Natur überein. Die Autoren von Altem Testament (AT) und Evangelien (NT) hatten Frauen zentrale Rollen zugeschrieben. Mit ihrer Hilfe überlebt Mose als Baby; Mutter Anna lehrt Tochter Maria, diese ihr Kind. Frauen wirkten als Mäzeninnen von Theologen, Paula sei Hieronymus an Klugheit überlegen, befand der bithynische Bischof Palladius. Frauen starben für ihren Glauben, unter vielen Afra aus Zypern in Augsburg. Eine Egeria aus Gallien, wo es

29 30

Abb. 6.3 Egerias Pilgerreise, ca. 381–384, zu den ihr heiligen Stätten

um 300 nur wenige Christ*innen gab, reiste nach Kleinasien, pilgerte zwischen 381 und 384 zum Berg Sinai und schrieb Freundinnen einen ausführlichen Bericht. Die Vielsprachigkeit in Jerusalem erstaunte sie: Der Bischof unterhielt sich auf SyrischAramäisch, predigte Griechisch, ein Übersetzer übertrug ins Lateinische. Ob die Bevölkerung der Levante in den 380er Jahren mehrheitlich christlich war, ist möglich, aber nicht gesichert. Als die Konziliare in Ephesus (431) in Mehrheits-Entscheidung Maria als Gottesmutter anerkannt hatten, ließ der Bischof in Rom Santa Maria Maggiore als erste ihr geweihte Kirche errichten; die Gemeinde in Poreč (Istrien) ließ Fresken verfolgter Frauen in ihrer Kathedrale anbringen (Mitte 6. Jh.); Bibel-Illustrator*innen schufen Meister*innen-Werke. Frauen wirkten als Diakoninnen und als Ehefrauen von Bischöfen. Sie fehlten nur unter den Denkern, die Institutions- und Theologiege-

Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 48 (Zitat). Hartmann, Aufbruch, 41–43; Jussen, Franken, 39–44, 101–107; Andreas Lippert, „Die Bodenfunde Salzburgs im 8. Jahrhundert“, MGSL 115 (1974), 5–18.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

bäude entwickelten. Diese mögen ihnen nicht zielführend erschienen sein. 31 Die Stadt-Rom-Kleriker befanden sich in einer fluiden Welt – für die Organisation und das Personal keine angenehme Lage. Zwar stieg ihre Bedeutung, als Ravenna 536 wieder Teil des RR-Konstantinopel wurde, doch war die Diözese von einer Pestepidemie und Hungersnot, den Kriegen Kaiser Justinians und dem Vordringen langobardischer Trupps bedroht. Östliche Theologen hatten Zugang zum Kaiser und die Bischöfe von Konstantinopel (orthodox) und Alexandria (koptisch) waren „Patriarchen“. Die Rom-Ansässigen wandelten die Fluidität in eine felsenfeste Sonderstellung und fälschten zu diesem Zweck die „Briefe des Petrus“: Jeder Stadtbischof sei mit dem Apostel Petrus (lat. Fels) mystisch vereint und im Be-Sitz des „Stuhles Petri“. Auch sie übernahmen römisch-imperiale Strukturen und Insignien: Diözesen und Provinzen, staatliche Amtskleidung, cathedra als Bischofsstuhl. Die Söhne der verbliebenen senatorischen Familien benötigten nach der Ost-Verlagerung der kaiserlichen Regierung eine Karrierealternative und da es viele Söhne gab, begannen (ehemals) einflussreiche Familien Konkurrenzkämpfe und fragilisierten den Felsenthron. 32 Die nicäisch-konstantinopolitanische Version von Liturgie, Hierarchie und Glaubensätzen ersetzte der römische Bischof/Papst Gregor (griech. „ich wache“, h. 590–604) durch seine Version 3.0. Sie würde für die Kirchenprovinz Salzburg dominant werden (s. Kap. 6.7). Seine Vorgänger hatten Ländereien gewaltigen Ausmaßes in Süditalien und Sizilien, Africa und dem Osten, in Gallien und Sardinien als patrimonium Petri akquiriert und ließen sie durch

Sklav*innen bearbeiteten. Britische und gallische Sklav*innen, die in Rom zu kaufen waren, soll Gregor bemitleidet haben. Die Päpste ließen die Ernten zu Marktpreisen verkaufen. Der Grund- und Sklavenbesitz begründete die finanzielle Macht der Institution Kirche, der Zehnte erweiterte sie. Gleichzeitig sorgte Gregor für die städtischen Armen. 33 Gregors Verfestigung der Institutionskirche war nicht „Reform“, sondern Neuordnung. Er erweiterte Augustinus’ „Erbsünde“ (weiblich) um sieben Todsünden und war der erste, der Maria Magdalena als Sünderin und Prostituierte diffamierte. 34 Seine Familie unterhielt sowohl zu den neuen ostrogotischen wie den fernen oströmischen Herrschern Beziehungen. Außenpolitisch befahl er die Konversion Andersgläubiger, sei es durch Akkommodation, sei es durch Requisition der Verehrungsstätten und Ersetzen von „Götzenbildern“ durch Reliquien. Die Weiternutzung bestehender Anlagen war kostengünstig und symbolträchtig. Ob Altgläubige die Umwidmungen akzeptierten, bleibt offen. Diese Neuerungen historisierte der hispanische Enzyklopädist Isidor (~560–636) durch eine Kirchenvätergenealogia 35 und Legenden-Bildner ordneten, um diesen Ahnenkult Laien einsichtig zu machen, den meist einheitlich-bärtig Dargestellten je ein visuelles Symbol, modern: Logo, zu: Hieronymus einen Löwen, Ambrosius Bienen. 36 Die Griechische, Syrische, Armenische und Koptische Kirche teilte viele der neuen Programmteile nicht. 37 Die Rom-Kleriker, die sich mit dem Logo „Schlüssel“ – für die Macht einzulassen, auszuschließen und zu bannen – versehen hatten, begannen ein Umerziehungsprogramm. Sie verboten heidnische Beschwörungen, incantationes, und för-

Kate Cooper, Band of Angels: The Forgotten World of Early Christian Women, London 2013; Rosamond McKitterick, „Frauen und Schriftlichkeit im Frühmittelalter“, in: Hans-Werner Goetz (Hg.), Weibliche Lebensgestaltung im frühen Mittelalter, Köln 1991, 65–118; Gary Macy, The Hidden History of Women’s Ordination: Female Clergy in the Medieval West, Oxford 2007; Gisela Muschiol, „Men, Women and Liturgical Practice in the Early Medieval West“, in: Leslie Brubaker und J. M. H. Smith (Hg.), Gender in the Early Medieval World: East and West, 300–900, Cambridge 2004, 198–216; Chiara Frugoni, „Frauenbilder“, in: Christiane Klapisch-Zuber (Hg.), Mittelalter, Frankfurt 1993 (ital. 1990), 359–429; Leslie Webster, Anglo-Saxon Art. A New History, London 2012, 161–163. 32 Für Familien-, Diplomatie-, Institutions- und Kriegskontexte Volker Reinhard, Pontifex. Die Geschichte der Päpste von Petrus bis Franziskus, München 2017, 111–154: die „Quellenlage“ ist schlecht, denn „der Liber pontificalis [nahm es] mit der Wahrheit nicht immer genau“, ebd., 178. 33 Wickham, Framing, 166, 271. Werner Tietz, Hirten, Bauern, Götter. Eine Geschichte der römischen Landwirtschaft, München 2015, 334–338. 34 Susan Haskins, Mary Magdalen: Myth and Metaphor, New York 1993. 35 Papst Bonifatius VIII. ernannte Chrysostomos, Ambrosius, Augustinus und Gregor 1295 zu „Großen Kirchenvätern“. 36 In Österreich ist der Gedenktag des später zum Heiligen ernannten Ambrosius auch Tag des Honigs. 37 Reinhard, Pontifex, 13–28. In den 860er Jahren würden beide Kirchen einen Streit um die Kontrolle (und den Zehnteinzug) balkanischer Christen führen, der 867 mit dem Schisma (Nikolaus I. vs. Photios) endete. Andrew J. Ekonomou, Byzantine Rome and the Greek Popes, A.D. 590–752, Plymouth 2007; Anne Doustaly, Le Moyen Age: Dix siècles d’ombres et de lumière, Milan 2004, kommentierte, dass die Eliten des Okzidents den Orient nicht verstanden und ihren Historiografen die Aufgabe zuwiesen, der Orthodoxen Kirche alle Schuld an der Teilung anzukreiden. 31

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derten gleichzeitig incantationes sanctae. Sie wiesen die gewählten Sprechern einer Gemeinde obliegende Seel-Sorge institutionell eingebundenen Mönchen zu, die dafür geschult werden mussten. Sie untermauerten ihre Position durch zielgerichtet erfundene Geschichten (Plural) als intentionale Geschichte (Singular). Ambrosius, der durch leicht zu begreifende Legenden und anfassbare Reliquien Laien einstimmen wollte, erfand die Geschichte, dass die Mutter des religio licita ermöglichenden Kaisers Konstantin, Helena, nach Jerusalem gereist sei und dort das von „Persern“ entführte und von „einem Juden“ versteckte Kreuz gefunden hätte. 38 Papst Gregor wusste, dass Rufinus (Aquileia) und Palladius (Helenopolis) „die wunderreichen Leben der ägyptischen und palästinensischen Mönche“ zusammengestellt hatten und viele Mönche diese Schriften lasen und weitergaben. Für den Westen konstatierte Petrus – nicht mehr der Apostel, sondern Gregors Diakon, Freund und „Sohn“: „Mir ist wenig davon bekannt, dass das Leben einzelner Männer in Italien durch Tugenden geglänzt habe“. Gregor, vertraut mit dem Brauch der Mächtigen, sich Genealogien der wunderreichen Leben ihrer Vorfahren zusammenstellen zu lassen, schrieb daraufhin die „Geschichten großer italienischer Männer und der Wunder, die sie gewirkt haben“. Er berief sich auf Erzählungen weiser, alter Männer und betonte nüchtern, dass auch die Evangelisten nur über Erzählungen von Jesus wussten. In seinen Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum mythisierte er archaische Ereignisse als heilige Ursprünge oder goldene Zeitalter zur SinnGebung für die Gegenwart (M. Eliade). 39 Ihm berichteten Konstantus (der Stetig-Folgerichtige), Valentinian (der Kräftig-Gesunde), Simplicius (der Aufrichtige) und Honoratus (der Ehrenhafte) von dem organisatorisch talentierten Benediktus (der Gesegnete) in Nursia, einer Gemeinde in Umbrien.

Im Osten hatten bereits Pachomios und seine Schwester das persönliche, „orientalisch-asketische“ Eremiten-Mönchstum in eine rigorose koptischsprachige Klosterform (Koinobitentum) gewandelt. Laut Gregor bewirkte Benediktus, real oder fiktiv, in Italien die Metamorphose des Apolloheiligtums Monte Cassino bei Neapel in ein geregeltes, musterhaftes Kloster und auch er hatte – laut späteren Berichten – eine Schwester, Scholastika, die Frauenklöster gründete. 40 Er forderte Bescheidenheit, Gebet, Arbeit und Gehorsamkeit; seine Adepten sollten ein einheitliches Schema des Gottesdienstes verbreiten und die Kloster-Vielfalt in ein einheitliches Klosterwesen überführen: translatio als wichtiges kirchliches Instrument. Mönche fügten lokalspezifische Gewohnheiten, consuetudines, hinzu. In der Diözese Salzburg wurden Benedikts süditalische und Columbans irisch-fränkische Regeln vermutlich gemischt praktiziert. 41 Als Gregor in Rom schrieb, war in Konstantinopel die von mehr als 10.000 Handwerker*innen erbaute Hagia Sophia (griech. heilige Weisheit) als dritte Kirche an diesem Ort seit sechs Jahrzehnten Verehrungsstätte. 42 In Mekka/Makka war ein Kaufmann namens Mohammed/Muḥammad („der Lobenswerte“) bereits geboren (~570). 43 Diese Stadt der Quraisch (Qurayš) war Handelszentrum für Viehzüchter, die Lederwaren an die Armeen der benachbarten sāsānidischen und römischen Imperien verkauften, und für die Gummiharz-Sammler im Hadramaut (Ḥaḍramawt), die Priester vieler Religionen mit Myrrhe und Weihrauch versorgten. 44 Ihre später „Weihrauchstraße“ genannte Route verband die Wirtschaftszentren Äthiopiens (Aksum) und Palästina-Syriens. Die vielen Identifikationsgruppen („Stämme“) verehrten in einem al-Kaʿ ba genannten Gebäude die Göttinnen al-Lāt (weißer Stein), Manāt (schwarzer Stein) und al-ʿ Uzzā (roter Stein) – die Namen bedeuteten Getreide, Frau

Carla Heussler, De Cruce Christi. Kreuzauffindung und Kreuzerhöhung. Funktionswandel und Historisierung in nachtridentinischer Zeit, Paderborn 2006. 39 Sie wurden in viele lateineuropäische Sprachen übersetzt. 40 Dialogi, 2. Buch: „Leben und Wunder des hl. Benedikt“, erster deutscher Druck Augsburg 1472. 41 Pierre Riché, Daily Life in the World of Charlemagne, übers. von Jo Ann McNamara, Philadelphia 1978 (frz. 1973), 40. 42 Cyril Mango und Ahmet Ertuğ, Hagia Sophia. A Vision for Empires, Istanbul 1997. 43 Mohammeds genealogia sieht ihn als Nachkommen von Abrahams und Hagars Sohn Ismael. Marco Schöller, Mohammed, Berlin 2008; Fred Donner, Muhammad and the Believers: At the Origins of Islam, Cambridge, MA 2010; Jonathan A. C. Brown, Muhammad. A Very Short Introduction, Oxford 2011. 44 In Alexandria hatten im 1. Jahrhundert Gelehrte und/oder Seefahrer einen Periplus Maris Erythraei als Anleitung zur Küstenbefahrung des Roten Meeres und der indischen West- und afrikanischen Ostküste verfasst. Im 2. Jahrhundert betrieb das RR von den Farasān-Inseln im südlichen Roten Meer aus Handel mit Ägypten-Äthiopien und, vermutlich, Indien. 38

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Allahs, Morgenstern, Abendstern, Mond und Schicksal. Pilger*innen trugen zum Reichtum der Händler und Gewerbetreibenden bei. Mohammed und die wohlhabende Witwe Khadija (Ḫadīǧa) heirateten. Er hatte Visionen und begann zu predigen, aber angesichts von Desinteresse oder Anfeindungen begab sich die Familie 622 nach Medina (arab. „Stadt“, vorher Yaṯrib). Seine Anhänger zogen militärisch gegen Mekka und widmeten den „schwarzen Stein“ als Zeichen Gottes (arab. allāh) um. 45 Mohammed trugen Engel für einen nächtlichen Besuch nach Jerusalem. Vielleicht schon zu seinen Lebzeiten, spätestens nach seinem Tod 632 begannen Gläubige seine Gedanken zu verschriftlichen und als Quran zusammenzustellen. Wie die Bibel beruht der Quran auf älterem Gedankengut und Vorstellungswelten und richtete sich an mobile Viehbesitzer*innen und sesshafte Städter*innen. Die Autoren lehnten die vorher verehrten Göttinnen als heidnische „Idole“ ab (Sure 53,19– 20). Sie kannten die in mehreren Fassungen überlieferte Septuaginta und muslimische und christlich-mönchische Gebetszeiten ähnelten einander. Wissen um die vielen, vielfach legendären Entwicklungen hatten Rupert und Erentrudis, Virgil und Bonifatius in Kopf und Gepäck, als sie die Herzogs-Residenzen Regensburg und Salzburg erreichten. Gemeindepriester wussten vermutlich um die Eroberung Jerusalems durch ein persisches Heer, um die oströmische Rück- und erneute arabischmuslimische Eroberung sowie um „Sarazenen“ und Quran und um den Kampf gegen die persische Feuerreligion und die Rückgewinnung des Kreuzes oder dessen existenten Teilen. Am ideellen Bezugsort Jerusalem errichteten Muslime zwischen 687 und 691 um den Fels, auf dem nach jüdischer Tradition die Welt errichtet wurde, den Felsendom (qubbat al-ṣaḫra). Nach einem Aufruf des Papstes auf dem Felsenthron würden fünf Jahrhunderte später Ritter aus der Salzburger Kirchenprovinz sich an der Eroberung Jerusalems, des reichen Umlandes und der Schätze „des Orients“ beteiligen. Gläubige, auch in abgelegenen Bergtälern, mussten dafür Sonderzehnte zahlen, muslimische Gläubige für die arabisch-syrischen Heere.

Die mächtigsten Herrscher des entstehenden dualen lateinkirchlich-weltlichen Europas, Päpste und die Merowinger-/Karolinger-Familien, expandierten. Beide wussten, dass innere conversio für Massenkonversionen untauglich war. Sie nutzten Zwangskonversion, zum Beispiel sächsischer und jüdischer Männer und Frauen, oder die diplomatisch ausgehandelte Konversion einer HerrscherFamilie und ihrer traditionstragenden Elite. Für letztere sprachen klerikale Diplomaten zuerst Frauen – im Westen Bertha, Chrodechild und Æthelburgh, im Osten Olga – als Initiatorinnen an, die dann Bräutigam oder Ehemann zur Taufe bewegten. Gespräche von Mann zu Mann scheinen selten eingesetzt worden sein. Die Herrscher-Taufe galt für alle Beherrschten, Lebensweise war nicht Thema. Zwischen den beiden Eliten stand die Frage, wer die „Mitgliedsbeiträge“ erhalten würde. Die Karolinger- und – später – die Árpáden-Familie entschieden sich für Zehnteinzug innerhalb ihrer Herrschaft mit pauschalem Anteil für „Rom“. Latein wurde Verwaltungs- und Religionssprache, der stadtrömische Heiligenkalender verpflichtend für den Großraum. Das theologische Ziel, die Rettung von „Seelen“, und das politisch-familiär-institutionelle, die Expansion von Macht und Finanzbasis, waren untrennbar miteinander verbunden. Analytisch können „Kirche“ und „Adel“ nicht gegenübergestellt werden, denn von Mönchen und Nonnen aufwärts waren sie identisch. Der Adel bestand aus einem weltlichen und einem kirchlichen Zweig und diese Dualität beeinflusste Einheit und Konflikte über Jahrhunderte. Äbte und Bischöfe stellten die Mehrzahl der Krieger und Panzerritter der Könige. Sie waren sich des ideologischen Charakters ihrer Herrschaftslegenden bewusst, denn sie beauftragten Erzähler, sie zu erstellen. Diese transeuropäische Zusammenfassung ist noch eng: Ausgestoßene und selbstbestimmt migrierende Christen hatten andere Christentümer nach Äthiopien, Persien und China getragen. Die kommende Vorherrschaft der Lateinkirche im Westen Europas beruhte nicht auf überlegener Ethik, sondern auf Pfadabhängigkeit von Entscheidungen zu Institutionalisierungs- und Finanzierungsstrategien.

Mohammed galt als Vermittler. Doch ließ er in Medina zwei Gruppen jüdischen Glaubens vertreiben, die Männer einer dritten töten und die Frauen und Kinder als Sklav*innen verkaufen. Lokale Identifikationsverbände waren jüdisch geworden, andere migrierten nach Äthiopien, Christ*innen lebten in der Region. Während dieser Kämpfe um Vorherrschaft entstanden „Schwertsuren“, die – analog zu israelitischen Schriften – zur Ausrottung Andersgläubiger aufriefen.

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Fränkische Herrscher und ihre vielkulturellen Untertanen

6.3 Fränkische Herrscher und ihre vielkulturellen Untertanen Herrschaft war den Menschen nah und fern zugleich. Nah ließen die Familie Agilolfing und die Bischöfe Abgaben einziehen. Fern definierten salischund rheinisch-fränkische Schriftkundige die Stellung der maiores natu und potentes (Lex Salica, um 510, und Lex Ripuaria, Anfang 7. Jh.). Dies waren weder „Volksrechte“ noch, wie im 19. Jahrhundert imaginiert, das Recht einer nationum Germanicarum. Annektierte Gruppen lebten weiter nach eigenem Recht und die Lex Baiuvariorum verschriftlichte ein Abt von Niederaltaich (Mitte 8. Jh.) in lateinischer Elitensprache mit bayerisch-sprachigen Einschüben. 46 Parallel galt die Corpus Iuris CivilisVersion des RR-Konstantinopel. Der Abt begann mit dem Klerus, dem Herzog und adligen Geschlechtern (de genealogiis), ließ Freie, Freigelassene und Unfreie (de servis) folgen und schließlich, nach einem Titel über die Ehe, Frauen als Ehefrauen (de uxoribus). Am untersten Ende der Skala lebten in Merowingia 5 bis 15 Prozent als Sklav*innen. 47 Die Machtpositionen formenden Familien wandelten, wie vorher reiche Senatoren-Familien, römische res publica in res privata familiae und verformten ecclesia prima zu ecclesia clerici. Zwar blieben manche Gewohnheitsrechte, sogenannte Weistümer, erhalten, aber „Recht“ wurde doppelbedeutig. Über recht im Sinne von tradiert und fair – „es geht mit rechten Dingen zu“ – würden Scholaren ein „Dekret-Recht“ über Unterworfene installieren (s. u. Kap. 6.6). Chronisten der Oberen verwendeten den Begriff „Recht“ anstelle von „auferlegte Machtstruktur“, Untere blieben bei rechten Maßen. In der mobilen Leitzentrale von Francia-Gallia oder, familiär, Mero-Karolingia konzentrierten – als geschickte Manager der zunehmend west- und mitteleuropäischen Herrscher-Familie – Pippin (635– 714) und Sohn Karl (Martell, 688–741) die Hof-

und Finanzangelegenheiten in ihren Händen: „Regierende Hausmeier“ kontrollierten „amtierende Könige“. 48 Karl M. und Chrotrud aus der Familie Arnulfing heirateten und nach dem Leitnamen „Karl“ – ahd. „Kerl“ oder „Mann“ – benannte zuerst der Mönch und Historiker Widukind (Corvey, 10. Jh.) die Familie. Die „Karolinger-“ oder KerleDynastie umfasste Königinnen, Partnerinnen und Töchter, doch anders als in Familie Merowing konnten Frauen niederen Standes nicht mehr Königin werden. 49 Konzepte von „Reich“ und „Gesellschaft“ (bonum commune) existierten nicht; Familien mit Bewaffneten herrschten über Menschen auf dem Land. Die oft als modellhaft bezeichnete Karoling-Phase blieb von der Absetzung des letzten Merowing-Königs bis zum Beginn der Kriege der Urenkel Pippins III. um Erbanteile 840 neunzig Jahre kurz. Die Familienstrategie, bis zum Enkel Karl (d. G.) erfolgreich, hatte anschließend männliche Schwachstellen – nicht failed state, sondern failed family. Soziologisch herrschte eine trans-west-europäische Elite über Untertänig-Gemachte vieler Dialekte und der Elitenverbund diente auch als Sicherheitsnetz für innerfamiliäre Verschwörer*innen. Von fränkischen Höfen flohen in Missgunst Geratene oder bei Erbteilung leer Ausgegangene zu slawisch-, mährisch-, bretonisch-, dänisch- oder anderssprachigen Herrscher-Familien. Machtsuchende verbündeten sich mit Wikinger- oder Magyaren-Trupps. Fremd waren den Oberen die Untertanen. Fränkische Stadtbürger, herrschaftsrechtlich „Knechte“, durften sich nicht gegen zerstörende Wikinger bewaffnen, in späterer Zeit Bauern nicht gegen osmanische Trupps. König Karleman in Westfranken, dessen Knechte versagten, verbot 884 die Bildung dörflicher Gilden zur Abwehr skandinavischer Einfälle. 50

Die Mönche kamen auf Ruf Herzog (Hz) Odiolos um 740 aus Reichenau, spätere Mönche gingen in die Ostmark und nach Kärnten. Ernst von Schwind (Hg.), Lex Baiwariorum, Serie der sogenannten Leges nationum Germanicarum, Bd. 5, Teil 2, Hannover 1926, 267–365; erste Fassung um 740, älteste erhaltene Version („Ingolstädter Handschrift“) um 800. 48 Die folgende Darstellung beruht auf Hartmann, Aufbruch, und dies., Königin; Jussen, Franken; Wickham, Framing, 103–105; Goetz, Europa, 49–84; Rosamond McKitterick, The Frankish Kingdoms under the Carolingians, London 1983, 41992, 16–76; Walter Eder, „Merowinger“, in: ders. und Johannes Renger (Hg.), Herrscherchronologien der antiken Welt: Namen, Daten, Dynastien, Stuttgart 2004, 296–299, Zitat 296. 49 Die retrospektiv geschriebenen Familien-Annalen, Annales Regni Francorum, wurden nach 1871 im neuen Deutschen Reich zur Gründungslegende als „Reichsannalen“. „Werkzeugkasten“ der Herrschaftsdiskurse waren religiöse Topoi in fränkischer Variante (Jussen, Franken, 87). 50 Timothy Reuter, „Plunder and Tribute in the Carolingian Empire“, Transactions of the Royal Historical Society, 5.35 (1985), 75–94, hier 91–92; Heinrich Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts: Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, 2 Bde., Stuttgart 1984, 1:218–219. 46 47

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Gleichzeitig konkurrierten die Magnaten-Familien intensiv. Karl-Familie, Päpste-Rom-Familien und Langobarden-Herrscher-Familie positionierten sich etwa zeitgleich. Ihr System – Kauf von Loyalitäten, Belehnung von Vasallen und deren Kriegsdienst, Heerbann – erforderten ständig wachsende Einnahmen. Im Rahmen dieser Politökonomie unterwarf Pippin II. in den Jahren 690 bis 695 friesische Siedler- und Seekauf-Familien und Karl M. beendete 732 die Beutezüge (arab. ġazwa, Razzia) sarazenischer Trupps bei Tours und Poitiers. Als der herrschafts-christliche langobardische Aistulf den institutions-christlichen Papst bedrohte, mischten Pippin III. (h. 751–768) und Bertrada sich ein: Sie boten Stephan II. Schutz, dieser bestätigte Pippins Königskrönung als Papst auf der Flucht (a. d. F.). In einem anschließenden deal (754/755) tricksten beide: Pippin versprach Hilfe gegen die lombardischen Herrscher, deren Land-mit-Menschen ihn interessierten, der Papst beanspruchte mit Hilfe einer gefälschten Urkunde den gesamten vormals weströmischen Reichsteil. 51 Pippin gewährte dem Papst den Anspruch; das Gebiet gehörte ihm nicht. Als nachfolgende Päpste die „Schenkung“, die den Besitz des Geschenkten voraussetzte, einforderten, nutzte Pippins und Bertradas Sohn Karl dies, um sich als Herrscher über die Territorien zu proklamieren. Karl (geb. 747/748), erst Ende des 10. Jahrhunderts als „der Große“ (d. G.) stilisiert, sprach das altdialektdeutsche Moselfränkische. Er annektierte mit seinen Bewaffneten das oberitalienische Regnum, föderierte das Zentrum „Rom“ der Kircheim-Aufbau und nahm sich in Ravenna transportierbare Prestigeobjekte, die in Aachen seiner Herrschaftssymbolik dienten. Auf der Basis (ost-) römischer und langobardischer Verbindungen ließen Herrscher die strategische Rom-Aachen-Route, Via Francigena, bauen, die später auch in die Champagne führte. Makroregional alliierten sich Päpste und Karl-Familie gegen „Konstantinopel“ mit den älteren Ansprüchen und Karl ließ sich im Jahr 800

vom Papst zum Kaiser krönen. Die Kleriker, die seine Akten verfassten, erwähnen eine Delegation des Oströmischen Kaiserhofes, die ihm die Kaiserwürde übergeben habe. Der Vorgang fehlt in oströmischen Akten. 52 Hofgelehrte formten überlagernde Konnotationen des Topos „Rom“: Römisches Imperium – stadtrömischer Bischof – lateinischer Papst und „Karl, erhabener Augustus, von Gott gekrönt, großer, Frieden bringender Kaiser der Römer, das Imperium lenkend, und durch das Erbarmen Gottes König der Franken und Langobarden“. Auch Herrscher der griechisch-kirchlichen Serben und muslimischer Bulgaren bezeichneten sich als „König der Römer“. Kaiser und Kaiserin der Römer-Rhomäer residierten in Konstantinopel. Westliche Teile des alten RR formte die Karl-Familie in eine mittelmeerisch-transalpin-gallische Einheit um. 53 Historiker des großen Karl haben sich für den kleinen Kerl kaum interessiert. Was dachte seine Mutter Bertrada nach der Geburt? Wie erzogen die Eltern ihn und welche Bildungsmöglichkeiten öffneten sie ihm? Und, aus anderer Perspektive: Was dachten die Familien, die er seinem HB inkorporierte? Widerständig, wie Bachtin und Gramsci vielleicht vermuten würden, oder im Habitus wenig verändert? 54 Wie lebten Familien, in denen am Tag von Karls Geburt ebenfalls ein Kind geboren wurde? Sie würden ihm Abgaben zahlen müssen. Die Lebenschancen vieler Kinder sind Jahrhunderte vor ihrer Geburt vorherbestimmt, nicht durch Gottheiten oder vermeintliches Schicksal, sondern durch Menschen-gemachte Machtverhältnisse. Karl, etwa zwanzig Jahre jung, erbte das Königsamt im nördlichen Franken, sein Bruder Karloman Aquitanien. Letzterer starb und durch diesen Zu-Fall wurde Karl Alleinherrscher. Karlomans Witwe Gerberga flüchtete mit den Kindern, denn ihre Erbansprüche bedrohten Karls Übernahme und dies schien ihr lebensbedrohlich. Sie wird kaum erinnert. Historien im Rahmen linearer „Dynastien“ müssen viele Frauen und Kinder, Poly-

Die Fälschung wurde ab etwa 1000 vermutet, der Priester und Humanist Lorenzo Valladen bewies sie 1439. Für die Krönung gibt es, bei epochalen Ereignissen erstaunlich, aber nicht ungewöhnlich, weder Augenzeugenberichte noch päpstliche Urkunden. Jussen, Franken, 64–70. Der Papst war zu König Karl, den er bereits zum Schutzherrn Roms gemacht hatte, geflüchtet. Reinhardt, Pontifex, 181–183. 53 Diese sehr gedrängte Zusammenfassung beruht auf McKitterick, Frankish Kingdoms; Borgolte, Europa, 24–75; Alessandro Barbero, Karl der Große. Vater Europas, übers. von Anette Kopetzki, Stuttgart 2007 (ital. 2000); Dieter Hägermann, Karl der Große, Herrscher des Abendlandes, München 2000; Siegfried Epperlein, Leben am Hofe Karls des Großen, Regensburg 2000. 54 Michail M. Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur, übers. von Gabriele Leupold, Frankfurt/M. 1995 (russ. als Dissertation 1940, Druck erst 1965, engl. 1968); Perry Anderson, „The Antinomies of Antonio Gramsci“, New Left Review 1100 (November–Dezember 1976), 5–78. 51

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gamie, sequenzielle Monogamie und Liaisons verschweigen. Karl wechselte die Ehefrauen, fünf insgesamt, und hatte mit ihnen und anderen Partnerinnen, soweit bekannt, zwanzig Kinder. 55 Ein Mann, fünf Ehefrauen und zwanzig Kinder lassen sich kaum integriert darstellen. Die Töchter durften aus familienstrategischen Gründen nicht heiraten, aber zum Ärger federführender Kirchenmänner, die Karls Sexualleben nicht kommentierten, Partner haben. Nach des Vaters Tod verbannte der oberste ihrer Brüder, Ludwig, sie vom Hof. Erinnerer im 10. Jahrhundert nannten ihn „den Frommen“ (d. F.). Hätten seine Schwestern ihn „Ludwig, der Moralisierende“ genannt? Herrschaft, nicht Lebensführung, war „moralisierend christlich“ (C. Wickham). 56 Karl selbst konnte nicht schreiben und berief als Berater, modern: brain trust, für Wirtschaft und Verwaltung klug ausgewählte und mit großen Einkommen ausgestattete Kleriker-Intellektuelle: Alkuin aus York, Paulus Diakonus aus Monte Cassino, Paulus aus Aquileia, Theodulf, mit dem Mozarabischen vertraut, aus Orléans, Einhard, Intellektueller von Format aus Ostfranken, und den visigotischen Abt Witiza/Benedikt aus Aniane, Südfrankreich. Alkuin besaß als Bischof von Tours, wie ihm ein Kollege vorhielt, 20.000 Sklav*innen und Leibeigene (servi). Den Abt von St. Armand (Elno, Belgien), Arn, schickte Karl als Bischof nach Salzburg. Arn war an vielen Beratungen beteiligt, löste als Königsbote klug vermittelnd Konflikte und brachte sich intensiv in die Kirchen-Neuordnung ein. Wie üblich ließ sich Karl eine Genealogie erfinden, als Ahnencharisma eine Abstammung der Franken von den Trojanern. Er entschied mit seinen Klerikern, Gott einzubinden, denn Päpste waren zeremoniell wichtig, aber wenig vertrauenswürdig. Von der Taufe Chlodwigs bis zur Annexion der baltischen „Heiden“ im 13. Jahrhundert ermöglichte „Christianisierung“ den Zusammenhalt der Machteliten, Religion war „Kitt archaischer Herrschaft“ (Karl Hauck) und „Gott“ Schlagwort im wörtlichen Sinn. 57 Der brain trust befasste sich intensiv mit Glauben im doppelten Sinn von Lebensweg-Seelen-

Abb. 6.4 Karl der Große: Idealbild, Meister des Aachener Marienlebens, um 1485, im Bilderzyklus des früheren Apsis-Altars Der mit wertvollem Mantel bekleidete, kniende Kaiser ist durch ein Modell des Aachener Doms als Stifterfigur gekennzeichnet. Das Altersweisheit andeutende Gesicht mit wallendem Haar entsprach dem von seinem Biografen Einhard (um 820) und dem Mönch Notker (883) geschaffenen Bild, das Autoren gegenwärtig genutzter Enzyklopädien ohne Quellenangabe abschreiben und das eine Salzburger Brauerei Anfang des 21. Jahrhunderts als Bierdeckel vermarktete. Bereits junge Männer wurden mit Vollbart dargestellt, da „Bart“ Zeichen für den Übergang von Adoleszenz zu Mannestum, das heißt zu Sexualität und Autorität war.

heil und Herrschaftsstrukturierung. Das Konzept eines Sakralkönigs-, dann -kaisertums entwickelte der Domschulleiter Alkuin und verlängerte dafür Karls Genealogie über Aeneas hinaus zum bib-

Hartmann, Königin, 96–104. Im 9. Jahrhundert begannen Autoren die Lebensführung der Könige so zu bereinigen, dass sie im christlichen Sinn „vorzeigbar“ wurde. Zu höfischem Leben Riché, Daily Life, 90–100. 56 Ludwig, der im Alter von drei Jahren in das randständige Aquitanien geschickt oder verbannt worden war, hasste den Vater und entließ später dessen Berater. Wickham, Framing, 290. 57 Die Christianisierung Europas im Mittelalter, Stuttgart 1998 und 2009, 9; Hauck zitiert in Wilhelm Störmer, Adelsgruppen im früh- und hochmittelalterlichen Bayern, München 1972, 164. 55

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Abb. 6.5 Zeitgenössische Kriegsführung: Reiterkrieger mit Steigbügeln, Körperpanzerung, Lanzen, Schwertern, Pfeil und Bogen vor einer befestigten Stadt, Psalterium Aureum, 2. Hälfte 9. Jh. Bis in das 8. Jahrhundert hinein bedeutete „Krieg“ kurze, zerstörerische Beutezüge, Schikanen, Störmanöver, dramatisch-tödliche Schlachten; seit dem 9. Jahrhundert wuchs die Bedeutung von Reitern als Angriffswaffe und Mauern als Defensiveinrichtungen.

lischen König David und, mit Blick auf das real existierende Römer-Reich, zu Kaiser Konstantin. Aus derartigen Legitimationsstrategien entstanden Denkfiguren wie patrimonium petri und „Römisches Reich“. Im Rahmen machtstützender Ikonografie von Patriarchen – Gottvater, Kirchenväter, Kaiser, Könige – erschien Karl oft als vollbärtiger und kraftvoller Mann. 58

Karl, auch brutaler Stratege, führte seine Waffenpflichtigen unter Heerbann fast jährlich in verheerende Kriege. Sie übernahmen das östliche Modell „Reiterkrieger“. Wirtschaftsförderung analog zur Pax romana strebte Karl nicht an, denn Friede war Magnaten weder sozialstrukturell noch ideologisch vorstellbar und politökonomisch nicht möglich. „In the West, military matters have consumed more material resources and lives than any other human endeavor over more than three thousand years“. 59 Bei den Scharmützeln von ġazwaGruppen und Karl M., Großvater, kämpften arabische, berberische, israelitische und kanaanitische Männer gegen fränkische, langobardische, sächsische und friesische. Spätere Erinnerer erfanden die „Rettung des christlichen Abendlandes“ durch den Sieg Karls bei Poitiers. 60 Doch waren Friesen und Sachsen 61 nicht christlich, „Abendland“ kein Konzept und Christen bekriegten Christen. Den Menschen friesischer Kultur, deren Handelsemporium, zentriert auf Dorestad (nahe Utrecht), sie mit englischen und mittelmeerischen Hafenstädten verband, war bewusst gewesen, dass die Übernahme des fränkisch-propagierten Christentums ihre Eigenständigkeit beenden würde. Karolingisch-päpstliche Ideologen kategorisierten mit christlichem Überlegenheitsanspruch Nachbarn als Ungläubige und damit Un-zivilisierte. Dies legitimierte Unterwerfung zum Beispiel der Sachsen mit Terror und Massendeportationen. Da im fränkischen HB unvergebenes Land-mitArbeitskräften zu knapp geworden war, um großund kleinadlige Männer zu versorgen und zu beschäftigen, wurden Beutekriege gegen Nachbarn systemisch. Karl unterwarf neben „den Sachsen“ die ihm verwandten langobardischen (774) und bayerischen Herrscher-Familien (788) und fiel in Karantanien ein (s. u. Kap. 6.5, 6.8). Die Kriege boten, wenn siegreich, Beute und Land, letzteres im

Der Autor der renommierten Encyclopedia of World History (62001, 173–174) beschrieb ihn als großen, athletischen, wachen und gut gelaunten Mann; der Autor der Wikipedia (Fassung 26. März 2013) ließ ihn Ordnung schaffen, da Franken in „barbarische“ Gebräuche zurückfielen, Sachsen auf ihrem Heidentum beharrten und Sarazenen sich ausbreiteten. 59 Differenziert bei Fichtenau, Lebensordnungen, 11–110. Bernard S. Bachrach, Early Carolingian Warfare: Prelude to Empire, Philadelphia 2001, Zitat ix, hob die Organisations- und Strategiefähigkeit hervor. 60 Der bereits zum Untergang Roms zitierte Historiker Edward Gibbon fantasierte 1788, dass ohne Karl die Sarazenen bis zur Grenze Polens vorgedrungen wären und in Oxford Koran statt Bibel gelesen würde. 61 „Sachsen“ (engl. seax = Hiebmesser) war Sammelname aus römischer Zeit und Volkskonstrukt aus dem 19. Jahrhundert Sie siedelten von der Nordsee kommend in kleinen Verbänden von Ems bis Elbe. Dies altsächsische Gebiet wurde bei Herrscherwechsel zu Niedersachsen umbenannt, das neue, westslawisch und mitteldialektdeutsch besiedelte Gebiet durch Namensverschiebung (Ober-) Sachsen. Die von Karl zerstörte Verehrungsstätte Irminsul lag im Sauerland. Babette Ludowici (Hg.), Saxones. Eine neue Geschichte der alten Sachsen, Ausstellungsbegleitband, Darmstadt 2019. 58

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Fall der sächsischen Regionen entvölkert, in Bayern mit unfreien Arbeitspflichtigen. Anführer benötigten kostbare Prestigegüter, mit denen sie ihre soziale Position festigten; je größer der Erfolg, desto größer die Attraktivität des Anführers, wie ehedem bei König Attilas Reiternomaden. Eigene Kriegstote bedeuteten eine geringere Zahl königlich zu Versorgender und, familiär, erbberechtigter Söhne; Überleben ermöglichte Karriereoptionen, lokale Eliten arrangierten sich. Die Kosten zahlten Untertanen-Familien in Vorleistung und Unterworfene in Abzahlung. Ein Blick von anderem Standpunkt – eine „Verfremdung“ der Selbstsicht – ermöglicht einen Vergleich mit anderen Pfadentscheidungen. Vom unteren Don bis zur Wolga errichteten chasarische Verbände ihre Herrschaft ohne eigene Kaufleute. Ihre Pax chazarica bot einen befriedeten Transitraum, in dem die (konvertiert-jüdische) Oberschicht Zölle in Höhe von zehn Prozent ad valorem auf alle Güter erhob. Der Handel florierte. Weiter östlich ernährten sich Nomaden von Oasenbewohner*innen wie gallische Magnaten von Unfreien: „Aside from trade in animal products, the nomads had little to offer the oasis-dwellers besides protection, Mafia-style, from attackers other than themselves. […] The oasis states were, to the nomads, like the geese that laid golden eggs: it was in their interest to profit from them and extract their surplus, but not to destroy them or take control of their complex ecosystems.“ Auch Awaren und Magyaren folgten dem Modell. 62 In Karolingia unterlagen Bischöfe dem Heerbann und hatten für jeden königlichen Beutezug Fußknechte und Berittene zu stellen. Krieger und Anführer hatten gelernt, zu töten – auch das ein Aspekt von Sozialisation. 63 Sie mussten für den Weg zum Treffpunkt ausreichend Getreide mitnehmen; für den weiteren Weg zum Kriegsgebiet war zentrale Logistik notwendig; im potenziellen Annexionsgebiet versorgten sie sich durch Raub. Dies galt als Kriegs-Handwerk, die Schwertleite war ge-

wissermaßen die Gesellenprüfung und erlaubte Innungs-Mitgliedschaft. Bann, von magischem Prozedere zu königlichem „Recht“ gewandelt, war für viele freie Familien verheerend, denn sie konnten die Kosten der Rüstung nicht auf- und Ernten nicht einbringen. Missi dominici sollten ihre Bedrückung verringern (802). Als sie sich dem Banndienst zunehmend entzogen, gaben König-Vater und König-Sohn für den Hoftag 811 eine Befragung in Auftrag: Die LandFamilien klagten, sie würden aus ihrem Eigentum vertrieben und durch Bischöfe, Äbte, Vögte und Grafen belastet. Wolle jemand seinen Besitz nicht geben, suchten diese „Gelegenheiten, diesen Armen zu verurteilen und ihn immer wieder gegen den Feind ziehen zu lassen, bis er, verarmt, sein Eigentum wohl oder übel übergibt oder verkauft“. Manche Heerpflichtige wollten nicht verliehen werden, sondern forderten, nur unter ihrem Lehnsherrn ausrücken zu müssen. In Folgejahrhunderten klagten viele über die Lasten für Romzüge und Kontrolltouren von Äbten und Herren zu Meierhöfen und Grundbesitz. „Lordship was not only predatory … but it also consciously saw itself as such“: Herrschende stellten sich in ihren Wappen als Löwe oder Adler dar, Raubtier und Raubvogel. 64 Karls Berater wussten um alltagspraktische und strukturelle Probleme des Systems. Nirgendwo konnte Landwirtschaft den samt Familien etwa 1000 bis 2000 Menschen zählenden Hof dauerhaft ernähren. Ambulant strukturierte Herrschaft – „Reisekönigtum“, circuit riding, itinerant kingship/ kinship – setzte leistungsfähige Großbetriebe im Abstand von Tagereisen voraus. Auch war im postimperialen Raum großräumliche Projektion von Macht nicht mehr möglich, sondern musste vor Ort von Person-zu-Person, „im Angesicht“, dargestellt und durchgesetzt werden. Der „Hof als soziales Gebilde fluktuierte ständig; dieser oder jener blieb hie und da zurück oder trennte sich, um neue Aufgaben im Königsdienst oder in der Kirche zu übernehmen, andere stießen hinzu, aber keiner

Klaus Düwell u. a. (Hg.), Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa, 4 Bde., Göttingen 1985–1987, Kap. „Der Handel der Karolinger- und Wikingerzeit“; Victor Mair (Hg.), Secrets of the Silk Road. An Exhibition of Discoveries from the Xinjiang Uyghur Autonomous Region, China, Santa Ana, CA 2010, Zitat 59–60; Reuter, „Plunder and Tribute“, 77, 88. 63 John Beeler, Warfare in Feudal Europe 730–1200, Ithaca 1971. 64 Epperlein, Bäuerliches Leben, 165–168, nach Capitularia, Bd. 1, Nr. 73; Timothy Reuter, „Debating the ‚Feudal Revolution‘“, in: Reuter, Medieval Polities and Modern Mentalities, Janet L. Nelson (Hg.), Cambridge 2006, 72–88, Zitat 73; Thomas N. Bisson, „Medieval Lordship“, Speculum 70 (1995), 743–759. 62

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schritt auf Dauer den gleichen Kreis aus wie der Herrscher selbst.“ In dieser Hinsicht glich der Hof den Wander-Identifikations-Verbänden. 65 Karl und Berater verordneten in einem Capitulare de villis vel curtis imperii Richtlinien für Landund Gartenwirtschaft sowie Handwerk und Vorsorge und, in einer Admonitio generalis, Verfahrensregeln für die Herren im Interesse der Produktivität und Abgabefähigkeit der Untertanen: „Dass unsere Leute auf den Hofgütern auskömmlich versorgt bleiben und von Niemand in ein Leben in Armut gedrängt werden.“ Die Königshöfe waren ein „komplexes Konstrukt von Haupt- und Nebenhöfen mit Tausenden abhängigen Bauern unterschiedlichster Dienst- und Abgabenverpflichtungen sowie vielfältigen spezialisierten Pertinenzen [Zugehörigkeiten]“. Das Rechtskonstrukt „Dienst“ ließ Weigerung zu Desertion werden. Die Kapitulare regelten unter anderem den Anbau von Krapp für die Blau- und von Scharlach für die Rotfärbung in Textil-produzierenden Frauenwerkstätten; Karl trug scharlachrote Beinkleidung. Parallel zur Expansion der Außengrenze, external frontier, als Region erwarteter, aber noch ungenutzter Möglichkeiten sollte die Nutzung der Unterschichten, internal frontier, intensiviert werden. 66 Die oft als „Bauernschutz“ interpretierten Bestimmungen engten die Rechte ländlicher Menschen ein. Sie verboten ihnen Waffen zu tragen und verpflichteten sie, an Gerichtstagen den Herren Gebühren zu zahlen: Herren-Recht. 67 Die Autoren richteten Ratschläge für gutes Wirtschaften an Herren, die von Zins und Fron lebten, aber nicht immer Managementfähigkeiten und Agrarkenntnisse besaßen. Unausgeglichen blieb die Distribution von Eisen: massive Waffenproduktion, aber keine karolingische Renaissance eiserner ländlicher Arbeitsgeräte. Die „Salzburger Enzyklopädie“ stellte 818 einen hölzernen Hakenpflug dar (Abb. 7.1), Familien ohne eiserne Pflüge mussten Eisen-gekleidete Panzerreiter versorgen.

Capitularien für die häufigen Notzeiten geboten intensiv zu beten und zu fasten, sie verboten die preistreibende Getreideausfuhr und legten Preise fest. 809 mussten Vasallen angehalten werden, ihre Unfreien nicht Hungers sterben zu lassen oder sie wegzuschicken. Jeder Abt, jede Äbtissin hätte vier Notleidende bis zur nächsten Ernte zu ernähren; umherziehende Hungernde dürften sich an neuem Ort niederlassen. Ein Schlaglicht auf die Praxis des Menschenbesitzes warf das Verbot, Verarmte zu versklaven. Regionale Regelungen erklärten durch Hunger erzwungene Notverkäufe für unrechtmäßig (Italien), befreiten Männer von Kriegsdienst (Gallien), erhoben Fürsorgesteuern von Äbten, Äbtissinnen, Grafen und kleineren Herren (779). 68 Wie nahmen die Untertanen diese Regelungen wahr? Was dachten sie, wenn sie Mächtige oder Heere, die gern unbezahlt auf ihr Getreide und Pferdefutter zugriffen, vorbei- und „ins Feld“ ziehen sahen? Wessen Feld? Saßen sie am Mittag am Feldrand und besprachen alltägliche Fragen und Bedrückungen? An ihnen hätte ein großes Heer mit Tross, z. B. 3000 Berittene und 7000 Fußläufige vorbeiziehen können. An der Spitze der Züge hätten sie die reich geschmückte Führung erkannt, vielleicht den König selbst. Schaustellung erforderte Zuschauende. Chronisten überlieferten die Choreografie, nicht jedoch die Einkommen der Regisseure. Empirisch genau zogen jedoch viele kleine Haufen auf eigenen Wegen, denn „Heer“ war die Summe vasallitischer Kleineinheiten, deren Besitzer im Kampf Kostendeckung erreichen mussten. Pferd, Waffen und Körperpanzerung eines Berittenen kosteten so viel wie 18 bis 20 Kühe. Die Betrachter*innen waren unedel, die Pferde edel. Interessierte die ländlichen Menschen deren Zugkraft mehr als die federgeschmückten Helme? Sehen ist selektiv. 69 Karl und seine Kleriker entschieden, Herrschaft durch eine Reorganisation von Religion und Kirche sowie den Zugriff auf Ressourcen kirchlicher Institutionen abzusichern. Da Gläubige Fränkisch,

Zu Karls Aufenthaltsorten siehe David Rollason, Early Medieval Europe 300–1050, London 2012, 106–107, Karte 7; zu den Reisen von Otto I. Goetz, Europa, 131–135; Zitat: Borgolte, Europa, 55. 66 Mitterauer, Europa, Zitat 51. 67 In biblischen Zeiten hatten die Philister den unterworfenen Israeliten das Schmiedehandwerk verboten, damit sie keine Waffen herstellen konnten (1. Samuel 13,19–22). 68 Siegfried Epperlein, Herrschaft und Volk im karolingischen Imperium, Berlin 1969, 69–104; Fritz Curschmann, Hungersnöte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts, Leipzig 1900, 70–74. 69 Till Hein, „Bauern, Mönche und Dämonen“, in: Dietmar Pieper und Johannes Saltzwedel (Hg.), Karl der Große, München 2013, 65–79, hier 70; Mitterauer, Europa, 112–113. 65

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Bayerisch, Sächsisch und viele weitere Varianten sprachen, waren Gebete in vulgus, lingua sua, rustica Romana oder thiotisca lingua zu sprechen. Angesichts ungebildeter Kleriker wiesen sie Klöster und Domherren an, Schulen einzurichten und verpflichteten Geistliche, vorbildhaft zu leben. Die „karolingische Kirchenreform“ war Reparatur, remise en ordre (A. Doustaly) und Neuerung. Die Konziliare in Aachen wandelten zwischen 816 und 819 Papst Gregors institutionskirchliche Version 3.0 in die karolingisch-herrschaftliche Version 4.0. Die Metropolitan-Verfassung stärkte die Erzbischöfe und reduzierte bischöfliche Vielfalt. Abt Witiza (Südfrankreich) nahm mit Bezug auf Benedikt (Monte Cassino) den Namen Benedikt an und beendete die Zersplitterung in weltliche und kirchliche Privat- oder Eigenklöster sowie den Luxus des Mönchsadels. Da kopierend-kreative Kleriker über Generationen die Hieronymus-und-Paula Bibel auf 400 Fassungen diversifiziert hatten, vereinheitlichte Alkuin die heiligen, aber flexiblen Schriften erneut. Doch all dies wirkte nur für wenige Jahrzehnte und seit den 860er Jahren nahmen das Schulwesen ab und der Luxuskonsum zu. Weitere Reformen würden von dem „unermesslich reichen Cluny“ 70 (V. Reinhardt) und den Klöstern Gorze und Hirsau ausgehen und am Beginn des 12. Jahrhunderts den Ostalpenraum erreichen. 71 Von den vier neu normierten Bereichen – Organisation, Kult, Eherecht, Frauen-Diskriminierung – ist letzterer meist übersehen worden. Die angelsächsisch-flandrischen Frauengemeinschaften befanden sich aufgrund von regional-spezifisch sozialen, fiskalischen und militärischen Entwicklungen im Niedergang. Das Totengedenken übernahm der Kirchenapparat; Magnaten schalteten verarmte StifterFamilien aus; sanctimoniales wurden entlassen, wenn Geld fehlte, oder durch Mönche verdrängt. „Wikinger“ und „Dänen“ raubten an Britannias und Francias Küsten Gemeinschaften mit wertvollem liturgischem Gerät aus. Die Zerstörung Lin-

disfarnes 793 erschreckte gebildete Kreise lateineuropaweit. Höhere Besteuerung und HeerbannAusweitung trafen kleine Frauengemeinschaften stärker als sicherheitspolitisch wichtige Männerklöster. Schließlich schienen Hochstehenden Gebete für ihr Seelenheil nicht mehr ausreichend, sie kauften komplette Messen, die nur Priester halten durften. 72 Die Aachener Institutio sanctimonialium unterstellte alle religiösen Frauen Bischöfen und verbot ihnen, nach Rom und zu geheiligten Stätten zu pilgern. Sie verbot Äbtissinnen, Männer zu segnen, Jungfrauen zu weihen, das Kloster zu verlassen. Sie verbot Nonnen, Schulen für Knaben zu unterhalten oder männliche Pilger und Verarmte zu beherbergen. Sie wiederholte das Verbot, den Altar zu berühren und beim Abendmahl Wein und Brot auszuhändigen. Frauen durften weiterhin Altartuch und Priesterkleidung sticken. Ein Quadratmeter Stickerei erforderte, bei 1 mm Fadenstärke und 2 bis 3 mm Stichlänge, mehrere Hunderttausend Stiche. Frauen wehrten sich, wie giftige Männer-Kommentare beispielsweise während einer Synode in Paris 829 belegten. Wie teilte der Salzburger EB die Verbote den Erentrudis-Frauen mit? 73 Historiker*innen, die angesichts der Fülle der überlieferten Texte sehr dankbar sind, haben die Leistungen als „karolingische Renaissance“, Wiedergeburt, bezeichnet. Zeitgenossen sprachen von correctio, Korrektur vorhergehender Fehlentwicklungen. Zum Geistesleben trugen visigotisch-christliche Kleriker und irische Mönche bei. Aus dem muslimisch werdenden Iberien und dem ikonoklastischen Ostrom, wo rigoros-orthodoxe Kleriker das biblische, im Islam geteilte Bilderverbot einführten (Exodus 20,1–5), kamen Intellektuelle mit ihren Manuskripten. „Ohne Byzanz kein Europa“, formulierte Judith Herrin. 74 Von correctiones unberührt blieb das Herrschaftsmodell „Familie“. In der Divisio regnorum 806 teilte Karl-Vater nicht „das Reich“, sondern seinen Herrschaftsbereich unter drei Söhne auf. 75 Die

Mönche aus Cluny kolonisierten in Iberien vorhandene Klöster, merzten visigotisch-christliche Glaubensformen und -praxen aus und setzten römische Liturgie und Kirchenfeste durch. Auch innerkirchlich war „reconquista“ Kolonisierung. 71 Riché, Daily Life, 9–11, 191–202. 72 Jan Gerchow u. a., „Early Monasteries and Foundations (500–1200). An Introduction“, in: Jeffrey F. Hamburger und Susan Marti (Hg.), Crown and Veil. Female Monasticism from the Fifth to the Fifteenth Centuries, übers. von Dietlinde Hamburger, New York 2008 (dt. 2005), 13–40. 73 Karl J. Leyser, Rule and Conflict in an Early Medieval Society: Ottonian Saxony, London 1979 (dt. 1984); Sarah Foot, Veiled Women: The Disappearance of Nuns from Anglo-Saxon England, 2 Bde., Aldershot 2000, 1:66–71. 74 Judith Herrin, Margins and Metropolis. Authority across the Byzantine Empire, Princeton 2013, 232. 75 Goetz, Europa, 118–169, bes. 119–122, 249–266; Riché, Daily Life, 203–205. Die Ordinatio imperii, 817, legte die Nachfolge des ältesten Sohnes fest. 70

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Enkel bekriegten sich um ihren jeweiligen Anteil an den insgesamt etwa acht Millionen wertschaffenden Männern, Frauen und Kindern. In der Drei-Brüder-Schlacht bei Fontenoy kamen 841 Tausende um, ein Chronist nannte diesen Brüderkrieg – vor dem 19. Jahrhundert kein Bürgerkrieg – ein „Verbrechen“. In dem verfallenden Vielvölker-regnum endete die Notstands- ebenso wie die Bildungspolitik. Im Westen starb der letzte Karolinger-König

987 bei einem Reitunfall, sein mächtigster Vasall und Nachfolger, Hugo Capet, strebte einen dynastischen Zentralstaat, später „Frankreich“ genannt, an. Im alemannischen (Allemagne), deutschen (theodisca) oder teutonischen (theutunici) Osten starb Ludwig „das Kind“ 911 im Alter von 18 Jahren und konkurrierende Adlige teilten die Herrschaft in viele kleinere regna. 76

6.4 Weltliche und kirchliche Herrschaft im Ostalpenraum, 7. bis 10. Jahrhundert Die Herrscher-Familien in Thüringen, Bayern, Alemannien, Aquitanien und Provence hatten die Phase des Übergangs von Merowinger- zu KarolingerFamilie genutzt, um selbstständig zu agieren. 77 Die Agilolfing-Familie blickte besorgt von Regens- und Salz-Burg nach Westen und auf Karls Südexpansion, denn sie war mit der langobardischen Herrscher-Familie verschwägert. Im Osten hatten Awaren-Herrscher Slawisch Sprechenden Tribute aufgezwungen und, um kostenträchtige Konflikte zu verringern oder Zeit zu gewinnen, hatten karolingische Gesandte mit ihnen 692 die Enns als Grenze vereinbart. Widerständige Ansässige, vordringende „Onoguren“ (später „Bulgaren“) und, vor Konstantinopel, oströmische Verteidiger übermannten die untereinander zerstrittenen Awaren-Herrscher. Friedliche Teilverbände, geschlagene Krieger und hinzukommende „späte“ Awaren wandten sich Viehzucht und Ackerbau zu; in slawischen HB lebten Menschen germanischer und onogurischer Dialekte, die sich von ihren Wandergenossenschaften getrennt hatten, und aus Konstantinopel zogen Jüdisch-Gläubige in die Region. Herrscher und ihre Berater dachten strategisch über Macht-Absicherung und Einkünfte. Die Familie Agilolfing, argwöhnisch gegenüber dem fränkisch beeinflussten Bistum Salzburg, umgab es mit einem Ring ökonomisch- und grenzräumlich-strategischer Klöster: Mondsee (748), Mattsee (765),

Kremsmünster (777) und, besorgt um die Alpenrouten, Innichen (769). Letzteres weihten sie taktisch klug, aber – wie sich zeigen würde – machtpolitisch vergeblich, dem fränkischen St. Denis. Die Mönche sollten das von slawisch- und bayerischkulturellen Siedler-Familien erschlossene Pustertal kontrollieren: Es war erzreich, Quellgebiet der Drau und Station am Weg zum Bischofssitz Säben – noch Teil des Patriarchats Aquileia – am Alpensüdhang. 78 Als sowohl die Agilolfing- wie die NachbarHerrscher in Karantanien glaubten, erneut von awarischen Trupps bedroht zu werden, ersuchte Boruth I. (h. ~740–~750) Tassilo III. (h. 749/757– 788) um Hilfe. Er war sich nicht bewusst, dass der Christ ihn als Heiden einordnete und dass „Christianisierung“ Annexion erlaubte. Herzog (Hz) Tassilo lud oder entführte Boruths Sohn Cacatius (Gorazd) und Neffen Cheitmar (Hotimir) als Geiseln an seinen Hof. Beide entschieden sich, aus Überzeugung oder aus Nützlichkeitserwägungen, für die Taufe. Nach der Rückkehr machten sie ihre slawischen und christlich-romanischen Untertanen zum Teil der Lateinkirche, Widerstand dagegen schlug Tassilo als „heidnische Aufstände“ nieder (769–772): Mission sollte die politische Machtübernahme vorbereiten. 79 Doch waren nicht Awaren oder Slawen die Bedrohung für Tassilo, sondern der Franken-Herrscher Karl. Er installierte 785 Arn (= Adler), aus

Heinz Thomas, „Sprache und Nation: Zur Geschichte des Wortes deutsch vom Ende des 11. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts“, in: Andreas Gardt (Hg.), Nation und Sprache: Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2000, 47–101. 77 Karl F. Hermann, Heinz Dopsch und Johann Paarhammer, „Die Salzburger Kirche“, in: Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs: Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.2:983–1070; Hägermann, Karl, 55; Störmer, Adelsgruppen, 59, 71, 89. 78 Das agilolfingische Klosterprojekt nördlich der Donau, Eichstätt (740), sicherte verkehrs- und kommunikationsstrategisch den Altmühl-Übergang der Straße zum Sitz Regensburg. 79 Bulgaren zogen bis nach Bayern. Peter Štih, Vasko Simoniti und Peter Vodopivec, Slowenische Geschichte: Gesellschaft, Politik, Kultur, Graz 2008, 27–38; László Kontler, A History of Hungary. Millennium in Central Europe, New York 2003, 37–66. 76

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Weltliche und kirchliche Herrschaft im Ostalpenraum, 7. bis 10. Jahrhundert

adlig-bayerischer Familie, als Bischof und Abt von St. Peter und seine Boten kontaktierten ansässige Magnaten-Familien, homines potestativi und feminae illustres, die nicht „genuin bayerischer Adel“, sondern Teil weitreichender Netzwerke waren. Als er mit seinem Heer 788 den HB Bayern annektierte, blieben sie „in ihrer Position weitgehend unangefochten“. Gegen Hz Tassilo hatten Kanzlisten in die Familien-Annales vorausschauend einen Bruch der Vasallen-Treue eingeflickt. So konnte dieser zum Tode verurteilt und anschließend zu lebenslanger Klosterhaft „begnadigt“ werden. 80 Bayerns formale Inkorporation 794 verlief ohne Gewalt und Zwangstaufen. Die Magnaten und Karls neue Grafen mobilisierten die wirtschaftlichen Ressourcen der Untertanen: Erstere besaßen und letztere akquirierten Land-mit-Menschen. 81 Im Wissen, dass der König gewinnbringende freigewordene Bistümer einzog, ließ Arn zügig ein Besitzverzeichnis, die Notitia Arnonis, anfertigen: Hunderte von Immobilien und 67 „Eigen-“, das heißt abhängige Kirchen. Karl bestätigte die Liste und damit Arns Herrschaft über die dort Lebenden. 82 Der König wies 798 den Papst an, in Bayern die Metropolitan-Verfassung einzuführen und Leo III., dessen Lebenswandel Arn entsetzt hatte, 83 erhob ihn zum Erzbischof (griech. arche, ober). EB Arn ließ sich das Bistum Säben (ab 960 Brixen) übergeben und dehnte seinen Einfluss bis nach Bozen aus. 84 Er verfügte über bedeutenden Besitz-mitMenschen im Salzburg- und Chiemgau, links des

Inn und im Innviertel sowie verstreut bis nach Augsburg (Erzbistum Mainz), Regensburg und Linz sowie im Süden bis zur Maximilianzelle (Bischofshofen), Bisontio (Zell am See) und Saalfelden. Er ließ 798 alles noch einmal umfassender in der Breves Notitiae aufzeichnen. König Karl blieb vorsichtig und übertrug das Männerkloster Chiemsee samt Besitzungen dem weit entfernten, aber Aachen nahen Bistum Metz (Lothringen). Das Frauenkloster Chiemsee, vom Herzogspaar vermutlich 782 gegründet, wurde königliche Abtei. Manche der Mönchsgemeinschaften dachten strategisch-makroregional; die Mattseer zum Beispiel hatten sich als Gründungsgenealogie eine Zuwanderung von Mönchen aus Monte Cassino überlegt. 85 EB Arn war klug und mit griechischen Werken aus Alexandria und Antiochia vertraut. Er war erfahren, selten in seiner Residenz, aber vielfach im Sattel: Königsbote, Awaren-Kriege, Synoden, Diplomatie, St. Armand (wo er bis 808 Abt blieb), oft in Aachen und Rom. Scholaren von weit her besuchten ihn und er lud einen Arzt jüdisch-slawischer Kultur ein. In Lobgesängen (carminae) anlässlich des Salzburg-Besuches des Kaisers Karl samt Entourage und einem Gesandten aus Jerusalem nannte Alkuin 803 nicht weniger als zwölf Kirchen und Kapellen in der Stadt. 86 Was nahmen die Ansässigen wahr? Den Heerzug Karls? Die Abgabenpflicht, eben noch an den Herzog, dann an fremde Grafen? Karl hatte Pläne: Um die Flusssysteme RheinMain und Donau-Inn-Salzach zu verbinden, gab er

Die Spannungen hatten auch familiäre Hintergründe. Hz Odilo (gest. 748), aus Bayern vertrieben, hatte Schutz bei Karls Großvater erhalten. Odilo und Hiltrud (gest. 754), Tochter von Karl M. und Chrotrud, begannen ein intimes Verhältnis. Als Odilo zurückkehren konnte, ermöglichte Karls zweite Frau Swanahild der schwangeren Hiltrud, ihm nachzureisen. Sie heirateten und im gleichen Jahr wurde Tassilo geboren. 81 Herwig Wolfram, Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung 378–907, Wien 1987, 98; Roman Deutinger, „Das Zeitalter der Agilolfinger“, in: Alois Schmid (Hg.), Das alte Bayern. Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter, München 2017, 124–212, hier 162–169; Stephan Freund, Von den Agilolfingern zu den Karolingern: Bayerns Bischöfe zwischen Kirchenorganisation, Reichsintegration und Karolingischer Reform (700– 847), München 2004, 141–407, Zitat 407; Maximilian Diesenberger, Predigt und Politik im frühmittelalterlichen Bayern. Karl der Große, Arn von Salzburg und die Salzburger Sermones-Sammlung, Berlin 2016; Ian Forrest, Trustworthy Men: How Inequality and Faith Made the Medieval Church, Princeton 2018. 82 Das Dokument könnte eine Auftragsarbeit als Grundlage für Karls Steuerforderungen gewesen sein. Es diente auch der Klärung von mündlich und manchmal mehrfach vergebenen Benefizien. Wilhelm Störmer, Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 11. Jahrhundert, Stuttgart 1973, 17. 83 Arns Brief über Leos Leben verbrannte Alkuin. 84 Störmer, Adelsgruppen, 162–163; Werner Rösener, „Household and Prayer. Medieval Convents as Economic Entities“, in: Hamburger und Marti, Crown and Veil, 245–258; Christoph P. Sonnlechner, „Die Etablierung Salzburgs als Netzknoten: Karolingische Kirchenstruktur, Raumstrategien und Organisation der Landnutzung um 800“, in: Caspar Ehlers (Hg.), Places of Power – Orte der Herrschaft – Lieux de Pouvoir, Göttingen 2007, 199–226. 85 Da König Karl ein Brevium exampla hatte erstellen lassen, mag er die zweite Fassung angefordert haben. König Arnulf gab das Frauenkloster an das Erzstift zurück und entschädigte den Bischof von Metz mit der einst irischen Gründung Luxeuil (Bourgogne). Mondsee samt Mönchen und Unfreien kaufte erst 1506 ein EB von einem finanzbedürftigen Kaiser. 86 Herwig Wolfram, „Arn von Salzburg“, in: Peter F. Kramml und Alfred S. Weiß (Hg.), Lebensbilder Salzburger Erzbischöfe aus zwölf Jahrhunderten = Salzburg Archiv 24 (1998), 9–22; Alkuin sandte Arn ein homoerotisches Gedicht: Lynda L. Coon, Dark Age Bodies: Gender and Monastic Practice in the Early Medieval West, Philadelphia 2011, 17–18. 80

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Abb. 6.6 Die südöstlichen Herrschaftsbereiche vor und nach 976

einen Kanal in Auftrag, doch fehlten die Fachkenntnisse, der Bau musste abgebrochen werden. Reisen oder Heerzüge über Flüsse erforderten Handwerker, die schnell Schiffe in großer Zahl bauen konnten – allein für den Herrscher eine kleine Flotte: Leibschiff (spätere Bezeichnung), Tafel- und Küchenschiff, Schiffe für die Begleiter von Rang, für Bagage und Pferde sowie für Domestiken. 87 Karl gab in Zu-Fall Sohn Pippin die raetischen, norischen und pannonischen Menschen, doch dessen Plan, sie mit Langobardia zu einer Präfektur Italien zu verbinden, zer-fiel. Innerfamiliäre HerrscherPlanung war nie intelligent design. In Karls östlicher

Enkelgeneration wurde Ludwig Rex Germaniae (im 18. Jh. ethnisiert als „der Deutsche“), dessen Sohn Karlmann Herrscher über Bayern, Italien und Ostfranken (bis 880). Sein Enkel Arnulf aus Kärnten erschien zur Königswahl mit als „Bayern“ und „Slawen“ bezeichneten, bewaffneten Gefolgschaften und wurde gewählt; Kaiser wurde er nach Besetzung Roms 896. Ihm folgte 899 sein und Otas sechsjähriger Sohn Ludwig („das Kind“) bis 911. In den drei Jahrzehnten zwischen 881 und 911 mussten die Untertanen bei jeder Neuzusammensetzung der Konglomerat-Teile Abfindungen für Abgehalfterte und Anlaiten für Neuinstallierte zahlen. 88

Zum Vergleich: In dieser Zeit bauten Fachleute in Konstantinopel mehr als 300 km Aquädukte und Leitungen, andere in Bagdad eine vier Quadratkilometer umfassende Rundstadt, solche in China 150 km Kanal. Johannes Preiser-Kapeller, Jenseits von Rom und Karl dem Großen. Aspekte der globalen Verflechtung in der langen Spätantike, 300–800 n. Chr., Wien 2018, 8–10. 88 Arnulf war vermutlich Sohn von Karlmann und der vielleicht karantanischen Luitswind. Für die zahllosen Wechsel, Sohn-Vater-Konflikte, Erbstreitigkeiten: Deutinger und Dendorfer, „Karolinger“ sowie „Liutpoldinger zu Welfen“, in: Schmid, Das alte Bayern, 213–416, hier 213–217, 261–416. 87

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West-/ Lateineuropa in der tri-kontinentalen Welt

6.5 West-/Lateineuropa in der tri-kontinentalen Welt Traditionelle karolingisch-räumliche Darstellungen sind wenig aussagekräftig, denn die regna waren Teil des human web der trikontinentalen Makroregionen, aus denen nach 1450/1526 eine „dünne“ Globalisierung hervorgehen würde. 89 Muslimische und skandinavische Herrscher-Familien dehnten ihre Machtbereiche aus, arabische Expansion und oströmische Kontraktion veränderten mittelmeerische Austauschprotokolle kaum. 90 Nördlich der Alpen verringerten die Mächtigen den marktwirtschaftlichen Austausch und Kaufleute mussten an den Rändern der Macht kommunizieren; die Kaufkraft für Luxuswaren sank angesichts der Kriegskosten der Kerle-Familie und der jährliche Heerbann verringerte die Kaufkraft Freier. Die Kriege ließen Fernhandelsrouten unsicher werden, steigerten jedoch die Menge des Zahlungsmittels Sklav*innen. Deren südliche Verkaufsroute, oft von der Residenzstadt Regensburg aus, verlief durch die Täler von Enns bis Inn und über die Pässe nach Venedig. Kaufleute dieser soeben gegründeten Stadt profitierten und Karls Annexion des lombardischen regnum ermöglichten Zahlungskräftigen Zugang zu Orientwaren. Nördlich der Alpen zwangen die Polit-Klerikalen selbst disponierende Kauf-Familien in ein Regime administrierten Handels im Rahmen von Erz- und Salz-Regalen sowie als Agenten Plündergut-reicher Krieger. Sie sandten untere Kleriker als Direkteinkäufer zu MittelmeerHäfen, um zum Beispiel granatverzierte (liturgische) Objekte und golddurchwirkte Stoffe zu erwerben. König Ludwig stellte 828 seine Hofkaufleute unter Schutz und der Passauer Bischof erklärte seine Lieferanten zu negotiatores sancti. Grabbeigaben taufchristlicher Oberschichten im Donauraum umfassten ostrogotische, alemannische, thüringische und langobardische Produkte und aus weiterer Ent-

fernung Amethyst- und Millefioriperlen, Elfenbeinringe, Kaurischnecken, Muschelscheibchen. Beigaben waren vorchristlicher Brauch, aber christliche Bräuche waren weder allgemeine noch einzige Praxis, nur die alt-christlichen Romanen beerdigten beigabenlos. 91 Erst als seit dem 9. Jahrhundert Handwerker- und Handels-Familien – zum Teil mit teuer erkauften Herrscher-Privilegien – Städte entwickelten, wuchs der Handel und in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts sah ein Gesandter des Kalifen aus Córdoba in Mainz auf dem Markt Gewürze aus Südostasien, arabische Silber-dirhams und Münzen aus Samarkand. 92 Da das Geldwesen unzulänglich geworden war, die konstantinische Goldwährung nur noch Rechengröße und Münzen uneinheitlich, entschieden sich die Ökonomen Karls d. G. angesichts großer Silbervorkommen im Harz, in Böhmen und in Melle (Poitou) für eine einheitliche Silberwährung. Münzer prägten aus einem Gewichtspfund 240 (sehr dünne) Pfennige oder Denare; ein Pfund Pfennige bestand aus zwanzig Schillingen zu zwölf Pfennigen; vier Pfennige bildeten einen Kreuzer. In den oströmischen und arabischen HB blieb Gold Währung und die Kontaktregion erstreckte sich von Konstantinopel über Anatolien und Palmyra sowie von Alexandria und Shiraz durch das iranische Hochland nach Buchara, Samarkand und Kashgar. Karawanenkaufleute aus Zentralasien und China erreichten die Städte der Levante, See-Kaufleute aus Indien und Südostasien persische und ägyptische Häfen. Etwa zeitgleich zu Mero-Karolingia gründeten die Familie der Umayyaden (41 Anno Hegirae, 661 Anno Domini) 93 und, nachfolgend, die der Abbasiden aus Chorasan (132 AH, 750 AD) ihre Herrschaft. 94 Mohammeds Nachkommen expandierten wie die Karl-Familie und Ge-

William McNeill und John McNeill, The Human Web: A Bird’s Eye View of World History, New York 2003; Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt: Eine Globalgeschichte 1780–1914, übers. von Thomas Bertram und Martin Klaus, Frankfurt/M. 2008 (engl. 2004). 90 Fowden, Empire (1993); Wickham, Framing (2005); Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton, rev. 2007. Vgl. auch Jack Goody, The Theft of History, Cambridge 2006. 91 Zu Verteilungsmustern Jörg Drauschke, Zwischen Handel und Geschenk. Studien zur Distribution von Objekten aus dem Orient, aus Byzanz und aus Mitteleuropa im östlichen Merowingerreich, Rahden/Westfalen 2011, 46–47 passim, 266. 92 Frankopan, Silk Roads, 116–123; Franz Irsigler, „From Captive Manorial Trade to Free Urban Trade. On the Development of the Division of Labour in the Rhineland-Westphalia Region (9th–15th Centuries)“, in: Bruno Blondé, Eric Vanhaute und Michèle Galand (Hg.), Labour and Labour Markets between Town and Countryside (Middle Ages–19th Century), Turnhout 2001, 42–52. 93 Die islamische Mondjahr-Zeitrechnung beginnt mit der Emigration Mohammeds nach Medina. 94 Chorasan war die Ursprungsregion der zoroastrischen Religion; islamische Gelehrte wie Avicenna/Ibn Sina sprachen Persisch; Administratoren und Soldaten entstammten vielen Kulturen. Persianate culture war übergreifend wie die hellenische. 89

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Abb. 6.7 Wer bedroht wen? Pfeilschnell aus Norden, Osten, Süden – oder Ziel-genaue Pfeile für ein Geschichtsbild?

sandte des Kalifen al-Mansur verhandelten 768 mit Pippin. Die vielkulturellen muslimischen Expansionsheere, die weder ländliche Bevölkerungen vernichteten noch deren Alltagsleben veränderten, eroberten das nordafrikanische Küstenland und setzten 711 auf die iberische Halbinsel über. Die syrischen und arabischen Zuwander*innen entwickelten AlAndalus zu einer tri-religiösen und europaweit intellektuell, kunsthandwerklich und landwirtschaftlich führenden Kultur. Razzien – sarazenische nach Gallien und fränkische nach Andalusien – endeten 732 bzw. 778 mit Niederlagen. 95 Arabische Krieger ohne Aufgabe ließen sich in Südfrankreich nieder. Im Rhône-Tal handelten „Juden“ und – je nach christlicher Variante – „Syrer“ und „Griechen“. Im Osten sperrten vordringende bulgarische Herrscher und Heere die via Egnatia zwischen Konstantinopel und Adria (7. Jh.). Awaren-Herrscher ließen laut

Behauptung lateinchristlicher Chronisten den Transithandel nicht zu, doch nutzten viele Transitreisende die Infrastruktur unbehelligt. Aus südmittelmeerischer Sicht schienen Austauschbeziehungen im Raum des nördlichen Mittelmeers, der „Ostsee“ und der offenen, rauhen Nordsee, gering. „Wikinger“ genannte Verbände drangen zerstörerisch über Elbe, Rhein, Loire und Themse ein und unfreie ländliche Menschen flohen in einem Ausmaß, dass den Grundherren Arbeitskräfte fehlten. König Karl d. K. (der Kahle) bot ihnen keinen Schutz, sondern ordnete in den 860er Jahren nur an, dass sie in den arbeitsintensiven Zeiten auf dem Land zu sein hätten. Verbunden mit dem bereits von Karolingia annektierten friesischen Dorestad betrieben Wikinger Handelsemporien mit Haithabu (Jütland) und Birka (Südschweden) als bekannteste Zentralorte, die auch fränkische und arabische Handelspartner ansteuerten. Haithabus

Die fränkische Niederlage bei Roncesvalles verwandelten erst im späten 11. Jahrhundert die Dichter des „Rolandliedes“ in Heldentum und vermarkteten sie literarisch. De facto hatte Karl seine unbezahlten Soldaten die christliche baskische Stadt Pamplona plündern lassen und die erbitterten Städter vernichteten seine Nachhut.

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West-/ Lateineuropa in der tri-kontinentalen Welt

Abb. 6.8 Wer hält Kontakt mit wem? Imperiale Formationen um 800 jenseits von Rom und Aachen

Bewohner*innen importierten Lofoten-Fisch von nordnorwegischen Fischern wie einst iuvavische Römer*innen Mittelmeer-Fisch. „Normannen“ genannte, anders strukturierte Verbände erreichten im 10. Jahrhundert die nach ihnen benannte „Normandie“ und die angelsächsisch besiedelten Inseln. Sie verbanden sich mit einheimischen Frauen, deren Netzwerke und Sprachkenntnisse es ihnen ermöglichten, Herrschaft nicht als Fremdherrschaft zu organisieren. Über die Ostsee handelten „Gotländer“ Richtung Neustadt, russ. Nowgorod, und später unterwarfen „Waräger“ Slawisch Sprechende entlang Dnepr und Wolga. Sie handelten über die Itil (türk. für Wolga) am Kaspischen Meer mit persischen und arabischen Fernkaufleuten. Ihre von Norden via Gibraltar segelnden Vettern eroberten ab 1061 das arabisch-muslimische Sizilien. Salzburgs Kleriker nahmen Normannen aus Konstantinopel in ihre Legenden auf (s. Kap. 9.2). Der griechisch-oströmische Macht- und Wirtschaftsbereich, dessen Getreideversorgung aus Ägypten nach der Machtübernahme durch persische (619) und islamisch-arabische (642) Heere

endete, war dem lateinischen in materieller Kultur und Wissenschaft weit überlegen. Beide Seiten, uneinig über Liturgie und Glaubenssätze, waren sich einig in der Ablehnung muslimischen Glaubens. Sie dachten Heiratsprojekte an und verwarfen sie wieder. Über Palermo und Konstantinopel kauften Lateineuropas Magnaten Seiden, gefertigt von Spezialist*innen in China, 96 zeigten jedoch an den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen unter den T’ang und Song, 618–1279, kein Interesse: Die Kaiser hatten Macht und Landbesitz der großen Familien beendet und stützten sich auf ein qualifiziertes meritokratisches Verwaltungspersonal. Ländliche Familien bearbeiteten und vererbten, kauften und verkauften ihr Land und ermöglichten als dynamische Migrant*innen das schnelle Wachstum urbaner Zentren. Der Kaiser zelebrierte die unlösliche Verbindung von Staat-Dynastie und Agri-Kultur: In jedem Frühling begab er sich zum Altar der Feldarbeit im Tempel des Himmels und zog rituell die erste Furche. Die Hauptstädte Kaifeng und Hangzhou wuchsen auf jeweils knapp eine Million Einwohner*innen, unter ihnen nestorianische Chris-

Die Raupe Bombyx mori in Nordchina produzierte besonders kräftige Fäden und schon vor 2000 v. u. Z. konnten Spinner*innen die Kokons aufdrehen und die Fäden verzwirnen. Elizabeth J. Wayland Barber, „Early Textiles“, in: Mair, Secrets of the Silk Road, 70–78, bes. 77.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Abb. 6.9 Vergleichende Perspektive: Islamische, orthodox- und lateinchristliche Herrschaftsbereiche um 800

ten. 97 Fachleute trugen das Wissen um die Seidenherstellung nach Konstantinopel und Siziliens König Roger II. (1095–1154) siedelte – unter Zwang – Seidenweber*innen nach Palermo um. Christliche und islamische Eliten hielten diplomatischen Kontakt, eine Gesandtschaft des Kalifen Harun-ar-Raschid (Hārūn ar-Rašīd) erreichte im Jahr 802 Aachen, eine des Kaisers Karl 806 Bagdad. 98 Über die ungeheuer reichen Geschenke des Kalifen staunten – wie intendiert – klerikale und weltliche Magnaten. In moderner, ethnisierender Sprachweise übergaben ein „Perser“ aus Bagdad, ein „Afrikaner“ aus Tunis, ein „Jude“ und umfangreiches Begleitpersonal einen Elefanten – angesichts seiner Größe und Sichtbarkeit ein Prestigegewinn

für Karl. Ein Löwe und ein Bär sollten die räumliche Ausdehnung der Macht des Kalifen demonstrieren. Luxuszelt, Seidenstoffe, Kandelaber, wohlriechende Salben und Balsame bezeugten die islamische Handwerkskunst und eine kunstvoll gearbeitete Wasseruhr zeigte die „Himmelmechanik“ umfassender und die Stunden anmutiger als im Westen bekannte Chronometer. Verhandlungsziel der karolingischen Seite war, Christen in Jerusalem Unterstützung zukommen zu lassen. Da es meist zwei Lesarten eines Übereinkommens gibt, mag die andere Seite dies als Tribut interpretiert haben. Karls Propagandisten verkündeten, dass der Kalif Jerusalem dem Kaiser unterstellt hätte. 99

China-Spezialist*innen verweisen seit langem auf die Notwendigkeit, Herrschaftssysteme vergleichend zu erforschen. Morris Rossabi (Hg.), China among Equals: The Middle Kingdom and Its Neighbors, 10th–14th Centuries, Berkeley 1983; Dieter Kuhn, Die Song-Dynastie (960 bis 1279). Eine neue Gesellschaft im Spiegel ihrer Kultur, Weinheim 1987. Um Europa zu verstehen, wären ebenso Vergleiche mit den indischen Welten notwendig. Susanne Weigelin-Schwiedrzik und Dietmar Rothermund (Hg.), Der Indische Ozean: Das afro-asiatische Mittelmeer als Kultur- und Wirtschaftsraum, Wien 2004; und Sheldon Pollock, Language of Gods in the World of Men: Sanskrit, Culture and Power in Premodern India, Berkeley 2006. 98 Zu ergänzen ist, dass der Kalif durch den Kontakt zum Kaiser im Westen seinen Gegner, den Kaiser im Osten, ärgern konnte. Die Zusammenfassung folgt Hägermann, Karl, 460 passim. 99 David Abulafia (Hg.), The Mediterranean in History, London 2003, bes. Michel Balard, „A Christian Mediterranean: 1000–1500“, 183–217; Michael Cook, „The Centrality of Islamic Civilization“, in: Kedar und Wiesner-Hanks, Expanding Webs, 385–414. Der belgische Historiker Henri Pirenne interpretierte das Vordringen fälschlich als Ende des Mittelmeerhandels (Mahomet et Charlemagne, 1922, erweitert 1937); der algerisch-französische Historiker Maurice Lombard sah eine islamische Blütezeit und Kontakte zu „westlichen Barbaren“, L’Islam dans sa première grandeur, VIIIe–XIe siècle, Paris 1980 (dt. 1992). 97

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Zentrale Herrschaft, Familien, Fehden: Prozessuale oder holperige Strukturen?

Abb. 6.10 Vergleichende Perspektive: Islamische Herrscher-Familien, 7. bis 16. Jh.

6.6 Zentrale Herrschaft, Familien, Fehden: Prozessuale oder holperige Strukturen? Herrschaft, meist als Besitz von Territorien definiert, zielte auf handelnde Menschen in Wirtschaftsräumen und strategische Routenplaner konzipierten Karls Übergang von fragmentierter zu großflächig-durchdachter Herrschaft. Statt extern

aus kolonialisierten Provinzen wie die RR-Eliten, finanzierten sich die Nachfolgeeliten aus interner Kolonisation. Den Unfrei-Gemachten war, wie Kolonisierten überall, eine eigene Geschichte nicht erlaubt – auch dies Strategie. Die Territorien-Begriff177

Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

lichkeit beseitigt die sozial-hierarchische Dualität aus dem Denken: Konnotativ setzt „Bayern“ Territorium und Menschen als eine Einheit statt als geschichtete Recht-habende Herrscher und Rechtlose Unter-worfene. Sprache kann Herrschaftsinstrument und Denkhindernis sein. Wirtschaftlich beruhte das Kartellregime auf Austauschhierarchien „negativer Reziprozität“: „Feudal“ wie „kolonial“ bedeutete „the extraction of surplus labor through ground rent by a class of landlords from a dependent peasantry“. 100 Abgaben ohne Gegenleistung sind nicht Steuer, sondern Raub. „Machtgefälle ermöglichten es der Zentrale, die Mehrheit der Tauschobjekte für sich zu bewahren“ und als Gunsterweis an ausgewählte Personen weiterzugeben. 101 Da die Zahlungspflichtigen keinen Anreiz zu höherer Leistung hatten, mag diese Renten-Wirtschaft Stagnation bewirkt haben. Die Magnaten und ihre Intellektuellen platzierten die Unter-worfenen außerhalb des Herren-Rechtes. So wurden ihnen Rechte nicht genommen, denn sie hatten keine. Herrschaftsgründung durch Fronzwang, Versklavungen und Plünderungen lässt sich als organisierte Kriminalität fassen (C. Tilly). Politiktheoretisch sollte legitime Gewalt (force), finanziert durch Schutzgeld, illegitime (violence) verhindern und somit das stabile Funktionieren einer Gesellschaft ermöglichen. Für die Unterworfenen stand die Kosten-Nutzen-Relation im Raum: Sind die Schutzleistungen den Preis wert? Die Kosten waren hoch und Leistungen gering, die Kerle-Herrscher boten während ihrer Thronkämpfe kaum Schutz, lokale Magnaten eigneten sich den Einzug des Schutzgeldes an. Die Verfasser des Schwabenspiegels notierten, „Wir sullen den Hern darumb dienen, das sie uns schirmen“, und fügten hinzu: „An als sie die Lant nit schirment, so sint sie nicht Diensts schuldig.“ Widerstand war Recht-mäßig. 102 Das Interpretationsraster „Feudalismus“, dessen vage Begriffe Personenverband, Vassallentreue, Feu-

dalstaat die englische Historikerin Susan Reynolds kritisierte, nimmt dies nicht auf. „Lehen“ (feodum) verdinglichte die Beziehung von Macht-Habern über Lehens-Nehmer zu Mehrwert produzierenden Hörigen. „Verband“ bedeutete Einigung auf Zeit durch Schwur gegenüber einem Anführer; „Staat“ hätte Struktur, Stabilität und Dauer erfordert: Gewaltmonopol, fest umgrenztes Territorium, einheitlich durchgreifende Verwaltung. 103 Das normative Postulat „Treue“ ist, abgesehen von der Zeremonie des „Handgangs“, bei der ein kniender Vasall seine Hand in die des stehenden Herren legte, empirisch schwer zu belegen. Vasallen wurden bezahlt und beide Seiten, in erster Linie dem Wohlergehen (Dynamik) ihrer Familie verpflichtet, verfolgten jeweils eigene Ziele. Herrschaft umfasste Familienbesitz (statisch), war jedoch Familienbetrieb (dynamisch) bei gleichzeitigen intra- oder interfamiliären Konkurrenzen sowie Erbteilungen. Die Bezeichnung prachtvoller Sitze von Herrschern als Hof – nach den karolingischen Domänen – und, im nächsten Schritt, als Hof-Staat zeigte die extreme Verformung des Begriffes „Staat“. Als weiteres Kriterium für „Staatlichkeit“ gilt Innen- und Außenwahrnehmung als politisches, nicht familiäres Gebilde (polity). Doch beruhten die HB mit vielen Identifikationsgruppen (nicht: „Völkern“) und vielfach verschobenen Grenzen auf temporären Loyalitäten und oft unübersichtlichen Aushandlungsprozessen. 104 Die temporären – und oft chaotischen – Regimes stellten Herrschaftsideologen vor Probleme. Sie schrieben besonders im 11./12. Jahrhundert die Macht des Landbesitzerkartells als unabänderliche Ordnung, ordo, fest. Ihr Ideologem postulierte ein gottgewolltes Regime dreier Stände: oratores, bellatores, laboratores. Analytisch passender wäre die Zweiteilung von Macht-Habern mit Bewaffneten und Ideologen vs. Unterworfene. Oder, in anderer Perspektive, eine Schicht mit und eine ohne Geschichte: Ahnenkult, in Europa Genealogie genannt, verankerte Macht. Die Ideologen konnten

Mann, Social Power, Zitat 1:375; Eric R. Wolf, Europe and the People without History, Berkeley 1982. Berta Stjernquist, „Methodische Überlegungen zum Nachweis von Handel aufgrund archäologischer Quellen“, in: Düwell u. a., Handel und Verkehr, 1:56–83, Zitate 61, 64 (abgewandelt D. H.); Hildegard Adam, Das Zollwesen im fränkischen Reich und das spätkarolingische Wirtschaftsleben, Stuttgart 1996. 102 Zitiert in Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 133. 103 Seit „Staat“ nicht mehr automatisch gesetzt wird, hat sich eine weite Debatte von Max Weber über Charles Tilly und Anthony Giddens zu James C. Scott und vielen anderen entwickelt. 104 Gerd Althoff, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart 2000; Walter Pohl, „Staat und Herrschaft im Frühmittelalter: Überlegungen zum Forschungsstand“, in: Stuart Airlie, Walter Pohl und Helmut Reimitz (Hg.), Staat im frühen Mittelalter, Wien 2006, 9–38. 100 101

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Zentrale Herrschaft, Familien, Fehden: Prozessuale oder holperige Strukturen?

die labilen Familien-Verhältnisse nicht fassen: Bellatores, deren Frauen im Konstrukt fehlten, hatten erbberechtigte Kinder, sie selbst individuelle und familiäre Interessen. Dies machte ordo un-ordentlich. Ein Marktmodell, begrenztes Angebot von Territorien-mit-Menschen und große Nachfrage, hätte einen Fragilitätsfaktor berechnen können. 105 Der Slogan „ora et labora“ schuf ebenfalls nicht Zusammenhang, denn den bella/ora-tores galt Arbeit als unwürdig und sie erwarben und verschenkten die Arbeitenden wie Waren. Eine Gesellschaft gab es nicht. 106 Die Widersprüche der Dekrete der maiores natu und potentes gegenüber den Unterschichten – besser: der Untermasse – suchten im 12. Jahrhundert der Mönch Gratian und Co-Schreibkundige in Bologna und Rom in ihrer „Zusammenstellung und Vereinheitlichung widersprüchlicher Regeln“ (Concordia discordantium canonum) zusammenzuzwingen. Sie kompilierten kirchliche Dekrete, Papstbriefe, Protokolle von Konzilen und Synoden, Zölibatfordernde Texte und anderes – manches gefälscht, vieles parteilich ausgewählt, alles ohne Quellenkritik. Gratian leitete mulier (Frau) von mollities mentis (weichem Geist) ab, vir (Mann) von virtus animi (Stärke der Seele). Er stand dem Volk, vulgus, feindlich gegenüber, beklagte „vulgäres“ Feiern bei Heiligenfesten und kannte lokale Weistümer nicht. Den Kodex Kaiser Justinians reduzierte dies „esoterische“ lawyers’ law (S. Reynolds) auf grob vereinfachendes Besitzrecht. Die Recht-Schaffenden schufen sich, wie die Theologie-Professionalisten vor ihnen, ein Einkommens-generierendes Tätigkeitsfeld: Als lizensierte Fachleute für Dekrete, licentiati in decretis, verabsolutierten sie ihre Kompilation zu lateineuropaweit gültigem Corpus Iuris Canonici. 107 Salzburger Mönche kopierten den Text des Decretum Gratiani (~1140) bereits um 1170/80. 108 Die im Salzburger Urkundenbuch verzeichneten Rechtsgeschäfte der EB betrafen Landbesitz; sie erwähnten bewirtschaftende Unfrei-Gemachte nur selten, Religion oder Spiritualität nie. 109 Anders als die fixistischen Dekretisten passten die Magnaten ihre Strategien ständig der Summe

des Handelns aller mitagierender Familien, besonders deren Oberhäuptern, an. Intrafamiliär war mit jeder Geburt eines Sohnes zukünftige Ressourcenteilung neu zu durchdenken, mit Geburt einer Tochter Ressourcenarrondierung oder Heiratsbeihilfe zu planen. Elterliche Strategien zielten auf langfristige Positionierung, Geschwisterkonkurrenzen und Erbrecht bedeuteten Taktieren und Gewalt. Familiäre Erbteilung – nicht Feudalstaats-Teilung – erforderte ausreichende Verteilungsmasse. Wer strategische Kompetenz nicht erreichte, verlor Position und Rang. Kleriker blieben Teil ihrer Geburtsfamilien: Sie tauschten Besitz mit Angehörigen, manche statteten Verwandte mit Kirchengut aus oder liehen sich bewaffnete Gefolgsleute von Brüdern. Dem Salzburger EB Arn folgte 821 seine Neffe Adalram; EB Friedrich installierte 971 seinen Neffen Pilgrim in Passau. Als dieser, kaum geweiht, Besitztitel fälschte, antwortete Friedrich mit Gegenfälschungen, um sein Familienmitglied nicht vor Papst und Kaiser anklagen zu müssen. „Familie“ erforderte Entscheidungen, Revokationen, Neuorientierungen: ungeteilter „Stammsitz“ an einen Sohn, intergenerationell besessene Kirchenämter an andere; zur Erweiterung von Territorien Töchter/Schwestern als Ressourcen und Mitwirkende. Hinter der Schausteller-Fassade von Insignien, Auftritten und Prozessionen bedeutete Maskulinität Waffengeklirr, „Ehre“, konkurrierende Männlichkeiten. Frauen beteiligten sich eher strategisch: Heirateten sie oder wurden transterritorial ge- und verheiratet, brachten sie in das Zweck-Bündnis ihre Netzwerke ein. Diese ließen sich anders als Kettenhemden in Gemälden und historischen Landkarten kaum darstellen. Die Gesamtheit der genealogiae-Familien war „näher oder entfernter miteinander oder gar mit [einem Herrscher oder] dem Kaiser verwandt“, „Königsnähe“ brachte einträgliche Positionen und Verleihungen. Elitenkonkurrenz und -kooperation fragilisierte oder stabilisierte Machtpositionen; vergangenheits-abgeleitete Herkunft festigte Status, aber ihr fehlte der dynamisch-zukunftsträchtige Aspekt. Die Beherrschten in den vielen regionalen

Zum Gesamtansatz vgl. Rachel M. McCleary (Hg.), Oxford Handbook of the Economics of Religion, Oxford 2011. Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 2001, 51–70; Fichtenau, Lebensordnungen, 13. 107 Susan Reynolds, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted, Oxford 1994. Macy, Hidden History, 111. 108 Bayerische Staatsbibliothek, Clm 13004, 342 Bl. 109 Die Kirchendikta, die Papst Gregor IX., Neffe von Innozenz III., von einem iberischen Dominikaner als Nova Compilatio Decretalium 1230 zusammenfassen ließ, blieben bis 1917 gültig. 105

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Welten waren der transeuropäischen Oberschicht nur durch Unterhaltspflicht und Mit-Leiden in Fehden und Kriegen verbunden. 110 Intergenerationelle Strategien umfassten ein „Ansippen“ durch Entsendung von Kindern in einen befreundeten Haushalt und „Absippen“ durch Entsendung von Söhnen in Kriege und Töchtern in Klöster. Überstiegen Versorgungsfälle und Anspruch-Stellende die Ressourcen, mussten diese – oft gewaltsam – erweitert werden. Aus Konjunkturen der Oberschichtendemografie im Verhältnis zur Abschöpfungsbasis ergaben sich Phasen intensiven Burgenbaus oder „Rittersterbens“. Suchten Mächtige (potenzielle) Konflikte durch Verhandlungen zu entschärfen oder zu lösen, erforderte dies vielfältige Botengänge, Aushandeln jedes kleinsten Schrittes vor Zusammentreffen der Kontrahenten, Geschenk-, Geisel-, Gefangenenaustausch; alles begleitet durch zahlreiche Zeugen, die ihrerseits die eigene Position durch Gefolge demonstrierten. Diese „Spielregeln der Politik“ analysierte Gerd Althoff, doch ließe sich über den Begriff „Spiel“, besonders „Kriegsspiel“ oder „kostspielig“, reflektieren. 111 Maiores natu suchten kontinuierlich zusätzliches materielles Kapital, denn Zurschaustellung als demonstrativer Konsum erforderte auch Patronage von Kunst, Kirchen und Intellektuellen. Sie verließen sich – anders als Handwerker auf funds of knowledge – nicht auf flexible funds of rituals, sondern sie fixierten soziale Gesten, Gnade und Ungnade, Friedensrituale oder Erniedrigungen. Höfe waren Orte von Unterwerfung oder Erbauung, von Wut und Zorn, von Dankbarkeit und Servilität. Jede Position und jeder Akt waren visuell zu demonstrieren durch Kleidung und Waffenschmuck, geistliche Gewänder oder Rüstungen, die Qualität der Pferde, großes Gefolge. Jedes Durchbrechen der „Ehre“ genannten Hack-ordo erforderte Strafen, Rückzüge, Angriffe. (Ochsen-) Ziemer –

oder Schwert und Strafen an „Haut und Haaren“ (Prügel und Scheren 112) – erzwangen „geziemendes“ Verhalten. Herabsetzungen, das heißt zunehmende Entfernung vom Herrscherpaar in der Tisch-ordo, bewirkten Streit bis zu blutigen Prügeleien und Exkommunikationen. Auf, nach Eigensicht, beschädigte Ehre folgten sogenannte „Fehden“ als Wirtschaftskriege: Zerstörung von Produktionsstätten und Tötung unterhaltspflichtiger laboratores. Fehde zielte auf solche, die keine Waffen besitzen und sich nicht wehren durften, nicht, wie Turnierspiele, auf „ritterlichen“ Zweikampf. 113 Die Fehde eines Grafen in Bogen und eines Pfalzgrafen in Ortenburg (westl. Passaus) ab 1192 und die Folgen für die „Besessenen“ – Individuen mit eigenem Handeln und Emotionen – beschrieb Abt Poppo in Niederaltaich. Die gräflichen Gewalttäter ließen Dörfer und Kirchen verwüsten, Frauen, Kinder und Gesinde abwesender Kreuzritter ausrauben, Frauen vergewaltigen und eine klösterliche Siedlung für Witwen zerstören. Sie stahlen Pferde, zerstörten Werkstätten, verübten Brandstiftungen, klauten liturgische Bücher, zogen Priestern und Scholaren die Kleidung vom Leib. Als einer der Kontrahenten in einem Kreuzkrieg umkam und der Krieg endete, waren die Ackergebiete so wüst und von Dornengestrüpp überwuchert, dass sie neu vermessen werden mussten. 114 Die konkurrierenden Salzburger EB-Aspiranten Thiemo und Berthold ließen in ihrer Fehde von 1090 bis 1098 Ländereien und Städte verwüsten und in einer zweiten Großfehde, 1247 bis 1256, „opferten“ EB Philip und EB Ulrich die Bevölkerung eines Tals, verschleuderten Kirchengut, setzten „Nichtswürdige“ ein (H. Dopsch). 115 In Münster, dem nach Salzburg zweitgrößten Missionsbistum, verwüsteten nach dem Tod eines Amtsinhabers Nachfolgekandidaten „die Güter und Besitztümer unserer Kirche durch Raub und Brandstiftung in tyrannischer Weise“ und vertrieben die Hörigen

Barbero, Karl, 344; McKitterick, Frankish Kingdoms, 41. Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997; Richard A. Preston und Sydney F. Wise, Men in Arms: A History of Warfare and Its Interrelationships with Western Society, 11956, New York 41979, 80–97. 112 Abgesetzten Herrschern oder Amtleuten wurden die Haare geschoren; Tonsur bedeutete Unterwerfung unter einen Abt. 113 Jeppe B. Netterstrøm und Bjørn Poulsen, Feud in Medieval and Early Modern Europe, Oxford 2007, darin Netterstrøm, „Introduction: The Study of Feud in Medieval and Early Modern History“, 9–67; Hillay Zmora, „Values and Violence: The Morals of Feuding in Late Medieval Germany“, ebd., 147– 160 (zu Historiografie und „deutschem Sonderweg“ von Otto Brunner); Christine Reinle, „Peasant’s Feuds in Medieval Bavaria“, ebd., 161–174, betont, dass auch ländliche Gemeinschaften sich befehdeten. 114 Benedikt Braunmüller, „Drangsale des Klosters Nieder-Altaich im J. 1226“, Wiss. Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner-Orden 2/1 (1881), 99–108. 115 Heinz Dopsch, „Hochmittelalter“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:229–436, hier 251–254, und 437–443. 110 111

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Zentrale Herrschaft, Familien, Fehden: Prozessuale oder holperige Strukturen?

Abb. 6.11 Heiratsnetzwerke ausgewählter Eliten, 1000–1200

„durch Gefangennahme und vielerlei gewaltsame Leistungsforderungen aus ihren Wohnsitzen“ (1273). Diese „versteckten sich, wo sie nur konnten, wie Flüchtlinge“ und bestellten „die Felder nicht mehr“. Niederösterreichische Zustände beschrieb der Autor von „Seifried Helbling“: Überfall eines Ritters auf eine Bauern-Familie; Raub und Zerstörung der Arbeitsgeräte; gang-rape der Magd; Zerstörung der gesamten Hofstelle durch Feuer. Ohne spezifische Fehde, aber mit System, unterdrückten viele Vögte Bevölkerungen; Burgherren ohne Mittel nahmen Männer ohne Mittel in Dienst und ließen sie sich „Entlohnung“ auf eigene Faust beschaffen. Gewalt hatten bereits die Beschwerdeführer von 811 angeprangert, kooperative Intelligenz und community waren keine Herrscher-Konzepte. 116

Für raumgreifende Gewalttätigkeit gegen Nachbarherrscher und Kaiser forderte der österreichische Hz Friedrich II. (h. 1230–1246) Sondersteuern auch von Familien, deren Hufen bewaffnete Haufen bereits verwüstet hatten. Für alle kam natürliche Unbill hinzu: zwischen 1233 und 1235 extrem strenge Winter, verheerende Überschwemmungen und Wolkenbrüche. Erneute menschengemachte Unbill folgte, als der Kaiser 1236 die Reichsacht gegen den Streiter verhängte, „zu seiner eigenen Besserung und zur Wahrung des Rechtes […, damit er] aus Erfahrung lerne, wie man Gott fürchten [solle] und unsere Person“. Die exekutierenden Söldner, sichtbar fremd als „Deutsche“ und „Böhmen“ bezeichnet, verwüsteten und plünderten. Ruhe brachte erst der Kriegstod des Herzogs 1246. 117

Epperlein, Bäuerliches Leben, 85, Zitate 161–164; Georges Duby, The Early Growth of the European Economy: Warriors and Peasants from the Seventh to the Twelfth Century, übers. von Howard B. Clarke, London 1974 (frz. 1973); Reuter, „Plunder and Tribute“, 83. 117 Die Lieder Neidharts von Reuenthal, hg. von Friedrich Keinz, Leipzig 1889, 21910, 19; Ulrich Seelbach, „Hildemar und Helmbrecht: Intertextuelle und zeitaktuelle Bezüge des ‚Helmbrecht‘ zu den Liedern Neidharts“, in: Theodor Nolte und Tobias Schneider (Hg.), Wernher der Gärtner. „Helmbrecht“, Stuttgart 2001, 45–69, bes. 48–49, Zitat 48. 116

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Zeitgenossen kommentierten die Gewalt. Im Gallien des 5. Jahrhunderts bat in einer Komödie ein „Querolus“ seinen Hausgott, „dass es mir erlaubt sein soll, die zu berauben, die mir nichts schulden; Fremde umzubringen; Nachbarn zu berauben und zu töten.“ Der Gott lacht ihn aus: „das ist Raub“. In De gubernatore Dei – in Kontrast zu Augustinus’ De civitate Dei – bezeichnete der in Köln, Trier und Marseille lebende Salvian um 400 Abgaben erzwingende Stadträte und Grundbesitzer als Tyrannen, Reiche als schlimmste Räuber, sexuell missbrauchte Frauen als Versklavte. Gegen aufgezwungene Unfreiheit sei Widerstand rechtens. Im 10. Jahrhundert suchten Vertreter der Gottesfriedensbewegung das – handwerklich ausgedrückt – aus den Fugen geratene Regime wieder ins Lot zu bringen (s. Kap. 7.10). Unterschichten legten ihr Gesellschafts-Verständnis am Beginn der Befreiungskriege („Bauernkriege“) nieder und in den cahiers de doléances am Beginn der französischen Revolution. Noch Anfang des 16. Jahrhunderts, als ein Bettelmönch am württembergischen Hof Anklage gegen Straßenräuber erhob, konterten die anwesenden „Ritter“ lautstark, dass dies „aim alten, vermainten privilegio inen ahten zugelassensein, uf den straßen unstrefflichen zu rauben.“ Laut Chronist mahnte der Markgraf, „Es geet wohl hin, den kaufleuten die deschen zu schütlen, aber allein am leben solt ir inen nichts thun“. 118 Die Systemanalyse einfacher Menschen verschriftlichte der Autor eines Fastnachtsspiels des 15. Jahrhunderts. Er ließ einen Ritter seinen (Klassen-) Standpunkt zusammenfassen: Sollte immer Frieden bleiben, die Bauern würden den Adel vertreiben. Sie würden am Ende so übermütig und geil, sie machten uns Burgen und Städte feil. Der Bauer möchte als Bürger leben, der Bürger als ein Edelmann.

Darum mag uns der Krieg frommen, dass sie nicht über uns kommen. Sie müssen mit uns teilen fürwahr heuer wie vor hundert Jahr. 119 Eine plausible Erklärung des kriegerischen Komplexes bieten, wie erwähnt, Theorien zu Kolonialismus: Eine politisch-militärisch machtvolle Elite-mit-Bewaffneten gliedert sich unter ihr stehende, unmittelbar benachbarte oder ferne Wirtschaftseinheiten ein und beutet die Mehrheiten anderer Sozio-, nicht Ethno-Kulturen aus. Griechische Stadtherrschaften kolonisierten überseeische „Schatzgebiete“ im Mittelmeerraum, dänische Herrscher im nordatlantischen Raum Island und Grönland, wo es Walross-Elfenbein gab, englische Herrscher später Irland. Die fränkische Elite hatte zuerst gallische, dann Menschen friesischer, sächsischer, slawischer und bayerischer Identifikationen zu kolonisierten Unfreien gewandelt. Die Zerschlagung der Wehrkraft der Unterworfenen, festgelegt in den Kapitularien Karls d. G., war für Herrschaft unabdingbar. Foucault nannte dies biopouvoir, die Körper kolonisierter Männer und Frauen arbeiten für das leibliche Wohl und den Luxus ihrer Unterdrücker. 120 Die dafür notwendige „strukturelle Gewalt“ analysierte der norwegische Soziologe und Theoretiker Johan Galtung. 121 Wiederum zeigt eine vergleichende Perspektive andere Optionen: In der westafrikanischen Zivilisation entlang es Niger-Flusses, dem Herrschaftsbereich Mali, galt im 13. Jahrhundert Gelehrsamkeit als Statussymbol. Gelehrte und Adlige in den Großstädten Timbuktu, Gao und Djenné schrieben und sammelten Bücher als Repositorien von Wissen. Ibn Khaldun (Ibn Ḫaldūn, 1332–1406) analysierte in der Muqaddima – der Einleitung seiner siebenbändigen Universalgeschichte – Gemeinschaft, ʿ aṣabīya, auf der Basis ökonomischer Ansätze, die Wissenschaftler in Lateineuropa erst im 18. und 19. Jahrhundert entwickeln würden.

Wickham, Framing, Zitat „Querolus“, 177 (Übersetzung D. H.), Salvian ebd., 62–63, 568 passim, 573, und weitere Beispiele 63, 573; Werner Rösener, „Zur Problematik des spätmittelalterlichen Raubrittertums“, Festschrift für Berent Schwineköper, hg. von Helmut Maurer und Hans Patze, Sigmaringen 1982, 469–488, Zitat 471. 119 Epperlein, Bäuerliches Leben, Zitat 165 aus einer Sammlung von Fastnachtsspielen. 120 Michel Foucault, Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975, 24–35; Antoinette Burton und Tony Ballantyre (Hg.), Bodies in Contact: Rethinking Colonial Encounters in World History, Durham, NC 2005; Danielle Kinsey, „Assessing Imperialism“, in: Cambridge World History, Cambridge 2015, 7.1: 331–365. 121 Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975; George Rudé, The Crowd in the French Revolution, Oxford 1965; Mann, Social Power, 376; Drauschke, Zwischen Handel und Geschenk, 201. 118

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Herrscher-Familien im ZWH und Kirchenherrscher in Rom bis zum 13. Jahrhundert

6.7 Herrscher-Familien im ZWH und Kirchenherrscher in Rom bis zum 13. Jahrhundert In den dreieinhalb Jahrhunderten vor 1250 führten die sächsisch-ottonischen, fränkisch-salischen und staufischen Herrscher-Familien durch Heiratspolitik, Netzwerke und Magnaten-Entmachtung den östlichen Teil der vormaligen Karl-Herrschaft zu einem lockeren Zentraleuropäisch Weltlichen Herrschaftsbereich (ZWH) zusammen. Als Heinrich (I., h. 919–936), „sächsisch“, die Herrschaft übernahm, bezeichneten er und seine Berater die Königswürde als Rerum publicarum summa. War dies Deklamation, Bezug auf den vergessenen Aspekt römischer

(literacy und numeracy). Erbfolge unter Oberen bedeutete vielfach Kontinuitätsbrüche für Untere. 122 Otto (I.) nahm den in dem Hin und Her nach dem Tod Berengars I. über vier Jahrzehnte verges-

Abb. 6.12 Fremdes: Die Delegation des Kalifen Harun-arRaschid vor Karl d. G., Entwurf für einen Gobelin, imaginiert von Jacob Jordaens (1663)

Staatlichkeit oder neues Denken? Die Elite – unverändert weltlicher und geistlicher „Adel“ – agierte Laufbahn-spezifisch und Akkumulations-strategisch und Territorien blieben entités mouvantes. In der „ottonischen“ Zeit bildeten etwa 200 Männer samt Familien den Herrschaftskern. Männer der Karl-Familie hatten Magnaten-Frauen geringeren Status geheiratet, um Familien an sich zu binden, die der Otto-Familie heirateten Frauen aus benachbarten Königshäusern. Wollten sie Status zeigen oder lebten sie ein consors regni-Konzept von Herrschaft? In der Hierarchie hatten kleinadlige Familien wenig Bedeutung, denn sie waren in der Mehrzahl weder lese-, schreib- noch zahlenkundig

Abb. 6.13 Fremdes Nahes: Christus krönt und segnet Otto II. und Kaiserin Theophanu, beide in gleicher Größe dargestellt; links unten der kniende Auftraggeber EB Johannes (Piazenza) (Buchdeckel aus Elfenbein, ~982)

senen Kaisertitel für seinen polyglotten Herrschaftsbereich wieder auf. Nach Westen verband er

Wolfram, Geburt Mitteleuropas, 27 ff., bietet eine eindrucksvolle Auflistung der Verbindungen und Verfeindungen der Macht Habenden und Anstrebenden. Jussen, Franken, 16; Goetz, Europa, 24–27, 74; Wenskus, Stammesbildung und Verfassung, 485–541, bes. 517, 536; Althoff, Königsherrschaft ohne Staat, 9–28, 239; Marios Costambeys, Matthew Innes und Simon MacLean, The Carolingian World, Cambridge 2011, 271–323; Pauline Stafford, Queens, Concubines and Dowagers: The King’s Wife in the Early Middle Ages, London 1983; Simon MacLean, Ottonian Queenship, Oxford 2017; Phyllis G. Jestice, Imperial Ladies of the Ottonian Dynasty. Women and Rule in Tenth-Century Germany, Basingstoke 2018; Störmer, Adelsgruppen, 53. Vgl. allgemein Sophie Cassagnes-Brouquet, La vie des femmes au Moyen Âge, Rennes 2009; Claudia Opitz, „Frauenalltag im Spätmittelalter“, in: Klapisch-Zuber, Mittelalter, 283–344.

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sich mit Eadgyth, Halbschwester des angelsächsischen Königs; im Osten zeugten er und eine slawische Frau einen Sohn, der Erzbischof in Mainz und Berater des ehelichen Sohnes wurde. Sohn Otto II. (955–983) heiratete Theophanu (960–991) aus dem real existierenden Römischen Reich, dessen Kaiser die Dualität des Titels zu akzeptieren begannen. Sie mag erstaunt gewesen sein, dass Otto umherziehender Kaiser war. Lateinische Chronisten, die abwertend über die Fremde berichteten, wussten nicht, dass im Bereich der Griechischen Kirche Bildung höher war und zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung lesen oder gar schreiben konnten. Nach dem frühen Tod Ottos übernahm Theophanu, beraten durch die Großmutter Adelheid aus Burgund, doppelt verwitwet als Königin in Langobardien und in Frankreich, über sieben Jahre die Regierung für den dreijährigen Otto III. (geb. 980, Kaiser 996–1002). Die Kaiser in Konstantinopel hatten ihre Reichweite bereits auf rus-ländische Fürstentümer ausgedehnt und Otto eine renovatio imperii romanorum mit Süd-Bezug auf den Stuhl Petri und Ost-Intention einer vielkulturellen Ger-

mania-Roma-Gallia-Sklavenia geplant. Doch starb er im Alter von 22 Jahren. Im Spannungsverhältnis realer Vielfalt und kaiserlichen Einheitsstrebens entstand nach Ansicht mancher Historiker eine Zusammengehörigkeit Deutsch-Sprachiger mit noch-lateinischer Verwaltungs-Schriftsprache. Vorsichtiger formuliert wurde Fremdes benennbar durch raffgierige Heere, Sondersteuern wie das Danegeld und fremde Söldner. Das Söldnerwesen war lokal (Überschuss junger Männer), saisonal oder mehrjährig mobil (Anheuern/Umherziehen/Kampf/Marodieren) und entweder erneut lokal durch Ansiedlung oder dauerhaft mobil durch Bettelei. Die Gesamtheit war aus Familien- statt Staats-Räson ein „Bund von Fürstenstaaten und Städten unter kaiserlicher Oberherrschaft und Symbolik“ mit zeitweiligem Schwerpunkt in Italien und Sizilien. Hansegenossen gliederten sich an, Eidgenossen gliederten sich aus. 123 Chaos brachten Ämterkonkurrenzen in der Romkirche seit den 1040er Jahren, Päpste vervielfältigten sich wie Figuren in einem Spiegelkabinett.

Die Familie der Crescenzier*innen (C.) verlor den Zugriff auf die päpstliche Position. 1044 Aufstand gegen Papst Nr. 1, Theophylakt = Benedikt IX. (Familie Tusculum); für sieben Wochen Papst Nr. 2, Sylvester III. (verschwägert mit Familie C.) und angeblicher Parallelpapst (Nr. x – das offizielle Annuario pontifico verzeichnete selektiv); dann erneut Papst Nr. 1, der das Amt für 1000 Silberpfund an Papst Nr. 3, Gregor VI. aus Köln, verkaufte (1046). In Reaktion zog König Heinrich III., begleitet von Salzburgs EB samt Suffraganen, mit Heer heran und die Kleriker der Synoden in Pavia, Sutri und Rom verboten den Verkauf und Kauf klerikaler Ämter, setzten die Päpste Nr. 1 bis 3 ab und Bischof Suitger aus Bamberg als Nr. 4, Clemens II., ein. Dieser krönte im Gegenzug noch am Tag seiner Weihe am 25. Dezember Heinrich zum Kaiser. Nach Clemens’ Tod zehn Monate später folgte kurz Benedikt IX. mit 3. Amtszeit und Nr. 5, Salzburgs Brixener Suffragan Poppo (Damasus II.). Nach dessen Tod nur drei Wochen später folgte 1049 als Nr. 6 der im Elsass geborene Leo IX. (1053 Gefangener normannischer Truppen, gest. 1054). Es folgten weitere sechs (Gegen ) Päpste bis 1073 (Nr. 7 bis 12).

Päpste und Kaiser, sacerdotium und imperium, planten ein imperium christianum, doch endete die Zusammenarbeit schnell. Ebenfalls endete durch zielstrebig missglückte Verhandlungen die distanzierte christliche Ost-West Parallelität: Kardinallegat Humbert exkommunizierte 1054 den Patriarchen, der ihn daraufhin seinerseits verfluchte. 124 123 124 125

Wie dachten Gemeindekleriker, kam doch der Glaube aus dem Osten, wie Illuminator*innen, bezogen sie doch ihre Farben von dort? „Die Kirche durchdrang die Lebensschichten und Lebenserfahrungen aller sozialen Schichten, sie war integraler Bestandteil und zugleich Spiegel der Gesellschaft“. 125

Borgolte, Europa, 16–21; North, Europa, 298, 307–311. Humberts Legatenvollmacht war angesichts des Todes von Leo IX. seit drei Monaten erloschen. Reinhardt, Pontifex, Zitat 269.

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Herrscher-Familien im ZWH und Kirchenherrscher in Rom bis zum 13. Jahrhundert

Chaos brachte der fast zwei Lebensalter ländlicher Menschen andauernde Ehrenhandel honor dei vs. honor imperii, 1076 bis 1122. Die Großfehde des deutsch-sprachigen Papstes Nr. 13 Gregor VII. (h. 1073–1085, zeitweise a. d. F., geb. in Italien, zeitweise in Köln) mit König Heinrich IV. (h. 1056– 1105) war Investitur- und Investitions-Streit. Weltliche Adels-Familien und Kardinäle, die Rechte an Niederkirchen hatten, versahen Söhne oder Klienten mit Pfründen: Eigenkirchen als Eigentum mit

eigenen Leuten. 126 Da Kleriker kirchliche und weltliche Funktionen ausübten, oblag ihre Einsetzung beiden Seiten. Mit ausschließlich päpstlicher Investitur, wie von Gregor gefordert, hätten Päpste gewissermaßen den königlich/kaiserlichen Rat und die Kanzlei besetzt. Jede Amtseinsetzung, da Bepfründung, war auch eine Finanzentscheidung. Da beide, Kaiser und Päpste, ihre Macht von Gott ableiteten, kämpfte jeder für die eigene, alleinige Theokratie.

Vorspiel der Großfehde im Zeitraffer: 1062 entführte der Kölner EB Anno den elfjährigen Heinrich (IV.) aus der Obhut seiner Mutter Agnes. – Auftakt: 1075 Dictatus papae Gregors, 1076 Hoftag in Worms mit Lossagung vieler Kleriker vom absolutistischen Papst; in Gegenattacke exkommunizierte der Papst den Kaiser. – Drama: Heinrich und Ehefrau Bertha (aus Turin) mit Gefolge reisten mit Hilfe lokaler Bergführer im Winter 1076/77 über den 2080 m hohen, vereisten Pass Mont Cenis (Burgund) Richtung Rom. Der Papst, nicht bedroht, zog sich zur Markgräfin Mathilde (Tuszien, 1046–1115) in Canossa zurück. Trat Heinrich als Büßer vor ihn – so kirchliche Erzählungen – oder kam er zu Verhandlungen? Den Rückweg der kaiserlichen Familie suchten Gegner, darunter der Salzburger EB, zu blockieren. Die steinernen Wehrbauten sind noch in der Gegenwart zu besichtigen, memento mori-Denkmäler fehlen. – Intrigen ZWH: Die Abwesenheit des Königspaares nutzten innerfamiliäre Konkurrenten und Magnaten-Clane, um Heinrichs Schwager Rudolf (Hz Schwaben) als Gegenkönig zu wählen. Ehrgeizig und rücksichtslos hatte dieser als etwa 35-Jähriger 1057 die neunjährige Kaisertochter Mathilde entführt und als Elfjährige geheiratet. Sie starb als Zwölfjährige. 1077 vermittelten die Ehefrauen, Adelheid und Bertha. Rudolf starb 1080 an einer Verwundung: Der Verlust seiner Schwurhand in einer Schlacht ließ sich als Gottesurteil interpretieren. – Intrigen „Rom“: Um den Thron Petri kämpften klerikale Fraktionen; auf der Engelsburg verschanzt, rief Gregor VII. den süditalienischen Normannenherrscher zur „Befreiung“. Dessen Truppen plünderten und zerstörten unter anderem römische Aquädukte. Damit wurden Tiber-ferne Stadtteile unbewohnbar. Gregor starb 1087 in Salerno; 1084 war EB Wibert (Ravenna) als Clemens III. Gegen- oder neuer Papst geworden (Nr. 14). Der Hauptteil des Dramas mit weiteren elf päpstlichen Akteuren folgte bis 1126.

Innerkirchlich kämpften bereits Apparat und correctio-Vertreter. Als dritte Ebene fügte Papst Urban II. 1095 Krieg nach außen gegen Sarazenen hinzu (s. u. Kap. 6.11). Vieles fand sichtbar statt, denn Kirchenbühne und Reichsbühne waren auch Volksbühnen. Drei Jahrzehnte später, 1111, handelten Kleriker beider Seiten, darunter der Salzburger EB Konrad I., einen Kompromiss aus: Der Papst verzichtete auf die weltlichen Hoheitsrechte, der Kaiser auf die geistliche Investitur. Dies war zwar zukunftsweisend, doch für die anwesenden Kirchenfürsten Besitz-schädigend. Sie protestierten tu126 127

multuarisch, erklärten die päpstliche Position für „häretisch“ und bedrohten EB Konrads Leben. 127 Im Wormser „Kompromiss“ ein Jahrzehnt später siegte Kanonisches „Recht“ über das Eigenkirchen„Recht“ der Könige. Der Begriff „Papstrevolution“ für den Kampf um Gedankenhegemonie und absolutistische Herrschaft zwischen ca. 1050 und 1215 verstellt die Sicht auf den Machtkampf und die oft verwendete Bezeichnung Reform-Papsttum gibt eine Interpretation vor. Nach außen hatten die Kämpfe um ein Primat Petri – propagandistisch: libertas – gegen-

Reinhardt, Pontifex, 280–282. Reinhardt, Pontifex, 289–292.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

über den Patriarchen in Konstantinopel zum Schisma geführt, im Inneren intensivierten die Päpste den Kampf gegen Priester mit Partnerinnen und Kindern – letztere sollte es eigentlich nicht mehr geben (s. Kap. 9.4). In einer Apparatversion 5.0 des Glaubens expandierte Gregor VII. die absolutistisch-weltliche Hofhaltung, proklamierte jedoch, den Ämterverkauf und -kauf und das üppige Leben des Klerus beenden zu wollen: „Zuchtrute Gottes“ und „heiligen Satan“ nannte sein Mitstreiter Petrus Damianus ihn. Der Kardinal und Polemiker Humbert eskalierte die Propagandaschlacht: Nicht Ämterhandel, sondern Investitur durch Weltliche sei „Simonie“. 128 Akzeptiere die ecclesia als Braut Christi und Mutter der Gläubigen weltliche Investitur, so hure sie mit Machthabern. Papst Gregor klagte, dass weltliche Herrscher die Kirche, ihre „Dame und Mutter, die Braut Christi“ wie eine „gemeine Sklavin“ unterdrückten. Diese Vorstellungen sind denk- und frag-würdig. 129 Unter diesen Bedingungen wurde das Klosterwesen vielstimmig. Neben die Benediktiner*innen traten seit Beginn des 10. Jahrhunderts Cluniazenser, Hirsauer, Reformbenediktiner oder Zisterzienser, Prämonstratenser sowie, später, Bettelorden. Konkurrenzen um Ressourcen folgten. Die Meinungsherrscher bezeichneten unzufriedene Gläubige und Theologen, sie sich wehrten, als Häretiker (s. Kap. 9.10–9.12). Imperiale Rom- und partikular-familiäre regna-Kirchen standen gegeneinander, das deutsch-sprachige Episkopat sah sich durch das römische bedroht. Der Streit würde bis zum 4. Laterankonzil 1215 andauern. 130 An der inter-imperialen Großfehde und den klösterlichen Neuordnungen wurden die Gläubigen der Salzburger Kirchenprovinz beteiligt (Passiv): EB Gebhard hatte die Programmschrift der Papsttreuen verfasst, die Suffragane in Regensburg und Freising sich vom Papst losgesagt. Die nachfolgenden

EB setzten sich mit drei offiziellen und vier nichtoffiziellen Päpsten auseinander. Königstreue, oft räuberische Adlige eigneten sich Kirchengüter an und raubten; kirchliche wüteten ähnlich. Hörige mussten in Fronarbeit EB-Burgen verstärken. Waren sie wütend? Schüttelten sie die Köpfe ob des Hin und Her? 131 Etwa ein Menschenleben nach dem Ende der Wirren wurde Friedrich I., Familie Staufen, 1152 König und 1155 Kaiser (gest. 1190). Er benötigte für die Wiederherstellung der Herrschaft in Italien genealogia und Heiligkeit: Aachener Kleriker sprachen, durchaus eigennützig, zusammen mit einem Gegenpapst den Amtsvorgänger Karl d. G. heilig. Die Kurie widersprach nicht. 132 EB Konrad II., Familie Babenberg (h. 1164–1168), stellte sich gegen den Kaiser und in Folge belegte ein Fürstengericht im benachbarten Laufen 1166 das Erzstift, das heißt die Gläubigen, mit Reichsacht. Lehen und Eigengüter fielen an den Kaiser, er gab sie an Parteigänger weiter; benachbarte Kriegsgewinnler griffen sich, was sie konnten; die Grafen Heinrich und Liupolt in Plain zündeten – wie äußere Feinde ein Jahrtausend früher – 1167 die Residenzstadt an und verwüsteten das Land „mit Feuer und Schwert“. Sie waren Brand-Stifter wie der von ländlichen Familien gefürchtete „Rote“. Auch Stiftungen hatten viele Aspekte. 133 Der Kanzler und Kölner EB Rainald (Familie Dassel), der Karls Heiligsprechung betrieben hatte, „wusste“, dass Kaiser Konstantins Mutter Helena in Jerusalem nicht nur das Kreuz, sondern auch das Grab der drei Sterndeuter gefunden hatte. Deren Gebeine hätte sie mitgenommen, sie seien später dem Bischof in Mailand geschenkt worden und sie „fanden sich“ bei der Besetzung der Stadt durch Kaiser und Kölner EB. Er ließ sie zu seinem Sitz bringen. Einige Jahrzehnte später diktierte Marco Polo seinen Reisebericht durch Asien. Ihn hätte

Laut Apostelgeschichte (8.9–24) wollte sich Simon von den Aposteln die Fähigkeit zur Vermittlung des Hl. Geistes durch Handauflegen kaufen. Macy, Hidden History, 109–115; Megan McLaughlin, Sex, Gender, and Episcopal Authority in an Age of Reform, 1000–1122, New York 2010; Zitat aus einem Brief Gregors, 1074: Ken A. Grant, „On Leeks and Onions: Pope Gregory VII and the Rejection of Pleasure“, in: Naama Cohen-Hanegbi und Piroska Nagy (Hg.), Pleasure in the Middle Ages, Turnhout 2018, 309–327, 320. 130 Gregor wollte die erfundene „Pippinische Schenkung“ zum Bestandteil der Kirchendekrete machen, führte Auseinandersetzungen in Süditalien und Frankreich und plante Krieg gegen muslimische Herrscher. 131 Goetz, Europa, 170; Dopsch, „Hochmittelalter“, 1.1:243–249. 132 Kaiser Friedrich ließ ein goldenes Reliquiar für die Armknochen Karls fertigen. Es zeigte im Zentrum der vorderen Front Maria mit Kind, rechts und links je einen Erzengel und weiter außen Friedrich und Kaiserin Beatrix. Damit waren der amtierende und der heiliggesprochene Herrscher mit Maria und Jesus vereint. 133 „Barbarossa“ als Heldengestalt schufen Historiker im Zuge ihrer Genealogie für das 2. Deutsche Reich. Dessen Italienexpansion sah eine Fraktion als Teil des „deutschen“ Kaiserstaates, eine andere als Hindernis für die Bildung der „deutschen Nation“. 128

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Herrschaft im Ostalpenraum, Ost- und Südostexpansion

Rainalds Zu-Fall nicht beeindruckt, denn er hatte die Gräber der drei Weisen in der nordwestpersischen Stadt Saveh/Saba besucht. Erreichten diese Geschichten Laien? In Rom flüchtete Papst Alexander III. – Viktor IV. war ebenfalls Papst –, als kaiserliche Truppen die Stadt eroberten. Gott schien auf Seiten des Kaisers zu stehen. Doch wenige Tage später raffte eine Malariaepidemie etwa 2000 Ritter dahin, unter ihnen Rainald. 134 Im Gegensatz zur vorangehenden

Niederlage sah der Papst dies als Gottesurteil. Als wenig später die Brandstifter Salzburgs schwer erkrankten, sahen beide Seiten ein Gottesurteil: Die Grafen gelobten Wiedergutmachung, der EB löste sie vom Bann, die Bürger*innen waren mit dem Abriss der Brandruinen beschäftigt. Im ebenfalls zerstörten Mailand entschied ein Teil der Bürger*innen, eigene Wege zu Gott zu gehen. Als „Humiliaten“ vermieden sie den Prunk der Kleriker, diese grenzten sie als Häretiker aus (s. Kap. 9.10).

6.8 Herrschaft im Ostalpenraum, Ost- und Südostexpansion 135 273 Ernten brachten die Menschen von 907 bis 1180 ein, durchlebten ebenso viele Winter und zogen über Generationen Kinder und Kindeskinder groß. Das Mehrebenen-Bayern – Landbewohner*innen, Städter*innen, Herrscher-Familien – expandierte und kontrahierte und wurde im Rahmen der Machthändel um die Kaiserposition 1156 zweigeteilt: Heinrich II. Jasomirgott (1107–1177, fränkisch, Babenberg), verheiratet mit Theodora aus Konstantinopel (1134–1184), 136 verlor 1180 „Bayern“ an die mitteldialektdeutsche Familie Wittelsbach und erhielt das – zu diesem Zweck abgetrennte und zum Herzogtum erhobene – Ost-regnum, lat. „Austria“. Die Salzburger Erzbischöfe saßen mit ihren Besitzungen teils mitten in den Territorien, 137 teils zwischen den Mächtigeren. Wirtschaftswege veränderten sich nicht, Mautorte selten. 138 Die Passauer Suffragan- – und doch fast selbstständigen – Bischöfe besaßen in Wien die kirchliche Herrschaft, symbolisiert durch die Stephanskirche. Als Gegengewicht rief Heinrich II. ne-

ben vielen anderen Orden irische, „Schotten“ genannte Mönche aus Regensburg (1155) und ließ das Schottenmünster als babenbergische Grabeskirche errichten (geweiht 1200). 139 Spätere nationalistische Erinnerer Österreichs wollten – nach der großdeutschen Selbstzerstörung 1933/34/38 bis 1945 – eine Identität (Singular) feiern: 1946 das Jubiläum einer Schenkungs-Urkunde von 996 über dreißig Hufen an der Ybbs, bezeichnet als ostarrîchi, sei es germanisch im ostan (Osten) oder slawisch am ostrik (Hügel). Ebenso begingen sie 1976 Luitpolds Ernennung (Tausend Jahre Österreich) und 2006 den Beginn der Herrschaft Babenberg (850 Jahre Geburt Österreichs). 140 Für ihre Staatsfahne unbekannten, sicher migratorischen Hintergrunds erfanden sie Ursprungslegenden: Lehensfahne einer Magnaten-Familie, weißer, im Kreuzkrieg mit Blut rot gefärbter Umhang und vieles andere. „National“ war schon ihre Sprache nicht, sie nahm west- und südslawische, keltische und andere Worte auf. 141

Der demografische Kahlschlag unter den anwesenden Magnaten ließ dem Kaiser per Todfall ausgedehnte Ländereien und Menschen zukommen. Für die gesamte Periode: Hermann u. a., „Salzburger Kirche“, 1.2:983–1070; Hägermann, Karl, 55; Störmer, Adelsgruppen, 59, 71, 89. 136 Johannes Preiser-Kapeller, „Von Ostarrichi an den Bosporus: Ein Überblick zu den Beziehungen im Mittelalter“, Pro Oriente Jahrbuch 2010, Wien 2011, 66–77; Andreas Rhoby, „Byzanz und Österreich im 12./13. Jahrhundert: Mythos und Realität“, in: Andreas Speer und Philipp Steinkrüger (Hg.), Knotenpunkt Byzanz. Wissensformen und kulturelle Wechselbeziehungen, Berlin 2012, 580–610. 137 Ein Jahrhundert später, 1392, teilten drei Wittelsbach-Brüder die Herrschaft in Bayern-Ingolstadt, -München und -Landshut; den vierten Teil, Straubing-Holland, regierte ein Familienzweig von Den Haag aus. 138 Dopsch, „Karolinger“, 1.1:157–228, hier 205–207; Štih u. a., Slowenische Geschichte, 57–58; Deutinger und Dendorfer, „Karolinger“ sowie „Liutpoldinger zu Welfen“, in: Schmid, Das alte Bayern, 213–416. 139 In der Konkurrenz mussten die Mönche an den Papst appellieren, um Pfarrrechte zu erhalten (1265). 140 Walter Pohl, „Ostarrichi Revisited: The 1946 Anniversary, the Millennium, and the Medieval Roots of Austrian Identity“, Austrian History Yearbook 27 (1996), 21–39. 141 Österreichs Staatsvertrag von 1955 legt die Rechte slowenisch-sprachiger Bürger*innen fest. Die Salzburg-Wiki beklagte noch 2017 deren „Einfälle“, vgl. http://www.salzburg.com/wiki/index.php/Geschichte*des*Lungaus (1. März 2017) und die Marktgemeinde Kalwang (Steiermark) schrieb 2012 auf ihrer Webseite (http://www.kalwang.at/Slawen-und-Baiern-besiedeln-unsere-Heimat.65.0.html): „Nach 582 strömten von Osten kommend das mongolische Steppenvolk der Awaren und in ihrem Gefolge die Slawen in unser Gebiet ein. Die Slawen besetzten mit großer Schnelligkeit 134 135

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Einheimische und Zuwander*innen romanischer, slawischer und deutscher Dialekte lebten in den Regionen von der Adria bis zum Baltikum. Menschen aus dem gebirgigen Nordfriaul kultivierten Carniola (südlich der Karawanken), Karantaniens Südslawisch Sprechende waren nach Siedlung auf dem Peloponnes durch den Balkan zugewandert, Westslawisch Sprechende kamen auf anderen Routen nach Böhmen und ins Waldviertel. Archäolog*innen zeigen, dass die Menschen vom Dnepr bis zur Loire Geräte von ähnlicher Qualität zeitlich parallel entwickelten. Fischer-Familien an der Ostsee, die Salz aus dem ihnen nahen Lüneburg bezogen, versorgten bis zur Kirchenprovinz Märkte mit Salzfisch. ZWH-weit institutionalisierten die Herrscher-Kleriker vier Expansionsbistümer gegen Menschen, die auf ihrem eigenen Glauben bestanden: Münster gegen Friesen, Bremen-Hamburg gegen Skandinavier, Magdeburg gegen Sachsen und Westslawen, Salzburg gegen Pannonier und Südslawen. Herrscher in böhmisch- und polnisch-litauisch-sprachig besiedelten Gebieten riefen mitteldialektdeutsche Siedler-Familien für Städtegründungen nach Magdeburger Stadtrecht. 142 Im Norden nannten Germanisch-Sprachige ihre Nachbarn „Wenden“, daher das „wendische Quartier“ der späteren Hansekaufleute; im Süden etikettierten fränkische Neuankömmlinge die Ansässigen, deren Sprache ihnen fremd war, als „walhisc“, „Fremde“, und Italienisch-Sprachige als „welsch“. Wussten die EB und Suffragane um die Geschichte der Menschen romanischer, dalmatinischer und illyrischer Kulturen, die vor ihnen urban-christliche Lebensweisen entwickelt hatten? In Lauriacum hatte im 5. Jahrhundert ein Bischof residiert. Doch fand der Wandermönch Columban angeblich nur Heiden, Rupert nur Ruinen vor. Erinne-

rungsproduzenten begannen ihr neues Narrativ punktgenau mit dem Vordringen „heidnischer“ Awaren über die Karpaten in ost-pannonische gepidische und west-pannonische langobardische HB im Jahr 567. Für ihren eigenen Sitz in SalzburgStadt erfanden sie ortsspezifisch eine „spätantike Basilika“ als frühchristliche Kirche, Höhlen im Mönchsberg als „Katakomben“ und Zufluchtsstätte verfolgter Christen sowie einen von blutrünstigen Heiden von der Mönchsbergwand gestürzten Maxim(ian)us als „Märtyrer“. Die christlichen Romanen erwähnten sie nicht. 143 In den Kriegszügen gegen die Awaren war der Vorstoß des Hz in Friaul, geleitet von dem slawischsprachigen Vojnomir, 795, mit Plünderung des awarischen Schatzes der erfolgreichste. Bei der Aufteilung der besetzten Region erhielt der EB Salzburg ein großes Gebiet um den Plattensee (Westpannonien) für die Missionierung und den Einzug der anschließend fälligen Abgaben, sein Suffragan in Passau die nördlich angrenzenden und der EB von Aquileia die südlich angrenzenden Gebiete. Alle Diözesen waren mehrsprachig; in Freising würden um 1000 die ältesten Schriftstücke in altslowenischer Sprache entstehen. 144 EB Arn, dem der größte Teil der potenziellen Gläubigen unterstand, entsandte gemeinsam mit Karls Präfekt für Bayern einen Chorbischof 145 nach Sclavinia (Kärntner Zentralraum), Sabaria (östl. Burgenland bis zum Rába Fluss) und ins Mur- und Drau-Tal (Steiermark). Dieser ließ Kirchen an und über Orten keltisch/römisch/vorangehend-christlicher Traditionen errichten, unter anderem Maria Saal (Virunum) und St. Peter (Teurnia). Für alle Menschen dieser polykulturellen Welt – Dalmatier und Illyrer, Slawen, Karniolenser, Guduskaner, Timokianer und andere – war die Taufe zwingend und durch Zehnt kosten-

muraufwärts bald das ganze Land. […] Die Ansiedlung der Baiern bedeutete den Anfang der Eindeutschung und der weiteren Christianisierung unserer Gebiete“ (7. Juni 2012). 142 Ein einheitliches deutsches Recht, das in dieser Zeit nicht existieren konnte, erfanden Nations-Erzähler. Eine Karte mit Orten nach Magdeburger Recht findet sich in Faszination Stadt. Die Urbanisierung Europas im Mittelalter und das Magdeburger Recht, Broschüre zur Ausstellung, Magdeburg 2019, 9. 143 Habsburg-Getreue aktualisierten die Legende während der Osmanen-Habsburg-Kriege: „Türken“ stürzten Maximianus zu Tode. Josef Brettenthaler, Salzburgs SynChronik, Salzburg 1987, 30. 144 Štih u. a., Slowenische Geschichte, 14–118; ders., Middle Ages, 9–122; und ders., „Alpine Kolonisation und Migrationen im Mittelalter am Beispiel Sloweniens“, in: Mobilité spatiale et frontières – Räumliche Mobilität und Grenzen, hg. von Thomas Busset und Jon Mathieu, Zürich 1998, 133–144, bes. 133–135; Hans-Dietrich Kahl, Der Staat der Karantanen. Fakten, Thesen und Fragen zu einer frühen slawischen Machtbildung im Ostalpenraum (7.–9. Jahrhundert), Ljubljana 2002 = Supplement zu Rajko Bratož (Hg.), Slowenien und die Nachbarländer zwischen Antike und Karolingischer Epoche, 2 Bde., Ljubljana 2000; France M. Dolinar et al., Slovenski zgodovinski atlas [Slowenischer historischer Atlas], Ljubljana 2011, Karten 50–53. Ich danke Miha Kosi für Übersetzungen aus dem Slowenischen. Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 44–63. 145 Das Instrument „Chorbischof“ ohne eigenes Territorium diente Sonderaufgaben.

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Herrschaft im Ostalpenraum, Ost- und Südostexpansion

Abb. 6.14 Missionsbistümer in deutsch-slawisch-romanisch-sprachigen Regionen

pflichtig. Arn setzte jedoch in Absprache mit Aachen den Slawenzehnt niedriger an als in Bayern, um nicht Kämpfe wie bei der Unterwerfung der Sachsen zu provozieren. In späterer inventio memoriae empfingen die Slawen „von Salzburg aus das Christentum“. Dankbarkeitsadressen der Betroffenen sind nicht überliefert. 146 Den Macht-Übernehmenden galten die Ansässigen als Recht-los und Land, das nicht im Besitz kooperationsbereiter lokal Mächtiger war, als Herren-los. Aquileier, Bamberger, Salzburger und Freisinger Klerikale hatten nach dem Anschluss Karantaniens bereits ausgedehnten Land- und Men-

schenbesitz „ergattert“, ein Gatter um sie gezogen. Der Begriff „Landnahme“ bezog Menschen nicht einmal konnotativ ein. Die gewaltsam-faustrechtliche Aneignung verfestigten Herren- und Kleriker-Juristen: Verfügungsgewalt als Nutzungsrecht, statt Gewohnheits-Weistümern Grundbesitz-recht. Menschen mussten im Rahmen magisch-herrschaftlicher Banne über Wild und Fische, Wasser und Wind deren Nutzung als Privi-legien – Sonderstatus vor dem Recht – zurückkaufen. Die Kleriker, Vögte und Regionaladligen positionierten ihre Reviermarkierungen, Kirchen oder Burgen, auf Anhöhen. Sie sind bis in die Gegenwart sichtbar. 147

In dem Gebiet zwischen Enns und Wienerwald dauerte die östliche Vorherrschaft bis 829. Ab Ende des 15. Jahrhunderts dienten auch Gipfelkreuze als Grenzmarkierung, Passhöhen-Kreuze als Dankeszeichen für erfolgreichen Aufstieg und als religiöse Markierung.

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Abb. 6.15 Die Freisinger Denkmäler mit slowenischen Gebeten und Beichtformeln in karolingischer Minuskel, pastorales Handbuch Bischof Abrahams, Freising (?), 2. H. 10. Jh.

Auch die annektierten Menschen der Großregion Pannonien-Savetal-Friaul wurden mehrfach reappropriiert: Teil der Präfektur Bayern, dann oströmisches Istrien zu fränkischem Friaul; Ersatz lokal-kultureller Fürsten (duces) durch fränkische Grafen (comes); Ostpräfektur mit Zentren in Sabaria, Tulln und Mosapurg; Annexion des böhmisch-mährischen Beckens. In der Erinnerung der böhmischen Annektierten war es jedoch die Weise und Wahrsagerin Libuše, die einen Pflüger namens Přemysl als ersten Herrscher designierte. Ihr erschienen im Traum, so eine Gründungslegende, Vertriebene, die um Aufnahme baten. Aus dem HB Litauen fliehende Juden fanden Schutz. Nachgewiesen ist eine jüdische Siedlung in Prag ab 965. Das waldige Hügelgebiet zwischen Böhmen und Donau – geologisch die Böhmische Masse – würde Grenzraum werden, Burgen und Städte in dem begehrenswert mineralhaltigen Gebiet entstehen (s. Kap. 8.2). 190

Viele der Annektierten versuchten sich zu wehren. Friauler beschwerten sich beim König über den Grafen, der Weide-, Holz- und Fischnutzung verbot und unbezahlte Arbeit, darunter weiträumige Fuhrdienste, einforderte, Teile ihrer Herden requirierte und die Fütterung seiner Jagdhunde anordnete. Graf Johannes musste 804 zwar seine Forderungen zurücknehmen, behielt aber die Macht, Slawisch Sprechende in Ländereien Istrisch Sprechender umzusiedeln. Die Familien, die vor Karl ihr Auskommen gehabt hatten, empfanden – so das nüchterne Urteil eines Historikers – die Belastungen nur deshalb als ärgerlich, weil sie sich, anders als die untertänigen Franken, noch nicht an sie gewöhnt hatten. Der Herrscher zwischen Drau und Save, Liudewit, führte Beschwerde über das „grausame“ und „übermütige“ Verhalten des Präfekten Cadolah und begann, als Kaiser Ludwig d. F. nicht reagierte, unterstützt von dem Metropoliten in Grado Ab-

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wehr. 148 Den „Aufstand“ zwischen 819 und 823 schlugen „die Franken“, das heißt Bewaffnete aus Italien, Sachsen, Franken und anderswo, nieder und zerstörten „ganze Landstriche“ und damit Lebensgrundlagen und Leben. 149 In vorausschauender Abwehr zerstörten slawische Bewaffnete den wiedererrichteten Salzburger Vorposten „Maximilianzelle“ 820 erneut. In einer Geschichte aus anderer Zeit und anderer Region kamen Kirchenmänner zu Menschen, First Peoples, die bereits gewaltsam vertrieben worden waren. Sie schlugen den Missionaren vor, über den Mississippi zurückzukehren und die dort Lebenden „Weißen“ zu christlichem Verhalten zu bekehren. Sie würden dies beobachten und sie, nach Erfolg, gern unter sich wirken lassen. Die Menschen in Kärnten und Pannonien konnten die Kirchenmänner nicht zurückschicken. Die Regierungsmaschinerie zeigte an der Peripherie ihr „hässlichstes Gesicht“. Karl und Söhne verhielten sich wie der gottlose biblische König (1. Samuel 8,11–18): „Das wird des Königs Recht sein, der über euch herrschen wird: Eure Söhne wird er nehmen, […] dass sie vor seinem Wagen herlaufen; […] dass sie ihm seinen Acker bearbeiten und seine Ernte einsammeln und dass sie seine Kriegswaffen machen und was zu seinen Wagen gehört. Eure Töchter aber wird er nehmen, dass sie Salben bereiten, kochen und backen. Eure besten Äcker und Weinberge und Ölgärten wird er nehmen und seinen Großen geben. Dazu von euren Kornfeldern und Weinbergen wird er den Zehnten nehmen und seinen Kämmerern und Großen geben. Und eure Knechte und Mägde und eure besten Rinder und eure Esel wird er nehmen und in seinen Dienst stellen. Von euren Herden wird er den Zehnten nehmen, und ihr müsst seine Knechte sein.“ 150

Arns Neffe und Nachfolger Adalram (h. 821–836) wählte gegenüber Pannonier*innen ein diplomatisches Vorgehen. Er erlernte, so Berichte, die slawische Sprache; allerdings hatten die Annektierten die

Kosten seiner Besuchsreisen zu zahlen. Gegen Juden hingegen verkündete er Gewalt: Er ließ Mönche eine Abschrift des Augustinus zugeschriebenen Traktates gegen Juden, Heiden und Arianer herstellen und im Kloster Mattsee übersetzten Mönche das iberische Isidortraktat De fide catholica contra Judaeos ins Bayerische. 151 Mit Adalram arbeitete in Elitenkooperation der Herrscher in Westpannonien, Priwina, zusammen. Als er von seinem Sitz Nitra (heutige Slowakei) mit Sohn Chezil/Kozel vor einem bedrohlichen mährischen Nachbarn 833 zum karolingischen Präfekten floh, ließ dieser ihn auf Befehl des Königs in der Martinskirche in Traismauer taufen. 152 Priwina unterhielt Kontakte zu bulgarischen Herrschern, dem kroatischen Ratimir und dem Grafen von Carniola. König Ludwig, der ihm die Menschen westslawischer Dialekte an der Zala nahe dem Plattensee überließ, plante Priwinas HB als Pufferzone gegen östlich benachbarte Familien. Doch waren, wie oft, innerfamiliäre Bedrohungen größer. Als „fränkisch“ bezeichnete Familienmitglieder und genealogiae-Adlige, die ethnisches Etikettieren nicht kannten, befehdeten „eigene“ Könige und paktierten Grenz-überschreitend mit Nachbarfamilien, die attraktivere Konditionen boten. 153 Salzburgs EB Liupram (h. 836–859) entsandte Mönche und Bauhandwerker, um Blatnohrad/Mosapurc/Zalavár als Priwinas Hauptstadt auszustatten; die Kirche wurde Adrian (Nikomedia/İzmit, Anatolien) 154 geweiht, biblisches Vorbild war Hiram, König in Tyrus. Er „sandte Boten zu [König] David und Zedernbäume und Zimmerleute und Steinmetzen, dass sie David ein Haus bauten“ (2. Samuel 5,11) und ebenso für Solomon (2. Chroniken 2.1–16). Die Bauleute in Blatnohrad besaßen Kenntnisse konstantinopolitanischer Prozesse, verwendeten rheinländisches Glas-Rohmaterial und Farben aus fernen Kulturen. 155 In den folgenden

Der Metropolit hatte Liudewits Christianisierungsstrategie unterstützt; bei den Auseinandersetzungen mögen Konkurrenzen mit benachbarten Mächtigen eine Rolle gespielt haben. 149 Der ungarische Herrscher Coloman, der 1105 Dalmatien annektierte, respektierte lokale Verwaltung und Bräuche. 150 Barbero, Karl, 209–217, Zitat 216; Epperlein, Leben am Hofe, 28–56; Florin Curta, Southeastern Europe in the Middle Ages, 500–1250, Cambridge 2006, 135–137. In der „Geschichte der späten Han“ (Fan Ye, 5. Jahrhundert) wurden schlechte Kaiser mit Selbstverständlichkeit durch bessere ersetzt. 151 Adolf Altmann, Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg. Von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart, hg. und ergänzt von Günter Fellner und Helga Embacher, Salzburg 1990 (1. Aufl. 2 Bde., 1913, 1930). 152 833 entstand ein oft als Großmährisches Reich bezeichneter HB, der um 900 endete. Arnulf führte Verwüstungsfeldzüge von Bayern aus, Magyaren-Trupps drangen von Osten ein. 153 Štih u. a., Slowenische Geschichte, 51–53. 154 Römischer Offizier, lt. Überlieferung Christ, 306 qualvoll hingerichtet, später als Märtyrer verehrt. 155 Solomon benötigte 70.000 Lastträger, 80.000 Steinhauer, 3600 Aufseher und „einen tüchtigen Mann, der mit Gold, Silber, Kupfer, Eisen, rotem 148

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Jahren entstanden zahlreiche weitere Gotteshäuser, die dem Erwerb umliegender Güter und Weingärten dienten. Über diese „Eigenkirchen“ und Priester konnte der jeweilige Herr verfügen wie über Meierhöfe und Vögte. Ob Handwerker*innen freiwillig oder als Unfreie kamen, ob mit oder ohne Familie, ist nicht bekannt; Frondienste waren Aufgabe lokal Getaufter. Sprachen die entsandten Mönche die lokale Variante des Westslawischen? Gab es, wo nötig, Übersetzer und Vermittler? 156 Für die EB zahlte sich das Unternehmen aus, denn Kaiser Ludwig II. honorierte es durch „reiche Schenkungen“. Einem Teil der Annektierten bot sich unerwartet eine anderschristliche Alternative. Kaiser Michael in Konstantinopel (h. 842–867) entsandte die Brüder Kyrill und Method, Philosoph und Abt, in rus-ländische und balkanische Gebiete. Wie Wulfila im 4. Jahrhundert für das Gotische, mussten sie die Liturgie von der Bindung an das Griechische bzw. Lateinische lösen. Sie schufen, vom Südslawischen ausgehend, ein „glagolitisches“, später zum Kyrillischen entwickeltes Alphabet. Auf die intendierte Volksnähe reagierten Rom-Kleriker wütend: Nur Hebräisch, Griechisch und Lateinisch seien „heilige Sprachen“. Doch stimmte der Papst der volkssprachlichen Bekehrung zu. 157 Als Method sich nach Pannonien und Mähren wandte, begrüßte Kozel (h. 860–~875) seine Ankunft. Ein Wechsel zur Griechischen Kirche würde ihn von der Salzburg-bayerischen Hegemonie befreien. Deren Kirchen-Hierarchen setzten jedoch, ohne sich um Papst oder Patriarch zu kümmern, Method 871 gefangen. Bei dem Verhör schlug ihn der Bischof in Passau mit der Peitsche und EB Adalwin (h. 859–873), der in der Region die Menschen der Stadt Steinamanger (Sabaria) und mehrerer Güter besaß, schrieb für den König die verfälschende Conversio Bagoariorum et Carantanorum. Er listete die Kosten für die vorangegangene Bekehrung ohne Erwähnung von Zehnteinnahmen,

Pfründen für entsandte Priester, Besitz an Kirchen auf. Der König ließ Method verurteilen und erst nach dreijähriger Haft ordnete der Papst seine Freisetzung an. Er wurde Erzbischof in Sirmium an der Save, aber nach seinem Tod ließ der lateinkirchliche Bischof in Neutra, Wiching, seine Schüler gefangen setzen oder vertreiben und, laut Berichten, einige über Venedig in die Sklaverei verkaufen. 158 Weit folgenreicher wurde für Salzburger und fränkische Herrscher das Vordringen einer weiteren Identifikationsgruppe. In deren romantischer Ursprungslegende verfolgten Zwillingsbrüder eine wunderbare Hirschkuh, fanden statt ihrer zwei schöne Frauen und heirateten sie. Ihre Kinder wurden die Hunnen und die Magyaren. Historisch genauer lässt sich die Ausgangsregion der Magyaren als Gebiet östlich des Urals, die Wanderungsursache als Klimaveränderung fassen. 159 Nach Sprachvermischung mit iranisch- und turk-sprachigen Kulturgruppen entstand ein onogurisch-bulgarischer Herrschaftsbereich aus – so Zählung und Er-zählung – zwölf Gruppen. Einige von ihnen sowie vermutlich konvertierte Chasaren und städtisch-jüdische Menschen zogen, als die Gruppe der Petchenegen sie bedrohten, westwärts an den Karpatenbogen (Abb. 6.7). 160 Die magyarischen Bewaffneten, die mit Ostrom Handel trieben und deren Herrscher sich in oströmische Seidengewänder kleideten, drangen nicht aggressiv ein, sondern König Arnulf (~850–899) rief sie, denn er benötigte Hilfe gegen die Herrscher von Mähren, mit denen er über Zehntzahlungen stritt, sowie gegen König Berengar I. in Langobardia (ab 915 Kaiser), mit dem er um die Herrschaft stritt. Der Herrscher in Mähren Svatopluk suchte, militärisch gesprochen, den Spieß umzudrehen und hoffte mit den Heranziehenden gemeinsame Sache gegen Arnulf machen zu können. Doch die herrschende Árpáden-Familie verfolgte eigene Interessen und unternahm Beutezüge, „Ungarnstürme“,

Purpur, Scharlach und blauem Purpur arbeiten kann und der Bildwerk zu schnitzen versteht zusammen mit den Meistern, die bei mir in Juda und Jerusalem sind“. 156 Dopsch, „Karolinger“, 1.1:175–187, vermutete fehlende Sprachkenntnisse. 157 Zur Schaffung von Schriftsprachen Ian Wood, The Missionary Life: Saints and the Evangelisation of Europe, 400–1050, New York 2001, 174, 257–258. 158 Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich: Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit, Wien 1995; Francis Dvornik, Byzantine Missions among the Slavs. SS. Constantine-Cyril and Methodius, New Brunswick 1970, 73–193; Wood, Missionary Life, 169–175. Zu machtpolitischen Fragen C. Hannick, „Die Byzantinischen Missionen“, in: H. Frohnes et al. (Hg.), Kirchengeschichte als Missionsgeschichte, Bd. 2.1, München 1978, 279–359. 159 Anatoly M. Khazanov, „Pastoral Nomadic Migrations and Conquests“, in: Kedar und Wiesner-Hanks, Expanding Webs, 359–382. 160 Die bulgarisch-sprachige Gruppe siedelte seit dem 8. Jahrhundert von der oberen Wolga bis zur unteren Donau als Wolga-, Onogur- und DonauBulgaren.

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bis an den Wien-Fluss und ins Bayerische. Die etwa hundert Jahre früher in „Frankenstürmen“ beutesuchend von Westen Gekommenen wehrten sich, doch endete ihr Kriegszug 907 vermutlich bei Pressburg/Bratislava in vernichtender Niederlage. Unter den toten Würden- und Schwertträgern befanden sich die streitbaren Bischöfe von Salzburg Theotmar (Dietmar), Freising und Säben. Die soeben vom König als Alliierte hofierten Magyaren waren seither für lateineuropäische Narratoren Urheber von Gräueltaten. 161 Der kostenträchtige, verlorene Krieg entzweite kirchliche und weltliche Magnaten. Die Kleriker weigerten sich, finanziell beizutragen, und als Hz Arnulf (Bayern, h. 907–927) im Gegenzug Kirchenbesitz besteuerte, benannten sie, Herrscher über Erinnerungsdiskurse, ihn als „den Bösen“. Der Herzog bekriegte 911 den gewählten ZWHKönig (Konrad I.), verlor und floh zu den Árpáden. Ein ZWH-königlicher Sohn und Schwiegersohn riefen magyarische Heerführer, um (Schwieger-) Vater Otto I. zu bekriegen. Doch Otto besiegte das magyarische Heer 955 in einer Schlacht bei Augsburg oder „auf dem Lechfeld“ vernichtend. 162 Die Verlierer ließen sich, ähnlich den Annales Regni Francorum, eine verherrlichende Gesta Hungarorum schreiben: Im waldigen Hügelland westlich des Karpatenbogens (Transsylvanien) errichteten sieben Anführer sieben irdene Burgen (dt. Siebenbürgen).

Realiter siedelten dort Ackerbau-treibende Teile des Verbandes und, später, muslimische Baschkiren (Baschqort) aus dem unteren Wolgagebiet. 163 Die überlebenden Militärs gesellten sich ihnen zu. In der „ungarischen“ Ebene sprach etwa die Hälfte der Bevölkerung von 600.000 Magyarisch. 164 Wenig später legten Géza und Otto I. die Grenze zwischen ihren Herrschaften dauerhaft fest (973). 165 In Salzburg plante Friedrich I., EB aus bayerischer Magnaten-Familie, „Mission“, doch misstraute der Kaiser den Salzburger und Passauer Klerikern und ordnete das neue Bistum Prag dem Mainzer EB zu (bis 1341, ab 1344 Erzbistum). Die árpádische Elite konsolidierte die Landwirtschaft und das Finanz- und Glaubenssystem und István I. (Stephan, 997–1038), 166 seinerseits misstrauisch gegenüber salzburgischen und ottonischen Begehrlichkeiten, wandte sich an den Papst. Er ließ sich seine Position als König bestätigen – aus päpstlicher Sicht: verleihen – und errichtete seine eigene Kirche-mit-Grundherrschaft. Ökonomisch weitsichtig verheiratete er seine Schwester mit dem Dogen von Venedig. Die so generierte Route Ungarn-Pettau-Adria wurde durch regen Schlachtviehhandel für die dort ansässigen Salzburger Untertanen einkommensgenerierend. Diese eigene Institution Kirche beendete das Vordringen Passauer Kleriker nach Ungarn und bis nach Bulgarien.

6.9 Besitzverhältnisse und Konsolidierung in der Kirchenprovinz Salzburg Alle Erzbischöfe, bellator und orator in einer Person, wanderten bis zum Ende des 14. Jahrhunderts aus dem Westen zu. Ihnen unterstanden neben der Erzdiözese die Diözesen Passau (bis Wien), Regensburg, Freising und Brixen. Sie „lukrierten“, wie man Österreichisch sagt, das entfernte Zillertal (Tirol), südliche Gebiete bis zur Drau/Drava und östliche

bis an den Plattensee (Balaton). Nach Süden zum EB Aquileia legte der Kaiser 811 die Drau als Grenze fest. 167 Angesichts der bedrohlichen Herrscher-Familienstreite und des Finanzbedarfs der Könige und Thronaspiranten hatte bereits EB Theotmar ein Königs-Privileg, das Besitz- samt Bergbaurechten um-

Der oströmische Kaiser Leo VI. (h. 886–912) rief Magyaren zur Hilfe gegen Bulgaren. Kontler, History of Hungary, 37–66. Auf dem Feld am Lech-Fluss hatten magyarische leichtbewaffnete und bewegliche („hinterhältige“) Reiter 910 die schwerbewaffneten und wenig beweglichen („gradlinigen“) Truppen Ludwigs II. vernichtend besiegt und Teile Augsburgs verwüstet. 163 Brian A. Catlos, Muslims of Medieval Latin Christendom, c. 1050–1614, Cambridge 2014, 229–243. 164 Simon de Kéza [1272–1290], Gesta Hungarorum – The Deeds of the Hungarians, hg. und übers. von László Veszprémy und Frank Schaer, Budapest 1999; Kontler, History of Hungary, 3–50. 165 Ein „Verwüstungskrieg“ Kaiser Konrads II. 1030 gegen die ungarische Herrschaft endete mit der Vernichtung seines Heeres. 166 Als „der Große“ bezeichnet und im Rahmen des weltlich-kirchlichen Machtkombinats 1083 heiliggesprochen. 167 Freund, Agilolfinger, 195–120; Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich, 193–212, vergleichend zu den Schenkungslisten. Siehe auch Dopsch, „Karolinger“, 1.1:157–228. 161

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fasste, fälschen und EB Friedrich I. 977 eine gefälschte Bestätigung hinzufügen lassen. Ein weiterer EB fälschte als Ost-Grenz-wertigen Einschub den Mandling-Pass. 168 Für ihre „Treue“ zu Gewinnern im Streit um die Königsposition erhielten die EB Besitz-mit-Menschen in Straßgang bei Gradec/Graz (slaw. kleine Stadt) und bei Eisengrätzheim sowie „Güter“ – also Menschen – an der Lassnitz. Vermutlich unwissend um die Fälschungen bestätigte Kaiser Heinrich III. 1051 den Besitz in einer ersten echten Urkunde. Sie enthielt eine Abtei in Mosapurc-Zalavár und eine Kirche in Durnawa. Dass diese der Árpáden-Familie gehörten, störte weder Kaiser noch EB. 169 EB Friedrich hatte 987 weltliche Verwaltung und Domkapitel von dem monastischen Zweig St. Peter getrennt und behielt dabei die Mehrzahl der Unterhaltspflichtigen. Er verringerte die außerklösterlichen Pfarraufgaben der Mönche, doch übernahmen sie und die Erentrudis-Nonnen Aufgaben in einer Fläche, die sich je etwa 300 km ost- und westwärts und je etwa 150 km nord- und südwärts erstreckte. Entsandte Nonnen richteten die Frauenklöster Göß (Leoben im Murtal) 1004, Suanapurc (nahe Brixen) nach 1022, Gurk (Kärnten) 1043 und andere ein. Die Migration mögen manche als peregrinatio erlebt haben. Erreichten neue Zellen und Klöster die Selbstversorgung nicht, wurden sie zu Meierhöfen abgestuft, erreichten sie wirtschaftliche Festigung, suchten manche Filialleiter Unabhängigkeit von der Zentrale. Wie alle Kleriker besaßen die EB Immunität gegenüber Eingriffen königlicher Amtsträger und mussten deshalb als Mittlerebene Vögte (von lat. ad-vocatus) für die Steuereinziehung, militärische Aufgebote und Vertretung vor weltlicher Gerichtsbarkeit einsetzen. Diese und ihre Untervögte sowie Grafen und Richter verfolgten eigene Familien-getriebene Bereicherungsstrategien. Auf den Schultern der Lebenseigenen lasteten viele Mächtige. Die Herzöge im östlichen Teil der Kirchenprovinz verlagerten im Zuge weiterer Annexionen ihre Residenzen von Melk über Gars und Kamp donauabwärts nach Klosterneuburg (gegr. 1114) am Rande Pannoniens und schließlich 1145 in den kleinen

Grenzort am Wien-(wenia)-Fluss – Überrest des einst großen Vindobonum. Für Ansässige bedeuteten neue Residenzen steigenden Bedarf an land- und handwerklichen Produkten, mehr Fronarbeit, verbesserte Verkehrsanbindungen. Im Westen gliederte König Otto II. die „Bayerische Kirche“, mit Ausnahme des Bistums Augsburg Teil der Kirchenprovinz, in seine Kirche ein und der Königsnähe halber ließen die EB sich in der Residenzstadt Regensburg, einer der reichsten Städte des Herrschaftsraums mit steinerner Donaubrücke, einen Hof, später erweitert zu Palast, errichten. Die Immobilie, zu der auch Weingärten gehörten, verpachteten sie zeitweise gegen drei Pfund Pfeffer jährlich. 170 Für Aspiranten auf die EB-Position war strategische Vernetzung wichtig und sie blieben Teil ihrer Genealogie-Familien. Nur adelige Geburt garantierte Mitspracherecht in Politik und berechtigte zu Besitz von und Versorgung durch Unfreie. Verheiratete Männer, die das Amt übernahmen, mussten ihre Verbindung ruhen lassen. Fragten sie ihre Frau? Sie versorgte die Kinder, verwaltete den Besitz oder entschied sich für ein Leben in einem Damenstift. EB Odalbert II. (gest. 935) hatte seiner Frau Rihini aus familiären oder politischen Gründen die Wirtschaftszelle Gars samt achtzehn Kirchen und Höfen mit menschlichem Zubehör sowie den Drittelzehnt der Hörigen von neun weiteren Kirchen zu überlassen. Mit über hundert Tauschgeschäften betrieb er eine für das Erzbistum erfolgreiche, für umgetauschte Menschen vielleicht fragwürdige Wirtschaftspolitik. Andere Kleriker entfremdeten Diözesanbesitz, um Söhne oder Vasallen und Kriegsgenossen auszustatten. Hohe Kleriker waren Würdenträger und sahen sich so, Laien war dies vermutlich nicht immer ersichtlich. Als EB Friedrich I. König Otto I. 969/70 nach Rom begleitete, demonstrierte er seine Position mit siebzig Panzerreitern sowie Knechten und Bediensteten. Die Ausrüstung eines Reiters kostete schon um 800 den Gegenwert von zwei bis drei Sklav*innen oder 18 bis 20 Kühen. Erzbischöfe waren hochmobil: Thietmar II. (h. 1025/26–1041) reiste nach Rom zur Kaiserkrönung, nach Regensburg, zu Hoftagen und Pfalzen, nach Augsburg und

Heinrich Koller, „König Arnolfs großes Privileg für Salzburg“, MGSL 109 (1969), 65–75. Dopsch, „Hochmittelalter“, 1.1:230–232; und ders., „900 Jahre Hohensalzburg“, in: Salzburg in der europäischen Geschichte, Salzburg 1977, 63–88, hier 66. 170 Friederike Zaisberger, „Der Salzburger Hof in Regensburg“, MGSL 122 (1982), 125–240. 168

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zum Krieg in Böhmen. 171 An Festtagen trugen kirchenrömische EB über dem – reichsrömischer Oberschichtenkleidung nachempfundenen – Messgewand das Pallium, das stadtrömische Bischöfe von reichsrömischen Beamten übernommen hatten. Dies franchise-Markenzeichen mussten sie seit dem 11. Jahrhundert gegen „Ehrungen“ genannte Gebühren und unter hohen Reisekosten persönlich vom Papst abholen. Vor der Übergabe wurde die Wollstola auf das Grab Petri gelegt und galt danach als – magisch? – wirkkräftig. Thietmar erhandelte sich Privilegien: Bei öffentlichen Auftritten durfte er sich auf rotgeziertem Pferd und mit vorangetragenem Kreuz in Szene setzen. Er erhielt das Recht, in Eilfällen ohne Konsultation des Papstes oder Anwesenheit eines Legaten zu entscheiden und wurde damit de-facto Legat. Seine Nachfolger suchten das Recht erblich zu machen (legatus natus) und handelten um die Anzahl der Tage, an denen sie sich mit Pallium zeigen durften. EB Gebhard (h. 1060–1088) begann eine Dienstmannenschaft aus waffentragenden Weltlichen aufzubauen und erhöhte für deren Finanzierung den Slawenzehnt. Er war vermutlich stolz auf ein Geschenk des östlichen Kaiserhauses, einen langen, goldbestickten und edelsteinbesetzten Schal, loros, für Zeremonien. Sein Amt verdankte er der Kaiserin-West, Agnes, wechselte aber zu deren gewalttätigem Kontrahenten EB Anno (Köln) und dieser übergab ihm zum Dank das Frauenkloster Chiemsee samt Nonnen und Kunsthandwerkerinnen. Er machte sich in einem Ausmaß verhasst, dass er neun Jahre lang auf der Flucht amtieren musste. Für die Menschen bedeutete Gebhards sture propäpstlichantikaiserliche Positionierung „Heimsuchungen“ – eine eigenartige Sprachlichkeit für Verwüstung und Tod sowie hohe Lasten für die Überlebenden, die kein Heim mehr hatten. All dies mussten Priester so aufbereiten, dass sie es ihren Gemeinden mitteilten konnten. Oder verschwiegen sie es? 172 Anstelle des EBa. d. F. setzte der König-Kaiser 1085 seinerseits einen EB – in anderer Perspektive einen Gegen-EB – ein. Gebhards Vogt (Familie Spanheim) ließ den Neuen, Berthold (Familie

Moosburg), nicht in die Stadt. Dieser kaufte Dienstmannen durch Versprechen von Kirchengütern und Bewaffnete beider Seiten verwüsteten ländliche und städtische Behausungen. Nach Gebhards Tod verschlimmerte sich die Lage der Menschen weiter. Zeitweise abgewanderte oder geflohene Domherren wählten erst zwei Jahre später Thiemo (h. 1090– 1098) aus bayerisch-gräflicher Familie. Er war gelernter und begabter Kunsthandwerker in Holzschnitzerei, Metallarbeit, Bildhauerei und Malerei. Verehrer schrieben ihm die Erfindung des für „Schöne Madonnen“ verwendeten „Steingusses“ aus Kalk und Stein- oder Marmormehl zu. 173 Vor EBkaiserlich floh EBpäpstlich und damit begann Thiemos Lebensdrama: Er traf mit seinen Bewaffneten in Friesach auf die des Gegners, verlor und wurde gefangen genommen. Chronisten schilderten die Brutalität der Adelskleriker: Man führte ihn vor die von seinem Vorgänger Gebhard erbaute Burg zu Friesach, band ihn, um die Uebergabe derselben zu erzwingen, an eine Wurfmaschine und stellte ihn den Geschossen der Belagerten bloß. Aber diese erkannten ihren Herrn und wußten ihn zu schonen. Nun führte man zwei seiner gefangenen Verwandten vor und drohte sie zu tödten, wenn er nicht die Festung übergebe. Er bestand auch diese Prüfung und die Gefangenen wurden geköpft. In strengen Gewahrsam gebracht, wurde er durch einen Laienbruder, der für ihn Geld sammelte und damit den Wächter bestach, gerettet und floh zu seinem Freunde, dem Bischof von Constanz.

Er schloss sich der Nachhut des ersten Kreuzkrieges an und kam 1101 um. Erst anderthalb Jahrhunderte später würde EB Eberhard II. die Verwicklung der Kirchenprovinz in die Kriege beenden. 174 Um Positionen als Vögte oder Dienstmannen zu erhalten, wanderten adlige Familien aus Bayern, Schwaben und Franken in betterment migration zu. Die einträgliche Hauptvogtei eignete sich die Siegharding-Familie aus dem Rhein-Neckar-Gebiet an und die Ottonen-Kaiser belehnten sie aus verkehrsund besiedlungspolitischen Gründen mit Landmit-Menschen in der Grenz-Region. Die Familien Spanheim aus Rheinfranken und Andechs-Meran aus Bayern brachten bis zum späten 12. Jahrhun-

Dopsch, „Hochmittelalter“, 1.1:201, 229–230. Dopsch, „Hochmittelalter“, 1.1:231–243, mit zahlreichen zusätzlichen Details; und ders., „Gebhard (1060–1088): Weder Gregorianer noch Reformer“, Salzburg Archiv 24 (1998), 41–62. 173 Viele der ihm zugeschriebenen Arbeiten datieren aus späterer Zeit. 174 Allgemeine Deutsche Biographie 37 (1894), 760–761, https://de.wikisource.org/wiki/ADB:Thiemo (27. Juli 2020), Zitat ebd. Eine Passio sancti Thiemonis Iuvavensis archiepiscopi (Mitte 12. Jahrhundert) schilderte dramatische, aber nicht belegte Leiden. 171

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dert den größten Land-Menschen-Besitz zusammen. 175 Zu den Adligen – Versorgungsfälle aus Sicht der Hörigen – zählten zu unterschiedlichen Zeiten und neben vielen anderen die Grafen in Lechsgemünd und in Lebenau, die Hochfreien am Haunsberg, die Familien Goldegg und Frundsberg. Fehden, fehlende männliche Erben und Kriegstod ließen viele ihrer „Güter“ Zu-Fall für die EB werden. Den Tod des letzten männlichen Sprosses der Familie Siegharding, Seitenlinie Peilstein, 1218/ 1219 und das Aussterben der Grafen-Familie in Lebenau, Seitenzweig der Spanheimer, 1229 nutzte EB Eberhard II., um durch Entvogtung die Rechte an sich zu ziehen. Die adligen Machthändel waren für ländliche und städtische Menschen oft tödlich, der Ritter-Dichter Oswald (Wolkenstein) schrieb zu späterer Zeit, dass er und die Seinen „handwerch und hütten und ander ir gezelt“ zu „ainer aschen“ machten. 176 Mit fähigen ansässigen, unfreien und zugewanderten, freien Ministerialen systematisierten die EB im 11. Jahrhundert ihre Finanz- und TerritorienVerwaltung: Hof-Staat mit Kämmerer, MarstallerMarschall (ahd. für „Pferd“ und „Diener“), Truchsessen (ahd. Vorgesetzter des Trosses, der fürstlichen Tafel), Mundschenken und anderen. Deren „Tafeldienste“ waren gegenüber Pflugdiensten der Hörigen wirtschaftlich nebensächlich, doch stellten höfische Literaten sie in Erzählungen und Liedern an erste Stelle. Der Apparat richtete eine umfassende Pfarrorganisation ein sowie Vizedomämter in

Friesach für die Kärntner und in Leibnitz für die steirischen Besitzungen. 177 Die Ansässigen, innerhalb der Kirche doppelt abhängig, zahlten neben EB-Abgaben auch an die Vizedome für Mautner und Kastner, Amtmann und Schreiber, Keller- und Küchenmeister, Knechte und andere. Im 13. Jahrhundert fasste der Apparat die ländlichen Siedlungen zu Land- oder Pfleg-Gemeinden zusammen und stellten Pfleger oder Burgpfleger, oft aus lokalem Landadel, über sie. Sie sollten „Schutz und Schirm“ bieten, entschieden über todeswürdige Verbrechen (Mord, Diebstahl, Notzucht) und beriefen das jährliche Landtaiding (Thing), die Ständeversammlung, ein. Die untere Rechtsprechung durch Urbarrichter regelte Besitzverhältnisse und -beziehungen. Die Verwaltungs- und MenschenEinheit, „Gericht“ genannt, hatte für Kriege Bewaffnete aufzubieten. 178 EB Eberhard II. (h. 1200–1246) konsolidierte den seit Virgil in fünf Jahrhunderten durch Schenkungen, Kauf und Verkauf, Verpfändungen und Austausch akkumulierten Streubesitz: Er wandelte das kleinteilige und unvollständige Mosaik zu „Territorium“, das weiterhin aus kleinräumlich differenzierten ländlichen und wenigen städtischen Landschaften bestand. Der nachfolgende Philipp (Spanheim) als „Erwählter“ und Administrator (h. 1247– 1256) führte die Expansion militärisch fort, gewann Land und verlor alle Gewinne wieder (s. Kap. 8.2, 9.7).

6.10 Herrscher und Territorien bis zum 14. Jahrhundert: Staufer, Přemysl, Habsburg Die polyglotte Kirchenprovinz war Teil des HB Jütland-bis-Sizilien. Auf dessen oberster Ebene lassen sich Adelsmobilität und Territorien-Formbarkeit – abgetrennt von Leben und Interessen der Unteren – am Beispiel des Kaiserpaars Heinrich VI. (1165– 1197) und Konstanze (1154–1198) und ihres Sohnes Friedrich (II., 1194–1250) illustrieren: Konstan-

ze, Tochter von Roger II., hatte ihre Position gegen den besitzsüchtigen Papst (Familie Conti) erkämpfen müssen. Eine arrangierte Heirat verband 1186 die normannische Sizilianerin und den in Nijmegen am Niederrhein geborenen Schwaben (Burg Hohenstaufen) Heinrich. Nach beider Tod eignete sich der Papst als Vormund des dreijährigen Sohns

Im Rahmen eines Kriegszuges kam 1035 ein Ritter aus Sponheim, Rheinfranken, in den Südosten. Er und die Erbtochter Lavants, Richgard Siegharding, heirateten und Mitte des 12. Jahrhunderts hatte die Familie Besitz von Istrien bis Venedig und Verona, von Tirol über Ostbayern bis Kärnten. 176 Franz Esterl, Chronik des adligen Benediktiner-Frauen-Stiftes Nonnberg in Salzburg […] bis 1840, Salzburg 1841, 25–26; Dopsch, „Hochmittelalter“, 1.1: 284–296; Hans Moser, Wie eine Feder leicht. Oswald von Wolkenstein: Lieder und Nachdichtungen, Innsbruck 2012, 160–161. 177 Erich Marx, „Das Salzburger Vizedomamt Leibnitz“, MGSL 119 (1979), 1–142. 178 Ernst Bruckmüller, „Täler und Gerichte“, in: Peter Feldbauer u. a., Herrschaftsstruktur und Ständebildung, 3 Bde., Wien 1973, 3:11–51. 175

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Friedrich Teile des Reichsgutes an und nannte den Raub „Rekuperation“. 179 Adels-Familien suchten sich den Kaiserthron anzueignen. Als Friedrich die Position als Achtzehnjähriger 1212 antrat, lag seine arabisch-, lateinisch- und griechisch-sprachige Kanzlei, deren Effizienz aus der Zeit oströmischer und muslimischer Herrschaft (bis zum 9./10. Jh. und 1061) stammte, in dem vielkulturellen und trireligiösen Palermo. Er gründete in Neapel eine Universität und förderte in Salerno die europaweit führende Schola Medica, an der Männer und Frauen jüdischen und muslimischen Glaubens lehrten. Seine Gattin Konstanze (Aragon, ~1184–1222) fügte dem Hof iberische Impulse und Netzwerke hinzu. 180 Nach Friedrichs Tod 1250 konkurrierten Großmagnaten-Familien – darunter regierende aus Holland, Kastilien und Cornwall – um den Thron mit Heeren, in denen muslimisch-arabische Bogenschützen neben christlich-deutschen Rittern und stadt-italienischen Söldnern kämpften. Aus dem Überangebot von Bewerbern designierten die Kurfürsten in, wie sie glaubten, strategischer FamilienPositionierung Könige aus Kastilien und Cornwall auf Zeit. Für Herrschaftseinheit (polity) hätten sie sich einigen müssen. In dem Prozess erhielt das Regnum Francorum Orientalium Heiligsprechung, Sacrum Imperium, und Rom-Genealogie, Sacrum Romanum Imperium, Heiliges Römisches Reich (HRR). Papst Hadrian IV. (geb. in England) wollte es als sein Benefizium an den Kaiser sehen, dieser seine Herrschaft als analog zum Heiligen Stuhl. Hohe Adlige, die den amtierenden Kaiser, seine Kanzlei oder Hofleute kontaktieren wollten, mussten über deren Routen und kurzfristige Aufenthaltsorte gut informiert sein. Boten erreichten nicht immer ihr Ziel, Ackerbauende mit wenigen Zugtieren sahen deren viele Pferde. 181 EB Eberhard II., auf der Seite Friedrichs als Kaiser in spe, hatte den machtstrebigen Papst Gregor IX. (h. 1227–1241) als „Antichrist“ bezeichnet. Dieser verhinderte durch Exkommunikation ein Begräbnis des EB in geweihter Erde. Auch dies mag unter Gläubigen Fragen aufgeworfen haben, für die es ein Diskussionsforum nicht gab. Nachfolgende EB suchten Distanz zur west-

lichen Herrscher-Familie Wittelsbach und zielten auf Selbstständigkeit. Allerdings zielte die östlich benachbarte Herrscher-Familie Habsburg auf Machtausweitung. EB Friedrich II. (h. 1270–1284) agierte vorsichtig und wirkte an dem Friedensschluss zwischen den Familien Přemysl und Árpád mit. Um seine Konfirmation zu betreiben, musste er nach Rom reisen, wo das Papst-Amt nach fast dreijähriger Sedisvakanz mit Gregor X. wiederbesetzt war. Friedrich samt Entourage blieb zwei Jahre in Rom und reiste von dort nach Lyon, wo Gregor zur Vorbereitung eines weiteren Orientkreuzzuges Konzil halten wollte. In Lyon waren „Ketzer“ aktiv, der dortige EB-Kollege vertrieb sie. Einige der Flüchtlinge erreichten die Kirchenprovinz Salzburg und trafen Gleichgesinnte. EB Friedrich mag nie eine*n „Waldenser*in“ getroffen haben; er hatte Kontakt mit ihren Verfolgern (s. Kap. 9.10). Als der EB seinen Rückweg antrat, herrschte reichsweite Aufregung, denn die Kurfürsten hatten 1273 nicht den einflussreichen König von Böhmen und (seit 1251) Herzog von Österreich, Ottokar II. Přemysl (1232–1278) gewählt, sondern den – wie sie glaubten – wenig bedeutungsvollen und bereits 55 Jahre alten Rudolf Habsburg (1218–1291). Beide Familien hatten eine lange Geschichte. Die Familie Habsburg stammte – so eine mehr als zwei Jahrhunderte später entwickelte Erzählung – von römischen Adligen, dem trojanischen Priamus und dem englischen König Artus ab. Historiker lokalisierten einen „Stammvater“ Lanzelin (gest. 991), der in seiner sehr kleinen Herrschaft im Aargau Freibauern, die sich unter seinen Schutz gestellt hatten, vertreiben ließ. Sie flüchteten in Wälder, fremde Gegenden oder starben Hungers; er setzte Unfreie auf das Land. Sein Sohn Radbot (~985–~1045) führte die Bedrückung fort und ließ eine Burg – in der Erzählung „Habichtsburg“ genannt – bauen. Als die Kinder der Enteigneten versuchten, ihr Erbland wieder in Besitz zu nehmen, ließ er sie niederschlagen und in einem Brüderkrieg zerstörten seine und seines Bruders Bewaffnete den Ort Muri samt Bewohner*innen. Kurz darauf residierte der amtierende König kurz auf der nahen Burg Solothurn und die Bauern zogen dorthin, um „wegen ihrer ungerechten

Durch die sizilianisch-transalpine Eheverbindung lag das Papst-regnum zwischen den Territorien einer Familie. Aziz Ahmad, A History of Islamic Sicily, Edinburgh 1975, 37–96; David Abulafia, Frederick II: A Medieval Emperor, London 1988, 25–53, 144–171; Norman Daniel, The Arabs and Mediaeval Europe, London 21979, 142–168. 181 Riché, Daily Life, 15–23. 179

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Abb. 6.16 Mitteleuropäischer Besitz der Großmagnaten-Familien Habsburg (österreichische, spanische, tirolische Linien), Luxemburg und Wittelsbach im 14. Jh., unterlegt mit dem Einfluss- und Herrschaftsbereich Ottokars II., 1253–1271 Während die Geschichte des mitteleuropäischen Reiches von deutsch-sprachigen Historikern oft als Erfolgsgeschichte beschrieben wurde, sehen Historiker*innen in slawisch-sprachigen Teilen dies anders und in niederländischer Erinnerung begann das „Goldene Zeitalter“ mit der Befreiung von der Familie Habsburg.

Bedrückung Klage zu erheben“, wurden aber „der unbeholfenen Rede“ wegen nicht vor den König gelassen. Radbot heiratete Ita (Idda) aus Lothringen (~955–~1035). Sie erfuhr von seien Untaten und rief zur Sühne Mönche, die in Muri ein Kloster errichteten und 1050 den Bericht über die Brüder und den Stammvater verfassten. 182 Die Familie erwarb Kleinbesitz im nahen Schwaben und diese „Vorlande“ würden im Zuge wandernder Territorien-Namen als „Vorderösterreich“ bezeichnet werden. Sie waren die schmale Basis für großen Ehrgeiz. Die Familie Přemysl, die in Böhmen herrschte und großräumlich agierte, zeigte nach dem Tod des Streiters Friedrich Babenberg 1246 großes Interesse an Österreich, Teil der Kirchenprovinz, und der am-

tierende Ottokar II. heiratete 1251 die weit ältere Margarete Babenberg. 183 Für dünn besiedelte böhmische Regionen warb er Bauern und Handwerker aus dem dicht besiedelten Schwaben an und gewährte Juden Schutz. Aus Schwaben waren überschüssige oder dynamische Kirchen- und Weltadlige in die Kirchenprovinz gewandert. Ottokar suchte Besitzerweiterung gemeinsam mit Abenteurern und Gewinnsüchtigen, die sich einst in Palästina zu einem anfangs vielkulturellen, dann „Deutschen“ Orden zusammengeschlossen hatten. Nach ihrer Vertreibung ließen sich einige der Glaubenskrieger an der Grenze zu Ungarn nieder (s. Kap. 8.2). 184 An den von ihnen und den Fratres miliciae Christi de Livonia (Schwertbrüder) geführten Eroberungszügen

Franz Regis Crauer, Hauptepochen der schweizerischen Geschichte, Luzern 1805, 3–7. Einen fantasievollen Stammbaum erfand der Autor der Chronik von den 95 Herrschaften Ende des 13. Jahrhunderts (Hg. Joseph Seemüller, Hannover 1906). 183 Der ungarische König Béla erhielt Teile der Steiermark, darunter Graz, und musste diese 1260 an Ottokar II. abtreten. 184 Dies führte die durch Errichtung des Erzbistums Magdeburg begonnene Ostchristianisierung fort. 182

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gegen Balten und Pruzzen beteiligte Ottokar sich. Die Fratres hatte im Zuge der Vielstimmigkeit der Lateinkirche 1202 der Zisterzienser-Krieger Theoderich (Treyden, umgekommen 1219 in einer Schlacht) gegründet. Die Soldaten Christi unterwarfen baltische Menschen und errichteten einen Ordens-„Staat“ als militärreligiösen Einnahmebereich. Ottokar erweiterte seine Herrschaft nach Süden bis an die Adria, er förderte Kunst und Wissenschaft. Eine Bitte oder Anordnung des Papstes, während eines Salzburger EB-Schismas zu helfen, interpretierte er als Erteilung der Obervogtei. Den Menschen Kärntens und der Steiermark brachten die darauf folgenden Kämpfe schwere Schäden. „Die Kirche“, das heißt der EB, verhängte über Ottokar Acht und Aberacht und, wie intendiert, brach seine Herrschaft in dieser Region zusammen. Die Thronaspiranten Rudolf und Ottokar begannen unmittelbar nach der Wahl Krieg und ihre Heere trafen am 26. August 1278 in der intensiv feldwirtschaftlich genutzten Ebene der March zwischen Wien und Pressburg/Bratislava aufeinander. Ottokar kam um. 300 Salzburger Reiter – das heißt angesichts der Kosten für die Ausrüstung mehr als 3000 Hufen-Familien – trugen zu Rudolfs Sieg bei. Dies hatte vom EB nicht beabsichtigte Folgen: Rudolf und seine Frau Gertrud (aus Hohenberg, Südwestdeutschland) versorgten ihre Söhne mit Österreich und der Steiermark, später würden Krain und Kärnten an sie kommen. Ihre Familiengeschichte wurde salzburgische: von „Salzburg im Kampf gegen Österreich“ über „mit Österreich gegen Bayern“ zum „Ende selbständiger Salzburger Politik“, so Landeshistoriker H. Dopsch. 185 Für Rudolf erfand ein Franziskaner in Winterthur schnell eine Legende: Rudolf sei einem Priester mit dem „Allerheiligsten“, geweihtem Brot und Wein, begegnet und – in Zisterzienser-Fassung von 1370 – habe diesem ehrfürchtig zur Überquerung eines ungestüm fließenden Flusses sein Pferd überlassen. Anschließend habe ein Einsiedler Rudolf seine Zukunft als Herrscher vorausgesagt. Nach Vater Rudolfs Tod bekriegte Sohn

Albrecht I. den gewählten König, siegte und die Kurfürsten wählten ihn. Er verweigerte seinem Neffen Johann dessen Erbteil, dieser ermordete ihn. Erinnerer nannten den einen „Johann Parricida“ (lat. Vateroder Verwandtenmörder), den anderen jedoch nicht „Albrecht Erbschleicher“. Die Vergabe von Beinamen und Bewertungen ist politisch. Laut einigen Erinnerern standen „die Salzburger“, um 1300 in der östlichen Voralpen- und Alpenregion 700.000 bis 900.000 oder mehr Menschen, treu zu den Habsburgern. Unter ihnen lebten, nach kirchlichen Maßstäben, „Häretiker“. Treue, wenn der Begriff denn überhaupt zu verwenden ist, bedarf der Analyse. 186 In den wiederum folgenden Thronstreitigkeiten wollten sowohl Ludwig Wittelsbach („der Bayer“) als auch Friedrich Habsburg („der Schöne“), Cousins und Freunde, König werden. Wieder stand „Salzburg“ mittendrin oder dazwischen. Der EB stellte sich ebenso kosten- wie, langfristig, gewinnträchtig auf die Seite der Familie Habsburg. Eine Schlacht in Wohngebieten Salzburger Untertanen wurde „feierlich angesagt“ und abgesagt, „die Schwaben“ (EB Friedrichs Bruder Leopold herrschte dort) und „die Österreicher“ verwüsteten Burgen und Dörfer. Eine erneut angesagte Schlacht bei Mühldorf am Inn im September 1322 gewann die Seite Wittelsbach. Etwa 1100 Männer kamen um, darunter zahlreiche „zu Rittern geweihte“ EB-Gefolgsleute, viele aus den slawischen Drau-Save-Gebieten, sowie Passauer, ungarische und kumanische. Bei einer angenommenen Familiengröße von fünf Personen bedeutete dies etwa 4400 Hinterbliebene. 187 Sehr viel später lebende Chronisten konstruierten nostalgisch eine „letzten Ritterschlacht“: edle Männer als Schwert- und Lanzenkämpfer zu Pferd. 188 Die Realität war brutal: Mit langen Stangen und Haken rissen Knechte Ritter vom Reittier und zerschnitten mit sichelartigem Aufsatz Pferden die Knie- oder Hufgelenk-Sehnen. Nach jeder Schlacht sammelten Ansässige in der Nacht und Knechte der Sieger in den folgenden Tagen „Altmaterial“: Kriegshandbücher erläuterten Recycling und lokale Schmiede werden ihre Vorräte ergänzt,

Hans Wagner, Heinz Dopsch und Fritz Koller, „Salzburg im Spätmittelalter“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:437–661, hier 444–486. Die älteren Berechnungen von Colin McEvedy und Richard Jones, Atlas of World Population History, Harmondsworth 1978, 86–91, ergaben höhere Zahlen. 187 Judas T. Zauner, Chronik von Salzburg, 2. Teil, Salzburg 1796, 447–457, sprach von „landesverderblichem“ Thronfolgekrieg und nannte die Entscheidungsschlacht „Kriegstheater“. 188 Ähnlich denkende Erinnerer würden Maximilian I. Habsburg (1459–1519) zum „letzten Ritter“ stilisieren, französische Kollegen François I. (1494– 1547) zum Roi-Chevalier. 185

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manche Hufenbauern auf ihrem kleinen Amboss neue Geräte hergestellt haben. In der Kirchenprovinz folgte eine Finanzkrise, denn der EB musste Kriegskredite tilgen, Gefangene auslösen, Soldauslagen für slawische Ritter erstatten und den Schaden, den die Truppen des Königsin spe beim Durchmarsch verursacht hatten, ersetzen. Aus verpfändeten Burgen mussten alte Besatzungen abziehen, neue einziehen und den Beherrschten bekannt geben, dass nun sie die Abgaben einzögen. Rittertrupps wurden neuen Lokalherrschern vermacht, denen sie „treu dienten“. Wie so oft mischte sich das Sacerdotium, derzeitiger Sitz in Avignon, ein. Der Papst bannte den König, der EB ließ dies verkünden, der gebannte, aber durchaus aktive König schickte Truppen. Sie nahmen auf dem Weg zur Residenzstadt durch Konspiration des Burggrafen die Stadt Tittmoning ein und, um den Salztransport auf der Salzach wieder möglich zu machen, musste der EB sie zurückkaufen. Dies kostete die Untertanen-Familien im Jahr 1327 weitere 5500 Pfund Pfennige. In der Familie Habsburg fehlte eine Familienordnung; die Männer stritten um das Erbe und der König in Ungarn zeigte Interesse an ihrem österreichischen Besitz. Der neue ZWH-König Ludwig IV., Familie Wittelsbach, zog nach Rom-Stadt und ließ sich „vom römischen Volk“, das heißt der Stadtelite, papstfrei zum Kaiser krönen, denn der amtierende Johannes XXII. vertrat im Armutsstreit rigoros die Interessen der reichen Kirche. Nach Ludwigs Tod bei einer Bärenjagd 1346 wählten die Kurfürsten auf Anregung des Papstes Wenceslaus/ Václav, König von Böhmen, aus der dritten der drei großen Herrscher-Familien, Luxemburg, als Karl/ Karel IV. 189 Damit lag der „eingekreiste Kirchenstaat“ Salzburg (H. Dopsch) zwischen den drei Magnaten-Familien. Die Herrschaft der Familie Luxemburg senkte die Bedrohung durch Familie Wittelsbach; die Familie Habsburg war nach der Ermordung Albrechts I. aus der Konkurrenz, aber nicht aus der Nachbarschaft. Als der EB unter der Schuldenlast eine durch die

Stände zustimmungspflichtige Sondersteuer forderte, erklärten die Suffragane ihre Zahlungsunfähigkeit und weltliche wie kirchliche Adlige verweigerten sich. In dieser Zwangslage musste der EB 1328 für die Diözese eine „Landesordnung“ erlassen. Sie fixierte im Wesentlichen gewohntes Recht. Domkapitel/Prälaten und Edelleute sowie Ritter als Individuen und Stadtkorporationen bildeten die drei Stände. 190 Kollektiv galten erstere als „die Landschaft“ (Singular), mit den Städten – Hallein, Laufen, Tittmoning, Radstadt sowie Mühldorf und Gmünd – als „Landstände“. Unfreie waren kein Stand, sie gehörten dem „Gotteshaus“ und hatten für Kriege das subsidium caritativum aufzubringen. Mit Ernennung zum Principatus pontificalis, dem „geistlichen Landesfürsten“, wurde Salzburg-Diözese als Erzbistum bzw. „Land Salzburg“ de iure unabhängig von den Familien Wittelsbach und Habsburg, de facto umfasste die Kirchenprovinz weiterhin Teile von deren Herrschaftsbereichen. 191 Ungerührt von Klimaverschlechterung (seit 1313) und Pest (1348–1350) konzentrierten sich die EB auf den Titel, Archiepiscopus et princeps, „Fürsterzbischof“ (FEB). Der Familie Habsburg half Göttin Fortuna: Die Görzer Grafen-Familie endete in männlicher Linie, Familie Habsburg erbte Kärnten-mit-Kärntner*innen; die letzte Gräfin in Tirol, Margarete, vermachte ihre durch den Brenner wichtigste Pass-Herrschaft Rudolf IV. (h. 1358–1365) Habsburg. 192 Da dieser, Urenkel von Rudolf I., gern Erzherzog werden wollte, ließ er ein Privilegium maius fälschen. Dies bereits von Zeitgenossen als eselhaft bezeichnete „Freiheitsprivileg“ sollte Wander-Familie und Wander-Territorien als „Erblande“ unauflösbar verbinden. Ein späterer Enkel eines Onkels, Friedrich III. Habsburg, würde das Papier 1453 offiziell anerkennen. 193 Erinnerer übernahmen den Begriff. Rudolf IV., verheiratet mit Katharina, Familie Luxemburg, sah sich in ständiger Konkurrenz zu seinem Schwiegervater Kaiser Karl/Karel IV. Dieser schrieb auf Reichsebene das Prozedere der Königswahl 1356 in der „Goldenen Bulle“ (späterer Name) fest, betraute aber Rudolfs Familie nicht mit einer

Georg Modestin, „The Making of a Heretic: Pope John XXII’s Campaign against Louis of Bavaria“, in: Michael D. Bailey und Sean L. Field (Hg.), Late Medieval Heresy: New Perspectives, Woodbridge, Suffolk 2018, 76–95; Dopsch u. a., „Spätmittelalter“, 1.1:472. 190 Zum Stand der Ritter, das heißt der ritterlichen Mannschaft eines Herren: Peter Feldbauer, Herrschaftsstruktur und Ständebildung, 1:168–196; zu Prälaten Helmuth Stradal, „Die Prälaten“, ebd., 3:53–114, bes. 82–85; und Michael Mitterauer, „Ständegliederung und Ländertypen“, ebd., 3:171–179. 191 Landeshistoriker benennen den Erlass der Ordnung als „Geburtsstunde des Landes Salzburg“. 192 Brixen sowie Ziller- und Pustertal blieben Teil des Fürsterzbistums Salzburg. 193 Štih u. a., Slowenische Geschichte, 80–84; Kontler, History of Hungary, 81–82. 189

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Herrscher und Territorien bis zum 14. Jahrhundert: Staufer, Přemysl, Habsburg

Abb. 6.17 Metamorphosen: Varianten Habsburgischen Besitzes, österreichische Linie, 1291, Besitzungen in der Schweiz in ihrer größten Ausdehnung, 1564, 1795, 1815 Der Verfasser, der diese Schullandkarten um 1880 für die Bildung künftiger Generationen erstellte, ahnte nicht, dass es wenige Jahrzehnte später kein Habsburger-Reich mehr geben würde.

Kurfürstenrolle. So suchte Rudolf Wien zur Konkurrenz des geistig-kulturellen Zentrums Prag auszubauen. Dies verursachte Kosten (s. Kap. 8.2). Familie Habsburg hatte zwar 1355 beschlossen, Besitz ohne Teilung „zur gesamten Hand“ zu vererben, doch nach Rudolfs Tod 1365 teilten seine Brüder Albrecht III. und Leopold III. die Herrschaft und damit die Familie in einen albertinischen und einen leopoldinischen Zweig. In nachfolgenden Tei-

lungen entstanden mit den Hauptstädten Wien, Graz und Innsbruck Donauösterreich (Niederösterreich mit Wien und Teilen Oberösterreichs), Innerösterreich (Steiermark, Kärnten und Krain) sowie Tirol. Hinzu kam Vorderösterreich in Schwaben und Elsass. Erst Maximilian I. Habsburg würde die Teile 1493 wieder zusammensetzen und die Familien-, Territorien- und Vielvölker-Geschichte zur Geschichte Mitteleuropas machen. 194

Wolfram, Geburt Mitteleuropas; Karl-Heinz-Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters, 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 22015.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

6.11 Kreuzkriege und Mongolenhorror: Attraktive Levante und Pax mongolica Nachdem sich bulgarische, serbische und kroatische, skandinavische sowie russische und magyarische Herrscher der „Christianisierung“ angeschlossen hatten und nicht mehr Ziel gegen „Heiden“ gerichteter Raubstrategien sein konnten, boten nur Randzonen Optionen: die muslimisch-iberische, keltische und slawische aus jeweiliger HerrscherSicht in Frankreich, England und ZWH. 195 „Randzonen“ waren für Ansässige Mittelpunkt ihres Lebens. Unterbeschäftigten Militärs und machtstrebigen Päpsten galten als reichstes Ziel die seit dem 8. Jahrhundert unter Herrschaft islamischer Sultane stehenden Städte der Levante. Dort war religiöser Übergang graduell und, soweit Gläubige weiterhin christlich glaubten, folgten sie anderen Liturgien als die heranziehenden Lateinkirchler. 196 Papst Urban (geb. in Frankreich, h. 1088–1099) rief 1095 zu „bewaffneter Pilgerfahrt“ (peregrinatio) und seine Glocken läuteten das „Zeitalter Lateinischer Aggression gegen den dār al-Islām“ mit „Grausamkeit und Fanatismus“ ein. 197 „Kreuzzug“ hebt den migratorischen, „Kreuzkrieg“ den aggressiven Aspekt hervor. In selbstgefälliger Wertung „konnte Europa über sich hinausgreifen“, doch wörtlich forderte Urban, die „dreckige Rasse“ im Osten auszurotten. Zudem mag er ein persönliches Ziel gehabt haben: Er war gewählt und hielt Konzil in Clermont, doch amtierte in Rom Clemens III. als kaiserlicher Papst (geb. in Italien, h. 1084–1100). Grund für den Kriegsruf war, so eine Überlieferung, die Verringerung der Übervölkerung Frankreichs; Anlass bot ein Ansuchen des oströmischen Kaisers Alexios I. Komnenos um Hilfe gegen schritt- oder truppweise vordringende Seldschuken. Zentral war, dass dem Papst als einzigem Herrscher ohne Heer die Bewaffneten kostenfrei unterstehen würden und dass ein Außenkrieg von den inneren Problemen ablenken würde. Ziel war weiterhin, das Gewalt-

potenzial unterbeschäftigter und absteigender Ritter, die nach Kirchenbesitz griffen – herrschaftssprachlich: sich ver-griffen – zu exportieren. Urbans private Rechnung ging auf: Trupps aus Frankreich zogen über Rom und setzten Clemens ab. Dem ersten und zweiten Kreuzkrieg gingen regionale Hungersnöte voraus und in den Notstandsgebieten versammelten sich 1096 besonders viele der anfangs etwa 10.000 Männer und Frauen. Der Papst versprach Sündenablass, Prediger fanatisierten, ein Graf führte sie gegen jüdische Gemeinden im Nahbereich: zwölf Ermordete in Speyer, 500 in der Kathedrale in Worms, 700 im Bischofssitz Mainz, Blutbäder an zahlreichen anderen Orten. An der Grenze zu Ungarn ließ König Koloman die Trupps aufreiben, südlich ziehende ermordeten Juden in balkanischen Gesellschaften und raubten Nahrung von ansässigen Christen, denn Logistik hatte der Papst nicht geplant. Kaiser Alexios verweigerte ein Zusammengehen, da Juden Teil der Gesellschaft waren und raubende christliche „Franken“ – so die pauschale Bezeichnung – unter orthodoxen Christen Wut ausgelöst hätten. Die Hauptgruppen, vielleicht mehr als 30.000 ohne Tross, darunter Ritter aus der Salzburger Kirchenprovinz, eroberten Jerusalem 1099 und brachten, laut Papst in göttlichem Auftrag, etwa 3000 Menschen, Christ*innen eingeschlossen, um. 198 Spiritueller Gewinn aus dem Wüten kam in päpstlichem Denken nur Männern zugute. Deren Reisen finanzierte Besitz, den nicht mitziehende Frauen verwalteten. Selbstbewusst zog Eleanore, Herzogin in Aquitanien, mit ihrem königlichen Mann, Ludwig VII. aus Frankreich; Margaret (~1150–1215), Waise vermutlich wohlhabender Eltern, arbeitete als Wäscherin, kämpfte und reiste viel; Königin Marguerite (Frankreich) kaufte ihren Mann Ludwig IX. nach dessen unklugem Angriff

Nora Berend (Hg.), Christianization and the Rise of Christian Monarchy. Scandinavia, Central Europe and Rus’ c. 900–1200, Cambridge 2007. Das Konzept resource-based development hat Jason W. Moore für die Zeit des Kolonialismus-Imperialismus, 1870 bis 1914, entwickelt: Capitalism in the Web of Life. Ecology and the Accumulation of Capital, London 2015, 13–38. 196 Robert Bartlett, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt, übers. von Henning Thies, Reinbek 1996 (engl. 1993); Jack Tannous, The Making of the Medieval East. Religion, Society, and Simple Believers, Princeton 2018, 225–490. 197 Catlos, Muslims, 262–280; Reinhardt, Pontifex, 286–287; Mitterauer, Europa, 199–234. 198 Andreas Rüther, „Die mittelalterlichen Kreuzzüge in der Geschichtsschreibung seit Runciman“, in: Felix Hinz (Hg.), Kreuzzüge des Mittelalters und der Neuzeit. Realhistorie – Geschichtskultur – Didaktik, Hildesheim 2015, 21–36; und Jürgen Sarnowsky, „Die moderne Wahrnehmung der geistlichen Ritterorden des Mittelalters“, ebd., 177–202; Barbara Drake Boehm und Melanie Holcomb (Hg.), Jerusalem 1000–1400. Every People under Heaven, Ausstellungskatalog, New York 2016. 195

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Kreuzkriege und Mongolenhorror: Attraktive Levante und Pax mongolica

Abb. 6.18 Routen der bewaffneten Pilger*innen und betroffene Bevölkerungen, 1096; größte Ausdehnung der Kreuzfahrer-HB um 1144; christliche und muslimische Nachbarherrschaften

auf Damietta aus ägyptischer Gefangenschaft frei. 199 Wenige Frauen kämpften, viele trugen während der Schlachten Wasser und Nahrung zu den Kämpfenden, angesichts der Temperaturen war dies überlebenswichtig. Erinnerer haben mitziehende und sich hinzugesellende Frauen, unternehmungsbereit und mit offenen Augen für die ferne Welt, pauschal als Prostituierte bezeichnet. Diejenigen, die Sex verkauften, reagierten auf Nachfrage und verdienten ihren Lebensunterhalt. 200 Die Kriegszüge blieben im Wesentlichen erfolglos, Muslime bewerteten Erfolg ohnehin anders. Fränkische Ritter und palästinensische Frauen hei-

rateten und ihre Söhne kämpften ebenfalls unter dem Kreuz. 201 Während die Krieger auf schnellen Reichtum zielten, suchten Stadt-italienische KaufFamilien langfristige Handelsstützpunkte. Sie lebten in kleinen Kolonien neben syrischen Christen und Juden, sie versklavten und verkauften Muslim*innen und führten Kriege gegeneinander. Die lateinischen Könige in Jerusalem herrschten 88 Jahre, 1099 bis 1187 (islam. 492–583), die übrigen Kleinkönigtümer zerfielen bis 1300. Nachschub fehlte und die Kriege brachten Verluste statt der avisierten Gewinne. 202 Ṣalāḥ al-Dīn (Saladin), Heerführer der benachbarten seldschukischen Zengiden-Herrscher

An dem Zug nach Damietta beteiligten sich aus Salzburg der Domprobst, der Burggraf und andere Herren. Bereits im Rahmen der frühen U.S.-Frauenbewegung hatte Celestina A. Bloss Heroines of the Crusades, Auburn, NY 1853, verfasst. Constance M. Rousseau, „Home Front and Battlefield: The Gendering of Papal Crusading Policy (1095–1221)“, in: Susan B. Edgington und Sarah Lambert (Hg.), Gendering the Crusades, Cardiff 2001, 31–44, hier 32–33; Christoph T. Maier, „The Roles of Women in the Crusade Movement: A Survey“, Journal of Medieval History 30.1 (2004), 61–82; Natasha R. Hodgson, Women, Crusading and the Holy Land in Historical Narrative, Woodbridge, Suffolk 2007. 201 Zu arabischen Perspektiven Francesco Gabrieli, Arab Historians of the Crusades, übers. von E. J. Costello, London 1969 (ital. 1957); Amin Maalouf, The Crusades through Arab Eyes, New York 1984; Tamin Ansary, Destiny Disrupted. A History of the World through Islamic Eyes, New York 2009, 133–158. Eine oströmische Perspektive bot bereits Anna Komnena (1083–1153), älteste Tochter des Kaisers Alexios I., in ihrer 15-bändigen Alexiad. Zu lokal geborenen Kämpfern in Sidon vgl. https://www.sanger.ac.uk/news/view/crusaders-made-love-and-war-genetic-study-finds (9. September 2020). 202 Preston und Wise, Men in Arms, 75–79. Zu westlichen Berichten Marcus Bull, Eyewitness and Crusade Narrative, Woodbridge, Suffolk 2018. 199

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

über das von Nūr ad-Dīn (Nureddin Zengi) vereinte Syrien, eroberte Jerusalem 1187. „Die Sarazenen“ richteten kein Blutbad an und ließen nach Konsolidierung Pilger*innen zu den ihnen heiligen Stätten einreisen und ihren Riten folgen. Alle drei monotheistischen Religionen-des-Buches, denen Jerusalem zentral war, waren multi-liturgisch und pluridoktrinär. In Relation zur Gesamtbevölkerung, sechs bis acht Generationen in den zwei Jahrhunderten zwischen 1090 und 1290, waren die Hunderttausende, die sich an den Fernmigrationen beteiligten, wenige: Arme, die ohne Unterstützung nicht nach Jerusalem hätten pilgern können; Ritter, die dringend Sündenablass und Beute brauchten; Herrscher mit und ohne Land. Der erste Zug ist als „Volkskreuzzug“ bezeichnet worden; in einen „Kinderkreuzzug“ zogen 1212 besonders nachgeborene Söhne ländlicher Familien; zu einem „Hirtenkreuzzug“ rief 1251 in Frankreich ein aus Ungarn stammender Mönch auf. Doch die jungen Männer und Frauen griffen Burgen, königliche Beamte und Kleriker sowie Leprakranke und Juden an und die Mächtigen ließen sie vernichten. Die Mehrzahl der Kreuzzügler kam um und dies veränderte in ritterlich-adligen Kreisen die Demografie und, durch Erbfall, Besitzkonzentration. Migranten, denen das fruchtbare Palästina gefiel, ließen sich nieder und wurden Emigranten. Sie erstaunte die Vielfalt der gelebten Christentümer, aber sie akkulturierten sich. Rückkehrer trugen neue Erfahrungen mit sich: Einzelne ließen sich von versklavten Muslim*innen begleiten; viele vermittelten Wissen über die Leistungen und Ästhetik muslimisch-arabisch-persischer und christlich-palästinensischer Kultur; manche gestalteten Burgen mit östlichen architektonischen Elementen. Aus Kriegsaufrufen entstanden Verflechtungspraxen der Überlebenden. Erzählungen über die (geraubten) Schätze, die Rückkehrende in die Kirchenprovinz trugen, blieben über Jahrhunderte lebendig und eine tiefe Höhle bei Lofer im Saalachtal barg angeblich die Schätze eines Ritters namens Lamprecht. Lebendig schrieb der aus Bayern stammende Johannes Schiltberger über seine Teilnahme an dem späteren Kreuzzug von Nikopolis, 1396: osma-

nische Gefangenschaft, Dienst unter dem Mongolenkhan Timur, Flucht. Dies druckte 1460 ein Augsburger Buchhändler und Nachdrucke zeigten, dass viele kauften. Schiltberger berichtete über die vielen Versionen christlichen Glaubens und differenziert über muslimische Gläubige. 203 Für Ansässige entlang der Routen waren bewaffnete Pilger bedrohlich oder lebensgefährlich; für venezianische und genuesische Schiffsunternehmer waren sie zahlende Kunden – die Mittel stammten aus Kreuzzugs-Sonderzehnten auch von Familien im Mur-, Metnitz- und anderen Tälern. Erzählten Priester von Erfolgen oder Niederlagen? Dort, wo sich Ritter – über Fußläufer berichteten Chronisten kaum – auf Kreuzfahrt begeben hatten, beobachteten Untertanen, wie zu Hause gebliebene ritterliche Nachbarn allein gelassene Frauen und Kinder belästigten und unbewachte Ländereien raubten. Sie sahen so viel, dass sie das Thema sexueller Belästigung in ihre Erzählungen aufnahmen. Sie bezogen einhellig Position auf Seiten der Frauen und wussten von helfenden Engeln. So berichtete es Johannes, Zisterzienser in Viktring. Rückkehrer, die im Orient viel gehört hatten, trugen besonders die Geschichte der hochgelehrten Gouverneurstochter Katharina im einst römischen Alexandria zurück. Sie hatte sich im 3. Jahrhundert für den christlichen Glauben entschieden und Selbstbewusstsein gezeigt. Als Kaiser Maximian (h. 286–305) seine Ordnungskräfte gegen Christ*innen vorgehen ließ, stellte sie sich ihm entgegen; eine Disputation mit (oder gegen) fünfzig pagane Philosophen gewann sie. Im nächsten Schritt bot der Kaiser die Attraktion seines Körpers und Reichtums, sie lehnte ab. Er griff zu Gewalt, sie widerstand, er ließ ihr den Kopf abschlagen (vereinfachte Zusammenfassung). Katherina verehrten Christen als Beschützerin der Frauen, Helferin bei Sprachschwierigkeiten und Patronin von Gelehrten und Handwerkern. In der Wallfahrtskirche St. Leonhard in Tamsweg (Lungau), an deren Weihe Chorbischof und EB beteiligt waren, stellten der Salzburger Baumeister Peter Harperger und österreichische Glasmaler sie mehrfach dar. Welche Erzählung über die gelehrte Christin hörten umwohnende und wallfahrende Laien, welche erzählten sie weiter? 204

Landeshistoriker erklärten Schiltberger zum „Marco Polo Bayerns“. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass Hagiographen Katharina als Person unter Bezug auf die alexandrinische Gelehrte Hypatia (geb. ~355), von Christen 415/16 umgebracht, entwickelten und Engel ihre Gebeine ins Kloster am Dornbusch (südl. Sinai) tragen ließen. Als diese im 8. oder 10. Jahrhundert gefunden wurden, erhielt das von Justinian gegründete Wehrkloster den Namen „Katharinen-Kloster“.

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Kreuzkriege und Mongolenhorror: Attraktive Levante und Pax mongolica

Auch zuhause erlebten Menschen während der Kriegsjahrzehnte vieles. Pettauer*innen sahen einen Grafen mit Gefolge abreisen, Friesacher*innen und Salzburger*innen zum Pfingstfest 1149 Kaiser Konrad III. mit Granden und Knechten auf seiner Rückreise von der Niederlage des Zweiten Kreuzzuges. Aufmerksamkeit erregte 1192 eine mit arabischem Geld ausgestattete Reisegruppe eines geheimnisvollen Ritters. Sie wurde nahe Wien gefangen gesetzt. Der Verkleidete hieß Richard, war König in England und wollte nach Hause. Arrogant hatte er bei der Belagerung von Akkon Standesgenossen, darunter den österreichischen Herzog – in Fehde-angemessener Sprache – „tödlich beleidigt“. Leopold forderte immenses Lösegeld und eine ungeheure Finanztransaktion aus den Taschen englischer Untertanen in „Babenberger“ und kaiserliche Kassen folgte: 6000 Eimer (zeitgen. Volumenmaß) oder etwa 23 Tonnen Silber. 205 Der Herzog investierte in Infrastruktur, gründete die Münze in Wien, ließ die Stadtmauern erweitern, verfügte den Bau von Neustadt im Steinfeld (später Wiener Neustadt) und Friedberg. Richard, genannt „Löwenherz“, aus der (südfranzösischen) Familie Plantagenêt konnte abziehen. 206 Die Zehntverpflichteten erlebten viel Frag-würdiges. Einige EB hatten angesichts der hohen Zahlungen an Rom Ornate und liturgische Geräte verpfänden müssen, denn bei Nichtzahlung drohte Exkommunikation. Nach 1274 zeichnete für einzusammelnde Gelder ein Kanoniker aus Verdun als Einheber verantwortlich, der Salzburger Dompropst und der Bischof von Chiemsee waren Kollektoren. Der Benefizient, Papst Nikolaus III., Familie Orsini, verwendete die Gelder zur Umgestaltung des Vatikans und für Machtkämpfe. Für den Kreuzzugszehnten 1285 setzte der Papst einen Domherrn in Venedig als Sammler für die Region von Salzburg bis in die Bistümer Prag und Olmütz

ein. Der Teilsammler für Salzburg, Abt Friedrich (Kloster Mosach, Steiermark) unterschlug Geld und ließ einen Kontrolleur, ebenfalls Abt und seinerseits in Kreuzzugsfinanzgeschäfte verwickelt, überfallen und ausplündern. 207 Weit einflussreicher als die ostwärts vordringenden Kreuzkrieger wurden in Ägypten „Mamluken“ und von Zentralasien bis Europa vordringende „Mongolen“. Erstere waren slawisch- und turk-sprachige Europäer aus der Don-Region und von der Krim oder stammten aus Zentralasien und dem Kaukasus. Sie wurden als weiße Sklav*innen für Heerdienst und Hausarbeit gekauft, ihre Kinder wurden Freie, ihre Kindeskinder übernahmen 1250 die Herrschaft. Die Mongolen genannten, vielkulturellen Verbände zogen westwärts durch die Gesellschaften Zentralasiens. Chasarische und rus-ländische Kiewer sowie oströmische Herrscher hatten den Handel in der Region gefördert und dies beeinflusste Preise in Lateineuropa. 208 Die Khane der logistisch fähigen Reiter-Familien finanzierten sich wie ihre lateineuropäischen Standesgenossen durch Beutezüge und erkauften Loyalitäten mit Plündergut. Sie errichteten in einer gewalttätigen und zerstörerischen Eroberungsphase, in der sie Bevölkerungen ganzer Städte – in Isfahan laut Berichten 70.000 – umbringen ließen, eine Großherrschaft, die sich um 1190 von China bis nach Indien und Moskau erstreckte. Kreuzherrschaften in der Levante umfassten etwa zwei Jahrhunderte bis 1300, Mongolenherrschaften etwa drei Jahrhunderte bis 1500. Anders als die Herren im Westen, die von Grund-Renten – und kirchlicherseits Finanzgeschäften – lebten, nutzten die Khane Handel als Einnahmequelle. Ihre Pax mongolica sicherte den Austausch und sie etablierten von ihrer Hauptstadt Karakorum aus mittels eines Netzes von Poststationen einen verdichteten Kommunikationsraum. 209

Andere Berechnungen sprechen von 35.000 kg Silber oder 150.000 Mark. Zeitgenossen nannten Richard Ferocissimus (unbändig, zügellos, wild). Er hatte in Aquitanien gekämpft und auf dem Weg Richtung Levante Lissabon, Messina und Limassol, die Hauptstadt Zyperns, erobert. Ein englischer und ein französischer Chronist beschrieben seine Brutalität: Er entführte Töchter und Mägde seiner Untertanen und unterworfener Städte, vergewaltigte sie, gab sie an seine Soldaten weiter. Zypern verkaufte er samt Bevölkerung an die vom Papst akkreditierten Tempel-Ritter. Als diese nicht zahlten, plünderte er die Menschen aus und verkaufte den Rest an Guido (Lusignan), der sich das Königreich Jerusalem erheiratet hatte. 207 Conrad Wuttke und L. Schmued (Hg.), „Päpstliche Urkunden zur Geschichte des Erzbistumes Salzburg aus dem 13. und 14. Jahrhundert“, MGSL 33 (1893), 117–144; Samuel Steinherz, „Die Einhebung des Lyoner Zehnten im Erzbisthum Salzburg (1282–1285)“, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 14 (1893), 1–86; Peter Danner, „Kreuzritter und Abenteurer, Seelsorger und Pilger aus Salzburg im Heiligen Land“, MGSL 141 (2001), 183–195. 208 Virgil Ciocîltan, The Mongols and the Black Sea Trade in the Thirteenth and Fourteenth Century, Leiden 2012. 209 L. Carrington Goodrich, „Trade Routes to China from Ancient Times to the Age of European Expansion“, in: Jean Labatut und Wheaton Lane (Hg.), 205

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Das Volumen und die Angebotspalette der OstWest-Wüsten- und Bergpfade, erzählerisch im 19. Jahrhundert zur „Seidenstraße“ verbreitert, speisten zahllose Nord-Süd-Verbindungen. Entlang der Seerouten handelten arabisch-gujaratische Kaufleute und muslimische Sultanate blieben Mittler zwischen den Handelsstädten „Vorderindiens“ (Südasien) sowie „Hinterindiens“ (Indochina) und dem mamlukischen Alexandria. Dort endeten auch die Oasenrouten von und zu Gesellschaften des subsaharischen Afrikas, deren Karawanen das lateinkirchliche wie vorher das römische Europa mit Lederwaren und Gold versorgten. Über Kaufleute erfuhren lateinische Eliten von Technologien wie Sternhöhenmessern (Astrolabien) und Himmelszeituhren arabischer Gelehrter sowie von der Papierherstellung und Seidenproduktion in China. Diese Welten weckten im 13. Jahrhundert die Neugier von Emissären wie Johannes de Plano Carpini aus Oberitalien und Wilhelm Rubruk aus Flandern, von Handelsreisenden wie den Polos aus Venedig sowie von Diplomaten wie Ruy Gonzáles de Clavijo aus Cádiz. Die Khane übernahmen den Islam und förderten Wissenschaft und Kunst. Der Timuriden-Herrscher in Samarkand, Ulugh Beg, ließ zwischen 1424 und 1428 ein Himmelsobservatorium erbauen, zu dem Gelehrte aus dem Westen und Osten (bis Korea) reisten. Transeuropäisch denkend, hatte 1402 Timur Lenk aus Samarkand an Charles IV. in Paris geschrieben, dass Kaufleute die Basis allen Wohlstands seien und es sinnvoll wäre, ihnen gemeinsam Schutz zu gewähren. Charles antwortete nicht. 210 In politisch stabilen, oft machtvollen Städten lebende Kaufleute und Händler hatten Wirtschaftsräume, oft Handelsemporien genannt, von der Nordsee und dem Atlantik bis zum Ural sowie in den Welten des Indischen Ozeans etabliert und im

Mittelmeerraum entstanden Großreiche von bemerkenswerter Kontinuität von Anatolien (Osmanen) über Ägypten (Mamluken) und Ifriquia-Tunesien (Hafsiden) bis Marokko (Meriniden). Regionale Austauschprotokolle brachten Sicherheit im Ferghana-Tal, von der Straße von Hormus bis Malakka, in Alexandria und den oberitalienischen Städten, im Wirtschaftsraum der Hanse an Nordund Ostsee, für Kauffahrer von Nowgorod bis Kiew. Aus Mali pilgerte 1324/25 König (mansa) Musa Keita I. mit Gelehrten, Architekten und Künstlern sowie Tausenden von Sklav*innen und mit Gold beladenen Kamelen nach Mekka. Sein Reichtum – nicht die funds of knowledge – gingen in Legenden ein. In Arabien, mit Folgen für Lateineuropa, brach der Goldpreis ein und dies betraf Goldwäscher in den Nebentälern der Salzach. 211 Viele Entwicklungen waren vom Ostalpenraum, der Residenz am Wien-Fluss und den Routen nach Venedig oder Prag nicht so weit entfernt, wie es scheinen mag. Kaufleute aus Ostzentraleuropa und Russland handelten durch die Kirchenprovinz, zogen entlang der Donau und durch den Balkan, betrieben Saumverkehr über Alpenpässe und böhmische Hügel. Im 12. Jahrhundert gewannen KaufFamilien im Rahmen herrschaftlicher Freiheiten im flandrischen Wirtschaftsraum von Rhein- und Schelde-Mündung bis zur Île-de-France und im süddeutschen Raum von Nürnberg bis Basel-Konstanz-Ravensburg-Augsburg Bedeutung. Als kapitalkräftige Städter „annektierten“ sie ländliche Produktions-Familien für die Tuchherstellung. 212 Kaiser verloren gegenüber urbanen Großmagnaten Macht, aber ließen sich für ihre familiären Herrschaftsbetriebe christliche genealogiae entwickeln: Wie Karl d. G. wurden Stephan/István in Ungarn, Wenzel/Václav in Böhmen, Ludwig/Louis in Frankreich und Leopold in Österreich zu Heiligen. 213

Highways in Our National Life, Princeton 1950, 16–32; Stephan Conermann und Jan Kushber (Hg.), Die Mongolen in Asien und Europa, Frankfurt/M. 1997; Ralph Kauz, „Die Gründung des mongolischen Weltreichs. Zentralasien“, in: Angela Schottenhammer und Peter Feldbauer (Hg.), Die Welt 1000– 1250, Wien 2011, 112–136. 210 Ciocîltan, Mongols, 11; Janet L. Abu-Lughod, Before European Hegemony. The World System A.D. 1250–1350, Oxford 1989. Dies sogenannte erste Weltsystem entstand vom 8. bis 11. Jahrhundert und erreichte ~1300 seinen Höhepunkt, bevor die weltklimatischen Veränderungen einen Abschwung bewirkten. 211 Peter Feldbauer und Jean-Paul Lehners, „Globalgeschichte: Die Welt im 16. Jahrhundert“, in: dies. (Hg.), Die Welt im 16. Jahrhundert, Wien 2008, 13– 30. Rivalitäten islamischer Herrscher-Familien, die Erreichtes fragilisierten, analysierte zeitgenössisch Ibn Khaldun. 212 Limberger und Ertl, „Vormoderne Verflechtungen von Dschingis Khan bis Christoph Columbus“, in: Die Welt 1250–1500, bes. 11–28. 213 Hz Leopold III. (1073–1136) heiratete 1106 Agnes (1074–1143), Tochter Kaiser Heinrichs IV., Familie Salier, und Witwe Kaiser Friedrichs I., Familie Staufer. Laut Erzählung riss ein Windstoß ihren Brautschleier mit sich; Leopold fand ihn neun Jahre später bei einer Jagd. Er gründete am Fundort ein Kloster als Neuburg, Klosterneuburg.

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Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug

Abb. 6.19 Mongolische Herrschaftsbereiche Die Einheit des Großkhanats endete mit dem Tod von Möngke Khan 1259; die Kommunikationsstruktur hielten im rus-ländischen Raum die „Goldene Horde“, im zentralasiatisch-persischen die Ilkhane, in Indien die Mughal-Herrscher aufrecht.

6.12 Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug 214 Die Schiffer des mittelmeerischen Handelsraums hatten sich neben den Winden die Strömungen sowie Tiefen und Untiefen des Meers erschlossen. Da Wasser aus dem Atlantik resp. dem Schwarzen Meer einströmten, erforderte das Durchsegeln von Gibraltar und Bosporus Gegenstromfahrt. 215 Die Seeleute hatten über Jahrhunderte Kontinente verbunden, Kontakte geschaffen, ihnen Unbekanntes erforscht. Sie ermöglichten Reichtum ebenso wie tägliche Nahrung – so hatte es einst ein Bischof in Caesarea beschrieben. Im 8. Jahrhundert änderten

arabische Seefahrer die Bedeutung von Häfen, aber nicht die Handelsprotokolle. Von Fustat (Alt-Kairo) aus unterhielten sie und jüdische Kollegen Verbindungen zu gujaratischen Kauf-Familien und deren Handelsnetzwerken im Indischen Ozean. 216 Im östlichen Teil des Mittelmeers hatten Menschen der vielen Inseln Kulturen und Wirtschaften entwickelt, bauten Rohstoffe ab und waren attraktive Handelspartner. Die Buchten und Berge boten allerdings auch Piraten Schutz. Der westliche Teil war, so die auf Adria-Griechenland-Levante zentrierte Sicht-

Dieser Teil beruht besonders auf Ertl und Limberger, Die Welt 1250–1500. Im Bosporus erschwerte eine Süd-Nord-Strömung unter der Oberfläche die Durchfahrt zusätzlich. 216 Peregrine Horden und Nicolas Purcell, The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History, New York 2000; David Abulafia (Hg.), The Mediterranean in History, London 2003; und Abulafia, The Great Sea. A Human History of the Mediterranean, Oxford 2011; Christophe Picard, La Mer des califes. Une histoire de la Méditerannée musulmane, VIIe–XIIe siècle, Paris 2005. Bischof Basilius, „Homilies on the Hexameron“, 4,7, zitiert in: Ashmolean, Oxford, Dauerausstellung (Anf. 2015). 214 215

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weise, für Händler leer. Fischer sahen dies anders und Seefahrer und Werftarbeiter in Barcelona und Valencia ebenfalls. Kauf-Familien der süditalienischen Hafenstädte Amalfi, Gaeta und Salerno – oströmisch, arabisch und im 11. Jahrhundert normannisch – unterhielten gute Beziehungen zu solchen in Konstantinopel und kommunizierten im neuen Italienischen, alten Hebräischen und benachbarten Arabischen. Amalfitaner handelten für die Mönche in Monte Cassino, für Päpste und süditalienische Herrscher. Das Angebot des neuen Venedigs nutzten Konsumenten an transalpinen Höfen. Die Elite der Inselkleinstadt, landseitig geschützt und seeseitig günstig, versprach dem Kaiser Hilfe „gegen die feindlichen slawischen Stämme“, an deren istrischen und dalmatinischen versklavbaren Menschen sie großes Interesse hatte, und erhielt im Gegenzug Zugang zum Handelspotenzial fränkisch eroberter italienischer Städte. Um sich gegenüber „Rom“ mit Petrus-Sitz darzustellen, benötigte sie eine legitimierende Geschichte und ein religiöses Symbol. So erinnerte sie, dass zwölf „apostolische Familien“, das heißt sie selbst als Patriziat, den ersten Dogen gewählt hatten und dass der Evangelist Markus in der Lagune gepredigt hatte (s. Kap. 8.10). Ob dies city-branding auch den Hafenarbeitern und Wäscherinnen der Stadt geholfen hat, ist nicht erforscht. Die Kauf-und-Militärelite, RR-Konstantinopel untertan, nutzte die Rom ←→ Aachen-Achse, um sich politisch zu lösen, ohne Handel zu verlieren. Geschäfte ins fränkische Gebiet, zum Teil über das Kloster Innichen und Salzburg-Stadt, blieben angesichts der vielen Kriege und Machtwechsel mit Risiken belastet. Dies spürten auch die Kaufleute in Pisa, Genua und Lucca, die ihre militärisch gestützte Handelsmacht ausweiteten. Kollegen in Aquileia und Ravenna, deren Häfen verlandeten, verloren Marktanteile. Venedigs Mächtige appropriierten Rechte des Metropoliten in Aquileia und siedelten 1105 dessen abgespaltenen Konkurrenten aus Grado an ihren Stadtrand um. Sie gestalteten zwischen 1080 und 1120 die Stadtkorporation zu einer Rats-

herrschaft aus und bezeichneten sich als „Republik“. In Genua schlossen sich nützliche und geeignete Bürger (utilis et idoneus) nach wechselnden Machtkonstellationen zu einer Schwurgemeinschaft, compagna communis, zusammen und legten dies schriftlich in Consuetudines fest. Da die nobiles die populares ausschlossen, wäre „Oligarchie“ oder „korporative Kommune“ eine passendere Bezeichnung. 217 Die oft von Familien-Fraktionen umkämpften Stadträte verfolgten unterschiedliche Strategien: Seeimperium in Genua und Pisa, See- und territoriales in Venedig, Seidenproduktion in Lucca. 218 Unter Mitwirkung eines Papstes verbündeten sich die Eliten Genuas (Ligurien) und Pisas (Toskana) gegen muslimische Konkurrenten und eroberten 1016 das formal oströmische, de facto selbstständige Sardinien. Dessen Bewohner*innen hatte einst Papst Gregor I. zwangschristianisieren lassen, der amtierende gab sie den Pisanern als Lehen. Die Institution Kirche beteiligte sich an den Kolonisationen praktisch durch Anregungen, machtpolitisch durch Zuteilung als Lehen, ideologisch durch Segen. Kaufleute eroberten kreuzzugartig Korsika (1077) und die arabisch besiedelten Balearen (1113), wo die Pisaner – nach zeitgenössischen Zahlen – 20.000 christliche Sklav*innen befreiten und die gesamte muslimische Bevölkerung versklavten und verkauften. Neusiedler*innen aus Flandern, Iberien und Italien migrierten in die entleerten Gebiete. Genuesen errichteten 1162 an der Atlantikküste Afrikas einen ersten Stützpunkt und richteten in iberisch-muslimischen, später christlichen Hafenstädten alberghi ligures als Haus- und Gastwirtschaften mit Kaufhof ein. Sie etablierten Verbindungen zum prosperierenden Flandern und nach London und drangen zu atlantischen Inseln vor. 219 Katalanische Familien folgten ihrem Vorbild und nahmen am Mittelmeer- und SchwarzmeerHandel teil. 220 Angesichts ihrer Finanzkraft und Organisation vergrößerten die norditalienischen Stadteliten ihre Distanz zu dem durch den Investiturstreit ge-

In vergleichender Betrachtung waren auch die Hansestädte des Nordens, in denen reiche Kaufleute als Senatoren regierten, Korporationen. Die Republik Nowgorod im 12. Jahrhundert und die „Adelsrepublik“ Polen-Litauen (seit 1569) waren Adelskorporationen. 218 Einer der ersten Bischöfe der Stadt war, so Berichte, ein irischer Mönch. 219 Madeira und die Azoren-Gruppe erreichten zuerst Seefahrer im Dienst der portugiesischen Königs-Familie. 220 Die Städte bekriegten sich in erbitterter Konkurrenz um christlichen Speditionsverkehr und Kreuzkriegsgewinne. Ein Papst vermittelte im Sinne der genuesischen Elite. Im sog. Hundertjährigen Krieg (vier Phasen zwischen 1298 und 1381) kämpften Venedig und Genua; Genua schaltete Pisa aus dem östlichen Mittelmeer aus (1284–1324). Während der Schlachten ertranken vermutlich viele Seeleute. Michael Mitterauer und John Morrissey, 217

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Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug

Abb. 6.20 Handelswege, 13.–15. Jh., mit urbanen Regionen, Kolonien und Stützpunkten Genuas und Landimperium Venedigs – Routen und Territorialbesitz haben sich im Laufe der drei Jahrhunderte nach 1204 geändert

schwächten, fernen westlichen Kaiserhof und zahlten „Regalien“ nicht mehr. Als jedoch Friedrich I. und Beatrix (~1140–1184) heirateten, brachte sie Burgund und damit Zugang zu Italien in das Ehebündnis ein und 1154/55 zog Friedrich mit 1800 Rittern, Knechten und Tross nach Norditalien. Er forderte die fodrum-Abgabe zur Versorgung von Heer und Hof sowie Regalien-Einnahmen wie Maute, Fischerei-Privilegien und andere. Bewohner*innen Mailands bewarfen seine Gesandten mit Steinen, er ließ „das Umland“, das heißt die ländlichen Familien, verwüsten. Unter Demütigungsritualen musste die Elite „usurpierte“ Einkünfte zurückgeben. Auf Intervention von durch Mailand geknechteten Nachbarstädten ließ er die Stadt 1162 zerstören und die Statue des Stadtheiligen Ambrosius vom Sockel reißen. Überlebende mussten in Dörfer umsiedeln. Gegen den Kaiser verbanden

sich die Städte zur Lombardischen Liga, der Patrimonium Petri-Herrscher kooperierte. 221 Während seines nächsten Kriegszuges, 1158 bis 1162, berief Friedrich zu einem Hoftag in Roncaglia (Piazenca) vier Interpretatoren der neuen BolognaDekret-Schule. Sie verneinten kommunale Rechte, bezeichneten ihn als Inhaber Römischen Rechts, legten eine neue Kopf- und Grundsteuer, Lex tributum, fest sowie sein Recht, ohne Konsultation in den Städten Pfalzen zu errichten, Lex palatia. Im Gegenzug erhielten sie ein Scholaren-Privileg und standen damit vor dem Recht. Der Salzburger EB Eberhard I. nahm an dem Hoftag teil, doch entband ihn der Kaiser angesichts seines Alters von der Heerfolge. Der Papst verbot ihm 1161, die Salzburger Teilstreitmacht zum kaiserlichen Heer zu führen. Da ritterseits das Interesse an den Kriegszügen gering war, heuerte Friedrich Söldner aus Brabant

Pisa. Seemacht und Kulturmetropole, Wien 2007; Peter Feldbauer, Gottfried Liedl und John Morrissey, Venedig 800–1600. Die Serenissima als Weltmacht, Wien 2010; Manfred Pittioni, Genua. Die versteckte Weltmacht 1000–1700, Wien 2011. 221 Da Friedrich sich im Norden nicht durchsetzen konnte, verheiratete er, wie oben dargestellt, Sohn Heinrich mit Königin Konstanze, Sizilien, und erwarb so Ansprüche im Süden.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Abb. 6.21 Schiffszimmerer, 13. Jh., mit zeitgenössischem Werkzeug, allerdings beim Bau der Arche Noah (Mosaik), Markus-Dom, Venedig

an, die wegen ihrer Brutalität berüchtigt wurden. Er erlaubte den Wiederaufbau Mailands, freundlich gesinnte Nachbarkommunen halfen mit Geld und Handwerker*innen. Es war das Jahr 1167, in dem seine Parteigänger Salzburg anzündeten. Kaiser Friedrichs Onkel Otto, EB-Suffragan in Freising (1112/14–1158), beschrieb erstaunt die soziale Struktur der oberitalienischen Städte: Um ihre Nachbarn zu unterdrücken, „halten sie es nicht für unter ihrer Würde, junge Leute der unteren Stände und auch Handwerker, die irgendein verachtetes mechanisches Gewerbe betreiben, zum Rittergürtel und zu höheren Würden zuzulassen, während die übrigen Völker solche wie eine Seuche von den ehrenvolleren und freieren Beschäftigungen ausschließen. So kommt es, dass sie an Reichtum und Macht die übrigen Städte der Welt übertreffen.“ Ließe sich in moderner Konzeptualisierung von „Klassengrenzen“ sprechen? Galten, zeitgenössisch, die Unteren den Herren als „Seuche“? Die Situation war kompliziert, denn die Stadtkorporationen kontrollierten oder besaßen ihrerseits die ländlichen Familien des Umlandes. 222 Gemäß einer vor Generationen initiierten Dynamik produzierten in Lucca Handwerker*innen Seiden und Eliten-Familien versorgten kirchliche und weltliche Höfe lateineuropaweit. Die Qualifikationen der Weber*innen waren hoch, ihre Lebensbedingungen schlecht, die Erfindung einer Wasserkraft-getriebenen Seidenzwirnmühle machte Hunderte arbeits-, das heißt brotlos. Wie hörige Menschen überall wurden sie mit „der Stadt“ ins-

gesamt von Herrschern gekauft, verkauft und verpfändet. Der Stadtrat, der seinerseits benachbarte Menschen ankaufte, verbot den Seidenwerker*innen, das heißt dem Produktivkapital, abzuwandern. Diese verließen die Stadt heimlich und Venedigs Elite bot durchaus eigennützig Asyl. Da Verkauf und Ausbeutung von Menschen nicht Teil der Evangelien waren und die Institutionskirche Schutz nicht bot, entwickelten sich Gläubige eigene Zugänge zum Glauben und eigene Theologien. Institutionskleriker, darunter die Salzburger Erzbischöfe, reisten durch die Region und kauften ein. Sie sahen dort auch Sklav*innen, in Genua gegen Ende des 14. Jahrhunderts noch etwa 3000 Frauen in Hausarbeit. Für die EB gab es vieles wahrzunehmen. Salzburgs Kaufleute interessierte Venedigs Seehandel, Venedigs Seekaufleute Holz für den Schiffbau sowie Routen über den Brenner und durch das Puster- ins Drautal. Letztere erwarben am Alpensüdhang umfangreiche Waldgebiete – die die Mönche aus Innichen kontrollieren wollten. In ihrer „Arsenal“ genannten Werft (arab. dār al-ṣināʿ a, Fabrik) zimmerten ab ca. 1100 Tausende HandwerkerFamilien Galeeren in Massenproduktion und rüsteten sie aus. Die Vermietung von Transportkapazitäten an Kreuzzügler verbesserte die Kapitalisierung. Eine Standard-Galeere bewegten 140 Ruderer. Bei einem Verband von nur zehn Schiffen – belegt sind Verbände mit bis zu fünfzig – bedeutete dies 1400 Männer, die auch während langer Aufenthalte in fernen Häfen ernährt werden mussten. Die Schiffskarawanen steuerten Konstantinopel oder Kreta, Rhodos, Zypern und Akkon an. Diese Unternehmungen „schufen“ Arbeitsplätze, die geringen Löhne beschleunigten die Kapitalakkumulation einiger. Seefahrer verbesserten Schiffbau- und Segeltechnik: Kompass, Portolankarten von Küsten und Anlegeplätzen, Steuerruder am Hintersteven statt seitlich am „Steuerbord“, veränderte Takelage für das Segeln dicht am Wind, Eisenanker, Lademarken zur Verhinderung von Überlast. Die funds of knowledge dieser „nautischen Revolution“ stammten vielfach von arabischen Seefahrern, die ihrerseits über Technik und Praxis im Indischen Ozean und in den chinesischen Meeren informiert waren. Das indisch-arabische Dreieck-Segel vom Vorder-

„Gesta Frederici“, zitiert in Bernd Fuhrmann, Hinter festen Mauern. Europas Städte im Mittelalter, Stuttgart 2014, 49. Roman Deutinger, „Der Geschichtsdeuter“ [Otto von Freising], Damals 51.3 (2019), 72–76.

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steven zum Mast wurde im Westen als Lateinersegel bekannt. Kontakt wirkte sprachbildend: amīr albaḥr – Admiral; ʿ awār und ʿ awārīya – Schaden, beschädigte Güter, Havarie; mausim (Jahreszeit) als wiederkehrende Monsun-Wetterlage sowie viele praktische Begriffe. 223 Die Erfindung der Galeeren ermöglichte vom Wind unabhängige, schnell dirigierbare Kriegsflotten und seit etwa 1300 fast fahrplanmäßigen Handelsverkehr. Menschen an Meeren – wie entlang von Flüssen – strukturierten ihre Wahrnehmung von Entfernungen, den Austausch mit Fremden und ihre Erinnerung anders als solche, die Landwege nutzten; sie lebten berufs-naturräumlich spezifische Kulturen. Kauf-Familien in Venedig, die spätestens seit den karolingischen Sachsen-(fang)-kriegen mit Sklav*innen handelten, 224 verschifften zwischen 1204 und 1509 nach Schätzungen drei Millionen, durchschnittlich also 200 Personen pro Woche. Sklav*innen aus Russland kamen über Regensburg und die Enns- und Salzachtäler (s. Kap. 7.3, 8.10); in dalmatinische Küstenregionen entsandten die Händler Fangexpeditionen. Transitmärkte in Genua, Pisa, Florenz und Rom belieferten Absatzmärkte in Sizilien, Konstantinopel und Trapezunt. Genuesische und katalanische Menschenhändler lieferten auch aus Schwarzmeerhäfen; die balkanische und griechische „Ware“ mag zum Teil christlich gewesen sein. Der Massentransport von Sklav*innen förderte, wie der Bedarf der Pilger*innen, die Entwicklung von Transportkapazitäten. 225 Die Kaufleute und ihre Konkurrenten aus Amalfi, Pisa und Genua siedelten sich in Konstantinopel in eigenen Quartieren an, wurden aber in einem Maß aufdringlich, dass die Bevölkerung sie 1182 aus der Stadt vertrieb. Zwei Jahrzehnte später buchten Venedigs Akquisitoren einen Großauftrag. Für die Kreuzzüge Nr. 1–3 hatten sie und genuesische sowie pisanische Schiffseigner Ladekapazität gepoolt, den Transport von Nr. 4 im Jahr 1204 wi-

ckelte Venedig allein ab: Geplant waren 33.500 Mann mit 4500 Pferden und Lebensmitteln für 85.000 Silbermark (20 t Barrensilber). Die ArsenalBeschäftigten hatten lange Stunden zu arbeiten. Als die Ritter bei Einschiffung nur eine Teilsumme zahlen konnten, forderten die Spediteure Arbeitsleistungen im Gegenwert des Fehlbetrages: Sie mussten zuerst den Adria-Konkurrenzhafen Zara/Zadar, christlich, ausschalten. Anschließend landeten die Venezianer die latein-christlichen „Franken“ vor dem griechisch-christlichen Konstantinopel an. Das Heer zerstörte und plünderte die Stadt. Venedigs Elite nahm sich drei Achtel der Beute, darunter Kreta; Zypern kam später hinzu. Kleriker klauten in pia fraus, frommem Raub, Reliquien – von goldenen und silbernen liturgischen Geräten ganz abgesehen – in einem Ausmaß, dass das translateinchristliche Marktgefüge zusammenbrach. Drei Jahrzehnte später ordnete die Kurie in Rom, vielleicht angesichts überfüllter Lagerhäuser, an, dass Reliquien auch in Altären von Dorfkirchen vorhanden sein müssten. Auch dadurch wurden dörfliche Gläubige, deren Zehnte in die Kassen der Speditions-Kaufleute geflossen waren, Teil der fernen Entwicklungen. 226 In Konstantinopel zerstörten die Kirchenkrieger orthodoxe Manuskripte in großem Ausmaß: Krieg um Diskursherrschaft. Venedigs Elite nannte ihr Imperium Stato da Mar und Serenissima (Durchlauchtigste) Repubblica di San Marco, Genuas Elite verwandte als city branding die Termini superba und dominante, Rom-Stadt war Bürokratenzentrum und Pilgerziel, Rom-Kirche durch Thronprätendenten geschwächt. In Palästina wandelten sich die Ritterorden nach den Niederlagen zu gegenüber Kirche und Krone selbstständigen Kolonisationskorporationen. Die Templer, die den Geldtransfer von Pilgern und kreuzziehenden Herrschern abwickelten, wurden reich; die Johanniter eroberten 1306 Rhodos als Seekriegs- und Seeraub-Basis; die Deutschritter zo-

Nabil Osman, Kleines Lexikon deutscher Wörter arabischer Herkunft, München 82010; Andreas Unger mit Andreas C. Islebe, Von Algebra bis Zucker. Arabische Wörter im Deutschen, Stuttgart 2007. 224 ZWH-Könige suchten im 9. Jahrhundert Transithandel mit christlichen Versklavten zu verhindern. 225 Reuven Amitai und Christoph Cluse (Hg.), Slavery and the Slave Trade in the Eastern Mediterranean, c. 1000–1500 CE, Turnhout 2017, 14–15, bes. Michel Balard, „Le transport des esclaves dans le monde méditerranéen médiéval“, 353–374, und Annika Stello, „Caffa and the Slave Trade during the First Half of the Fifteenth Century“, 375–398, vgl. auch Kurt Franz, „Slavery in Islam: Legal Norms and Social Practice“, ebd., 51–141, und Johannes Pahlitzsch, „Slavery and the Slave Trade in Byzantium in the Palaeologan Period“, ebd., 163–184. 226 Bestrebungen, alle Altäre mit Reliquien zu versehen, datieren aus dem 8. Jahrhundert. Hansgerd Hellenkemper, „Fremde Nachbarn. Polyethnizität und Migration in Städten des Byzantinischen Reiches“, in: Kurt-Ulrich Jäschke und Christhard Schrenk (Hg.), Vieler Völker Städte. Polyethnizität und Migration in Städten des Mittelalters, Heilbronn 2012, 117–136. 223

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Abb. 6.22 Die Segler und Ruderer der „La Contarina“ transportierten von 1479 bis 1494 Pilger*innen aus Venedig in das ihnen heilige Land

gen, wie dargestellt, in baltische Regionen. Nach Riga (Livonia, Lettland) hatten Hanse-Kaufleute und die Missionserzbischöfe in Bremen-Hamburg einen Bischof samt Christen entsandt, um KreuzfahrerHerrschaften zu errichten. 227 Der Seehandel erforderte hohe Finanzmittel: Investitionen in Schiffe, Bezahlung von Mannschaften über Monate, Wareneinkauf lange vor Verkauf. Ebenfalls sehr viel Geld benötigten Päpste-Kardinäle-Kurie und kirchliche Finanzwirtschaft hatte Geschichte. Seit dem 6. Jahrhundert hatten Bischofsmagnaten, kleinere Bischöfe und Klöster Anleihen vergeben. Da sie Geldzins nicht nehmen durften, sicherten sie ihre Anlage durch Pfänder, zum Beispiel ein Dorf-mit-Menschen. Grundpfand-gesicherte Kredite, christlich zulässig, bedeuteten die Erträge der Arbeitskraft der Verpfändeten, bis der jeweilige Schuldner das Dar-Lehen zurückzahlte. Die Ökonomie – so viel herauszupressen wie möglich – war allen bekannt, eine Theologie des Seelenheils der Verpfändeten fehlte. Die klerikalen Finanztransaktionen hatten einen unvergleichlich größeren Umfang als solche von Familien jüdischen Glaubens, doch per Diskursherrschaft stigmatisierten die Kleriker Juden als „Wucherer“. Die Zinsen waren hoch und besonders kleine Schuldner, zum

Beispiel ländliche Menschen, die während langer Winter, bei Missernten oder erhöhten Abgaben Kleinkredite benötigten, werden sie als über-mäßig empfunden haben. Die Rom-Kirche finanzierte sich aus dem Patrimonium, überwiegend Plantagen mit Versklavten, und dem Peterspfennig, Denarius Sancti Petri, eine anfangs freiwillige Unterstützung durch lokale Kirchen. Für die Bearbeitung von Anliegen gaben Bittsteller „Geschenke“, deren Höhe den Kurialen – laut Duden nicht Handelnde, sondern nur frühmittelalterliche Schrift der Kurie – angemessen erscheinen musste. Gegen Geschenke-Gebühren verfügte zum Beispiel Gregor IX., dass der Domprobst und der Abt von St. Peter bei bestimmten Anlässen eine Mitra tragen dürften – vanitas, die sie dem Teufel in die Arme trieb, wie dieser erfreut in Des Teufels Netz konstatierte. Im 13. Jahrhundert verfestigten die Kurialen die Finanzeinhebung kirchenweit. Sie legten eine Servitia communia pro Bistum nach dessen jeweiligem Ertrag fest, fügten eine Servitia minuta als Kardinalsanteile hinzu und forderten zusätzlich Annaten, Subsidien und Spolien (lat. spoliare, rauben). Die Summen je Diözese beruhten auf Hochrechnung der Fron-, Großzehnt- und Kleinzehnt-Dienste aller Abgabepflichtigen, für das Erzbistum Salzburg – wie für Aquileia, Köln, Canterbury und York – 10.000 Goldgulden jährlich. Nur Rouen, Toulouse und Winchester hatten mehr zu zahlen. Suffraganbistümer veranlagten sie separat, Passau zum Beispiel mit 5000 Goldgulden. Kannten Kurialadministratoren die Finanzkraft von Pfarren? Sie waren angesichts der zahllosen Petitionen pfründensuchender Kleriker und deren sehr spezifischen Angaben gut informiert und die Transaktionen auf dem Pfründenmarkt brachten hohe Einnahmen. Darüber hinaus suchten Päpste die Vergabe lokaler Pfründen an sich zu ziehen, aber in der Diözese Salzburg verhinderten die Domherren päpstliche Ein- und Übergriffe. Von den Zehnten jeder Hufen-Hausgemeinschaft „wanderte“ also durch Geldboten ein Teil nach Rom oder Avignon. 228

Alain Demurger, Die Templer. Aufstieg und Untergang 1120–1314, übers. von Wolfgang Kaiser, München 1991; Helen J. Nicholson, Templars, Hospitallers, and Teutonic Knights. Images of the Military Orders, 1128–1291, Leicester 1995. 228 Werner Maleczek (Hg.), Die Römische Kurie und das Geld. Von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zum frühen 14. Jahrhundert, Ostfildern 2018, darin bes. Maleczek, „Einführung“, 11–26, Markus A. Denzel, „Von der Kreuzzugssteuer zur allgemeinen päpstlichen Steuer“, 131–166, Thomas Wetzstein, „Die Gier der Päpste und der Groll der Christenheit“, 337–372, Hans-Jörg Gilomen, „Das kanonische Zinsverbot und seine theoretische und praktische Überwindung?“, 405–449, Marco Vendittelli, „‚Geldhandel‘ und Kreditwesen in Rom im 12./13. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang der römischen mercatores“, 495–558. 227

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Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug

Finanzmittel benötigten auch Gläubige, die Sozialhilfeeinrichtungen stiften wollten. Vielzitiertes Beispiel ist ein Heim und Schule, das ein „Sachsen“-König aus Wessex für Pilger in Rom gestiftet hatte. Lautverwandt hieß der Stadtteil bald „Sassia“. Das Hospiz verfiel, als die Zahl angelsächsischer Pilger*innen angesichts normannischer Expansion sank und Papst Gregors VII. normannische Hilfstruppen 1084 die Stadt plünderten. Der machtstrebige Innozenz III. ließ es renovieren und übergab den Komplex einem Guido aus Montpellier, dem Zentrum religiöser Debatten, weltlich-nordfranzösischer Begehrlichkeiten und kommender Glaubenskriege (s. Kap. 9.10). Die Betreuung von Armen und Findelkindern blieb Aufgabe des zu Santo Spirito in Sassia umbenannten Hospizes unter Papst Sinibaldo (Innozenz IV.) aus Genueser Kaufmanns- und Bankiers-Familie. Doch die Päpste Sixtus IV. und Paul V. wandelten es zur Banco di Santo Spirito. Diese begann, steuerbefreit Bankobligationen auszugeben. All dies betraf nicht nur Gläubige im Alpen-, Voralpen- und Donauraum, sondern Menschen in Gesamtlateineuropa bis zum Ende der Steuerbefreiung der Bank 1968 und der Fusion mit anderen Banken 1992. Die Spannung zwischen kanonisierten Texten und alltäglichem Unterhalt von Küchen, Kleidungskammern, Pferdeställen und Sommerresidenzen hätte Päpste und Kurialen zum Nachdenken anregen können. Gedanken machten sich verärgerte Pilger*innen, die in Rom Geldwechsler und Tische voller Geld sahen und davon berichteten. Kirchliche Wirtschaftsfachleute entwickelten Theorien zu Risikoprämien, innerkirchliche Kritiker verfassten um 1240 im salzburgischen Seckau „Das Geldevangelium“ (Evangelium secundum marcas argenti) und nach 1418 im Bodenseegebiet „Des Teufels Netz“. In Seckau – oder in Bayern – waren vermutlich auch die kritischen Carmina burana entstanden. 229 Es gab in der Kirchenprovinz offenbar eine lebendig denkende Geistlichkeit. Laien machten sich ohnehin eigene Gedanken (s. Kap. 9.1, 9.9). Das Eintreiben der servitia überließen die Kirchenmanager privatwirtschaftlichen Finanziers und die eng verwobenen Geschichten der oberitalienischen Kauf-Familien und der mittelitalienischen

Kleriker betrafen Menschen in Friesach und Aquitanien, Wien und Paris. Die anfangs genuesischen und später auch oberdeutschen Kauf-Bankiers begannen ihre Karriere oft als Gläubiger der Päpste. Sie entwickelten die großen Finanzinstitute: Gläubige „zinsten“ an die Lokalkirche, Geldfachleute sammelten die Mitgliedsbeiträge und transferierten einen Teil nach Rom und akkumulierten den Rest als Courtage. Weltliche Herrscher, territorial beschränkt und daher einerseits mit Zahlungspflichtigen schlechter ausgestattet und andererseits zum Kauf von Vasallentreue verpflichtet, bedurften ebenfalls großer Summen. Sie versuchten Steuern zu erheben, doch konnte der erste König der Familie Habsburg eine Vermögensabgabe von zehn Prozent 1274 und 1284/85 gegen „die Städte“, das heißt die Stadtbewohner*innen, nicht durchsetzen. Die Beteiligten änderten Grund- zu Finanz-Akkumulation. Für ihr Rechnungswesen hatten sie das indische Zahlensystem mit dem Konzept Null sowie muslimisch-arabische Buchführung und Finanzinstrumente übernommen: Wechselbrief und doppelte Buchführung, Kontrakte zwischen zwei oder mehr Partnern, Vereinbarungen, in denen ein Investor sein Geld einem Agenten überließ. Das arabische Wort dīwān, Rat, wurde europäisiert zu duana, Rechnungsamt. Familien und Personen schlossen sich zu stillen Partnerschaften, commende, zusammen: Alle brachten Kapital ein, manche als aktiv Beteiligte, andere als stille, nur am Erlös interessierte. Teil-Habe war Ver-Sicherung, denn bei Havarie verloren Kapitalgeber*innen nur den Teil ihres Vermögens, den sie eingebracht hatten. Einheimische und Zugewanderte (advene homines) in Genua entwickelten Versicherung als eigene Sparte und, da Kaufleute ihre Waren nicht mehr selbst begleiteten, den Frachtbrief als Vertrag zwischen Frachtgeber und Transporteur. Geld-Spezialisten aus Städten der Toskana und Lombardei, bald pauschal „Lombarden“ genannt, professionalisierten die Transaktionen. Wie im Warenhandel führten sie Geldgeschäfte sichtbar auf der Bank (oder dem Tisch), daher bancherii, Bankiers, und, wenn der Tisch zerbrach, banca rotta, bankrott. Sie begannen im 12. Jahrhundert Geldverschreibungen auszustellen statt Münzgeld vor-

Zahlreiche längere und kürzere Versionen; Carmina burana Nr. 44, http://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost13/CarminaBurana/ bur_cmo4.html#044 (9. September 2020). Des Teufels Netz. Satirisch-didaktisches Gedicht (hg. von K. A. Barack, Stuttgart 1863), 1. Hälfte 15. Jahrhundert; Paul Lehmann, Die Parodie im Mittelalter, München 1922.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

rätig zu halten. Mögliche Verluste rechtfertigten Risikoprämien; Indossament, das heißt die Unterschrift, dass eine Summe beglichen sei, machte Wechsel handelsfähig und Geldwechsler wandelten sich zu Geldhändlern. Ein- und Auszahlungen führten sie mit Übertragungen (giri) zwischen Kontobüchern (Girokonten) aus. In Cahors, Kreuzung der Geldverkehrs-Routen von Marseille nach Bordeaux und von den nordfranzösischen Messen zum Mittelmeer, etablierten sich lokale Bankiers, sogenannte Kawertschen. 230 Sie machten sich in einem Ausmaß unbeliebt, dass Dante ihnen im „Inferno“ (~1300) ein Denk-Mal setzte. Zisterzienser beteiligten sich aktiv am Finanzwesen (s. Kap. 8.3), das Niveau „christlichen“ Zinses lag um 1200 in italienischen Städten bei zwanzig Prozent oder mehr, im 13. Jahrhundert bei ca. zehn Prozent. Als Päpste das kuriale Finanzwesen nach Avignon verlagerten, richteten die Bankiers dort Filialen ein. 231 Im Rahmen mittelmeerischer Konkurrenzen unterstützte die finanziell europaweit vernetzte Korporation Genua das von Venedigs KreuzkriegsMaschinerie vertriebene oströmische Kaisertum in Nikaia (Iznik), als es 1261 Konstantinopel zurückeroberte. Genua erhielt 1273 im Gegenzug den Stadtteil Pera als feste Niederlassung und dort lebten einige Jahrzehnte später bereits etwa 7000 ligurische Migrant*innen. Sie expandierten in Schwarzmeerhäfen seldschukischer Herrscher, gründeten auf der Krim die Kolonie Kaffa (Feodosija, bis zu 20.000 Einwohner*innen) sowie das kleinere Tana (Asow) am Don-Fluss und handelten im Rahmen der Pax mongolica. Der Codex Cuman[ic]us mit Kumanisch, Persisch und Niederlatein als linguae francae half. Einige Händler scheinen über Landwege Nordindien erreicht zu haben, belegt ist Handel Dnepr-aufwärts bis Kiew und Donau-aufwärts durch das Eiserne Tor bis Temesvár (Timișoara). Auf der von ihnen besetzten Insel Chios etablierten Menschenhändler den größten Sklav*innenmarkt des Mittelmeerraums. 232 Im Westen erschlossen sich die norditalienischen Fern- und Finanzkaufleute Häfen Rhôneaufwärts zur Loire und Landrouten über Alpenpässe

und durch die Ebenen Francias nach Flandern und London. In der Champagne trafen sie auf Märkte der Familien- und Kloster-Grundherrschaften an Seine und Marne, die dort Überschüsse aus den Werkstätten ihrer Hofsklav*innen verkauften. Sie und die wirtschaftsfördernde Politik der Grafen-Familie in Blois und der Champagne, über Herzogin Mathilde aus der Familie Spanheim (Kärnten, gest. 1160/61) mit der Salzburger Kirchenprovinz verbunden, entwickelten die Märkte zu transeuropäischen Messen für italienische Orientwarenhändler und flandrische Tuchhändler. Die Grafen boten Kaufleuten gleich welcher Herkunft oder Religion Geleitschutz für die An- und Rückreise, verschriftlichten Handelsprotokolle, richteten eine solide Währung ein und ernannten Marktrichter für Konfliktfälle. Diese Pax campania ermöglichte um 1200 jährlich sechs Messen über mehrere Wochen, während derer die Kaufleute sich nach Regionen und, zeitweise, als Gesamtheit (universitas) organisierten. Andere genuesische commende zielten auf Iberien, auf halbem Seeweg zwischen Adria und Flandern. Dort hatten Heere der kastilisch-lateinchristlichen Könige 1248 und 1262 die muslimischen Häfen Sevilla und Cádiz erobert und mit Zwischenstopp erreichten Galeeren Rhein-, Schelde- und Themsehäfen, in denen Hansekaufleute bereits Niederlassungen besaßen. Die iberischen Könige und Königinnen beteiligten sich nicht, denn die Wirtschaft lag darnieder: Allein aus Sevilla waren etwa 300.000 Menschen muslimischen Glaubens geflohen und die Herrscher mussten nordspanische Christen und „maurische“ Handwerker aus Granada für den Wiederaufbau rekrutieren lassen. Die inzwischen auf Bankgeschäfte spezialisierten Messen in der Champagne verloren ihre Bedeutung, als um 1260 der König in Frankreich das Gebiet durch Heirat mit der letzten Erbin der GrafenFamilie akquirierte und das System ruinierte, um Handel und Bankwesen in Paris (ca. 200.000 Einw.) zu zentralisieren. Neues regionales Zentrum wurde die Hafenstadt Brügge (ca. 60.000 Einw.). 233 Drei Jahrzehnte nach Beginn der klimatisch bedingten Ressourcenverknappung zwischen 1313 und 1315

Als der Bischof in Cahors sich zwischen 1209 und 1229 mit kreditfinanzierten Truppen an den Plünder- und Mordzügen Simons IV., Montfort, gegen Albigenser beteiligte (s. Kap. 9.10), hatten sich seine lombardischen Gläubiger bei seiner Residenz angesiedelt. 231 Eine Anleitung für doppelte Buchführung schrieb der Franziskaner Luca Pacioli, Summa de Arithmetica, Geometria, Proportioni et Proportionalita, gedr. Venedig 1494. 232 Thomas Ertl, Alle Wege führten nach Rom. Italien als Zentrum der mittelalterlichen Welt, Ostfildern 2010, 67–85; http://www.iranicaonline.org/ articles/codex-cumanicus (28. Juli 2020), 1. Drittel 14. Jahrhundert. 230

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Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug

verwickelten sich die französische Königs-Familie Valois und die englisch-aquitanisch-angevinische Plantagenêt-Familie in eine mehr als hundertjährige Fehde um den Besitz von Aquitanien. Sie heuerten militärische Subunternehmer an, darunter genuesische Bogenschützen, die Bankiers in Cahors verloren ihre Rolle. Der Nord ←→ Süd-Handel sank, da die italienische Tuchfabrikation wuchs; der West ←→ Ost-Handel über Leipzig, Prag und Krakau bzw. von Oberitalien über Pettau (oder Friesach) von und nach Ungarn nahm zu. Das Kreditwesen expandierte, denn weder Genuas Stadtpatriziat noch die Kurie noch weltliche Herrscher entwickelten ein an Einnahmen orientiertes Ausgabenregime. Statt – wie ortsfeste Klöster – dingliche immobile Pfänder zu nehmen, forderten die städtisch-mobilen Bankiers als Sicherheit Zugriff auf Zehnt- und Steuerabgaben, Zolleinnahmen, Bergwerkserlöse, Mautgebühren: Monetarisierung des Pfandwesens. Genuas bankrotte Elite übergab 1407 der Banco (Casa) di San Giorgio, das

heißt deren vier anteilseignenden Familien mit eigenen Truppen und Gerichtswesen, sogar die Leitung und Ausbeutung von Kolonien. Tief verschuldeten sich ein Jahrhundert später die Familie Habsburg und die sogenannten Katholischen Könige Isabella ○○ Ferdinand, die Atlantikexpeditionen, darunter die des Genuesen Christoph Kolumbus, finanzierten (s. Kap. 12). Die Entwicklung des kapitalintensiven→ kapitalistischen Wirtschaftens, hier nur knapp erläutert, hatte mehr Einfluss auf das Leben nachfolgender Generationen als alle politischen Macht- und höfischen Konsum-Entwicklungen zusammen. Finanzinstrumente wurden nie in Prozessionen öffentlich zur Schau gestellt, denn sie waren nicht anschaulich. Andererseits stellten Maler punktuelle Zeichen sichtbaren Konsums – Wohnpaläste, Burgen und Pfalzen, Schlösser – in vielen Wiederholungen dar. Die von ländlichen Menschen geschaffenen Kulturlandschaften, in denen sie standen, bildeten den Hintergrund.

Der Anteil der Stadtbevölkerung lag im lateineuropäischen Durchschnitt bei fünf Prozent, in Nordfrankreich und den Niederlanden bei etwa dreißig Prozent.

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Lebens- und Bewegungsweisen vom 8. bis zum 15. Jahrhundert

7 Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Während der Verlagerung des Zentrums des RR nach Konstantinopel und Anatolien und der Expansion von Mero-Karolingia schufen ländliche Menschen unverändert Kulturlandschaften unter den jeweiligen klimatischen Bedingungen und gemäß „demografischen Wachstums“ – Kürzel für Aufziehen und Aufwachsen, Lernen, Kinderliebe im doppelten Sinn und Erarbeitung eigener wirtschaftlicher Grundlagen durch junge Erwachsene. Die Pflanzen und Tiere, das heißt die Optionen, die Migrant*innen aus den Gesellschaften im Zweiund Einstrom-Land – Euphrat, Tigris, Nil – über Jahrtausende westwärts getragen hatten, hatten ihre Vorfahren nördlich der Alpen und westlich des Rheins ihren Böden, Klimazonen und Bedürfnissen angepasst. 1 Als fränkische Trupps die Hausgemeinschaften nach-Noricums unterwarfen und awarische sie bedrohten (s. Kap. 4.8, 5.7), war das Wetter kühl und feucht, wärmere Temperaturen und ausgeglichene Regenfälle ermöglichten erst Generationen später bessere Ernten und Lebensverhältnisse. Für Familien und die kleinen Siedler*innen-Verbände war Erarbeiten der Lebens-Mittel weit wichtiger als Regimewechsel. Ihre Initiativen, ständig verbesserten funds of knowledge – die weder nur Repertoire noch fester Fundus waren – und emotionalen Gemeinschaften ermöglichten Schwertund Diskursbewaffneten das Überleben. 2 Die Gebiete westlich des Rheins waren im 9. Jahrhundert noch zu etwa vierzig Prozent bewaldet, östliche zu achtzig Prozent. Die Landwirtschaftenden rodeten Wälder, legten Moose/Moore trocken und nutzten hochgelegene Weiden. In „Mittenwald“ oder „Waldbach“ Lebende hatten lange Wege. Manche Tätigkeiten, wie das Fällen von Bäu-

men, waren gefährlich. Da das Fällen, Entästen und Zuhauen von Bauholz unterschiedliche Klingen und Stiele erforderten, differenzierten sie ihre Werkzeuge. Als in karolingischer Metallbewirtschaftung Eisen überwiegend für Rüstungen verwendet wurde, fehlte ihnen eisenbeschlagenes Werkzeug. In anderer Region und Zeit erinnerten Neusiedler eine düstere Generationenfolge: „Der ersten Tod, der zweiten Not, der dritten Brot“ (Elbe-Weser-Raum, 18. Jh.). Die Feldwirtschaftenden schufen dauerhafte Kulturlandschaften, während auf Schlachtfeldern Fehdende oder Schlachtende um ephemere TeilTerritorien und Rang-Ordnungen oder -Unordnungen stritten. Ich zeige zuerst, wie kirchliche Chronisten Erinnerung an diese Lebenswelten auslöschten: Herrschergeschichten statt Humangeschichte (Kap. 7.1, 7.2). Sozialhistoriker*innen, vereinzelt schon um 1900, haben versucht, das Leben der Mehrheit zu rekonstruieren. Die „Franken“, die in post-Noricum eindrangen, ernannten sich zu „Edlen“ (Diskursebene) und machten ansässige Landarbeitende (Realwirtschaft) mit dem lībe, „Leben“, und nicht nur mit dem „Leib“ eigen: „Herrschaft über Menschen“ (H. Fichtenau) oder „umfassende Sklavengesellschaft“ (C. I. Hammer). Die Menschenbesitzer banden sich selbst, denn ohne Lebenseigene waren sie nicht edel, sondern hungrig. Für die Analyse der Freiheitsberaubung verwende ich komparatistisch die Konzepte Hörigkeit und Sklaverei gemäß Forschungsergebnissen seit den 1950er Jahren (Kap. 7.3). Wirtschaftlich beruhte das extraktive Regime, wie in Kapitel 6 dargestellt, auf Umverteilung von Gütern und Dienstleistungen von den Unter-worfe-

Zu „Europa“ als geografischem Begriff Jörg Rüpke, „Europa und die Europäische Religionsgeschichte“, in: Hans G. Kippenberg, Jörg Rüpke und Kocku von Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, 2 Bde., Göttingen 2009, 3–14. Lat. occidens („wo die Sonne untergeht“) ersetzten Intellektuelle erst am Beginn des 16. Jahrhunderts durch „Abendland“ und Luthers Deutsch führte den Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. 2 Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003, rev. 2009, stellt Lebens-Mittel, Roggen und Hafer, an den Anfang und Karl Brunner, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters, München 2012, Körper, Gefühle und Arbeit: nachahmenswerte Ansätze. 1

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

nen an die Oben-stehenden. Dezentrale und wechselnde Herrschaften bedeuteten hohen Transportbedarf und erklärten die Bedeutung von Spannund Saumdiensten. Herrschaftlichen Grundbesitz, geteilt in spannfähige Hufen mit einem Paar Ochsen, hielten schriftkundige Verwalter in Urbaren fest, die scheinbar Sachbesitz auflisteten, real aber die Beziehungen zwischen Herrschenden und Menschenbesitz – Menschen, auf denen sie saßen – verzeichneten. Die Besessenen – religiös und umgangssprachlich ein Zustand psychischer Belastung durch Dämonen – hatten Zwangsdienste (servitiae) zu leisten und Abgaben für ihre Lebensphasen zu zahlen: für Ehe oder Partnerschaft, für Tauf- oder Sterbesakrament, für intergenerationelle Wirtschaftsübergabe. Die Macht- und Alles-Haber belegten die gesamte Um- und Sozialwelt mit magischen Bannen: Regal-Gebühren für Wald, Weide, Wasser, Fisch. Kleriker bannten solche, die Gebühren und Zehnte nicht zahlten, und solche, die eigene Gedanken hatten. Sie nannten dies „Exkommunikation“. Die Produzent*innen konnten meist eine schlechte Ernte, ein Jahr überhöhter Abgaben und Kriegsdienste, wenn auch geschwächt, überstehen, aber nicht mehrere. Wo sie Überschüsse erwirtschafteten, bildeten sie Siedlungskonzentrationen und manche spezialisierten ihre Tätigkeiten. Migrant*innen erweiterten Siedlungen, die günstig lagen, zu Städten. Dies ist oft beschrieben worden. „Konzentration“, umfassender analysiert, betraf jedoch viele Einheiten: Trupp oder Heer, MagnatenHof oder Handelszentrum. Sie alle lebten von der Abschöpfung des Mehrwerts der landbauenden Familien. Freiwillig belieferten letztere kleine Märkte und erweiterten durch Tausch und, später, Geld ihre Auswahlmöglichkeiten. Marktwirtschaft war ihnen nicht neu, denn Salz und Eisen hatten sie immer durch Handel erwerben müssen. Sie durften nicht lesen und schreiben (literacy), aber sie konnten rechnen (numeracy). Unter den Bedingungen des erneut milden Klimas erschlossen Männer und Frauen mit ihren Kindern in zwei Rodungsphasen zwischen dem 7. und 9. und dem 11. und 12. Jahrhundert nutzbare Böden, in der Alpenregion bis in etwa 1400 m Höhe, 3 4 5

und legten Neubrüche noch im 13. Jahrhundert an. Dafür migrierten eigeninitiative Unfreie und, mehrheitlich, mit gewissen Rechten entsandte Kolonisten in die Wälder, die Herren als die ihrigen bezeichneten. Rodungsböden, wurzeldurchzogen und oft steinig, mussten über Jahre und Generationen zu Ackerböden verbessert werden. Wo möglich führten die Menschen seit dem 9. Jahrhundert eine intensivere Bewirtschaftung ein und etwa zeitgleich entwickelten andere die „arabische landwirtschaftliche Revolution“ (8.–11. Jh.), wieder andere die „grüne Revolution“ in Song-China (10.–13. Jh.). 3 Auf halbem Weg zwischen beiden lagen in Zentralasien die Vorkommen von Lapislazuli, das Skriptor*innen in Klöstern verwandten, und das Ferganatal, dessen Pferdezüchter die chinesischen Eliten versorgten. Trotz der Lasten auf ihren Schultern verbesserten Landwirtschaftende über Generationen Anbauweisen und Geräte. Der Übergang von Emmer, Einkorn, Gerste und Nacktweizen 4 zu im Norden bereits bekanntem Dinkel, Roggen und Hafer ermöglichte ihnen die Nutzung von Böden geringerer Qualität. Sie wandelten Brei- zu Brotnahrung und bedurften dafür gemeinschaftlich genutzter Wassermühlen und Backöfen. Sie übernahmen diese von fernen Nachbar*innen oder entwickelten sie selbst. „Brot“ würde in Sprachbilder eingehen wie Spinnen und Weben. Menschen wurden „brotlos“, wenn sie keine Arbeit hatten. In den folgenden Schritten verringerten sie extensive Viehhaltung und erweiterten lokale Märkte zu Marktorten. Burg-, Kloster- und Kirchenherren zogen Menschen gemäß ihrem Bedarf zusammen. Ländliches Handwerk und lokaler Handel bedeuteten plurales Wirtschaften mit vorausschauender, gender- und altersspezifischer Planung des Zeitbudgets für Teiltätigkeiten. Die Beteiligten beschleunigten die Entwicklung von Städten im 11. Jahrhundert, ihre Kinder und Kindeskinder verbesserten Produktionsprozesse im 12. und 13. Jahrhundert. Mit schrittweiser Monetarisierung der persönlichen Zwangsdienste wuchsen individuelle und kollektive Dispositionsmöglichkeiten und städtisches Leben bot zusätzliche Optionen. 5 Jede Familie ernährte und sozialisierte ihre Kin-

Mitterauer, Europa, 29–35. Anders als Nacktgetreide erfordert Spelzgetreide das Schälen der Spelzen von den Körnern. Colin Morris, The Discovery of the Individual, London 1972, löste eine lange Debatte über die Frage von Individualität im Mittelalter aus.

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

der und kannte ihre Möglichkeiten und Grenzen. Überlebten mehr Kinder, als auf ihrer Hufe ernährt werden konnten, mussten sie das Land teilen und den Lebensstandard senken oder die „Überzähligen“ wegschicken. Und sie mussten sich emotional auf die Konsequenzen einlassen. Wenn Land in den Ebenen und Flusstälern knapp wurde, rodeten Nahwandernde Hügel und Berghänge, entwässerten Feuchtgebiete oder besiedelten abgelegene Täler wie in Kärnten, Steiermark und Tirol. Familiendemografie zwang Landsässige zu Mobilität. Der Scholle verhaftete bäuerliche Haushalte 6 oder Markgenossenschaften „freier Germanen“ als Ursprung freier Deutscher erfanden Ideologen und Romantiker Jahrhunderte später. 7 Nach Darstellung der Praxis der Herrschaft über Menschen (Kap. 7.4) analysiere ich die Strukturen der Lebensumstände (Kap. 7.5) und, soweit möglich, das Handeln dörflicher und in Waldwirtschaft und Bergbau arbeitender Menschen (Kap. 7.6, 7.7) sowie die Veränderungen durch die Entwicklung von Knotenpunkten, Monetarisierung und Marktorientierungen (Kap. 7.8). Dann versuche ich, Widerständigkeiten, Denken und Weltbild zu fassen (Kap. 7.9). Wandersänger und -prediger sowie Rechtskundige verkündeten ihre Bilder von ländlichen Menschen in Diskursen und Rechtskodizes (Kap. 7.10). All dies endete mit dem tiefen menschlichen und wirtschaftlichen Einschnitt der Kälteperiode ab Beginn des 14. Jahrhunderts und der Pest (Kap. 7.11). Höfische Chronisten berichteten über vieles nicht, aber höfische Steuer- und Zehnteinzieher wussten genau, was und wieviel jede Hauswirtschaft abzuliefern hatte. Angesichts des zielstrebigen Schweigens der Wort-Führer scheinen Quellen für das Leben ländlicher Menschen zu fehlen. Für die Kirchenprovinz Salzburg ist die Geschichtsschreibung dünn, die Region war im Vergleich zu Rhein-Loire- und Po-Ebene marginal und Territorialhistoriker behandelten sie marginal. Einen sozialhistorische Aspekte einbeziehenden Gelehrten

Abb. 7.1 Monatsbilder der „Salzburger Enzyklopädie“ (kolorierte Federzeichnung)

wie den fränkischen Gregor (538/9–594), den englischen Bede (672/3–735) oder den langobardischen Paulus Diaconus (725/730–797/799) gab es im Voralpenraum nicht. Die Eliten Galliens und der britischen Inseln schätzten Schriftlichkeit mehr als die ostrheinisch-danubischen. Bildliche Darstellungen ländlicher Menschen fehlten im Ostalpenraum fast völlig. Nur die als Parallelhandschrift zur „Aachener Enzyklopädie“ entstandene „Salzburger Enzyklopädie“ von 818 enthielt Monatsbilder, die arbeitende Menschen statt Personifizierungen („der Mai mäht“) zeigten. Die klerikalen Autoren interessierte Zeitrechnung, nicht Leben. Sie debattierten, besonders in Aachen 809, eine Zählung „seit Christi Geburt“ zur Abgrenzung von jüdischer Zeitrechnung. Aber ihre Komputistik war nicht immer exakte Wissenschaft.

Volkskundler wie W. H. Riehl (1823–1897) in München idealisierten germanisches Bauerntum als beharrenden Kern der Nation; Hörigkeit sei „eine wahre Wohltat“ und „Zuchtschule des Lebens“ gewesen, die Grundherren hätten Vagabundieren verhindert. „Erforschung des deutschen Volkskörpers“ betrieb Günther Franz in den 1930er Jahren. Der Direktor des Österreichischen Museums für Volkskunde Leopold Schmidt (a. 1960–1977) schrieb in den 1950er Jahren über die „Gestaltheiligkeit“ bäuerlichen Lebens auf Basis der Form der Bogensichel. Wolfgang Jacobeit u. a. (Hg.), Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1994. 7 Im Rahmen bürgerlicher Emanzipation war es nicht opportun einzuräumen, dass Deutsche und Österreicher von Hörigen abstammten (Georg Ludwig von Maurer, Geschichte der Markenverfassung in Deutschland, 1856). A. Cordes, „Mark, -genossenschaft“, Lexikon des Mittelalters, 9 Bde., Stuttgart 1999, 6:298–300. 6

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.2 Pflügender Bauer, „Stuttgarter Psalter“, St.-Germain-des-Prés, 1. Hälfte 9. Jh. In der Salzburger Darstellung pflügt ein Mann mit hölzernem Hakenpflug, im Westen arbeiteten Menschen bereits mit Scherbrett.

Internationale mehr als deutsch-sprachige Forschung zeigt, dass das Leben der nach unten Geschichteten rekonstruiert werden kann. Bereits um 1900 untersuchten der Geograf und Historiker Fritz Curschmann (Greifswald) Hungersnöte und Armut und die norwegisch-amerikanische Wissenschaftlerin Agnes Wergeland (Chicago) Sklaverei. 8 Philippe Dollinger aus der wirtschaftshistorischen Schule der französischen Annales analysierte 1949

die bayerischen classes rurales, 9.–13. Jahrhundert; „fehlende Quellen“ seien eine Mär desinteressierter Historiker, kommentierte er – diese blieben über drei Jahrzehnte an seiner Studie desinteressiert. 9 Ausnahmen bildeten für die Salzburg-Region Herbert Klein und Fritz Koller sowie, breiter, Michael Mitterauer, Karl Brunner und Gerhard Jaritz. 10 Carl I. Hammer (USA) untersuchte seit den 1970er Jahren Bayerns large-scale slave society 11 und Wissenschaftler in der DDR bäuerliche Kultur insgesamt. 12 BRD-Forscher begrenzten sich auf vereinfachte „Grundherrschaft“ und reduzierten adlige Familienstrukturen auf Geschlechterkunde. Nur Wilhelm Störmer (München) bezog wirtschaftshistorisch-funktional die Rolle von Klöstern und, später, Martina Hartmann von Alltagsleben ein. 13 Die provinziell karolingisch-politische Sichtweise wird seit etwa 2000 abgelöst durch Studien zu Europa einschließlich mittelmeerischer Handels- und Kulturkontakte. 14 Sie schließen an und revidieren die klassischen Studien von Wilhelm Abel (Göttingen) und Alfons Dopsch (Wien). 15 Deutlich besser ist die handwerksgeschichtliche Forschungslage in der DDR, 16 Österreich 17 und der BRD. 18 Das Spezifische der Voralpen- und Alpen-

Fritz Curschmann, Hungersnöte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts, Leipzig 1900; Agnes M. Wergeland, Slavery in Germanic Society during the Middle Ages, Chicago 1916. 9 Philippe Dollinger, Der bayerische Bauernstand [frz. classes rurales] vom 9. bis zum 13. Jahrhundert, hg. von Franz Irsigler, übers. von Ursula Irsigler, München 1982 (frz. 1949), zur Quellenlage 20–38. Aleksandr I. Neusychin, Die Entstehung der abhängigen Bauernschaft als Klasse der frühfeudalen Gesellschaft in Westeuropa vom 6. bis 8. Jahrhundert, Berlin 1961 (russ. 1956), 471–551. Thomas Kohl, Lokale Gesellschaften: Formen der Gemeinschaft in Bayern vom 8. bis zum 10. Jahrhundert, Ostfildern 2010. 10 Herbert Klein, „Die bäuerlichen Eigenleute des Erzstiftes Salzburg im späteren Mittelalter“ (1933/34), in: ders., Beiträge zur Siedlungs-, Verfassungsund Wirtschaftsgeschichte von Salzburg. Gesammelte Aufsätze. Festschrift, Salzburg 1965; Karl Brunner und Gerhard Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht: Der Bauer im Mittelalter: Klischee und Wirklichkeit, Wien 1985; Peter Feldbauer, Michael Mitterauer u. a., Herrschaftsstruktur und Ständebildung, 3 Bde., München 1973. 11 Carl I. Hammer, „Family and familia in Early Medieval Bavaria“, in: Richard Wall, Jean Robin und Peter Laslett (Hg.), Family Forms in Historic Europe, Cambridge 1983, 217–248; und ders., A Large-Scale Slave Society in the Early Middle Ages: Slaves and Their Families in Early Medieval Bavaria, Aldershot 2002. 12 Ulrich Bentzien, Bauernarbeit im Feudalismus. Landwirtschaftliche Arbeitsgeräte und -verfahren in Deutschland von der Mitte des ersten Jahrtausends unserer Zeit bis um 1800, Berlin 1980, zur Forschung 9–21; Siegfried Epperlein, Bäuerliches Leben im Mittelalter: Schriftquellen und Bildzeugnisse, Köln 2003; und zahlreiche weitere Studien. 13 Wilhelm Störmer, Mittelalterliche Klöster und Stifte in Bayern und Franken, hg. von Elisabeth Lukas-Götz, Ferdinand Kramer und Andreas O. Weber, St. Ottilien 2008; Martina Hartmann, Aufbruch ins Mittelalter. Die Zeit der Merowinger, Darmstadt 2003. 14 Michael McCormick (USA), Origins of the European Economy. Communications and Commerce A.D. 300–900, Cambridge 2001; Adriaan Verhulst (Belgien), The Carolingian Economy, Cambridge 2003; Jörg Drauschke (Deutschland), Zwischen Handel und Geschenk. Studien zur Distribution von Objekten aus dem Orient, aus Byzanz und aus Mitteleuropa im östlichen Merowingerreich, Rahden/Westf. 2011. 15 Alfons Dopsch, Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit vornehmlich in Deutschland, 1. Bd., Weimar 21921; und ders., Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung, 2 Bde., Wien 21923/24; Wilhelm Abel, Forschungen seit den 1930er Jahren, bes. Deutsche Agrargeschichte, Bd. 2: „Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert“, Stuttgart 1967. 16 Sigrid Jacobeit und Wolfgang Jacobeit, Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes 1550–1945, 3 Bde., Berlin 1985–1995. Vgl. auch W. Jacobeit, Von West nach Ost und zurück. Autobiographische Notizen eines Grenzgängers zwischen Tradition und Novation, Münster 2000. 17 Harry Kühnel u. a. (Hg.), Alltag im Spätmittelalter, Graz 1984; und andere Arbeiten des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit (IMAREAL) in Krems. 18 Herbert Jankuhn u. a. (Hg.), Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, 2 Bde., Göttingen 1983; und andere Publikationen dieser Autor*innen. Zum Bauhandwerk die Arbeiten von Günther Binding, Köln. 8

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Chroniken ohne Menschen …

region sowie des Pannonischen Beckens muss vielfach aus Europaweitem abgeleitet und aus Österreichweitem erschlossen werden. 19 Die Nahrung-schaffenden laboratores waren nicht „die Bauern“ (männlich), sondern Familien mit Emotionalität. Seit dem 9. Jahrhundert gab es kaum noch Freie, die Bezeichnung „bur“ erschien im 11. Jahrhundert. Sie lebten in Hausgemeinschaften als Arbeits- und Tischeinheiten mit, soweit vorhanden, Knechten und Mägden und in FranciaGallia bis ins 9. Jahrhundert mit Sklav*innen. „Gemeinschaft“ schloss Geschlechter-, Gesinde- und intergenerationelle Hierarchien sowie Gewalt ein. In dieser Welt galt, wer Dach und Herd, und nicht, wer nur Strohsack und Truhe in einer gemein-

schaftlichen Kammer hatte. „Familie“ war vielfach Partnerschaft, denn Unfreie durften oft eine formalisierte Ehe nicht eingehen. Sie lebten aus freiem Willen oder vom Grundherrn zusammengelegt in stabiler, manchmal sequenzieller Beziehung. Gelegentlich lebten Geschwister zusammen, meist Bruder und Schwester. Auf Herrenhöfen stellten Sklav*innen Güter für Konsum oder Vermarktung her. Alle stellten die für ihre Haus-, Garten- und Feldarbeit notwendigen Gerätschaften her; Männer- und Frauenarbeit, opera virile und muliebra, überlappten. Die merowingischen Leges Salica und Ripuaria kannten einen „Bauernstand“ nicht; Verfügungen Karls d. G. nannten Macht-reiche (potens) und Macht-arme ohne politische Rechte (pauper). 20

7.1 Chroniken ohne Menschen … Kirchliche Chronisten erwähnten weder Arbeit noch Seelenheil der Unfreien 21 und die Sprachstruktur ihrer Lebensbeschreibungen einflussreicher Männer exkludierte laboratores: Rupert gründete Salzburg, Tassilo zog gegen die Karantanen, Karl d. G. besiegte die Sachsen. Städte erbauten Handwerker*innen, auf Töten sozialisierte Bewaffnete machten Männer, Frauen und Kinder karantanischer und sächsischer Kulturen nieder. Rupert und Tassilo III. verpflichteten Fron-arbeitende Familien, um aus Iuvavums Überresten Steine zu hauen und Fundamente zu graben. Die monastischen Autoren verschwiegen auch die Frauen der Eliten: „deliberate obfuscation“ (Sarah Foot) und „androcentrism“ (Roberta Gilchrist). 22 Für gatekeeper – Männer mit Schlüsselgewalt zur Erinnerung – war Verschweigen praktisch, denn so brauchten sie Erinnerung nicht nachträglich zu löschen. Die „Stimme der Elite“ (Rosamond McKitterick) ignorierte die „eigene

Mehrheit ideologisch“ (A. J. Gurjewitsch). So gesehen waren die Schriftkundigen Ignoranten. 23 Rationalisten im 17. Jahrhundert bezeichneten die Kleriker als „Dunkelmänner“, doch waren sie aktiv verdunkelnde Männer. Ihre Texte ohne Menschen waren un-menschlich. 24 Nur einzelne schrieben als mitleidende Beobachter über Armut und Hunger. Wandelbert (813–870) im Kloster Prüm (Eifel) behandelte ländliche Arbeiten im Detail. Der englische Ælfric Grammaticus lehrte Unfreie – Pflüger, Ochsenhirten, Schäfer, Fischer – Latein (10./11. Jh.). Vergil (70–19 v. u. Z.), in der fruchtbaren Po-Ebene mit Exportwirtschaft sozialisiert, hatte landwirtschaftliche Arbeiten beschrieben und 1502 publizierte ein Straßburger Drucker seine Aeneis erneut. Religiöse Frauen nahmen Armut wahr und widmeten sich der Armenhilfe, aber sie schrieben nicht darüber. 25 Kleriker verfassten in den 850er Jahren die Carmina Salisburgensis als dem Erzbischof lobhudeln-

Dollinger, Bauernstand, 20–38; Kohl, Lokale Gesellschaften, 13–29. Willibald Hauthaler und Franz Martin (Hg.), Salzburger Urkundenbuch, 4 Bde., Salzburg 1910–1933. 20 Ruth Schmidt-Wiegand, „Der ‚Bauer‘ in der Lex Salica“, in: Reinhard Wenskus, Herbert Jankuhn und Klaus Grinda (Hg.), Wort und Begriff „Bauer“, Göttingen 1975, 128–152, und Karl Stackmann, „Bezeichnungen für ‚Bauer‘ in frühmittelhochdeutschen Quellen“, ebd., 153–179. 21 Aus diesem Grund stammen manche der Illustrationen in diesem Kapitel aus späterer Zeit. 22 Foot, Veiled Women: The Disappearance of Nuns from Anglo-Saxon England, 2 Bde., Aldershot 2000, 1:ix, 32. 23 Rosamond McKitterick, The Frankish Kingdoms under the Carolingians, London 1983, 1–15; Aaron J. Gurjewitsch, Stumme Zeugen des Mittelalters. Weltbild und Kultur der einfachen Menschen, übers. von Ulrike Fromm, Wien 1997 (russ. 1990), Zitat 19, 29–33; Ian Wood, The Missionary Life: Saints and the Evangelisation of Europe, 400–1050, New York 2001, 169. 24 In römischer Zeit waren bildliche Darstellungen einfacher Menschen üblich. Hans Kloft, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, Mainz 2006; und Robert Knapp, Invisible Romans, Cambridge, MA 2011. 25 Ælfric’s Colloquy, aus dem Lateinischen von Anne Watkins, http://www.kentarchaeology.ac/authors/016.pdf (8. September 2020). 19

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

den Insiderdiskurs und, nach dem Stadtbrand 1167, eine Historia calamitatum ecclesiae Salisburgensis als Trostadresse an den geflüchteten EB. Die Erinnerer, die später diese Jahrhunderte als dark ages verdunkelten, erfanden sich in Selbstbezug als Lichtquelle die griechisch-römische Antike plus Christianisierung als Abendland. Kontinuierliche Entwicklungen entgingen ihrem Stand- und Blickpunkt „von oben“ durch Beschränkung auf Schenkungsurkunden und Besitzverzeichnisse als einzige Quellen. Die Notitia Arnonis hielt Zu-Stand, nicht Prozess, fest. Privaturkunden, die Traditions- und Urkundenbücher der Klöster, Kapitularien von Synoden und Formel-Sammlungen bieten ein komplexeres Bild. Lynn White kommentierte bereits 1964, dass Historiker nur an Besitz von Land, nicht an dessen Kultivierung Interesse gehabt hätten. 26 Auch als Laien und literarische Autoren im 11. Jahrhundert zum vielfältigen Mitteldialektdeutschen übergingen, verharrten die kirchlichen Schreiber im Latein. 27 Urkunden, vielfach abgeschrieben und dabei verändert wie mündliche Tradierungen, entstanden

gemäß Interessen und Diskursen der Auftraggeber*innen. Abschriften dienten meist nicht wortgetreuer Wiedergabe, sondern Ziel war die Aktualisierung zu einem zeitangepassten und autoritativen Text: ein kontextabhängiges Verständnis von „Wahrheit“. 28 Dies konnte Verteidigung sein, wie bei der Abwehr neuer herrschaftlicher Forderungen; es konnte Betrug sein, um Besitz zu mehren und Zwangsleistungen der untertänig Gemachten zu erhöhen. „Rege Aktivität […] bei der Fabrizierung von Falsifikaten“ zeigten Passauer Bischöfe. 29 Wie konnte es sein, fragte Gurjewitsch, „dass in einer Gesellschaft, in der die Lüge als große Sünde beurteilt wurde, die Herstellung eines falschen Dokumentes zur Begründung von Besitz- und anderen Rechten für eine gottgefällige Sache gehalten“ wurde? 30 Pointiert ließe sich formulieren, die bellatores hatten das Schwert, die oratores die Schrift – die wertschaffenden laboratores durften das Schwert nicht tragen und die Schrift nicht lernen. Ein Schwertstreich löschte ein Leben aus, ein Federkiel-Handstreich Erinnerung. 31

7.2 … und Schenkungen-Handel mit Menschen Viele Rechtsgeschäfte betrafen Besitzwechsel von Menschen-auf-Land, gefasst als Land-mit-Menschen, darunter besonders „Schenkungen“ Wohlhabender an die jeweilige lokale Kirche. Schenkung war ein komplexer Vorgang. Erstens war sie nicht uneigennützig. Der/die Tradierende erwartete als Gegenleistung Gebete für sich oder nahe Verwandte zum „ewigen Heil der Seele“. Gott würde am Tag des Jüngsten Gerichtes die Gabe an die Kirche in

die Waagschale legen und einen Gegenwert geben. Materielle Gabe für spirituellen Vorteil. 32 Zweitens machten Schenkungen in weltlicher Funktion Reichtum sichtbar und festigten Positionierungen, im Englischen deutlich als „gifts broadcast wealth“. Schenkung war ein mehrseitiger Prozess: Gebende, Annehmende und Zuschauer*innen. Auch „Seelgerät“ wurde gegeben, Altargerät aus Gold und Silber und menschliches „Gerät“, das heißt Unfreie und

Historiker, die den Begriff „pre-history“ erfanden, hätten das Handeln der Unteren als „sub-history“ bezeichnet. Sie verehrten „the segments of our race which have had the habit of scribbling“: Lynn White, Medieval Technology and Social Change, Oxford 1964, vii, 39. Heinrich Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts: Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, 2 Bde., Stuttgart 1984, 1:2. 27 Die Dialekte umfassten von Norden nach Süden das Nieder-, Mittel- und Oberdeutsche mit jeweils mehreren Varianten, im Fall des Oberdeutschen: Alemannisch, Ostfränkisch, Südrheinfränkisch und Bayerisch, letzteres geteilt in nördliches (Nürnberg), mittleres (Salzburger Kirchenprovinz) und südliches Bayerisch (Tirol, Kärnten, Steiermark). 28 Michael Brauer, Die Quellen des Mittelalters, Paderborn 2013, 21–131, bes. 45–62. Gurjewitch, Stumme Zeugen, 137–151, zeigt, wie kirchliche Akteure religiöse Visionen ländlicher Menschen bei Niederschrift ihren eigenen Bedürfnissen anpassten. 29 Heinrich Fichtenau, „Zu den Urkundenfälschungen Pilgrims von Passau“, in: Beiträge zur Rechts-, Landes- und Wirtschaftsgeschichte: Festgabe für Alfred Hoffmann, Graz 1964, 81–100. 30 Aaron J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, übers. von Gabriele Loßack, bearb. von Hubert Mohr, Dresden 1978 und München 1980 (russ. 1972), 11. 31 Mathieu Arnoux, Le Temps des laboureurs. Travail, ordre social et croissance en Europe (XIe–XIVe siècle), Paris 2012, 63–65. 32 Schenkungen an Gott (AT), „Opfer“, waren doppelt eigennützig: Die ferne Gottheit erhielt die ungenießbaren Teile des Opfertiers, die Gebenden verzehrten beim Opfermahl das Genießbare. 26

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… und Schenkungen-Handel mit Menschen

ihre Kinder, die Priester durch Abgaben für Gebete zum Seelenheil der Schenkenden bezahlten. Hätte Gott diese Unfreien in die Waagschale legen müssen? Die Zentrale der Lateinkirche monetarisierte den Vorgang später als Ablasszahlung. Drittens ist die Unterscheidung, Schenkung schaffe Beziehungen, Handel tausche Ware gegen Ware oder Geld, also persönlich vs. unpersönlich, nicht tragfähig. 33 Handel beruhte auf gemeinsamen Regeln und erforderte Beziehungs-volles Vertrauen; Schenkungen konnten von Klerikern getauscht oder, wenn dies nützlich oder angesichts eines Liquiditätsengpasses nötig war, verkauft werden. 34 Das Beurkunden der Schenkung einer Immobilie dokumentierte Sachstand, doch für die beschenkte Person oder Institution musste die Sache prozessual Gebrauchswert haben, „Erträge abwerfen“: Die sprachliche Floskel setzt, wie „er ist zu Reichtum gekommen“, Wertschöpfung als Selbstläufer. In verschenkten Wäldern, Feldern, Gewässern und Weingärten erwirtschafteten die Arbeitenden Er-trag, den sie dem Besitzer zu-trugen und so die Schenkung ein-träglich machten. Die Unterhaltszahlungen wurden als „Pfründe“, von lat. praebenda, Unterhalt, bezeichnet. Alle Amtsinhaber und Würdenträger lebten vom Mehrwert, doch kein Theoretiker in der Latinitas verfasste eine Arbeitswerttheorie. 35 Schenkende vergaben Menschen als Wirtschaftseinheiten: Dörfer, Siedlungen, eine Burg, eine Kirche. Die Übergabepapiere erwähnten die Verschenkten selten und nur funktional: „vier Abgabepflichtige mit ebensovielen ihrer Hufen“, Leute „mit all ihrem Besitz und ihrem Zubehör“ oder Kirchen „zusammen mit Unfreien und ihrem Landbesitz“, Dörfer mit dem Heerbann unterliegenden „Wehrmännern“. Gelegentlich wurde Land als Arbeitsleistung benannt, „70 Tagewerk [Acker] und Wiesen zu 30 Fuhren“. Vereinzelt wurden Verschenkte bayerischer Kultur mit Namen genannt:

Regnbertus, der „Unfreie Waldmannus mit Frau und ihren Kindern“, „Bondana, eine Frau mit sechs Kindern“. Romanen wurden als Pakete zu fünf, zwanzig oder gar achtzig weitergegeben. Slawen, noch nicht annektiert, wurden als besitzschädigend dargestellt, wenn „wegen der drohenden Slawen, der grausamen Heiden“ wüste Ortschaften verschenkt wurden. In Bezug auf Erträge waren Gebende und Nehmende meist genau: Hufen „teils bewirtschaftet, teils unbewirtschaftet“, abgabenpflichtig, „mit allem Zubehör“ einschließlich Lebenseigenen, Kolonen und behausten Unfreien. Bei der Schenkung von Mühlen oder Fischereirechten wurden die dort Tätigen nicht genannt, nur bei der Salzherstellung in Hall: „zwanzig Ofenplätze mit den Pfannen und den Leuten, die dort arbeiten, und den dritten Teil von jenem Brunnen, mit dem Salz gewonnen wird, und den zehnten Teil von der Steuer, die dort als Herrenzins eingehoben wird, und den gebührenden Zehnten an Salz“. Für verschenkte Gotteshäuser wurde gelegentlich die Absicherung des Klerikers genannt: „Kirche mit Landbesitz“, „mit drei Hufen“. Dass Mönche selbst arbeiteten, war erwähnenswert: „Zu Kufstein die Kirche mit Landbesitz und der Zelle, wo unsere Brüder mit ihren Händen arbeiten“. Oder waren es Laienbrüder? 36 Ob ländliche Familien oder Dorfkirchen, Knechte oder Mägde, Diener oder Priester – die Schicht der Herren (-Familien) verdinglichte (commodified) und vertauschte, verpfändete oder verkaufte alles. Die Gesellschaft war zweigeteilt in solche, die Menschen verschenken, verpfänden und verkaufen konnten, und solche, denen dies geschah. Zwischen beiden bestand eine connubium-Grenze. Freie Frauen, die einen servus heirateten, verloren ihren Stand; freie Kinder mussten von Eltern „gleichen Fleisches“ sein. Diejenigen, die sich zu Mächtigen erhoben hatten, machten sich so zu Geburtsadel, nobilitas carnis. 37

Wendy Davies und Paul Fouracre (Hg.), The Languages of Gift in the Early Middle Ages, Cambridge 2010; in der Einleitung, 1–17, fasste Janet L. Nelson den Forschungsstand seit dem wegweisenden Essai sur le don des französischen Soziologen und Anthropologen Marcel Mauss (1923/24, dt. 1968) zusammen. Timothy Reuter, „Plunder and Tribute in the Carolingian Empire“, Transactions of the Royal Historical Society 5.35 (1985), 75–94, bes. 77–85. 34 Fritz Lošek, Übers., „Notitia Arnonis und Breves Notitiae“, in: Herwig Wolfram (Hg.), Quellen zur Salzburger Frühgeschichte, Wien 2006, 9–178, zu Tausch z. B. Breves Notitiae, 15, 20, 23, 24. 35 Ausstattung mit Menschen erhielten auch Oberschichten anderer Gesellschaften. 36 Notitia Arnonis, 1 passim; Breves Notitiae, 1 passim, bes. 3, 8, 9. Dazu Klaus Schreiner „‚Brot der Mühsal‘ : Körperliche Arbeit im Mönchtum des hohen und späten Mittelalters. Theologisch motivierte Einstellungen, regelgebundene Normen, geschichtliche Praxis“, in: Verena Postel (Hg.), Arbeit im Mittelalter, Berlin 2006, 133–170. 37 Detailliert in Störmer, Mittelalterliche Klöster; und Störmer, Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im Fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 11. Jahrhundert, Stuttgart 1973, 15–18. EB Odalbert (h. 923–935) vollzog etwa hundert Tauschgeschäfte mit Hörigen und Zehnten als „Zubehör“. 33

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Schenkende in Bayern waren, neben Herzog (Hz) oder Herzogspaar, überwiegend freie, meist als „edel“ bezeichnete Männer und Frauen („Tisa, die edle Frau“) oder Ehepaare. 38 Damit der Adelskleriker Rupert sich am Wallersee niederließ, war eine reiche Schenkung des weltadligen Hz geboten: „Daraufhin übergab der Herzog Theodo seligen Angedenkens an ebendiese Kirche denselben Ort mit dem umliegenden Gebiet mit Wassern, Wasserläufen, Wäldern, Wiesen, Weiden und Mühlen und auch Fischereien, den Hof und das Haus mit den übrigen Gebäuden, unfreie Leiheninhaber auf vier Hofstellen und andere Abgabepflichtige auf zehn Hofstellen“. 39 Seelenheil war nicht Teil des Rechtsgeschäftes. „Für sich und seine Nachfolger“ erhielt EB Liupramm, wie andere Bischöfe und Äbte, vom

König das Recht „selbst oder durch seine Vögte mit dem Adel Besitz und Hörige zu tauschen“ und machte davon „lebhaft Gebrauch“. In römischer Zeit konnten nur Sklaven und Kriegsgefangene verschenkt werden. Wir würden gern in die Köpfe der Kirchen- und Weltadligen blicken, aber diese Mentalitätsgeschichte fehlt. Die Unfrei-Gemachten waren nicht Teil der Gesellschaft, sie wurden symbolisch – und bei „Aufständen“ physisch – von denen vernichtet, die sich durch Genealogien und Legenden Kirchen- oder Abstammungsgeschichte(n) erfanden. „The most effective way to destroy people is to deny and obliterate their own understanding of history“ (G. Orwell, 1984). Dies praktizierten Kolonialherren über die Jahrtausende. 40

7.3 Konzepte: Eigenleute und Sklaven in komparativer Perspektive Das Besitzregime über Menschen haben Historiker ausdrücklich gegen „antike Sklaverei“ 41 und chattel slavery im atlantischen Plantagenregime durch Benennungen wie „Unfreie, Eigenleute, Leibeigene, Hörige“ abgegrenzt. Apologeten sahen das Unterwerfungsregime als „organische“ Verbindung, „Rechtsstatus“ oder „Minderfreiheit“. Der zeitgenössische Begriff familia für Hofgesinde (ancillae, mancipia) und Hufenfamilien (servi und rustici) bedeutete Herrschaft sowie Muntgewalt und war doppelzüngig: Die Familie der Menschenbesitzer stand über der Gesinde-familia. Diese wissenschaftlichbegriffliche Provinzialisierung Europas verschleiert Ähnlichkeiten mit anderen Gesellschaften. 42 Komparativ untersuchten bereits Charles Ver-

linden (1955) und Jacques Heers (1965) mediterrane und transalpine Sklaverei. 43 Die U.S.-amerikanischen Historiker Carl Hammer und Orlando Patterson ebenso wie der Anthropologe Claude Meillassoux in Frankreich haben die Ansätze global erweitert und die Emotionen von Sklav*innen einbezogen. 44 Regimes reichten von personenrechtlicher Abhängigkeit (zum Beispiel rights in persons in Afrika) bis zu verdingtem, transportablem Besitz (chattel, amerikanische Plantagen). Sie waren gekennzeichnet durch physische Gewalt, psychologische Kontrolle und ein Normensystem, das die Unterwerfung eines Teils der Bevölkerung als Recht und, im europäischen Raum, als Teil gottgewollter Ordnung erscheinen ließ. Produkte versklavter Ar-

Heinz Dopsch, „Die Zeit der Karolinger und Ottonen“, und ders. mit Michael Mitterauer, „Salzburg im Hochmittelalter“, in: Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs, Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.1:157–418, hier 201–202. 38 Geneviève Bührer-Thierry, „Les femmes et la terre. Transmission des patrimoines et stratégies sociales des familles dans l’aristocratie du monde carolingien (VIIe–Xe siècles)“, Bulletin du centre d’études médiévales d’Auxerre 8 (2004), 2–8, https://doi.org/10.4000/cem.858 (9. September 2020); dies., „Femmes et patrimoines dans le Haut Moyen Âge occidental: Nouvelles approches“, Hypothèses 2004, Paris 2005, 323–332. Eine kritische Zusammenstellung und Bewertung der Forschung bietet Doris Hellmuth, Frau und Besitz. Zum Handlungsspielraum von Frauen in Alamannien (700– 940), Sigmaringen 1998. 39 Breves Notitiae, 1. 40 Dopsch, „Karolinger“, Zitat 1.1:178. 41 Hans-Jörg Gilomen, Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, München 2014, 13–16. 42 Dollinger, Bauernstand, 112, 226–227; Hammer, „Family and familia“, 217–248. 43 Skandinavisch-isländische, zentraleuropäische, mittelmeerische und islamische Varianten: Charles Verlinden, L’esclavage dans l’Europe médiévale, 2 Bde., Bruges 1955–1977; Jacques Heers, Le Travail au Moyen Âge, Paris 1965; und ders., Esclaves et domestiques au moyen-âge dans le monde méditerranéen, Paris 1981. 44 Orlando Patterson, Slavery and Social Death: A Comparative Study, Cambridge, MA 1982, bietet den umfassendsten Ansatz, vernachlässigt jedoch Geschlecht als Kategorie. Der Begriff „sozialer Tod“ wird angesichts der agency der Versklavten nicht mehr verwendet. Claude Meillassoux, Anthropologie de l’esclavage. Le ventre de fer et d’argent, Paris 1986, behandelt alle Aspekte der Depersonalisierung.

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Konzepte: Eigenleute und Sklaven in komparativer Perspektive

beit wurden in römischer und fränkischer Zeit vermarktet, Grund-mit-Menschen-Herrschaft war auch oligopole Marktwirtschaft. In einer break-in period brachen Menschenbesitzer in den Amerikas die Persönlichkeit neu Versklavter; die merowingischen Magnaten taten dies in der Phase des Unfreimachens. Chronisten berichteten von Sklavenmärkten; König Chilperich verfrachtete Menschen nach Spanien; karolingische Heerführer versklavten Gefangene; Reiche nutzten Notsituationen, um Arme zu versklaven; Räuber fingen Menschen und verkauften sie. Die zeitgenössischen ordo-Konstrukteure schufen sich zielstrebig passende Begrifflichkeiten für Entpersönlichung: „Eigenleute“ (proprii) – statt Sklav*innen – ist ein eigenartiger Begriff, denn die so Bezeichneten wurden sich selbst un-eigen, ihrer Eigen-initiative beraubt und Eigen-tum Anderer. Hatten sie geringe Rechte, wurden sie „Freileute“ (liberi) genannt, korrekt waren sie Minderfreie oder besser gestellte Unfreie. Wer sich mit einem Sklaven/einer Sklavin verband, wurde selbst Sklave/Sklavin und „stumm“. Sahen Besitzer in ihren Eigenleuten Unter-menschen? Sahen, umgekehrt, Versklavte die Herren als „Ich-Menschen“ oder „mir-steht-alles-zu-Bullys“? Sklav*innen und andere Unfrei-Gemachte sowie ihre Kinder hatten in den Gesellschaften keinen Platz Kraft ihrer Person. Besitzer*innen verkauften (Ehe-) Partner einzeln oder bestellten sich versklavte Kinder, die viel arbeiten und geformt werden konnten. Auseinandergerissenen verboten Kleriker die Wiederheirat, lange bevor unter Eliten Monogamie üblich wurde. Als städtische Wirtschaft den Ertrag von Arbeit der ancillae- und mancipiaSklav*innen auf Salland – dem vom Grundherrn in Eigenwirtschaft bearbeiteten Teil des Fronhof-Verbandes – und in Werkstätten verringerte, nahmen getrennte Verkäufe von Partner*innen zu. 45 All dies betraf lokale Getaufte, hinzu kam Fernhandel. Unter Christ Karl d. G. stieg das Angebot für die islamische Nachfrage durch den Verkauf kriegsgefangener Sachsen, Slawen und anderer dramatisch.

Die Ausprägungen von Menschenbesitz müssen je nach Zeit und Ort auf einem Kontinuum von Sklaverei als Verdinglichung über Lebenszyklusspezifische Unfreiheit bis zu – zeitweise – relativer Autonomie bestimmt werden. Mächtige, die sich gewaltsam Großgrundbesitz (villae) in bewohnten Regionen angeeignet hatten, organisierten ihre als „Rechte“ bezeichneten Ressourcen (opus servile) im sogenannten bipartiten Villikationssystem, das heißt zweigeteilter Menschennutzung: servi cottidiani ohne Rechte in der Hofwirtschaft und servi casati oder mansuarii mit begrenzten Handlungsmöglichkeiten auf Hufen oder Mansen (lat. casa, Hütte, mansio, Haus). 46 Dass Sklav*innen Sachen waren, war noch für die Kompilatoren germanischer Rechte im 19. Jahrhundert eindeutig: „die knechte sind sachen dem Herren eigenthümlich […] er darf sie wie thiere behandeln; […] den knecht kann der herr gleich anderer waare verkaufen“ (Jacob Grimm). Die Verdinglichung analysierte Agnes Wergeland: Die Existenz von Sklav*innen lag in der Person der Herr*innen, wer langsam arbeitete, „stahl [deren] Zeit“. Zur Ansiedlung auf Hufen, oft als Zeichen teilfreien Handelns interpretiert, hielt Wergeland nüchtern fest: „To settle slaves on land was the easiest way of maintaining a large stock of them, or rather making them maintain themselves.“ Die Begrenzung der Zwangsarbeit auf eine bestimmte Anzahl von Tagen pro Woche war notwendig, damit die Versklavten ihre Lebens-Mittel erarbeiten und Kinder großziehen konnten. Wergeland betonte agency und Gefühle der Versklavten. 47 Salzburger Erz- und Suffraganbischöfe besaßen „Eigenleute“ und Handelswege für Versklavte liefen von Regensburg durch die Kirchenprovinz zu mittelmeerischen Märkten. Das Gewaltregime war offenkundig. Den Weinhändler Christopherus erschlugen seine zwei sächsischen Sklaven, „weil er sie oft hart züchtigte“. Ein dux behandelte Sklaven sadistisch und ließ ein junges Liebespaar, das ohne seine Einwilligung zusammenlebte, lebendig begraben. Zu einem Prozess gegen ihn kam es nicht, weil er sich durch ihren Tod

Hartmann, Aufbruch ins Mittelalter, 184; Christiane Walter, Ehe – Familie – Arbeit: Zum Alltagsleben unfreier Frauen und Männer im Frühmittelalter, Korb 2012, 53 passim. 46 Zur Agrarentwicklung in anderen west- und südeuropäischen Räumen Mitterauer, Europa, 55–64. 47 Jacob Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, 2 Bde., 1854, 4. Ausgabe Leipzig 1899, Zitat 342–343; Karl von Amira, Nordgermanisches Obligationenrecht, 2 Bde., Leipzig 1892–1895; Wergeland, Slavery, 30, 34, Zitat 45, passim. Neuere Forschungen: Hermann Nehlsen, Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter, Göttingen 1972; Gerhard Dilcher, „Arbeit zwischen Status und Kontrakt. Zur Wahrnehmung der Arbeit in Rechtsordnungen des Mittelalters“, in: Postel, Arbeit im Mittelalter, 107–131. 45

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

an seinem Eigentum selbst geschädigt hatte. In der Nähe von Verdun (Mitte 11. Jh.) bedrängte ein Untervogt „die Klosterleute“ so hart, „dass beim Pflügen die Kuh eines Bauern zu früh kalbte und an ihrer Stelle dann der Bauer den ganzen Tag das Zugjoch auf der Schulter tragen musste.“ „Unmenschlich“ urteilte der Chronist. Das Thema von Arbeit und Unterdrückung nahmen Erzähler*innen von „Märchen“ und „Sagen“ auf, im Sprachgebrauch wurden Menschen „unterjocht“ wie Ochsen. 48 Ancillae und mancipia (= Handsachen, jmd. an/ bei der Hand haben) leisteten auf Herrenhof und Salland ungemessene Arbeit unter ständiger Aufsicht. Dies reflektiert die Sprachfigur „unangemessener“ Forderungen. Getrennt nach Geschlechtern kollektiv untergebracht, konnten sie kaum je eine Partnerschaft eingehen. Arbeitskraft durch Kinder zu reproduzieren, oblag den auf Hufen angesetzten Geschlechtsgemeinschaften. Ancillae produzierten für die Besitzer*innen in gynaeceae (griech. Frauengemächer), das heißt Manufakturen in separatem Gruben- oder Holzbau, den Lebensunterhalt aller Versklavten und die Vermarktung. Eine Herrin oder, in Klöstern, eine als Aufseherin oder Schließerin bezeichnete ältere Frau teilte die Arbeit zu: Küche, Wohnräume, Viehversorgung, Buttern und Mahlen, Austragen von Mahlzeiten zu Feld- und Erntearbeitern. Im Winter mussten gynaeceae-Sklavinnen und fronende Hufen-Frauen spinnen, nähen, flicken; für komplexere Kleidungsstücke wurden Näherinnen beschäftigt oder ancillae angelernt. Den männlichen servi cottidiani teilte ein Aufseher, vilicus, Arbeit zu. Pflüger mit einem Jungen zum Antreiben der Ochsen mussten mit erstem Tageslicht aufs Feld und den Tag lang, auch bei Regen oder Kälte, Furchen ziehen und abends die Zugtiere füttern. Sie wurden als junge Erwachsene gemäß herrschaftlichem Gutdünken oder Willkür auf eine Hufe gesetzt, hin und her versetzt oder blieben lebenslang Hofarbeiter. 49 Das Management von Lebenseigenen mit „intelligence and delicacy“ hat Carl Hammer rekon-

struiert: Der Abt eines kleinen Klosters an der Ilm tradierte 820/21 seinen Grundbesitz einer Dorfhälfte samt allen dort Lebenden an das mächtige Regensburger Kloster St. Emmeram. Mit dieser precaria 50 remuneratoria – sich auszahlenden Gabe – vergrößerte und konsolidierte er seinen Besitz: Er erhielt nicht nur Land und Menschen als beneficium auf Lebenszeit zurück, sondern auch St. Emmerams Besitz der anderen Hälfte des Dorfes. Der Abt besaß 57 manentes und mancipia auf elf Hufen, weitere 14 Männer, die sein Salland bewirtschafteten, und 23 Frauen, die handwerklich produzierten. Die Mönche besaßen 93 Menschen auf 23 Hufen und 15 mancipia, darunter ein Töpferehepaar, das für den Vertrieb produzierte. Ihre Namen deuten auf bayerische Kultur. In der Umgebung des EBSitzes hatten Leibeigene vielfach romanische und gelegentlich slawische Namen. 51 Der Abt strebte optimale Allokation der Ressourcen Arbeitskraft, Land und Gebärfähigkeit an und setzte dafür seine servi im Lebenszyklus um: als arbeitsfähige Kinder von der Hufe zum Herrenhof, als junge Erwachsene auf eine Hufe, im Alter zurück zum Hof; wenn sinnvoll, zwischen Einheiten seines Gesamtbesitzes; er tauschte bei Auswärtsehen. Zusammenleben scheint teils partnerschaftlich gewählt, teils grundherrschaftlich arrangiert gewesen zu sein. Ein Paar lebte in Auswärtsehe: Die Frau „gehört mir nicht“, schrieb der Abt; die Familie seines freien Schmiedes gehörte ihm. Jeweils drei bis fünf Personen bewirtschafteten eine Hufe, drei Generationen lebten nie zusammen; das Geschlechterverhältnis auf den Hufen war ausgeglichen, unter den Hofhandwerkenden bildeten Frauen die Mehrzahl. „Administrative Manipulation“ des Abtes bedeutete, dass bei Entsendung kräftiger junger mancipia auf Hufen alternde zum Hof relokalisiert wurden; dass servi cottidiani auf Hufen entsandt wurden, wenn dort Kinder den Arbeitskraftbedarf nicht deckten; dass Pflegekinder und Waisen untergebracht, Jugendliche und Alte am Herrenhof als Produzenten und/oder Essensempfänger angesiedelt wurden. Die servi scheinen

Hartmann, Aufbruch, 109–122, Zitat Gregor von Tours VII, 46; Epperlein, Bäuerliches Leben, 44–45, Zitat aus der Chronique de Saint Hubert von 1081. Ländliche Familien wanderten aus dem Salzburgischen heimlich nach Tirol, wo Bauern bessere Rechte hatten. 49 Dollinger, Bauernstand, 425. Gynaeceae verschwanden seit dem 12. Jahrhundert durch Loskauf der Dienste und Übergang zu Lohnarbeit. Deutinger, „Agilolfinger“, 210, nennt eine Urkunde von 754, die als Zubehör eines Großbetriebes Sklaven, Knechte, Zinspflichtige und Freie nannte. 50 Lat. precarius, Erbetenes oder Gnade, abhängig vom Willen anderer, also prekär-unsicher. 51 Eine familiensoziologische Untersuchung zum Tausch eines EB von Besitzungen nahe Salzburg, 930, ist nicht möglich. Gelegentlich wurden Männer jeweils mit Namen und Ehefrau, uxor, sowie Kindern genannt. Salzburger Urkundenbuch, 1, Nr. 85, 147–150. 48

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Konsolidierung von Grundherrschaft in der vielsprachigen Kirchenprovinz

kooperiert zu haben. Nach Hammer entstand das westeuropäische Familienmodell – relativ späte Heirat und geringer Altersunterschied – aus diesem Partnerschaftsmanagement: „slavery as origin of the western family“. Mitterauer sprach von „gattenzentrierter“ statt intergenerationell patrilinearer Familie, in der Arbeitsorganisation über emotionaler Gemeinschaft rangierte. Herren konnten Gatten oder Gattin austauschen, wenn sie die Hufenaufgaben nicht mehr erfüllen konnten. Söhne waren nicht immer fähig, eine Hufe vom Vater (oder den Eltern) zu übernehmen. Vielleicht waren auch Herrensöhne, in denen Abstammungs- statt Leistungsprinzip galt, nicht immer fähig. 52 Brutale Behandlung der servi cottidiani beklagte der bedeutendste Theologe der späten Karolingerzeit, der Mainzer EB Hrabanus Maurus (~780–856): Es gibt viele [Herren], die bei der Rückkehr von der Jagd mehr für ihre Hunde als ihre Knechte sorgen. Sie lassen die Hunde neben sich auf den Bänken liegen oder schlafen und veranlassen, dass sie in ihrer Gegenwart von ihren eigenen Speisen zu fressen bekommen. Dabei ist es ihnen gleichgültig, ob ihr Knecht vor Hunger verschmachtet; und was noch schlimmer ist: wenn den Hunden das Futter nicht sorgfältig genug zubereitet worden ist, so wird um eines Hundes willen der Knecht bestraft, womöglich sogar totgeschlagen. Man kann nämlich in vielen Häusern gepflegte und wohlgenährte Hunde herumlaufen sehen und gleichzeitig Menschen, die bleich und wankend einhergehen. 53

Die Vielen, die ohne Möglichkeit, das Schreiben zu erlernen, lebten, gaben Erinnerungen an die vielfältigen kriegerischen Bedrohungen oder Jahre reichhaltiger Ernten mündlich weiter. Erinnerten sie den Bürgerstatus, den ihre norisch-römischen Vorfahren hatten? Boten des Kaisers in Aachen fanden 811 bei einer Meinungsumfrage „eine Unzahl von Menschen […], die durch den Entzug des Erbes oder der Freiheit ihrer Väter zutiefst betrübt waren.“ Im „Schwabenspiegel“ (~1280) hieß es: „Do man erste Recht saczte, do warn die Leut all frei. Do unser Vodern her zu Land chomen, do warn die Leut all frei“. Dass Menschen unfrei, anderen „aigen“ sein sollten, stand nicht in der „heiligen Geschrift“, aber die „herrn habent das nu fur recht“ befunden. 54 Erst neun Jahrhunderte später würde der englische Gesellschaftstheoretiker John Locke postulieren: „Every man has a property in his own person. This nobody has any right to but himself. The labour of his body, and the work of his hands, we may say, are properly his“. 55 Ein weiteres Jahrhundert würde vergehen, bis Menschen 1789 versuchten, sich dieses Recht in einem revolutionären Schritt zu erkämpfen, und noch einmal hundert Jahre, bis Frauen begannen explizit daran zu erinnern, dass es heißen müsste, „every man and woman has a property in his or her own person“.

7.4 Konsolidierung von Grundherrschaft in der vielsprachigen Kirchenprovinz Die Kompilatoren des „Sachsenspiegels“ (Anf. 13. Jh.) sahen Menschen als Natur „urbar“, das heißt nutzungsfähig, machend und als verhandlungsfähige Partei. Ihre in Eigeninitiative gegründeten Dörfer – „von wilder Wurzel“ laut Diskursherrschern – sollten Herren ihnen durch Verleihung des Erbrechtes zugestehen. 56 Spätere Interpretatoren

sahen die Erschließung von Wildnis als „geleitet von geistlichen und weltlichen Fürsten und Herren“. 57 Dass manches scheinbar durchgeplante Dorf aus Umstrukturierung älterer Besiedlung entstand, erwähnten die Schreiber nicht. Die „nicht zum Gute“ Geborenen konnten ihre funds of knowledge selbstbestimmt anwenden, durften es aber nicht.

Hammer, „Family and familia“, 217–248, Zitate 246, 248. Eine klassische Interpretation des „europäischen Heiratsmusters“ (westlich einer Linie von St. Petersburg nach Triest) sieht Hoferbe, Meisterbetrieb oder Dienstposition im Spätmittelalter als ausschlaggebend. Mitterauer, Europa, 70– 108. Wall u. a., Family Forms. 53 Epperlein, Bäuerliches Leben, Zitat 126–127. 54 Heinrich Fichtenau, Das karolingische Imperium. Soziale und geistige Problematik eines Großreiches, Zürich 1949, Zitat 157; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 133; Epperlein, Bäuerliches Leben, 195. Alice Rio, Slavery after Rome 500–1100, Oxford 2017, untersucht sehr detailliert das Spektrum zwischen slavery und serfdom. Sie sieht hohe Möglichkeiten des Aushandelns von Status im ländlichen Bereich, aber eine Entwicklung zu chattel slavery in den hochmittelalterlichen Städten Südeuropas. 55 The Second Treatise on Civil Government (1689), in: David Wootton (Hg.), Locke’s Political Writings, London 1993, 274. 56 Sachsenspiegel, 3. Buch, Art. 79, § 1, zitiert in Epperlein, Bäuerliches Leben, 36–37. 57 Dopsch, „Karolinger“, 1.1:224–225, Zitat 348. US-amerikanische Forscher behaupteten bis in die 1960er Jahre, dass Sklav*innen mangels Eigeninitiative und Denkfähigkeit nur von Besitzern geleitet arbeiten würden. 52

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.3 Dorfgründung, „Sachsenspiegel“, ~1330 (lavierte Federzeichnung, Detail)

Die Menschen erschlossen sich die Naturräume zwischen Donau und Tauernkamm nicht flächendeckend. Wie an jeder frontier siedelten sie punktuell auf Hügeln und Inselbergen in den Tälern und an sonnseitigen Hängen. Im Becken von Saalfelden an der Saalach und entlang der Mur errichteten sie Einzelhöfe oder verbanden ihre Wirtschaftsstellen zu kleinen Siedlungen. Andere „Weiler“ entstanden um oder aus herrschaftlichen Meier- und, später, Vogthöfen. In den noch endlosen Wäldern des Donautals wandelten sie Dickicht (silva) in Nutzwald (forestum), Urwald zu Kulturwald, so zum Beispiel den Komplex Elixhausen im Auftrag der Erentrudis-Nonnen oder um Stift Melk (urk. 1089) und, im Wienerwald, um die Zisterzienser-Klöster Heiligenkreuz (urk. 1133) und Lilienfeld (urk. 1202). Als mehr Kinder überlebten, mussten seit dem 11./12. und besonders im 13. Jahrhundert „überzählige“ junge Menschen aussiedeln. Im Nahbereich der Altsiedlungen kultivierten sie schwieriger zu beackernde Hanglagen, in mittlerer Entfernung rodeten sie Neubrüche an Hängen und Talschlüssen und siedelten in abgelegenen Tälern. Freie Familien waren an der Besiedlung kaum beteiligt, denn es gab sie nicht mehr. Ein Beispiel für Besiedlung im „inner Gebirg“ bietet das bis zu 1050 m hohe Fritztal mit Mandling-Pass. Ein agilolfingischer Hz schenkte im 8. Jahrhundert Tal-samt-Menschen dem EB und dessen Zwangsentsandte hatten einen ebenso mühseligen Anfang vor sich wie ihre vielen Vor-gänger oder Vor-fahren in dem Tal: keltische Taurisker, heranziehende Römer, Slawisch-Sprachige durch das 58 59

Ennstal (6. Jh.) und Bayerisch-Sprachige durch das schmale Lammertal (8. Jh.). Hirten fanden ihr Auskommen entlang des Fritz-Baches und auf Almen. Im 11. Jahrhundert gab ein EB Tal-und-Menschen an die Mönche des Klosters Admont, ihnen zinsten die Siedler Getreide und Geld. 58 Auf dem Oberhof (urk. 1285) saß 1333 die Hausgemeinschaft eines Alblinno. Als Eigenmann des EB und „Freisasse“ der Vasallen-Familien Goldegger und Frundsberger war er doppelt unfrei. 59 Die Höfe dienten der Randzonenarrondierung, denn die Mandling-Pass-Route führte nach Karantanien, die Route durch das Ennstal zur Donau und nach Pannonien. Das täglich Brot romanischsprachiger Alt- und slawisch-sprachiger Neusiedler in Karantanien, Land-Besitz und Bergbau-„Recht“, eigneten sich im 9. und besonders im 10. Jahrhundert Kleriker in Salzburg, Aquileia/Grado, Freising, Bamberg und Brixen an. In Kärnten und anderen slawisch besiedelten Gebieten führten EB-Salzburg, Domherren und St. Peter-Mönche „gründliche“, also grundbesitzende Herrschaft ein. Im Rahmen ihres „Siedlungswerkes“ – kirchliche Perspektive – ent-eigneten sie die ansässigen freien Gemeinschaften (župa). Später, im 11. Jahrhundert, erhielten die EB einen Besitzkomplex an der Save mit Reichenburg, Rann (Brežice), Liechtenwald (Sevnica) und Pischätz (Pišece). Die geschenkten praktizierenden Christ*innen mussten gemeinsam mit aus Bayern zuwandernden Kolonist*innen den migrantischen Adligen Burgen bauen und bezahlen. Abgaben und Dienste variierten nach Herrschaft und natürlichen Ressourcen. Im waldreichen Pongau südlich von Salzburg-Stadt hatten die Unfreien Holz zu schlagen, zu sägen und zu Betten zu verarbeiten oder Fassreifen aus Weidenruten herzustellen. Im entfernten slawisch und bayerisch besiedelten Großarltal konnte Zwangsarbeit nicht gefordert werden und daher wurden Abgaben, meist Hunderte Stück Käse von je 0,5 bis 1 Kilo Gewicht, höher angesetzt. Die Bewohner*innen des wegen seiner Mündungsschlucht nur schwer erreichbaren Tals unterstanden der Kirche St. Veit an der Salzach. Um – auch das Zwang – an der Messe teilzunehmen, mussten sie sich um Mitternacht auf den Weg machen und knapp 25 km und 500 Höhenmeter überwinden. Gottesdienst erforderte für

Dopsch mit Mitterauer, „Hochmittelalter“, 1.1:350. 700 Jahre später notierte dies ein Oberhofbauer: Christian Salchegger, Filzmoos: Überliefertes und Erlebtes [1333–1993], Filzmoos [1996].

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Konsolidierung von Grundherrschaft in der vielsprachigen Kirchenprovinz

Abb. 7.4 Salzburger Diözese: Größte Ausdehnung der Herrschaft über Menschen („Territorien“), 1365–1396

sie Wegzehrung und Schuhwerk für insgesamt fünfzig Kilometer. Sie wünschten sich einen eigenen Vikar für ihre Siedlung. Land-mit-Menschen vergaben die EB als Lehen (beneficium) an zuwandernde laienadlige „Geschlechter“ südwestdeutscher Mundarten, aber nicht an Hochadlige, die die Macht gehabt hätten, Lehen zu entfremden. Doch strebten die Geschlechter und Vögte eben dies an, je weiter entfernt vom EB-Sitz, desto erfolgreicher: Dar-lehen zu ErbLehen. Ab Mitte des 10. Jahrhunderts erhielten auch unfreie Dienstmannen in gehobenem Dienst Lehen. Sie eigneten sich die niedere Gerichtsbarkeit, das „Recht“ fällige Gebühren und Strafen einzuziehen, an. In der Steiermark machten sich Magnaten-Migranten aus Rheinfranken und Bayern sowie an dritter Stelle die EB zu den größten Landmit-Menschen-Besitzern. Überlegten sie, neben Tirol (Brenner) und Salzburg (Tauern-Pass) eine weitere Passherrschaft zu errichten? Weder für Magnaten, deren Schreiber Latein verwendeten, noch für Landwirtschaftende hatte ein ethnisches Etikett oder gar „Stammeszugehörigkeit“ Bedeutung. Entscheidend war Status in den

vielen Abstufungen zwischen frei (liber) oder unfrei (proprius). Doch prägte Kultur: Wachsende städtische Optionen nahmen Slawisch- und RomanischSprachige unterschiedlich auf: Erstere blieben eher ländlich, letztere lebten eher städtisch. Kolonisten mitteldeutscher Dialekte kamen hinzu. Wie dachten die Menschen im Mur-, Sann-, Arl- und den vielen anderen Tälern über lokale, regionale oder ferne Mächtige? Sozial helfende wie die Gräfin Hemma in Kärnten behielten sie in guter, mündlich tradierter Erinnerung (s. Kap. 9.5). Aber hatten sie und ihre Kinder je von einem Karl oder, einige Generationen später, einem Otto gehört, die ihnen jeweils neue Regionalgranden vorsetzten? Wieder hilft der Blick auf Ökonomisches samt Essen. Die enteigneten Eigenleute mussten neben vielem anderen „Hengstfutter“ für Kriegspferde abliefern. Und als sich Karl in seiner Allgemeinen Ermahnung (789) heilsgeschichtliche Verantwortung zuschrieb, ließ er seinen „Knechten“ mit Lehen (honor, ministeria) und anderen einen Treueeid abnehmen. Auch ordnete er vor Kriegszügen Fastentage für alle Untertanen an. Fasten waren die Menschen angesichts knapper Wintervorräte ge231

Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

wohnt, aber wie dachten sie über die zusätzlichen Tage? Als er gegen die „heidnischen“ und durchaus aggressiven Awaren mit seinem Heer von angeblich 30.000 durch Bayern zog, mussten Anführer, Mannschaften und Tross versorgt werden. Die Anwohnenden mag dies an einen biblischen Heuschreckenschwarm erinnert haben. Nach Vernichtung der „heidnischen“ Sachsen ordnete der ferne Papst dreitägige Dankesmessen in der gesamten Christenheit an. Als 866 Karl (der Kahle) Tribut in Höhe von 4000 Pfund Silber an im fernen Norden einfallende Normannen zahlen musste, ließ er von jeder Bauernstelle eine Extrasteuer von sieben Denaren einziehen. Durch Sonderabgaben und Zwangsrequisitionen, Eide und Messen waren Menschen bis in abgelegene Talschlüsse über die ferne Herrschaft „informiert“ und dachten vermutlich über sie nach. 60 Sie waren vielfältig gebunden und eingebunden. Reisende Könige, Welt- und Kirchenadlige zogen mit reichem Gefolge und schwerem Tross entlang der Wege. Bei dem für Pferde und Ochsen kraftzehrenden Alpentransit mussten sie den Herrscherkarawanen laut Dekret-Recht Reit- und Zugtiere

geben. Auf Altären dörflicher Kirchen prangten liturgische Gerätschaften aus Gold, Silber und Edelsteinen aus sagenhaft reicher Ferne. Abt Ælfric in Angelsachsen ließ nicht nur Unfreie ihre harten Arbeitstage beschreiben, sondern, im gleichen Kreis, Kaufleute ihre Reisen: Waren-beladene Schiffe aus fernen Meeren, Erwerb fremder Wert-voller purpurner und seidener Kleidung, Edelsteine und Gold, Ebenholz (griech. ebenos, arab. abanūs) und Glas, Farbstoffe und Öle. Die Produkte „ferner Kontinente“, das heißt der dort lebenden Menschen, waren zugänglich. Jerusalem und, später erfunden, das Morgenland der drei Magi wurden Teil der Vorstellungswelten. Steinmetze und Maler zogen durch Dorfstraßen, wenn Machthabende eine Baustelle für eine Wehranlage oder eine große Kirche einrichteten. Die Menschen konnten rechnen: Ein Erzbischof mit vielleicht zwanzig berittenen Begleitern auf dem Weg nach Rom würde sie sehr viel Heu und erhebliche Mengen ausgesuchter und reichhaltiger Delikatessen für die Tafel kosten. Nach den Worten ihres Priesters hatten Maria und Joseph einfacher essen müssen. 61

7.5 Prozessuale Strukturen: Lebenseigene/Sklaven, Zwangsarbeit und -abgaben Die Möglichkeiten der Hufen-Hausgemeinschaften waren eng begrenzt: Amtleute kontrollierten die Aussaat, schätzten die Ernte und berechneten ihre Abgaben. Neben der Fronarbeit, Robot, hatten sie – trotz biblischen Verbots der Zinsnahme – Naturalabgaben zu zinsen sowie den Machtbefugten in den Zwischenräumen von oben und unten, wie Meiern und Vögten, Leistungen zu erbringen. Servi casati waren nicht dinglich an Land gebunden, sondern waren Besitz der Grundherren, die sie direkt mit jährlicher Leibsteuer und Sonderzahlungen belegten. Neben Grundherren waren Unfreie an Kirchenherren gebunden – im Fall der EB ein- und dieselbe Person. Über die Körper der Eigenleute hatten die Herren bio-pouvoir (Foucault), ihren Glauben und ihr Seelenheil erwähnte kein Urbar. Die Durchsetzung dieses Systems erforderte physi-

sche Zwangsmittel und psycho-religiöse Konditionierung über viele Generationen. Das quantitative Verhältnis der wenigen Freien zu Unfreien variierte regional und von einer (klösterlichen) Grundherrschaft zur nächsten. Unfreie ohne Rechte bildeten die bei weitem größte Gruppe, wie Urbare und Steuerlisten zeigen. 62 Leihedauer und Abgaben verzeichneten Schreiber als Urbargerechtigkeit und bestimmten damit nicht nur die Beziehung, sondern auch den Blickwinkel auf „Gerechtigkeit“. Menschen wurden nach Baumannsrecht auf Land gesetzt: auf ein Jahr mit möglicher jährlicher Verlängerung oder Abstiftung (sog. Freistift), auf Lebenszeit (Leibgeding, ius personatus) oder mit Recht der Weitergabe an Erben (Erbgeding, ius hereditarium). Angesichts der Umsetzbarkeit der Unfreien und deren selbst gesuchter Mobi-

Dopsch, „Karolinger“, 1.1:222. Die Zusammenstellung beruht auf Jussen (Franken), Ubl (Karolinger), Hartmann (Aufbruch) und Dietmar Pieper und Johannes Saltzwedel (Hg.), Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters, München 2013. 61 Ælfric’s Colloquy, 8; Epperlein, Bäuerliches Leben, 167–168; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 49–50. 62 Klein, „Eigenleute“, 137–251. 60

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Prozessuale Strukturen: Lebenseigene/ Sklaven, Zwangsarbeit und -abgaben

lität radizierten Besitzer vielfach Hand- und andere Dienste auf das bewirtschaftete Land. Da jede Vergabe von Land – anders als die Aufgabenzuteilung an Hofsklav*innen – individuell erfolgte, bedurfte es genauer Erinnerungsfähigkeit der beteiligen Parteien mit jeweils eigenen Interessen. Daher die langen Zeugenreihen und die regelmäßigen Wiederholungen der „Tatbestände“ an Gerichtstagen. Die Erinnerungsproblematik betraf auch die höchste Ebene: Der alternde Karl d. G. wies seine Königsboten an, bei ihren Umritten alle Lehen und Verpflichtungen aufzuschreiben. 63 Die Begriffe „Freistift“ und „Freisassen“ waren sprachliches shape-shifting der Feder-führenden: Frei waren die Grundbesitzer, die für sie wirtschaftenden Unfreien am Ende des Jahres „abzustiften“, das heißt, sie umzusetzen oder zu vertreiben. Bis ins 13. und 14. Jahrhundert blieb diese Herrschaftsbeziehung die am weitesten verbreitete. In Unfreiheit gezwungene Romanisch Sprechende, sogenannte Barschalken, die es nur in Bayern gab, hatten Fuhr- und Kurierdienste zu leisten. Frauen und Kinder mussten während der Abwesenheiten der Männer deren Anteil an Hof- und Landarbeit übernehmen. 64 War das Verhältnis von Land zu Arbeitskraft nicht ausgeglichen, stellten Besitzer vieler Arbeitskräfte diese als Leiharbeiter*innen anderen Herren zur Verfügung. Die EB als größte Menschenbesitzer schickten Lebenseigene an (neue) Grundherren. Diese Zwangsmigrationen, gegebenenfalls mit Zwangspartnerschaften oder Zwangstrennungen, blieben bis ins 12. Jahrhundert üblich. Die Zeitarbeiter*innen konnten jederzeit zurückbeordert werden. Bessere herrschaftliche Rahmenbedingungen für Rodungen – Leib- oder gar Erbgeding – wirkten auf die Rechtsverhältnisse in Altsiedelgebieten: Unfreie bemühten sich um längere Leihfristen, Eltern hofften, Land an ihre Kinder übergeben zu können. Höfe mit dauerhafter Besiedlung für intensive Viehwirtschaft (Schwaigen) ließen Herren-Familien anfangs auf ebenen Böden, später bis in große Höhen errichten. Wie einst Menschen keltischer Kultur nutzten sie saisonal die Matten oberhalb der

Waldgrenze für die Rinder- und Schafzucht. Herden und Hirten bewegten sich in jahreszeitlicher Transhumanz zwischen Höhen und Tälern. Eine halb-freie = halb-unfreie Gruppe bildeten Zins- oder Muntleute (censuales). Freie, die sich bedroht sahen, begaben sich in den Schutz „der Kirche“ – das heißt der lokalen Institution mit spezifischen Kleriker-Individuen – und zahlten Schutzgeld. Wurden sie von Besitzern übergeben, „tradiert“, diente dies diskursiv dem „Seelenheil“ des/der Tradierenden, praktisch handfesten Interessen und eine Handfeste dokumentierte den Vorgang. Bei Selbst-Tradierung „suchten vor allem Schwache, besonders Frauen und Witwen“, Schutz, „die ihren freien Status und ihren Besitz gegen die Begehrlichkeit benachbarter Grundherren verteidigen mussten“, andere aus Angst vor Versklavung, vor destruktiven Privatfehden oder thronkämpfenden Königssöhnen. Manche strebten Alterssicherung an, so „arme“ Grund-mit-Menschen-Besitzer, deren Erträge zum Unterhalt nicht mehr ausreichten. Für die Übergabe eines/r freigelassenen Unfreien erhielten die Tradenten eine Geldsumme – auch hier Menschenhandel. Die Zensualen hatten als oberste Schicht der Teilfreien-bis-Versklavten freien Rechtsstatus bei unfreiem Abgabenstatus. Sie waren von unehrenhaften Diensten befreit und zahlten Zins oft in Wachs, um den Massenbedarf der Kirchenbetriebe zu decken. Üblich war ein Kopfzins in Geld, je nach Region und Herrschaft ein bis sechzig Pfennige pro Jahr, in Oberbayern selten mehr als zwölf Pfennige, in der Diözese Salzburg und an der Donau mehr. Die Zinsbezieher konnten den Betrag nach Missernten oder wegen prekärer Lage ermäßigen und Kinder und Alte ganz befreien. Der Betrag war für beide Geschlechter gleich, doch da Frauen zahlende Kinder gebären konnten, zahlten sie selbst manchmal weniger. Um die Mitte des 11. Jahrhunderts sank das Schutzgeld in der Regel auf fünf Pfennige, den Wert eines Ferkels. Arme konnten auch dies nicht aufbringen und bereits bei ihrer Tradierung verhandelten die Parteien über daraus potenziell resultierende Fehlbeträge in Kirchen- und Kloster-Bilanzen. In den Zensualen-Status neu Eintretende

Lehen waren gewissermaßen „Freistifte“ auf Lebenszeit, sie verfielen mit dem Tod des Herrschers; das Bestreben des Adels auf Allodisierung der Lehen, das heißt Übergang in Eigenbesitz, zielte neben Machtzuwachs auf Kontinuität. 64 Pierre Riché, Daily Life in the World of Charlemagne, Philadelphia 1978, 101–112, zu Sklavenhandel und Preisen 117–121. 63

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

zahlten oft einen geringeren Betrag. War dies ein Lockangebot? Ihre Nachkommen hatten die volle Summe zu zahlen. 65 Wohlhabenden, die Unfreie tradierten, galten „ehrwürdiges Alter“ und „hochverehrte Reliquien“ der Empfänger-Institution als besonders attraktiv: Reiche Institutionen wie Passau und Freising, St. Peter und St. Emmeram wurden noch reicher. Domherren und St. Peter-Mönche führten Buch über geschenkte Menschen und verzeichneten in den zwei Jahrhunderten von 987 bis 1199 54 geschenkte und 142 tradierte Freie, 227 geschenkte und 635 tradierte Unfreie, insgesamt 1058. 66 Zensuale arbeiteten als Amtsträger wie Meier, Zolleinnehmer, Schergen; in der Wirtschaft als Winzer, Fischer, Schiffer, Handwerker*innen oder Goldwäscher. Bei Einführung des Systems wohnten viele außerhalb der Grundherrschaft, konnten Auswärtsehen eingehen und Frauen durften gemäß ihrer Wahl heiraten. Selbst-Tradierende konnten nicht vorhersehen, dass ihren Kindeskindern Unfreiheit bevorstehen würde: Mit zunehmender Geldwirtschaft erhöhten Herren die Abgaben und schränkten Auswärtsehen ein; im 12. Jahrhundert erwähnten Urkunden Freiheit kaum noch und Mitte des 13. Jahrhunderts waren Zensuale von Unfreien, die ihrerseits von Hofsklav*innen zu servi casati aufgestiegen waren, nicht mehr zu unterschieden. Vereinzelt wehrten sie sich. In Herrschaft und Bistum Augsburg, zum Beispiel, wandelten sie ihre Position von Kirchen-Eigenen zu Eigenen des Kirchenheiligen und gewannen das Verfügungsrecht über ihre Arbeitskraft zurück. 67 Unfreiheit war erblich, Kinder wurden als Hofsklav*innen, Hufen-Unfreie oder Zensuale geboren. Gemäß fränkisch-römischem Herrschaftsrecht folgte die Leibesfrucht dem Status des Bauches, nicht etwa der Person der Mutter, partus sequitur ventrum. 68 Dies wirft Fragen nach Wert-Schätzung

von „Frauen als Ressource“ und nach Kosten-Nutzen-Rechnungen zu heranwachsenden Kindern auf. Die Lex Salica legte 600 Schillinge „Wehrgeld“ als Strafe für Totschlag von königlichen Gefolgsmännern, Priestern und Gebärfähigen fest, 300 Schillinge für Tötung eines Diakons, 200 für einen nach salfränkischem Recht lebenden germanischen Mann und für Frauen, die zu jung oder zu alt waren, um Kinder zu gebären, für einen romanischen Mann mit Grundbesitz 100 und für einen romanischen Zinshörigen 45 Schillinge. 69 „Geschlechtsgemeinschaften“ Versklavter und Unfreier arrangierten Herren oder Eltern. Doch entwickelten junge Menschen Zuneigungen über Status- und Besitzgrenzen hinaus. Kirchenmänner und ihre Rechtsdenker mussten re-agieren: Wie sollten sie Verbindungen zwischen Menschen, denen sie unterschiedlichen Status zugeteilt hatten, behandeln? Wie Besitz an Kindern, wenn die Eltern unterschiedlichen Besitzern gehörten? Ehen über Statusgrenzen hinweg galten als „unrechtmäßig“, Sanktionen waren geschlechtsspezifisch: Heiratete eine freie Frau einen Unfreien, wurde sie unfrei; heiratete ein freier Mann eine Unfreie, behielten offenbar beide ihren Status. Der Stand der Kinder folgte, in Verschlechterung des Mutterrechts, der „ärgeren Hand“, das heißt dem Elternteil mit dem geringeren Status. Das war für die Betroffenen ärgerlich. Nach römischem Recht gingen der Kirche jedoch die Kinder verloren, wenn ein unfreier Kleriker mit einer freien Frau zusammenlebte. Dies war hohen Klerikern ärgerlich und sie klagten noch im 13. Jahrhundert darüber. 70 „Auswärtsehen“ waren angesichts ineinander übergreifender und weit verstreuter Grundbesitze und angesichts der Initiativen und Emotionen der Unfreien so häufig, dass die Macht-Haber Verfahrensregeln aushandelten: alle Söhne für einen, alle Töchter für den anderen oder für jeden eine be-

Für rückschauende Historiker*innen sind die Urkunden begrifflich nicht eindeutig. Vereinzelt begaben sich Wohlhabende vermutlich aus primär religiösen Motiven in Zensualen-Status. Dollinger, Bauernstand, 137–191, 195–303, Zitat 315. Manche Urkunden deuten darauf hin, dass Zensuale veräußert werden konnten. 66 Dollinger, Bauernstand, 313. 67 Dollinger, Bauernstand, 215–219, 304–346; Bernhard Roeck, Geschichte Augsburgs, München 2005, 58. 68 „Körperteil“-Sprachlichkeit nennt keine Menschen, sondern „Bauch“ für Geburt, „Arm“ (braceros, braccianti) oder „Hand“ (hands) für Arbeitskraft, „brain drain“ in der Gegenwart. 69 Käthe Sonnleitner, „Die Stellung der Kinder von Unfreien im Mittelalter in Salzburg, Steiermark und Kärnten“, MGSL 123 (1983), 149–166; Hartmann, Aufbruch, 113–114. 70 Kosten-Nutzen-Analysen von Gebär- und Arbeitsfähigkeit war in Sklavenhalterregimes üblich. Bei der Sklavenbefreiung in Brasilien 1888 mussten Freigelassene ihre Besitzer durch mehrere Jahre Arbeit entschädigen. Ungeborene Kinder (Lei do Ventre Libre) und über Sechzigjährige (Lei dos Sexagenários) wurden sofort frei, damit die Plantagenbesitzer nicht die Kosten für Aufwachsen oder Altern tragen mussten. 65

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Prozessuale Strukturen: Lebenseigene/ Sklaven, Zwangsarbeit und -abgaben

stimmte Anzahl; sie tauschten Eltern, meist Frauen, um Auswärtigkeit zu beenden: „Der Grundherr, dem durch eine Auswärtsehe Untertanen verloren gingen, erhielt dafür Untertanen des gleichen Geschlechtes und von vergleichbarem Status, vor allem aber mit vergleichbarem Besitz.“ So handelte es Anfang des 13. Jahrhunderts der Salzburger EB mit dem Abt von Admont aus. „Die Kirche“ schätzte längerfristige Rentabilität: Wollten weltliche Besitzer alleinstehende Frauen und solche mit kleinen Kindern, die ihnen als Belastung erschienen, abgeben, nahmen Kleriker sie gern, denn die „Kinder dieser Frauen erbrachten nach einigen Jahren einen wertvollen Zuwachs an Arbeitskraft.“ 71 Hufen-Arbeits- und Tischgemeinschaften bewirtschafteten volle oder geteilte Hufen gegen (mhd.) vrōn, dem Herrn gehörende Dienste und Abgaben. Männer mussten – regional variierend –

an drei Tagen pro Woche auf Herrenland arbeiten (Lex Bai. C. 14, 6), Frauen Dienste erbringen. Da der Grundherr Erntebeginn und Tage der Erntearbeit bestimmte, konnten die Fronenden günstiges Wetter nicht für ihre Hufe nutzen. Das Regime veroder behinderte agency; war allerdings der Herrenhof technisch besser ausgerüstet, sahen die Fronenden Gerät- und Arbeitsalternativen. Zinse – Grundrente, Zehnt, Vogtabgaben, Sondersteuern – waren in Naturalien zu zahlen. Während des Übergangs zu Markt- und Geldwirtschaft im 11./12. Jahrhundert verringerten die Parteien Zwangsarbeit auf Aussaat und Ernte sowie Handwerks- und Transportarbeit im Winter. Zum „Ausgleich“ stiegen die Geldabgaben. Sie erforderten Erwirtschaften eines marktfähigen Überschusses und für den Markthandel wurden Transportmittel und Wege verbessert.

Das früheste überlieferte Urbar (1177–1216, urk. Abschrift 1250) für das Vizedomamt Salzburg und solche für andere Ämter belegten die Vielfalt der Abgaben: – Hufen lieferten überwiegend Getreide unterschiedlicher Sorten, Schwaigen Käse, Besitzungen im Süden Wein (herbeigesäumt von Bauern im Etschtal, Friaul und Kärnten), Flachs, Heu, Häute; – Viehdienste waren in Rindvieh, Ziegenböcken, Schafen und Lämmern sowie Schweinen – unterschieden in Eber, Fettschweine, Mastschweine, mittelgroße Tiere, Ferkel – zu leisten; – Kleindienste umfassten Geflügel, Legehennen und Eier, Käse, Legumen; – Zinse waren – ortsradiziert und wie immer unsystematisch – auf Hofstätten, Gebäude, Äcker, Gärten, Weingärten, Neubrüche, Mühlen und Schifferlehen zu entrichten; – Dienstgüter von Amtleuten und Zuchthufen hatten unter anderem Reitpferde für Botenzwecke bereitzuhalten; anderen waren Transport-, Vorspann- und Handdienste auferlegt; – Gewerbetreibende zinsten Bier, Bretter, Schindeln, Textilien wie Wolltuch (Zillertaler Schwaigen) und Leinen (Ennstal); – in manchen Orten waren Bäcker-, Köhler-, Hafer-, Hufeisen- und Forstgeräte-Dienste gefordert; – Fell- oder Balgdienste waren aufgeschlüsselt nach Tierart; – das Recht, Holz zu schlagen, war verbunden mit Bretter- und Schindeldiensten; Leben nahe Erz-Fundstätten mit Eisen- oder Waschgold-Diensten; – in der Umgebung von Schloss und Burg Werfen, genutzt überwiegend für Jagdaufenthalte, dienten die Unfreien für die herrschaftliche Küche und stellten Töpfe und Schüsseln, Getreidesiebe (?) und Mühle, Fleisch und Gemüse sowie Fisch bereit; weiterhin Stühle, Bettgestelle und -säcke sowie Kleidung für Schlossbedienstete; – hinzu kamen Brücken- und Marktzölle, gerichtliche Abgaben und separate Vogteidienste.

71

Dollinger, Bauernstand, 235–242, Zitate 31, 238; Walter, Ehe – Familie – Arbeit, 86–102.

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.6 Abgaben leistende Hörige, Holzschnitt, Rodericus Zamorensis, Speculum vitae humanae, Augsburg 1479

Abb. 7.5 Hörige leisten ihren Grundherren Abgaben, „Sachsenspiegel“ (lavierte Federzeichnung): Lämmerzehnt, Pflege von Obst- und Weingärten, Fleisch-, Korn-, Gänsezehnt, Zinsen an St. Bartholomäus (Attribut: abgezogene Haut)

Im Folgejahrhundert veränderten die Betroffenen das Regime kontinuierlich durch Affirmation oder Widerstand, durch verfahrens- und gerätetechnische Neuerungen, durch die Zahl ihrer Kinder und durch Umsetzen ihrer Erwartungen und Wünsche. Herren-Familien sakralisierten Abgaben: Sie waren an kirchlichen Feiertagen „fällig“. Wie dachten die Abgabepflichtigen über die Verbindung von Heiligem und Zinsen, wie über den Herrschaftsterminus consuetudines, gemeinsame Absprachen? Frauen lieferten Textilien aus Hanf und Wolle oder Hanfstricke, Milch, Eier, Kleinvieh; Männer Holzund andere Produkte. Kleindienste wie Eier und Geflügel wurden bei Bedarf abgerufen. Für die Liefernden, soweit sie nicht nur Brei aßen, konnte dies den Küchenplan durcheinanderbringen. Hinzu kamen Kriegssteuern, Sonderdienste zu besonderen Anlässen, Zwangsarbeit beim Bau von Pfalzen, Burgen und Kirchen. Zu Erdarbeiten und Materialtransport wurden auch Frauen gezwungen, 72

Walter, Ehe – Familie – Arbeit, 246.

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Abb. 7.7 Zum Vergleich: Kleidung der Herren-Familien, Graf Siboto IV. und Gattin Hildegard mit Söhnen Kuno und Siboto V., Falkensteiner Codex, zw. 1166 und 1196

die ihre Kinder hätten betreuen müssen. 72 Allein Karl d. G. ließ etwa 100 Pfalzen errichten und die Ausstattungen heranschaffen. In der Kirchenpro-

Prozessuale Strukturen: Lebenseigene/ Sklaven, Zwangsarbeit und -abgaben

vinz Salzburg stieg die Belastung, als GrundherrenFamilien, die in festen Häusern oder Türmen lebten, Wehr- und Burganlagen bauen ließen: Allein in der Diözese im 11. Jahrhundert sechs, im 12. Jh. 24, im 13. und 14. Jh. je 43. 73 Manche dienten der äußeren Verteidigung oder als Basen für militärische Expansion, die Mehrzahl der Machtausübung im Inneren. Die Unfreien mussten die Zentralen ihrer Unterdrückung bauen. Dies war ihnen bewusst, wenn sie Baumaterialien schleppten. Die herausragende Hohensalzburg zeigte allen Anwohner*innen und Reisenden, wer die Macht hatte. Belagert wurde der mächtige Komplex nur einmal – 1525 von den Nachkommen der Zwangsarbeiter*innen (s. Kap. 11.7). Die Zwingburg ist bis in die Gegenwart von weither sichtbar, nicht zu besichtigen sind die Kammern, in denen Knechte und Mägde schliefen. 74 Die Anlagen beherbergten auch die Pferde, die bis ins 10. Jahrhundert überwiegend für Kriege, Reisen und als Statussymbole gezüchtet wurden, aber erhebliche Weideflächen in Anspruch nahmen. Menschen, die für sie Heu oder Hafer lieferten, mögen eigene Kosten-Nutzen-Rechnungen angestellt haben. Kirchenzehnte hatten biblisches Alter, denn bereits die Kompilatoren des Alten Testamentes notierten, dass den Herrschern und Hohepriestern von Kriegsbeute der zehnte Teil (oder mehr) zustand. Laut 5. Mose 12–14 war der Zehnt Religionsund Sozialabgabe, „Hebopfer“ für Tempelunterhalt und -dienst sowie für Hilfe an „Fremde, Waisen und Witwen“. Diese anfangs freiwillige Abgabe wandelten hohe Kleriker zur Pflichtzahlung und in der Zeit, als Bonifatius in Bayern wirkte, legte der Papst die Aufteilung fest: ein Viertel für die Armen, drei Viertel für „die Kirche“. Die karolingischen Herrscher ließen 779 die Abgabe für „ihre“ Kirche festlegen. Auch diese Macht wurde visualisiert: Neben Burg und Kirche mit Turm war in vielen Gemeinden der Wirtschaftshof einer Pfarre oder das „Stadel“ (Speicher bzw. Scheune) eines Zehntpächters das größte Gebäude. Im Zuge der wirtschaftlichen Veränderungen wandelten die Kleriker im 11. Jahrhundert den

Abb. 7.8 Textilarbeiten der ancillae in einem gesonderten Gebäude, Utrecht-Psalter, 9. Jh. (Ausschnitt), rechts am Rand ein Hirte mit Flöte

Zehnt in Geldzahlung 75 und Weistümer und Rechtsspiegel, die kollektive Erinnerung und Interessen widerspiegelten, in Herrscher-zentriertes Dekret-Recht um (s. Kap. 6.6). Die Recht-Haber lösten die Abgaben vom realen Ertrag einer Hufe oder Teilhufe und bürdeten alle – oft wetterbedingten – Schwankungen und Risiken den Unfreien auf. Alle dehnten ihre Ansprüche kontinuierlich aus, einzelne erhöhten den „Zehnt“ bis zum Dreifachzehnt, dreißig Prozent – so im Waldviertel zwischen Donau und Böhmen. Zusätzlich zum (biblischen) Großzehnt auf Getreide und Großvieh forderten sie einen Kleinzehnt auf die Produkte von Frauen sowie je nach Wirtschaftsregion einen Wein-, Heu- oder Holzzehnt, Schlacht- und Rodungszehnt. Sie verpachteten den Einzug an versierte Wechsler und Kaufleute. Diese setzten Zehntner ein und diese wiederum Zehntholde – ein Apparat, der bezahlt werden musste. Sie trieben Abgaben ohne Rücksicht auf individuelle Verhältnisse ein und die Rücksichts-losigkeit ging als zeitübergreifend-zentraler Topos in den „Volksmund“ ein: Nahm der Zehnteinzieher die „letzte Kuh“, stieg die Sterblichkeit von Neugeborenen und Kleinkindern, für die es keine Milch gab. Trauer zog in den Haushalt ein. Auch Wut? 76 Sprachgewalt trug zur Unterdrückung bei. Abgaben, anfangs „Geschenke“ oder „Ehrungen“ an Äbte und andere Grundherren, wurden „Hilfe“, ahd. stiura, Steuer. Dienste, servitiae, forderten Herren willkürlich auch von weit entfernt und ver-

Rico Grimm, „Pfalzen“, in: Pieper und Saltzwedel, Karl, 172–175; Josef Brettenthaler, Salzburgs SynChronik, Salzburg 1987, 65–73. In Schloss Tirol (bei Meran) werden in beispielhafter Form alle Burgbewohner*innen mit ihren Tätigkeiten und ihrer Unterbringung dargestellt (Stand 2016). 75 Auch Grundbesitzer jüdischen Glaubens mussten die christliche Kirchensteuer zahlen. 76 R. Puza, „Zehnt“, Lexikon des Mittelalters, 9:499–502; Epperlein, Bäuerliches Leben, 68–89. 73

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.9 Käsedienst, Falkensteiner Codex, zw. 1166 und 1196

streut lebenden Grundholden-Familien. Zu besonderen Anlässen forderten sie zusätzliche „Ehrung“. Die Durchführung von Herrschaft erforderte Delegation von Macht. Herren stellten neben Villicus und Schließerin weitere Aufseher und Verwalter ein und belehnten Meier und Vögte mit Höfen. Diese unfreien Beauftragten konnten zu autonomeren Dienstmannen aufsteigen. Grafen und Bischöfe und, mehrere Ebenen niedriger, Vögte trugen zu Ordnung ebenso wie Um- und Unordnung bei. Viele beuteten die unfreien Menschen rücksichtslos aus: frontier, „wilder Westen“ im Inneren. Sie wandelten sich von Amtsträgern auf Lebenszeit zu erblichen Amtsinhabern (Anfang 10. Jh.). Diese Privatisierung und Zersplitterung von herrscherfamiliären Territorien ging Hand in Hand mit den Fehden der Ego-zentrierten Kinder und Enkel Karls d. G. Die Zwischenherrscher stellten sich als Schutzgebende dar und forderten standesgemäßen Unterhalt, exactiones. Noch König Heinrich III. musste,

77 78

um nur ein Beispiel zu nennen, im 11. Jahrhundert den Vögten des Klosters des Maximin, genannt „der Heilige“, in Trier untersagen, die Rechte der Bauern zu beschweren, ihnen Pferde und Vieh wegzunehmen und Abgaben zu erpressen. Vögte forderten Zwangsdienste nicht nur zur Ausbesserung von Straßen und Brücken, sondern auch zum Erhalt ihrer Zwingburgen. 77 Die Zahl der servi eines Besitzers wuchs mit der Zahl der überlebenden unfreien Kinder und machtvollen Besitzern „wuchsen“ durch Schenkung von Land-mit-Freisassen zusätzliche Unfreie zu. Erzbischöfe tätigten Neuerwerbungen von größeren Gruppen durch Umschreibungen Unfreier von Vorbesitzern. Den hohen Anteil erzbischöflicher Lebenseigener am Gesamtbestand hat Herbert Klein errechnet. Ging, wie er argumentierte, diese privatrechtliche Leibeigenschaft mit dem Wandel zur Landesherrschaft in öffentlichkeitsrechtliche Landesuntertanenschaft über? Im Rauristal, um 1350 überwiegend von EB-Freisassen bewirtschaftet, kam nach dem Großen Sterben die Zahlung der Leibsteuer zum Erliegen. Drei bis vier Generationen später hielten die Nachkommen, sei es aus Überzeugung, sei es interessenbedingt, fest, dass es in dem Gericht nie Leibeigene gegeben habe, dass sie alle dem Landesfürsten unterständen und kein lokaler Herr sie zu Leibeigenen machen dürfe. 78 Eine Definition der Sklaverei und Leib-/Lebenseigenschaft sieht erstere als Verweigerung jeglicher Rechte, letztere als Zugang zu Rechten nur gegen Bezahlung. Damit lassen sich Abgaben und Banne fassen, schwieriger Robot. Kern beider Regimes war Gewalt und Definitions-Macht: Allgemeine Ressourcen mussten zuerst als „Rechte“ der Machthabenden dekretiert und verankert werden. In der Zeit abnehmender Zahlungsverpflichtungen nach der Pest zogen Erzbischöfe von ihren Menschen eine Gebühr nur ein, um ihre Ansprüche aufrechtzuerhalten.

Dollinger, Bauernstand, 70–81, 180–182, 208–215; Dopsch, „Karolinger“, 1.1:157–228, bes. 220. Klein, „Eigenleute“, 195–198, 210–213; Brunner, Kulturgeschichte, 13–55.

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Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen

7.6 Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen 79 Ackerbau galt Gelehrten in Ostrom als ursprünglichste Kunst der Menschen, naissance du village nannte Jacques Le Goff den Übergang zu gemeinsamen Siedlungen, Gmain nannten süd-dialektdeutsche Sprecher ihr Zusammenleben. „Dorf“, dessen naturräumlich-topografisches Layout soziale Prozesse beeinflusste, war Rechtsbezirk. Es bot Schutz, ermöglichte bessere Kontakte auch bei der Partner*inwahl und leichteren Zugang zu Deckvieh und Mühle, zu Handwerker*innen, Kirche und Krug. Unregelmäßige, umzäunte Haufendörfer entstanden verstärkt im 11. Jahrhundert, gruppiert oft

um einen zentralen Anger, für den Markt oder eine zukünftige Kirche vorgesehen. Andere siedelten in Reihendörfern beidseitig einer Straße. Alle lebten in „natürlicher“ und in „sozialer“ Zeit, in „Herrscherzeit“ gemäß Abgaben und in „Kirchenzeit“ durch Siebentagewoche, Heiligenfeste und Glockenruf. 80 Regel-mäßiges Zusammenleben begann mit der Pflicht, den eigenen Hof zu umzäunen und Zaunflechten will gelernt sein. Nach bayerischem Recht mussten Zäune die Höhe der Brust eines erwachsenen Mannes haben, damit Vieh sie weder überspringen noch durchbrechen konnte. Das „Einfrie-

Abb. 7.10 Arbeit in Monatsbildern, Manuskript von Petrus de Crescentiis, Oberitalien, um 1470 Dieser Teil beruht auf den Studien von Dollinger, Epperlein, Fichtenau, Hartmann, Kohl, Rösener, Walter und Jerome Blum (Hg.), Die bäuerliche Welt. Geschichte und Kultur in sieben Jahrhunderten, München 1982 (engl. 1982). 80 Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 10, 45; White, Medieval Technology, 67; Johannes Koder, Die Byzantiner. Kultur und Alltag im Mittelalter, Wien 2016, 109. 79

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

den“ von Hof und Gärten verhinderte „vom Zaun gebrochenen“ Streit und regelte „Überlappungen“, zum Beispiel von Obst, das jenseits des Zaunes fiel. Vorräte waren mit „Schloss und Riegel“ zu sichern. Gemeinschaftlich errichteten die Bewohner*innen Häuser und Stallungen, Brunnen, Öfen zum Backen und Dörren, Räucherkamine und Fleischbänke sowie oft Badstube und in Weinbaugebieten Kelter. Deckvieh kontrollierten meist Pfarrer, damit sie wussten, wann sie für Jungvieh Zehnt einfordern konnten. Frauen schroteten in kräftezehrender Arbeit Getreide auf Stein, feines Mehl für HerrschaftsFamilien deren Gesinde. Mühlen lagen im Bann der Herren. Manche verboten häusliches Mahlen, um Banneinnahmen zu erhöhen. Hufe und Lebensunterhalt: Schreibkundige stellten die Verbindung von Land und Arbeit bis ins 9. Jahrhundert nicht dar. Ein Salzburger Mönch schrieb: „Der Juni bricht mit der gekrümmten Pflugschar die Erde auf […]. Da der Quintil die scharfe Sense auf der Schulter trägt, will er das grasreiche Wiesenland mähen. Der Sextil mäht mit gekrümmtem Stahl das Getreide, um mit ihm die Speicher zu füllen, und schneidet das Stroh.“ 81 Diese Vorstellung ähnelte dem märchenhaften „Schlaraffenland“, in dem Menschen, ohne zu arbeiten, satt werden: Diese herrschaftlichen Schreiber würden „abgefallene“ Mönche, Goliarden genannt, verhöhnen (s. Kap. 9.9). Die – an römischen Vorbildern orientierten – Monatspersonifikationen ersetzten Skriptor*innen seit den 830er Jahren durch Arbeitsvorgänge wie im Capitulare de villis aufgelistet: pflügen, ernten, holzhacken, schlachten als Nutzung oder Beherrschun1g der Natur. 82 Gemessen in Arbeitsleistung umfassten größere und kleinere Hufen Handarbeit von 16 bis 56 „Tagwerken“ oder „Jochen“, wobei ein Joch die Fläche bezeichnete, die ein Mann mit einem Joch Ochsen an einem Tag pflügen konnte. 83 Herren sollten die unfreien Bauleute mit Nebengebäuden, Zugtieren und Geräten, Garten und Nutzungsrechten an Wiesen, Wasserläufen und Wald ausstatten, so dass die Erträge für Hausgemeinschaft und Zwangsabgaben ausreichten. Doch reichten in Neubrüchen und

Randlagen die Erträge oft kaum zur Selbstversorgung. Arbeitsaufwand und Flächengröße variierten je nach ebenen oder unebenen Feldern, Tal- oder Hanglage, sandiger oder lehmiger Erde. Lagen Äcker zusammen oder verstreut? Musste Wasser herbeigetragen werden? War der Zugang zu Bauund Brennholz einfach? In Familienökonomien zählten nicht nur Pflüger-, sondern die gesamten Tagwerke, die Frau-Mann-Kinder und, wenn vorhanden, Knechte und Mägde leisteten. Haus-halt war Haus-tätigkeit, Beweglichkeit. Menschen produzierten pflanzliche und tierische Nahrungsmittel und in manchen Regionen Rohstoffe. Im Zweifelder-System verbanden sie Acker- und Viehwirtschaft. Da das jeweils brachliegende Feld als Weide diente, musste es sicher eingezäunt sein. 84 Die Dreifachbürde von Unfreiheit, Zwangsarbeit und -abgaben ließ manche laboratores am Sinn ihrer Arbeit zweifeln. Familien und Gesinde sowie junge Menschen bei Verlassen der elterlichen Haus- oder Hüttengemeinschaft mussten ihr tägliches Leben ohne Anreiz arrangieren und Zukunft planen. Wirtschaften entfernt von der unmittelbaren Kontrolle des Herren-Hofes ermöglichte Antworten auf eigene Interessenlagen, Verantwortung. Die Menschen erweiterten Überlebensstrategien zu bescheidenen Perspektiven. Sie verbesserten ihre Arbeitsgeräte, spezialisierten sich auf (Teilzeit-) Handwerke, verkauften Überschüsse auf lokalen Märkten. Sie waren initiativ. Ihre Strategien erschienen den Rentenbeziehern oft als subversiv, ihre Analyse, „als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann“, stellte das gesamte Denkgebäude der Eliten in Frage. Am Anfang des 13. Jahrhunderts schrieb der Vagant Freidank in Bescheidenheit „Swie die liute geschaffen sint/wir sind doch alle Adames Kint“. Auch die Logik des Rechtssystems durchschauten sie: „The law locks up the man or woman / Who steals the goose from off the common. / But leaves the greater villain loose / Who steals the common from the goose.“ 85 Kostenpflichtige und gebrochene Lebenszyklen: In weiten Teilen karolingischer Herrschaft, aber offenbar nicht in Süddeutschland, forderten Grund-

Jahreszeitengedicht, Carmina Salisburgensia. Carmen 5, ediert von Lukas Wolfinger, in: Wolfram, Quellen, 195–201. White, Medieval Technology, 56. 83 In der Regel eine Fläche von dreißig Joch, etwa 3400 m2. 84 Reinhard Wenskus, „‚Bauer‘ – Begriff und historische Wirklichkeit“, in: ders. u. a., Wort und Begriff „Bauer“, 11–28. 85 Sylvia Resnikow, „The Cultural History of a Democratic Proverb“, Journal of English and Germanic Philology 36.3 (1937), 391–405. Dollinger, Bauernstand, 206–208; Fichtenau, Lebensordnungen, 1:6; englischer Unrechtsreim, aufgezeichnet im 17. Jahrhundert. 81

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Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen

Beherrschende eine Geldabgabe bei lebenszyklischen Ereignissen wie dem Beginn einer Partnerschaft, Geburten und Tod. Besonders Frauen hatten bei Eingehen einer Partnerschaft ein „Geschenk“ zu entrichten. Waren Kinder bis zur Arbeitsfähigkeit großgezogen, verfügten die Besitzer über sie. Aus Zuneigung entstandene „Auswärtsehen“ waren in Bayern noch im 13. Jahrhundert verboten. Junge Menschen, die sich dieser biopouvoir entzogen und heimlich eine Partnerschaft eingingen, mussten Bußgeld zahlen oder nachträglich Zustimmung erkaufen. Äbte, die Ehen hätten schützen müssen, trennten Auswärtsehen, wenn diese ihren Interessen nicht entsprachen. Dies Primat des Besitzes über Emotionalität und Seele hatten Anwesende der Synode in Châlon-sur-Saône bereits 813 kritisiert und die Annullierung von Partnerschaft/Ehe verboten. Doch konsultierte ein Salzburger EB noch drei Jahrhunderte später den Papst in dieser Frage und Kirchenmänner begannen erst im 12. Jahrhundert das Verbot zu respektieren. Theologische Abhandlungen über die Seelen der Unfreien und ihre Gleichheit vor Gott fehlen. 86 Beim Tod Unfreier hatten Grundherren sich das „Recht“ dekretiert, einen Teil von deren Erarbeitetem einzuziehen, regional unterschiedlich die Hälfte (zum Beispiel in St. Emmeram) oder von beweglichem Besitz die gesamte Kleidung und vom Vieh die Hälfte (Westfalen) sowie, beim Tod Unverheirateter oder Verheirateter ohne Erben, den gesamten Besitz. Die Mönche des Klosters Weingarten (bei Ravensburg) nahmen sich beim Tod eines unmündigen Kindes alle Geschenke der Paten und Verwandten (urk. 1094). Die Betroffenen wehrten sich und erreichten in Teilen des mitteldialektdeutschen Raumes eine Verringerung auf das „Besthaupt“ vom Vieh und das beste Kleidungsstück des/der Verstorbenen. Da diese Regelung Herren etwas „zufallen“ ließ, entstand der bis in die Gegenwart übliche Begriff „Todesfall“. Die Abschöpfung sank im 12./13. Jahrhundert auf das zweitbeste Stück Vieh und ein Arbeitsgewand; von verarmten Familien mit nur einem einzigen Rind oder Schwein wurde die Abgabe nicht mehr erhoben.

Starb hingegen ein Mächtiger, mussten die Untertanen dem Nachfolger eine Huldigungs-ab-gabe entrichten oder einen Huldigungsdienst erweisen. 87 Geschlechter- und Generationenverhältnisse, Kindheit und Körperlichkeit: Die Hausgemeinschaften, die gemeinsam Abgaben und Frone nach außen leisteten, waren innen nicht gmain, sondern hierarchisch. Frauen unter-standen der „Munt“ von Vater oder Brüdern und wurden von der Gewalt des Vaters in die des Ehemannes übergeben. Munt wird oft als „Schutzverhältnis“ bezeichnet – vor wem hätten Frauen geschützt werden müssen? Doch in dem arbeitsteiligen Leben der Hufen wie in den Familienstrategien Mächtiger hatten Frauen Positionen oder Rollen inne, die sich nicht mit „Unterordnung“ fassen lassen und die vielleicht nicht alle Frauen als Unter-ordnung sahen. Partnerschaften über Besitzer-Grenzen und die Verweigerung elterlich arrangierter Heiraten belegen Handlungsmöglichkeiten und Emotionen. Literarische Autoren nahmen das Thema auf: Einige forderten die Kontrolle von Frauen und Gesinde durch den Hausherrn, andere hoben die Bedeutung von Frauenarbeit hervor. 88 Sexuelle Partnerschaft, die viele Menschen, anders als Kirchenväter, wohl nicht als Erbsünde sahen, bedeutete oft Kinder. Arbeitskraft-orientierte Autoren machten sich Gedanken, ob Frauen und auch Männer funds of knowledge zur Geburtenverhütung nutzten. Manche Kleriker verurteilten Verhütung und Abtreibung als Mord oder jedenfalls als strafbar, andere waren sich der Sinnhaftigkeit sozialer Indikation bewusst: Wenn weitere Kinder nicht ernährt werden könnten, seien Verhütungspraktiken oder Abtreibung verständlich. Studien zeigen, dass wohlhabende Familien, in denen Mütter ihre Säuglinge an Ammen abgaben, angesichts kürzerer Geburtsintervalle im Vergleich zu ärmeren die doppelte bis dreifache Zahl von Kindern großzogen oder großziehen ließen. Nur wenige kirchliche Autoren, die ohnehin auf männliche Kinder fokussierten, nahmen die Zeit der Schwangerschaft wahr. Immerhin notierte Konrad von Megenberg in seinem Hausbuch Yconomica, 1352, dass er „mit Be-

Schon 334 u. Z. hatte Kaiser Konstantin in einem Sardinien betreffenden Dekret das Auseinanderreißen von Sklavenfamilien verboten: „Wer würde tolerieren, dass Kinder von den Eltern, Brüder von Schwestern, Ehegatten voneinander getrennt würden“ (Codex Theodosianus, 2.25.1, übers. aus dem Engl. D. H.), zitiert in: Knapp, Invisible Romans, 163. 87 Hans-Werner Goetz, Europa im frühen Mittelalter 500–1050, Stuttgart 2003, 176–183; Epperlein, Bäuerliches Leben, 77; Dollinger, Bauernstand, 229– 235. 88 Walter, Ehe – Familie – Arbeit, setzt sich intensiv mit diesen Fragen auseinander; Epperlein, Bäuerliches Leben, 223–225. 86

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

wunderung festgestellt [habe], dass viele arme Frauen in schwangerem Zustand schwerste Arbeit verrichten“ und es doch nicht zu Fehlgeburten käme. 89 Kinder waren Teil von Emotionen, Subjekte elterlicher Liebe und Vorsorge. Philippe Ariès’ zeitweise einflussreiche These, dass Kindheit erst im 17./18. Jahrhundert „entdeckt“ worden sei, war falsch. Eltern suchten für-sorglich mit kranken Säuglingen oder Kindern Kapellen, Marienbilder und Reliquien auf und flehten um Heilung. Um ein gestorbenes Kind trauerten Väter wie Mütter. Fürsorge war meist Aufgabe der Mütter und bei frühem Tod einer Mutter war für den Vater schnelle Wiederheirat geboten, denn in der Restfamilie stieg die Kindersterblichkeit rapide. Sie stieg, wie es scheint, nicht bei Ableben eines Vaters. 90 Kinder spielten, wie erhaltene Spielzeuge, bildliche Darstellungen und Texte zeigen. Ein Dorfplatz wäre also nicht nur mit Kirche zu imaginieren, sondern auch mit Kindergeschrei und herumliegenden Spielsachen. Mit Vollendung des siebten Lebensjahres galten Kinder als arbeitsfähig und bei Waisen endete die Unterhaltspflicht. Ihre Arbeit in gynaeceae und Hof oder als (Klein-) Mägde in Haushalten wirft die Frage nach Emotionen bei dem unfreiwilligen Übergang von Eltern- zu Arbeitshaus auf. Alle übernahmen Aufgaben und lernten dabei. Jede zusätzliche Leistung war ein Schritt in die Wirtschaftsgemeinschaft, konnte aber sehr harte, in Bergwerken auch körperlich verformende Tätigkeit bedeuten. „Hütejunge“ und „Gänseliesel“, in bürgerlich-romantisierender Literatur des 19. Jahrhunderts verklärt, mussten auf ihre Tiere genau aufpassen, bei Fehlverhalten folgte Strafe. 91 Kinder lernten körperbezogen mit Augen, Ohren, Nase, Mund und Händen: sehen, hören, riechen, schmecken, tasten. Ging es den Eltern schlecht, wurden sie „in Mitleidenschaft“ gezogen. Der Rahmen, in dem Eltern ihren Kindern Fähigkeiten – jedoch kaum Besitz – tradieren konnten, stieg erst unter neuen Optionen für Eigeninitiative im 11. Jahrhundert. Heranwachsende, die nicht als Arbeitskraft be-

Abb. 7.11 Ein Bauer betrauert sein totes Kind, ~1140, Kapitell, Abtei Vezelay (Burgund)

nötigt wurden, konnten auf (Teil-) Hufen oft nicht ernährt und Verwandte – Tanten, eine Großmutter, durch Arbeitsunfall oder Krankheit Invalide – nicht „durchgefüttert“ werden. Manche Grundherren erzwangen Geschlechtsgemeinschaft: Der Propst des Klosters Weitenau (Oberrhein) sollte nach einer Regelung von 1344 die Ehe für jeden „Gotteshausmann“ im Alter von 18 bis 20 Jahren und für jedes „Gotteshausweib“ ab 14 Jahren anordnen. Der Propst konnten Frauen verbieten, Nonne oder Begine zu werden; er sollte bei Witwen oder Witwern Wiederheirat anordnen, „außer wenn sie sich mit dem Propst nach seinem Willen einigen.“ 92 Zu der systemischen Gewalt kam Strafgewalt hinzu. Wer Anweisungen nicht Genüge tat, wurde an „Haut und Haaren“ bestraft. Das galt auch für Vögte, die geforderte Nahrungsmittel nicht lieferten. Schmerz prägt sich dem Gedächtnis ein – in Bayern wurden deshalb Zeugen bei Rechtsgeschäf-

Klaus Arnold, Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance, Paderborn 1980, 54–58, beruhend auf den Forschungen von Christiane Klapisch und David Herlihy u. a., Zitat 135–136; Matthias Winter, Kindheit und Jugend im Mittelalter, Freiburg 1984. 90 Philippe Ariès, L’Enfant et la vie familiale sous l’Ancien Régime, Paris 1960, 21973. Die Titel der englischen (1962) und späten deutschen (1975) Übersetzung generalisierten zur „Geschichte der Kindheit“ und Pädagogen und Sozialhistoriker übernahmen die These. Schwedische Forschungen zum 18. und 19. Jahrhundert weisen auf die unterschiedlichen Raten von Kindersterblichkeit hin. 91 In dem Märchen „Tischlein deck dich“ verstößt der Vater die Söhne, weil diese die Ziege angeblich falsch behandelt hätten. 92 Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/M. 1973, 352; Epperlein, Bäuerliches Leben, 208. 89

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ten heftig am Ohr gezogen. Autoren, die über das Hauswesen Gehobener schrieben, debattierten, in welchem Ausmaß Kinder mit der Rute gestraft werden sollten. In land- und hand-werkenden Familien waren Körperstrafen ohne Debatte üblich. 93 Wegen kleiner Vergehen verurteilte Frauen mussten einen schweren „Schandstein“ durch den Ort tragen. Vergewaltigung wurde geahndet, doch war sexuelle Gewalt gegen Frauen Teil des „Fehdewesens“ der Oberschichten. Wieder stellt sich die Frage, ob Lebenshörige als Unter-Menschen galten? In früheren Rechtszusammenhängen war Vergewaltigung mit Tod bestraft worden. Entfernen aus dem alltäglichen Normenrahmen galt als gefährlicher Schritt in einen Sozialraum mit (vermuteten) anderen Normen. Nahe Wirtshäuser erschienen vielen Autoren als Orte sexueller Freizügigkeit; in der Ferne notierte ein kirchlicher Beobachter verärgert, dass kreuzziehende christliche Männer sich nicht nur an Frauen, sondern auch an junge Männer heranmachten. Körperverletzung im Rahmen täglicher Arbeit hingegen wurde nicht als Gewalt gefasst. Doch verformte das tägliche Drehen schwerer steinerner Handmühlen Frauenkörper und schwere Transporte von Mist oder Steinquadern Männerkörper. Bei Erdarbeiten für Großbauten wie Burgen und Kathedralen mussten beide Geschlechter Schwerstarbeit leisten, für Historiker*innen messbar durch Berechnung der Kubikmeter Schüttmaterial für den Unterbau einer Burg. Im frühen Mittelalter waren Frauen durchschnittlich 160 cm groß, Männer 168 cm; die Lebenserwartung lag zwischen 25 und 32 Jahren bzw. für diejenigen, die die Kindheit überlebten, bei 44 bis 47 Jahren. 94 Körper erforderten Hygiene und waren anfällig für Krankheiten. Behandlung von Zahnschmerzen war Thema vieler bildlicher Darstellungen. Alle zeigten männliche Patienten. Pflegten Frauen ihr Zähne besser? Reinlichkeitspraktiken waren bekannt, zum Beispiel das Ausspülen des Mundes mit Essig oder Kauen weichen Holzes. Bader nahmen ärztliche Aufgaben wahr, erfahrene Frauen halfen als Heb-Ammen und Kräuterspezialistinnen bei Geburten und Krankheiten. Körper-

Abb. 7.12 Kinderpflege und Spiel, 1429, Miniaturen aus Heinrich Louffenberg, Regimina sanitatis (Gesundheitsregime)

liche Schwächung beruhte vielfach auf Nahrungsdefiziten oder Mangelernährung, Krankheiten auf arbeitsbedingten Verletzungen, Gelenkabnutzung auf tätigkeitsbedingten degenerativen Prozessen. Ärzte konnten sich nur Reiche leisten, Ärmere hofften auf Heilungswunder durch Anrufen der magischen Kräfte christlicher Heiliger. 95 Nahrung: Die Menschen ernährten sich neben Feldfrüchten und Sammelpflanzen wie Beeren und Nüssen durch Gartenbau und (Klein-) Tierzucht. Beides und die Besorgung aufgestallten Viehs oblag überwiegend Frauen. Zeitaufwändige Jagd und Fischfang vermieden sie, Kleinwild fingen sie ohne

Arnold, Kind und Gesellschaft, 98–186. Goetz, Europa, 162–163. 95 Ein Arzneibuch, Defensio artis medicinae, verfasste ein Mönch im Kloster Lorsch (Anf. 9. Jahrhundert); die Synodalen in Clermont verboten 1095 Klerikern das Studium der Medizin; 1215 beendete das 4. Laterankonzil jegliche Klostermedizin. Kay P. Jankrift, „Arbeit zwischen Handwerk und Kunst: Selbst- und Fremdwahrnehmung ärztlicher Tätigkeit“, in: Postel, Arbeit im Mittelalter, 203–209. 93

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.13 Bettler*innen vor einer Kirche, Petrarca-Meister (Holzschnitt, 1532)

Zeitaufwand in Schlingen und Netzen. Obstbau, Mobilen nicht möglich, war sesshaften ländlichen Menschen bekannt, doch Topos von offiziellen Erzählungen wurde nur die winzige Zahl der Klostergärtner und -gärtnerinnen. Fleisch – und zum Teil Zugkraft – sowie Eier, Honig und Wolle lieferten Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen, Hunde, Geflügel, Bienen. Den Landbauleuten blieb nach den Abgaben nur das „Notwendige“. Dessen Menge war höchst empfindlich gegen Naturereignisse, sie alle mussten aus Not wendig sein. 96 Langfristige Vorratshaltung konnten Hausgemeinschaften nicht betreiben und Mönchs- und Nonnengemeinschaften sorgten oft nur für den eigenen Bedarf vor. Auf klimatisch und kriegerisch bedingte Missernten folgten Teuerungs- (caristia) und Hungerkrisen (fames, mortalitas). Fast Jede*r erlebte – überlebte – einmal im Leben eine Hungersnot: In Bayern gab es derer vier im 9., keine im 10., vier im 11., sieben im 12. und fünfzehn im 13. Jahrhundert sowie fünf weitere in den wenigen Jahren von 1310 bis 1317. Viele trafen nur die Menschen einer Region. Großräumlich war das Desaster 820/21, ein kaltes und nasses Jahr, Flüsse und Ströme traten über die Ufer, Wintergetreide konnte nicht gesät werden, die Donau fror zu; 1082 ein weiträumiger Krieg zwischen einem Markgrafen

und einem Herzog, der eine als österreichisch, der andere als böhmisch etikettiert; kalte Jahre vor 1145; Überschwemmungen im Frühjahr 1234. In den Bergen konnte ein Starkregen Bäche so anschwellen lassen, dass sie Felder mit Schwemmschutt überlagerten und Siedlungen zerstörten. Zehrten Hungernde Saatgetreide auf, konnten die Überlebenden Äcker nicht bebauen. Die Menschen aßen Kräuter, Pflanzenwurzeln, Baumrinde und, in Verzweiflung, durch „Mutterkorn“ verdorbenes Getreide, das „Antoniusfeuer“ hervorrief, schwere Durchblutungsstörungen und das Absterben ganzer Gliedmaßen. Zeitgenössische Bildlichkeit zeigte selten Verarmte, aber häufig Krüppel ohne Arme und Beine in Lumpen. Auf Mangelernährung folgte Schwächung und in den Folgejahren hohe Sterblichkeit, besonders von schwangeren Frauen und Kindern. 97 Wohlhabende reisten in Mangelzeiten vielfach zu Besitzungen in besser versorgten Regionen; einfache Menschen flohen zu Klöstern oder in Städte, in denen sie Vorräte vermuteten. Manche Äbte und Äbtissinnen zeigten keinerlei Barmherzigkeit, andere wucherten mit ihren Vorräten, wieder andere verteilten Vorräte, bis die Gemeinschaft selbst nichts mehr zu essen hatte, oder versuchten, Getreide heranschaffen zu lassen. Tod und Flucht vor

Herbert Jankuhn, „Archäologische Beobachtungen zur bäuerlichen Lebens- und Wirtschaftsweise im 1. nachchristlichen Jahrtausend“, in: Wenskus u. a., Wort und Begriff „Bauer“, 29–45. 97 Curschmann, Hungersnöte, 3, 18–24; Epperlein, Bäuerliches Leben, 20–30. 96

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Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen

Hungertod ließen communities schmelzen. Manche Zurückbleibende wanderten ebenfalls ab, andere eigneten sich verlassenes Land an. Salzburg-Stadt traf unter anderen die Hungersnot von 1259; 1281 mussten Bessergestellte sich mit Hafer- oder Schwarzbrot begnügen, Arme sich von Wurzeln und Kräutern ernähren. Als während der Bayernweiten Not 1235 der österreichische Hz auf Anraten seiner Wirtschaftsfachleute Getreideexporte verbot, ließ der amtierende EB Getreide aus Schwaben und Wein aus Italien und Frankreich heranführen. Handelsnetzwerke und kaufmännischer Informationsfluss funktionierten. Auch Zuschreibungen funktionierten: Einige der herzoglichen Berater waren „Juden“. 98 Selbst in normalen Jahren waren die Erträge aus Getreideanbau und Viehwirtschaft gering. Bei Dinkel als Brotgetreide, Gerste, Hafer, Weizen und – seltener angebaut – Roggen und Hirse betrug das Verhältnis von Saat- zu geernteten Körnern meist 1:3, maximal 1:6; Rinder waren klein, Schweine schmal, Ziegen und Schafe lieferten Milch und Käse. „Bauernspeise“ bestand aus grobem Brot und Käse; aus Brei von Hülsenfrüchten (Feldbohnen, Erbsen, Linsen) oder Gerste, Hafer, Hirse und Kleie; aus Rüben, Kraut, Zwiebeln, Knoblauch sowie gelegentlich aus fettliefernden Pflanzen (Lein, Leindotter). Fronende Hufenleute eines Herrenhofes in Bruck an der Mur erhielten am Morgen und Abend Brot und einen Viertelkäse, mittags Hirsebrei und Kraut mit einem Stück Fleisch. Ländliche Menschen aßen Fleisch, meist vom Schwein aus Eigenversorgung, nur an Feiertagen, die zahlreichen Fastentage verringerten den Verbrauch. 99 Im Winter war Speck überlebenswichtig, entsprechend hoch war die Wertschätzung von Schweinehirten. Zu Getränken – Filteranlagen für Trinkwasser gab es nicht – zählte gelegentlich billiger Wein aus Regensburger Anbau und, seit dem 12. Jahrhundert, Bier. Frauen brauten es aus minderwertigem, zum Backen nicht geeignetem Getreide und angesichts niedrigen Alkoholgehalts und Keimfreiheit galt es als flüssige Nahrung. Ständedi-

daktische Autoren, die um „Herrenspeise“ aus Wild und Fasan, Rinderbraten, Weißbrot und teuren Delikatessen wussten, gönnten ländlichen Menschen nichts: Reichhaltiges Essen auf Bauerntischen sei „dem Lande ein Hagelschlag“ befand der Autor von „Seifried Helbling“ (zwischen 1290 und 1300), unstandesgemäßes Essen mache sie krank. 100 Die Reichen wussten um die Unterschiede: „Ein Bauer zehrt mit einem Kreuzer soweit wie ein Herr mit einem Dukaten“, hieß es sprichwörtlich und durchaus analytisch. 101 Menschen, die mehrere zu nasse oder zu trockene Jahre über sich ergehen lassen mussten, wurden mutlos. Mangelernährung schwächte nicht nur physiologisch, sondern Proteinmangel machte auch antriebslos. Die Arbeitsleistung sank und, in Folge, die Nahrungsmenge. Die von Oberschichten ihren Untertanen oft vorgeworfene „Faulheit“ konnte Folge der miserablen Ernährung sein, die sie ihnen zugestanden. Die Menschen, die sich ihre Löffel selbst schnitzten, sahen die Verbindung von Nahrung und Leben, ihre Umschreibung für „Tod“ war, „den Löffel abgeben“. Kleidung stellten Frauen aus groben, ungefärbten Wollstoffen und Loden her: Umhang mit Kapuze, Hemd, heller Rock, Hose, Beinkleidung mit Bändern geschnürt, einfache Schuhe, Unterkleidung aus Leinen, Hanf oder Nessel. Obrigkeitliche Kleiderordnungen, die Grau- und Naturtöne vorgaben, entstanden aus überzogenem Regelungsbedürfnis, denn die Farben entsprachen ohnehin der Funktionalität. Blau war die billigste Stofffarbe und blauer Loden galt denen, die es sich leisten konnten, als Besonderes für Feiertage. Verglichen ländliche Männer und Frauen ihre Kleidung mit der von Klerikern? Mönchskleidung, auch Reithosen, nähten Frauen in Kloster-gynaeceae und später in Handwerkssiedlungen; Hufenfrauen hatten an manche Klosterkämmerer Kleiderzinse abzuliefern. Mit der Marktorientierung stiegt die Bedeutung von Weben und Nähen: Stoffe und Kleidung verdarben nicht, konnten auf Vorrat produziert und zu passender Zeit verkauft werden. Heimhandwerk

Karl d. G. erließ mehrfach „außerordentlichen“ Rechtsschutz für Notleidende und versuchte Preise festzulegen. Curschmann, Hungersnöte, 44 passim. 99 Manche Städte beschafften sich Freibriefe, die Bewohner*innen von Teilen des Fastengebotes befreiten. 100 Der Autor war vermutlich ein Landadliger aus der Gegend um Zwettl, geb. vor 1240. Eva Rummer, „Helbling, Seifried“, in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), 460 f., Online https://www.deutsche-biographie.de/pnd101240805.html#ndbcontent (Jan. 2020). 101 Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 115–118; Epperlein, Bäuerliches Leben, 205–207; Karl-Heinz Spieß, Food and Drink at German Courts in the Late Middle Ages, unveröff. Vortrag, Juni 2012. 98

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war ein zentrales Element der Haus-, Kloster- und Herrenwirtschaften. Als Behausungen errichteten ländliche Menschen sich oft eingetiefte Grubenhütten, denn Erde kühlte im Sommer und verringerte Kälte im Winter. Die Konstruktion bestand aus vier Eck- und zwei Firstpfosten, darauf ein Firstbaum, schräg nach unten überkragende Balken für das Dach aus Stroh, Wände aus Reisig und Lehm. Dies Basismodell verbesserten sie zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert zu Ständerhäusern mit Steinfundament zum Schutz vor Feuchtigkeit. Die Fähigkeit, Stroh regendicht zu verlegen, entwickelten sie früh, eine Abzugstechnik für Rauch erst spät. Notwendig waren jedem speziellen Winkel angepasste Verzapfungen der Balken, Holznägel in großer Zahl und die Bohrung passender Löcher. Die Konstruktion durfte bei Wind nicht ächzen und knarren, musste Stürmen widerstehen und doch leicht zerlegbar sein, denn noch im 13. Jahrhundert galt die Behausung als Fahrhabe. Hufen-Zinsleute mussten bei freiwilligem oder erzwungenem Abzug dem Herrn Haus, Zaun und Mist zum Kauf anbieten. Löste dieser sie nicht, konnten sie alles mitnehmen. Hütten und Häuser bestanden oft nur aus einem Hausarbeits-Wohn-Raum mit Feuerstelle sowie Schlafkammer. In die Dachsparren hängten die Bewohner*innen Räuchergut zur Konservierung und Geschmacksverbesserung und trockneten auf Zwischendecken Erntegut nach. Über dem Feuer hing auf einer verstellbaren, „Feuersäge“ genannten Zahnstange der metallene Kessel. Wollten sie Essen schneller erhitzen, mussten sie „einen Zahn zulegen“. Ihr einziger Kessel war wertvoller Besitz und wurde, wenn nötig, repariert. Eine scheinbar kleine Veränderung, die Ummauerung des Feuerraums zu einem Ofen, veränderte Lebenspraktiken geschlechtsspezifisch, denn der Ofen wurde Raumteiler: Wärme zum Wohnraum, Herd im nun abgetrennten Koch- und Arbeitsraum. Der Wohnraum war rauchfrei und wurde nach oben mit einer Decke abgeschlossen. Über Generationen entstanden regional spezifische Haustypen, naturräumlich sinnvoll, alltagspraktisch funktional, der Wirtschaftsweise und Betriebsgröße angemessen. Einhöfe vereinten alle Funktionen unter einem Dach, im Paarhof waren Wohnhof mit Herdfeuer und Futterhof als Stallung und Stadel getrennt. An Hügeln und Berghängen errichteten Familien zweigeschossige, kombinierte 246

Abb. 7.14 Holz- und Hausbau-Techniken ländlicher Menschen (schematische Darstellung)

Wohn- und Speicherhäuser mit, vorn, ebenerdigem Stall und darüberliegender, nach hinten ebenerdiger Scheune mit Zufahrt. Im Innviertel erbauten sie größere Vierseithöfe, in deren Dachgeschoss sich die nicht beheizten Vorratsräume und Schlafkammern befanden. Die Toilette, an einer Seitenwand, kragte hinaus – Fallhöhe statt Wasserspülung. Truhen der Hausbesitzer enthielten die Wäsche, die der Knechte und Mägde den gesamten Besitz. Dielen wurden mit Reibsand aus Bächen und Flüssen gescheuert oder mit Quarzsand aus Gruben. Alte, sogenannte Austragleute, die Jungen den Hof überlassen hatten, erhielten eine eigene Stube oder, in manchen Gegenden, ein separates Häuschen. Ein Balkon an der Stirnseite bot Raum zum Arbeiten und Trocknen, eine Machlkammer Raum für die Reparatur von Geräten. Getrennt standen vielfach Getreidespeicher oder Stadel, Backöfen und Brunnen. Diese gut durchdachten

Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen

Anlagen wurden bis ins 20. Jahrhundert verwendet. 102 Arbeitsabläufe und Geräte: Differenziertes Wirtschaften erforderte umfassende Kenntnisse und eingeübte Zusammenarbeit. Männer-Tagwerk wurde oft nur mit einer einzigen Tätigkeit, der des Pflügens, dargestellt. Frauen bereiteten in der gleichen Zeit Essen zu, molken Ziegen oder Kühe, fütterten Hühner, machten Butter und Käse, buken Brot und brauten vielleicht Bier. Über das Jahr gesehen waren die Arbeiten beider Geschlechter ähnlich vielseitig. War Gesinde vorhanden, erforderte die Arbeitsteilung Kenntnisse nur für den jeweils eigenen Bereich. Qualifizierte Dienste von Hirten, Milchmägden, Handwerker*innen, Winzer*innen hatten ein je eigenes Berufsprofil und -stolz. Milchmägde (mit Untermägden) waren für Milch, Sahne, Butter und Käse verantwortlich, Bottichmacher stellten ihnen passgenaue Gefäße her. Den Milchfrauen oblag die Mengenabrechnung. Städter würden diese Leistung später als „Milchmädchen-Rechnung“ abtun. 103 Gute, das heißt ergonomisch durchdachte Geräte verhinderten Knochenverformung und Gelenkabnutzung. Gemäß Krafteinsatz und Bewegungsablauf musste der Stiel einer Heugabel anders geformt sein als der einer Mistgabel. „Natürliche“ Heugabeln bestanden aus einem Ast von Stielstärke, der sich naturwüchsig in drei Äste-Zinken aufteilte; für „kunstfertige“ wurde eine Stange am Ende dreifach oder gar fünffach gespalten, durch einen Metallring an weiterer Spaltung gehindert und mit Keilen gespreizt. Die Keile durften sich bei der Arbeit nicht lockern, sonst verlor das Gerät seine Funktionsfähigkeit. Geräte stellten Hausgemeinschaften selbst her, nur für komplexere verließen sie sich auf dörfliche Werkzeugmacher. Hätten diese schlechte Arbeit geliefert, wäre ihr Ansehen gesunken; Hof- oder Klosterhandwerker wären bestraft worden. Die Landwirtschaftenden benötigten Spaten, Grasharke, Heurechen, Laubrechen, Sicheln, Scheren, Schnitz-

Abb. 7.15 Mann mit Sense und Wetzstein im Wasserbehälter, 10. Jh., und Sensentechnik: aufgekanteter Klinkenrücken, Befestigung des Blattes am Stiel (Nachzeichnung)

und Baummesser, Beile und Sägen, Hobel und Bohrer und, zur Lagerung des Erntegutes, Holzschwingen, Körbe, Bottiche und Fässer. Schaufeln mussten den Bodenverhältnissen angepasst sein: Flusssand und steindurchsetzte Hänge erforderten unterschiedliche Blattformen. Eisen-randbeschlagene Holzspaten fehlten bis ins 13. Jahrhundert, da die Monopolisierung von Eisen für Schwerter und Rüstungen die Herstellung angemessener Arbeitsgeräte verhinderte. Ebenso wichtig war das Verständnis natürlicher Vorgänge. Feucht eingelagertes Heu würde nicht nur faulen, sondern durch Fäulnishitze Brände auslösen. Gemüse oder Obst mussten luftig und winterfest gelagert werden. Bei allem behielten die Menschen den Himmel im Blick – Regen konnte Ernten verzögern, Hagelschlag Hungern im Winter bedeuten. Die Himmelsbeobachtung ländlicher Menschen konnte unverzüglichen Erntebeginn nahelegen, das Himmelsgebot der Kirchenmänner am Sonntag Gottes-dienst Vorrang gebieten.

Regelungen zum Hausbau enthielt schon die Lex Baiuvariorum Tit. X–XII (6.–8. Jahrhundert). In „ideologisch bedingter Germanophilie“ (Friedrich Prinz, MSGL 115 (1974), 20) schrieben Volkskundler im 19. Jahrhundert ländlichen Wohnbauten „stammestypische“ oder „völkische“ Formen zu. Einen fundierten Einblick bieten Veröffentlichungen des Salzburger Freilichtmuseums; Franz V. Zillner, „Der Hausbau im Salzburgischen. Ein geschichtlicher Umriß“, MGSL 33 (1893), 145–163; Viktor H. Pöttler, Bäuerliche Fahrzeuge und Arbeitsgeräte, Stübing 1997; ders., Österreichisches Freilichtmuseum – Kurzführer, Stübing 1998; Dopsch mit Mitterauer, „Hochmittelalter“, 1.1:351–352. 103 Dieser Teil beruht weitgehend auf Bentzien, Bauernarbeit; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 62–88; Epperlein, Bäuerliches Leben, 38–143; Werner Rösener, Bauern im Mittelalter, München 1985, 54–95. 102

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Abb. 7.16 Heu- und Kornernte, Juli und August: Detail aus einem von Berufswirkerinnen hergestellten Wirkteppich „Arbeiten im Monatslauf“, Elsass, 1440–1460 (wollene Schussfäden auf leinenen Kettfäden)

Dass Jahreszeiten früh oder spät begannen, zu nass oder zu trocken waren, konnten die Menschen nicht beeinflussen, aber sie mussten re-agieren. Sie bereiteten den Boden durch Pflügen und Eggen vor. Hakenpflüge, wie in der „Salzburger Enzyklopädie“ dargestellt, erforderten eine zweifache, kreuzweise Lockerung des Bodens; Scharpflüge nur einen Arbeitsgang. Auf Ebnung und Lockerung der Bodenkrume mit einer Egge aus Ästen oder Metall folgte gleichmäßige händische Aussaat. Das Reifen von Körner- und Fruchtpflanzen erforderte deren Schutz vor Vögeln, denn die Nahrungskonkurrenz war groß. Die Ernte begann mit der Grasmahd im Mai. Sensen mit Schneide, Baum und Griffen ermöglichten ein „Mähen mit dem Körper“ in aufrechter Haltung. Allein die Befestigung des Sensenblattes an dem langen Stil war Kunst-Werk. Das Blatt musste beim Schnitt regelmäßig mit dem nass gehaltenen Wetzstein nachgeschliffen werden. 104 Diese im 12./13. Jahrhundert entwickelte Form ist bis in die Gegenwart gebräuchlich. Vor dem ersten Schnitt mussten erwünschte Blütenpflanzen sich aussamen können; beim Schnitt unerwünschte Disteln so knapp über dem Boden gekappt werden, dass ihr Nachwachsen behindert wurde. Frauen

breiteten das geschnittene Gras zur Trocknung aus und wendeten es. Vor feuchter Abendluft musste es eingefahren oder, an steilen Berghängen, getragen werden. Getreide schnitten Frauen mit Sicheln, bei Sensenschnitt wäre der Verlust an Körnern zu hoch gewesen. Es musste leicht zu Garben zu binden sein und die geplante Weiterverwendung der Halme bestimmte die Schnitthöhe: hoch am Halm, wenn der untere Teil dem anschließend aufgetriebenen Vieh als Futter dienen sollte, lange Halme für Bedachungen oder Streu im Stall, kürzere zum Flechten von Strohhüten, Körben und Matten. Jede dieser Tätigkeiten erforderte passende Geräte und eine Bedarfsanalyse. Kleriker hingegen ideologisierten: Jungfrauen ernteten hundertfach, Witwen sechzigfach, Ehefrauen dreißigfach. Auch Fruchtbarkeit will gelernt sein. Zum Transport der Ernte entwickelten die Acker-Handwerker zwischen dem 9. und 14. Jahrhundert ein Allround-Gefährt nach – modern anmutendem – Baukastenprinzip: Vorderachse mit Drehschemel und separate Hinterachse, jeweils mit Speichenrädern. Beide Teile verbanden sie mit einem genormten Langbaum, so dass die hintere

Im römischen Gallien hatten Landwirtschaftende bereits eine Mähmaschine entwickelt. Brent D. Shaw, Bringing in the Sheaves. Economy and Metaphor in the Roman World, Toronto 2013, 107–120.

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Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen

Achse gemäß dem jeweiligen Ladegut leicht zu verschieben war. Zwei waagerechte Kanthölzer parallel zur Achse dienten der Auflage des Lastteils: Kästen für Getreidetransport und andere für Mist, Leitern zwischen Rungen für Heu und Stroh – daher der Name Leiterwagen. Dafür arbeiteten Radmacher, Stellmacher, Seiler und Sattler Hand in Hand. Die Entwicklung von ergonomisch sinnvollen Anspannvorrichtungen und Geschirren für Zugtiere erforderte von der Spätantike bis zum 14. Jahrhundert langes Ausprobieren. Im Winter arbeiteten die Menschen unter Dach und, da sie sich des Essens nie sicher waren, diversifizierten sie ihre Einkommensquellen: Sie schnitzten Löffel, Küchengeräte und anderes, stellten hölzerne Reifen für Bottiche her, hauten Schindeln und schnitten Kienspäne – Rohmaterial hatten sie im Gemeinwald gesucht. Sie fütterten Vieh mit gesammelten Eicheln, Bucheckern, Körnern und mit Heu und Kleie, reinigten Ställe und trugen Spreu heran, schafften Mist auf die Felder. Sie schliffen Pflugschare und brandmarkten Vieh, schlugen Tröge aus Baumstämmen und schnitten Pfähle, stellten Schaufeln und Hocker her. Sie filzten Ziegenhaare und flochten Körbe aus Ruten, bauten Vogel- und Mäusefallen, dörrten und belüfteten Früchte. Außer Haus besserten sie Zäune aus und hackten Holz. Zur leichteren Trocknung, besseren Verarbeitung und wegen der geringeren Gefahr von Verformungen schlugen sie Holz im Herbst, da in den Bäumen kein Saft war. Eine romantisierende, männliche Interpretation dieser Einheit von Arbeit und Wohnen sah darin das „ganze Haus“ unter der Autorität eines „Hausvaters“. 105 Erinnerung an die Vielfalt von Haus- und Hofarbeit verdrängten zwei visuell gut darzustellende und in Volkstumsideologie leicht zu überhöhende gemeinschaftliche Tätigkeiten, Dreschen und Flachsbrechen. Für ersteres diente der zweiteilige Dreschflegel, Stiel und Schlegel, durch einen Eisenring verbunden. Dies galt als Männerarbeit, das Trennen der Körner von Spreu als Frauenarbeit. Da der Schlag grob niedersauste, gilt alltagssprachlich noch heute ein Grobian als Flegel; auch „jemanden verdreschen“ und „die Spreu vom Weizen trennen“ sind Sprachbilder geworden. Korn musste trocken und für Mäuse und andere Interessenten

Abb. 7.17 Langwagen mit längenverstellbarem Unterund austauschbarem Oberwagen: Aufbauschema, Vorderachse mit Drehschemel, Radtypen mit und ohne Sturz

unzugänglich gelagert werden. Auch hier war die Nahrungskonkurrenz groß. Zur Abwehr dieser Art von Raub-tieren erfanden sich die Menschen Fallen. Da schlecht ernährtes Gesinde oder hungrige Nachbarn ebenfalls Interesse zeigten, waren Getreidekisten mit Schloss versehen und die Schlüsselgewalt – wie bei Petrus fürs Paradies – war wichtiger Teil hausfraulichen Wirtschaftens. Verluste wurden akribisch vermieden: Wenn ein Saatkorn sechs Körner in der Ähre erbrachte und eins durch unvorsichtiges Sicheln, eins durch Krähen oder Mäuse verloren ging und eins für die nächste Aussaat zurückgelegt werden musste, war die Nahrung auf die Hälfte gesunken. Flachsbrechen, seit Jahrhunderten praktiziert (s. Kap. 3.4), idealisierten Historiker und Maler als „bodenständig“; die Pflanze hatten einst Migrant*innen aus dem östlichen Mittelmeerraum bis ins Alpenvorland und nach Nordeuropa gebracht. Bei diesen Arbeiten, besonders dem Hecheln, konnte man gut reden und so wird noch heute ein Thema

Institut für österreichische Geschichtsforschung, Wien, bes. Otto Brunner (1898–1982), in den dreißiger Jahren nationalsozialistisch argumentierend, später Professor an der Universität Hamburg. Land und Herrschaft, Wien 1939 (Neuaufl. 1942, 1943).

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.18 „Feiertagschristus“ als Schmerzensmann, Fresko, 1465, an der Kirche von Saak in Kärnten, geweiht den Geschwistern Cantius, Cantianus und Cantianilla, gest. zw. 290 und 304 in Aquileia (285 � 165 cm, das linke Drittel bei einem Umbau 1740 zerstört)

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Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen

Abb. 7.19 Dörfliche Handwerker um 1500: Bootsbau, Mühle, Backofen, Zaunflechten, Schmiede u. a., Straßburger Vergil, mit 136 Holzschnitten, 1502

„durchgehechelt“. Erst im 19. Jahrhundert wurde Flachs in erneutem großräumlichen Austausch durch Baumwolle aus Südasien weitgehend abgelöst. Erinnerungsbildner betonten den Jahresrhythmus mit Aussaat und Ernte als Arbeitsspitzen. Doch machten die Vielfalt und Substituierbarkeit der Tätigkeiten Arbeit zum kontinuierlichen Pro← Arbeiten am unteren Bildrand (von links): Mann mit Geldbörse und Saumpferd mit Weinlagel beim Aufstieg, darunter Reste von Rinder- oder Ochsenköpfen; naturfarben gekleideter Mann mit Sähschürze; eine Egge ziehender barfüßiger Mann. Geräte (von links oben): Schere für Schafschur, Fischkescher, unbestimmt, silberne Kanne, unbestimmt, Mistgabel, Schaufel, Trinkfass, Rasierpinsel mit Spiegel und Seifenschale, Wagen, Krauthobel, Glocke, Fiedelbogen; (von rechts oben) Schabklinge zur Holz- oder Fellbearbeitung, Ahle, Schere, Stech-/Schneidwerkzeug, Schaufel oder Maurerkelle?, Zange, Weberschiffchen, Schabeisen, unbestimmt, unbestimmt, Hobel, Hellebarde?, Hackeisen zum Rollen von Baumstämmen oder Lockern von Wurzeln, Harke oder Rechen, Fass, Schwert, Beil, Armbrust, Kessel mit Henkel, Kessel mit Dreibein, Heugabel, Beil – vermutlich Binderhacke für Fassdauben, unbestimmt, Sense, Hobel, Kerzenleuchter, Flachsbreche; dazwischen ein Reiter.

zess. Einer gelegentlich postulierten „Umschulung“ ländlicher Zuwander*innen in die Regelhaftigkeit früher urbaner Manufakturen bedurfte es nicht. Eher haben sie sich an die Eintönigkeit manufak-

Abb. 7.20 Getreidemühle mit unterschlächtigem Wasserrad, Hortus deliciarum (Nachzeichnung); Mühlentechnik im Schnitt, der waagerechte Mühlstein in Frontalansicht

tureller Produktion gewöhnen müssen. Doch war auch in dörflichen Handwerken eine Spezialisierung auf begrenzte Tätigkeiten, die nur weniger Werkzeuge bedurften, weit fortgeschritten. Boten christliche Sonn- und Festtage willkommene Unterbrechung, wie behauptet? Das Vieh musste versorgt und gemolken und Essen gekocht werden. Die kirchliche Verbotskultur hat Historiker*innen seit dem Spätmittelalter „Feiertagschristus“Bildnisse als Quelle hinterlassen. An Kirchenwänden zeigten sie in verständlicher Bildsprache Arbeitsgeräte, die, an Sonn- oder Feiertag verwendet, den als Schmerzensmann dargestellten Christus so treffen würden wie einst Geißel, Dornenkrone und Nägel. Da die Menschen sich durch ihrer Hände Arbeit das tägliche Brot schaffen mussten, hat die Kirche lange um Kontrolle kämpfen müssen. Erlaubt war Feiertagserntearbeit nur bei drohendem Regen oder Unwetter. Kleine Dörfer umfassten dreißig bis vierzig Personen und mit zunehmender Größe arbeiteten dort, meist in Teilzeit und durch Krautgärten selbstversorgend, Schmiede und Wagner, bei nahen Tonvorkommen Töpfer*innen und, mit Mechanisierung der Mehlherstellung, Müller. Große Wirtschaftseinheiten wie Klöster und Herrenhöfe besaßen Handwerker*innen.

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Kellerer, Brauer, Küfer, Fassbinder; Metzger, Kornmeister und Köche; Walker, Weber und Kürschner; Maurer und Steinmetze, Schmiede, Pecher, Stellmacher, Zimmerleute und Reparaturschreiner; Pförtner und Heizer; Gerber, Sattler, Schneider*innen und Wäscherinnen; Messerer, Schleifer, Dreher; Goldschmiede und Seidensticker – und viele andere. Hinzu kamen bei Herren Schergen und Badstuber, Wirte für den Beherbergungsbetrieb, Maler für Kirchenausstattung sowie angesichts von Vernetzung und Fernbesitz, Boten.

Hersteller*innen von Holzgeräten schnitzten, fügten und drechselten, Hobel oder Pflug mussten über Generationen halten. Das Weben von Wollund Leinentuchen zur Vermarktung oblag überwiegend Frauen, sie hatten in manchen Herrschaften jährlich pro Person etwa 925 Ellen Wolltuch oder 1200 Ellen Leinentuch, jeweils vier Ellen breit, abzuliefern. Flächige Produkte wie Lein-Wand, LehmWand, Stein-Wand stellten Frauen und Männer her. Ländliche Gesellschaft war differenziert. Alle beteiligten sich an der Verbesserung von Arbeitsgeräten und recycling war selbstverständlich: „Altes Eisen“ wurde Schmieden zurückgegeben und umgangssprachlich würde Verbrauchtes so bezeichnet werden. Die Mehrzahl der Schmiede-Familien war unfrei, manche produzierten als Zinsabgabe Hufeisen in Menge. Als Geräte Eisenbeschläge erhielten und die Produktpalette wuchs, spezialisierten sie sich in Grob-, Schar-, Sensen-, Nagel- und Schlossschmiede. Ihre Pflichten und Preise, Zugang zu Holz und Holzkohle regelten Weistümer und Rechtsspiegel. Als Investoren naher oberösterreichischer und steirischer Eisenerzvorkommen wasserradbetriebene Hammerschmieden, „Radwerke“, einrichteten, produzierten ihre unfreien Facharbeiter Halbfabrikate in Serie, Dorfschmiede stellten Pflugschare, Sensen, Sicheln, Strohschneidemesser gemäß Kundenbedürfnissen fertig. Für sie stieg die Konkurrenz dramatisch, als Hammerwerke so verbessert wurden, dass sie Sensenblätter ausschmieden konnten. 106 Mühlen waren oft topografisch, Müller sozial außerdörflich angesiedelt. Die Technik der vertikalen Rotationsachse hatten römische Legionäre bei der Besetzung Palästinas kennengelernt und sie ver-

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mittelten das Wissen an gallische, aber nicht an norische Mechaniker. Die Nutzung natürlicher Wasserläufe erweiterten Erdarbeiter durch Mühlenkanäle und gestalteten so Landschaft; Mechaniker konstruierten Mühlen mit unterschlächtiger und seit dem 12. Jahrhundert mit oberschlächtiger Zuleitung. Mühlsteinqualität betraf alle Menschen: je mehr Steinabrieb im Mehl, desto größer die Zahnschäden. Ideal waren Basaltsteine aus der vulkanischen Eifel, sie erreichten die Voralpenregion vermutlich nicht. Von Perg im Weinsbergerland bis zum Strudengau an der Donau und im Waldviertel wurden Mühlsteine aus Granit gebrochen und vermarktet. Müller unterstanden dem Bann oder Regal der Herren; sie durften in Wäldern Bauholz schlagen, hatten den Mühlgraben sauber zu halten und mit Bauern den Wasserbedarf auszuhandeln. Landwirts-Familien durften nach manchen Regelungen Wasser nur an Sonntagen ableiten. Dies deutet auf Vorrang der verarbeitenden Technik gegenüber dem Rohstoffanbau. Gab es Müllerinnen mit eigenen Mühlen? In seiner oft weibliche Perspektiven reflektierenden Version der Lebensgeschichte Jesu schrieb Lukas (17,35) von zwei Frauen, die gingen, um Korn zu malen. Dies nahm um 1170 die Äbtissin des Klosters Hohenburg im Elsass, Herrad aus Landsberg in ihre Enzyklopädie Hortus deliciarum auf. Dorf und Handwerk, Gartenwirtschaft und Stadt, Arbeit von Männern und Frauen bildeten eine differenzierte Einheit. Als Zwangsarbeit im 12./13. Jahrhundert schrittweise in Lohnarbeit überging, bedeutete Geldwirtschaft erweiterte Optionen. So wie Ackerbauende die Saat und anderes absprachen, begannen städtische Handwerker ihre Interessen zu koordinieren.

Bentzien, Bauernarbeit, 118–119; Epperlein, Bäuerliches Leben, 47–49; White, Medieval Technology, 59.

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Waldwirtschaft und Bergbau

7.7 Waldwirtschaft und Bergbau 107 Schriftkundige beschrieben Wälder als gefährlichen Urwald voller wilder Tiere und Reisende von Stand ließen sich von Knechten mit Spießen gegen Raubtiere und mit Hirsch- und Saufängern für die Fleischbeschaffung begleiten. In klerikaler „Waldschelte“ galten sie als Aufenthaltsort ausgestoßener „Friedloser“ und Ort des Unglaubens. Doch ist das Bild von undurchdringlichem Dickicht ungenau. Rotwild und Rehwild zum Beispiel benötigten lichten Wald mit Bodenbewuchs und Grasflächen zum Äsen. Volkserzählende stellten Wald komplexer dar: mit Hexenhaus und Kindern, mit einem von sieben als Bergleute tätigen Zwergen bewohnten Häuschen, das einer verfolgten Frau namens Schneewittchen Schutz bot, und als Unterkunft für soziale Gerechtigkeit Einfordernde wie Robin Hood. Empirisch war Wald integraler Teil dörflichen, grundherrschaftlichen und seit dem 11. Jahrhundert auch städtischen Wirtschaftens. Trotz Raubtieren verwendeten dörfliche Menschen als Maß für Waldgröße die Zahl der Schweine, die mit Eicheln und Bucheckern gemästet werden konnten: Lebens-Mittel. Der Wald war unabdingbare Ressource für Bau-, Knüppel- und Brennholz, Blattfutter und Einstreu, für das Sammeln von Pilzen und Beeren, für Harz- und Lohgewinnung. Da Stroh als Futter wertvoll war, sammelten sie trockenes Laub und die weiche Schicht herabgefallener Tannennadeln als Spreu; beim Holzfällen sammelten Frauen und Kinder oft Rindenstreifen für Lohgerber und Äste, die sie zu Reisigbündeln zum Anheizen schnitten. Dorfbewohner*innen einigten sich über den Schutz fruchtbarer Bäume, die zur Mast dienten, und die Verwendung unfruchtbarer als Brennholz. Hirten durften Eicheln nicht mit langen Stangen herunterreißen, Holzsucher Äste nur bis zu einer bestimmten Höhe abschlagen. In Wäldern arbeiteten Köhler, Harzsieder, Grasrupfer, Laubrecher, Pottaschbrenner, Schindelmacher. Für große Bauten mussten Baumeister und Auftraggeber Bäume für Hallendecken, Firste, Türme finden. Die funds of knowledge der im Wald Arbeitenden und Lebenden

halfen Äbten bei der Suche nach besonderem Bauholz für Kathedralen; manche Äbte sahen darin einen Fingerzeig Gottes. Diese translatio des Wissens „einfacher“ Menschen in Fingerzeig Gottes eröffnet nachdenkenswerte Perspektiven. Hirten waren im Wald für jedes einzelne der Wert-vollen Tiere verantwortlich. Sie schützten ihre Herde vor wilden Tieren, kannten Tierkrankheiten, wussten wo und wann abgeerntete Felder Futter boten. Sie waren geachtet und ihr Berufsbild war Teil aller Kulturen. Der biblische David vertrieb mit seiner Steinschleuder wilde Tiere und den Riesen Goliath; Christus wurde oft als Hirte mit Lamm dargestellt; die Tochter eines angelsächsischen Königs verkleidete sich als Schweinehirt, als ein Prinz sie sexuell und damit ihre Lebensplanung als sanctimoniale bedrohte. 108 Da das Weiden von Tieren Mobilität erforderte, waren Hirten Landlose und mit zunehmender Besitzkonzentration drängten die Wohlhabenden sie ans untere Ende der sozialen Skala. Holz war von vielfältigem Wuchs und unterschiedlicher Qualität und mit den spezifischen Sorten kannten Brettschneider und Schindelmacher, Büttner und Schachtelmacher sich aus. Sie suchten Knieholz für manche Gerätschaften, Y-förmiges für andere, spezifische Astfolgen für Hocker, Bänke, Tische, Truhen und Küchengeräte oder für Arbeitsgeräte wie den Rahmen eines Pfluges; Hartholz für die Mechanik von Weinpressen und Mühlen; biegsames für Transport-, Butter- und Weinfässer. Rinde und Harze sammelten Gerber und Pechscharrer. Die Wälder speicherten Wasser und aus ihnen fließende Bäche tränkten Vieh, trieben Mühlräder an, lieferten Fisch. Holz diente dem Brückenbau, Stadtbewohner*innen benötigten es für Wohn-, Werkund Rathäuser. Herrschaftlicher Massenbedarf für den Pfalzen-, Burgen-, Kirchen- und Klosterbau sowie für Beleuchtung und Beheizung und, ebenso, den industriellen Bedarf für Salzsieden, Bergbau oder Köhlerei konnte zu Entwaldung führen: Unregelmäßiger Wasserlauf und unkalkulierbare Wasserversorgung folgten. Dass Entwaldung Kon-

Dieses Teilkapitel beruht weitgehend auf Siegfried Epperlein, Waldnutzung, Waldstreitigkeiten und Waldschutz in Deutschland im hohen Mittelalter, Stuttgart 1993, bes. 80–86; Dollinger, Bauernstand, 382–411; Wenskus, „Bauer“, 24. Vgl. Alexander Demandt, Der Baum. Eine Kulturgeschichte, Wien 22014. 108 Frideswide (um 650–727) wurde Schutzheilige der Stadt Oxford. 107

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Abb. 7.21 Holzfäller in einem Eichenwald, Tournai, ~1460 (Wirkteppich für den höfischen Bereich in Burgund) Die spätere und beschönigende Darstellung zeigt Fällen, Entästen, Sägen, Stapeln; im Hintergrund eine besser gekleidete Person.

sequenzen für das Makroklima haben würde, wusste niemand; ob schnell spürbare Folgen im Mikroklima erkannt wurden, wissen Historiker*innen nicht. Menschen der Zeit, die sich darüber Gedanken machten, mögen Gottes Willen vermutet haben. Das Lebens-Mittel Wald galt Zeidlern oder Imkern, analog zur Viehweide, als Bienenweide. 109 Honig war der einzige Süßstoff und Wachs war für Kerzen unabdingbar. Angesichts der hohen Nachfrage importierten Kaufleute Honig und Wachs slawisch-sprachiger Imker in großen Mengen. In der Heilkunde diente „Jungfernwachs“ (von unbebrüteten, unberührten Waben) der Zubereitung von Arzneimitteln. Als Dorfgemeinschaften wilden Wald zu Nutzwald, Handwerker*innen ihn zu Rohstoffgebiet verändert hatten, sahen die Menschen-auf-Land-Besitzer eine weitere Einnahmequelle durch Bannforste und „Waldregale“. Sie vergaben Zeidelei als Leihe gegen Gebühr, belegten Brennholzverkauf mit Stra109 110

fen, erlaubten Dörflern nur geringe Mengen für den Eigenbedarf. Für ihr privates Jagdvergnügen wandelten sie potenziellen Nutzwald in Verbotsgebiete und zwangen Knechte und Eigenleute Wild heranzutreiben. 110 Sie beschäftigten Förster und Forstknechte, die sich aus dem Wald ernähren mussten. Traditionell gewohnheitsrechtliche Nutzung ließen sie dekretrechtlich als „Waldfrevel“ bestrafen und Rudolf IV. Habsburg ließ in das Privilegium maius auch Forst- und Wildbann fälschen. Forstleute der Herren-Familien betrieben ertragsorientierte Waldwirtschaft mit Nutzungskontrollen und Klostergemeinschaften erweiterten sich zu Holzhandelsbetrieben. In Mooren bauten Menschen verstärkt Brenntorf ab. Der städtische Bedarf stieg in einem Ausmaß, dass Wald knappe Ressource wurde und seit dem 13. Jahrhundert verordneten Stadträte Waldschutz und Wiederaufforstung sowie nachhaltige Bewirtschaftung. Salzburgs EB Eberhard II., der 1237 entsprechende Regelungen erließ, zielte dabei auch auf

Peter Putzer, „Das Bienenrecht in den älteren Salzburger Rechtsquellen“, Salzburg Archiv 14 (1992), 93–103. Bereits die Lex Baiuvariorum legte detailliert den Schutz von Jagdhunden und Beizvögeln fest.

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die Versorgung und Gewinnsteigerung seiner Halleiner Saline. Forstmeister sammelten Samen, um fast zerstörte Wälder wie bei Nürnberg wieder nutzbar zu machen und manche gingen als „Tannensäher“ in die Ferne. Machtvolle Interessengruppen suchten schwächere von der Waldnutzung auszuschließen und Stadtherren mussten mit genealogiae-Besitzern Holzrechte aushandeln. Ohne Holz hätten Handwerker*innen nicht produzieren, Bürgerhäuser und Ratsstuben nicht beheizt, Schänken nicht beleuchtet werden können. Wie die Lebenszyklen wurde das Lebens-Mittel Wald mit Abgaben belegt. Auf Grund gelegte Abgaben waren grundlegend für Herrschaft. Inmitten der Gebirgswälder hatten Zuwandernde seit Mitterberg- und Dürrnberg-Zeiten Bodenschätze erschlossen. Flussgold aus dem Gasteiner-, Rauriser- und Salzachtal hatten um 400 v. u. Z. tauriskische Händler an etruskische und römische Abnehmer*innen geliefert; Münzfunde belegen Kontakte zum Balkan; Polybius berichtete von einem „Goldrausch“ um 150 v. u. Z. und römische Legionäre vertrieben Ansässige, um die Goldgewinnung zu rationalisieren und Kosten zu verringern. Mit der Umgestaltung makroregionaler Machtverhältnisse endete die Nutzung von „Tauerngold“ für Jahrhunderte, mit Ende der Herstellung „norischen Eisens“ der Holzbedarf. 111 Die Mönche des Klosters Admont zogen im ausgehenden 11. Jahrhundert Abgaben von Schürfer*innen am Fritz-Bach (Pongau) ein; arbeitende

Menschen, diskursiv-dinglich „Güter“, bei Radstadt und bei St. Johann im Dientener Tal lieferten im 11. und 12. Jahrhundert massae ferri. Doch waren Eisenabgaben selten. (Potenzieller) Mineralienbesitz und Macht waren eng verbunden. König Heinrich II. hatte 1002 den Erzbischöfen das gebirgige, slawisch besiedelte Lungau geschenkt und Bauern-, Knappen-, Köhler-, Holz- und TransportarbeiterFamilien siedelten sich an oder wurden angesiedelt. Die Domherren erhielten den Profit aus ihrer Arbeit und die St. Peter-Mönche Zinse aus der Edelmetallgewinnung. Schrittweise entstand eine Montanwirtschaft und im 12. Jahrhundert entwickelten Bergleute die Fähigkeit, Untertagebaue bis in große Tiefen zu schlagen. Berg-Materialien und -Mentalitäten waren verwoben. „Venediger“ kamen als Prospektoren und suchten systematisch und sachkundig nach sichtund sammelbaren Bodenschätzen, darunter Bergkristall. Ansässige aller Gesellschaftsschichten entwickelten Wunder-volle Vorstellungen: ungehobene Schätze in Höhlen; unermessliche Reichtümer im Freimannsloch (Lungau), bewacht von einem Henker mit blutigem Schwert; eine mit Gold und Edelsteinen gefüllte Kiste im Georgenberg bei Kuchl, bewacht von einem grässlichen Hund; Reichtümer des schlafenden „Herrn Kaiser Karl“ im Untersberg bei Salzburg. War die Unterschichten-Bildlichkeit wachender Henker und Hunde Folge der Bannmächtigkeit der Herren? 112

7.8 Bevölkerung, Geldwirtschaft und Sozialstruktur: Entwicklungen bis ins 13. Jahrhundert Infolge der vielen Aktivitäten im Land-, Wald- und Bergbau sowie in den Städten stieg das lokale und europaweite Gesamtprodukt. Die Stadtentwicklung und der Ausbau von Fußwegen zu Fahrstraßen sind als „Landesausbau“ bezeichnet worden. Dies ist in mehrfacher Hinsicht irreführend, denn die „Länder“ waren Familienbesitz und das Ziel war Einkommenszuwachs durch Verbesserung der Infra-

struktur. Die Wirtschaftssubjekte erschlossen nicht Länder, sondern gemäß ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten weit verstreute Ländereien, junge Menschen suchten Lebensperspektiven. Manche Herrscher-Familien erweiterten die Optionen ihrer Unfreien. Darin den Ursprung moderner „Länder“ zu sehen, wäre teleologisch-lineare Konstruktion. 113 Der eigentliche Prozess, das Bevölkerungs-

Christoph Bartels und Lothar Klappauf, „Das Mittelalter. Der Aufschwung des Bergbaus unter den karolingischen und ottonischen Herrschern, die mittelalterliche Blüte und der Abschwung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts“, in: Bartels und Rainer Slotta (Hg.), Der alteuropäische Bergbau. Von den Anfängen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Münster 2012, 111–248, hier 166–172. 112 Josef Stöger und Arbeitsgruppe, Unser Salzburg, Salzburg 1985, 57–64. 113 Rainer Schreg, „Bauern als Akteure. Beobachtungen aus Süddeutschland“, in: Jörg Drauschke, Ewald Kislinger u. a. (Hg.), Lebenswelten zwischen Archäologie und Geschichte. Festschrift für Falko Daim zu seinem 65. Geburtstag, 2 Bde., Mainz 2018, 553–563; Rösener, Bauern im Mittelalter, 40–73, 111

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wachstum, beruhte auf individuell-gesellschaftlichem Handeln: Frauen und Männer entschieden sich für Partnerschaften oder Sex und suchten, soweit möglich, sich für oder gegen Geburten zu entscheiden. Nahmen sie die hohe Kindersterblichkeit hin? Sie wussten, dass sie mit der Abgabe von Milchprodukten oder der milchgebenden Kuh auch Lebenschancen ihrer Kleinkinder abgaben. Überlebende Kinder zogen sie groß und beeinflussten ihre Entwicklung. Über die Generationen von 1000 bis 1300 verdoppelten sie ihre Zahl in Europa von 38,5 auf 73,5 Millionen. Reproduktive Entscheidungen variierten regional: Von England bis in die deutsch-sprachigen Gebiete verdreifachten sie ihre Anzahl auf 35,5 Millionen: Agrarland oder Handwerk musste drei statt einer Person ernähren. Die „oberen Zehntausend“, genau: 1–2 Prozent, also 35.000 bis 70.000, betraf dies wenig, sie konnten höhere Abgaben erheben und stellten vorausschauend Rechnungsführer ein. 114 In der Ostalpen- und Donau-Region zogen Familien im Innergebirg mehr Kinder groß als im Flachland lebende. Ihre vielen kleinen Alltagsveränderungen und Strategien addierten sich über die Generationen. Diejenigen, die nicht strategisch handelten, mussten ihre Lebens-Grund-Lage in Bruchteilhufen dividieren. Urbare verzeichneten gegen Ende des 13. Jahrhunderts statt Vollhufen zunehmend Viertelacker oder gar Achtelhufen. Mit jeder Teilung wurde Diversifizierung wichtiger – Handwerk, Tagwerk auf dem Land Besser-Gestellter/sich besser Stellender oder Pfadwechsel: Abwanderung in Marktorte und Städte. Angesichts der enger werdenden Lebens-Grundlagen veränderten junge Menschen ihr lebenszyklisches Verhalten. Sie heirateten später, Frauen seit dem 13./14. Jahrhundert im Durchschnitt statt mit 12 mit 15 Jahren, Männer statt mit 15 mit 18 Jahren. 115 Dreifache Bevölkerung konnte dreifache Leistung bedeuten und dreifaches Potenzial, Produk-

tionsweisen zu verbessern. Besonders erfolgreich war (1), wie bereits erwähnt, der Wechsel vom Haken- zum Scharpflug, (2) der Übergang von Zweizu Drei-Felderwirtschaft und, erst spät, (3) die Verwendung von Pferden. Dabei veränderten die Landwirtschaftenden die Kulturlandschaften erneut, denn im Gegensatz zu den quadratischen Äckern für Hakenpflüge erforderten Scharpflüge langgestreckte, meist schmalere. Lange Furchen verringerten den Zeitverlust beim Wenden des Pfluggespannes und erforderten weniger Zäune und Hecken. Schar- oder Beetpflüge mit Radvorgestell, Schneidmesser, asymmetrischer eiserner Schar und Wendebrett wendeten Schollen, lockerten also Böden besser und unterstützten den Stoffwechsel der Krume. Schar und Streichbrett mussten passgenau gefügt sein, um Reibungswiderstand zu vermeiden. Sie erforderten Kraft, um die Pflugschar in den Boden zu drücken. Hatten Männer die Kraft nicht mehr, ersetzten Herren sie durch jüngere. 116 Zugtiere waren kleinwüchsig, die Widerristhöhe hatte sich seit römischer Zeit bei Rindern auf 110 bis 115 cm, bei Pferden auf 140 cm verringert. Ochsen – kastrierte Stiere – waren als Grasfresser kostengünstig, aber langsam; Pferde bewegten sich schneller und konnten pro Tag länger genutzt werden, verbrauchten aber Hafer. Erst die Einspannung mit Siele (Brustzug) oder Kummet (Schulterzug) statt Joch ließ ihre Verwendung zweckmäßig werden. Als infolge der Pest menschliche Arbeitskraft knappes Gut wurde, boten Pferde höhere Rentabilität. 117 Den individuell bestimmten Zwei-FelderRhythmus änderten Dorfgemeinschaften, Hofherren und königliche Domänen seit etwa 900 und besonders nach 1050. Sie legten ihre Felder zu „Zelgen“ zusammen, sprachen deren Einteilung in Gewanne ab und verbanden im neuen DreijahresRhythmus mediterrane Wintersaat, nördliche Frühjahrssaat und Brache. Damit verbesserten sie die Erträge um ein Drittel und halbierten durch Som-

155–176; Erhard Schlesier, „Ethnologische Aspekte zum Begriff ‚Bauer‘“, in: Wenskus u. a., Wort und Begriff „Bauer“, 46–57, und Schmidt-Wiegand, „Lex Salica“, ebd., 128–152, sowie Kurt Ranke, „Agrarische und bäuerliche Denk- und Verhaltensweisen im Mittelalter“, ebd., 207–221. 114 J. C. Russel, „Population in Europe 500–1500“, in: Carlo M. Cipolla (Hg.), The Fontana Economic History of Europe, 6 Bde., Glasgow 1972, 1:25–70, Tabelle 36. 115 Dopsch mit Mitterauer, „Hochmittelalter“, 1.1:359–360. 116 Da die Schar nur zu einer Seite wendete, wurden Äcker über die Jahre an den Rändern niedriger und in der Mitte höher. Dies war nützlich, denn in trockenen Jahren blieben die niedrigen Seitenstreifen feucht, in feuchten Jahren der höhere Teil trocken. 117 Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 37–40; White, Medieval Technology, 52–50, 57–69. Lynn White, Jr., „The Expansion of Technology“, in: Cipolla, Economic History, 1:143–174, und Georges Duby, „Medieval Agriculture 900–1500“, ebd., 175–220; Rösener, Bauern in der europäischen Geschichte, München 1993, 74–81.

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mer- und Wintersaat das Risiko. Familien verbanden individuelle Garten- und Viehwirtschaft mit kollektivem Ackerbau. Sie nährten sich überwiegend durch Leguminosen – Knollengewächse, Kraut und Salat, Kräuter – sowie haltbares Roggenbrot und Getreidebrei. Nur Felderbsen und -bohnen bauten sie auf Äckern an. Für Domanialgüter hatte bereits das Capitulare de villis 73 Sorten von Gemüse- und Kräuterpflanzen aufgelistet und der idealisierte Klosterplan von St. Gallen (Anf. 9. Jh.) wies Flächen für Gemüse-, Kräuter- und Obstgarten aus. Im Zuge der Expansion nach Italien transferierten die Beteiligten Samen und Wissen um südliche Kulturpflanzen nach Norden. Weinbau und das Backen von Brot dienten auch liturgischen Erfordernissen. 118 Da die Viehhaltung abnahm und Zwangsabgaben zunehmend in Getreide zu leisten waren, ist der Übergang als „Vergetreidung“ bezeichnet worden. Er war einerseits Diversifizierung: Roggen und Weizen im Spätherbst gesät, Hafer für Pferde und Gerste für die menschliche Ernährung im Frühjahr. Andererseits veränderte er Lebensrhythmen durch den stoßweisen Arbeitsbedarf bei der Getreideernte – für diese Arbeitsspitzen waren auf dem Herrenhof nicht ausreichend servi vorhanden. Herren förderten oder forderten den Übergang zu Getreide, denn dank des zeitlich konzentrierten Schnitts konnten sie Abgaben besser kalkulieren und für Kriegszüge ließ Getreide sich leicht transportieren. Kollektives Wirtschaften in den Dorfgemeinschaften erforderte eine „moralische Ökonomie“ (E. P. Thompson) mit konfliktsenkenden Vorstellungen von rechtem Verhalten, modern: Fairness. 119 In Haufendörfern, in denen traditionell jede Familie ein Recht auf „Weg und Steg“ zu den eigenen Feldern hatte, mussten Saat- und Erntezeiten abgesprochen werden. Denn nach der Saat konnten große Zelgen nicht mehr überfahren werden und nach der Ernte wurde Vieh auf die nicht mehr umzäunten Felder getrieben. In Reihendörfern mit jeweils direktem Zugang zum bewirtschafteten Land blieben Gemeinschaftsaspekte geringer.

Angesichts der veränderten Arbeitsprozesse zerfiel das auf Sklav*innenarbeit beruhende bipartite Regime zuerst zwischen Loire und Rhein, im 11. und 12. Jahrhundert auch in Mitteleuropa, und Herren-Familien vergaben Land in freieren Formen gegen Geld- statt Naturalabgaben. Was wurde aus den Knechten, Mägden und Textilwerkerinnen der Villikationshöfe? „Frei“ gesetzt? An neue Großhöfe weitergegeben? Rand-ständige oder rand-bewegliche Existenz? Parallel nahm Spezialisierung zu: Schwaig- oder Weidehöfe mit Käseherstellung und Hühnerhaltung bis etwa 1100 m Höhe; Weinberge; Transportrechte, zum Beispiel für Salz, auf Flüssen; steigende Bedeutung von Funktionsgruppen wie Förstern, Müllern, Imkern und Winzern. Die Haus- und Dorfgemeinschaften mussten die zahlreichen ökonomisch-ökologischen Aspekte ihres Wirtschaftens ausbalancieren: Bevölkerungszahl und Bodenqualität, Bedarf an Acker- und Weideland und real vorhandene Fläche, Vieh- und Kleintierbestand, Mist aus Stalltierhaltung und Düngerbedarf der Äcker. Die Anzahl der Zug-, Milch- und Schlachttiere musste den Weidemöglichkeiten einschließlich abgeernteter Felder, Heuund Futtergetreideland sowie Wald entsprechen. Die Zahl aller Arbeitskräfte musste den Spitzenbedarf an Erntetagen decken, die Wiesen- und Waldnutzung sowie Weiterverarbeitung kontinuierliche Beschäftigung ermöglichen. In diesen „ineinander geschachtelten Gleichgewichten“ (F. Daim) mussten Anzahl und Bedürfnisse aller Hofbewohner*innen den Erträgen aller Tätigkeiten entsprechen, abzüglich der Zwangsabgaben und zuzüglich eines (notwendigen) Überschusses zum Erwerb von Handelswaren. Je nach Erntemenge waren bei der Ernährung Abstriche nötig oder Zugaben möglich, wurden mehr oder weniger Produkte zugekauft. Jede einzelne Landwirtschaft erforderte unternehmerische Fähigkeiten und war kulturgebundenes Mensch-Natur-System. 120 Die neuen Marktmöglichkeiten änderten Bezugspunkte und Sozialstruktur: Der Einfluss der Fronhofbesitzer nahm ab, Zinse blieben erhalten,

Mitterauer, Europa, 22–27. Das Konzept, von E. P. Thompson für die englische Arbeiterklasse des 18./19. Jahrhunderts entwickelt, wird seither umfassender verwendet: The Making of the English Working Class, New York 1963, und „The Moral Economy of the English Crowd“, Past and Present 50 (Februar 1971), 76–135. 120 Falko Daim, „Wirtschaftsmodelle aufgrund archäologischer Funde. Kritische und programmatische Anmerkungen“, in: Karl Brunner und Verena Winiwarter (Hg.), Bauern: Aufbruch in die Zukunft der Landwirtschaft, Wien 1992, 143–156. 118

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Abb. 7.22 Hof „nach Vorschrift“ und Monetarisierung, um 1330, „Sachsenspiegel“ (lavierte Federzeichnung) Die Zinszahlung steht am Anfang, je Gans drei Heller. Erst an zweiter Stelle folgt die Produktionseinheit: Das Regenwasser läuft korrekt in den Hof, ein Mann zäunt das Anwesen mit Flechtzaun ein, der zum Nachbargrund keine herausstehenden Astansätze zeigt; Schweinekoben, Abort, Backofen. Was vom Nachbarn über den Zaun wächst, kann die Hausgemeinschaft abschlagen. Der Dorfhirte erhält als Wegzehrung Brot oder Käse vom Bauernjungen, der seinerseits die im Koben Ferkel säugende Sau bewacht.

die Kirche blieb im Dorf – wie es sprichwörtlich hieß. In den Dorfgemeinschaften koordinierte oder entschied ein Bauermeister, burmester. Wichtig waren die Dorfwache, zu Erntezeiten Feldwache und durchgängig die Hebamme. Messner und Küster unterstützten den Priester oder, wenn dieser in der Stadt lebte, dessen Vikar. Festzulegen waren Wegerechte zu Mühle, Herrschaft und Markt; Unterhaltspflicht für Wege und Brücken; Wasserrechte für Fischfang und Schiffsverkehr. Mühlen waren, wie Kirchen, sozialer Kontaktort und Topos dörflicher und priesterlicher Weltbilder. Nach Ansicht mancher hauste in Mühlen oft der Teufel, in Kirchen nicht immer ein Heiliger. 121

Auch die Arbeitsteilung zwischen Produzierenden und Verarbeitenden bedurfte der Regelung. Wer transportierte Getreide zur Mühle, wer Mehl zurück? Immer wieder wurde angemahnt, dass den Armen beim Mahlen nichts verloren gehen dürfe. Da zwischen Einschütten der Körner und Mehlausgang kleinere Verluste entstanden – die Müller zu größeren machen konnten – wurden betrügerische Müller gängiges Motiv in Erzählungen. Warteten Bauern, bis ihr Getreide gemahlen war, sahen Obere darin Müßiggang, den es zu geißeln galt. Die Wartezeit scheint nicht gebildetem otium oder Gebet, sondern Absprachen über Kooperation und Handel und, seit dem 13. Jahrhundert, dem Kartenspiel gedient zu haben. 121 Kooperation und Nähe boten Anlass zu Streitigkeiten. „Einfriedende“ Zäune waren auch Ausgrenzungen; Rechtsspiegel regelten durch Vieh angerichteten Schaden. Die Fluraufteilung musste „streitfest“ sein – Auseinandersetzungen hätten Zeit gekostet und Zeit war knapp. Lebenszyklische Interessen widersprachen sich: Junge Familien benötigten Bauholz, alteingesessene intakten Wald zur Schweinemast. Unterschiedliches Wirtschaften, Arbeitsintensität und Familiengröße sowie mehr oder weniger geschickte Betriebsführung bewirkten Interessengegensätze und Zunahme sozialer Schichtung. Glück oder Pech kamen hinzu. War dies alles das Wirken eines allmächtigen Gottes oder einer wankelmütigen, gewissermaßen wetterwendischen Fortuna? Die Erfolg-Reicheren begannen sich ab- und Ärmere auszuschließen: Zugang zu Wald und Allmende nur für ursprüngliche Landbesitzer. Großgewanne und reglementierte Feldbestellung machte Kleinbetriebe un-möglich, Kätner und Häusler dienten als Reservoir für Zeit- und Wanderarbeit. Die verschachtelten Gleichgewichte gerieten außer Balance: zu viele Menschen für Nahrungserträge, zu wenige in Erntezeiten. Einzelne Arbeitssegmente übernahmen Lohnarbeiter*innen auf Zeit oder Spezialist*innen in Vollzeit. Kämmerer klösterlicher Großbetriebe verglichen seit dem 10. Jahrhundert die Kosten von Unfreien bei kontinuierlicher Beschäftigung und Unterhalt mit bedarfsspezifischem Kauf von Arbeitszeit. Viele der „Besessenen“ und Häuslerinnen gewannen Initiative und Optionen zurück, wenn sie – mit Zustimmung oder ohne Pa-

Epperlein, Bäuerliches Leben, 97–104; Rösener, Bauern in der europäischen Geschichte, 70; White, Medieval Technology, 80–89.

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piere und Zustelladresse – abwanderten und zur Entstehung der Städte beitrugen. Besitzer, die Geldabgaben bevorzugten, förderten die kontrollierte Abwanderung ihrer Unfreien. Migration schuf einen Ausgleich zwischen Orten mit geringeren Chancen und solchen mit Arbeitskräftebedarf, also größeren Optionen. Sie stellte Balance wieder her. Grundherren-Familien sahen sich angesichts dieser Initiativen und Veränderungen zum Nachdenken gezwungen: traditionelle Rentenwirtschaft oder Unternehmerinitiative? Ihr Bologneser Kollege Petrus de Crescentiis (1230/35–~1320) legte seine Gedanken als Ruralia commoda (~1304/1309) nieder; die Schrift würde ab 1471 in gedruckter deutscher Übersetzung erhältlich sein. Den genealogiae-Familien wurde Land, ihr nicht zu vermarktender Signifikant von Status, im Rahmen von commodification und Geldwirtschaft zur Last. Sie rearrangierten ihre Werte und überführten Grund aus dem sozialhierarchischen in das geldwirtschaftliche Gefüge, machten den system-innerlichen Wert veräußerbar. Diese Entkopplung von Grundbesitz und Adelsposition ärgerte manche Standesgenossen und traditionsgebundene Intellektuelle. Für alle Schichten erforderten Monetarisierung und Geldmarkt Neukalkulationen. Bei Geldentwertung war fixer Geldzins günstig für Unfreie, Naturalzinse für Grundherrn. Die zunehmenden Chancen Unfreier, eigene familienökonomische Ziele zu verfolgen, interpretieren einige Historiker*innen bereits als peasant society oder economy, P. Dollinger sah sie als „Revolution“ im wirtschaftlich-sozialen Gefüge. 122 Die Rolle unterschiedlicher Schichten und beider Geschlechter für die Neuerungen ist schwer zu analysieren. Lag Planung und Leitung bei Grundherren-Familien oder fehlten ihnen Kenntnisse, da sie ländliche Arbeit als „knechtisch“ ansahen? Da Herren-Familien oft weder Bodenverhältnisse noch Bearbeitungspraktiken kannten, hatte der Beraterstab Karls d. G. sie und die Domänenverwalter in sinnvollem Management instruieren wollen. Allerdings konnten nur unfähige Verwalter, nicht lernunwillige Herren bestraft werden. Grund-

frauen hatten andere Rollen und wirtschaftliche Positionen: Teil ihrer Ausbildung und des Bildes von Weiblichkeit war das Management des Haushaltes samt Personenführung und Fähigkeiten in Textilarbeit. Königinnen verschenkten an besonders zu Ehrende selbstgestickte Gürtel. Herren wie Frauen benötigten Expert*innen: Meier und Dienstmannen, Schließerin oder Milchwesen-Leiterin. Geschlechtsdifferenz bei Gerät-Innovationen wirft Fragen auf: Fast alle Arbeitsmittel wurden optimiert, nur Stoßbutterfass und Spinnrad erst spät. Rad und Riemenantrieb waren schon lange bekannt. Zeitökonomie und Technik mögen beharrend gewirkt haben, denn Spindeln konnten stehend und gehend verwendet werden, das ortsfeste Spinnrad erforderte Sitzen und anfangs waren mit Rad hergestellte Fäden nicht reißfest. Erzähltopoi reflektierten die Wertschätzung von textiler Frauenarbeit und männlichem Mühlenbetrieb. Ein Müller brüstete sich, dass seine Tochter Stroh zu Gold spinnen könne und brachte sie mit dieser Angeberei in eine schwierige Lage. Ein Nothelfer namens Rumpelstilzchen löste sie: Müllertochter und Königsohn konnten heiraten. Dem Helfer hatte sie allerdings das erste Kind versprechen müssen. Als dies geboren war, kam Kinderliebe dazwischen: Sie war bereit, all ihre Reichtümer zu geben, nur das Baby nicht. Vielen akademischen Historikern gelten solche Märchen, im Gegensatz zur Ur-Kunde, nicht als zünftige Quelle. Doch verstaubten die vielfach legendären Urkunden in Archiven, die lebendige Geschichte von der Müllertochter und ihrer Kindesliebe erzählten sich, in Varianten, Menschen von Schottland und England über westslawische Kulturen bis nach Russland, in Island und in semitischen und arabischen Kulturen. Der Topos war transeuropäisch und transmediterran, vielleicht global. Gleichermaßen weit verbreitet war die Hoffnung, dass Leistung zu einem besseren Leben führe: Die junge Müllerin beeindruckte einen Königssohn und lebte fortan besser. Dies ist das utopische Element, denn der Königssöhne gab es nicht viele. 123 Anders als das Motiv „Spinnen“ bildete der To-

Neben vielen anderen Studien besonders Eric R. Wolf, Peasants, Englewood Cliffs, NJ 1966. Wolf, Österreicher jüdischen Glaubens (geb. 1923 in Wien) musste mit seinen Eltern 1938 vor dem Faschismus fliehen und lehrte an der Columbia University, New York; Karl Leyser (Rule and Conflict in an Early Medieval Society: Ottonian Saxony, London 1979) hatte aus Düsseldorf fliehen müssen und studierte und arbeitete in Oxford. Faschismus war auch intellektuelle Selbstenthauptung. 123 In Grimms Märchen ist auch die Geschichte „Die drei Spinnerinnen“ dem Topos gewidmet. 122

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pos „Bauer“ einen Mann ab, der lokal verankert Boden bearbeitet und nur auf die Furche schaut. Letzteres war wichtig, denn Furchen sollten gerade sein und dies erforderte Übung und Konzentration. Für seine Arbeitsgeräte haben Humanwissenschaftler*innen Gerätegenealogien erstellt. Deren Linien sind, anders als Furchen, nicht gerade, sondern verwobene histoire croisée. Altslawisch-sprachige Menschen verwendeten Pflüge früh, ländliche Geräte und geeignetes Saatgut entstanden in gallischer, slawischer und germanischer Synthese. Das Stirnjoch anstelle des Nackenjoches für Ochsen stammte aus östlichen Kulturen; das Kummet für Pferde kam aus China über Anatolien; das Hufeisen war, so legen etymologische Untersuchungen nahe, sibirischer Herkunft und erreichte Zentraleuropa über Ostrom. Nahrung-schaffende Arbeit war in großräumlichere Zusammenhänge eingebettet als Herrscherterritorien. Auch ist die Genealogie des Pfluges weit wichtiger als die aller Herrscher zusammen. Das im Vergleich zu einer Krone bescheidene Hufeisen war so wichtig, dass es doppelt in die Sprache einging: Ein mit Hufeisen beschlagenes Pferd war leistungsfähig, ein kluger, leistungsfähiger Mensch ist „beschlagen“; ein gefundenes Hufeisen „bringt Glück“ – für Finder in einer eisenknappen Zeit war dies sehr real. Nur Leute, die zu viel tranken und großsprecherisch agierten, hatten „einen in der Krone“. Die Doppelherrscher – über Diskurse im Diesseits und über Zugang zum Jenseits – profitierten von den Innovationen, aber schienen Initiativlosigkeit zu fordern: Menschen sollten sich „ihrem Schicksal ergeben“ – wer schickte es? Mönchen und Nonnen genügte Gott-Geschicktes nicht und deshalb verbesserten sie Frucht- und Getreideerträge systematisch. Manche nicht beschlagene „Einfache“ mögen zeitweise den Mut verloren, andere auf Grund mangelhafter kindlicher Sozialisation sich nicht an Entwicklungen beteiligt haben. Jedoch kamen auch die, die über-mütig glaubten, alles mit nur einem einzigen Werkzeug, dem Schwert, erledigen zu können, nicht weit. Viele Burgen wurden Ruinen, stand hielt nur die Architektur ihrer Erzähler. Die Stabilität der Grundherrschaft untergruben Hufenfamilien, wie Mächtige seit dem 9. Jahrhun-

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dert klagten. Sie handelten nicht frei, aber gemäß eigenen Interessen. Mit Einsetzen der Erblichkeit der Hufen wurde der Verkauf oder, bei schlechten Bedingungen, Abzug häufiger. Die Menschen Besitzenden ihrerseits beendeten bis zum 12. Jahrhundert die Abstufungen unter Unfreien. Dies wirkte sozial asymmetrisch: Für die Mehrheit verbesserte sich die Lage, für die Kirchen-Zensualen verschlechterte sie sich. In der Region Salzburg wurden bäuerliche Leihen praktisch, wenn auch nicht de iure, unter Söhnen, jedoch nicht Töchtern, erblich. Seit eigenverantwortliches Wirtschaften Möglichkeiten für Akkumulation bot, gewann eine neue Schicht mittlerer Bauernfamilien Bedeutung. Doch konnten Marktlage und Machtverhältnisse, individuelle (Un-) Fähigkeiten, „Schicksalsschläge“ wie Krankheit, Arbeitsunfall oder Tod sowie witterungsbedingt schlechte Ernten und Viehkrankheiten auch sie schnell an den Rand des Existenzminimums bringen. Musste eine Familie ihr Land verlassen, konnten Zahlungsfähige es günstig erwerben. Die größte, aber ökonomisch schwächste Schicht bildeten Hufen- und Hofgesinde, das in Tagelöhner- oder Magd-Status sank oder in eine Stadt floh. Im 13. Jahrhundert standen sich eine kleine wohlhabende Schicht von Hofbauern-Familien und eine schnell wachsende unterbäuerliche Schicht gegenüber. Letztere mussten besonders Not-wendig sein, doch Stabilitäts-Verehrer störte Not-wendiges Leben und sie nannten es „unstet“. 124 Zwei Gruppen, Unfreie mit Inkasso- bzw. Überwachungsfunktionen, profitierten. Der Einzug von Geldzins erforderte Rechnungsführung und dazu fähige Dienstleute sahen Aufstiegschancen. Sie nutzten die Tätigkeitsprofile, um ihre Position in einer de-facto „Ämterverfassung“ festzulegen: Sie wandelten sich zu Ministerialen mit Selbstbewusstsein und Sozialprestige, noch hörig, aber bereits mindere Unfreie besitzend. Zweitens erhielten im Zuge der Auflösung des Sallandes Meier-Familien mit Managementerfahrung besonders viel Land. Sie erweiterten verkehrsgünstig gelegene Höfe zu Herbergskomplexen: Risikodiversifizierung und Akkumulationschancen. Sie beköstigten und beherbergten Fuhrleute in einem Gast-Hof und erhoben sich über ihre Nachbarn. Sie konnten Gäste und

Dollinger, Bauernstand, 217–219, 382–405; Klein, „Eigenleute“, 137–251, 174.

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Bevölkerung, Geldwirtschaft und Sozialstruktur: Entwicklungen bis ins 13. Jahrhundert

Nachbarn in Familienarbeit im „Dorfkrug“ bewirten. Der Name suggeriert, dass Krüge wichtiger waren als Teller. Stadtnahe Produzentenfamilien reagierten auf neue Nachfrage mit dem Anbau „technischer“ Produkte wie Färberpflanzen (Krapp für Rot- und Waid für Blaufärbung) und Gespinstpflanzen (Flachs und Hanf). Für die Vermarktung waren Fronbauern, die Transportleistungen hatten erbringen müssen, gut positioniert. Sie erweiterten ihre Kapazität von zweirädrigen Ochsen-Karren zu vierrädrigen Pferde-Wagen. Dies verbilligte den Massengütertransport, zum Beispiel von Getreide. Hinzu kam ländlich-städtischer Viehhandel, „auf den Hufen“ auch über größere Entfernungen. Mit Wagen ausgerüstete Bauernsöhne vermittelten zu Marktorten und verbanden Lebenswelten. Sie transportierten auch Informationen und konnten, wörtlich, Wegbereiter für Migrant*innen werden. Bauersfrauen, die täglich pendelnd städtische Märkte beschickten, erzählten nach ihrer abendlichen Rückkehr vom Leben dort. Familien in abgelegenen Regionen oder gar Alpentälern konnten sich nicht beteiligen: Hof-Ort bedeutete „Pfadabhängigkeit“ – manche Pfade waren leicht zu entwickeln, andere blieben schmal. 125 Macht-Habende fühlten sich von den innovativen Familien bedroht. Da sie das wirtschaftliche Fundament – einen Prozess – nicht ändern konnten, werkelten sie an der Fassade. Sie erließen Kleiderordnungen und schrieben deren Prototyp, ebenso genealogisch wie fälschlich, Karl d. G. zu. Dies Papier im sozialen Kampf – verankert unter anderem im Bayerischen Landfrieden von 1244 – sollte aufsteigenden ländlichen Familien verbieten, mit absteigenden, nun „unter-edlen“ Rittern gleichzuziehen und sich gleich anzuziehen. Sie sahen Schlimmes kommen: Bauersfrauen trügen „grün, braun, rot von Jent“ [Gent?] und verschwendeten damit „des Landes Gut“ (nach 1290). Der kleinritterliche Verseschreiber Reuenthal grummelte: „Üppig ist ihr Gewand, enge Röcke tragen sie und enge Mäntel, rote Hüte, schnallenverzierte Schuhe, schwarze Hosen“, „seidene Taschen“. Hans Rosenplüt, ein Büchsenmacher und Dichter, würde im

Abb. 7.23 Vergnügt tanzendes Paar, 1514, Albrecht Dürer Dürer zeigt, wie andere seit dem späten 14. Jahrhundert, Respekt vor bäuerlichem Leben; die Frau trägt die Schlüssel.

15. Jahrhundert klagen, dass sie dicke Joppen aus Baumwolle und Barchent trügen und, schlimmer noch, dass herausgeputzte Bauerstöchter nicht mehr spinnen wollten und deshalb Leinwand so teuer sei. 126 Für die weiterhin naturfarben gekleideten klein- und unterbäuerlichen Hausgemeinschaften blieb die Abgabenlast hoch und der Lebensstandard niedrig. Zwar beendete die Überschussproduktion großflächige Hungersnöte, doch bedeutete Verarmung zunehmende Mangelernährung. Wohlhabende Bauern verpflichteten Arbeitskräfte zu geringen Löhnen; städtische „Verleger“ verlagerten die Produktion in dörfliche Niedriglohngebiete.

Wenskus u. a., Wort und Begriff „Bauer“, Zitat 8. Harry Kühnel, „Kleidung und Gesellschaft im Mittelalter“, in: ders. u. a. (Hg.), Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung. Vom Alten Orient bis zum ausgehenden Mittelalter, Stuttgart 1992, xxvi–lxix, hier xxviii–xxix. Epperlein, Bäuerliches Leben, 199–204; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 1–7, 111.

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Dies betraf besonders die Textilherstellung und damit Frauen. Zusätzlich ließ die Erfindung des horizontalen Webstuhls in Flandern (um 1100) Webarbeit von familiär-dörflicher zu städtisch-betrieblich-männlicher Arbeit werden. Süddeutsche Unternehmer führten die Neuerung in die Voralpenregion ein. Hätten Frauen frei gewordene Zeit für die Vermarktung ihrer „höfischen“ Produkte verwenden können? Sie hatten keine Höfe, sondern lebten in Hütten an Ortsrändern. Die Zahl der Verarmenden war so groß, dass die Bezeichnungen für ihre Behausungen, Keuschen oder Sölden, Ortsund Ortsteilnamen wurden. Neue Großgeräte wie wassergetriebene Getreideverarbeitung erforderten neben Investitionen Experten wie mobile Mühlenbauer und Steinmetze für Mühlsteine. Die Berufsgruppe der Mechaniker (engl. mechanics) entstand zwischen Handwerkern und Technikern. Glockengießer und, später, Uhrmacher kamen hinzu. Mit der veränderten Funktionsteilung zwischen Dörfern, Marktflecken und Städten stieg der Anteil (klein-) städtisch Lebender um 1300 auf etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Zur Versorgung der Städte spezialisierten sich – wie villae-Betriebe in römischer Zeit – Fami-

lien im Umland auf Gemüse und Milchprodukte. Da deren Verkauf Frauen oblag, standen sich Bäuerinnen und Städterinnen tagein-tagaus auf dem Markt gegenüber. Soweit wohlhabende Stadtbürgerinnen Köchinnen oder Mägde beschäftigten, waren diese oft aus dem ländlichen Bereich zugewandert. Die Märkte für Feldprodukte wie Heu und Vieh wurden Männerraum (s. Kap. 8.3). Landwirtschaftende Familien blieben unverändert das am höchsten belastete Glied der gesellschaftlichen Hierarchie. 127 Einige Historiker haben das grundherrschaftliche Produktionsregime als „modernisierend“ bewertet, da im Vergleich zu kleinen Höfen über Subsistenz hinaus ein Mehrprodukt erzielt wurde. Massenarbeit versklavter Frauen und Männer mag Produktion verbilligt haben, doch „verschwand“ das Mehrprodukt in Konsum und Hierarchiefestigung. Hätten bäuerliche Familien die Möglichkeit gehabt, durch Mehrproduktion und Vermarktung Geld anzusammeln, hätten sie vielleicht die Chance genutzt, eine neue Pflugschar zu erwerben. Oder sie hätten sich, den Oberen folgend, ebenfalls für Konsum entscheiden können. Großbäuerliche Familien zeigten Kleidung.

7.9 Widerständigkeiten selbstständig denkender Männer und Frauen Die Beherrschten dachten selbst-ständig und -dynamisch. Ihnen war wichtig, dass die gemeinsam erinnerte genealogia iuris der Weistümer und Gewohnheitsrechte, Gegenteil der Fehde-Kämpfereien der Herrschenden, an Gerichtstagen verlesen wurde. Leben gemäß den Regeln, so das Denken, würde allen ein Auskommen ermöglichen und innerdörfliche Streiterei vermeiden. Die überlagernde Hierarchie des Dekret-Rechtes war weder selbstläufig noch einleuchtend und die Oberen waren sich des Denkens und Widerstandspotenzials der Unteren bewusst. Widerstehen erforderte, dass Niedergeworfene, Unterworfene sich erhoben: Diskursherrscher nennen es „Aufstand“. Der langobardische König Rothari hatte Widerstand von servi (seditio rusticanorum) generell unter Strafe gestellt: Anführer büßten mit dem Leben, Mitläufer durch

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Geldstrafe. Etwa ein Jahrhundert später dehnte König Liutprand die Strafen auf Frauen aus. Offenbar waren sie nicht passiv. 128 Als Salzburger und Passauer Kleriker sich im 9. Jahrhundert die Menschen jenseits der Enns und in Pannonien aneigneten, handelten sie vor-sichtig und bemaßen, um Widerstand der Annektierten – klerikal-sprachlich: Christianisierten – zu vermeiden, den Zehnt vorerst niedriger. Slawischen Gläubigen waren Opfer an ihre Götter freiwillig, pay as you go; im Kirchenchristentum war zu zahlen, gleich, ob Leistungen in Anspruch genommen wurden oder nicht (s. Kap. 6.8). Abgabe-pflichtig gemachte Menschen stellten das Regime – aus Weistums-rechtlicher Sicht UnRecht – durch alltäglichen Widerstand individuell und kollektiv zäh und erfindungsreich in Frage.

Rösener, Bauern im Mittelalter, 163–164. Gerhard Köbler, „‚Bauer‘ (agricola, colonus, rusticus) im Frühmittelalter“, in: Wenskus u. a., Wort und Begriff „Bauer“, 230–245, hier 233.

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Widerständigkeiten selbstständig denkender Männer und Frauen

Frauen, die Kleinzinse ablieferten und Mengenlehre kannten, rechneten widerständig; Hirten trieben Mastschweine in Herrenwälder; Männer verringerten Getreidezins durch beigemengte Steine oder lieferten Getreide minderer Qualität und verkauften gutes. Bringzinse mussten zum Herrn getragen, Holzinse von seinen Beauftragten entgegengenommen werden. Diese durften bei „Gatterzins“ das einfriedende Zaungatter nicht durchschreiten; kamen sie nicht zu rechter Zeit, konnte die Abgabe übers Gatter auf die Erde geschüttet werden. Bei Bringzins war den Zinsenden Essen und Trinken zu bieten – taten die Herren dies nicht, durften die Zinsenden den Gegenwert von ihren Abgaben abziehen. Kannten die Herren die Evangelien? Dort saßen laut Markus (2.15) Steuer- und Zinseintreiber und Sünder an einen Tisch. Regionale Weistümer legten selbst die Qualität der Mahlzeit fest, zum Beispiel Erbsen mit Speck und Rindfleisch und die Größe des zu reichenden Brotes. Unfreie Menschen wussten um Rechte und Ansprüche. Besitzende ärgerte dies. Ihnen hörige Autoren erfanden den schlitzohrigen, pfiffigen, betrügerischen „Bauern“ (männlich). Die listige Klugheit der Bauersfrauen schien nicht der Erwähnung wert. 129 Widerstände kennzeichneten auch den Frondienst: Schickte eine Hausgemeinschaft den kräftigsten oder den am ehesten entbehrlichen zur Fron? Wurde Fronarbeit mit – angeblich gottgefälligem – Fleiß oder widerwillig geleistet? Die Zwangsarbeitenden hatten Anspruch auf ein Mahl und auf Futter für ihr Zugvieh. Bekamen sie dies nicht, konnten sie, in einer Art Streikrecht, am Mittag ihre Arbeit beenden. Die Grundbesitz-Institution Kirche suchte im 10. und 11. Jahrhundert durch strafferes Klosterwesen, Investitur ihres Personals ohne weltliche Mitsprache und neue Organisationen wie die der Zisterzienser ihre materielle Basis und die sie schaffenden Menschen stärker in den Griff zu bekommen. Zisterzienser trugen weiße, für Landarbeit unpraktische Kutten. Was hatten ländliche Männer und Frauen über wohlgenährte Kleriker zu sagen? Einige Theologen und viele Laiengläubige reagierten kirchen-, aber nicht glau-

benskritisch: Humiliaten in norditalienischen Städten, „Waldenser“ zwischen Passau und Salzburg, später Hussiten in Böhmen (s. Kap. 9.10). Der wortgewaltige Franziskaner Berthold (Regensburg) legte Mitte des 13. Jahrhunderts den Herren nahe, Bauern nichts Böses zu tun, da sie aus ihnen dauerhaft „Nutzen“ ziehen wollten. Bauern mahnte er, nichts vom Zehnt abzuzwacken, denn sonst würden sie „hier wie dort nimmer selig werden“. „Hier“ konnten die Menschen von dem Abgezwackten satt werden und zehrten es „mit Weib und Kind“ auf, wie Klosterkämmerer verärgert anmerkten. Zehnteinzieher, auch „Dezimatoren“ genannt, „dezimierten“ Lebensnotwendiges. Kloster-Unfreie mussten Getreidegarben auf dem Feld bewachen, damit Diebe – hungrige Bauernfamilien oder raubritterliche Nachbarn? – sie nicht stehlen oder, widerständig, durch Brandstiftung vernichten würden. Widerstand und Absprache belegen auch die gegen den Willen der Menschenbesitzer vereinbarten Partnerschaften. Nüchtern hieß es, „ist das Bett beschritten, ist die Eh erstritten“ und einzelne sympathisierende Priester segneten diese Eheschließung auch ohne grundherrliche Zustimmung. Ein Bischof in Freising, 821, sah nur seine Rechte-anMenschen, rights-in-persons: Tenil, frei, und Meripurg, unfrei, wollten heiraten. Sie lebten schon lange gemeinsam und hatten zwei Söhne, doch der Bischof weigerte sich, Frau und Kinder aus dem Besitz der Kirche St. Maria zu lösen, es sei denn, Tenil würde ihn mit Land entschädigen. Tenil hielt Familienrat und trat in dem sich über drei Jahre hinziehenden Verfahren Land ab. Wichtig war dem Paar, dass auch nach ihrem Tod die Söhne Freie bleiben würden. 130 Menschen wehrten sich, wenn ihre Herrschaften Lasten steigern oder alltägliches Verhalten reglementieren wollten. Sie schlossen sich, vielleicht angesichts der neuen Unterdrückungen, schon in karolingischer Zeit zu Gilden zusammen. 131 Kämpfe gegen Belastungen oder gar für Selbstbefreiung, „Aufstände“ gegen Be-sitzende, waren Widerstand gegen Neuerungen, denn letztere saßen nicht still,

Siegfried Epperlein, Herrschaft und Volk im karolingischen Imperium: Studien über soziale Konflikte und dogmatisch-politische Kontroversen im fränkischen Reich, Berlin 1969; Ranke, „Agrarische Denkweisen“, 218–221; Köbler, „Bauer“, 238–240. 130 Epperlein, Bäuerliches Leben, 59, 62 (Prüm, Eifel, 1222), 85–88, 105; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 48–50, 60; Neusychin, Abhängige Bauernschaft, 569–571. 131 Otto G. Oexle, „Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit“, in: Jankuhn u. a., Handwerk, 284–354. 129

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

sondern bauten ihre Position aktiv aus. Ein Abt von St. Emmeram wollte 1030 den Lebenseigenen in Vogtareut den Zins erhöhen. Sie handelten sich als Gegenleistung aus, dass sie und ihre Nachkommen nicht mehr an andere Orte versetzt werden dürften. Servi in Berndorf, die der Regensburger Bischof 829 an einen Abt vertauschte, verfassten eine Appellation, als der neue Besitzer widerrechtlich zusätzliche Leistungen verlangte. Da er sich auch nach Rechtsverlesung am Gerichtstag weigerte, das iniurium abzustellen, war der Bischof gezwungen, das Geschäft rückgängig zu machen. Wie hatten die servi sich organisiert? Sie kamen regelmäßig an Gerichtstagen zusammen, alle waren mit Augen und Ohren Zeugen der Verhandlung, alle hatten Teil am symbolischen Akt der Erinnerung. 132 Viele ähnliche Auseinandersetzungen sind belegt. 133 Als ein neuer Bischof in Münster „seinen“ Bauern die gewohnte Schweinemast im Wald verbot, vertrieben sie seinen Abgesandten (2. Hälfte 11. Jh.). Als eine neue Äbtissin des Klosters Sonnenburg in Südtirol begann, lebenseigenen Familien als Todfall die Hälfte ihres Besitzes abzunehmen, klagten diese am Gerichtstag und die Äbtissin musste sich, wie vorher üblich, mit Einzug des Besthauptes begnügen (Anf. 13. Jh.). In Flinsburg, Besitz des Klosters Niederaltaich, baten durch langanhaltende Gewalttätigkeit weltlicher Granden erschöpfte unfreie Familien, „die königliche Kopfsteuer, die Abgaben in Bier und Lämmern, die Bearbeitung der Fronfelder, das Mähen und Eggen, die Erntearbeiten, die winterliche Fron in den grundherrschaftlichen Handwerksbetrieben“ u. a. m. abzuschaffen. Der Abt nutzte die Beschwerde, um von Naturalauf Geldabgaben umzustellen und stimmte zu – gegen eine jährliche Abgabe von 50 Pfennigen je Viertelhufe, etwa der Wert eines halben Schweins (1257). In Hungerzeiten brachen Menschen in Vorratslager ein, rächten sich an Besitzenden durch Brandstiftung und nahmen, in einem Fall, ihrem mit großem

Gefolge zur Kirche reitenden Bischof das Pferd und verspeisten es. In Städten waren Bäcker, die durchaus nicht immer Mehl horteten oder Brot überteuert verkauften, Angriffsziel Hungriger. 134 Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen schien frag-würdig: Bedeutete sie einen weiteren Dienst, Gottesdienst, oder galt sie Erholung und Vergnügen? Nach einer weit verbreiteten Geschichte aus dem östlichen Harzvorland wollten Gemeindemitglieder – das Jahr war 1201 – vor der Kirche tanzen. Der Priester verbot dies, die „Tänzer von Kölbigh“ wehrten sich: „Du bist drinnen fröhlich, so lass uns außen fröhlich sein.“ Der Priester fluchte daraufhin nicht nur unchristlich, sondern verfluchte alle im Namen Gottes. Er hatte Erfolg, die Widerspenstigen waren „angebannt“ – eine klassische Kunst der Magie – und konnten sich nicht mehr bewegen. Als die Verwandten und Nachbarn beharrlich murrten, hielt der zuständige Bischof in Mainz es für sinnvoll, den Fluch zu lösen. War auch er Magier? Im Großarltal, einem Seitental der Salzach, lebte – wie erzählt wird – einst „der Rester“, der anbannen konnte. 135 Die Menschen kalkulierten Chancen, mit Selbsttradierung an einen kirchlichen Schutzherrn, Abzug in Rodungsgebiete und Abwanderung in Städte als wichtigste Strategien. Dabei wägten sie Optionen ab: Im Kloster St. Emmeram sanken Selbsttradierungen in Zensualen-Status, als die benachbarte, aufsteigende Stadt Regensburg attraktiv wurde. „Zahlreiche Unfreie, die sich von ihrem Herren loskaufen konnten, wurden wohl lieber Bürger der Stadt als Muntleute des Klosters.“ Stadtwanderung wurde im späten 11. Jahrhundert Menschen-rechtliche, wenn auch nicht Kirchen-rechtliche Option. Kircheninstitutionen konkurrierten um Arbeitskraft. Als die Salzburger EB→FEB nach dem Großen Sterben von den Überlebenden zusätzliche Abgaben forderten, wehrten diese sich gegen die unerträglichen – ihren Erträgen nicht ent-

Wilhelm Störmer, „Frühmittelalterliche Grundherrschaft bayerischer Kirchen (8.–10. Jahrhundert)“, in: Störmer, Mittelalterliche Klöster, 431–468, bes. 459–460. Für den karolingischen Herrschaftsbereich insgesamt: Marios Costambeys, Matthew Innes und Simon MacLean, The Carolingian World, Cambridge 2011, 263–270. 133 Kartografische Darstellungen der Widerstands- und Befreiungsbewegungen der Unterschichten, Mitte 9. bis 2. Hälfte 15. Jahrhundert, bot im deutsch-sprachigen Raum lange nur der Atlas zur Geschichte, hg. vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, 2 Bde., Gotha 1976, 1:46. 134 Epperlein, Waldnutzung, 23–24; Dollinger, Bauernstand, Zitat 144, 160–161, 232; Curschmann, Hungersnöte, 52–53. Umrechnungen von Geld in Ware sind schwierig. Sie hängen von Zeitraum und Region ab. 135 Ranke, „Agrarische Denkweisen“, 215–216. 132

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Widerständigkeiten selbstständig denkender Männer und Frauen

sprechenden – Summen und drohten (1391 im Pongau) lieber ihr Land zu verlassen als die UnSummen zu zahlen. 136 Weitere Optionen bot Weg-zug entweder in den von Heerführern europaweit angebotenen SöldnerArbeitsmarkt oder in kirchlich angeregte, aber auch klimatisch bedingte Kreuzzüge. Für letztere meldeten sich in Hungerjahren besonders viele. Andere nutzten die Wege in die entstehenden Polnisch-Litauischen und Moskauer Herrschaftsräume. Dort hatten (Klein-) Adelsfamilien ihren Unfreien Abwanderung in Städte verboten und Herrscher luden Anderssprachige als Städter*innen ein und boten ihnen Status nach Magdeburger Recht, damit sie Steuern zahlen würden. Abnehmende Optionen „zuhause“ förderten oder erzwangen Aus-Wege oder „Heim“-Suchen. Als im 13. Jahrhundert Ackerland knapp und die Herrscher-Expansion nach Böhmen, Polen und Ungarn gescheitert war, suchten landbesitzende Adlige, reiche Bauern und alteingesessene dörfliche Familien die gmain-Rechte an Allmende und Waldnutzung zurückzudrängen. Sie behinderten den Armen dadurch Kuhhaltung und Schweinemast, also die Versorgung mit Milch und Speck. Im „Sachsenspiegel“ hieß es, dass Bauermeister denjenigen anklagen könnten, der „vom Gemeindeland seiner Bauern etwas abpflügt, abgräbt oder einzäunt“. 137 Eigenleute zogen in Fällen hochgeschraubter Belastungen ab, Bischöfe verboten ihren Städten, das heißt ihren aktiven Städter*innen, fliehende Lebenseigene aufzunehmen. König Heinrich VII., der die Bedeutung städtischer Wirtschaft erkannte, legte jedoch „Edlen und Ministerialen“, die Eigenleute zurückforderten, die Beweislast auf (1224). Um ihre Forderungen durchzusetzen, mussten sie in die Stadt gehen. Dort wurden sie so ungern gesehen, dass Stadträte sie vor „Bedrückung und Beleidigung“ schützen mussten. Im Rahmen verknappter Ressourcen verwickelten sich mehr und mehr „Edle“ oder Streithähne in Fehden. Ihre Zerstörungen zwangen weitere ländliche Menschen, Schutz und Lebenschancen hinter Stadtmauern zu suchen. 138

Unter den Unfreien fanden manche sich mit ihrer Untertänigkeit ab und hatten ein Auskommen unter Grundherren, die, wie der Abt an der Ilm, ihr Wohlergehen als christlich und dem eigenen Wohl zuträglich ansahen. Einige setzten sich aktiv zur Wehr, so 1279 die Bauernfamilien in Wieting gegen die Mönche von St. Peter. Andere wehrten sich mündlich und sangen bei convivia und in Dorfkrügen „Trutzstrophen“, die ihnen gelegentlich bezahlte „Schelter“ entwarfen. Sie reflektierten ihre oft düsteren Lebensumstände kontextkonform, aber personenunabhängig in Erzählungen. In der Salzburger Region geschah dies „aus grauen Zeiten her“ in der Legende über die Entstehung des WatzmannMassivs in den Berchtesgadener Alpen mit Doppelund kleineren Gipfeln. Einst, in undenklicher Frühzeit, lebte und herrschte in diesen Landen ein rauher und wilder König, welcher Watzmann hieß. Er war ein grausamer Wüterich, der schon Blut getrunken hatte aus den Brüsten seiner Mutter. Liebe und menschliches Erbarmen waren ihm fremd, nur die Jagd war seine Lust, und da sah zitternd sein Volk ihn durch die Wälder toben, […] gefolgt von seinem ebenso rauhen Weibe und seinen Kindern, die zu böser Lust auferzogen wurden. [… Er] vernichtete die Saat und mit ihr die Hoffnung des Landmanns. Gottes Langmut ließ des Königs schlimmes Tun noch gewähren. Eines Tages [… traf die wilde Jagd auf die Hütte einer Hirtin mit ihrem Kind und der Herde. Die Hundemeute biss mit scharfen Zähnen in den Leib des Kindleins und riss] die schreckensstarre Mutter zu Boden […]. Der König kam indes nahe heran, sah das Unheil und stand und lachte. [… Er] hetzte mit teuflischem Hussa Knechte und Hunde auf den Hirten, der sein ohnmächtiges Weib erhoben und an seine Brust gezogen hatte und verzweiflungsvoll erst auf sein zerfleischtes Kind am Boden und dann gen Himmel blickte. […] Aber alles hat ein Ende und endlich auch die Langmut Gottes. Es erhob sich ein dumpfes Brausen, ein Donnern in Höhen und Tiefen, in den Bergesklüften ein wildes Heulen, und […] jener Leiber erwuchsen zu riesigen Bergen, und so steht er noch, der König Watzmann, eisumstarrt, ein marmorkalter Bergriese, und neben ihm, eine starre Zacke, sein Weib, und um beide die sieben Zinken, ihre Kinder [… So] hatte sein Reich ein Ende. 139

Dollinger, Bauernstand, Zitat 313; Herbert Klein, „Das große Sterben von 1348/49 und seine Auswirkungen auf die Besiedlung der Ostalpenländer“, MGSL 100 (1960), 91–170, hier 100–103. 137 Epperlein, Bäuerliches Leben, 137–140, zitiert Kap. „Landrecht“, 3. Buch, Artikel 86, §§ 1–2. 138 Epperlein, Bäuerliches Leben, 152–158. 139 Die Erzählung, in einer Reihe von Varianten überliefert, wurde im 19. Jahrhundert aufgezeichnet. Volksbüchlein, Ludwig Aurbacher (Hg.), 11827; Deutsches Sagenbuch, Ludwig Bechstein (Hg.), 11853; u. a. Jutta Assel, Georg Jäger, „Sagen-Motive auf Postkarten“, erläutern im Goethezeitportal die 136

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.24 König Watzmann von Gott zum Berg versteinert (Postkarte) Die Zahl der Kinder variiert in den Versionen der Erzählung, topologisch gibt es fünf kleinere Gipfel.

In dieser erzählerischen Verarbeitung von Erfahrungen, wie sie Abt Poppo über Fehden und andere Chronisten über den streitenden Hz Friedrich II. Babenberg berichteten, ist Christentum Erlöserreligion. Gottes Eingreifen ließ aus gewalttätigen Machthabern steinerne Mahnzeichen für die Lebenden werden. Die aus der offiziellen Erinnerung Ausgegliederten schufen sich ihre eigene. Sie thematisierten Probleme wie Hunger und die Trauer von Eltern, die ihre Kinder nicht ernähren konnten. Gatekeeper bezeichneten diese Autoreflexionen abwertend als „Märchen“, denn sie verstanden deren Rolle als zentrales Kulturgut nicht. Die Sequenz von Wehrhaftigkeit war dicht:

1291 (vermutlich) Schwur der Menschen in Uri, Schwyz und Nidwalden gegen die tyrannischen Vögte der Familie Habsburg; 1299 Widerstand der Bauern-Familien gegen den Zisterzienser-Bischof von Münster – dieser befahl seinen Pfarrern, die Bauern wegen Verweigerung des Zehnt und Widersetzlichkeit zu exkommunizieren; seit dem späten 13. Jahrhundert Widerstand in der Umgebung von Augsburg und in Tirol; 1323 Kämpfe der Bauern in Flandern und 1336 bis 1338 in Franken und im Elsass gegen alle, die müßig Brot äßen und (unter einem kleinritterlichen Anführer) gegen dörfliche Judengemeinden; 1338 und 1358 in Frankreich; 1381 in England; 1395 in Katalonien; 1404 in Dithmarschen. Hinzu kamen Aktionen städtischer Handwerker. Angreifer einer Burg sangen, „was Hände gebaut haben, das können wohl Hände brechen“. Schwyz und Basel waren kirchlich durch Konzile und herrschaftlich durch die Familie Habsburg der Kirchenprovinz Salzburg nahe. Die Eidgenossen siegten 1315 über das habsburgische Heer bei Morgarten, 1386 kam Hz Leopold in der Schlacht bei Sempach um. Ihre Selbstständigkeit würde 1499 Kaiser Maximilian I. im Frieden von Basel anerkennen müssen. Zwei Jahre später schlossen die Baseler Stadtbürger*innen sich der Eidgenossenschaft an. 140 Die Autoren des Sachsen- und des Schwabenspiegels verstanden Widerstand als Re-Aktion auf das Fehlverhalten Mächtiger und als rechtens. 141

7.10 Neue Diskurse über ländliches Leben: Städter, Sänger, Wandermönche In der Zeit, als verdunkelnde Männer ihre ordoIdeologie formulierten und un-ordent-lich Fehdeführende sie untergruben, entwickelten einzelne Beobachter gesellschaftliche Perspektiven. Geistliche und Rechtspraktiker, Künstler und Literaten, Wandersänger und Wandermönche begannen,

ländliche Menschen als Wirtschaftssubjekte wahrzunehmen; Land- und Gottesfriedensbewegungen forderten Schutz für Bauern; Buch- und Glasmaler sowie Grafiker stellten, anfangs vereinzelt, bäuerlich und handwerklich Tätige dar. Fahrende – Sänger seit Ende des 12. und Mönche seit Beginn des

Entwicklung der unterschiedlichen Fassungen, http://www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/legenden-maerchen-und-sagenmotive/ koenig-watzmann-eine-sage-ueber-die-entstehung-der-berggesichter.html (10. September 2020). 140 Die Entwicklungen in der Westschweiz sind als nationale Heroenerzählung oder Ursprungslegende dramatisiert worden. Den Schwur 1291 leisteten aufsteigende, Führung anstrebende Schichten. De iure endete die Zugehörigkeit zum ZWR/HRR erst 1648. 141 Forschungen zu Widerstand datieren erst aus den 1960er Jahren, bes. Barrington Moore Jr., Eric Hobsbawm, George Rudé, E. P. Thompson und, in den 1970er Jahren, Michel Mollat und Philippe Wolff, Rodney Hilton, Dirk Hoerder, Guy Fourquin. Sprachlich gibt das Englische crowd action den Charakter der Bewegungen besser wieder als „Massenbewegung“ im Deutschen. James C. Scott, Weapons of the Weak: Everyday Forms of Peasant Resistance, New Haven 1985.

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Neue Diskurse über ländliches Leben: Städter, Sänger, Wandermönche

13. Jahrhunderts – setzten sich mit dem Spannungsverhältnis von ritterlichem und ländlichem Leben auseinander, städtisch sozialisierte Autoren mit ländlichen und urban-kaufmännischen Lebensund Wirtschaftsformen. Land- und Gottesfriede, Pax Dei, oder zumindest Waffenruhe, Treuga Dei, hatten die Geistlichen der Synode in Charroux (Auvergne, 989) gefordert und, ein Jahrhundert später, die Autoren der Pax dioecesis in Bamberg (1085). Die Forderung hatte auch elitensoziologische Aspekte: Der hohe weltliche und geistliche Adel, bedroht durch kostenträchtige Privatkriege und (Kirchen-) Raub der raub-ritterlich-adligen Zwischenschichten, wollte seine Position absichern. Benediktiner*innen werteten ländliche Arbeit nicht mehr als Folge des Sündenfalls, sondern als gutes Werk. Doch durften ländliche Familien sich seit dem karolingischen Waffenverbot, vereinheitlicht im Landfrieden von 1152, gegen die zahllosen Übergriffe nicht wehren. Da diese auch gesamtwirtschaftlich schädlich waren, dehnte König Heinrich VII. 1224 seinen Schutz auf alle agricolae und umzäunte Dörfer aus sowie auf die niedere Geistlichkeit, Reisende und Kaufleute. Der Strafkatalog beleuchtete das gesellschaftliche Desaster: Brandlegende Burgknechte Adliger waren zu bestrafen: „Der Rote“, der Feuerleger mit seinen Kumpanen, war in Volkserzählungen der Böse schlechthin, selbst der Teufel wurde weit komplexer dargestellt. Angesichts der neuen Fehdepraxis hätten Wehrgelder analog zu alten Rechtssetzungen entwickelte Zahlungssysteme erfordert. Die ritterlichen Gewalttäter nahmen, was immer sie wollten, auch Sex: „Frauen sollen von niemandem Vergewaltigung erleiden“ hieß es 1104 im Schwäbischen Landfrieden. Die adligen Männer und ihre Knechte taten „das einzige, was sie wirklich gelernt hatten: ein Schwert zu führen“. 142 Vormals hatten an Gerichtstagen die Versammelten Gewalttäter bestraft. Angesichts des neuen und umfassenden Kirchen-Dekret-Rechts BolognaRoms und der neuen Gerichts-Herren, die oft eigene Interessen vertraten, wurden letzteren gebildete Erinnerungsträger, Schöffen, zugeordnet. Im sächsischen Rechtsbereich schrieb Eike von Repgow

Rechtstraditionen und -praktiken in niederdeutscher Sprache als „Sachsenspiegel“ auf (zw. 1220 und 1235). Er stammte aus einer Schöffenfamilie, war als Begleitung reisender Herrschaft regional bewandert und mit allen Ständen vertraut. Menschen der Salzburger Kirchenprovinz betraf der Bayerische Landfriede (1244), der neben dem Friedensgebot das Tragen von Waffen und die Kleidung von Bauern regelte. Ein Augsburger Minorit stellte lokale Gewohnheitsrechte, römisch-historisch staatsbürgerliche und institutionell-kirchliche Rechte um 1275/80 als „Schwabenspiegel“ zusammen. 143 Hingegen ging das Österreichische Landrecht (1278), revidiert nach einem „Adelsaufstand“ (1295/96), aus Adelskonkurrenzen hervor und war gegen den Einfluss der „schwäbischen“, das heißt habsburg-vorderösterreichischen, zugewanderten Vasallen des Hz gerichtet. Es sollte die faktische, wenn auch nicht juristische Reichsunmittelbarkeit der grundbesitzenden Magnaten wiederherstellen. Die Friedens- und Rechtsspiegelbewegungen waren komplexe Versuche kirchlicher und städtischer Intellektueller, in „volkstümlicher“ Sprache Rechtssicherheit für die breite Mehrheit in einem verbindlichen politisch-gesellschaftlichen Rahmen zu erreichen. Sie sahen die Wirtschaftsleistung der Untertanen als zentral für die Finanzierung von Herrschaft und zielten darauf, private Fehden (violence) durch ein einheitliches, dynastisch-staatliches Gewaltmonopol (force, enforcement) zu ersetzen. Das Einheben von Abgaben setzte den Schutz der Produzierenden voraus, Kommunikation und Fernhandel den Schutz von Reisenden, Händlern und Kaufleuten. Dies „neue“ Denken entsprach dem zielstrebig vergessenen Interesse der Gesamtheit, Res publica, und der Pax romana, die private Kriege verhindert hatte. Ritterlich-volkstümliche Sänger begannen ebenfalls über das Verhältnis der sozialen Schichten zueinander nachzudenken. Ein Tegernseer Mönch verfasste in hoffnungsvollem Wunschdenken ein Ritterspiel: Die Hauptfigur Ruodlieb handelte weise, ausgleichend und vorbildhaft; einen üblen „Rotschopf“ verprügelten die Bauern; ein eifriger und

Wenskus, „Bauer“, 20–21; Reinhold Kaiser, „Gottesfrieden“, Lexikon des Mittelalters, 4:1587–1592; Epperlein, Bäuerliches Leben, 160–173, (sinngemäßes) Zitat aus „Seifried Helbling“; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, Zitat 131. 143 Die Namen der Sammlungen stammen meist aus späterer Zeit. 142

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aufrichtiger Knecht gewann die Liebe der verwitweten Bäuerin und wurde, zum Mann genommen, Hofbesitzer. Ablehnend gegen ländliche Menschen schrieben die Wanderdichter Neidhart aus Reuenthal (~1180–1247), Wernher der Gartenaere (~1250), „der Stricker“ (~1220–~1250) – Künstlername für einen „Geschichtenknüpfer“? – und ein anonymer Autor im „Kleinen Lucidarius“ 144 (1282– 1299). Aus urbanem Wiener Kontext stammten der Völker- und Sprachenspiegel des Patriziers Jans („Weltchronik“, 1270er Jahre) und die Reime Heinrich Teichners (Mitte 14. Jh.). Hingegen verfasste Ottokar aus der Gaal seine „Österreichische Reimchronik“ (~1300–1310), die Informationen über untere Schichten enthielt, im Interesse des Landesherrn. Prediger der neuen Minoritenorden behandelten, ausgehend vom urbanen südwestdeutschen Raum mit Augsburg als Zentrum, soziale Themen. Sänger und Prediger konkurrierten um Zuhörer*innen und suchten wirtschaftlich-soziale Entwicklungen in neuen gesellschaftlichen Diskursen zu fassen. Manche Autoren bezogen bäuerliches Leben deskriptiv und ohne Herablassung ein, zeigten sich jedoch von den Veränderungen der Hierarchien irritiert. Hartmann aus Aue (Schwaben, gest. zw. 1210 und 1220) und Neidhart beschrieben Ritter, die unstandesgemäß barfuß gehen und Korn kaufen mussten; sie kritisierten die Einbeziehung inferiorer Personen in Kriegsdienst und Verwaltung. Der städtische Teichner bezeichnete verarmte Ritter verächtlich als vom Marktpreis des Getreides abhängige bäuerische „Herren“; statt ehrenhaften Schwertdienstes leisteten abgesunkene Ritter und aufgestiegene Bürger nur noch Beuteldienst aus dem Geldsäckel. Manche Autoren sahen die neue Schicht wohlhabender, jedoch nicht immer freier Bauernfamilien in Kärnten und Tirol, die durch das Tragen von langem Haar, teurer Kleidung und Trinken von Wein übermäßig Besitz und Selbstgefühl zur Schau stellten, als zu „trutzig“ gegen die Oberen. Der einzige Weg, Standesgrenzen zu überschreiten, war für eine freie bäuerliche Familie Heirat „nach oben“ in eine

kleinadlige Familie, die materielle Vorteile suchte. Die öffentliche Performanz der wohlhabenden Bauern, literarisch meist übertrieben dargestellt, erweckte Angst; die von den Oberen schnell erlassenen Kleiderordnungen bezogen sich gender-spezifisch oft nur auf Bauersfrauen. 145 Des landes sit [Sitte] in Ôstarîch und deren Veränderungen besprachen im „Kleinen Lucidarius“ Herr und Knecht, analog zum gelehrten Dialog zwischen Meister und Schüler. Ritter erschienen, wie bei Wernher, als geckenhaft, verroht, ungebildet; Kleinadlige, die „in unrechter Fehde die Bauern anderer einheimischer Adliger brutal ausplündern“, als „gewöhnliche“ Brecher des Landfriedens. Als Ver-brecher? Nur charakterlose Lehnsherren nähmen dies hin. Statt traditioneller Sitte und persönlicher Integrität sei Unteren wie Oberen nur Hab und Gut wichtig. Gemäß Tradition sollten die Niederen den Höheren folgen, der Dienstmann dem Fürsten treu sein, aber, als Neuerung, nicht das Wohl seiner Familie, sondern das des Herrschaftsbereichs im Blick haben. In Gesellschaftskritik beurteilten Herr und Knecht bäuerliches Fehlverhalten als ärgerlich, das der höheren Stände als gesellschaftsschädigend. 146 In urbanem Kontext sozialisierte Autoren artikulierten das Spannungsfeld, das sich aus dem Wandel von Wirtschaft und Hierarchien ergab, intensiv. Heinrich Teichner sah alle Gewalt von Gott ausgehen; wer sich ihr widersetze, untergrabe die gute Ordnung. Die Menschen aller Stände seien nach integrem Handeln statt nach Geburt zu bewerten. Heerfahrt nur der Beute willen und kleinritterliches Berauben von Witwen und Waisen sei standeswidrig. Alle Stände sollten Mäßigung zeigen, Frauen bescheidene Kleidung tragen. Während der Stricker reiche höfische Repräsentation akzeptierte, plädierte Teichner für Freigiebigkeit gegenüber Armen als einzig akzeptabler Repräsentation von Stand. Zwar möge niemand neuen Sitten folgen, doch sei Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen sinnvoll: Adlige in finanzieller Bedräng-

Die etwa 8400 Verse umfassende Schrift nahm Bezug auf die älteste deutsch-sprachige theologische Enzyklopädie, den großen „Lucidarius“ des späten 12. Jahrhunderts. 145 Ranke, „Agrarische Denkweisen“, 207–221, Zitat 208; Ulrich Seelbach, „Hildemar und Helmbrecht: Intertextuelle und zeitaktuelle Bezüge des ‚Helmbrecht‘ zu den Liedern Neidharts“, in: Theodor Nolte und Tobias Schneider (Hg.), Wernher der Gärtner. „Helmbrecht“, Stuttgart 2001, 45–69, hier 55. Vgl. auch Gurjewitsch, Stumme Zeugen, 17–33. 146 Fritz P. Knapp, „Standesverräter und Heimatverächter in der bayerisch-österreichischen Literatur des Spätmittelalters“, in: Nolte und Schneider, Wernher, 9–24. 144

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nis sollten, statt eines shape-shifting zum Raubritter, einen – wenn nötig unstandesgemäßen – Beruf ergreifen. Fast wie Hrabanus Maurus um 800 kritisierten um 1300 die Wiener Patrizier Jans und Teichner die Behandlung Abhängiger wie Sklaven: Schildknechte, die hungrig durch Nässe und Kälte reiten müssten, um in Herbergen für ihre Herren Quartier zu richten, würden weder Essen erhalten noch wissen, wo sie ihr Haupt hinlegen könnten. Teichner lobte die bäuerliche Produktion von Nahrung, Jans ging auf die Tuchindustrie und das Bauhandwerk ein, auf Erzverarbeitung ebenso wie auf Schriftlichkeit und Musik. Wie standen Salzburger Erzbischöfe zu diesen Schriften – ließen sie sie abschreiben oder Abschriften kaufen? In ihrer Stadt publizierte niemand. Fremde erschienen Autoren als eigen-artig und bedrohlich. Die übergreifend-ortlose ständische landes sit (diskursiver Singular) war bedroht von Umherziehenden anderer Sitte (askriptiver Singular), besonders von Söldnerhaufen. Fremde waren visuell auffällig: „unrechte“ Österreicher mit ungarischer Haartracht und ausländischer Kleidung; Sesshafte äfften „die“ Thüringer, Meißner oder Sachsen nach, verwendeten flämische und andere Sprachen, fraßen und soffen wie die Bayern, verheirateten ihre Töchter mit Schwaben. Letztere, Gefolge des zugewanderten fremden Landesherrn, waren ab-stoß-ende, ab-scheu-liche Andere. Fliehende Hörige von nah und fern suchten städtische Jobs und andere Fremde ließen sich nieder: „ein Pole aus Bruck, ein Meißner aus Hainburg, ein Brabanter aus Marchegg, ein Böhme aus St. Pölten“. In diesen Bewertungen trafen drei Wahrnehmungsund Handlungsstränge zusammen. Kleinräumliche Denkweise ließ Anderes als bedrohlich erscheinen, im Fall der Soldateska war es bedrohlich. Großräumliche Sicht, wie in der „Weltchronik“, ließ Heiden sichtbar werden. Drittens waren Fern-Kaufleute jüdischen Glaubens mit Sonderrechten sichtbar. Hingegen galten die sich selbst ausgrenzenden und privilegierenden, meist zugewanderten Kleriker als zugehörig – jedenfalls in verschriftlichter Sichtweise. 147 Im Vergleich zu diesen, gesamtgesellschaftliche Topoi behandelnden Autoren bezogen sich die

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vielfach erforschten Minnelieder nur auf die Eliten. Die Kunstform „wanderte“ aus dem islamischen Iberien nach Südfrankreich, wo auch Sängerinnen aktiv waren, und verbreitete sich, als „höfische“ Kultur die Konkurrenz „städtischer“ erfuhr. Sie verschwand nach nur einem Jahrhundert. Gesponserte Sänger auf Burgen und an Höfen erfanden für ihre Mäzene und Mäzeninnen die ritterliche „Minne“. Im Zuge der Konzentration zu höfischen Großbetrieben mit blühendem und kostenträchtigem Turnierwesen idealisierten sie Ritterlichkeit, Dienst an lieblichen Damen, gelegentlich heroisch sterbende Ritter wie im strahlenden Roland- oder schicksalsverstrickte wie im düsteren Nibelungenlied (Anf. 13. Jh.): „Ein seltsamer Begriff von Geschichte, dem sterbende ‚Helden‘ wichtiger sind als Menschen, die leben wollen.“ 148 Writing places vieler Autoren waren Städte und, sozial, Verortung im Bürgertum. Wie Grundherren auf „knechtische“ Arbeit herabgeschaut hatten, blickten Städter*innen auf bäuerliches Leben. Im Rahmen geläufiger Bauernschelte erfanden sie den dörper, den männlichen Bauerntölpel, ergänzt durch sich herausputzende Mägde und sich im Übermaß kleidende, reich gewordene Bauernfamilien – dies stand ihnen nicht zu. Auch die Alltagskleidung ländlicher Männer und Frauen ergab in der visuell orientierten Gesellschaft eine Gleichung: einfache Kleidung = einfache Gemüter. Im Französischen wurde aus village lautähnlich vilain = hässlich, aus village im Englischen villain = Übeltäter. Arbeitskleidung galt und gilt in vielen Kulturen als Zeichen von Minderwertigkeit. Handwerker, die oft Lederschürzen trugen, wurden im Englischen abwertend als leather aprons bezeichnet, Dienstleute nur als hands. Die wasserabweisende Kleidung von Seeleuten machte sie generisch-abwertend zu „Jack Tar“ ohne Eigennamen. Klischees über Kleidung sagen viel über die Klischee-Bildner aus, deren literarische Diskurse unüberbrückbare soziale Gegensätze postulierten. Dörfler, rustici, lebten „unrecht“, grob, läppisch, in geistlicher Erbauungsliteratur auch „heidnisch, hinterhältig, dumm und faul“. Keiner der urbanen, klerikalen und ständedidaktischen Autoren teilte nahrungsschaffende funds of knowledge, wusste um flexible Reaktionen auf Ver-

Eng angelehnt an Knapp, „Standesverräter“, Zitate 13–14, 15. Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, Zitat 11; Brunner, Kulturgeschichte, 43–55.

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änderungen im Biotop, kannte agrarische Betriebstechnik. Ihre Abwertung war ihnen nutzbringend, denn sie rechtfertigte die schlechte Entlohnung bäuerlicher Tätigkeit. 149 Ein oft wiederholter Aspekt von Bauernschelte waren „Bauernhochzeiten“: Die Gäste trugen grobe Kleidung und löcherige Schuhe, fraßen, soffen, kotzten und tanzten ungeschickt. Ein bischöflicher Advokat in Konstanz erfand „die ungeheuerliche Schlacht des Hochzeitsmahls“. Wie Lebenseigene, die sich für ihre Hochzeit die Zustimmung ihres Besitzers hatten erkaufen müssen, zu über-mäßigem Essen kommen sollten, erläuterten die Autoren nicht. Auch ihre Messlatte war falsch, „Adelshochzeiten“ waren nicht Minnesang-höfisch: Streitereien um Rang und Hierarchie der Sitzordnung, übermäßiges Weintrinken und die Folgen. Seit Ende des 13. Jahrhunderts verfassten Autoren Ratgeber für die Gäste der Maß-Gebenden: Die Hochgestellten sollten ihr Essen nicht herunterschlingen, sich nicht betrinken, sich weder in den Zähnen noch in der Nase puhlen, nicht zappeln oder im Stuhl hängen, nicht fluchen, rülpsen und Frauen anstarren. Zu den angesprochenen Gästen gehörten auch Kleriker. 150 Der vita apostolica verpflichtete Kleriker in klösterlichen writing places wollten mit ihrer Gesellschaftskritik nach außen wirken. Sie erreichten einen Durchbruch, als die in Armut lebende Gemeinschaft um Franz von Assisi 1210 vom Papst zugelassen wurde (s. Kap. 9.6). Dass diese Wanderprediger ihr Denken in nur einem Jahrzehnt im gesamten lateinkirchlichen Europa artikulieren konnten, belegt, wie verbreitet Unzufriedenheit und kritisches Denken bereits waren. Texter agierten in Wien, der Steiermark, Tirol und Augsburg, nur im Salzburger Erzbistum war von diesen Entwicklungen wenig zu spüren. Der wohl aktivste „Volksprediger“ des 13. Jahrhunderts, der in Regensburg tätige franziskanische Denker Berthold, vermittelte gleiches wie Meier Helmbrecht seinem nach (raub-) ritterlichem Stand trachtenden Sohn: „tue das gute und lass das üble“. Feldarbeit sei die Basis der Gesellschaft: „nun bestell

das Feld./Du kannst mir glauben: Alle Edelfrauen/ verdanken der Bauernarbeit ihre Schönheit,/und alle Könige verdanken allein/der Bauernarbeit ihre Krone./Denn wie vornehm einer auch ist –/sein Stolz wäre nichtig,/wenn es die Bauernarbeit nicht gäbe.“ Die gelehrten Bettelmönche redigierten in ihren Konventen in Augsburg und Regensburg Rechtsund religiöse Texte. Friede sei Gottes Gebot und damit weltliches Recht. Sie stellten den Reichtum der kirchlichen und weltlichen Herrscher bloß, ihre eigene vita minorum sollte beispielhaft sein. Um 1500 würde aus Augsburg der Reformprediger Staupitz nach Salzburg kommen (s. Kap. 11.3). Berthold hielt, wie die Mehrzahl der Prediger und Sänger, an Hierarchie fest. Er drohte bäuerlichen Zuhörer*innen mit Höllenpein, sollten sie Zehnte nicht abliefern. Der umfassend gebildete Hugo (Trimberg) hingegen drohte demjenigen mit höllischem Feuer, der „arme Leute über bestehendes Recht hinaus zwingt und sie in großen Schaden bringt mit Abgaben, Ungeld und mit Steuern“ („Der Renner“, zw. 1296 und 1313). Die Mächtigen ließen sich nicht beirren und die inflationären Androhungen von Höllenpein mögen auch einfache Menschen wenig beeindruckt haben. In einer weit verbreiteten Erzählung folgte der Teufel einem Vogt, der besonders unbarmherzig Abgaben von Armen eintrieb. Erst als die Dorfbewohner*innen von „tiefstem Herzensgrund“ um Hilfe riefen, konnte er sie befreien und den Vogt in die Hölle mitnehmen. Auch in anderen Erzählungen erschien der Teufel als barmherzige Kraft. 151 Gesamtgesellschaftliche und staatstheoretische Konzepte entwarfen Denker wie der in England und Frankreich tätige Theologe Johannes (Salisbury, 12. Jh.) und der in Schwaben oder Tirol geborene Freidank (Vridanc, 12./13. Jh.). Gesellschaft sei wie der menschliche Körper: Fürsten als Haupt; Bauern als am Boden haftende Füße, ohne die weder Kopf noch Körper sich bewegen könnten. Zwischen beiden, benannt als Arme, Magen und Gedärme, gab es Steuereinnehmer und Amtsschreiber: „Wenn dieselben mit maßloser Gier alles in sich hi-

Ranke, „Agrarische Denkweisen“, 208–213; Köbler, „Bauer“, 238–240, Zitat 240. Heinrich Wittweiler, 1395, zitiert in Epperlein, Bäuerliches Leben, 211; Paul B. Newman, Daily Life in the Middle Ages, London 2001. 151 Hannes Kästner, „‚Fride und Reht‘ im ‚Helmbrecht‘ : Wernhers Maere im Kontext zeitgenössischer franziskanischer Gesellschafts- und Ordnungsvorstellungen“, in: Nolte und Schneider, Wernher der Gärtner, 25–43, Zitat 35; Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten, hg. von Franz Pfeiffer, 2 Bde., Wien 1862–1880 (Nachdruck Berlin 1965); Epperlein, Bäuerliches Leben, 250–251. 149 150

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neinstopfen und das Hineingestopfte zäh festhalten, so verursachen sie zahllose unheilbare Krankheiten, so dass durch ihre Schuld dem gesamten Körper Verderben droht.“ Gesellschaft, ländlich und urban, männlich und weiblich, sei ein „Tausendfüßler“ und nur Zusammenarbeit könne den „größtmöglichen Nutzen“ für alle bringen. 152 Dem positiven Konzept standen die negativen Erfahrungen der Mehrheit der Menschen gegenüber und sie drückten dies aus. Freidank, als Teilnehmer an einem Kreuzkrieg bewandert, führte ihre Erzählungen und Sprüche in der Reimsammlung „Bescheidenheit“ zusammen. Für ländliche Menschen war das Regime düster: Die Mächtigen eigneten sich Weiden und Allmende an und das Windmühlenregal belastete die Luft mit Abgaben. Die Verhältnisse im „deutschen Lande“ waren eine verkehrte Welt. Die deutschen Lande sind des Raubes voll: Gerichte, Vögte, Münz und Zoll, sie wurden zu gutem Zweck erdacht, nun sind sie zu Mitteln des Raubes gemacht. Was je man zur Verbesserung der Allgemeinheit verordnet,

die Höchsten und Hehrsten, sie brechen es als erste. Die Fürsten nehmen uns mit Gewalt Feld, Stein, Wasser und Wald und alle Tiere, wild und zahm. Am liebsten würden sie uns auch die Luft noch nehmen, die muss uns doch gemeinsam sein. Sie möchten uns der Sonne Schein verbieten wie auch Wind und Regen, man müsste ihnen hohe Steuern zahlen. Doch sollten sie daran denken, dass Mücken, Fliegen, Flöhe, Bremsen ihnen feind sind wie auch jedem Mann, der nie Schätze noch Land gewann. Ihre Herrschaft erscheint mir wie ein Wind, da böse Insekten ihre Meister sind. Mich dünkt, wenn jedermann Besitz nach seiner Tugend haben sollte, so würde mancher Herr zum Knecht, manch Knecht gewönne Herrenrecht. 153 Die Reflektierenden waren einfache Menschen, ihnen war Natur zentral und bildhaft.

7.11 Die Krise des 14. Jahrhunderts als demografische und alltagsweltliche Zäsur Die Bilder von Menschen in dysfunktionalen Welten hatten einen realen Hintergrund, denn auf ihrem Land konnten viele sich nicht mehr ausreichend ernähren. Dreiviertel der Hauswirtschaften beackerten nur drei bis fünf Hektar – zu wenig für eine mehr als fünfköpfige Hausgemeinschaft. Ärmere beschrieben die Situation im Rahmen derber, aber christlicher Bildlichkeit: „der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“. Diese diesseitige Fähigkeit des Teufels hatten die Kirchenväter bei der Entwicklung des jenseitigen Bedrohungsszenarios nicht berücksichtigt. Weder die zeitgenössisch propagierte Hand Gottes noch die weit später erfundene unsichtbare Hand des Marktes linderten Not. Es kam noch schlimmer: Während der großen „sterbensleuffe“, später „die Pest“ genannt, starb in nur vier Jahren zwischen 1347 und 1351 etwa ein

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Drittel aller Menschen in fast allen Teilen Lateineuropas und im östlichen Mittelmeerraum. Die Zäsur war familiär, gesellschaftlich und ökonomisch dramatisch und erinnerungsprägend. Sie traf Familien vom iranischen Hochland bis zum Baltikum, von Konstantinopel bis Iberien und Marokko, im Lungau, Waldviertel und in der Steiermark. Die Krise begann lange vorher: Landverknappung und schlechtere Ernährung als demografische Krisenpotenziale; ab 1301 Missernten, Viehseuchen, Naturkatastrophen; ab 1313 feuchte Sommer und nasse Frühjahrs- und Herbstzeiten. Dauerregen von April bis November 1315 führte zu einer nördlich der Alpen europaweiten, schweren Hungersnot, Getreidepreise stiegen ins Unerschwingliche. Wo die Kosten für Nahrung stiegen, sanken die Ausgaben für handwerkliche Produkte und de-

Zitiert in Epperlein, Bäuerliches Leben, 247–248. Freidanks Bescheidenheit, hg. von Heinrich E. Bezzenberger (Halle 1872), zitiert in Epperlein, Bäuerliches Leben, 137–138.

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ren Produzent*innen konnten sich nicht ernähren. Nach Schätzungen starb ein Zehntel der Menschen an Hunger und, körperlich geschwächt, an Krankheiten. EB Weichhard in Salzburg propagierte Hilfe. Er rief zu Pilgerfahrten zum Dom auf und zeigte „dem Volk“ die 560 Jahre früher überführten „ehrwürdigen“ Reliquien des hl. Rupert. Seine Geste blieb erfolglos, 1316 verwüsteten Überschwemmungen Flusstal und Stadt und ebenso entlang der Donau und im Murtal. 1347, nach vier Jahrzehnten voller Drangsale und Mangel, waren die Überlebenden geschwächt und krankheitsanfällig. 154 Spätere Erzähler behaupteten, die Pest sei aus China gekommen, doch gab es dort keine Epidemie. Die pathogenen Bakterien (yersinia pestis) kamen aus zwei Regionen. Erreger aus dem Gebiet von Äthiopien bis Jemen hatten die Justinianische europaweite Pest (541/2) und die nordafrikanische (740/ 50er Jahre) ausgelöst, der nachfolgende Arbeitskräftemangel hatte den Bedarf an Sklav*innen aus Westund Zentraleuropa erhöht. In den zwei Jahrhunderten dazwischen hatten weitere Epidemien besonders Italien, aber auch weite Teile Nord- und Osteuropas erreicht. In dem zweiten disease environment, Zentralasien, setzten sich in den 1340er Jahren mongolisch-muslimische Heere in Bewegung, um die italienisch-christlichen Kaufleute von der Krim zu vertreiben. Ohne es zu wissen, trugen sie die Krankheitskeime mit sich. Als sie die Stadt Kaffa belagerten, begann unter ihnen das Sterben und setzte sich innerhalb der Stadt fort. Verängstigte Kaufleute luden Hab und Gut auf ihre Schiffe und segelten – oft mit Zwischenstopp in Konstantinopel – nach Venedig und in andere italienische Häfen. Mit ihnen kamen, wissentlich, Ratten und unwissentlich Flöhe als Wirte der Bakterien: 1347 Pest in Konstantinopel, auf den adriatischen Inseln und in Hafenstädten; 1348 Ausbreitung durch das mittelmeerische

Europa und über die Rhône in Frankreich; an der Jahreswende 1348/49 über die Tiroler und Kärntner Alpenpässe ins Vintschgau und Pustertal, Nordtirol und ins Innere Mürztal. 155 Und weiter Richtung Norden: Pongau (November 1348), Fürsterzbistum Salzburg und übriges Österreich 1349. Für die Menschen zwischen Kärnten und Friaul kam im Januar 1348 ein schweres Erdbeben hinzu mit tagelang anhaltenden Nachbeben, Bergrutschen und plötzlich abfließenden, aufgestauten Wassermassen. 156 Am Jahreswechsel 1349/50 hatten die Überlebenden ein Drittel ihrer Familien und ihrer Nachbarn begraben. Vierzig Prozent der Höfe im Urbaramt Pongau des Klosters St. Petri lagen 1352 öd, die Mehrheit der übrigen bewirtschafteten nicht mehr die alten Hausgemeinschaften. Der Tod traf einige Gruppen härter als andere: durch Mangelernährung geschwächte Arme; Schwangere (Todesrate 100 Prozent); Priester, die Sterbenden die letzten Weihen gaben; Kinder und Altersschwache. Kleriker lebten meist gut genährt und unter besseren hygienischen Bedingungen, aber Übergewicht – verursacht durch Überernährung – und gedrängtes Klosterleben konnten Anfälligkeit und Ansteckung erhöhen. Im Gegensatz zu Kriegseinwirkungen betraf die Krankheit Sachwerte nicht, Überlebende konnten sie unter sich aufteilen. Da ihnen jedoch Arbeitskräfte fehlten, folgten tiefgreifende Veränderungen von Wirtschaftspraktiken (s. Kap. 10.1). Individuell bedeutete das Sterben emotionale Verunsicherung; Tod und Verderbnis prägten die Weltbilder. Manche Priester betreuten Kranke aufopferungsvoll, andere verschwanden und Sterbende erhielten kein Sakrament. Die Welt war, handwerklich gesprochen, aus den Fugen geraten. Einige Gläubige entschieden, durch Lande und Städte zu ziehen und sich ob ihrer und der Menschheit Sündigkeit durch Selbstgeißelung zu strafen. Institu-

David Herlihy mit Samuel K. Cohn, Jr., The Black Death and the Transformation of the West, Cambridge, MA 1997 (dt. 2007); Ole J. Benedictow, The Black Death 1346–1353. The Complete History, Woodbridge 2004, 3–54, 179–184; Monica H. Green (Hg.), Pandemic Disease in the Medieval World: Rethinking the Black Death, Kalamazoo, MI 2014. Anonymus Leobiensis (Loeben, Steiermark), Chronicon, für das Jahr 1316. Eine Eiskernanalyse des Schweizer Colle Gnifetti Gletschers durch ein Team des Scherrer-Instituts, Bern, zeigt eine rapide Abnahme landwirtschaftlicher Aktivitäten nach der Hungersnot, 1315–1317, und einen Stillstand für fast ein Jahrzehnt nach 1347. Klein, „Sterben“, beklagte die „Einsilbigkeit“ der Chronisten. 155 Die nördlichen und östlichen Gebiete Europas wurden 1353 betroffen. 156 Das „Große Villacher Beben“ hatte nach seismologischen Forschungen sein Epizentrum nahe Gemona in Friaul. Die Schäden in Villach und am Bergsturz des Dobratsch waren weit geringer, als zeitgenössisch erzählt: 50–200 statt 500–5000 Tote beim Einsturz der Villacher Kirche; die 17 angeblich untergegangenen Dörfer waren vermutlich eine Übertreibung der Mönche von Arnoldstein, um Hilfeleistungen zu lukrieren. Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, Wien 2007, 95, 131–165. Zahlreiche zeitgenössische Erzählungen belegen die schnelle Verbreitung der Nachricht. 154

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tionskleriker nahmen die Flagellanten wahr, tolerierten sie kurzzeitig, beendeten ihr Tun dann schnell. Andere geißelten nicht sich, sondern projizierten ihre Ängste auf andere: Sie vernichteten oder vertrieben Männer, Frauen und Kinder jüdischen Glaubens. Wohlhabende mit Landsitz, darunter hohe Kleriker, flohen und ließen Familienmitglieder und Klienten zurück. Sahen Menschen sich in höllischem Inferno und gaben sich ungezügelten Lüsten hin? Viele sahen Mönche der Fresslust ergeben, andere bewunderten die Askese der Minoriten. Alle Menschen sahen Kinder, Eltern, Partner*innen erkranken, leiden und sterben. Pflegten sie sie? Hatten sie Angst sich anzustecken und verließen sie? Waren sie selbst erkrankt und für Hilfe zu schwach? Die Fragen betrafen ihre Selbstsicht. Was bedeuteten ihnen der Bruch mit Werten und Solidarität, Emotionen, für die es keine Zeit gab, und Schuldgefühle? Die Krankheit war ihnen fremd, Leben in zerrissenen Netzwerken ebenfalls. Sie hatten trotz der klimatischen Bedrohungen ihr Leben in die Hand genommen und sahen sich plötzlich hilflos werden. Dies trugen sie mit sich. 157 Nach dem Krankheits- und Krisenerleben mussten viele aus abgelegenen und schwierig zu bewirtschaftenden Kleinregionen abwandern, um arbeitsteiliges Wirtschaften in überdauernden Siedlungen wieder aufnehmen zu können und Zugang zu den Diensten Geistlicher und weiser Frauen zu haben. Da nur ein Arbeitskraftpool bäuerliche Anwesen bewirtschaften konnte, mussten sie Hausgemeinschaften schnell rekonstruieren. Dem großen Sterben folgte ein Heiratsboom, Restfamilien nahmen überlebende Verwandte auf, verwaiste Kinder mussten sich ein Unterkommen suchen. Dies beschrieb ein Mann namens Niklein der Purgkletter in Kastelruth, Tirol: „Nach dem grossen Sterben chom er dahin [auf den Hof Planetsch] und fand nymand darinnen, newr eine alte frouwen und ein

klaines kindel, ir enichel [Enkel]. Do het er ain klains kindel, verhyratten dy kindel mit einander und hiet er, Nyklein, den hof an des kindlein statt inne.“ 158 Nikleins Schilderung datierte von 1380, denn durch nachfolgende kleinere Epidemien – 1357–1362, 1370–1375, 1380–1383 – sank die Bevölkerung bis 1420 weiter. „Flieh schnell und weit“ rieten gedruckte Pestschriften in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, denn „Kräuter“ gegen Pest böten Apotheken nicht. Den Stand von 1340 erreichte die Bevölkerung erst wieder um 1500. Das 1560 beginnende kalte Klima, auf dessen Höhepunkt Machteliten einen Dreißigjährigen Religionskrieg führen würden und dabei wiederum ein Drittel der zentraleuropäischen Bevölkerungen vernichten würden, hielt bis ins 18. Jahrhundert an. Die nach 1350 geborenen Generationen lebten mit den Folgen. Vor dem Sterben intensiv Landwirtschaftende reduzierten ihre Tätigkeit auf extensive Nutzung und in entleerten peripheren Regionen begann Wiederbewaldung. Getreide Anbauende mussten angesichts des kühleren Klimas widerstandsfähigere Sorten züchten und ihren Jahresarbeitszyklus ändern. Im Norden war Weinanbau nicht mehr möglich, Winzerfamilien mussten umsatteln; für ihre Kolleg*innen in Oberitalien und Bordeaux boomte der Verkauf. Fernkaufleute und Klosterfuhrleute, die zahlungskräftige Klöster und kirchlich-weltliche Eliten belieferten, reorganisierten ihre Routen. Grundherren warben um fähige Bauernfamilien für Hufen, die durch „goczgewalt … und der leut sterb“ frei geworden waren. Sie wollten, angesichts deren mangelnden Fähigkeiten, nicht immer Eigenleute ansetzen; Zuwander*innen und Umgesetzte mussten auf unbewirtschafteten Hufen Gebäude wieder in Stand setzen oder neu errichten. 159 Die natur- und humanwirtschaftlichen Veränderungen bewirkten gesamt-wirtschaftliche und -gesellschaftliche (Kap. 10). Viele Gläubige wandten sich Heiligen zu, besonders dem populären Rochus (Montpellier) und Sebastian (Mailand) als

Heinz-Peter Schmiedebach und Mariacarla Gadebusch Bondio, „‚Fleuch pald, fleuch ferr, kum wider spat …‘ – Entfremdung, Flucht und Aggression im Angesicht der Pestilenz (1347–1350)“, in: Irene Erfen und Karl-Heinz Spieß (Hg.), Fremdheit und Reisen im Mittelalter, Stuttgart 1997, 217–234. Christian Rohr, „Der Umgang mit Naturkatastrophen im Mittelalter“, in: Rohr, Ursula Bieber und Katharina Zeppezauer-Wachauer (Hg.), Krisen, Kriege, Katastrophen. Zum Umgang mit Angst und Bedrohung im Mittelalter, Heidelberg 2018, 13–56. 158 Nora Wattek, „Die Pest in Salzburg“, MGSL 123 (1983), 191–210; Leopold Öhler, Die Pest in Salzburg, Salzburg 2013, Zitat 170. Vergleichbar war die Bevölkerungsabnahme in den „Durchzugsjahrhunderten“ von ~300–~500. 159 Klein, „Sterben“, 94. 157

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.25 Verbrennung von Juden in Flandern, um 1350, Chronik des Gilles Li Muisis (1272–1352) und Nachfolger

Helfer gegen die Pest. Sie errichteten ihnen an visuell oder alltagsweltlich hervorgehobenen Orten wie Kirchen oder auf dem Markt Säulen. 160 Chronisten suchten durch dramatische Illustrationen ihre Leser*innen zu beeindrucken: Bilder von Flagellanten oder von Sargträgern; ein Toten-

tanz um einen Bürger, da die Seuche nicht nur Arme traf; Verbrennungen von Juden. Wie in fast allen Darstellungen von Ereignissen fehlt das Dynamische: Weiterleben und Gestaltung des veränderten Lebensweges.

Rochus (1295–1327) verschenkte, lt. Erzählungen seit Mitte des 15. Jahrhunderts, seinen Besitz an Arme und pflegte Pestkranke. Er ist kirchlich nicht heiliggesprochener „Volksheiliger“. Benedictow, Black Death, 6.

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8 Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Anders als in levantinischen, nordafrikanischen und iberischen Herrschaften war „Urbanität“ in fast allen zentraleuropäischen bis ins 12. Jahrhundert kein Konzept und Darstellungen von städtischen Handwerker*innen und Tagelöhner*innen sind „dünn gesät“, wie Landmann und Landfrau sagen würden. Das Personen-feindliche Sprachregime – „das 13. Jahrhundert brachte das Städtewesen“ oder „die Städte wuchsen“ – behindert die Analyse historischer Prozesse. Ansätze bieten Handwerksgeschichte, materialkundliche Untersuchungen von Waren und Rückverfolgung bis zu den Herstellungsorten, Analysen von Kontorbüchern und kunsthistorische Studien zu Visualisierungen. Auch transdisziplinäre Herangehensweisen „entwickeln sich“ nicht, sie müssen aktiv betrieben werden. 1 Zeitgenössisch boten nur Herrad aus Landsberg (12. Jh.) und Petrus de Crescentiis (~1300) Informationen. Erinnert werden steinerne Zeichen der Macht wie Höfe, Burgen und Kirchen; Wohn- und Wirtschaftsgebäude aus Holz und Fachwerk verfielen. Gemäß Nutzungsdauer ist auch die Erinnerung an Altarschnitzer leichter als an Kommunionsbrot Backende. Vorangehende Gesellschaften waren inklusiver: Ägyptische Fresken zeigten detailgenau Diener*innen und Handwerker*innen und griechische Amphoren und römische Steinreliefs Handwerker, kleine Händler*innen, Marktstände mit Frau und Mann. In Kulturen an der transasiatischen Karawanenroute fertigten Töpfer*innen Figurinen von Dienerinnen und ihrer Arbeit. Doch auch übliche Sichtweisen exkludieren, denn der Blick endet an der Hausmauer und dringt nicht in das Leben dahinter vor, sieht Produkte, aber nicht Herstellungsprozesse. Die Sicht bleibt also oberflächlich. Stadtansichten von außen, oft von einem nahen Hügel, machten ebenerdige Wohnstätten der Ärmeren unsichtbar, verschmolzen Fachwerkhäuser zu Dächer-Gewirr, aber nutzten

Abb. 8.1 Ägyptische Kultur: Kornmahlende Dienerin, 2200 v. u. Z.

Abb. 8.2 Römische Metzgerei, der Mann schneidet Fleisch, die Frau führt Buch, 125–150 u. Z. (Abguss)

Abb. 8.3 Turfan-Kultur, 7.–9. Jh.

Zu interdisziplinären Herangehensweisen Judith Oexle und Jürg E. Schneider, „Die mittelalterliche Stadt als Forschungsfeld der Archäologie“, in: Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300, Stuttgart 1992, 14–25, und Jürgen Sydow, „Der Beitrag der Stadtarchäologie aus der Sicht des Historikers“, ebd., 26–32; Adriaan Verhulst, „On the Preconditions for the Transition from Rural to Urban Industrial Activities (9th–11th centuries)“, in: Bruno Blondé, Eric Vanhaute und Michèle Galand (Hg.), Labour and Labour Markets between Town and Countryside (Middle Ages–19th century), Turnhout 2001, 33–41; Catharina Lis und Hugo Soly, Worthy Efforts: Attitudes to Work and Workers in Pre-Industrial Europe, Leiden 2012, 159–425; Bernd Fuhrmann, Deutschland im Mittelalter. Wirtschaft – Gesellschaft – Umwelt, Darmstadt 2017.

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Kirch- und Burgtürme als Blickfang. Kirchen setzten Zeichen nach oben, Richtung Himmel, Burgen Zeichen auch an die nächsthöhere Herrscherebene, denn Burgherren waren nur schwer zu dislozieren. Die Kirche mit Turm wandelte Natur- und Sozialraum in Kirchenlandschaft und, mit Einführung von Glocken, zu religiösem Klangraum. Die Zeichner und Graveure wussten, dass sie die Perspektive der Festungs- und Repräsentationsbauenden zu wählen hatten. Ziel war es, die Welt der Oberen in Sichtweisen von unten eindringen zu lassen, sie sollte verinnerlicht werden: Herrschaftslandschaft wird Diskurslandschaft. Hinzu kommt ein kognitionspraktisches Problem. Wahrnehmung muss sich angesichts der Vielfalt auf „das Wesentliche“ konzentrieren und zeitlich linear auf das, was vorhandenen funds of knowledge hinzugefügt wird. Das Neue – wie Städte – wird diskurs- und erinnerungsbestimmend; vorangehende innovative ländliche Produktionstechniken werden zu eingeschliffenen Topoi und langweilig; auch Leser*innen historischer Darstellungen schätzen Wiederholungen nicht. Damit verschwindet die Technikentwicklung des Webens und Kleidermachens aus dem Blick und ebenso die ländlich-familiäre Nahrungsproduktion. Die Leistung der Praktiker*innen, die beide Sektoren bereits auf ihr bis zum 19. Jahrhundert (fast) höchstes Niveau entwickelt hatten, war selbst-verständlich. Selbstverständliches wird nicht als Leistung wahrgenommen, Altbekanntes nicht erwähnt. Wenn Erinnerungsproduzenten die neuen Städte in den Vordergrund stellten und die ländliche Welt als Hintergrund fixierten, erkennen Kunsthistoriker*innen sofort die Spannung zwischen Vordergrund und Hintergrund. Hinzu kommt weiterhin ein kognitionshierarchischer Vorgang. Ein von einem Goldschmied hergestelltes Kreuz und eine verzierte Gürtelschnalle gelten als wertvoll und erinnernswert, ein geschnitzter Quirl für Kochkunst nicht. Die fein ge- und verarbeitete, reich verzierte Kleidung hoher Kleriker fiel auf, ihre Herstellung in Prozessen klaustrierter

„Klosterarbeit“ fiel heraus. Oberflächen verhindern den Blick auf Produzent*innen. Diese arbeiteten vernetzt: keine Bausteine ohne Steinbrüche, keine Kirche ohne Dachbalken, keine Mühle ohne Mühlsteine. 2 Ortsbezeichnungen sind Kürzel, die weder individuelles noch familiäres Handeln, weder gesellschaftliche Hierarchien noch wirtschaftliche Entwicklung erkennen lassen. Die Residenzstadt bezeichneten Schreibkundige seit dem 9. Jahrhundert zwar als civitas, oppidum oder urbs, jedoch gestanden die Erzbischöfe den Bewohner*innen keine „Bürgerrechte“ zu oder, sprachlich genau, Selbstverwaltungsrechte in abhängiger, höriger Stellung. Ein „Städtewesen“ – die Summe der Entscheidungen und Handlungen – entwickelten die Menschen nördlich der Alpen und östlich des Rheins nur langsam. Die Benennung civitas implizierte die Hierarchie Stadt-über-Land und, in einem zweiten Schritt, „Zivilisation“. Als unzivil, grob, erschienen Städter*innen die sie versorgenden dörflichen Nachbarn, Intellektuelle setzten die Stadt als Referenz, obwohl dort im frühen Mittelalter weniger als ein Zwanzigstel der Gesamtbevölkerung lebte (s. Kap. 7.10). 3 „Stadt“ (Singularisierung) war polyzentrisch: Kauf-Familien-Quartier, Herrschaftszentrum, Zunftorte, Wohn- und Lebenszentren der Tagelöhner*innen und Gesell*innen. Erst ihr Beziehungsgefüge machte „Stadt“ aus. 4 In der Konkurrenz zu städtischen Handwerker*innen konnten kleinere Grundherren-Familien schon seit dem 9. Jahrhundert ihre Sklav*innen und Unfreien, für deren Produkte Konsument*innen bei Kauf nicht Mehrwert-, sondern Überbau-Steuer zahlten, nicht mehr ausreichend spezialisiert ausbilden. Zudem wurde der Kauf von Arbeitszeit günstiger als dauerhafter Unterhalt (s. Kap. 7.8). Städtisch Ansässige und abwandernde oder weggeschickte Produzent*innen eröffneten WerkWohnstätten, deren Summe als Großwerkstätten mit ausgegliederter überörtlicher Distribution „Stadt“ genannt wurde. Über Generationen bewirk-

Jeffrey F. Hamburger und Susan Marti (Hg.), Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, München 2005, besonders Jan Gerchow und Susan Marti, „‚Nonnenmalereien‘, ‚Versorgungsanstalten‘ und ‚Frauenbewegungen‘ : Bausteine einer Rezeptionsgeschichte der mittelalterlichen Religiosen in der Moderne“, 142–155. 3 Nach älteren Interpretationen entstanden (Klein-) Städte im Schatten von Burgen und Kirchen. Jedoch platzierte kein Herrscher oder Lokalisator eine Kirche oder Burg in unbesiedeltem Raum. Städte dienten der Herrschaftsfestigung und benötigten wie römische Kastelle Zulieferant*innen in einem Zivilort. 4 Zur Stadt-konzeptionalisierung und -forschung Andrew Brown und Jan Dumolyn, „Medieval Urban Culture and Historiographical Problems“, in: dies. (Hg.), Medieval Urban Culture, Turnhout 2017, 1–25. 2

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

ten Menschen durch Zuwanderung, Kinder, Arbeit und Planung, Spezialisierung und Innovation das „Städtewachstum“. Stadt ←→ Land-Verbindungen waren eng, denn stadtnahe Hausgemeinschaften spezialisierten sich auf Eier, Milch und Gemüse und etwa ein Drittel der städtischen Haushalte besaß Gärten und Nutztiere. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts lebten in Salzburg-Stadt weniger als 4000 (um 1500: ~5000) Männer, Frauen und Kinder, in Pettau/Ptuj etwa 2000, in Leibnitz 600 bis 700, in Saalfelden weniger als 500. In römischer Zeit hatten in Pettau 40.000, in Iuvavum 7000 Menschen gelebt. Zum Vergleich: Im lateinchristlichen Rom lebten ca. 25.000 Menschen, im orthodoxchristlichen Kiew ca. 40.000 (13. Jh.), in Konstantinopel-Stadt 400.000 oder mehr, 5 in Córdoba samt Nahversorgungsgürtel ca. 500.000, darunter etwa 14.000 slawische (Militär-) Sklaven (10. Jh.). 6 Córdobas Straßen waren gepflastert und nachts beleuchtet; die muslimischen Herrscher gründeten Akademien für Medizin, Mathematik, Philosophie und Dichtung; Gelehrte sprachen Arabisch, Hebräisch, Lateinisch; Frauen arbeiteten als Ärztinnen und Lehrerinnen, Bibliothekarinnen und Kopistinnen; die Bibliothek des Herrschers umfasste 400.000 Bände und für Gebildete existierten siebzig öffentliche Bibliotheken. Im deutsch-vieldialekt-sprachigen Raum hatten die Menschen, ausgehend von vierzig Städten um 800 (zwei Prozent der Bevölkerung), bis zum Beginn der Schlechtwetterperiode nach 1300 etwa 250 Städte gebildet (elf Prozent der Bevölkerung), Köln mit 30.000 bis 40.000 stand an der Spitze, in etwa fünfzig Städten lebten über 5000, in weiteren 200 je 2000 bis 5000 Einwohner*innen. Hinzu kamen Klein- und Kleinststädte, etwa 2750 an der Zahl. Im Süden, von Bayern bis Österreich, erhielten viele Märkte bis ins späte Mittelalter kein Stadtrecht. Städtische Handwerkende zogen ab, um munizipalen und zünftigen Regelungen zu ent-gehen; Unternehmer-Familien lagerten ihre Produktion in ländliche Heimarbeit aus. Interdependenzen waren vielfältig, die Produktion zunehmend arbeitsteilig. 7

In den Städten, auch sie Besitz der Mächtigen, strebten prosperierende Bürger-Familien nach Teilhabe. Sie konstruierten sich genealogiae als Patrizier-Familie und Stadt-Korporation. Die Unteren waren diskursiv all-gemeines Volk. Mächtige verkauften, verschenkten und verpfändeten Stadtgemeinschaften wie ländliche Menschen (s. Kap. 6). König Friedrich II., Familie Staufen, gab 1213 EB Eberhard II. als Lohn für dessen „Treue“ alle Besitzungen, „die das Reich in jenem Gebiet (provincia) hat, das Lungau genannt wird“. Der EB gab Menschen an die Edlen aus Lengenbach und tauschte 1246 den halben Markt von Tamsweg von einem steirischen Ministerialen. Dem „Altar des seligen Rupert“, das heißt den Salzburger Domherren, schenkte um 1300 ein Graf das Gut Lessach „mit allem Zubehör an kultiviertem und unkultiviertem, an bebautem und unbebautem Land, an Gewässern und an Weiden und an Eigenleuten“; nur ritterliche Personen sollten „ihre Güter frei und ungestört zu Lehenrecht besitzen“. 8 Ländliche Menschen stellten sich selbst Werkzeuge her und veredelten die Rohernte durch Dreschen, Buttern, Weben und anderes und besonders Erfahrene, ob in Geburtshilfe oder Wagenradherstellung, halfen Nachbar*innen. Ihre Fähigkeiten galten als „nützliche Künste“ im Gegensatz zu „dekorativen“. Doch Teile der dörflichen funds of knowledge wurden mit zunehmender Spezialisierung städtischer Handwerker*innen unwichtig. Arbeit in einer Werk-Statt verringerte die Abhängigkeit von Witterungsverhältnissen, aber auch die Risikostreuung durch parallele Selbstversorgung. Pointiert ließe sich dies als Übergang von Allrounddilettanten zu Fachidioten bezeichnen – wenn nicht beide Begriffe so abwertende Konnotationen hätten. Die entgegengesetzte Pointierung, von Allgemeinpraktikern zu Spezialisten, wirft das gleiche Problem auf: Konnotativ ist ein Spezialist/eine Spezialistin fähiger und überlegen. Für Generalist*innen sanken Optionen, denn sie mussten Produkte kaufen, gerieten aber oft in Krisen (cash crises), wenn die Eigenherstellung

Nach der Zerstörung durch die lateinischen Kreuzkrieger 1204 lebten um 1250 nur etwa 100.000 Menschen dort. Während der christlich-fränkischen Eroberung 1226 flohen viele oder wurden umgebracht. Durch Zuwanderung umfasste die Stadt um 1250 wieder 90.000, um 1530 150.000 Einwohner*innen. John Edwards, Christian Córdoba: The City and Its Region in the Late Middle Ages, Cambridge 1982, 6–10. 7 Michael Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt: 1050–1250, Stuttgart 2002, 21–22; Fuhrmann, Mittelalter, 95–96. Heinz Dopsch, „Die Zeit der Karolinger und Ottonen“; und ders. mit Michael Mitterauer, „Salzburg im Hochmittelalter“, in: Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs, Stadt und Land, 3 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.1:157–418, hier 359–360. 8 Heinz Dopsch, „Lessach und Lungau. Zum Kauf von Lessach vor 750 Jahren“, Salzburg Archiv 14 (1992), 59–74. 5

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

nicht mehr lohnend, Geld für den Kauf aber nicht vorhanden war. Für viele in Tauschwirtschaft Lebende waren von Spezialist*innen gewebte Stoffe unbezahlbar. Der Übergang zur Geldwirtschaft erforderte ein Abwägen des Einsatzes von Arbeit und Geld: Selbstherstellung, Kauf, Zulohn. Kopfrechnung – modern schriftlich: Buchführung – war Aufgabe der Haus-Frauen, die durch Produkte wie Eier und Wolltuche Geld einbrachten und auf dem Markt Güter erwarben. Wirtschaftstheoretiker stellen Erwerb-als-Gewinn und Konsum-als-Verlust einander diametral gegenüber, lebenspraktisch sind sie eine Einheit. Auch kirchliche und weltliche Gelehrte, die von den nützlichen Künsten lebten, begannen Wissen zu spezialisieren und zu hierarchisieren. Sie stellten den artes liberales, ihren sieben freien Künsten der Ausdrucksformen und -strukturen (Grammatik, Rhetorik, Dialektik-Logik) und der Verhältnismäßigkeit von Zahleneinheiten (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) sieben Broterwerbskünste, artes mechanicae, gegenüber: Landwirtschaft, Bekleidungsherstellung, Kochkunst, Baukunst, Metallbearbeitung, Handel sowie Waffen- und Jagdkunst nannte im 9. Jahrhundert Johannes Scottus „Eriugena“ – in Irland geboren, zeitweise in Regensburg lebend. Damit beschrieb er Pfalz und Hufe, Dorf und Stadt als Ergebnis der Tätigkeiten aller. Drei Jahrhunderte später veränderte Hugo (St. Viktor, Paris) die Liste: Er ließ die Kochkunst entfallen, behielt Web- und Baukunst bei, engte Schmiedekunst auf Waffen ein, fügte Schifffahrt- und Heilkunst hinzu und hielt Jagd- sowie Schauspielkunst eigener Nennung für würdig. Da all diese Tätigkeiten von Unfreien ausgeführt wurden, waren sie, um genau zu sein, artes illiberales. Wenig Bedeutung hatte in dieser Zeit der griechische Begriff téchne, Technik, wie

etwa der Mühlenbau als Kunstfertigkeit und Handwerk. Die politischen Konstellationen aufnehmend (Kap. 6) und auf Basis der ländlichen Produktion (Kap. 7) stelle ich das Handeln von Städter*innen bis ins 14. Jahrhundert dar. Ich beginne mit (klein-) städtischen Entwicklungen in der Kirchenprovinz einschließlich der Rückschläge und Katastrophen in überregionalem Kontext. Anschließend frage ich nach dem Wirken, Denken und den Lebensbedingungen der „unteren Schichten“ oder, prozessual ausgedrückt: der nach unten Geschichteten. Sich nach oben Schichtende besaßen Dienstleute, „Gesinde“, das sie oft nicht schätzten; die Sprache – das heißt ihre Sprache – machte „Gesindel“ aus ihnen. Anschließend enge ich den Blickwinkel auf die Residenzstadt ein und frage nach sozialer Schichtung und städtischer Selbst-verwaltung. Die Menschen, gleich ob EB oder Marktfrauen, bewegten sich im Nahraum und manche reisten in die Ferne. Dies bot Optionen und ermöglichte Information, konnte aber auch Gefahr bedeuten. Weniger Mobile mussten Durchziehende in ihr Weltbild integrieren und Ansässige entlang der Gebirgspässe lernten während ihrer Saumdienste Fremdes kennen. Im Vergleich zu den urbanen Regionen am Nieder- und Oberrhein bis zum Bodensee, zur PoEbene und zu mittleren Zentren wie Köln und Regensburg sowie Handelsplätzen wie Gemona und Treviso am Alpensüdhang waren die Routen der Salzburger Kirchenprovinz nach Gütermenge und Verbindungswert (connectivity) kaum von tertiärer Bedeutung. Doch ähnlich wie in dynamischeren Gemeinschaften stellten neue Schichten die Gemeine-Herrscher-Dichotomie von der Mitte her in Frage. Strukturen sind prozesshaft und Prozesse strukturiert.

8.1 Vernetzte Marktorte: Wege der Zirkulation von Menschen, Geld und Waren Ländliche Menschen, selbst in ab-wegigen Einödhöfen dem Sitz der EB durch Frondienste und Abgaben verbunden, legten mit ihrem jeweiligen Transportgut in angemessenen Kiepen oder Traggestellen lange Wege zu Vogt oder Pfarrer zurück. Diese ließen nach Abzug ihres Anteils (oder mehr) Säumer und Fuhrleute das Übrige zum Zentrum tragen. Dabei entstanden „naturwüchsig“ Wege und Macht-wüchsig Untertänigkeiten wie gebückte 278

Körperhaltung bei der Übergabe. An kleinen Brücken-, Wegekreuz- und Rastorten oder im Schatten der Herrensitze entwickelten Ansässige und Zuwandernde lokale und Netzknoten-Märkte. Sie suchten sich „Stapelrechte“ verbriefen zu lassen, um Durchreisende zu zwingen, ihre Waren anzubieten und Herbergen zu nutzen. Modern ausgedrückt: Statt nur Infrastruktur für Laufkundschaft zur Verfügung zu stellen, wollten sie teilha-

Vernetzte Marktorte: Wege der Zirkulation von Menschen, Geld und Waren

ben und Roh- oder Halbfertigwaren im Transit veredeln. Gelang dies, verbreiteten Kaufleute Informationen über ihre Fertigkeiten und weitere Kaufleute wählten ihren Ort als Station. Je mehr Reisende von Händler*innen über Pilger*innen bis zu Mächtigen mit Gefolge, desto wichtiger wurden Herbergen. Klöster mit Laienbrüdern und bemittelte Ansässige mit Familienarbeitskraft richteten im Abstand von etwa 25–30 km Gast-Höfe ein. Wie einst in Immurium entstanden dort Betriebe für die Reparatur von Saumzeug, Wagenrädern und Schuhwerk. Reisende von hohem Stand nutzten ihr Gastungsrecht in Klöstern und Burgen minderer Adliger. So vermieden sie den Kontakt mit Un-ständigen, die Sprache zu Un-anständigen machte. Entlang der Land- und Wasserwege erhoben die Mächtigen Abgaben, Maut als Gebühr für den Unterhalt der Infrastruktur, eine Aufgabe, die oft auch anrainenden Unfreien als Wegefron oblag. Mautner mussten nicht nur die Gebühren für jede Warenart kennen, sondern auch wissen, welche Herrschaften davon befreit waren. Gebühren zahlten Transithändler, um in eine Region einreisen und handeln zu dürfen, sowie für Königsschutz gegen Räuber und Abgaben-gierige Lokalherren. Zölle als Warensteuern dienten dem Einkommen nah oder fern situierter Klöster, Bischöfe und Herren-Familien. Nach schweren Schäden durch Kriege oder Naturereignisse überließen Herrschende gelegentlich die Einnahmen auf begrenzte Zeit einer Stadt oder Gemeinde zur Wiederherstellung der Wirtschaftskraft. Nach Beschwerden über ungerechtfertigte Belastungen entlang der Donau vom Passauer Wald über Linz und die Enns-Mündung bis zum Böhmerwald, befragten im Jahr 906 Markgraf, EB-Salzburg und sein Passauer Suffragan 41 lokal erfahrene Männer zu althergebrachten Praktiken an der Raffelstetter Schiffslände bei der Mündung der Traun in die Donau. Ihre Zollordnung richteten sie an Kaufleute aus Bayern, slawische aus Böhmen, Mähren, Russland und Juden. Sie galt für Sklav*innen, Hengste und Stuten, für Vieh, Honig und Wachs sowie „andere Sachen“ und die Gebühren waren gestaffelt nach Art der Ware, Länge des Transport-

weges und Absatzgebiet, nach regionaler Zugehörigkeit der Kaufleute und dem Ort des Grenzübertritts in die mährische Herrschaft. Für unteilbare Güter wie Sklav*innen, Pferde und Vieh war eine festgelegte Geldabgabe zu leisten, für teilbare wie Salz und Wachs ein Anteil. Der Eigenbedarf lokal Ansässiger, besonders an Salz, sollte Zoll-frei sein oder nur gering belastet werden. In späteren Jahrhunderten würden Herren „Raubschlösser“ entlang der Donau errichten und besonders die des Strudengaus zwischen Lentia/Linz – mit einer Donaubrücke um 1100 – und Wenia/Wien gingen in sagenhafte Erinnerung ein. 9 Fernhändler bewegten sich entlang herrschaftlich festgelegter Wege. Von der Residenzstadt, zweigeteilt in kirchliches Konsum- und bürgerliches Handelszentrum, führten diese nordwärts über Salzach, Enns und Inn, ostwärts entlang von Mur, Drau und Save. Schiffslände und Brücken, zum Teil seit keltischer Zeit genutzt, waren im Nordosten Raffelstetten, im Westen die Inns-prucke, im Süden die Bruck an der Mur. Landwege nach Osten, nördlich durch Mosapurg/Zalavár oder nach Stein am Anger/Szombathely verloren mit der Etablierung árpádischer Herrschaft im 10. Jahrhundert zeitweise an Bedeutung. Um 1130 sicherte EB Konrad I. für die Salzach die freie Durchfahrt bei Burghausen, übernahm die Vöckla-Bruck und unterstützte die Instandhaltung der Traunbrücke bei Wels. Der Weg von und nach Süden, von Aquileia über Görz, Laibach/Ljubljana, Celje/Cilli, Ptuj/Pettau verlief in der Steiermark und Krain durch Siedlungsgebiete von Südslawisch Sprechenden. Reisende passierten zum Beispiel das „Ruinenfeld“, altslawisch zuib, des römischen Flavia Solva. Dorthin entsandten die EB um 970 Altdeutsch Sprechende und Alt- und Neusiedelnde entwickelten Lipanizza/ Lindenort/Leibnitz. Die Lipa – feminin – war slawisch- und germanisch-sprachigen Menschen heilig, als Dorflinde Ort sozialen Austausches, als Gerichtslinde Ort der Rechtsprechung. In Ortsnamen verbanden die Menschen slawische und germanische Bedeutungen: die bayerische Endsilbe „(j)ach“ (bei den Leuten) mit slawisch lès (Wald) zu Lessach; Göriach/gorjach „bei den Leuten am

Michael Mitterauer, „Wirtschaft und Verfassung in der Zollordnung von Raffelstetten“, Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 8 (1964), 344–373; Text des Raffelstettener Zollweistums von 904/06: https://www.ooegeschichte.at/fileadmin/media/dokumente/themen/ wirtschaft/handelsgeschichte/raffelstettener_zollweistum.pdf (6. August 2020), Übersetzung: Lorenz Weinrich, Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, Nr. 5 (1977), 14–19.

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Abb. 8.4 Marktorte und Bevölkerung des Erzstifts seit dem 13. Jahrhundert

Berg“; Weißpriach „bei den Leuten auf der Höhe“; Stranch-stràn „bei den Leuten auf der Seite“; oder sie glichen Lautfolgen an: Dorf des Damecha, Dameševiče, zu Tamsweg. 10 Händler orientierten sich an begehbaren Tälern mehr als an Steilstrecken, deren Dramatik historische Erinnerung prägt. Sie kalkulierten nicht nur die Höhe eines Passes, sondern auch den Zugang, enge Wildbachschluchten oder offene Hänge. Für fußläufige Säumer konnten zusätzlich zu überwindende Höhenmeter kostengünstiger sein als zusätzliche Entfernungskilometer. Die Beschaffenheit des Bodens, gut begehbarer Fels, rutschendes Geröll oder Felsblöcke, bewerteten sie, um den ergonomisch günstigsten Weg zu finden. Über die Salzburger Tauern bevorzugten sie den Radstädter Pass (1738 m), in Tirol den Brenner (1370 m) als niedrigste Routen. Der Handel über ersteren, von römischer schmaler und steiler Fahrstraße zu Saumtier-Pfad verwachsen, erreichte nie das Volumen des Handels über letzteren, die Via Imperii. Die 10

Dopsch, „Lessach“, 59–74.

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Säumer begingen die Rauriser, Fuscher und Felber Tauern und traten Fußpfade aus, zum Beispiel am Ödinger (menschenleer), später Lautfolgen-verändert zum (Groß-) Venediger. Bergbauern-Familien leisteten vielfach Wein-zwangs-dienste; sie hatten Friulaner und den beliebten Reifal heranzuschaffen. Klöster und Kaufleute beschäftigten auch Lohnsäumer. Frachteten diese auf eigene Rechnung selbst hergestellte Produkte nach Süden und gekaufte nach Norden? Austauschorte erhielten in vielen Herrschaften seit Ende des 10. Jahrhunderts Marktrechte, im autoritären Erzstift erst im 13. Jahrhundert, meist als Verschriftlichung bestehender Praktiken: Mauterndorf (1217) und Tamsweg (1246) sowie nach Osten Ormož/Friedau (1293). Salz führten kirchenhörige Schiffer über Laufen, Tittmoning und Burghausen bis Passau aus. Andere Güter durften Salzburger Bürger mit eigenen Schiffen transportieren. Unterhalb der Saalach-Einmündung erforderten Stromschnellen einen kurzen Landweg: Arbeit für Säu-

Markt- und Ackerbürger-Städte

mer. Im Südwesten erhielten Mittersill, Saalfelden und Zell zwischen 1325 und 1357 verbriefte Marktrechte. Für Bürger*innen galt innerhalb ihrer Stadt

und entlang privilegierter Routen Maut- und Zollfreiheit.

8.2 Markt- und Ackerbürger-Städte Der Blick von Kaufleuten in Salzburg-Stadt richtete sich besonders nach Süden auf die Alpenrouten und nach Italien beziehungsweise von Passau aus nach Osten, Richtung Pannonien oder nach Prag. Menschen in und um Saalfelden (Pinzgau), Friesach (Kärnten) und Pettau (Krain, Slowenien) hatten bereits in keltischen Zeiten weitläufig geblickt, römische Handwerker-Legionäre hatten ihre Steinbaukunst nach Illyrien und Raetien getragen und lokale Holzbaukundige hatten von ihnen gelernt. Kannten Römer schon die Smaragd-Vorkommen des Habachtals am Oberlauf der Salzach? Im Metnitz- (Friesach) und Gurktal (Lieding und Gurk/ Krka), im Drautal (Ptuj/Pettau) und im Pustertal siedelten Frühslawisch Sprechende, im Voralpenland bayerisch-sprachige Menschen. Sie begegneten sich an vielen Orten. Die eindringenden fränkischen und awarischen Trupps veränderten zwar die Lebensformen der Romanisch, Slawisch und Germanisch Sprechenden, aber schätzten die Kontinuität der Routen und des Austauschs. Die neugläubigen westlichen Herrscher entsandten Mönche mit Arbeitskräften durch das Saalach-Becken – auf der windabgewandten Südseite der Nördlichen Kalkalpen – zum Ort des klug gewählten, vormaligen Legionslagers Bisontio. Sie ließen eine Zelle (am See) errichten, um die Südroute erneut zu sichern und Rom-reisenden Klerikern Unterkunft zu bieten. Ansässige nach-römische Bauleute vermittelten „den Franken“ Kenntnisse der Steinbauweise. Als die Salzburger Kleriker sich Macht- und Abgaben-politisch zum Zentrum machten, legte Karl d. G. ihre Ansprüche gegenüber den Metropoliten Aquileias bis an die Drau fest. Damit unterstanden die rechtsufrigen Bewohner*innen Pettaus dem EB Aquileia, ihre linksufrig lebenden Verwandten dem EB Salzburg. Im Südosten verwaltete EB Liupram (h. 836–

859) das annektierte Gebiet zwischen Drau und Plattensee als Herrschaftsraum Unterpannonien. 11 Nach Pettau – noch Bettobiam (Poetoviam) genannt – reiste er standesgemäß auf Kosten der vermutlich an christlicher Religion nur mäßig interessierten Inkorporierten. Die linksufrig lebenden zwei Drittel der Bewohner*innen mit Brücke, Maut und Gericht schenkte König Ludwig II. 860 gegen Loyalitäts-Versprechen EB Adalram und, als um 900 die EB-Herrschaft in Pannonien endete, blieben die romanisch-awarisch-südslawischen Menschen Fernbesitz der EB. Die Route durch Pettau nutzten Kaufleute lokaler, hebräischer, westgermanischer und anderer Sprachen für den Handel von und nach Konstantinopel. Im Norden und Nordosten, dem Suffraganbistum Passau, waren die Menschen für die EB und Kaufleute in SalzburgStadt als Abnehmer*innen von Salz interessant. In die annektierten Gebiete entsandten westliche Herrscher bayerisch-sprachige Menschen. Sie nannten Breže, slaw. „Ort bei den Birken“, Friesach und ein Kaiser vermachte sie und die Wirtschaftshöfe 860 dem Salzburger EB; 975 gab Kaiser Otto II. die Markt-, Münz- und Mautrechte für Lieding an die lokal herrschende Imma sowie, 986, die nun selbstständige Kärntner Mark an Heinrich (Familie Luitpold). Immas Familie – später Zeltschach genannt von slaw. selče = Ansiedlung – war, wie die Mehrzahl ähnlich Situierter, aus Schwaben und Bayern zugewandert. Zwei Generationen später hatte die Enkelin, Gräfin Hemma, bereits Besitz von Kärnten bis Bayern, in Franken und Friaul. Sie und der benachbarte Markgraf im Sanntal, Wilhelm, heirateten und wurden Teil makroregionaler Familien-Konkurrenzen. Die verfeindeten Adalbero (Eppenstein) und Konrad II., Herzog in Kärnten und deutscher König, überließen Wilhelm große Ländereien, um seine Loyalität zu erkaufen. Als

Die erste Geschichte von Carniola schrieb der umfassend gebildete und weit gereiste Gelehrte Janez Vajkard Valvasor/Johann Weikhard Freiherr in Valvasor (1641–1693). Mojca Vomer Gojkovič und Ivan Žižek, Roman Everyday Life in Poetovio. Rimski vsakdan v Petovioni, Ptuj 2008; Hans Pirchegger, „Geschichte der Stadt und Herrschaft Pettau im Mittelalter“, Jahresbericht des Kaiser Franz Josef-Gymnasiums in Pettau 34 (1903), 3–26, und 35 (1904), 9–35; Rudolf Pertassek, Pettau: Die älteste steirische Stadt, Graz 1992, 33–96, 131–147; Polona Vidmar und Boris Haidinjak, Lords of Ptuj: Medieval Knights, Founders and Patrons of the Arts, Ausstellungskatalog, Ptuj 2008.

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Abb. 8.5 Friesach: Stadttopografie mit Befestigung Der Plan (mit Entwicklungen bis Anf. 20. Jh.) zeigt die Grundstücksaufteilung mit Krautgärten hinter den Häusern, die später jeweils nach Bedarf und vorhandenen Mitteln mit Schuppen und Werkstätten überbaut wurden.

Adalbero den Machtkampf verlor, ermordete er Wilhelm 1036. 12 Bei dem Wirtschaftshof Breže/Friesach „gründeten“ Hemma und Wilhelm 1020 einen Markt. De facto war dies eine personenbezogene, abgabentechnische Änderung des kaiserlichen Privilegs, dort Zoll einzuheben. Die Lage am Beginn der Steigung zum Neumarkter Sattel war lukrativ, denn Packwagen aus Süden mussten Vorspannpferde

mieten. Laien, Kleriker und jüdische Kaufleute errichteten Lagerhäuser, Herbergen und Stallungen. Den Bewohner*innen schadete die Unterstellung unter die EB-Salzburg oft: Im Kampf der Päpste und EB um Macht brannten Kaiserliche die Stadt nieder. 1077 ließen die EB sie zur Festung ausbauen, sowohl gegen ihre Gurker Unterkleriker wie gegen den einen Rückweg aus Canossa suchenden Kaiser Heinrich IV. Arbeitende Familien schufteten

Robert Gratzer, Friesach. Die bewegte Geschichte einer bedeutenden Stadt, Klagenfurt/Celovec 1986; Heinrich Gressel, Friesach. Chronik der ältesten Stadt in Kärnten, Klagenfurt/Celovec 2008.

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Markt- und Ackerbürger-Städte

neun Jahre lang. Während der Investiturfehde bekämpften sich EB und Gegen-EB. Der Gurker Unterbischof nutzte dies und verlieh oder verpfändete Kirchengüter und Kirchenmenschen. Heere und Haufen verwüsteten Hufen und Städte. In und vor der Festung trugen der papsttreue EB Thiemo (im Besitz der Burg) und der kaisertreue Gegen-EB Berthold (in der Stadt) 1092 bis 1097 ihre Kämpfe aus (s. Kap. 6.9). In einer dritten Fehde bekämpften die Gurker Eigenbischöfe selbst-herr-lich ihren Oberherrn in Salzburg. „Nach zwanzig Jahren Krieg waren die Häuser abgebrannt […], die Bevölkerung verarmt und die Stadt verödet. Friesach war […] von einem blühenden Markt zur Ruine geworden.“ 13 EB-Salzburg und Eigenbischof Gurk entschieden sich, die Stadt und Nachbartäler zu teilen, das heißt deren überlebende, schwer geschädigte Bewohner*innen und ihre Abgaben. Ihre imaginäre Trennlinie zweiteilte den Altar der Stadtkirche und seither gab es zwei Märkte. Die Bürger*innen sahen den Zehnt-Speicher der EB wachsen. Zur Wiederbelebung der Wirtschaft – das heißt als Ersatz für die Getöteten – wanderten Menschen aus Bayern, Köln und Würzburg, Schwaben und Sachsen, Krain und Italien zu, unter ihnen solche jüdischen Glaubens. Mit den vermutlich traumatisierten Altbürger*innen bauten sie die Stadt als zentralen Ort wieder auf. Wien war erst im Entstehen, Klagenfurt existierte noch nicht. Im nahen Selče/Zeltschach bauten Bergarbeiter Silbererz ab und die EB ließen ab 1130 den „Friesacher Pfennig“ prägen, der über zwei Jahrhunderte großräumliches Zahlungsmittel wurde. Friesach, wichtigster Stapelplatz im Italien-Verkehr und später der Süd ←→ Nord-Route zwischen Venedig und Wien, war weit bekannt: Der Gelehrte al-Idrisi aus einer Berberfamilie, der um 1154 in Palermo am Hof des normannischen Königs Roger II. lehrte, trug „afrizizak“ in seine Weltkarte ein und ebenso das später sehr viel bekanntere, „auzburk“ (Augsburg). Durch das Tal wurden Luxusgüter, Gewürze und Sklav*innen gehandelt, die dort lebenden unfreien Familien sahen dies. Auch sie konnten verhandelt und verschenkt werden. Nur scheinbar entfernt, veränderten Herrscher und solche, dies es werden wollten, die Machtverhältnisse. 1156 entschied Kaiser Friedrich I. in Regensburg – München würde erst 1158 gegründet 13

werden – die Herrschaft über Bayern zu teilen und an zwei Familien zu vergeben, die Mark an der Donau als eigenständiges Herzogtum in den Besitz der später „Babenberg“ genannten Familie. Dass in weiterer Ferne eine auf einer Habsburg sitzende Familie begonnen hatte, lokal Macht zu ergreifen, war für Friesacher*innen noch bedeutungslos. Babenberg-Österreich, dessen Grenze von Friesach (Kärnten) nur eine Tagesreise entfernt lag, war ebenso Zollausland wie das weiter entfernte Regensburg-Bayern. Hingegen war das ferne Verona noch wenige Jahre vorher (bis 1151) Teil der Herrschaft, also Inland gewesen. Die Bürger*innen entwickelten unter der friedvollen Herrschaft eines Gurker Eigenbischofs und der Konsolidierung des EB Eberhard II. in dem Jahrhundert nach 1150 ihren Ort zur zweitgrößten Stadt des Erzstiftes und zur wichtigsten Stadt von Koroška/Kärnten. Der Bischof in Gurk, das Kapitel in Seckau und der Propst in Friesach stritten 1212 um die Erträge aus Silber-Ressourcen und Köhlerarbeit und einigten sich auf Teilung. Ein Kunstmaler schuf in der Burgkapelle Fresken von Rupert und Virgil, später lebten ein Glasmaler und ein Dichter dort. Handwerker- und Land-Familien stellten Pferdegespanne her, besserten Wagenräder und Hufe aus, lieferten Heu und Stroh und boten Herberge. Die Bürger*innen erhielten 1215 Stadtrecht und, zufrieden mit dem Errungenen, werden sie nicht nach Rom geschaut haben. Dort saßen in diesem Jahr EB Eberhard II. und siebzig andere Metropoliten beim 4. Laterankonzil zusammen, um ihr und aller Lateinchristen Alltagsleben zu reglementieren. In die Stadt wanderten die ökonomisch weitsichtigen, quasi-kapitalistischen Zisterzienser, später die in der Levante besiegten Ritter des Johanniter-/Malteser-Ordens zu und Ritter des Deutschen Ordens betrieben das Hospiz St. Maria Magdalena. Die Dominikaner, 1217 von einem aus Rom durchreisenden Krakauer Domherrn in die Stadt gerufen, expandierten, gründeten eine Niederlassung in Pettau und stellten seit 1233 den Visitator der polnischen Kirchenprovinz. Sie begannen Ketzer-Verfolgungen. Auch Mönche ferner Klöster wie Admont ließen sich Häuser als Unterkunft bei Reisen bauen. Die Dominikaner handelten sich rigoros Vorteile aus: Sie erhielten die Hälfte aller zum

Gratzer, Friesach, 45.

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Schloss geführten Lebensmittel als Abgaben und Zoll- und Mautfreiheit für Güter ihres Eigenbedarfs, zu dem sie den Wein für ihre kommerziell betriebenen Wirtsstuben zählten. Die Bürger-Familien wurden über die unlautere Konkurrenz so wütend, dass sie 1272 unter Leitung des Richters und der Geschworenen in das Ordenshaus eindrangen und es niederrissen. Eine vom Papst angeordnete Untersuchung blieb ohne Ergebnisse. Menschen handelten und dachten selbstständig; ein aus Narbonne durchreisender Kirchenkritiker, Ivo, traf 1242 in Friesach auf Mitglieder der Albigenser-Bewegung (s. Kap. 9.10). Die Dominikaner gewannen ihre Konkurrenz zu lokalen Klerikern publikumswirksam: Einem der ihrigen verwandelte sich während einer Messe der Wein in Blut Jesu und seither begingen sie dies „Blutwunder“ durch eine jährliche Prozession. So beschrieb es Zisterzienserabt Johann in Viktring bei Klagenfurt in seinem „Buch wahrer Geschichten“ und nannte 1328 als Datum. In der Region konkurrierten deutsch- und slowenisch-sprachige Kleriker und letztere beobachteten in Kamen v Podjuni/Stein an der Drau ein zweites „Blutwunder“ am Tag der seligen Liharda/Hildegard. Sie war mildtätig, wurde in Volksliedern besungen und Brot nach ihr benannt. In ihre erinnerte Persönlichkeit gingen slawische Frühlings-Verehrungen, die griechisch-römischen Fruchtbarkeits- und Getreidegöttinnen Ceres und Demeter ein sowie die christliche Märtyrerin Agatha (Catania, Sizilien). Hinzu kam der in der Zeit langer Abwesenheit von Kreuzrittern besonders häufige Topos sexuell bedrängter Frauen: Der Bruder eines abwesenden Ritters hätte von dessen Frau Sex gewollt. Da abgewiesen, verleumdete er sie bei dem Zurückgekehrten, dieser misshandelte seine Frau und ihre Kammerjungfrau Dorothea und stürzte sie aus dem Burgturm. Engel fingen beide auf. Agatha, gottgeweihte Jungfrau, hatte einen römischen Statthalter (Name bekannt) abgewiesen, er ließ sie in ein Bordell bringen und verstümmeln. Handwerker*innen verehrten sie. Die Friesacher Bürger*innen sahen das – langsame – Heranwachsen der Kirche der Dominikaner. An ihr arbeiteten Bauhandwerker, wenn die Stadt nicht gerade zerstört wurde, von 1251 bis 1300. Unfreiwillig nahmen sie auch einen anderen Kirchen14

bau wahr: Die Herrscher in Wien, die bereits 1221 ihre Kaufleute durch Verleihung des Stapelrechts im Ungarnhandel bevorzugt hatten, benötigten nach einem verlorenen Ungarn-Feldzug Geld für ihren Großkirchenbau (Stephanskirche) und forderten Extrazahlungen. Für die Friesacher*innen war die Zeit vom Stadtrecht bis zur Pest, die sie noch nicht erahnten, mit vielen Problemen beladen. Die Erfahrung, aus allem herausgerissen zu werden, war Teil ihres Alltagslebens. Die Stadt brannte 1215 ab, viele kamen um, neue wanderten aus Süddeutschland und Oberitalien zu. Herrschaft bedeutete vielfach Unglück oder Katastrophe: Hz Friedrich II. Babenberg (h. 1230–1246) presste seine Untertanen für Fehdekosten aus; EBin spe Philipp und EBin spe Ulrich begannen ihre für Untertanen lebensbedrohende Fehde (1256–1265); 1266/67 Hungersnot. Ein Event kurz nach dieser Katastrophe, die Krönung von Rudolf (IV./I., Habsburg) und Ottokar (II., Přemysl) als deutsche Konkurrenz-Könige 1273 (Kap. 6.10), ging ebenfalls in die Denkwelten der Menschen ein. Beide hatten nahe Friesach große Besitztümer, der eine in Österreich, der andere in Ost-Österreich, der Steiermark, Kärnten und Krain. Rudolfs Heere – mit Salzburgs EB an ihrer Seite – machten 1275/ 76 Kärnten zu habsburgischem Besitz und als „Kollateralschaden“ Friesach samt Umland zu Ruinen. Zusätzlich forderte Rudolf Steuern, Sondersteuern und, nach dem Sieg, Siegessteuern. Geschichtenschreiber ethnisierten Ottokar häufig als „Böhmen“, den Sohn und Nachfolger von Rudolf, Albrecht, der 1288 Friesach „mit Feuer anzindet und abgebrennt“ hat, jedoch nicht als „Deutschen“. Ein Lokalhistoriker befreite die Eliten von Verantwortung: „Friesach wurde durch die kriegerischen Ereignisse zerstört“ (H. Gressel). In weniger als anderthalb Jahrzehnten, zwischen 1279 und 1292, hatten Kriegsherren die Stadt dreimal plündern und Teile einäschern lassen. 14 Im Gegensatz zur Unordnung der Herrschenden suchten seit den 1230er Jahren HandwerkerFamilien in Bruderschaften Ordnungen zu schaffen. Die Mitgliedschaft war teuer, ein Meister musste 120 Pfennige plus 76 an die mitkassierenden Obrigkeiten – Vizedom, Stadtrichter, Mautner – zahlen. Die Ordnung sicherte sie gegen den Aufstieg von Gesellen ab und gegen Fremde, die doppelt so

Im 14. Jahrhundert brannten Teile der Stadt viermal, im 15. Jahrhundert dreimal nieder.

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Markt- und Ackerbürger-Städte

viel zu zahlen hatten. Schuster und Lederer schlossen sich früh zusammen. In der Stadt lebten Bergleute, Erzgießer, Silberschmiede, Wildbret-Metzger und Bäcker, Färber und Kürschner, Garküchler und Löffelhersteller. 1296 gab es einen Müller, Bäcker buken Brot für Ärmere mit höherem Kleieanteil. Für den Bau steinerner Häuser – wie Bollwerken und Kirchen – kamen wandernde Steinmetze; der Nachname „Steinhauser“ signalisierte Besitz. Einige Frauen entschieden um 1270, sich gemeinschaftlich durch Nähen und Stricken zu ernähren sowie Krankenpflege und Totenwartung zu übernehmen. Nach der Kirche St. Mauritzen nannten sie sich „Mauritzianerinnen“, erhielten Schenkungen und kauften Hufen. Soviel Eigeninitiative wollte der EB nicht dulden: Er nannte das Haus „unansehnlich“, vertrieb die Frauen und richtete dort ein ummauertes Kloster für Augustinerinnen ein (1323). Ein Mautrecht erlaubte diesen die Kontrolle des Holzhandels und sie kauften von einer Witwe ein Sägewerk, das sie nach neuester Technik mit Wasser-betriebener Gattersäge ausstatten ließen. Auch Zisterzienserinnen, anfangs etwa dreißig an der Zahl, siedelten sich an und unterrichteten Bürgertöchter in häuslichen Fertigkeiten. Wie dachten die Friesacher*innen über den obersten Verwalter? Der Vizedom erhielt 800 Pfund Pfennige pro Jahr, 32 weitere für seinen Schreiber und knapp 1000 l Weizen, 2000 l Roggen, 160 l Hafer, Futterbedarf für drei Pferde, fünf Fass Wein zu je 1500 l, je 300 Stück Käse, Hühner und Eier, die gesamte Erzeugung der Meierei am Geiersberg. Er besaß das alleinige Jagd- und Fischereirecht. Zukaufen musste er, wenn der Salzburger Oberherr zu Besuch kam. Eine Handwerker-Familie hätte in ihrem ganzen Leben so viel nicht einnehmen können. Über sie und andere Menschen der Region kamen als weitere Desaster 1338 Heuschrecken, 1340 ein Stadtbrand sowie Kälte und Hochwasser, 1348 das große Friaul-Kärntner Erdbeben; 1349 schien es „Blut“ zu regnen. Dass dies verwirbelter roter Staub von Sandstürmen in der Sahara war, konnten die Menschen, die in St. Mauritzen den afrikanisch-römischen Märtyrer Mauritius verehrten, nicht wissen. Nach dem Großen Sterben verloren die Friesacher ihre Position. 15 Der Friesacher Pfennig wurde schon während der Herrscherfehden zeitweise

durch den Wiener und, östlich, durch den ungarischen Forint ersetzt und ab 1360 nicht mehr geprägt. Die Salzburger EB waren „Untermieter“ der Herzogsfamilie Habsburg geworden. Diese ließ seit etwa 1300 nahe der Gabelung der traditionellen Friesach-Route nach Wien und der Südostroute über Pettau nach Pannonien die Orte St. Veit und Völkermarkt zu Handelsstädten ausbauen und zwangen den Verkehr auf die neue SemmeringWien-Pannonien-Route, deren Maut ihnen gehörte. In der Drau-Ebene und der Brückenstadt Pettau (Untersteiermark), einige Tagesreisen südöstlich von Friesach, war nach dem römischen Abzug die Bevölkerung rapide gesunken. Die EB bauten den Ort an der Route Ungarn ←→ Oberitalien zur Grenzfeste aus und EB Konrad I. übergab 1100 die Burg samt Stadt seinem aus Bayern zugewanderten Ministerialen, Friedrich I. Für Ansässige war dies, wie in den transeuropäischen Familienregimes üblich, Fremdherrschaft. Die Burg sollte den EB-Besitz vor magyarischen Trupps, lokalen Kärntner Kleinadligen und raubenden Söldnern vieler Kulturen schützen. Auch Bulgaren-Herrscher zeigten Interesse an der Region. Für die EB ging die reale Bedrohung allerdings von der Ministerialen-Familie aus: Sie schuf sich zukunftsorientiert die Erzählung „des Geschlechtes der von Pettau“, die zweite Generation suchte Beute, die dritte Selbstständigkeit. Herr Friedrich Nr. III nahm 1217 an einem Kreuzkrieg teil, lernte während der erfolglosen Belagerung der ägyptischen Hafenstadt Damietta Ritter des Deutschen Ordens kennen, lud sie zu sich ein und gewann mit ihrer Hilfe gegen „die Ungarn“. Dies war gelogen oder, beschönigend, „Zwecklegende“, die Schlacht hatte zwei Jahrzehnte früher stattgefunden. Er stattete die Ordensritter mit Besitzmit-Menschen aus, sie richteten sich als Grenztruppe in Ormož/Friedau die Komtur Großsonntag/Velika Nedelja ein und expandierten auch nach Graz. Nach Westen gelang es dem amtierenden Herrn in Pettau, seinen jüngeren Bruder als Bischof in Gurk einzusetzen. Dessen Einkommen zahlten Friesacher und Gurker Bäuer*innen und Bürger*innen. Im Drautal sprachen gehobene Städter und Handwerker mitteldeutsche Dialekte, städtische und ländliche Unterschichten slowenische. Hinzu kamen

Die Friesacher jüdische Gemeinde, um 1340 mit 100–150 Personen die größte in Kärnten, scheint 1349 kein Pogrom betroffen zu haben. Sie ist in den 1350er Jahren weiter belegt.

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Abb. 8.6 Besitzungen und Heiraten „der von Pettau“ (Ptuj) verbanden über die gesamte Region lokal Ansässige und ihre Zwangsabgaben mit der Herrscher-Familie und ihren Vor-Rechten sowie Herrscher-Familien untereinander „Die Pettauer“ waren – sprachlich statisch – nach der Familie Celje/Cilli die zweitreichste Familie Styrias; dynamisch formuliert hatten sich beide Familien dazu gemacht. Ihren Besitz einer Burg-mit-Unfreien ab 1111/1122 erweiterten sie bis 1219 auf vier und ab 1240 rapide auf (nicht immer gleichzeitig) 69 Besitzungen. Beim Tod des letzten männlichen Erben 1438 besaßen sie 41 Burgen und Mautstellen. Ihre Heiratsfernverbindungen reichten bis nach Prag, Orte an der westlichen Donau und Frankopan/Senj an der Adria; die Mehrzahl der Ein- und Ausheiraten betrafen Herren-Familien in einem Viertelkreis nach Westen und Norden. Jede Heirat bedeutete Migration von Begleiter*innen, Diener*innen und Gesinde.

die wenigen Menschen hebräischer Sprache und die ebenfalls wenigen, die Lateinisch als Kirchen- und Herrschaftssprache nutzten. Auch für diese Menschen waren FamilienMachtkämpfe im Inneren weit bedrohlicher als Feinde von außen. Nach dem Ende der Herrschaft Babenberg 1246 konkurrierten die Familien Přemysl (Ottokar II.), Árpáden (Béla IV.) und Habsburg (Rudolf I.) um Besitzübernahme und deren Männer bemühten sich zügig um erbberechtigte Babenberger Frauen. EBin spe Ulrich beteiligte sich, kämpfte, floh, wurde gefangen gesetzt. Als ihm das Geld ausging, nahm er 1251 einen Kredit

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bei Familie Árpád auf und gab als Pfand (bis 1260) die Bewohner*innen seines Teils der Steiermark. Das Königspaar Stephan V. und Elisabeth (von kumanischer Kultur) 16 residierten zeitweise in Pettaus Burg. Der in fünfter Herren-Generation amtierende Friedrich V. war anpassungsbereit und beutegierig. Er war zeitweise Vertrauter des árpádischen Königs, ritt mit seinen Freunden im Deutschen Orden gegen Pruzzen und Litauer und machte sich nach dem Sieg Rudolf Habsburgs zu dessen Vertrautem. 17 Obwohl – oder weil – sie dem Erzstift unterstanden, ließen sich „die von Pettau“ keine Residenz in Salzburg bauen, sondern kauften Häuser im kosmopoli-

Kumanen/Kiptschaken hatten vor Mongolen flüchten müssen und Überlebende siedelten östlich vom Plattensee/Balaton. Eine kritische Strophe der „Steirischen Reimchronik“ über ihn wurde, wohl unter einem Enkel, entfernt: Kontrolle über historische Erinnerung.

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Markt- und Ackerbürger-Städte

tischen Wien der Familie Habsburg. Die Sicherung und Erweiterung der Familienposition zählte, nicht Loyalität („Treue“) zum EB. Die Kauf-Familien der Stadt, zum Teil ungarischer oder italienischer Herkunft, handelten entlang der Laibacher Adria ←→ Pannonien-Straße, bis mongolische Trupps nach 1240 die Routen nach Siebenbürgen, zu den Erzen der Karpaten und zur pannonischen Viehwirtschaft unterbrachen. Nach Wiederherstellung ihrer Macht riefen die ungarischen Herrscher in den 1250er Jahren Siedlerfamilien aus Frankreich, Wallonien und dem Rheinland. Sie erhoben östlich von Pettau Zoll und die habsburgischen Herrscher lenkten westlich den Handel über die längere Semmering-Route und Wien nach Ungarn um. Jede Änderung von Handelsvolumen bedeutete eine Einkommensänderung für die in Handel und Transport Arbeitenden, aus dem biblischen „unser täglich Brot“ wurde im Alltag mehr oder weniger Brot. Zum Schaden der Salzburger Untertanen in Pettau und in Friesach gaben die Habsburger Magnaten 1339 ihren Untertanen in Windisch-Feistritz/Slovenska Bistrica an der Weggabelung nach Graz-Wien ein Niederlagsrecht und verboten gleichzeitig, Transitwaren aus Venedig über Pettau nach Ungarn zu führen. Mehtildis/Mathilde, Witwe der Herrenfamilie, gründete 1230 ein Kloster und rief Steinmetze, die auch in Celje, Maribor und Varaždin gearbeitet hatten. Zuwandernden Franziskaner-Minoriten wies die Herrenfamilie Hörige zu, denn hätten sie gebettelt, wäre der Gegensatz zu anderen Klerikern allzu deutlich geworden: Der Pfarrer besaß einen Meierhof und war, in Ämterhäufung, auch Vizedom. Die Minoriten ließen eine geräumige Kirche bauen, die Bildhauer nahmen schlesische, Wiener und Prager Anregungen auf. Sie waren später in Ormož und Hajdina tätig. Gebete halfen den Menschen nicht gegen die Heuschrecken, die 1309 alles fraßen. Sie suchten, rechtlich unfrei, zwischen lokalen und Salzburger Herren zu manövrieren. Als erstere begannen, Bürgerhäuser aufzukaufen, suchten sie erfolgreich Hilfe bei EB-Ministerialen. Urkunden aus dem 14. Jahrhundert geben Einblick in den Kauf, Verkauf und die Stiftung von Einkünften, Häusern, Äckern, Weingärten und Gehöften. Meist handelten ein Mann und „seine Haus-

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frau“, allein handelten Witwen oder Meisterinnen. Auf ihre Herkunft verwiesen Beinamen wie „der Wälsche“ oder „der Lombarde“; Berufsangaben zeigten Vielfalt: Fleischhauer und Bäcker, Bergmeister und Spitalmeister, Schneider und Hofschneider, Bader, Brunnenröhrenmacher, Bürstenmacherin, Schmied und Zimmermann, Goldschmied, Schreiber und Amtmann, Messnerin. Hinzu kamen Futterhändler, Gerber, Färber, Schuhmacher sowie Gürtelund Riemenmacher, Sattler, Töpfer, Fassmacher, Fenstermacher, ein Maler und ein Pergamenter. Ein*e Kunsthandwerker*in schuf für EB Friedrich III. einen Altar-Frontbehang aus Leinen, bestickt mit Seiden-, Gold- und Silberfäden und vergoldeten Platten. Der Bürger Matej und seine Hausfrau führten 1377 ein Badehaus als Lehen und mussten, genau verzeichnet, Ministerialen, Koch, Jäger und Hausknecht der Herrenfamilie unentgeltlich einlassen. Wie Unfreie allgemein wurden sie alle nur mit Vornamen genannt. 18 Arbeiter, Lehrlinge, Gesinde und Bettler erwähnten die Urkundenden nicht, ein Armenhaus gab es seit 1328. Alle mussten sich auf dem Markt mit vielen Währungen und Gewichten auskennen: Salzburger, Grazer, Wiener und Aquileier Pfennige; Mengen in „Pettauer Maß“; Gewicht als „Donau“ („Bayerisches“, „Wiener“) Pfund zu 560 g oder Böhmisches Pfund zu 514 g. In dieser differenzierten Gesellschaft rechneten die Menschen komplex. Nach der Pest wohnten in Pettau nur noch – oder wieder – 2000 Menschen, separat genannt wurden Vasallen und Ministerialen („Stadtadel“) sowie dreißig Priester. Juden lebten gegen Gebühren in der „Judenstraße“, besaßen Synagoge und Friedhof, und Handwerker*innen stellten koschere Nahrung und rituelle Kleidung her. Ihre Handelsbeziehungen mögen angesichts der Grenzlage besonders wichtig gewesen sein, bei Geschäften mit Christen siegelte ein „Judenrichter“ die Urkunden. Herren-Familien nutzten Finanzkräftige für niedrig verzinste Darlehen und hohe Steuern, die Schuldurkunden nannten als Gläubiger*innen meist Mann und Frau, manchmal Söhne oder Schwiegersöhne. Zu Klienten „der Juden“ zählten hohe Weltund Kirchenadlige vom EB in Salzburg über den Bischof in Krka/Gurk bis zum Abt in Gornji Grad/ Oberburg.

Pirchegger (Pettau, Teil II, 24–28) gab nur Urkunden von Bürger*innen wieder, damit fehlen Hinweise auf Migration und Fernbeziehungen.

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Anders als Friesach und Pettau war Saalfelden im fruchtbaren Saalach-Becken im Westen der Diözese Ackerbürgerstadt. Schon Menschen keltischer und römischer Kulturen hatten die Region landwirtschaftlich und für den Erzbergbau genutzt. Die Burgherren-Familie (ab ~1130) agierte als Raubritter sowie als EB-Verweser und Waldmeister. Die etwa 150 ansässigen Schwaigen hatten jährlich etwa 4000 Stück Käse und Butter zu zinsen. Die Stadtkleriker zwangen die Ange-Hörigen kleiner Nachbarorte, sich in der Oberkirche einzufinden: Gottesdienst bedeutete lange Wege. Die Gemeinde diente den Chiemseer Bischöfen als „Tafel-“ oder „Mensalgut“, ihre Vikare mussten in den 1320er Jahren jährlich fünfzig Pfund Salzburger Denarmünzen einheben. 19 Kleinhäusler und Bauern, die Hand- und Fuhrfronen (Spanndienste) zu leisten hatten, besaßen nur je ein Zugtier und mussten daher Wagen gemeinsam bespannen. Alle hatten Wegefron zur Instandhaltung der Straßen zu leisten; Fortifikationsfron zur Pflege landesfürstlicher und, später, landständischer Gebäude sowie von Pranger und Galgen; Jagdfronen als Treiberdienste und zum Transport von Wildbret nach Lofer sowie von Viehsalz nach Zell. Hinzu kamen Boten- oder Postfronen bei Durchreise des Landesfürsten und seines Hofstaates, Schubfronen zur Beförderung von Gefangenen sowie Naturalabgaben wie Vogt-, Pfleger- und Jagdhafer. Weinsäumende ländliche Familien hatten einen wichtigen Anteil an der städtischen Entwicklung. Sie trugen vor 1200 nur geringe Mengen Salz aus Hall nach Süden, mit Erschließung der Saline Berchtesgaden-Schellenberg wuchs der Lieferumfang in die Täler der Möll und oberen Drau. Südlich der Pässe war Meersalz preisgünstiger. Die Säumer hatten ihren Besitzern einen Anteil Wein zu zahlen, meist die Ladung eines Saumpferdes je Jahr. Mit steigendem Transportvolumen wuchsen die Abgaben auf jährlich 58 Saum zu je fünfzig Litern Reifal, „König“ der Friauler und Görzer Weine. Die Säumer wandelten ihre Arbeit von zeitweiser Fron zu lohnbringendem Haupterwerb, ihren Status von Acker- zu Stadtbürgern, ihre wirtschaftliche Position durch ein verbrieftes Privileg. Sie lebten in hölzernen Bauten. Als reich-Gewordene sich Steinhäuser errichten lassen wollten, waren die römischen

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Baukenntnisse verloren gegangen und sie mussten Steinbauleute aus Burghausen anwerben. In Zell, durch eine Hügelkette getrennt, wurde der steinerne, Macht demonstrierende Vogtturm und Abgabenspeicher das beherrschende Gebäude. Als Säumer-Familien in vor-sichtiger Verringerung der grundherrschaftlichen Beziehung begannen, Weinabgaben durch Geldzahlung abzulösen, mussten sie als Zeichen ihrer Untertänigkeit Wein„Ehrengeschenke“ an EB-Beamte geben. Einzelne nutzten ihre Vorrangstellung: Ein Gastwirt wurde Urbar-Amtmann mehrerer Grundherrschaften, zog Abgaben ein und verschaffte sich Einfluss. Diese Akkumulation ließ ihn und andere sich Bereichernde den kapitalintensiven Einstieg in den Bergbau im nahen Leogang wagen. Vor-teile strebte auch die EB-Kurie an. Dafür wandelte sie im 13. Jahrhundert die Bewohner*innen in ein Pfleggericht mit 48 naturräumlich-nachbarschaftlichen „Rotten“ (später „Zechen“) und Gemeinrechten an Weiden, Waldstücken und Almen. Sie konstituierte die Bewohner als Lastengemeinschaft: Konnte eine Hauswirtschaft ihre „Vorschreibung“ nicht erfüllen, hafteten alle anderen dem Rottmeister. Zu den neuen Fronen gehörten die Beschaffung von Material sowie der Unterhalt gelernter Handwerker für den aus Stein erbauten Sitz des Pflegers. Für Über-Fron-Stunden erhielten sie Geld. Angesichts des Verbots, Waffen zu tragen, bedurften sie einer besonderen Erlaubnis, um zwei Bärenund Wolfsjäger zu bestellen. Ein späteres, in Meistererzählungen angeführtes Diktum behauptete, „unter dem Krummstab ist gut leben!“ Wer sprach? Die Bauern forderten Verwaltungsnähe, lokale Vierteil-Meister und, für jedes Tal, einen Hauptmann. Sie wünschten eine effiziente Verwaltung. Im Norden der Kirchenprovinz lag zwischen der Handelsstadt Passau am Zusammenfluss der Wasserwege Inn-Ilz-Donau und den Grenzorten Tulln und Klosterneuburg am Eingang zur Pannonischen Ebene die Mikroregion der Wachau mit mildem Klima und Obst- und Weinbau. Händler in den Donauhäfen Stein und Krems vermarkteten Weine, importiertes Salz und Eisen in großen Mengen, Münzer prägten von 1130 bis 1190 den Kremser Pfennig. Donaufluten und Eisstöße beschädigten, zum Bei-

Alois Eder (Hg.), Chronik Saalfelden, Saalfelden 1992, bes. Fritz Koller, „Pfleggerichtsgemeinde und Marktort Saalfelden“, 119–137.

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Markt- und Ackerbürger-Städte

spiel 1173 und 1210, Häuser und Lagerräume. Die Kuenring-(Raub)-Adelsfamilie plünderte Krems 1231, der König in Böhmen belagerte es und ebenso hussitische Gegner der Familie Habsburg. Wie in Friesach mussten die Einwohner*innen vielfach neu anfangen. Nach Stein riefen sie einen italienischen Freskenmaler, der um die Mitte des 14. Jahrhunderts die Minoritenkirche St. Ulrich ausschmückte. Glockengießer siedelten sich in Krems an, Steinbrecher in den nahen Hügeln, da sie ihre gewichtigen Produkte Donau auf- und -abwärts vermarkten konnten. Der nördlich anschließende, bewaldete Hügelzug trennte das Donautal vom Böhmischen Becken und war Wasserscheide zur Donau und zur Elbe. Böhmerwald und Waldviertel galten als deutsch und böhmisch-sprachigen Herren-Familien als Konfliktraum. 20 In den Burg- und Ackerbürgerstädten Weitra und Gmünd legten Landbesitzer ihre kleinen Äcker zu Haupt- oder Ur-Feldern zusammen und bewirtschafteten Streifen, sogenannte Lüssen, im Dreijahres-Rhythmus. Den in der Granit-reichen Region aktiven Steinmetzen erfanden christliche Legendenbildner eine Genealogie: Vier „SteinhauerKünstler“ hatten zur Zeit der Christenverfolgungen Diokletians in Arbesbach gelebt. Sie hielten an ihrem Glauben fest, wurden umgebracht und, später, zu (lokalen) Heiligen erhoben. Erste Steinbauten ließen Klosteräbte errichten, zugewanderte Zisterzienser ab 1137 das Stift Zwettl (westslaw. světlý = helle Lichtung). Stadtbürger übernahmen die Bauweise. Auf böhmischer Seite initiierten die Familie des Witiko (Wittigonen/Vítkovci) aus Prčice und die Familie der Herren aus Rosenberg/Páni z Rožmberka seit dem 12. und 13. Jahrhundert wirtschaftliche Entwicklung unter anderem durch Anwerbung von Zuwander*innen für Třeboň und Hradec (später Jindřichův Hradec = Heinrichs Burg/ Schloss). Als Zoll- und Handelsort für Salz aus Hallein diente Prachatice, in dessen Nähe Jan Hus um 1369 geboren werden würde. Magnaten benötigten Steinkugeln für Geschütze und vor den zahlreichen Fehden erhielten Steinmetze Aufträge, in kurzer Zeit 2000 oder mehr herzustellen. Dies erforderte Überstunden und Hilfsarbeit sowie, für die Anliefe-

rung, Zugvieh, Wagen, Fuhrleute. Solch ungewöhnliche Betriebsamkeit nahmen bedrohte Burgbesitzer wahr und Bot*innen verbreiteten Nachrichten schnell, um sich Belohnungen, Zubrot genannt, zu verdienen. Angesichts kirchlicher und bürgerlicher Nachfrage investierten viele Herren in der Quarzsandund Holz-reichen Gegend in Glaswerke. Granit verwitterte zu Quarzkies, der händisch oder nach Erfindung der Nockenwelle in wassergetriebenen Pochwerken zu Sand zerstoßen werden konnte und sich mit Pottasche (Kaliumkarbonat) aus Eichen, Buchen oder Fichten als Fließmittel unter hohen Temperaturen zu Glasmasse schmelzen ließ. Glasbläser formten mit Pfeifen kleine Mengen zu Blasen, verfeinerten diese zu Glasgerät und erreichten Färbungen mit Mineralien aus fernen Abbaustätten. Der Prozess erforderte bis zu anderthalb Dutzend unterschiedliche Berufe. Für die Verpackung der zerbrechlichen Ware war wiederum Holz notwendig. War der Holzvorrat erschöpft, ließen sich die Anlagen demontieren und an neuem Ort wiedererrichten; Handwerker*innen und Hilfsarbeiter*innen, die in kleinen Hütten mit Krautgärten zur Selbstversorgung wohnten, zogen mit. Säumer, die Halleiner Salz nach Prag transportierten, frachteten Getreide auf dem Rückweg und nahmen in wohldurchdachter Logistik Glaswaren mit. Abgeholzte Flächen nutzten zuwandernde ländliche Familien und an Umschlagplätzen entstanden Ortschaften. Die Fließgewässer der Hügellandschaft eigneten sich für ausgedehnte Teichsysteme zur Zucht von Karpfen und Hechten und klösterliche und weltliche Grundherren- oder, später, Bürger-Familien investierten. Verdienstvolle Teichbauer, meřičkové, spezialisierten sich in Buschbrenner, die das Gelände säuberten, Bauleute, die es fundamentierten und mehrlagige Dämme errichteten, Planierer, die den Teichboden glätteten und Säuberer für Wasserfluss in den Kanälen. Fronarbeiter*innen, die das Abfischen im Frühjahr oder Herbst übernahmen, schafften die Lebendware in Frischwasserbassins, damit sie den Schlammgeschmack verloren. Zur Versorgung fernerer Städte, zum Beispiel an der Donau oder in Prag, montierten Fuhrleute Wasserbot-

Zu den nordwestlichen Städten Passau und Regensburg (heutiges Bayern) vgl. den knappen Überblick von Jürgen Dendorfer in: Alois Schmid (Hg.), Das alte Bayern. Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter, München 2017, 402–416.

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

tiche auf ihre Wagen. Der Ruf der Fachleute reichte weit: Salzburgs FEB Matthäus Lang forderte den berühmten Teichbauer Štěpánek Netolický an. 21 Vom 10. bis 13. Jahrhundert ließen meist zugewanderte Herren-Familien Burgen errichten, boten sich den Familien Přemsyl/Böhmen und Babenberg/ Österreich als Grenzkrieger an und begannen Kämpfe, wenn für ihr Einkommen oder ihre Lust auf Kriegsspiel zweckmäßig. Im Umfeld der Burgen entstanden Siedlungen, um 1250 gehörten zur Passauer Diözese am Südhang 13 Städte und Märkte sowie „Mindermärkte“ ohne Rechte; sie umfassten durchschnittlich nur etwa 50 Häuser, um 1400 weniger. Die anfangs vorherrschende migrantische Ministerialen-Familie Kuenring ent-machtete die ebenfalls zugewanderte Oberherrscher-Familie Habsburg angesichts deren Nähe zur Přemsyl-Familie.

Die Menschen der Städte, Märkte und Ländereien unterhielten intensive Kontakte zu transeuropäischen Machtzentren oder wurden dazu gezwungen. Die Friesacher mussten zu den Baukosten des Stephansdoms beitragen, weil – sehr weltlich – Rudolf IV. Habsburg seinen Schwiegervater Karl/ Karel IV. und dessen Kathedrale St. Veit im Hradschin (hradčany) übertrumpfen wollte. Karl/Karel (Luxemburg-Přemysl) war verheiratet mit Blanca Margarete (Valois), Anne (Bayern), Anna (PiastenSchlesien, Eltern in Ungarn) und Elisabeth (Pommern, Eltern in Polen). Er und Blanca (1316/ 17–1348) schufen die Kultur-métissage-Achse Prag ←→ Paris. Sie gründeten die Prager Universität 1348, Scholaren wanderten zu, Jan Hus würde dort lehren. Für ihre Tische züchteten die Waldviertler Karpfen.

8.3 Zentraler und Residenz-Ort: Salzburg-Stadt Im 9. Jahrhundert erstreckte sich die Bebauung der Residenzstadt am linken Flussufer vom Nonntal über das Kaiviertel (gehai, Uferverbauung) bis vor den Garten „Unserer Lieben Frau“ oder „Frauengarten“ im Westen. Unbebautes Land bearbeiteten Hörige für Domherren, Abt und Äbtissin. Für weiteren Flächenbedarf mussten die Geröllbänke des Flusses in mühevoller Arbeit aufgeschüttet werden (gries, gstätten) und drei Generationen später hatten Zuwander*innen und die Kinder Ansässiger das Gelände zwischen Porta und Fluss besiedelt. Rechnende Kaufleute bauten enge Gassen, Untertanenfinanzierte Herrschende weitläufig-repräsentativ. Im späten 10. Jahrhundert siedelten Menschen erneut an dem seit Ende der römischen Herrschaft ungenutzten rechten Ufer. Eine Brücke mag existiert haben (urk. 12. Jh.). 22 Die EB ließen ihren Wirtschafts-Hof durch Palisaden ab- und einschließen, die „Bischofs-Stadt“ war gated community. Markt-, Maut- und Münz-

prägungsrecht gestand Kaiser Otto III. dem EB – nicht den Bürger*innen und ländlichen Marktbeschicker*innen – zu. Ein Münzmeister der bayerischen Herzöge prägte mit seinen Gesellen Pfennige nach Regensburger Gewicht; die EB ließen sich später auf für den Fernhandel geprägten Denaren abbilden. Im Vergleich zum Friesacher Pfennig blieb ihre Bedeutung gering. Münzgewinn, Zollzwang für fremde Marktbeschicker und, später, Brückenzoll waren Teil des EB-Einkommens. 23 Unter den fünf Kategorien der Bewohner*innen mit unterschiedlichem Rechtsstatus bildeten die Mitglieder der eingegrenzten und damit selbst-ausgegrenzten geistlichen Gemeinschaften die erste. Vor den Hof-Toren, besonders der Porta, lebten, zweitens, christliche Kauf- und Fernhändler-Familien, solche jüdischen Glaubens nach mosaischem und latini nach italienisch-römischem Recht. Um diesen Doppelkern wohnten, drittens, Handwerker-Familien mit Lehrlingen, unverheirateten Ge-

Markus Cerman, „Mittelalterliche Grundlagen: Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im Waldviertel bis zum frühen 16. Jahrhundert“, in: Herbert Knittler (Hg.), Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels, Horn 2006, 1–76; Georg Wacha, „Zur Geschichte des Fischhandels in Oberösterreich“, in: Beiträge zur Rechts-, Landes- und Wirtschaftsgeschichte, Graz 1964, 416–442; Glas- und Steinmuseum Gmünd und Štěpánek Netolický-Haus Třeboň (Stand September 2018). 22 „Salzburg“, in: Felix Czeike u. a. (Hg.), Österreichischer Städteatlas, Bd. 5.1, Wien 1996; Adolf Hahnl, „Bauliche Entwicklung“, in: Geschichte Salzburgs, 1.2:836–865; Peter F. Kramml, Sabine Veits-Falk und Thomas Weidenholzer, Salzburg. Eine Stadtgeschichte, Salzburg 2017. 23 Heinz Winter, „‚blos aus dem Krummstab wird erkennet, daß es ein Bischof und kein Gespenst sein soll‘. Die Münzprägung der Erzbischöfe von Salzburg im 12. Jahrhundert – Eine Neubewertung“, in: Jörg Drauschke, Ewald Kislinger u. a. (Hg.), Lebenswelten zwischen Archäologie und Geschichte. Festschrift für Falko Daim zu seinem 65. Geburtstag, 2 Bde., Mainz 2018, 593–604. 21

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Zentraler und Residenz-Ort: Salzburg-Stadt

Abb. 8.7 Grundherrschaften St. Peter, Domkapitel, Erentrudis, unterlegt mit modernem Straßenverlauf

sellen und Dienstfrauen als Inwohner*innen minderer Stellung. Die vierte Gruppe, Gesinde einzeln oder in Partnerschaften mit Kindern, war zahlreich, die Kleriker-Grundherren quartierten die ihrigen innerhalb ihrer Mauern ein. Randständig und, in doppelter Bedeutung, not-wendig siedelten, fünftens, mobile Arbeitsleute und Arme. Diese Reihung spiegelt Kaufkraft und Macht wider, sie beginnt mit der kleinsten Gruppe. Unfreie durften Familiennamen nicht führen und so wurde ihren Rufnamen gelegentlich der Wohnort hinzugefügt: „von“ Bürgl-

stein, Frauengarten, Mülln, Brücke, oder für Zuwander*innen „von“ Verona, Bern, Köln, Regensburg, Schwaben, Flandern. Die Kleriker samt ihren seit Augustinus „unaustilgbaren“ Privilegien bezeichnete Max Weber als „unassimilierbare Fremdmacht“ in der Stadtwirtschaft. In Selbsterhebung „zum Vorbild aller privilegierten Stände im Abendland“ (O. Hintze) besaßen sie eigene, exklusive Kirchen und die seit Nicäa vor-gesetzliche, privi-legierte Steuerfreiheit nutzten sie für gewinnorientiertes Wirtschaften. In kom291

Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

parativem Selbstbezug suchten sich die MönchsKorporationen in Ausstattung gegenseitig zu übertrumpfen. 24 Ebenfalls getrennt, aber nicht ummauert, lebten die machtlosen, gelegentlich einflussreichen Familien mosaischen Glaubens. Da sie den EB Schutzgeld, collatio, zahlen mussten, hieß ihr Wohnort collatio-Gasse; eine umgangssprachliche Lautverschiebung machte daraus „Goldgasse“. Urkunden nannten sie selten, deshalb schien es sie nicht gegeben zu haben. Urkundenschreiber nannten viele Menschen nicht. Die kirchlichen Korporationen besaßen für ihr mobiles Personal Pferdeknechte und Ställe, doch stellten Maler galoppierende Kleriker nicht dar. Ihr Bedarf an Knechten, Diener*innen, Handwerker*innen und, für Luxusgüter, Fernkaufleuten und -Familien erforderte Zuwanderung und Handelsreisen. Ihre Salzvermarktung seit Ende des 12. Jahrhunderts erforderte Transportarbeiter*innen, ihr Bau des Mühlenkanals ad molendinas/ Mülln Erdabeiter*innen. Märkte waren nach Handelsgut unterteilt, Kirchen nach Stand segregiert: St. Peter für Kleriker*innen, St. Michael als Pfalzkapelle, die Kapelle des hl. Johannes als Taufkapelle für Bürger*innen. Erst im 10. Jahrhundert wurde St. Michael Pfarrkirche. Fern-Kaufleute und Handwerksmeister entwickelten sich zur „Bürgerschaft“ – der Singular des Rechtskonstrukts verstellt den Blick auf die oft konträren Interessen. Angesichts ihrer wirtschaftlichen Bedeutung – Vermögen im doppelten Sinn von Qualifikation und Besitz – handelten sie zunehmend selbstständig und suchten sich einen eigenen Bereich zwischen Herren und Inwohner*innen zu schaffen. Während der Investiturfehde konzentrierte der pro-päpstliche EB Gebhard seine Bautätigkeit auf militärische Zwecke. Er ließ Fronarbeiter*innen und herangezogene Spezialisten die weitgehend hölzerne Hohensalzburg „versteinern“ und die Festungen in Friesach und Werfen verstärken. Den Untertan*innen, die er mit sich auf die Seite des Papstes gestellt hatte, boten die Burgen keinen Schutz, die Arbeitskraft-Eigenen (rights in persons) galten nicht wie in anderen Gesellschaften als Wert-voller Besitz. Angesichts der vielen elitären Feindschaften ließen die EB die Stadt mit Mauern umgrenzen, Zugang boten bewachte Tore. Ärmere Menschen siedelten

sich „vor dem Tore“ an – ein Topos, der sowohl wirtschaftlich wie kulturell wichtig wurde. EB Konrad (I. h. 1106–1147) stellte wieder auf Sakralbauten zurück und reorganisierte den Grundbesitz der Kanoniker und Klöster. Bei seinem Einritt bot sich den Städter*innen ein denk-würdiges Bild: Die Ministerialen hatten sich in der Burg verschanzt und zerstörten in bewaffnetem Ausfall das Festmahl ihres neuen, im Dom eine Messe zelebrierenden Oberherrn. Sie sahen, dass der Neu-EB seine Macht mit 1000 familiär ausgeliehenen Rittern demonstrierte (zeitgenössische Zahl). Konrads Bauleute errichteten für die Domherren, die neu eingerichteten Domfrauen (urk. 1130) und die Laienbrüder das aufwändige Domkloster mit drei getrennten und jeweils eigenem Kreuzgang versehenen Einheiten; für ihn selbst eine prunkvolle Residenz; und für die an der Steinschlag-gefährdeten Mönchsbergwand residierenden St. Peter-Mönche einen sichereren Klosterbezirk – fast wie ein Getto – mit neuer Klosterkirche. Die Bautätigkeiten mussten umsichtig ausgeführt werden. Als bei unvorsichtigem Glockengießen Laienbrüder und Mönche 1127 oder 1128 einen Dombrand verursachten, half in Elitenvernetzung König Stephan II., Ungarn. Mit seinem Geld entstanden zwei wuchtige Türme für wuchtige Glocken. Die 1139 gebaute Marienkirche, „Zu unserer lieben Frau“, löste St. Michael als Pfarrkirche ab, war also Stadt- und Klosterkirche. Äbte und Unterbischöfe, positioniert zwischen Urbanität und klösterlicher Abgeschiedenheit, suchten EB-Nähe wie Weltadlige Königsnähe und die EB ihrerseits erwarteten, dass die Gefolgsleute sie höfisch umgäben. Die Prälaten von Herrenchiemsee, Admont, Seckau, Propstei Berchtesgaden u. a. ließen sich Prachtbauten errichten, wurden stadtsässig, brachten Eigen-Dienstleute mit, kauften und vermieteten Immobilien. Land-sitzende Gläubige finanzierten die Kleriker-Urbanität. Angesichts des Bedarfs an Rüstungen und an Berufskleidung von Kutten bis zu golddurchwirkten Ornaten fanden Handwerker*innen gute Arbeitsmöglichkeiten; Dom-, Peters- und Erentrudis-Frauen fertigten Stickereien. Ihre Geschichten spinnenden und Narrative webenden männlichen Kollegen, die vermutlich nicht wussten, dass „Text“ von textura, Gewebe, abgeleitet war, verschwiegen dies. Sie konnten, um im

Marianne Weber (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Aufl. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1985 (11922/23), 795–796. Otto Hintze, „Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung“, in: ders., Staat und Verfassung, Göttingen 31970, 140–185, Zitat 174.

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Bild zu bleiben, keine komplexen Bindungen und Verknüpfungen schaffen. Handwerksgesellen, Knechte und Dienstfrauen an den Stadträndern waren oft mangel- oder gar unterernährt und entsprechend anfällig für Krankheiten. Die Untertan*innen ohne Infrastruktur zogen sich Trinkwasser aus Schöpfbrunnen und Zisternen und trieben Vieh und Pferde an den Fluss. Da Wassermangel Gewerbe und innerstädtische Landwirtschaft behinderte, beschlossen Domprobst und Abt von St. Peter, einen Kanal durch den Mönchsberg schlagen zu lassen. Ein artifex (Kunstmacher) mit Zimmerern, Bergleuten und Fronarbeiter*innen unternahm das komplexe Projekt. Zwischen 1136 und 1143 leiteten sie vom Untersberg Wasser mittels Holzrinnen über das Moos/ Moor zur Stadt und schlugen 370 m Stollen durch den Fels. Der „Almkanal“ trat beim Petersfriedhof aus und teilte sich in je einen Arm für Domkapitel und Kloster. 25 Der Wasser-Lauf bot Kraft für Mühlen, Sägen, Walkereien, Wäscherei und sicherte bei Bränden die Löschwasser-Versorgung. Er ist bis in die Gegenwart funktionsfähig. Löschwasser musste oft geschöpft werden: Der – kerzenbeleuchtete – Dom brannte zwischen 845 und 1598 achtmal ab, das Erentrudis-Kloster dreimal, auch das Peters-Kloster mehrfach, Teile der Stadt zwischen 1196 und 1383 sechsmal. Schwere Schäden brachten auch Hochwasser. 26 Nach jeder Katastrophe mussten die aus Wohnung und Lebensplanung herausgerissenen Bewohner*innen neu anfangen. Wie sie trauerten und sich behalfen, notierten Chronisten nicht und nach der Brandstiftung der Grafen von Plain 1167 sah ein Archidiakon Schaden (calamitas) nur für die Kirche, ein Historiker eine „harte Prüfung“ der Stadt. Schutz, auf den laut Herrschaftstheorie die Schutzgeld zahlenden Untertanen Anspruch hatten, war nicht Teil von Herrschaftspraxis. Für jeden Wiederaufbau mussten die Bewohner*innen Mittel besitzen, Bauholz herantransportieren, lagern und trocknen. Als ein Jahrzehnt nach der Brandstiftung EB Konrad III. Wittelsbach (h. 1177–1183) sein Amt antrat, waren die Schäden

noch sichtbar. Er nahm ab 1181 den neuen Dom als größten kirchlichen Sakralbau in Süddeutschland in Angriff. Seine Familie hatte kurz vorher in Bayern die Herrschaft übernommen – war familiäre Schaustellung notwendig? Bei der Fundament-Ausschachtung fanden Arbeiter laut amtlicher Bekanntmachung das Grab Virgils und an den Gräbern der EB Hartwig und Eberhard I. ereigneten sich, ebenfalls laut Bekanntmachung, Wunder. Virgil seinerseits hatte Ruperts Gebeine nach Salzburg bringen, bestatten und zur Schau stellen lassen. Gebeine waren handfester Teil der Konstruktion von Institutionsgenealogien und, dank Spenden von Wallfahrer*innen, von Finanzplanung. Für den Dombau wurde Geld dringend benötigt. Als nach 1167 die Zahl der Bewohner*innen wieder stieg, dehnten sie ihre Wohn- und Arbeitsgebiete bis zur Käsgasse und Getreidegasse, also zur Salzachbrücke aus. Forderte der Stadtrat nach Bränden feuersicheren Steinbau, stiegen die Baukosten und Bewohner*innen, die diese nicht aufbringen konnten, sahen sich an den (Stadt-) Rand gedrängt. 27 Die rechtsufrige Linzer Vorstadt ließ Hz Heinrich (Niederbayern) niederbrennen, als er den 1256 gewählten EB Ulrich unterstützte, bevor dessen Kirchengut verschleudernder Vorgänger Philipp abgesetzt war. Ulrich gelang der Einritt erst 1264, aber er war verhasst und trat – aus seiner Sicht wegen der Bosheit des Plebs, propter maliciam plebi – bald zurück und die Bürger*innen sahen seinem Ausritt zu. Er hatte die Pettauer Bürger*innen zur Finanzierung böhmischer und österreichischer Söldner an den ungarischen König verpfändet. Ungarische Könige galten als Fremdherrscher. Aber galten die EB als eigene Herrscher? Seit dem 12. Jahrhundert nahmen die Profitstrebigen EB die Salzproduktion wieder auf. Der Absatz war fast selbstlaufend: Menschen benötigen 1,5–2 kg jährlich, eine Kuh 33 kg, zur Konservierung von Fleisch und der Herstellung von Käse war es unabdingbar. Die Arbeiter*innen der Saline Hall, urk. ab 1323 Reichenhall, produzierten kostengünstig: natürliche Solequellen mit künstlich angelegten Brunnen samt Schöpfgalgen; Sieden in

Die Arbeit erfuhr 1141 durch Bergsturz einen Rückschlag und der Abt beendete die Kostenbeteiligung, zahlte aber 10 Talente Silber, um bei Fertigstellung Wasser ableiten zu dürfen. Als, unerwartet, der Durchstich zügig gelang, randalierten wütende St. Peter-Adelsmönche. 26 Bei dem Hochwasser von 1571 kamen mehr als 2200 Menschen um, etwa ein Drittel der Bevölkerung. 27 Günther Binding und Norbert Nußbaum (Hg.), Der mittelalterliche Baubetrieb nördlich der Alpen in zeitgenössischen Darstellungen, Darmstadt 1978, 46–47. 25

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zahlreichen kleinen Pfannen. Da der Prozess ununterbrochen lief, arbeiteten sie auch an Sonnund Feiertagen. Produktion übertrumpfte Gottesdienst. Um den Ort gab es – noch – endlose Wälder zum Einschlag von Brenn- und Verpackungsholz, aber das Abholzen beeinträchtigte Bauern-Familien und Viehtrieb. Die EB besaßen einen Drittel-Anteil an den Sudpfannen und Arbeiter*innen, die übrigen Teile besaßen eine Grafenfamilie, Stadtbürger und die Mönche von St. Zeno. 28 Sie hatten eine Monopolstellung in Süddeutschland, Böhmen und dem Ostalpenraum, kleine Salinen an anderen Orten dienten nur der lokalen Bedarfsdeckung. Die EB, bereits in polit-religiöser Konkurrenz zu den Kaisern, standen ab ca. 1170 nach Übernahme des Anteils der Grafen-Familie durch die WittelsbachHz auch zu diesen in Konkurrenz. Die Herzöge ließen zusätzlich in Hall (Tirol) Salz abbauen. Erzbischöfliche Prospektoren, die im 12. und 13. Jahrhundert nach neuen, bergmännisch zu erschließenden Lagerstätten suchten, wurden von Berchtesgaden über Dürrnberg bis Hallein fündig. Die Pröpste-Unternehmer im Klosterstift Berchtesgaden (Bayern) ließen Salz am Tuval für ihren Eigenbedarf abbauen, entwickelten daraus jedoch ein florierendes Exportgeschäft. Doch waren Besitzverhältnisse und Rechte umstritten und die KlerikerKonkurrenten wandten sich an den fernen Papst und Kaiser. Dafür ließen die Pröpste ihr „Recht“ in eine ältere Urkunde „interpolieren“, wie ihnen freundlich gesinnte Historiker es nannten. Die Besitzer der konkurrierenden Saline in (Reichen-) Hall ließen 1193 Bewaffnete die Anlagen am Tuval zerstören. Zwar stellte der Papst sich auf die Seite des Propstes, aber die Anlage war „stillgelegt“. Der Berchtesgadener Propst eröffnete auf eigenem Besitz 1194 die Saline am Schellenberg, die Salzburger Konkurrenten hatten 1190 Gleiches am Dürrnberg begonnen. Das Gelände, aber nicht die Schürfrechte, gehörte den St. Peter-Mönchen, die

ihre Urkunde ebenfalls schnell interpolierten. Sie und die EB bauten die Saline Klein-Hall (Hallein) in wenigen Jahren zur führenden Produktionsstätte im Ostalpenraum aus. In aggressiver Konkurrenz unterstellten die EB-Verwalter den (Reichen-) Haller Stadtbürgern ein aufgeblähtes Selbstbewusstsein bei unterentwickelter Zahlungsmoral für den Zehnten und schickten unter diesem Vorwand 1196 ein Überfallkommando, das die Stadt samt Kirchen, aber ohne das Kloster, niederbrannte. In den folgenden Konkurrenzkämpfen mit dem EB-Wittelsbach gingen Teile der Salzburger Wohnhäuser 1200 und 1203/04 in Flammen auf und später ließen die Reichenhaller die Orte Grödig und St. Leonhard niederbrennen (1364). 29 Die Expansion der Saline Hallein überforderte sowohl die technischen Fähigkeiten der Bergleute und Siedearbeiter*innen wie die Investitionsrahmen von EB, St. Peter-Mönchen und ErentrudisNonnen. 30 Deshalb rief EB Eberhard II. aus seinem schwäbischen Geburtsort Salmannsweiler mit Kloster Salem Mönche des 1098 gegründeten Zisterzienser-Ordens, der um 1250 bereits ein Netzwerk mit über 650 Niederlassungen von Iberien bis Polen umfasste und sich Bauernland und Teile der Finanzmärkte angeeignet hatte. In Rand- und Nachbargebieten der Kirchenprovinz errichteten sie 1129 das Kloster Rein (slaw. rauna, Talebene) an einer Handelsstraße nördlich von Graz und von dort aus, unter Patronat des EB Aquileia, 1136 das Kloster Sittich östlich von Laibach/Ljubljana. Andere kamen auf Einladung der zu Kärntner Herzögen aufgestiegenen Spanheim-Familie aus Lothringen und gründeten 1142 das Kloster Viktring bei Klagenfurt/Celovec, erwarben um 1220 Häuser in Marburg/Maribor (Drau) und erhoben sich zum mächtigsten Grundbesitzer der Stadt. Außerdem erwarben sie in der Untersteiermark (heutiges Slowenien) Weingärten. Wieder andere ließen sich im Grenzgebiet zu Bayern in Raitenhaslach (Burghau-

Nach Papst Gregors Dialogi-Erzählung rettete Zeno (gest. ~372), Bischof in Verona, bei verheerendem Hochwasser der Etsch die in die Kirche geflüchtete Bevölkerung. 29 Heinrich Wanderwitz (Studien zum mittelalterlichen Salzwesen in Bayern, München 1984, bes. 197–208) beschrieb die komplexen Besitzverhältnisse: Im 11./12. Jahrhundert waren insgesamt etwa 20 kirchliche Institutionen von Domherren über Kloster Göttweig bis nach Passau und Bamberg sowie einige weltliche Adlige an Sach-, Wald- und Menschenbesitz, lat. servientes, homines ecclesie nostre, beteiligt. Rudolf Palme, „Grenzüberschreitende Salzgewinnung im Mittelalter“, in: Jürgen Schneider (Hg.), Natürliche und politische Grenzen als soziale und wirtschaftliche Herausforderung, Stuttgart 2003, 11–27; Franz V. Zillner, „Zur Geschichte des salzburgischen Salzwesens“, MGSL 20 (1880), 1–64; Fritz Koller, „Die Abtei St. Peter als Salzproduzent und Montanunternehmer“, in: Festschrift von St. Peter zu Salzburg 582–1982, Salzburg 1982, 159–186. 30 Herbert Klein, „Die Geschichte des Lehenschichtwesens auf dem Dürrnberg bei Hallein“, MGSL 94 (1954), 122–152; Fritz Koller, „Hallein im frühen und hohen Mittelalter“, MGSL 116 (1975), 1–116. 28

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Zentraler und Residenz-Ort: Salzburg-Stadt

Abb. 8.8 Ausbreitung der Zisterzienser in Lateineuropa, 12./13. Jh.: Wichtigste Orte, Netze, Fläche Die zahlreichen religiös-wirtschaftlichen Kloster-Komplexe belegten die Mobilität von Bauleuten für jeden Klosterbau, die Ansiedlung und Vertreibung von unfreien Hufenfamilien und -gesinde, Wege zu Märkten für den Ver- und Einkauf. Diese Darstellung könnte überlagert werden durch die Netzwerke anderer Ordensgemeinschaften und weltlicher Herrscher. Sie würde modernen Betrachter*innen dadurch unverständlich werden, zeitgenössische Sesshafte verstanden die hohe Mobilität und die Netzwerke.

sen) nieder und im Grenzgebiet zu Böhmen in Zwettl. Sie gründeten translateineuropäisch in Städten Höfe für die Vermarktung ihrer Produkte, eigneten sich ebenso weitläufig beträchtliche Teile des Arbeitsertrages von Land- und Handwerks-Familien an und beteiligten sich mit den Einnahmen und kirchlicher Glaub-Würdigkeit, wie zu gleicher Zeit genuesische Kaufleute, am gewinnträchtigen Kreditwesen und an Finanzmärkten. 31 Die Mönche richteten in Hallein einen Wirtschaftshof ein. Fachkundige Bergwerker, die ihr salinarius zuwandern ließ, legten technisch innova-

tive Schöpfwerke unter Tage an, konnten durch geschickte Stollenführung mit eingeleitetem Süßwasser tieferliegende Salzschichten auslaugen und betrieben 1210 bereits neun Pfannen. Die etwa 200 Knechte/Knappen/Knaben erhielten Land zur Selbstversorgung und erstritten sich das Recht auf erbliche Beschäftigung. 32 Sie legten eine Soleleitung ins Tal, siedeten in besonders großen Pfannen und konnten direkt auf Schiffe verladen. Eisen für Pfannen und Werkzeuge lieferten ihnen die unfreien Bergwerker des Klosters in Abtenau. Der kapitalistische EB betrieb eine aggressive

Bernhard Nagel, Die Eigenarbeit der Zisterzienser. Von der religiösen Askese zur wirtschaftlichen Effizienz, Marburg 2006; Emilia Jamroziak, The Cistercian Order in Medieval Europe 1090–1500, London 2013, 1–12 zur Historiografie, 124–155 zu den Zisterzienser-Nonnen, 183–207 zur Wirtschaft; Christoph Bartels und Lothar Klappauf, „Das Mittelalter. Der Aufschwung des Bergbaus unter den karolingischen und ottonischen Herrschern, die mittelalterliche Blüte und der Abschwung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts“, in: Bartels und Rainer Slotta (Hg.), Der alteuropäische Bergbau. Von den Anfängen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Münster 2012, 111–248, hier 207–217. 32 Ländliche Hauswirtschaften besaßen Bergstücke, sogenannte „Erbarbeiten“, in denen sie neben ihrer Landwirtschaft Salzabbau betrieben. Frauen durften nicht Besitzerinnen sein; erbten sie, mussten sie ihren Anteil verkaufen. 31

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Abb. 8.9 Salzhandelsrouten, 11. Jh. bis 1500, mit Handelszonen adriatischen Meersalzes, polnischen Salzes sowie von Salz aus Lüneburg, Halle und anderen mitteldeutschen Salinen

Preispolitik. Er ließ die Produktion hochfahren und verdrängte Konkurrenten, besonders die Haller Sieder, durch Dumpingpreise und monopolisierte in einem zweiten Schritt die Vermarktung: Salzachabwärts erhielten die ein-fluss-reichen Schiffsherren 1267 das Transportmonopol bis zur Donau. 33 Von der Landestelle Passau aus transportierten Säumer – unter Kontrolle und gegen Maut – das „weiße Gold“ über den Goldenen Steig (späterer Name) durch den Böhmerwald nach Prag und in andere Richtungen. In einem dritten Schritt ließ der EB die Produktion der insgesamt dreieinhalb Pfannen von St. Peter, Erentrudis, Domherren, Salem und der Ministerialen-Familie Gutrat 34 reduzieren, aber nicht die eigenen. Der oberste Kirchenherr erreichte so zum Schaden aller Konsument*innen erhebliche Preissteigerungen. 35 Das Monopol warf hohe Gewinne ab, wie Sprache-ohne-Menschen es ausdrückt, und der EB 33 34 35

finanzierte den Kauf von Land-mit-Menschen, um das erzstiftliche Territorium zu konsolidieren. Er professionalisierte das Urkundenwesen und richtete einen Hofrat (curia) ein. Kauf-Familien schätzten ihn, denn er förderte den Fernhandel, ließ Marktund Mautstätten ausbauen, erhob strategisch gelegene Orte zu Städten, Hallein bereits 1229. Kirchlichen Korporationen teilte er das Marktrecht an ertragreichen Orten zu. In der Konkurrenz zu den Wittelsbach-Hz um die Salzachschifffahrt kaufte er Tittmoning und ließ es als Grenzmarkt befestigen. In Salzburg-Stadt verlieh er Münchener Kaufleuten gleiche Rechte, wie Regensburger sie bereits besaßen, und bestätigte in Friesach Handwerker-Bruderschaften. Gegenüber Bürgergemeinden ließ er Selbstverwaltung nicht zu, sondern bestand auf seinem „Recht“. Für ländliche Unfreie war diese Zeit eher Schadensgeschichte: Zerstörungen im Westen durch die

Fritz Koller, „Die Salzachschifffahrt bis zum 16. Jahrhundert“, MGSL 123 (1983), 1–126; Wanderwitz, Salzwesen, 209–312. Arbeiter an „halben Pfannen“ zinsten je Halbjahr an unterschiedliche Besitzer. Dopsch mit Mitterauer, „Hochmittelalter“, 1.1:331–334; Palme, „Salzgewinnung“, 23–35.

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Handwerker*innen

gewalttätigen Besitzkonkurrenzen EB ←→ Wittelsbach; im Nordosten die endlosen Kriege des Friedrich II. Babenberg. Menschen im südlichen Lungau betrafen anderthalb Jahre andauernde Erdbeben, alle betraf der eisige Winter 1233/34 und große Überschwemmungen entlang der Donau. 36 Nach EB Eberhards Tod 1246 be- und verhinderten sinnvolles Wirtschaften zuerst die schismatischen Nachfolger Philipp und Ulrich und, seit den 1280er Jahren, die Expansionskriege der Söhne und Enkel Rudolfs Habsburg. Trotz allem gelang es den überlebenden, vielfach zu Neuanfängen gezwungenen Frauen und Männern der Kirchenprovinz, über ein halbes Jahrhundert mehr Kinder großzuziehen und die Wirtschaft wachsen zu lassen. In der Residenzstadt, wo der Mönchsberg und umliegende nacheiszeitliche Moore die weitere Bebauung verhinderten, dehnten Alteingesessene und Neuansässige sowie deren Kinder und Kindeskinder ihre Wohnstätten nach Westen bis zur Gstättengasse aus und, rechtsufrig, nach Norden bis zum Schallmoos, nach Osten entlang des Kapuzinerberges. Sie differenzierten den Markt in Märkte: ein zweiter, neuer (heute: Alter) Markt, Gemüse- und Milchverkauf in Gassen,

Fleisch auf den Bänken auf der Brücke; Salz-, Rinder- und Grün- sowie Holzmarkt; rechtsufrig ein Getreide- und ein allgemeiner Markt. Die Verkäuferinnen von Milch, Eiern, Käse und frischem Gemüse mussten den Bedarf akkurat abschätzen, denn ihre Ware verdarb schnell. Soweit die Herren nicht Naturalabgaben heranführen ließen, kaufte das Küchenpersonal der Klosterhöfe – Lavant, Högelwerder, Raitenhaslacher, Brüder von München und andere mehr – ebenfalls auf den Märkten. Die gesamte, von mehr als zwanzig Generationen über die 600 Jahre bis zum 14. Jahrhundert erbrachte Arbeitsleistung durch do-it-yourself-Hüttenbau, bei der Werkstatteinrichtung, für Kauffamilienhäuser, beim Zimmern von Tischen und Schnitzen von Küchenlöffeln, lässt sich nicht schätzen. Immer neue Überbauung wäre zu addieren. Die sich chronologisch ab- und überlagernden Lebensweisen zeigten lokal-kulturelle Kontinuität, die vielen Brände und Stadtzerstörungen bedeuteten Brüche, frühen Tod oder Neuanfänge. Für die Städte des Salzburger Raums fehlt Handwerker- und Handwerkerinnen-Geschichte, für Regensburg und die sich entwickelnde Konkurrenzstadt Wien ist die Forschungslage besser. 37

8.4 Handwerker*innen Werkende formten und verformten in über Generationen entwickelten Prozessen von shape-shifting oder Metamorphose Rohmaterialien in Endprodukte, die sie, bei genauerem Überlegen, als variable Zwischenprodukte erkannten und weiterentwickelten. Sie verringerten den open-air-Anteil der Produktion zugunsten von Werkstätten. Es bedurfte des Zusammenwirkens vieler Allround- und Spezial-Werker, um Wohn- oder Verehrungs-Räume zu schaffen: Haus für Haus bauten sie Dörfer, Märkte und Städte, Karren und Wagen für die Wege zwischen ihnen, Sitz- und Schlafstellen für das „Innenleben“. Ärmere stellten ihre Hütten und ihr Holzgeschirr selbst her, Säumer und ambulante Händler*innen ihre Kiepen, Kraxen und anderen

Traggestelle. Je aufwändiger das Produkt, desto höher die erforderlichen Fachkenntnisse und desto weiter die Spezialisten-Wanderungen, die sich Wissen über das, was lokal wohnlich oder angemessen erschien, aneigneten. „Angemessen“ waren Körpermaße: haargenau, fingerbreit und handbreit, Handspanne, von Ellenbogen bis zur Spitze des Mittelfingers, Fuß und Schritt, Klafter als Länge der ausgestreckten Arme eines erwachsenen Mannes. 38 Menschen legten Maßstäbe regional fest: Eine Elle maß in Augsburg 58,7 cm, war in Bamberg, Nürnberg und Wien länger, maß in Regensburg gar 81,1 cm. Für den Hausgebrauch mussten sie sich um die Unterschiede nicht scheren, wie Textilarbeiter*innen es ausdrü-

Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, Wien 2007, 219–220, 311– 327. 37 Historisches Museum Regensburg, Mittelalterliches Handwerk. Archäologische Spuren in Regensburg, Regensburg 2018; Markus Gneiß, Das Wiener Handwerksordnungsbuch (1364–1555). Edition und Kommentar, Wien 2017, 11–39, 69–176. 38 Inch und foot werden bis in die Gegenwart in britischen Maßsystemen verwandt. 36

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Abb. 8.10 Im Vergleich: a) Alltägliches Gerät und Brotgitter in einer Kammer, b) Spezialprodukt Reliquiar Reproduktion einer Kammer mit Flechtkörben, Kohlhobel, Bottich, Reisigbesen, Brotgitter auf Astgabelhalterung, Salzburger Freilichtmuseum; Reliquiar des Goldschmiedes Perchtold für Abt Rupert Keutzl, 1494, mit Szenen aus dem Leben Christi (Silber vergoldet, Perlmuttreliefs)

cken würden. Wollten sie ihre Produkte jedoch weiträumig verkaufen, war Übersetzung der Maße notwendig. In Familienökonomien und integrierten WohnWerkstätten erbten Männer und Frauen Werkzeuge oder mussten sie in Anfangsinvestition beschaffen. 39 Familien verbesserten kontinuierlich ihr Zeitmanagement von Produktionsschritten und Verkauf und senkten die Zeit-Stückkosten. HausHandwerk und massenproduzierende Haus-Industrie gingen seit dem 11. Jahrhundert ineinander über. Manche Menschenbesitzer förderten oder forderten eine marktorientierte Spezialisierung ihrer Unfreien. Die Beinschnitzer in Burg Gutrat stellten aus Geweihsprossen, Mittelhand- und Mittelfußknochen von Schweinen und Beinknochen von Gänsen (Möbel-) Beschläge, Griffe, Spielteile und Musikinstrumente, Gerät- und Waffenteile her. 40 Ihren Alltagsbedarf stellten viele Menschen aus

Rinder- und Pferdeknochen selbst her. Sie besprachen Arbeitsprozesse, tauschten Rezepte und waren Werkzeugmacher. Mit der Monetarisierung der Zwangsdienste stiegen für ihre Kinder und Kindeskinder individuelle und kollektive Dispositionsmöglichkeiten. Die Innovationsfunktion „der Städte“ war Leistung von allen, die mit vorhandenen funds of knowledge neu-gierig experimentierten und Anregungen oder Kritik ihrer Kunden für bestmögliche – bezahlbare – Produkte aufnahmen. Sie arbeiteten „interdisziplinär“: Wagenbauer mit Schmieden, Text-Illuminator*innen mit Farbspezialist*innen.

Für Handwerksgerät siehe lokale Museen, besonders instruktiv z. B. in Bramberg im Pinzgau und für Küchenhandwerks-Gerät das Freilichtmuseum Großgmain; technische Einrichtungen wie Gattersäge und Hammerschmiede an vielen Orten, z. B. in Kirchberg und bei Arbesbach. 40 Felix Lang, „Beinschnitzerei auf der Burg Guetrat bei Hallein. Ein archäologischer Beitrag zum mittelalterlichen Handwerk“, Salzburg Archiv 34 (2010), 41–70. 39

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Händler mit kommunikativen Fähigkeiten und dem Wissen um Provenienzorte beschafften die Materialien. Die EB und andere ließen Stile nachahmen, die sie in Rom oder Avignon, in einer Kaiserpfalz oder Burg kennengelernt hatten. Im Blickwinkel mancher wohlhabender Bürger-Familien waren sie maß-gebend für ostentativen Konsum. Ansässige und zuwandernde Produzent*innen studierten eingeführte Werkstücke und überlegten, welche zusätzlichen Kompetenzen sie benötigten, um Ähnliches selbst herzustellen. Mobile „Goldschmiedeschulen“ siedelten sich temporär an Konsumzentren wie Höfen und Kathedralen an. Kloster-Korporationen, abgegrenzt von Stadtund Handwerksordnungen, besaßen Vorteile: Steuerbefreiung und Unfreie sowie hochqualifizierte Laienbrüder gegen Gottes-Lohn, Kost und Unterbringung. Marktwirtschafts-Klöster benötigten zahlreiche Spezialhandwerker*innen, solche mit Weingärten Fassbinder. Die bedeutsame, aber quantitativ geringe Rolle der Mönche ist überbetont worden, denn sie schrieben die Erzählungen, die spätere Schreiber als „Quellen“ nutzten. Entsprechend fehlte die Rolle von Nonnen. Unter Bezug auf Ecclesiasticus 38 – Menschen am Pflug und in der Schmiede könnten sich ihrer Produkte erfreuen, aber nicht weise werden – schrieben die Mönche fest, dass Kirchenwerk höherwertiger sei als Laienwerk. Den adligen Schichten, in denen sie sozialisiert waren, galt händische Arbeit als ehrlos und als Bußleistung. Handwerker konstruierten Bottiche wasserdicht, Mönche – wie sie glaubten – Diskurse kritikdicht. Chronisten folgten der Praxis, Neues hervorzuheben. Brot war Grundnahrungsmittel und Backkunst selbstverständlich, sie überlieferten keine Rezepte. Bier war neu. Frauen oder Hausgemeinschaften brauten es angesichts des hohen Kalorien- und niedrigen Alkoholgehaltes auch als Nahrungsmittel. Meier- und Hufenbauern zwischen Salzburg und Laufen bauten, zum Teil als Fronabgabe, Hopfen an. In Klöstern brauten Laienbrüder, die Mönche

hinterließen eine breite Palette von Rezepturen und vermarkteten ihre lokale Einbindung, in Salzburg „Stiegl“-Bier (seit 1492) oder „Augustinerbräu“ (seit 1621). 41 Auch Schnitzer vermittelten begrenzte Sichtweisen: Holzschnitte stellten Arbeitende mit grobem Werkzeug dar, Feinwerkzeug wie Stichel für filigrane Stein- und Holzarbeit und Nähnadeln für Röcke oder Kasel fehlten. Ihre Technik erlaubte Details nicht und Vereinfachendes gilt als „holzschnittartig“. Nur wenige Autoren beschrieben Produktionsprozesse oder verfassten Handbücher. Steinmetze und Architekten gaben seit dem 9. Jahrhundert Musterbücher in Abschriften weiter. Statik-Berechnungen entwickelte ein Student namens Gerbert (~946–1003), der in Katalonien arabische Wissenschaft aufgenommen hatte, an der Domschule in Reims lehrte und als Sylvester II. Papst wurde. Produktionsprozesse mit Elitenbezug beschrieb der niederländisch-kölnische Benediktinermönch Theophilus Presbyter in Schedula diversarum artium (zw. 1100 und 1125): Techniken für Buch-, Wandund Glasmalerei, Goldschmiede-, Orgelbauer- und Glockengießerkunst. Die mathematischen Kenntnisse für das Schleifen von Edelsteinen mit der gewünschten Brechung von Lichtstrahlen hatten fast ausschließlich Männer jüdischer Bildung. Die artes mechanicae und liberales verbanden Gelehrte, als sie sich im 12. Jahrhundert „Neues“ aus lateinischen Übersetzungen alter griechischer Texte, zum Beispiel Euklids, und arabischer Autoren für praktische Geometrie erschlossen. 42 Umfassend ging Herrad aus Landsberg, Äbtissin des Klosters Hohenburg (Elsass, frz. Mont SainteOdile), in ihrem Hortus Deliciarum/Garten der Köstlichkeiten als Zusammenstellung des Wissens für Frauen (zw. 1170 und 1190) vor. Zu Turm-Baustellen, Beispiel Babel, bot sie eine tätigkeitsgenaue und undramatische Illustration. 43 Villard de Honnecourt, weitläufig von Nordfrankreich bis Ungarn gewandert, zeichnete 1235 ein Bauhüttenbuch 44 und

Die Mönche ließen anfangs an der Klosterpforte verkaufen, erwarben dann Schenken und Gaststätten und verkauften steuerfrei. Gerhard Ammerer und Harald Waitzbauer, Wege zum Bier. 600 Jahre Braukultur, Salzburg 2011, 9–19. 42 Hans-Werner Goetz, Europa im frühen Mittelalter 500–1050, Stuttgart 2003, 256–258; Erhard Brepohl, Theophilus Presbyter und das mittelalterliche Kunsthandwerk, 2 Bde., Köln 1999. 43 Es handelte sich um einen in Mesopotamien zur Verehrung der Götter üblichen Zikkurat, den der König des mächtigen assyrischen Nachbarreiches zerstören ließ. Die in Erzählungen beklagte Sprachverwirrung beim Bau erstaunt angesichts der Vielfalt der herangezogenen Kriegsgefangenen, Deportierten und Fremdarbeiter*innen nicht. 44 Lucie Hagendorf, „Das Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt“, in: Binding und Nußbaum, Baubetrieb nördlich der Alpen, 1–21, vgl. viii, 43, 91– 127. 41

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Abb. 8.11 Turmbau (zu Babel) mit Steinmetzen und Handlangern und deren beid- oder einhändig geführten Geräten (v. l. n. r.: langstielige Mörtelmischhacke, rechteckiger Trog, Mulde, Schlageisen und Holzklöpfel, Doppelspitze; obere Reihe: Lot mit Abstandhalter, Winkeleisen, Mörtelkelle), Nachzeichnung aus dem Hortus Deliciarum, f. 27

das Livre des métiers (1258) des königlichen Richters und Vorstehers der Kaufmannsgilde in Paris, Étienne Boileau, legte Pflichten und Rechte von Handwerkern fest: Sie mussten schwören, sachgemäß und „gerecht“ zu arbeiten und einwandfreies Material zu verwenden. 45 Der Dominikaner-Mönch Vinzenz im Beauvais beschrieb in seinem Speculum naturale, doctrinale, historiale (1240–1260) Bau-, Garten-, Land-, Vieh- und Weinwirtschaft. Wissen gaben Handwerker*innen durch Mobilität mündlich und durch mitgetragene Texte schriftlich weiter. Im 12. Jahrhundert stellten zuerst Glaskunsthandwerker im französischen Teil der Lateinkirche Arbeitende in Segmenten von Kathedralen-Fenstern dar und, seit dem 13. Jahrhundert, Buchmaler*innen in Anleitungen für Gebete, sogenannten Stundenbüchern. 46 Ein später für Maria, Herrscherin in Burgund (Flandern, 1477), hergestelltes Stundenbuch ging über Ehemann Maximilian I. in den Besitz der Familie Habsburg-Österreich über. Weit umfassender waren die „Hausbücher“ der von Konrad Mendel 1388 in Nürnberg eingerichteten Zwölfbrüderhaus-Stiftung. Die Männer, dargestellt mit charakteristischen Tätigkeiten und Werkzeugen, wurden als Hand-werkende ernst genommen, die wenigen Werkzeuge deuten auf hohe

Abb. 8.12 Vermessende Frau mit Zirkel und Messrute: Geometria als eine der mechanischen Künste, Nachzeichnung aus dem Hortus Deliciarum, f. 32r

Spezialisierung; Vielfalt von Tätigkeiten hätte kostentreibende Vielfalt von Werkzeugen erfordert. 47 Die Gewerbe lassen sich gemäß benötigten Rohstoffen und Fähigkeiten zusammenfassen: (1) Nahrungsmittel, Naturalien, Gewebe und Leder erforderten Arbeitsgeräte aus einheimischen Materialien, Familienarbeit, kindlich-jugendliche Sozialisation als Lehrjahre; Verkauf in der Werkstatt (vielleicht mit Schau-Fenster) oder mittels fahrendem Produzent*innenhandel. Für den temporären und personalisierten Bedarf wanderten Scheiderinnen, Glockengießer und Kesselflicker selbst. (2) Aufwändigeres wie Transportmittel, Grobgeschmiedetes, metallenes Kleidungszubehör und einfache Waffen erforderten spezielle Werkzeuge und familiäre Produktionsgemeinschaften mit einwohnenden Lehrlingen/Gehilfinnen und lohnarbeitenden Gesellen. (3) Spezialist*innen für komplexes Kleidungszubehör, verzierte Waffen, edelmetallene Pressblecharbeiten für den begrenzten Markt wohlhabender Familien und Institutionen lösten ihre Werk-Stätten von Adels- und Klosterhof, mussten jedoch aus Marktorten weiterhin Abgaben an ihre Besitzermönche oder -familie zahlen. Über Zwischenhändler*innen produzierten sie für Konsument*innen, die nicht unmittelbar Wünsche und

Günther Binding mit Gabriele Annas, Bettina Jost und Anne Schunicht, Baubetrieb im Mittelalter, Darmstadt 1993, 104–106. Wilhelm Hansen, Kalenderminiaturen der Stundenbücher. Mittelalterliches Leben im Jahreslauf, München 1984. 47 „Vom ‚Ablader‘ bis ‚Zuckermacher‘“, Stadtbibliothek Nürnberg, https://hausbuecher.nuernberg.de (12. September 2020), 5 Bände mit 1460 Abbildungen, beginnend im Jahr 1425. 45

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Bedürfnisse kommunizieren konnten. Spezialisierung – Teileproduktion – ermöglichte Qualitätssteigerung und erforderte Liefersysteme für Rohstoffe, Halbfertigprodukte und Lebensmittel. Hinzu ka-

men (4) die Produktion für hohe Eliten in der Großregion und (5) für ferne Konsumenten über Fernkaufleute.

8.5 Berufe und Prozesse: Haus-Werk-Stätten, Wohnräume, Stadtlandschaften Das differenzierte Leben in den kleinbetrieblichen Großwerkstädten, im Folgenden detailreich, aber doch sehr vereinfacht dargestellt, konnten Herren mit „einem Schlag“, wie für Friesach und Pettau beschrieben, zerstören lassen. Die Menschen, die Feuer-nutzende Berufe wie Schmiede und Töpferei sicherheitshalber randständig ansiedelten, hatten Angst vor feuerlegenden Knechten arbeitsscheuer lokaler Ritter. Schmiede gingen in religiöse und soziale Vorstellungswelten ein: Sie arbeiteten mit Feuerzangen, „es ist besser Hammer als Amboss zu sein“. Sie differenzierten sich tätigkeitsspezifisch bereits in dörflicher Welt (s. Kap. 7.6) und, städtisch, zusätzlich in Klingen-, Messer-, Schlüssel- und Schlossschmiede; Waffenschmiede für Schwerter, Kettenhemden, Harnische und Büchsen; Nagel- und Baubedarfsschmiede; Werkzeug- einschließlich Nadel- und Zirkelschmiede. Zeitökonomie und Kostensenkung bedeuteten tagein-tagaus wiederholte Tätigkeiten. Gerber arbeiteten wegen ihrer Geruchs- und Schadwasseremissionen ebenfalls an Ortsrändern. Sie kauften Häute von Metzgern und Schindern (Fellabziehern) oder über Fernhändler aus Ungarn und wussten, dass sie je nach Herkunft unterschiedliche Eigenschaften hatten. Sie benötigten Rinden und Pottasche oder Tonerdesalze und waren Bottichmacher- und Färber-Familien verbunden. 48 Größere Betriebe erforderten Investitionen in mehrstöckige Häuser, denn auf die ebenerdige Nassbearbeitung folgte Trocknung in luftigen Dachböden und Weiterverarbeitung in Zwischengeschossen. Rot- und Lohgerber bearbeiteten große, schwere Häute mit Lohen aus Eichen- und Fichtenrinde für Schuh-, Sattel- und Saumzeugleder. Weißgerber arbeiteten mit mineralischen Salzen, um Farben zu fixieren, zum Beispiel Alaun aus Ägypten und Focea (bei Smyrna/Izmir). Ihre dünneren und edleren Leder aus Kalbs-, Schafs- und 48 49

Ziegenfellen dienten als Bucheinbände oder Bekleidung. Sämischgerber stellten durch Walken mit Fett oder Tran wasserdichtes Leder her, Rotlöscher und „Corduaner“ Feinleder, wie es über Córdoba bezogen werden konnte, Pergamenter Schreibmaterial. Für jeden Riemen, jede Trageschlaufe, jeden Handschuh benötigten Schuhmacher, Riemenschneider und Sattler das passende Material. Besonders Nahrungshandwerker*innen hatten herausragende – aber selbstverständliche – Bedeutung. Ihre Auslagen waren sichtbarer als ihre Werkstätten: Backstube, Schlachtraum, Küche. Bäcker – getrennt für (Roggen-) Brot, Kuchen, Zuckerwerk – und Metzger oder Knochenhauer und Wurstmacher waren in Zeiten von Teuerung schnell, aber oft schuldlos verhasst. Metzger lieferten Sehnen an Bogenmacher und Schweineborsten an Bürstenmacher. Fleischer erhielten Werkzeug von Messerern; Bäcker, Lebzelter und Hausfrauen von Modelstechern. Zutaten lieferten Eierhändlerinnen, Imker, Käsemacher, Fischer und Aalfischer sowie Kräuterfrauen und Wurzer mit lokalen Gewürzen. In Herren-, Wirts- und Privathäusern verarbeiteten Köch*innen eine Vielfalt von Rohmaterialien. Sie kauften Geräte von Besenbindern, Kesselflickern, Beckenschlagern und Kleinböttchern. Getränke lieferten Bierbrauer und Weinpfleger (Küfer). Bekleidungshandwerker*innen spannen wie seit Jahrtausenden Fäden und webten Tuche (Kap. 3.4): 49 Leinwandbindung mit gleichmäßig abwechselndem Kett- und Schussfaden als die einfachste Form mit „natürlichem“ Fach; Köperbindungen mit künstlichen Fächern für Muster; „gewirkte“ Stoffe, in denen Schussfäden nicht über die ganze Stoffbreite führten; Atlasbindungen für Glanzeffekte. Textilwerkerinnen kontrollierten nach „Strich und Faden“, Strich auf Faserrichtung und Faden auf Brüche, damit Tuche recht waren. Frauen trugen Tunika-ähnliche Gewänder, Männer Hemd-ähnliche

Färber bezogen Rohstoffe aus der Levante, flämische Färber arbeiteten 1208 in Wien, in Polen wurden 1259 Schwarz- und Waidfärber differenziert. Tuchscherer bereiteten „rauhes“ Tuch auf, Kardätschenmacher stellten Weberdisteln her.

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Abb. 8.13 Drechsler, Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung, um 1425

Oberteile und Hosen mit Beinbinden aus Leinen. Beider Fußkleidung bestand aus Lappen oder Schnürleder. Berufskleidung wie Lederschürzen, Werkzeugtaschen und Gürtel für Schlüssel stellten Lederer und Gürtelmacher*innen her, für den Bedarf Bessergestellter benötigten Schuh- und Handschuh-Macher feines Importleder. Für die Einkleidung von Kopf bis Fuß arbeiteten Hutmacher, Hemdnäher*innen, Gürtler (mit Beschlägen von Gelbgießern), Knopfschnitzer, Strumpfwirker*innen und für Verzierungen Posamenter*innen und Spitzenklöpplerinnen. Getragene Kleidung erneuerten Altwender*innen. In den Holzgeräte-Berufen stellten Groß- und Kleinbüttler Fässer, Bottiche, Buttergefäße und Becher her, 50 Drechsler und Schachtelmacher Geräte, Bandreißer lieferten ihnen Weidenzweige als Bindematerial. Ebenisten und Intarsienmacher benötigten ferne Rohstoffe, Korbflechter*innen lokale. Ihre Arbeit hatte Jahrtausende lange Genealogien: Drechslerei seit der Jungsteinzeit mit Dreh- und Fiedelbohrern zur Erhitzung von Zunder und Schaftborung von Äxten; Töpferscheiben seit dem 7. Jahrhundert v. u. Z. in Etrurien. Die technische

Entwicklung stimulierte die Nachfrage nach Stein-, Bernstein-, Edelstein- und Holzbohrungen: Die im 13. Jahrhundert u. Z. erfundene Wippfußdrehbank behielt den kontinuierlichen Wechsel der Drehrichtung bei, erlaubte aber beidhändiges Halten des Werkstückes. Eisen- und Chemie-Handwerker differenzierten ihre Tätigkeiten: Eisenschneider und -treiber, Drahtzieher, Feilenhauer, Beckenschlager, Kupferschmiede, Graveure und Damasculierer, 51 Eisengrätzer, Schwertschleifer, Schwertfeger für Endmontage und Münzpräger. Primär religiöse Gebrauchsgegenstände schufen Rosenkranzmacher und Zinngießer für Kelche. Wachsarbeit, besonders Kerzenziehen, lernten Kinder im Haushalt früh. Wieder griff Spezialisierung: Wachszieher*innen stellten für kirchliche Konsumenten besonders feine und teure Kerzen für Altar und Feiertage her. Viele von ihnen schufen sich ein zweites Standbein als Lebzelter*innen durch Verkauf von Honig und Honigkuchen oder von Lebkuchen mit Gewürzen von Fernhändlern. Sie waren beliebt und angesehen, die Gerüche ihrer organischen Chemie wurden geschätzt. 52 Seidensticker, Bernsteindrechsler, Goldschmiede und Edelsteinwirker produzierten Messgewänder und Roben, Krummstäbe und Kronen, Reliquienschreine und Schatztruhen. Händler – besonders solche mit Zugang zu den Katakomben in Rom – bedienten die Nachfrage nach Reliquien. Andere lieferten „second-hand“ Teile wie die Elfenbeintäfelchen des Salzburger Perikopen-Manuskriptes, importierten liturgische Geräte und Tafelgeschirr. Die Pfund Pfennige, mit denen Kunden zahlten, hatten Einsackler oder Einpfenniger von kleinen Leuten eingehoben. Würden-Träger, die ein Amt bekleideten, zählten nicht zu den Handwerkern. Im Bauwesen überwog Holz als Material auch für Wehr-, Wohnburg- und sakrale Gebäude bis ins 10. Jahrhundert. Aus Hütten und kleinen Häusern entwickelten Spezialisten Fachwerkhäuser mit statisch sinnvollem und für die sichtbaren Fassaden ästhetisch schönem Gefüge und Steinfüllung der Gefache. Hausgrößen wuchsen parallel zur Akku-

Prozessverlauf: Passgenauer Zuschnitt der Dauben, Binden mit Reifen, Schneiden der Nute für Boden und Deckel, deren Einsetzen; Berufsbezeichnungen nach Holzart: Weiß-, Rot- und Schwarzbinder für Nadelholz, Buche, Eiche. 51 Die Technik des Verschweißens von mehreren Lagen unterschiedlich harten Stahls stammte aus dem indisch-persischen Raum. Fertige Klingen wurden mit Säure in gewünschten Ziermustern angeätzt, dabei entstanden Strukturen je nach Beschaffenheit des Stahls. Die Produkte erreichten Europa über die Drehscheibe Damaskus. 52 Muskatnuss, Ingwerpulver, gemahlener Kardamon, Koriander und gemahlene Nelken. Lebkuchenteig sollte Wochen oder Monate lagern, um durchzuziehen. Kurt Weinkamer, „Die Lebzelter im Lande Salzburg und auch jene in Bayern, Oberösterreich und Tirol“, MGSL 142 (2002), 9–90. 50

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mulation von Kapital. Während des Baubooms im 11. Jahrhundert heuerten wandernde Fachleute Hilfskräfte aus lokalen Arbeitskraftreservoirs an und bildeten sie aus. Der häufige Ortsname „Steinkirchen“ belegt, dass die meisten Kirchen der Zeit aus Holz gebaut waren und Steinbau anfangs oft „der Kirche“ vorbehalten blieb. Wie die Kleiderherstellung erforderte der Bau lange Vorbereitung. Holzarbeiter schlugen Bauholz mit langstieligen, beidhändig geführten Äxten in designierten Wäldern im Winter, bereiteten die Stämme zu Balken auf und transportierten sie mit Schlitten oder flößten sie auf Bächen, Flüssen und Schwemmkanälen. Bohlenmacher und Brettschneider sägten das Holz zurecht. Findige Praktiker entwickelten Wasserrad-getriebene Sägemühlen, vielleicht Mühlenbauer in Frankreich im 13. Jahrhundert – als einzige zwischen römischer und industrieller Zeit notwendige Innovation. Wissend um die Bedeutung von genealogiae, nannten spätere Nutzer Gattersägen (seit dem 14. Jh.) „Venezianersägen“ und schrieben, noch später, die Erfindung Leonardo da Vinci, geboren erst 1452, zu. 53 Langhölzer mussten gemäß geplanter Funktion belastbar sein: als Deckenbalken in Bauern- oder Stadtbürgerhäusern, Burgen und Krönungssälen und als Turmkonstruktionen in Kapellen und Kathedralen. Decken-Spannweiten von 10–15 m und hohe Dachstühle erforderten gewaltige Stämme und eine genaue Kenntnis der Altstände: Flößer lieferten Holz aus den Wäldern an Isar, Traun und Enns oder Mur und Etsch für den Großkirchenbau. Wo ein Grundherr für Burg, Bollwerk oder Dom massenweise Bauholz schlagen ließ, konnten Ansässige über lange Jahre keine Häuser bauen. 54 Das Heranschaffen des Materials erforderte menschliche Arbeit, Ochsen- oder Pferdegespanne und passende Geräte, lederne Tragschlaufen für die Stirn, Rückentragen aus Holzgestell, Körbe mit flachem Boden, Traggestelle oder Säcke für Lasttiere, Geschirre für Karren, Wagen, Schwertransporte; auf der Baustelle: Holzeimer und -bottiche, Kistenund Schüsselmulden, Tragbretter mit gekrümmten Holmen zum leichteren Anheben, Schubkarren mit

Abb. 8.14 Bau von Fachwerkhäusern, ~1465–1470, am Rand einer offenbar zerstörten, befestigten Anlage („Les Chroniques de Hainaut“, Buchmalerei) Arbeitsprozesse: Baumstämme beschlagen, Balken sägen, Balken und Bohlen herantragen, Ständer im Gerüst bearbeiten, ausfachen, Dach decken mit Stroh; Geräte: Axt, Winkel, Stoßsäge, Holzklöpfel und Beitel, Mörtelschaufel, Reibebrett, Leiter.

lastadäquater Form. Kippvorrichtungen zum Entladen von Kastenwagen entwickelten Bauleute um die Mitte des 15. Jahrhunderts. 55 Fronarbeiter*innen und Tagelöhner*innen schütteten Baugrund für Burgen und Stadtwälle auf. Sie schleppten Steine, gingen als Windeknechte im Rad, luden Wagen ab, formten Backsteine und Ziegel, halfen beim Kalkbrennen und trugen geschmiedete Eisenklammern für das Balkenwerk in Dachhöhe. 56 Bildliche Darstellungen zeigen Momentaufnahmen, nicht den Tages-Lauf: Im ersten Morgenlicht kleideten die Arbeiter*innen sich an und frühstückten. Auf der Baustelle hatten Zuarbeiter Material vorbereitet und Schmiede schärften Werkzeuge, richteten Bauklammern zu, schmiedeten Nägel, soweit sie nicht Holznägel verwendeten, die genaue Bohrung erforderten. Mehrstöckige Häuser setzten Arbeitsgerüste voraus, Leitern und Laufschrägen, Ausleger mit Bohlen. Schweres Material erforderte Stangen mit Hebelwirkung oder Seile und Rollen. Bauleute trugen strapazierfähige Arbeitsgewänder und Nagel- und Werkzeugtaschen am Gürtel, Frauen lange Röcke und Kopftuch. Sie arbeiteten

In Italien wurden Ende des 14. Jahrhunderts Handzugsägen mit drei parallelen Schneidblättern verwendet. Binding u. a., Baubetrieb im Mittelalter, 322. 54 Binding u. a., Baubetrieb im Mittelalter, 355–369. 55 Binding u. a., Baubetrieb im Mittelalter, 301–445. 56 Die Vielfalt von Einzelteilen beschrieben Geoff Egan u. a., The Medieval Household [in London]. Daily Living c. 1150–c. 1450, Woodbridge, Suffolk 2010. 53

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Abb. 8.15 Dachdecker: a) frühes 9. Jh. („Ebo-Evangeliar“, Épernay) und b) um 1468 („Chroniques de Hainaut II“, Nachzeichnung)

meist in Wochengedinge. Ihre Berufe gingen in Namen ein: Maurer, Böttcher, Zimmermann, Schindler, Krommknecht. In Dörfern sammelten Bauern-Familien für ihre Häuser Fundamentsteine, die sie spalten und behauen konnten. Größere Bauten, wie Kauffamilienhäuser, zum Beispiel um die Marktplätze von Friesach und Weitra oder entlang Salzburgs West ←→ Ost Straße (später Getreidegasse), erforderten Teams, geleitet von einem Meister und, auf der Baustelle, dem Parlier. 57 Steinbrecher hauten

grobe Quadersteine, Steinmetze 58 richteten sie zu und Steinsetzer verbanden sie zu Mauerwerk. Sie entwickelten die „Spitzfläche“, ein Schlagwerkzeug, das den Zweispitz mit einer Fläche – seit dem 12. Jahrhundert gezähnt – kombinierte. So konnten sie zwei Arbeitsgänge, Abarbeiten der (rauen) Bosse und Ebnen der Fläche, mit einem Gerät ausführen. Sie verwendeten Schlageisen (Meißel) und entwickelten um 1400 die Steinsäge. Auf dem Fundament, auch Grundfeste genannt, errichteten Zimmerleute aus mit Rauh-, Fein- oder Putzhobel geglätteten Balken das gut verzapfte Rahmengefach. Die Fächer füllten Zementer und Maurer mit Hilfe von Mörtelmachern. Deren Helfer hatten den Sand für die richtige Körnung gesiebt und trugen den Mörtel in Holzmulden, die sie – ergonomisch – vor dem Befüllen auf schulterhohe Gestelle legten. Je nach Wandkonstruktion vollendeten Lehmbewerfer oder Putzer, Gipser und Tüncher das Fach-Mauer-Werk. Auf Dachbalken und Sparren nagelten Dachdecker Schindeln oder legten, kostenaufwändiger, ein Schiefer- oder Steinplattendach, ein Tonziegel- oder Bleiplattendach. Als Abflussrinnen für Regenwasser dienten gehöhlte dünnere Stämme auf passend geneigter Asthölzer-Halterung. Für Steinfußböden in Ställen oder die Zufahrt zu einem Kaufmannshaus legten Pflasterer Natursteine, in Kirchen Spezialisten millimetergenau geschnittene Marmorplatten. Für Bürgerhäuser gestalteten Bildhauer, Marmorschneider und -polierer sowie Laubhauer für Zierblattwerk repräsentative Eingänge. Dielen, erleuchtet durch geschmiedete Kerzenhalter, führten zu Wohn- und Schlafräumen, Küche und Kammer. Die Küchenausstattung umfasste Feuerstelle oder Ofen, ein Rost sowie eiserne Haken und eine „Säge“ zum verstellbaren Einhängen von Kesseln, einen eisernen Pfannenknecht und eine hölzerne Brotablage, Ton-, Holz- oder Zinn-Schüsseln (Häfen) und Näpfe, Trog, Krug, Fleisch-, Schabe-, Brotmesser und Streichstein, Oblateneisen und hölzernes Salzfass, Käs- und Brotkästen; in der Vorratskammer, „Speis“, Fässer für Butter, Essig, Mehl und – vielleicht – Wein sowie Krautkübel. Körbe zur Lagerung von Obst mussten luftig, Fässer dicht, Getreidekästen mäusesicher sein. Für die übrigen Räume waren Tische,

Von frz. parler, sprechen, mhd. als „Polier“: Der höchstqualifizierte Geselle, der für die Spezialisten sprach und die Arbeit koordinierte, daher auch der Nachname Parler. 58 Vermutl. von ahd. meien = hauen, schneiden; als mezzo seit 870 verwendet. 57

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Elitenkonsum: Schreib-, Bekleidungs- und Dombau-Handwerk

Bänke und Gestühl, Betten, Hocker, Truhen und Laden, Strohsack oder Federbett, Kissen und Decken zu fertigen. Da die Menschen halb sitzend schliefen, waren Betten kurz. Hinzu kamen Geräte und Werkzeuge für Garten-, Land- und Viehwirtschaft sowie für Brunnenwasser Seil, Rolle und Eimer. Die neuen Bedürfnisse wohlhabender Städter*innen erforderten eine Weiterentwicklung handwerklichen Könnens. Von den Zimmerern spalteten sich Schreiner für Türen, Fenster und Wandvertäfelungen ab, Tischler für Möbel. Beide benötigten präziseres Werkzeug. Während Hausfrauen, die der Munt unterlagen, sich nicht organisierten, bildeten Handwerker des Hausbedarfs Zünfte. Sie zogen Grenzen um ihren Produktionsbereich, um Qualität zu sichern und Angebotsmengen zu kontrollieren. Sie grenzten dörfliche Konkurrenten als unzünftige „Störer“ aus. Kinder lernten in familiärer Sozialisation Küchenwerks- und Handwerks-Arbeit; „ungelernte“ Arbeit ist eine sinn-leere, aber interessen-volle Bezeichnung. Zur Spezialisierung folgten Lehrjahre, im Fall der Kochkünste halfen Rückmeldungen der Esser. Chronisten verfassten keine Beschreibungen der Fähigkeiten, Produktanalysen zeigen sie. Schriftlich erinnert werden sonn-, aber nicht alltäglich genutzte Geräte. Hand- und Hauswerker*innen benötigten Hilfs-

kräfte zum Bedienen von Blasebälgen und Küchenmägde, bürgerliche Haushalte entsprechend der finanziellen Mittel Köch*innen, Ammen, Kinderbetreuerinnen, Näherinnen, Kammerzofen, Küchenhilfen, Feuer- und Holzknechte, Wäscherinnen. Herren durften ihre Mägde und Knechte blutig schlagen, ohne belangt zu werden; nur bei schweren Verletzungen durch Waffen griff das Gericht ein – falls ein*e Kläger*in auftrat. Zither- und Leierspieler, Bläser und andere Spielleute wurden gern gehört und gesehen, hatten aber kaum Rechte. Die Arbeit von Prostituierten war selbstverständlich. Sie galten als ehrlos und wurden doch als meretrix, Verdienende–Verdienstvolle, respektiert. Die Kost der einfachen Menschen und Armen bestand aus Schaffelkraut, Erbsen und Hirse, aus Milch, Schotten (Quark), Käse, Roggenbrot, Grieß, mit Beigaben von Rind- oder Schaf-Fleisch, wenn vorhanden. 59 Handwerker*innen sahen in jedem Roh-stoff etwas Übergängliches, aus dem sie durch Arbeit und Zutaten wie Hefe oder Mörtel Zukünftiges schufen. Mit ihren Händen verwandelten sie Holz zu Altären, Getreide zu Mehl und Brot, Steine zu Wohn- oder Verehrungs-Stätten. Handwerkende schufen Stadtlandschaften, Hausfrauen – mehr als Männer – Wohnräume, alle gemeinsam Wirtschaftsräume.

8.6 Elitenkonsum: Schreib-, Bekleidungs- und Dombau-Handwerk Beispielhaft erläutere ich die Luxus-Handwerkskunst und ihren Konsum an der Gestaltung von illuminierten Manuskripten, Männer-Bekleidungsmoden und Dombauprojekten. Zeitgenoss*innen erschienen die Tätigkeiten der intellektuell anspruchsvollen, technisch versierten und mobilen Spezialist*innen als „Mysterien“. Sie waren meist Unfreie, der Goldschmied Wizili (~1077) zum Beispiel gehörte den Mönchen von St. Peter. Der Konsum des Minisegmentes Adel bedeutete geringere Mittelallokation für strukturelle Investitionen und den Alltag der Untertanen. Kritische Kleriker*innen verurteilten die Gier nach liturgischen Großgeräten und Konkurrenz um den Besitz der größten Kirche oder Pfalz und verbreiteten die Schrift des römisch-iberischen Prudentius, „Kampf der Seele

zwischen Tugenden und Lastern“ (Psychomachia, 2. H. 4. Jh.), in etwa 300 Abschriften: Virtus siegte über Luxuria und ihre Begleiterinnen Schönheit und Vergnügen. Auf die Herstellung von Hand-Schriften bereiteten sich Schreiber*- und Illuminator*innen über Jahre mit Hilfe von Musteralphabeten und Traktaten vor. Sie wanderten zwischen Klöstern oder liehen sich Manuskripte, um Stile zu vergleichen und einen eigenen Stil zu entwickeln. Ihr Berufsprofil veränderte sich, als Adlige und Patrizier sich besser bildeten und Scholaren sich zu Universitäten zusammenschlossen. Seit dem 13. Jahrhundert arbeiteten neben Mönchen und Nonnen mit Beköstigung, Unterbringung und Versorgungsanspruch Lohnschreiber. Um die Nachfrage zu decken und Kosten zu sen-

Heinz Dopsch u. a., „Die rechtliche und soziale Entwicklung“, in: Geschichte Salzburgs, 1.2:675–864, hier 715, Nahrung laut Bürgerspitalsordnung von 1512.

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Abb. 8.16 Schreibender Evangelist Matthäus, Evangeliar aus Schäftlarn, Freising um 860

ken, schrieben mehrere nach Diktat den gleichen Text und Lohnmaler*innen fügten unaufwändige Verzierungen hinzu. In oberitalienischen Künstlerfamilien schufen Männer und Frauen gemeinsam, ein erster Schreibwarenladen öffnete im 14. Jahrhundert in Bologna. 60 Buchhändler*innen, anfangs überwiegend Frauen, förderten als Verleger*innen die Verbreitung von Wissen. 61 Die Schreiber*innen der Residenzen in Regensburg und Salzburg nahmen irisch-angelsächsische, italienische und oströmische Anregungen auf. Sie galten zeitweise als die besten im süddeutschen Raum. Doch nach Abklingen der karolingischen Kirchenreform schrieben die petrischen Mönche gröber und erst ihre Nachfahren im 11. Jahrhundert verbesserten das Berufsethos wieder. Im 12. Jahrhundert schrieben auch die Petersfrauen. Benachbarte Scriptor*innen, zum Beispiel im Kloster Mattsee, entwickelten eigene Stile. 62 Jede Seite

einer großformatigen Bibel erforderte die Haut eines Kalbes und nur reiche Klöster besaßen entsprechende Mittel. Wie dachten Bauern, Hirten und Schlachter über diese Ressourcen-Nutzung? Der gesamte Prozess umfasste die Herstellung der Arbeitsmaterialien, Beschaffung der Kopiervorlage, Roh- und Endfassung sowie Binden. Im ersten Schritt bearbeitete ein pergamenarius Schafs-, Kalbs-, Ziegen-, Schweins- oder Rehhäute: Trocknung auf Spannrahmen, mechanische Reduktion mit Schabemesser oder Hobel auf die gewünschte Stärke, Glättung, chemische Vorbereitung zur Aufnahme der Tinte, Politur und Zuschnitt. Da Pergament teuer war, lohnte sich Recycling und Händler rieben alte Texte mit Bimsstein ab. Parallel stellten Spezialisten Tinten aus Ruß und Bindemitteln, aus Galläpfeln, Eisenvitriol oder Tintenfisch-Flüssigkeit her, schnitten Tintenbehältnisse, oft aus Rinderhorn, beschafften Gänsekiele und Federmesser, stellten Pinsel unterschiedlicher Feinheit aus Ziegen- oder Eichhörnchen-Haar her. Schreiber*innen schnitten ihr wichtigstes Werkzeug, Kiele aus Schwungfedern von Gänsen oder Schwänen, selbst. Wie in allen Handwerken garantierte nur gutes Werkzeug Produktivität und Qualität. Im nächsten Schritt legten scriptor oder scriptora auf einer Wachstafel gemäß Wünschen und Finanzen des/der Auftraggeber*in die Schriftart fest, linierten das Pergament und zeichneten das Layout vor. Sie wussten, dass Pergament Tinte haarseitig anders aufnimmt als fleischseitig. Ihre Arbeitsräume, oft mit nur kleinen Fenstern und qualmenden Talglichtern, mussten ausreichend warm sein, da Arbeit mit Federkiel – wie bei Näherinnen mit Nadel – mit klammen Händen nicht möglich war. Im folgenden Schritt fügte der oder die rubricator*a Überschriften und Initialen ein, Miniator*innen „illuminierten“ (lat. minium für Zinnoberrot) den Text mit Illustrationen. Sie wussten um Lichteffekte: Tuschen aus mineralischen Pigmenten mit Bindemittel streuen Licht, Farbstoffe aus organischen Verbindungen nicht. Die Wahl des Bindemittels be-

Bildliche Darstellung in der Villola Chronik, 14. Jahrhundert (Bologna, Biblioteca universitaria, Cod. Bonon. 963. f 4). Franz Unterkircher, Die Buchmalerei: Entwicklung, Technik, Eigenart, Wien 1974; Vera Trost, Skriptorium. Die Buchherstellung im Mittelalter, Stuttgart 1991; Ingo F. Walther und Norbert Wolf, Codices illustres. Die schönsten illuminierten Handschriften der Welt, 400–1600, Köln 2001, 20–22 passim; Margit Krenn und Christoph Winterer, Mit Pinsel und Federkiel. Geschichte der mittelalterlichen Buchmalerei, Darmstadt 2009; Stephanie Hauschild, Skriptorium: Die mittelalterliche Buchwerkstatt, Darmstadt 2013; Martin Steinmann, Handschriften im Mittelalter. Eine Quellensammlung, Basel 2013, 68, 81, 101 ff. 62 Claudia Fabian und Christiane Lange (Hg.), Pracht auf Pergament. Schätze der Buchmalerei von 780–1180, Ausstellungskatalog, München 2012, 106– 111; Felix Heinzer, Klosterreform und mittelalterliche Buchkultur im deutschen Südwesten, Leiden 2008, 197–201 ff. 60 61

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stimmte klares, mattes oder samtiges Aussehen. Hauchdünn gehämmerte Gold- und Silberplättchen befestigten sie mit Honig, Eiklar oder Eigelb, Gummi oder Fischleim. 63 Poliervorgänge erhöhten die Leuchtkraft. Sie mussten, da Lichteinfall Farben verändert, nicht nur Blickwinkel und Beleuchtung, sondern auch den Zeitpunkt der Betrachtung bedenken. Mineralische, tierische und pflanzliche FarbRohbestandteile erwarben Schreiber*innen von ländlichen Familien, die Färbepflanzen anbauten, und Gebirgsbewohner*innen, die Mineralien suchten, oder über Händler*innen aus den Hafenstädten der Levante und Ägyptens: Purpur, Lapislazuli aus Afghanistan, Scharlachrot aus Persien, 64 Indigo aus Indien, Malachit aus Anatolien und Ägypten. Wünschte ein*e Auftraggeber*in die Darstellung Marias in blauem Kleid, stieg der Preis, denn Lapislazuli war teuer. Oder es musste eine billigere Ersatzfarbe verwendet werden. Auch die Inhalte der Manuskripte stammten oft aus dem östlichen Mittelmeerraum. Buchbinder*innen nähten die Seiten, gelegentlich mit Zierbünden an den Enden, schnitten für die Einbände zwei dünne Holztafeln, bezogen sie mit Leder, brachten metallene Ecken, Schließen und Auflagebuckel an sowie Verzierung mit Gold, Edelsteinen oder Elfenbein. Das vollendete Werk war wertvoll und begehrt, Leser nicht immer ehrlich. Daher ketteten klösterliche Bibliothekar*innen Bücher an die Lesepulte an. Ausgeliehene Bücher gaben Leihnehmer nicht immer zurück, Reisende verwendeten spezielle Transportkästen. Wie alle Menschen waren Scriptor*innen Herrscherpolitiken und -problemen ausgesetzt. Als in Generationszwist gegen Vater Otto I. Sohn Liudolf 954 in die Stadt Regensburg floh, ließen seine Gegner Teile der Stadt niederbrennen. Dort lebende Schreiber und Illuminatoren wanderten vermutlich nach Salzburg. Etwa zwei Jahrzehnte später residierte Kaiserin Theophanu aus Konstantinopel (h. 972–991) in der Stadt und ihre Kunst-Handwerker*innen regten die ansässigen an. Der Niedergang

von Zentren der Buchmalerei im 11. Jahrhundert im Westen bedeutete einen Aufschwung für St. Peter und andere südostdeutsche Werkstätten. Auch Raubkunstwerke dienten nach Plünderung orthodoxer Kirchen und Klöster im Zuge der Kreuzkriege 1204 als Vorlagen. Zu den großen Leistungen Salzburger Scriptor*innen zählt ein um 1020 geschaffenes Perikopen-Buch: 70 Prunkinitialen, 19 Miniaturen, 2 Zierblätter, Deckel mit rotem Ziegenleder und 12 Elfenbeintäfelchen von einem in Aquitanien oder Iberien hergestellten Tragaltar. Besonders in Córdoba verarbeiteten islamische Handwerker*innen Elfenbein aus der afrikanischen Savanne. Die Miniatoren der „Waltherbibel“ (~1140) mit italo-byzantinischen Miniaturen und Initialen arbeiteten oder lernten vermutlich in St. Peter, ErentrudisKloster und Abtei Mondsee. In differenzierten Entscheidungen adaptierten Skriptor*innen in St. Peter und Admont, nicht jedoch die des Domstifts, einen neuen Initialstil aus Frankreich und Petersfrauen nahmen für ein Antiphonar neue oströmische und westrheinische Einflüsse auf. Trotz Meisterschaft blieben Autor*innen ungenannt, Tafelbildner zeichneten bereits namentlich. Die Mönche und Nonnen nahmen den Übergang von Alt- zu Mitteldialektdeutsch schrittweise auf. In agilolfingischen, aber nicht erzbischöflichen Klöstern schrieben sie Texte südrheinfränkischen Dialektes und seit etwa 830 erste kirchliche Schriftstücke in bayerischer Variante. Herrscher-Erlasse förderten „volkssprachliche“ Tendenzen: Bibelübersetzer, unter ihnen ein österreichischer, verwendeten seit dem frühen 14. Jahrhundert mittelhochdeutsche Dialekte (s. Kap. 9.8), der Übersetzer der Ottheinrich Bibel den mittelbayerischen (Regensburg, 1425–1430). 65 Wiener Theologen (seit 1365) und Melker Reformer (1431) forderten religiöse Belehrung der illiterati in ihnen angemessener Sprache. Im Peterskloster wurde „dy regel offt in deutsch“ verlesen, anfangs besonders bei den Nonnen, die – je nach Historiker – das Lateinische nicht verstanden oder besonders aufgeschlossen waren. Einfache Menschen konnten die extrem komplexen

Der beste und teuerste Leim wurde aus der Schwimmblase von Stören hergestellt. Aus Quecksilberoxid ließ sich Zinnoberrot, aus Ackerröte Tief- oder Krapprot herstellen. 65 Roswitha Juffinger und Peter Wind, „Die Waltherbibel aus Michaelbeuern, eine Bestandsaufnahme“, MGSL 122 (1982), 131–142; Werner Telesko, „Das ‚Antiphonar von St. Peter‘ und seine Bedeutung für die Buchmalerei des 12. Jahrhunderts“, MGSL 138 (1998), 297–327; Elisabeth Wunderle, „Das Neue Testament in deutscher Sprache“, in: Die Ottheinrich Bibel. Das erste illustrierte Neue Testament in deutscher Sprache, Begleitbuch zur Ausstellung, München 2008, 87–93. Novizinnen, wie die Domfrauen Magdalena Reinswidlin und Katharina Strasser, bereicherten klösterliche Bibliotheken durch Manuskripte aus Familienbesitz. 63

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Abb. 8.17 Jesus wird zum Tempel gebracht, hinter dem Hohepriester Simeon stehen die Prophetin Hanna und Basilius (Psalter der Königin Melisende, östl. Mittelmeerraum, zw. 1131 und 1143)

Schrift- und Bild-werke nicht dekodieren, aber sie bekamen sie auch nicht zu sehen. 66 Buch-Spezialist*innen der Kirchenprovinz standen in Kontakt mit und Konkurrenz zu französischen, Prager und Wiener Werkstätten. In Prag ließ EB Konrad aus Vechta (Niedersachsen) einen Antwerpener Meister eine Bibel ausmalen (1400–1403); der Meister des Altars von Wittingau/Třebon (2. H. 14. Jh.) verband den eigenen mit niederländischem zu böhmischem Stil. Die Produzenten der nach dem Stifter Petrus Grillinger, Pfarrer im Lungau, benannten Bibel (1428) nahmen in den Rankenwerk-Schmuck groteske Motive auf – Kontrast zu kirchlicher Förmlichkeit? In den Niederlanden würden Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel d. Ä. Groteskes als üblich erkennen (s. Kap. 11.3). Was war für einfache Menschen grotesk? Adelskleidung, fehlende Tugend und Unterdrückung? Oder betrachteten sie dies als althergebracht? 66

Abb. 8.18 a) Mensch oder Evangelist mit Vogelkopf als Initiale „I“, b) Fabeltier und Schlange („Decretum Gratiani“, Salzburg ~1170) Darstellungen von Gottheiten mit Tierkopf oder -spiritualität waren Teil altägyptischer Religion. Lange vorher, im Aurignacien, hatten sich Menschen nahe Ulm (Hohlenstein-Stadel) ein anthropogenes Wesen mit dem Kopf eines Löwen oder einer Löwin aus MammutStoßzahn hergestellt.

Die Auftraggeber wechselten Stil-Vorlieben. Im Fall der Ottheinrich-Bibel nahm ein FEB die Herstellung einem Salzburger Meister weg und beauftragte aus Padua und Verona zugewanderte Meister in Regensburg. Als Ulrich Schreiner 1478 die Arbeit an einem Missale für die höchsten Feiertage aufnahm, gefiel sein inzwischen als altertümlich angesehener transeuropäisch-gotischer Stil dem FEB nicht mehr und er gab den Auftrag an den Regensburger Berthold Furtmeyr (~1435–~1506), der mit neuer Ornamentik und Farbreichtum zehn Jahre lang an dem Werk arbeitete. 67

Die Beiträge in Verena Postel (Hg.), Arbeit im Mittelalter, Berlin 2006, analysieren die vielfältigen Aspekte der (Nicht-) Darstellung.

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Nur wenige Scriptor*innen sind mit Namen bekannt. Selbstbewusst ließen sich die Chorfrau Guda und der Chorherr Sintram als Schreiberin und Maler in ihrem Kodex abbilden (Elsass, 1154). Die Miniaturenmalerin Claricia in Augsburg stellte sich in einem Psalter mit offenen langen Haaren und elegantem Kleid als Teil der Initiale Q dar (~1200). Häufiger waren Klagen: Der „glückliche“ Leser möge die Seiten sanft und vorsichtig behandeln, nur drei Finger hätten geschrieben aber der ganze Körper gelitten – getrübte Augen, gequetschte Körperhaltung, Schmerzen an allen Gliedern (8. Jh. und später) – oder „Schmaler Dienst macht einem das Jahr lang.“ Ein Schreiber wünschte: „Oh, Gott, in deiner Güte, beschere uns [… Kleidung], Geiße und Böcke, Schafe und Rinder, viel Frauen und wenig Kinder“ (13. Jh.). Kirchentexte zeigten bei genauem Lesen vieles. 68 Ändern würde sich alles um 1450 durch Buchdruck mit beweglichen Lettern – jedenfalls für die, die ein Buch bezahlen konnten und ihr Geld so verwenden wollten. Teure Manuskripte waren einigen Hochstehenden wichtig, luxuriöse Kleidung allen. Der Wirtschaftssektor habits du pouvoir erforderte Spezialisten in der Sparte Metallbearbeitung für Rüstung, im Stoffund Applikationswesen für Ornate. Metallwerker waren seit Dürrnberger und Latène-Zeiten im Modewesen für Schnallen und Fibeln tätig. Produktion in Serie wurde nötig, als Kirchen- und Weltadlige ihre Panzerreiter und Ministerialen, Pagen und Waffenknechte standes- und modegemäß einkleiden ließen und Söldner anheuerten. Die Rüstungen entsprachen, neben praktischen und technischen Erwägungen, männlichem Zierbedürfnis: von sackartigem Ringelpanzer zu körperbetonendem Lentner und schließlich zum Harnisch jeweils mit passendem, oft federgeschmücktem Helm. Zur Arbeitskleidung für Kriege kam festliche für Turniere hinzu: Stechzeug für das Zweikampf-Spiel zu Pferd, Rennzeug für den Kampf auf offener Bahn mit

Abb. 8.19 Kettenhemd-Macher, Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung, um 1425

scharfer Lanze (15. Jh.), Beiwaffen – Lanze, Schwert, Dolch – und Accessoires wie Pferdebekleidung und Wappenzeichen. Turnierpferde waren edel und teuer. 69 Die Basisform Ringelpanzer, taillenlos hängende Körperhemden aus vernieteten Drahtringen, hatten Schmiede vieler Kulturen bereits um die Mitte des 1. Jahrtausends v. u. Z. entwickelt. Kettengewebe erforderten bei 0,5 cm Ringdurchmesser abzüglich Überlappung pro Quadratmeter mehr als 60.000 Ringe. Die Hemdmacher zogen Draht auf die gewünschte Stärke, wickelten ihn um einen Holzstab, schnitten ihn in offene Ringe und vernieteten diese gemäß Sicherheitsanforderungen so, dass jeder Ring mit vier anderen verbunden war. Christliche Krieger in Palästina legten die dort wegen der intensiven Sonnenstrahlung dysfunktionale Arbeitskleidung nicht ab, sondern ließen Näherinnen mit Kreuz verzierte, lockere Stoffüberwürfe anfertigen. Dies als air-conditioning zu bezeichnen, wäre übertrieben. Ein Kettenhemd erforderte Arbeitswochen, ein Brustpanzerblech mit Steppwams sowie Helm mit

Beiträge von Karl Forstner, Gerold Hayer, Friedrich Hermann, Kurt Holter und Peter Wind in Heinz Dopsch und Roswitha Juffinger (Hg.), Das älteste Kloster im deutschen Sprachraum. St. Peter in Salzburg, 3. Landesausstellung, Salzburg 1982, 143–210; Karl Forstner, „Die sogenannte Altbairische Beichte – Ältester Zeuge am Mattsee“, MGSL 150 (2010), 49–54; Josef Gassner (Hg.), Spätgotik in Salzburg: Die Malerei 1400–1530, Ausstellung, Salzburg 1972. 68 Guda notierte, gemäß Diskursvorgabe: „Guda, das sündige Weib, schrieb und malte dieses Buch“. Chiara Frugoni, „Frauenbilder“, 359–429, in: Christiane Klapisch-Zuber (Hg.), Mittelalter, Frankfurt 1993 (ital. 1990), 410, 414, 423; Pierre Riché, Daily Life in the World of Charlemagne, übers. von Jo Ann McNamara, Philadelphia 1978 (frz. 1973), 207–210. 69 Peter Krenn, „Die Kriegsrüstung im europäischen Mittelalter“ und Eintragungen zu Einzelteilen in Harry Kühnel (Hg.), Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung. Vom Alten Orient bis zum ausgehenden Mittelalter, Stuttgart 1992, bes. lxx–lxxxi. 67

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Abb. 8.20 Perspektiven auf das Ritterspiel: a) von Herrad (Landsberg), b) Turniersportkleidung mit einer Art Burka und zuschauende Frauen, c) Reiter und Ross, stylisch gekleidet nach „Welsch Gestech“ von Hans Burgkmair d. J., um 1540

Druckdämpfer zum Kopf weniger als zwei Tage (11./12. Jh.). Brustpanzer für Anführer erforderten Treibtechnik der Plattner, Verziertechnik der Ätzmaler, Vergoldung, Bläuung, Gravur und körperschützende Textilien (14. Jh.). „Geschübe“-Harnische aus körpergerecht gewölbten Schienen, Platten und Reifen erreichten Beweglichkeit durch aufgenietete Lederstreifen oder Gleitschlitze. Die Meisterplattner in Mailand und Brescia, besonders die über Generationen aktive Designer-Familie Missaglia, verdienten gut. 70 Erz- und andere Bischöfe ritten bei Amtsübernahme mit Gepanzerten in ihre Residenzstadt ein oder nach Rom, in Fehden, Kriege gegen Nachbarn und, nach 1500, gegen ihre Untertanen.

Kundenwünsche und Kollektionen wandelten sich. Für den enganliegenden, hüftlangen Leibrock (Lentner) aus Stoff oder Leder mit Eisenblechen wurde die männliche Brust durch Wattierung herausmodelliert, dies diente bei Lanzenangriff als Knautschzone. Wurde im Kampf – oder beim Fall vom Pferd – Metall verbeult, mussten Reparaturhandwerker zur Hand sein. Später, mit kürzerer Oberkleidung, ließen sich Männer den Vorderverschluss der Beinkleider modisch wattieren und farbig zur hervorstechenden Scham- und Schaukapsel ausgestalten. Kleriker, mit geschlechtslosem Umhang gekleidet, beschwerten sich nicht. Stoffteile im Mi-parti-Stil 71 mit Längs- und Querschlitzen, die mit andersfarbigem Futter unterlegt waren, tru-

Hersteller siedelten sich in Augsburg, Nürnberg, Innsbruck, Landshut und an Hofwerkstätten an. Wendelin Boeheim, Handbuch der Waffenkunde, Leipzig 1890; online im Deutschen Textarchiv, http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/boeheim_waffenkunde_1890 (12. September 2020) zu edlen Ausschmückungen und Griffen, z. B. aus Bergkristall. 71 Im Mi-parti unterschieden sich linke und rechte Hälfte des Kleidungsstückes nach Farbe und ggf. Form gegenläufig im oberen und unteren Teil. 70

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Abb. 8.21 a) Schnittmuster für Schmiede, Sattler und Polsterer, Ende 15. Jh., und b) Einzelteildarstellung von Hans Burgkmair d. J., um 1540

gen Männer ebenfalls gern. Als angesichts der Durchschlagskraft der neuen Feuerwaffen die Eisenkleider funktionslos wurden, würden sie Festgewand mit Perücke statt Helm werden. 72 Helme mit „Visier“, das heißt Gesichts- und Kopfmaske, machten Träger gesichtslos. Als Identitäts-Zeichen verwendeten sie Helmschmuck und lederne Schulterklappen mit eingestanztem Wappen. So wurde, erstens, im Kampf nicht der falsche Geharnischte angegriffen und, zweitens, konnten bei Turnieren zuschauende Damen den Herren, den sie bewunderten oder bewundern sollten, erkennen. Wappen versinnbildlichten Herrschaft oft durch Raubtiere. Bürgerliche Familien übernahmen diese Art von Logo. Frauenmoden, ohne Gesichtsverhüllung, wechselten ebenfalls, unter anderem durch Mode-translatio aus Aquitanien ins Rheinische bei Adelsheiraten. Kirchenmänner, die sich mit körperbetonender Frauenkleidung intensiv befassten, debattierten „die Gefahr des Eindringens moralisch verwerflicher französischer Sitten“. Lange Schleppen, Hängeärmel und Pelzkleidung besonders aus Hermelin, Fuchs und Grauwerk erforderten neue 72 73 74

Handelswege und -volumen (12. Jh.). Die vielen Kürschner-Familien in Salzburg-Stadt profitierten vermutlich. Als der ärmellose „Surcot“ mit größerem Halsausschnitt und weiten Armlöchern das Untergewand sichtbar werden ließ (13.–15. Jh.), sprachen Kleriker vom „Teufelsfenster“. Dabei saß der Teufel wohl nicht in dem Ärmelausschnitt, sondern in ihrem Blick (gaze). Männer signalisierten Sexualität und Potenz durch passgerechte Strümpfe und Schamkapsel. Höfisches Rollenspiel und Erotik fanden Ausdruck im Minnesang. 73 Reich gekleidete Salzburger Prälaten reglementierten 1274 die ohnehin farblose Kleidung der Ärmeren; Kirchenmaler stellten Mönchsgewänder als einfach und einfarbig dar. Ökonomisch gesehen wäre Massenproduktion möglich gewesen. Doch schon der Text der Kleiderordnung Ludwigs I., 817, vermittelte ein anderes Bild: Erlaubt waren pelzgefütterte Mäntel und Umhänge, Fingerhandschuhe und Fäustlinge sowie Kopfbedeckungen. Sie sollten nach drei Jahren erneuert und die Altkleidung an Arme gegeben werden. Spätere Reformorden verdammten reiche Kleidung, aber passten sich der Mode schnell an. 74 Weltgeistliche benötigten Ornate gemäß Rang, Funktion – Messe oder tägliches Gebet – und liturgischer Jahreszeit: weiß zum Osterfest, violett in Advent und Fastenzeit und andere. Die liturgische Kleidung bestand aus 15–20 Einzelteilen und das Vor-Recht, spezifische Teile zu

Uniformen – Uni-Formen – mit Stand anzeigenden Litzen und Orden ersetzten Rüstungen. Kühnel, Kleidung und Rüstung, xxx–xvii, Zitate xxx. Kühnel, Kleidung und Rüstung, xxvi–lxix, 26–69; Clare Browne et al. (Hg.), English Medieval Embroidery: Opus Anglicanum, New Haven 2016.

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Abb. 8.22 Bischofsornat, Muster und Einzelteilbezeichnung Eine Kasel aus dem Kloster St. Peter, bezeichnet als „Messgewand des Bischofs Vitalis“, der im 8. Jahrhundert lebte, wurde in der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts in Ostrom (Byzanz) oder dem Vorderen Orient hergestellt aus grüner Samit-Seide, verziert mit einem Muster aus Medaillons mit Greifen- und Pantherpaaren, Goldborten mit Steinschmuck und Perlen. 76

tragen, war an den Grad der Weihe und die Stufe in der Hierarchie gebunden. Kleriker besprachen mit ihren Designer*innen das Schmuckprogramm und, für die Raum bietenden Kaseln (Messgewänder) und Chormäntel (zu festlichen Anlässen), das gewünschte – und bezahlbare – Bildprogramm. Da

Geistliche vielfach zum Altar gewendet standen, war die Botschaft des Gewandrückens für den Blick der Gläubigen wichtig. 75 Der Stilwandel weltadliger Kleidung von Körper-verhüllend zu Form-betonend reflektierte den Wandel von Einstellungen zur Wirklichkeit. Dies beruhte, so wird argumentiert, auf einem neuen Realitätssinn und der Bereitschaft, Konstruktionsmuster und technische Details offenzulegen. Dem wuchtig-furchteinflößenden Panzer folgte ein „lyrischer Stil“, der das schlanke und hohe gotische Figurenideal mit dekorativem Gewandfaltenwurf aufnahm. Verspielte Harnisch-Gestaltung umfasste dekorative, grafische Oberflächen und, ab Mitte des 15. Jahrhunderts, technisch-künstlerische Einheit: getriebene Grate, bogig gezackte Ränder, zugespitzte Formen mit langen Schnabelschuhen, vergoldete Messingleisten, ausgeschnittene Kreuzblumen. Waren Hersteller*innen stolz auf ihre Expertise? Hätten sie die feinen Kleider gern anprobiert und sich etwa mit Mitra oder Brustpanzer gesehen? Kleidung war Spiegelbild der Gesellschaft: Christen von Rang gaben sich der vanitas hin, obwohl nach Kirchenlehre Hoffart eine der sieben Hauptsünden war. Sie war nicht, wie oft behauptet, weiblich und der Teufel erläuterte in einem langen Gespräch mit einem Einsiedler, dass diese Hauptsünde ihm alle Kleriker ins Netz brächte. 77 Der Satz „Kleider machen Leute“ bezog sich auf Oberkleidung, Wohlhabende kleideten sich in „Samt und Seide“. Körperlich wichtiger war das Material der Unterkleidung: Leinen im Hautkontakt angenehm, Wolle kratzend. Leinene Unterkleider waren für Mönche selbstverständlich, Nonnen mussten das Recht dafür einfordern. Woll- und Leinengewebe stellten Einheimische her, für die Vermarktung wurden Tuche oft nach ihrer Herkunftsregion bezeichnet, friesische Tuche zum Beispiel aus der Wolle einer bestimmten Schafrasse mit spezifischem Herstellungsprozess. Im 13. Jahrhundert lernten Lateineuropäer Baumwolle kennen, ihre Verarbeitung würde sehr viel später Produktionsprozesse und die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und zwischen Land und Stadt verändern.

Kühnel, Kleidung und Rüstung, 157–158, 298–299, Schaubild VII und VIII. Aufbewahrt in der Abegg-Stiftung (Schweiz), ist sie mit großem Detail zu betrachten unter https://abegg-stiftung.ch/collection/dashochmittelalterliche-europa/ (12. September 2020). 77 Des Teufels Netz. Satirisch-didaktisches Gedicht, K. A. Barack (Hg.), Stuttgart 1863, nach 1418, 269 ff. 75

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Abb. 8.23 Antependium der Nonnen des Stifts in Göss, Mitte 13. Jh. (Leinen und Seidenstickerei) In den Medaillons: Verkündigung, Jungfrau Maria thronend mit Kind, die drei Weisen; unten neben dem Zentralmedaillon links Kunigunde, Stifterin des Antependiums, rechts die Stiftsgründerin, die hl. Adala, mit Modell der Kirche.

Kleidungskünstler*innen arbeiteten mit konstantinopolitanischen und iranischen Materialien. Chinesische Webmuster vermittelten vermutlich vordringende mongolische Männer und Frauen. Seidenweber-Familien migrierten nach Palermo, Lucca, Spanien und Lyon – oder wurden gekidnappt. Kostbare Gewebe erforderten Investitionen in Spezial-Web- und Wirkstühle und Goldlahn – mit hauchdünnem Goldband umwickelte Leinenfäden – oder Silberfäden. Frauen schufen komplexe Bildprogramme, adlige Nonnen des Klosters Göss zum Beispiel ein bis in die Gegenwart dank Feinheit und farblich-stilistischer Gestaltung berühmtes Antependium. Alle arbeiteten mit Pelzen aus dem Norden und Nordosten, mit Farbstoffen, Perlen und Edelsteinen aus der Levante oder Indien, Färber*innen mit Material aus weiter Ferne, glocal – global-local. Wussten Konsument*innen um die Arbeit naher und ferner Farbproduzent*innen? Blau, Zeichen von Rang seit keltischer Zeit, stellten sie lokal aus Waid her oder verarbeiteten Indigo (griech. indikón, das Indische). Rot, Symbol besonderen Reichtums, war als Kardinalsrot (Karmesin) Markenzeichen dieser Berufsgruppe, Purpur das Zeichen von Herrschern, weltlichen wie Päpsten. Hersteller*innen vom Mittelmeer über Armenien und Polen bis zum Baltikum mussten für Karmesin weibliche Kermesläuse (pers. Kermes, Scharlachbeere) sammeln. 100.000 Läuse ergaben ein Kilo Farbstoff und die Weiterverarbeitung für unterschiedliche Tönungen erfolgte in fernen Orten: Käufer unterschieden Florentiner, Münchener, Pa-

riser oder Wiener „Lack“. Für Purpur sammelten Menschen im Mittelmeerraum im Winterhalbjahr Schnecken, entnahmen ihnen die Farbdrüse und legten diese in Salz, kochten dann die Lake mit Urin und trockneten den Sud, je 10.000 für ein Gramm Farbe. Die Produktentwicklung hatten bronzezeitliche Menschen eingeleitet, phönizische Händler wurden Namensgeber für Tyrian purple, hallstattzeitliche Kelten kannten es. Im Mittelalter war die Hafenstadt Meninx auf der Insel Djerba eines der wichtigsten Zentren des Purpurhandels und von purpurgefärbten Textilien aus Schafwolle. Billiger ließ sich Rotfärbung durch die Wurzeln von Krapp oder Färberröte (rubiacaeae) herstellen, beide ursprünglich ebenfalls aus dem östlichen Mittelmeerraum und Vorderasien. Farbreste fanden Archäologinnen in dem Grab einer Frau des 6. Jahrhunderts in Pfakofen, Diözese Passau. In Langensalza (Thüringen) würden Bauern um 1500 fordern, wie Reiche eine rote Haube tragen zu dürfen. 78 Angesichts ihres Bedarfs ließen Mönche und Nonnen ihre Unfreien heimische Farbstoffe anbauen, die gewerbsmäßige Kultivierung begann in Thüringen und Ungarn. Unfreie des Klosters St. Emmeram (Regensburg) mussten Wirtspflanzen für Kermesläuse polnischer Variante anbauen. Sie sammelten die Läuse am Johannistag und produzierten „Johannisblut“ als Abgabe. Weber*innen legten gefärbte Garne in je ein Schälchen, führten sie durch ein Tüllengefäß zusammen und verzwirnten sie. Für Kettfäden glätteten sie Garne und Zwirne chemisch, damit Schussfäden leichter hindurchgleiten konnten. Die Frau in Pfakofen war

Antja Bartel und Silvia Codreanu-Windauer, „Spindel, Wirtel, Topf: Ein besonderer Beigabenkomplex aus Pfakofen, Lkr. Regensburg“, Bayerische Vorgeschichtsblätter 60 (1995), 252–272. Veronika Baur, Kleiderordnungen in Bayern vom 14. bis zum 19. Jahrhundert, München 1975, 3.

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Abb. 8.24 a) Seidenstickerei, England, 1320–1335, b) Detail aus „Baum des [Propheten] Jesaja“ (hebr. JHWH hilft), einer Genealogie von Jesus aus der Königsfamilie Davids

Textilhandwerkerin. Beigegeben waren ihr Perlen, darunter eine frühlatène-zeitliche Schichtaugenperle: Sie war über etwa vierzig Generationen weitergegeben worden. Christlichkeit war polymorph, die Frau erhielt neben anderen nicht-christlichen Beigaben ein Muschelamulett. So wie aus vielen Fäden ein Tuch, entstand aus vielen spirituellen Einflüssen eine Glaubenswelt. Hochqualifizierte „Klosterarbeit“ ergänzten seit dem 11. Jahrhundert, zuerst in England, professionelle, meist in Tagelohn bezahlte Sticker*innen. Für Seidenornate, die ein stabiles Unterfutter erforderten, um das Gewicht der Verzierungen zu tragen, spannten die Produzent*innen den tragenden Stoff auf einen Rahmen und legten Samt oder Seide darauf. Sie verwendeten, zum Beispiel, für einen einzigen Überwurf roten Samt, Gold zum Verspinnen, gelben Leinenfaden als Kern für Goldwicklung, Seidenfäden in vielen Farben, Seidenborte, Goldfäden – in der Rechnung alles nach Gewicht berechnet – sowie Pergamenthäute für sechs Löwenmuster, Steine für die Löwenaugen, neun goldene piscul (?). Dies verarbeiteten 3 Designer (5 Tage), 1 Musterzeichner und Vormann (24 Tage), 10 Sticker (zus. 144 Tage), 6 Stickerinnen (zus. 77 Tage). Die Designer erhielten doppelt so viel Lohn wie die Sticker, die Stickerinnen nur zwei Drittel des Lohns ihrer männlichen Kollegen. Als Schmuck applizierten sie 79

das königliche Wappen und fleurs-de-lys, gesäumt mit dunkelblauem Samt. Dies Kunstwerk war der Schutz- und Schmucküberhang für das Hinterteil des königlichen Pferdes von Edward III. (England). Zur Prunkkleidung Mächtiger kam also die der tierischen Umgebung sowie Behänge für Burgwände und Altäre hinzu. Als Edward den Auftrag 1330, zwei Jahrzehnte nach Beginn der Klimaverschlechterung, vergab, entsprachen die Gesamtkosten dem Einkommen, das Sticker*innen bei kontinuierlicher Beschäftigung nur über Jahre erreichen konnten. Ebenso ritten Salzburger EB zeremoniell auf mit rotem Samt bedecktem weißen Schimmel, trugen Legatenhut und Purpurmantel und ließen sich von standes- und modegemäß gekleideten Prälaten und Höflingen, Diakonen und Pagen begleiten. 79 Für schnell zu erledigende Aufträge wie Einritte, Krönungen und Hochzeiten verpflichteten Herrscher und Kleriker Kunsthandwerker*innen vermutlich zu Zwangsarbeit und Überstunden. Die „engelhaften“ Arbeiten, opus Anglicanum, der Londoner Sticker*innen begehrten Päpste mit Gier, avaritia, und für ein Jahrhundert waren sie ein wichtiger Exportartikel. Kolleg*innen in Paris, Köln und Granada schufen ebenfalls Begehrtes; adlige Frauen ließen sich bei Heiratswanderung von Sticker*innen ihrer Kultur begleiten. Rom-reisende Kleriker und Gäste bei Königsinthronisationen ver-

Kaufleute begannen in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts Livreen zu tragen. Kopierten sie höfische Kleidung oder „demokratisierten“ sie sie?

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Elitenkonsum: Schreib-, Bekleidungs- und Dombau-Handwerk

Abb. 8.25 Stickende Frau an Stickrahmen und Männer, England, 1310–1320, Queen Mary Psalter (Detail einer Illumination, Tinte und Farben auf Pergament)

glichen ihre Kleidungsstile, nahmen neue Moden auf, blickten – anerkennend oder neidvoll – auf reicher verzierte Oberkleidung von Kollegen. Hatten sie eigene Werkstätten, konnten sie dort produzieren lassen. Viele kauften lieber in berühmten Zentren wie Lucca. 80 Sticker*innen wanderten zwischen Regionen unterschiedlicher Stile und Techniken, Frauen organisierten eigene Zünfte. Angesichts von Arbeitskräftemangel, steigender bürgerlicher Nachfrage und einer neuen Mode italienischer Stickereien mit „orientalischem“ oder „asiatischem“ Design beschleunigten Meister die Arbeit durch einfachere Stiche und Muster sowie die Produktion „auf Lager“. Mit der Qualitätsverringerung sank die Beteiligung von Frauen. Dank normierter Produktion von Ornat-Einzelteilen konnten Priester ärmerer Gemeinden für die Pfarre über Jahrzehnte eine Vielzahl anschaffen. Diese konnten sie zwar nicht nach der Mode verändern, aber ihre Gemeindemitglieder änderten ihre Arbeitskleidung auch nicht. Bei repräsentativen Bauten waren es, wie bei der Oberbekleidung, die äußeren Bild- und Symbolprogramme, in denen Auftraggeber*innen spirituelle, ego-zentrische und familienpolitische Aspekte und Konkurrenzen verbanden. In Salzburg-Residenz

wetteiferte im 12. Jahrhundert EB Konrad III. Wittelsbach – wie Virgil mit Abt Fulrad – mit dem Abt Suger in St. Denis um den größten Dom. Bei allen Großbauten war der Weg von der Planung bis zum Beginn der Tat-sächlichen Arbeit lang. Die Finanzplanung (oder -vision) erforderte Akkumulation über Jahre, kurzfristige massive Abgabenerhöhungen oder Kredite. Dann wählte der Bauherr oder die Bauherrin mit Architekt und Meister den Bauort, sei es inmitten städtischen Wohnraumes, sei es abseits gemäß eines Traums oder einer Vision. Ein der Feldmesskunst Kundiger steckte die Ausrichtung möglichst gemäß der Achse des Sonnen-Aufgangs und -Untergangs ab. Es folgte das Event der „Grundstein“-Legung, dessen Theatralik eine Pla-

Abb. 8.26 Turmbau, Züricher Weltchronik des Rudolf von Ems, ~1340/1350 (kolorierte Federzeichnung) Tätigkeiten: Behauen von Steinen, Kontrolle der Oberflächen, Mörtelmischen und -tragen, Hochziehen und Versetzen von Quadern; Unterstand, Gerüst, Lastkran mit Tretrad; Arbeitsgeräte: Doppelspitze, Winkel, Mörtelbottich, Mulde, Haken und Zange, Kelle. Soweit Maler und Zeichner Frauen am Bau zeigten, verkörperten diese oft Tugenden.

Browne et al., English Medieval Embroidery; Thomas Ertl, „Stoffspektakel: Zur Funktion von Kleidern und Textilien am spätmittelalterlichen Papsthof“, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 87 (2007), 139–185; und ders., „Die Gier der Päpste nach englischen Stickereien: Zur Bedeutung und Verbreitung von Opus Anglicanum im späten Mittelalter“, in: Uta-Christiane Bergemann und Annemarie Stauffer (Hg.), Reiche Bilder. Aspekte zur Produktion und Funktion von Stickereien im Spätmittelalter, Regensburg 2010, 97–114.

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

nung von langer Hand, Zeremonien-Meister und Näher*innen für die Schau-Gewänder erforderte. Stifter*innen ließen sich gern mit einem Modell des Bauwerks darstellen; Baumeister mit Zirkel, Winkel und Reißbrett. Da Ansässige die Fähigkeiten für komplexe statische Berechnungen, das Aufstellen von Hochbau-Gerüsten und Verlegen millimetergenau behauener, tonnenschwerer Steine nicht besaßen, warben Stifter*innen ausgewiesene sapientes et industrios weit-läufig an oder liehen sich unfreie. Bauleute „aus fremden Herrschaften“, die transeuropäische Informationsnetzwerke über langfristige Bauvorhaben, kurzfristige Jobs, Arbeitsbedingungen und Löhne entwickelten, arbeiteten in Speyer und Köln (10./11. Jh.), griechische in Paderborn, Pariser in Uppsala (13. Jh.), ein Brückenbauer aus Rom in Prag (1330er Jahre). Nachrichten über Dombrände bedeuteten Arbeitsplätze bei Wiederaufbau – wenn Mittel für Material und Löhne eingehoben werden konnten. 81 Arbeitende und Unternehmer – vermutlich seltener Unternehmerinnen – entwickelten Protokolle, um Mobilität zu erleichtern: Zuwandernde hatten bei Nachweis von Fähigkeiten ein Anrecht auf Arbeit, bei geringem Bedarf allerdings nur, um Zehrgeld für die nächste Etappe zu verdienen. Klösterliche Laien-Bruderschaften wanderten von einem Kirchenbau zum nächsten, Mächtige im Besitz von Bauspezialisten schickten diese zu fernen Baustellen, Schicksal gewissermaßen für die Betroffenen. Viele waren jung und unverheiratet und veränderten Heiratsmarkt und -verhalten an Ausgangs- und Zielort. Ältere mögen mit Familien gereist sein; andere ließen Partnerinnen und, vielleicht, Kinder zurück; manche bildeten am Zielort sekundäre Lebensgemeinschaften mit ansässigen Frauen. Wenn eine verpatzte Finanzierung monateoder jahrelange Stilllegung erzwang, mussten die Bauleute weiterwandern. Im Sommer war der Bedarf an Arbeitskräften hoch, zur Erntezeit verringerte sich die Zahl der entlohnten oder fronenden

Hilfsarbeiter drastisch, im Winter wurden die meisten brotlos. 82 Die Bauleute, die EB Konrad III. rief, standen in einer langen Tradition. Sechs Jahrhunderte früher hatten die soeben in Nordostitalien angekommenen Langobarden-Herrscher sich in Udine und Cividale Paläste und Kirchen errichten lassen (s. Kap. 4.6). Nach ihrem Wohnort am Comer See „Comaciner“ oder „Komasken“ genannt, schlossen sie sich als collegantes oder consortes zusammen. Um 1000 verbanden sie italische und nordalpine Elemente zur „Romanik“ und errichteten nördlich der Alpen unter anderem den Dom von Königslutter (bei Goslar), arbeiteten in Mainz und Speyer, wirkten von Augsburg über Freising bis Gurk. Aus Konstantinopel reisten Mosaikkünstler nach Lateineuropa. Konrad, der sich in Italien aufgehalten hatte, wählte für seine „Basilika“ den langobardisch-römischen Stil. 83 Die herangerufenen Komasker verbanden diesen mit lokalen Stilvorstellungen, denn Zeichensetzung und Schmuck mussten für benachbarte Ko-Eliten und für wenig be-wanderte Untertan*innen lesbar sein. Bauherren kombinierten zielstrebig Christliches und Nichtchristliches durch Überbauung älterer Verehrungsorte und Verwendung von Spolien. Während EB Konrad traditionell entschied, ließ Venedigs transmittelmeerisch informierte Elite beim Wiederaufbau des Markusdoms (2. H. 11. Jh.) arabische Stilelemente umsetzen und Abt Sugers Bauleute entwickelten wenig später in St. Denis den neuen gotischen Stil: Translatio des Spirituellen in Materielles erforderte die Übersetzung ästhetisch-spiritueller Vorstellungen in Statik: Steinmetzen und Maurern mussten lichtdurchflutete, hohe Bogengewölbe vorstellbar sein. 84 In der neuen konstruktiven Weltsicht sollten Architektur und Statik Platz und Ort bieten für alle Dinge und, wie Gott, vielfältige und gegensätzliche Formen und Elemente zu endgültiger Harmonie durch eine allumfassende geometrische Ordnung vereinen. Manche Kleriker passten in „angewandter

Binding u. a., Baubetrieb im Mittelalter, 339–354. Binding und Nußbaum, Baubetrieb nördlich der Alpen; und Binding mit Gabriele Annas, Der mittelalterliche Baubetrieb in Westeuropa. Katalog der zeitgenössischen Darstellungen, Darmstadt 1993; Klaus Schreiner, „‚Brot der Mühsal‘ : Körperliche Arbeit im Mönchtum des hohen und späten Mittelalters“, in: Postel, Arbeit, 133–170. 83 Virgils Dom (erbaut 767–774) brannte 845 nach Blitzeinschlag ab, EB Hartwigs Dom 1020. Hans Sedlmayr, „Die politische Bedeutung des Virgildomes“, MGSL 115 (1974), 145–160; Anton Zehrer, „Versuch einer Rekonstruktion des Virgil- und Hartwikdomes zu Salzburg“, MGSL 124 (1984), 241–303. Basiliken waren Mehrzweckbauten für Markt, Versammlungen, Gericht und, christlich, für Gottesdienste. 84 Robert A. Scott, The Gothic Enterprise. A Guide to Understanding the Medieval Cathedral, Berkeley 2003; Binding u. a., Baubetrieb in Westeuropa, 1–10. 81

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Elitenkonsum: Schreib-, Bekleidungs- und Dombau-Handwerk

Theologie“, so Georges Duby, auch ihren Gott an: „mit dem Zirkel [… erschuf er] das Universum gemäß den Gesetzen der Geometrie“. Suger nahm, nur scheinbar bescheiden, das Praktische wahr: „Bewundere nicht Gold und Geld, sondern die Handwerkskunst.“ In Hessen hatten einst militante Kleriker Bauleute so zum Christentum gedrängt, dass sie abwanderten und der Papst mahnen musste, sie weniger zu bekehren und besser zu verpflegen (8. Jh.). Kleriker, die individuell oder kollektiv für jede res ihre significatio hatten, dachten auch weltlich-körperlich und ließen Goldschmiede beheizbare „Äpfel“ herstellen, um sich in den unbeheizten Hallen die Hände zu wärmen. Dachdecker, die Tonziegeln in konkav-konvexem Verband übereinanderlegten, nannten die oberen „Mönch“ und die unteren „Nonne“. Der Signifikationen waren viele. 85 Die Kirchenmänner verwoben Spirituelles und Finanzielles. Abt Suger verließ sich auf die Reliquien des heiliggesprochenen Dionysius, um Spenden anzuregen. Er besaß Abgaben-pflichtige Bauern-Familien, war Abgaben-Berechtigter der Handels-Messe bei Lendit und hatte Königsnähe gesucht und erreicht. 86 Konrads Arbeiter fanden bei Baubeginn 1181 die Gebeine Virgils. Sie generierten Spenden und die erfundenen Wundertaten der Propagandaschrift „Vitae et miraculae sanctorum Iuvavensium Virgilii, Hartwici, Eberhardi“ ließ den Geldzufluss steigen. Dennoch wurde das Geld knapp und Konrads soeben mit Bayern belehnte Familie leitete Abgaben ihrer neuen Untertanen an ihn weiter. 87 Die Werkleute organisierten den Baubetrieb quasi-industriell als fabrica ecclesiae oder grosse steinwerckh. Nur wenige sind namentlich bekannt: architectus Fridericus, cementarius Pertholdus, lapidarius Willihalm mit Frau Frŏgart, scisor (Skulpteur?) Berthramus. Der Bau, 1198/1200 fertiggestellt, war 122 m lang, 57,5 m breit im Querschiff, knapp 30 m hoch im Mittelschiff, knapp 10 m in

den Seitenschiffen. Auf der Grundfläche von 5200 m2 – zu der die der übrigen Kirchen der Residenzstadt hinzuzurechnen wäre – hätten alle Salzburger*innen sehr geräumig Platz gefunden. Rechnerisch ergäbe die Grundfläche 1000 Wohnkammern à 2,6 � 2 m oder 325 Bauernstuben à 16 m2 – oder mehr, denn sie hätten mit geringerem Material- und Kostenaufwand errichtet werden können. Hätte Wohnraum, ausgestattet mit je einem kleinen Kruzifix oder Marienbild, religiöses Wohlbefinden besser befördert? 88 Edles Baumaterial – braunroter Adneter und beige- bis rosafarbener Untersberger „Marmor“ – lag gewissermaßen vor der Haus- oder Kirchentür. Die Entfernung von knapp 10 bzw. 20 km war für Transportarbeiter und ihre Ochsen dennoch nicht einfach, denn manche Blöcke wogen Tonnen. Einachsige Ochsenkarren transportierten etwa 100 kg, bei Schnee halfen Schlitten mit niedriger Ladefläche. Um Gewicht zu sparen, fertigten Steinmetze die Werkstücke bereits in den Steinbrüchen und mussten dafür die geplante Form passgenau kennen. Sie schlugen selbstbewusst ihr persönliches Zeichen, darunter den vorchristlichen „Drudenfuß“ von Drud (Alb), in Werkstücke. Über die Zeit nannten kirchliche Rechnungsbücher, anders als Chroniken, Glaser farbiger Fensterkompositionen mit Namen und, manchmal, Herkunft – Individualisierung wie bei Mächtigen. 89 Architekten, Meister und Parliere kannten sich weiträumig und lernten voneinander. Die Bauleute der Dombauhütten entwickelten in kollektiver Praxis Fähigkeiten, die himmelstrebende Türme und feine Ziselierungen machbar werden ließen. Für diesen anfangs abwertend „Gotik“ – Referenz zu den barbarischen, zugewanderten Goten – genannten Stil war bautechnisch die Erkenntnis entscheidend, dass schwere Rundbögen nicht nur durch leichtere Spitzbögen ersetzt, sondern diese, diagonal überkreuzt, tragendes Skelett werden konnten. Dafür meißelten oder brannten sie Profilstei-

Scott, Gothic Enterprise, 87–88, Zitat G. Duby 88; Binding u. a., Baubetrieb im Mittelalter, 179, 218, Zitat 352–353. Nach der Eröffnung seiner Kathedrale schrieb Suger ein Legendenwerk, „De consecratione ecclesiae Sancti Dionysii“ (1144/51), das weit verbreitet wurde. Es hätte die Werbeschrift einer Kirchenbaufirma sein können. 87 Annegret Wenz-Haubfleisch, „Die älteste Überlieferung des Mirakels des hl. Vitalis im Cod. 339 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien“, MGSL 134 (1994), 167–172. 88 Der Dom brannte 1598 ab. Franz Pagitz, „Quellenkundliches zu den mittelalterlichen Domen und zum Domkloster in Salzburg“, MGSL 108 (1978), 21–156. 89 Binding u. a., Baubetrieb im Mittelalter, vii, 31–70; Peter C. A. Schels, „Kleine Enzyklopädie des deutschen Mittelalters“, http://u01151612502.user. hosting-agency.de/malexwiki/index.php/Fabrica*ecclesiae (8. Januar 2016). 85

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

ne, vermauerten sie auf einem Maß-genau gezimmerten Holzgerüst und verbanden sie mit einem Schlussstein. Die Konstruktion übertrug Gewicht und Schubkräfte auf Pfeiler und die nun dünneren Außenmauern konnten Schmiede, Glasmacher und -maler sowie Bleigießer mit hohen Fenstern durchbrechen. Ohne dies Können kein „Zeitalter der Kathedralen“. In Salzburg würde erst der Chor der Kirche „Unserer Lieben Frau“ nach 1400 die neuen Fähigkeiten für alle sichtbar machen (s. Kap. 10.4). Innovationen betrafen das Kran- und Gerüstwesen, die Arbeit in großen Höhen, die Verwendung von Schablonen und Rationalisierungen. Mit „Wolf“ oder „Teufelskralle“ genannten Zangen hoben die Bauleute Werksteine von bis zu zwei Tonnen Gewicht. Aus Blöcken meißelten KünstlerHandwerker Profile mit durchbrochenen geometrischen Mustern, schufen als „Maßwerk“ hohe, lichtdurchlässige, flächige Fenster, geöffnete Wände, Balustraden. War die Rohform, zum Beispiel einer Blattranke, fertig, begann das Glätten und Polieren.

Abb. 8.28 Äußere Fiale am Strebewerk der Kathedrale in Reims (Bau 1211–1311) Matthäus Roriczer in Regensburg stellte 1486 ein „Büchlein von der Fialen Gerechtigkeit“ zusammen: Als Basis ein vier- oder achteckiger, meist verzierter Schaft (Leib), darüber vier schmale Stäbe mit offenem Raum für Heiliges, die Spitze mit hervorstehendem Blattwerk (Krabben), Kreuzblume als Krönung.

Abb. 8.27 Steinzangen (Nachzeichnung)

Schmiede stellten die tätigkeitsadäquaten feinen Beitel (Meißel, Stecheisen, Schlageisen) her. 90 Im kirchlichen Sozialraum blieben, neben dem

Bauwerk, Textilien besser erhalten als Edelmetallobjekte: Geweihte Kelche und andere liturgische Gegenstände ließen neu berufene Kleriker einschmelzen und gemäß eigenem Geschmack und geplanter Schaustellung neu gestalten. Gewänder hingegen ließen sich nur schwer aufschneiden, neu vernähen und besticken. In der Residenzstadt Salzburg schufen von Virgils Lebzeit bis zur Hungerzeit

F. Opferkuh, Steinmetztechnik im Museum Mannersdorf a. Lgb., Mannersdorf o. J. Im Leitha-Gebirge lagen die Steinbrüche für den Stephansdom in Wien. Karl Friedrich, Die Steinbearbeitung in ihrer Entwicklung vom 11. bis zum 18. Jahrhundert, Augsburg 1932.

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Salzburg-Stadt: Soziale Schichtung, caritas, Selbstverwaltung

nach 1300 Männer und Frauen, die sich erst Wohnstätten bauen mussten, über 18 bis 24 Generationen Kirchengebäude, Klerikersitze, Klöster und statteten sie aus. Sie rissen gemäß den Wünschen von

EB und Äbten andere (teilweise) ab, erweiterten und veränderten sie, gestalteten sie prunkvoller. Gleich blieb das Ziel, die sichtbare Zeichensetzung.

8.7 Salzburg-Stadt: Soziale Schichtung, caritas, Selbstverwaltung „Stadt“ war nicht Einheit, sondern durch soziale Gegensätze zwischen Bürger- und Inwohner-Familien geprägt. Die Benennung als cives, burgenses oder urbani bedeutete nicht Selbstständigkeit, sondern wachsenden Abstand zu Dörflern. Meisterund Fernkauf-Familien akkumulierten und erhoben sich zu einem Patriziat. Als civitas galten wohlhabende, herausgehobene und gewitzte Männer, cives pociores, sowie der Gerichts-/Rechtsbezirk, urbana iustitia. Die EB hatten sich wie alle regionalen Machthaber Königsrechte angeeignet und entwickelten einen Herrschaftsapparat aus oft fähigen unfreien Dienstmannen, die zu Ministerialen – zu bescheidenem Stadt- oder Landadel – aufstiegen, mit ihrerseits eigen-familiären Interessen und, besonders in entfernten Besitzungen, mit relativer Selbstständigkeit. Manche ließen sich durch Unter-Ministerialen vertreten. Der castellanus, Burggraf, der Residenzstadt wohnte mit eigenen Administratoren, Schreibern, ritterlicher Mannschaft und Knechten separat: Hofstaat auf Burgberg. Die EB delegierten die lokale Verwaltung nur in kleinen Schritten und blockierten alle Forderungen nach Systemreform. Sie setzten Stadtrichter ein (urk. 1120), um ihre Bürger*innen den machtvollen Sieghardinger-Vögten zu entziehen. Frauen und Fremde mussten sich vor dem Richter durch einen männlichen „Fürsprech“ vertreten lassen. EB-Richter und der Rat der Stadt scheinen oft konträr zueinander gestanden zu haben und die hörigen Stadtoberen legten fest, dass Macht-Haber-hörige Ministerialen keine städtischen Ämter übernehmen durften. EB Eberhard II. verfolgte mit Kaiser Friedrich II. die Verschriftlichung der Rechte der Fürsten und Minderung der Rechte der Städte (Confoederatio cum principibus ecclesiasticis, 1220). 91 Im Statutum in favorem principum, 1232 (Name 19. Jh.), verbot der

Kaiser Stadträten, Kirchhörige, die sich durch Abwanderung selbst befreien wollten, als Inwohner*innen und Vorstädter*innen aufzunehmen. 92 Kaufleute und Handwerksmeister gründeten um 1100 eine „Bürgerzeche“ als erste wohltätig-religiöse Selbstorganisation. Der Bruderschaft schlossen sich fromme Männer, Frauen, Kleriker, Mönche und Nonnen an. Jede*r sollte täglich mehrfach beten oder dies an Wochenenden nachholen. Bei geschätzten 700 bis 1200 Mitgliedern beliefen sich Gebete und Psalmen auf Zehntausende jährlich. Die Zeche arrangierte die Bestattung verstorbener Mitglieder und die Versorgung Hinterbliebener. Für Almosen und ein Armenmahl vor Weihnachten sollte jede*r Aufgenommene einen Scheffel Weizen oder 15 Pfennige zahlen. Die Aufnahme Mittelloser würden Stiftungen erst im 15. Jahrhundert ermöglichen. Die Mächtigen – selbst als Stand verbunden und sich der Frag-Würdigkeit ihrer Position vielleicht bewusst – ordneten Verbindungen aller anderen als Verschwörungen, coniurationes, ein. Handwerkerverbände, die seit dem 13. Jahrhundert berufsständisch und munizipal-politisch wirken wollten, sahen sie mit besonderem Argwohn. Diese „Zechen“ (anderswo „Zünfte“) veranstalteten in einer Art weltlicher Liturgie gemeinsame Abendmahle. Wurde dabei intensiv Brüderschaft getrunken? Gaben gelöste Zungen der Unzufriedenheit mit den herrschenden Gewalten Ausdruck? Kollektive Absprache war Teil kirchlicher Bräuche, das Abendmahl zentrales Thema österlicher Predigten. Manche Klostergemeinschaften zechten gern, Mahlzeiten (oder Gelage) waren Teil erzbisch-höfischer Kultur. Seit Jahrhunderten schlossen sich reisende Kauffahrer zu Gilden zusammen. Handwerkergesell*innen arbeiteten und wohnten beieinander und tauschten Erfahrungen aus. Hat es in den Frauenwerkstätten der Grundherren-Familien

Während Hoftagen erhielten königliche Amtleute in Versammlungsorten Verfügungsgewalt über lokale Maut und Münze. Für Bischofsstädte wurden die Gastungspflichten zeitlich eingeschränkt auf maximal eine Woche vor und nach dem Hoftag. 92 Dopsch u. a., „Rechtliche und soziale Entwicklung“, 691. 91

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Besprechungen über Arbeit und, vielleicht, Solidarität gegeben? Zuwander*innen aus Dorfgemeinschaften brachten ihre Erfahrungen kooperativen Handelns bei Flurbestellung und Hausbau ein. Der kooperativen Traditionen gab es viele. 93 Viele Klöster und Stifte sorgten traditionell für Reisende und Arme und EB Konrad I. richtete 1110 in Salzburg ein Spital (lat. hospitium, Gastfreundschaft) mit der Kirche St. Johannes ein sowie in Friesach das Armenspital St. Magdalena. Die Mönche von St. Peter folgten mit gasthuse samt Bad am neuen Almkanal und einem Spital mit St. LorenzKirche. Die Domherren statteten ihr Spital mit Stiftungen und ansehnlichem Besitz aus, beschränkten die Aufnahme aber zeitweise auf ihre Bediensteten. Die Erentrudis-Frauen öffneten ihr Spital mit der Erhards-Kirche erst 1310. Ein Patrizier stiftete (vor 1322) ein Spitalhaus und daraus entstand das Bürgerspital für verarmte, alleinstehende Bürger, später am Gstättentor mit Kirche St. Blasius gelegen. Der Namensgeber Blasius hatte der Legende nach einst im osttürkischen Sivas einen jungen Mann vor dem Ersticken an einer Fischgräte gerettet. Der Bauplan der Bettenhalle/Hallenkirche kam aus Beaune (Burgund). Caritas diente auch der Stabilisierung der Strukturen und Sorgen um die Kosten durch die zunehmende Zahl Verarmender ließen die EB handeln. Die Mönche von St. Peter hatten seit 1210 „an die Armen dreimal im Jahre 3 Mut Weizen, 50 Laib Käse und ausreichend Bier abzugeben“. Stadtrat und Herrscher erließen bei Getreideverknappungen Ausfuhrund Bierbrau-Verbote, importierten Getreide, speisten umherziehende Verarmte mit Brot, versorgten Sesshafte mit ungemahlenem Getreide und gaben Bäckern Höchstpreise vor. 94 Vorsorgender Hygiene dienten drei Badstuben, der Frischwasserversorgung weitere Zweige des Almkanals. Die Zuleitung zum Bürgerspital zahlten Bürger und Gewerbetreibende, die Wasserlauf und -kraft nutzten. Rechtsufrig würde erst 1496 das Bruderhaus St. Sebastian entstehen, gestiftet von dem Bürger und Gewerken Virgil

Fröschlmoser als Pilgerunterkunft und Spital für Dienstboten und andere „arme Leut“. 95 An Fürsorge konnten nur zahlungsfähige Bürger*innen mitwirken und „Gemeinwohl“ betraf gemeine, mittellose Inwohner*innen kaum: Die Bürgerzeche kostete einen jährlichen Beitrag, in die Spitäler mussten (Selbst-) Pfründner Besitz einbringen, meist Unfreie-auf-Land, deren produzierter Mehrwert ihre Altersversorgung sicherte: Statt Naturalien mit Verfallsdatum Hörige-über-Generationen, deren Abgaben, in Geld angelegt, langfristig verzinst und genutzt werden konnten. Nach dem Tod eines prebendari vergab der Spitalmeister die Pfründe erneut. Die Zechmeister entwickelten das Bürgerspital zu einem Wirtschaftskomplex mit großem Grundbesitz in Salzburg-Land. Die hörigen Bürger unternahmen, ohne dass ihr Status aufgehoben wurde, einen weiteren Schritt von Eigenleuten zu Eigeninitiative. Eliten-ordo betonte Grenzen: Kleriker grenzten sich ein und andere aus: Juden, Frauen, selbstständig denkende Gläubige als „Ketzer*innen“. Bürger grenzten sich von Minderen ab. Ein gegenläufiges Bestreben, die Grenzen der Lateinkirche durch Kreuzkriege auszudehnen, erweiterte die interne Ausgrenzung: Krieger, die mit dem ansteckenden, Lepra genannten Aussatz zurückkehrten, mussten in das Sundersiechenhaus (Ende 12. Jh.) oder ein zweites, städtisches, in Mülln (vor 1270). Als am Beginn des 13. Jahrhunderts Herrscher die Rechte der Stadtbürgerschaften zu begrenzen suchten, strebten die Salzburger größere Kompetenzen an. Dies war unter anderem schwierig, weil EB und Dienstmannen Vollzeit-Machthaber waren, Bürger, die selbst für ihren Unterhalt sorgen mussten, Teilzeit-Munizipale. Die Stadtoberen, meliores cives, setzten ein Zeichen, als sie 1249 im Rahmen von Streitigkeiten mit kirchlichen Institutionen erstmalig ein eigenes Siegel verwendeten. Die gehobenen Bürger-Familien waren sich durchaus nicht immer einig und eine Parteiung – zeitgenössisch als „reiche“ vs. „arme“ Bürger be-

Zu Historiografie und Entwicklung Arnd Kluge, Die Zünfte, Stuttgart 2007, 11–60; Otto G. Oexle, „Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit“, in: Jankuhn u. a., Handwerk, 1:284–354; Josef Ehmer, „Zünfte in Österreich in der frühen Neuzeit“, in: Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich, Göttingen 2002, 87–126. 94 Curschmann, Hungersnöte, 74–81; Dopsch u. a., „Rechtliche und soziale Entwicklung“, 1.2:720–726; Ammerer und Waitzbauer, Wege zum Bier, 9–19, Zitat 10 („Mut“ zeitgenössisches Maß, vermutlich mehr als 145 Liter). 95 Spitäler in Radstadt (auch als Herberge für die Tauernstraße) 1191, Hallein 1386, Werfen 1398 und Tamsweg 1484. Arme in ländlichen Gemeinden wurden bei Bauern-Familien „eingelegt“ und „lebten von der Gnade“. Die Frauen Erndraut und Magdalena übergaben dem Salzburger Bürgerspital 1439 mehrere Güter und einen Weingarten, damit die Armen regelmäßig ein Massel Wein zu trinken hätten. 93

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Salzburg-Stadt: Soziale Schichtung, caritas, Selbstverwaltung

Abb. 8.29 Salzburger Stadtsiegel von 1249

zeichnet – zeigte Gegensätze zwischen eingesessenen Patriziern und migrantischen Neu-erfolg-reichen: „beziehungsreich“ vs. „dynamisch Eigeninteressen verfolgend“ wäre eine angemessene Benennung. Die homines novi veränderten Geschäftspraktiken, Bildung und, sichtbar, die Mode. Sie kleideten sich körperbetont und ließen ihre Söhne in Handelsschrift, Buchhaltung und fremden Handelssprachen unterrichten. Der Konflikt nahm Ausmaße an, dass EB Rudolf I. (aus Hohenegg, h. 1284–1290) mit einem „Sühnebrief“ (1287) schlichtend eingriff. Diese erste Rechtsaufzeichnung kam spät: Augsburger*innen hatten ein eingeschränktes Stadtrecht seit 1156; Ennser*innen, geteilt in „ehrenhafte“ und mindere, seit 1212. Rechte besaßen auch die Städte Passau (1225), Regensburg (1230), Diessen (1231), Innsbruck (1239) und Landshut (1279). Neben diesen Rechten waren Handwerker*innen rechtes Verhalten, verstanden als „nützlich und ehrlich“ (utile et honestum), Ehre und symbolisches Kapital wichtig. 96 Der Sühnebrief diente im ersten Teil dem kommunalen Frieden durch ein Strafrecht für Gewalttaten und stellte im zweiten Teil am bayerischen

Landfrieden orientierte Rechtssätze für alle Städte des Erzstifts zusammen, für andere Teile der Kirchenprovinz konnte er weltliche Ordnungen nicht erlassen. Der EB, der bewaffnete Bürgerschaft akzeptierte oder sie benötigte, ordnete an, dass Bürger sich mit eigenem Harnisch und Waffen auszustatten und Stadtrichter und Vizedome dies regelmäßig zu überprüfen hätten. Harnischmacher verdienten daran. Als Beisitzer des Stadtrichters amtierten zwölf (!) wohlhabende Bürger einschließlich der vier herausgehobenen Schlüsselherren. 97 Die Ämter des Münzmeisters, Geldwechslers, Brückenwärters und Zöllners sowie des Kastners für Getreide- und, später, Schatzkasten standen nur Bürgern offen. Der Brief verbot Zusammenschlüsse von Handwerkern. Selbsthandelnde in Zürich und Basel bezeichneten sich bereits als Eidgenossenschaften. 98 Obwohl die Verbriefung die EB-Machtstellung unangetastet ließ, konterten nachfolgende EB den Reformschritt: Konrad IV. (h. 1291–1312), gegen dessen Wahl durch die Domherren die Bürger opponiert hatten, ließ in einer Strafaktion die alte Pfalz und Porta zerstören; Friedrich III. (h. 1315– 1338) untersagte in seiner Landesordnung von 1328 Gerichtssitzungen bei Kirchen, besonders den Lauben von St. Michael. Die Bürger-Familien richteten sich ein Rats- und Gerichtsgebäude ein, siedelten dort die Stadtwaage (1330) an und eine Stadttrinkstube als Ort bürgerlicher Geselligkeit und Fremdenherberge (1399). 99 Die Kirchenkorporationen blieben größte Grundbesitzer und verpachteten ihren Besitz um einen Burgrechtspfennig: Recht als Pflicht Grundsteuer zu zahlen. Wirtschaftlich klug ordnete Grundherr EB Friedrich an, dass Stadtgrundstücke nur erwerben dürfe, wer darauf ein Haus errichte. Um 1340 war der „Alte Markt“ an allen Seiten umbaut. Die EB deckten ihren Kreditbedarf überwiegend bei christlichen Geldverleihern und nur in geringerem Maß bei den wenigen jüdischen Glaubens. Juden waren selbstverständlicher und separater Teil der Untertanen. Ortsnamen belegten ihre jahrhundertelange Verortung. In den „Judendorf“

Herbert Klein, „Beiträge zur Geschichte der Stadt Salzburg im Mittelalter. Die ‚reichen‘ und ‚armen‘ Bürger von 1287“, MGSL 107 (1967), 115–128; Kluge, Zünfte, 107–114. 97 Der Stadtrichter und die Schlüsselherren hatten je einen der Schlüssel zu dem mit fünf Schlössern versehenen Aufbewahrungsort des Stadtsiegels. 98 In Zürich entmachteten Handwerker und Stadtadel 1336 die patrizischen Ratsherren, Geldwirtschafts-orientierten Kaufleute und Meister der Luxushandwerke. Ihre Zunftverfassung blieb für vier Jahrhunderte Basis der Stadtregierung. 99 Fritz Pagitz, „Der Pfalzbezirk um St. Michael in Salzburg“, MGSL 115 (1974), 175–219. 96

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

genannten Raststationen – zum Beispiel bei Friesach und Goldegg, im Murtal, in Tamsweg, bei Fusch an der Glockner-Route – war der Sabbat religiöser Ruhetag. Laut zeitgenössischer interpretatio clerici, als interpretatio historici kopiert, lebten selbst-segregierte christliche Kleriker integriert, Menschen jüdischen Glaubens selbst-separiert oder ausgegrenzt. Die christlichen Segregationsräume besaßen eine eigene Gerichtsbarkeit und Steuerfreiheit, die jüdischen bei hoher Steuerbelastung nur eingeschränkte Selbstverwaltung. Juden hatten Schutzgelder zu zahlen, Kleriker ließen sich von Unfreien Unterhalt zahlen. Gläubige beider Religionen, die den gleichen Gott verehrten, waren gleichzeitig aus Palästina abgewandert, doch hatten die Sprecher der einen eine Organisation entwickelt, die anderen ein Netzwerk von Fernkaufleuten und Gelehrten. Die wichtigsten jüdischen Gemeinden befanden sich in Friesach und Pettau, kleinere in Salzburg, Hallein und Mühldorf, weitere in vielen anderen Orten der Kirchenprovinz: Sie waren wie Klostergemeinschaften weit vernetzt und viele jüdische Familien sahen größere Städte wie Regensburg, Marburg/Maribor und Ljubljana als wirtschaftlich attraktiver und wanderten dorthin. Mit der Entwicklung von Wien und später der südlich gelegenen Neustadt entstanden dort wohlhabende Gemeinden aus Kaufleuten, kleinen Pfandleihern und Handwerkern. Urkunden für Darlehen und Geschäfte zwischen Juden und Christen bezeugten Männer beiden Glaubens. Da für Darlehen Grundund Burgenbesitz sowie besonders Weinberge als Pfand dienten, wurden in Folge nicht zurückgezahlter Summen Finanziers beider Religionen Eigner. Weit mehr jüdische als lateinchristlich-adlige Männer konnten Lesen und Schreiben. 100 Salzburger Christen legten am Beginn des 14. Jahrhunderts den Grundstein für eine weitere Kirche. Doch als St. Johannes am Imberg 1319 vollendet war, hatte sich vieles geändert: Beginnende Kälteperiode und Hungersnot sowie Kriegstod waren Teil der Erfahrungswelt geworden. Wurden sie Teil des Erwartungshorizontes? In seiner Präambel

zur Gründungsurkunde des Bürgerspitals benannte der EB das Elend deutlich: „… sehr viele wurden von der Kälte übermannt in den Gassen aufgefunden, ausgeschlossen von menschlicher Hilfe in der Zeit ihres Sterbens und nach dem Tod um den Liebesdienst der Bestattung betrogen. Gebärende Frauen jammerten hinter den Wänden erbarmungswürdig in der Drangsal ihres heftigen Schmerzes, weil sie ganz ohne die Hilfe einer Hebamme auskommen mussten. Kranke beiderlei Geschlechts an den Toren unserer Metropolitankirche auf billigen Bahren liegend verunreinigten Zutritt und Eingang mit mancherlei Unrat und Gestank, so dass die Vorübergehenden ihren Abscheu unter heftigem Missfallen kundtaten. Im Blick auf Gott, der den Barmherzigen Barmherzigkeit verspricht, erfüllte uns also das ganze Mitleid über das vorher angeführte Unglück und Elend.“ 101

Im Jahrhundert davor, als sie die investive Rolle weltlich Mächtiger einzugrenzen suchten und Zisterzienser im Geldmarkt aktiv wurden, hatten Kirchenmänner die Ausgrenzung von Juden intensiviert. Betroffen von Pesttod und erkennend, dass Gott nicht half, vernichteten Salzburger Christen 1348/49 ihre jüdischen Nachbarn. Beteiligten sich alle daran oder nur einige? Die Täter blieben straffrei. Spitalsgründer*innen und mordender „Mob“: Täterprofile wären wichtig; caritas und Ärger über Gestank der Armen: Mentalitätsprofile wären wünschenswert. So wie nach Stadtbränden christliche Bürger Städte wieder aufbauen mussten, bauten jüdische Familien nach 1350 Gemeinden wieder auf, in Salzburg-Stadt mit eigenem Friedhof und Synagoge für Gebete, karitativen Tätigkeiten, Lesen und Interpretieren religiöser Texte sowie HinterbliebenenVersorgung. Ihren Raum zum Studieren der Schriften nannten sie „schul“. Schulen gab es bei Christen nur wenige und eigenständiges Lesen der Bibel war verboten. 102 Zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Großen Sterben mussten Städte und Stände den bereits hoch verschuldeten FEB Pilgrim II. (h. 1365–1396) von den drei bayerischen Herzogs-Brüdern freikaufen, die er kostenaufwändig mit 600 Spießen, 250 Schützen, 1450 Rossen und großem Fußvolk bekämpft

Fritz Popelka, „Der Name Judendorf in den östlichen Alpenländern und seine handelsgeschichtliche Bedeutung“, Blätter für Heimatkunde der Steiermark 13.4/5 (1935), 57–60; Wilhelm Neumann, „Zur frühen Geschichte der Juden in Kärnten“, Carinthia. Beiträge zur Heimatkunde Kärntens 152 (1962), 92–105; Eveline Brugger, „Die Judenkontakte EB Friedrichs III. im Spiegel der Quellen“, Salzburg Archiv 30 (2005), 33–43. 101 Zitiert in Dopsch u. a., „Rechtliche und soziale Entwicklung“, 1.2:723–724. 102 Versammlungsräume in griechisch-sprachigen Gesellschaften waren schole. Die Erinnerungstafel für die schul in Salzburg wurde im Zuge der Gebäudeübernahme und -renovierung durch einen internationalen Hotelkonzern in den 1990er Jahren beseitigt. 100

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Alltagsmobilität und Fahrende, Reisende, Durchziehende

hatte. Sie hatten ihn – protokollwidrig – bei Verhandlungen gefangen genommen. Als Gegenleistung handelten die Bürger*innen sich ein „Stadtrecht“ aus, das teils auf den Verbriefungen von 1287 und 1328 beruhte, teils auf dem Recht der Residenzstadt der Familie Habsburg, Wien. Letztere hatte vor der Pest vermutlich 10.000 Einwohner*innen in 1000 Häusern. Hoffte Pilgrim, da Unterhaltszahler*innen knapp geworden waren, durch sein Zugeständnis die Zahlungswilligkeit anzuregen? Er verbot – die Angst der Mächtigen blieb Movens – jegliche coniurationes gegen EB und Einigungen unter Handwerkern und Patriziern gegen die Stadtkorporation. 103 Das neue Recht erlaubte bürgerlichen Frauen und Männern, in Städte anderer Herrschaften zu heiraten. Für Kauffamilien waren Familiennetzwerke unabdingbar. Doch nachfolgende EB klammerten an ihren Gewohnheiten und nahmen – sehr zum Ärger der Betroffenen – weiterhin Einfluss auf die Verheiratung von Bürgertöchtern, grenzten also Handlungsfreiheit und Gefühlsleben ein.

Die Bürger erreichten, dass sie zu Kriegs- und Fehdedienst außerhalb der Stadt nur für einen einzigen Tag herangezogen werden durften. Geistliche unterstanden dem Stadtgericht nicht, außer – nachdenkenswerte Ausnahme – sie begingen Straftaten in einem Wirtshaus oder des Nachts auf einer Straße. Eine „pierglokke“ verkündete die Sperrstunde; Winkelschenken galten als Orte von Unzucht und anderen Übeln. Todesstrafe drohte bei Tötung eines Kindes im Mutterleib und bei Rückfall (zwangs-) konvertierter Juden. Die Richtstätte lag, für Anreisende sichtbar, vor dem Linzer oder „Galgentor“. Bestraft wurde sexuelle Belästigung von Frauen und das Betrügen von Kindern um ihr Erbe. Hingegen waren Gesinde und als „ehrlos“ Kategorisierte nicht geschützt. Gemäß Gewerberecht bestellten die Bürger Bäcker, Getreide-Abmesser und Fasszieher, um den Getreide- und Weinhandel klösterlichen Manipulationen zu entziehen. Dies schien ihnen ein kleiner Fortschritt zu sein (s. Kap. 10.3).

8.8 Alltagsmobilität und Fahrende, Reisende, Durchziehende 104 Zwischen Weilern und Dörfern, Märkten und Städten bewegten sich Marktbeschicker*innen, abgabenpflichtige Gläubige zu Fälligkeitsterminen an Heiligenfesten, alleingehende Säumer und Kaufleute mit Fuhrknechten. Unterwegs waren kirchliche und weltliche Mächtige, Bewaffnete, die zu März- oder Maifeld 105 zogen, Fehde-, Beute- und Kreuzritter. Hinzu kamen Pilger*innen, Bettelmönche, arbeitslose Pfarrkleriker, Verarmte und entlassenes Kriegsgesinde-Raubgesindel. Für Rechtsgeschäfte arrangierten Boten Termine und Parteien und Zeugen reisten an. Reisetempo und Nächtigungen, Gepäck und Zahl der Begleiter*innen, Reiseprotokolle und Routen variierten nach Stand. Der Unterhalt der Wege war wichtig: Der erste Herzog von Österreich, Heinrich II., starb an seinen Verletzungen, als sein Pferd auf einer verrotteten Brücke nahe Melk einbrach (1177), seine zweite Frau,

Theodora Komnena, hatte den Weg von Konstantinopel nach Regensburg überstanden. Mobile Menschen trafen Entscheidungen Schritt-weise. „Aufbruch“ bedeutete Entfernen aus dem Habitus und Normengefüge einer Dorf-, Kloster- oder Hof-Kommunalität (community), Bruch emotionaler Bindungen und Zurücklassen von Frauen, Kindern und Nachbarn. Abreise erforderte Wahl der Jahreszeit, Einschätzung der aktuellen Witterung, Kenntnis um das Ziel. Nach Winter und Schneeschmelze mussten Wege wieder begehbar sein. Gepäck musste tragbar und der Reisedauer angemessen sein. Pilger*innen trugen wenig, Säumer und Händler*innen sowie NaturalabgabenZahlende schwer, Reisende von Stand benötigten Reit- und Packpferde. Kleidung sollte funktional sein: Hüte, die den Nacken vor Regenwasser und Sonne schützten; edle Kleidung, wenn Menschen

Real verschworen sich am oberen Ende der administrativ-klerikalen Skala die Ministerialen und ließen EB nicht in die Residenz einziehen. Norbert Ohler, Reisen im Mittelalter, München 1986; Horst Wenzel (Hg.), Gespräche, Boten, Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin 1997; Rainer C. Schwinges und Klaus Wriedt, Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa, Ostfildern 2003. 105 Waffendienstpflichtige mussten sich im März versammeln, jedoch im Mai, seit Berittene überwogen, denn ihre Pferde benötigten nach dem Winter Grünfutter. 103

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

am Straßenrand und am Ziel beeindruckt werden sollten; schwere Panzer, wenn Krieg das Ziel war. Panzerträger benötigten Knechte, denn allein konnten sie ihr Pferd nicht besteigen; Kleriker benötigten Dienstleute, die gemäß liturgischer Saison die verschiedenfarbige Kleidung vorbereiteten und, bei Abreise, nicht vergaßen, sie einzupacken. Be-weg-ung erforderte Praktiken und Strategien zur Vermeidung von Gefahren, Räuber an vielen Orten, Raubtiere in Waldgebieten. Schutz boten Fahrgenossenschaften, Hansen und Pilgergruppen. Da Einheimische ihre Wege kannten, gab es keine Wegbeschilderung und durchziehende Fremde mussten besonders im Gebirge ortskundige Führer bezahlen. Kleriker verfassten für Romfahrten Routen- und Stadtbeschreibungen; Kaufleute und Säumer lernten ihre Wege beim ersten Begehen und hatten sie „im Kopf“. Flüsse beschleunigten die Bewegung stromabwärts; Landreisende, die sie durchqueren mussten, nahmen sie als Hindernis wahr und Säumer beluden ihre Tragtiere so, dass die Last bei Furtquerungen trocken blieb. Brücken erforderten Baukosten und Unterhalt und enge Bögen galten Schiffern und Flößern als Hindernis. Flussquerende Fährleute erfuhren Wasser anders als mit dem Strom fahrende. Sie gehörten lokalen Grundherren und konnten samt Schiffen verschenkt oder verkauft werden. Sie mussten Kleriker „für Gottes Lohn“ befördern, also die Kosten auf weltliche Reisende umlegen. Manche forderten überhöhte Fährgelder und nach Berichten ließen manche ihr Boot absichtlich kentern, um sich der Habe der Ertrunkenen zu bemächtigen. Flussquerung zu Fuß oder zu Pferd war ab Spätherbst wegen der Gefahr schwerer Erkältungen, oft mit Todesfolge, nicht ratsam. Noch 1535 ertranken Abt Chilian Püttricher von St. Peter und ein Begleiter, als ihr Kahn auf der Sulm bei Leibnitz kenterte. Der überlebende, zum Nachfolger gewählte Georg Oeller starb an den Folgen seiner Verkühlung. 106 Reisen „kosteten“ Zeit; Geschwindigkeiten wie einst im Römischen und Persischen oder, im 13. Jahrhundert, Mongolischen Reich waren unvorstellbar. Kein Mächtiger initiierte eine strategisch

geplante und regelmäßig unterhaltene Infrastruktur; lokal richteten Grundbesitzer an Wegkreuzungen, Passaufgängen, Furten oder Brücken Übernachtungs-, aber auch Mautstätten ein. Klosterund Meier-Höfe boten Dienste an, 107 Unfreie hatten Fuhrfron- und Vorspanndienste zu leisten. Als zahlungsfähige Reisende ein neues Marktsegment bildeten, entstanden privatwirtschaftliche, aber dem jeweiligen Herrn abgabepflichtige Herbergen oft als bäuerliche Familienbetriebe (s. Kap. 7.8), im Gebirge als durch Stiftungen finanzierte Hospize. Ihre Türmchen boten Reisenden Orientierung, sie waren nützliche Zeichensetzungen. Gast-Höfe boten Einstellmöglichkeiten für Packtiere und Karren und, wo nötig, Miet-Zugtiere. Vertrauenswürdige, das heißt mitreisende Knechte entluden Waren und stapelten sie fachgerecht. Mahlzeiten tischten Knechte und Dirnen oder Herbergswirt*in auf. „Dirnen“ wurden später mit sexueller Dienstleistung konnotiert, dafür wäre die Nachfrage zu analysieren und ihre Be- oder Abwertung marktwirtschaftlich zu begründen. Herbergen boten große Schlafräume, aber kein Bettzeug. Auch Hochgestellte mussten die Lagerstätten und den Kammertopf, wenn vorhanden, mit anderen teilen. Kaufleute errichteten sich an manchen Orten eigene Unterkünfte und Niederlassungen oder wurden, wie im Fall der fondaco di tedeschi in Venedig seit 1228, von Stadträten in sie eingewiesen. Tedeschi, „deutsch“, war Sammelbegriff für Kaufleute aus Mitteleuropa; natio als Herkunft schloss Deutsche, Böhmen, Ungarn und Flamen ein. Die topografischen und sozialen Räume, durch die Fahrende zogen, ermöglichten die Wahrnehmung von Anderem und erforderten ein Auseinander- und Zusammensetzen mit lokal Üblichem. Fremde Reisende mit großem Selbstbewusstsein oder Selbstbegrenztheit sahen Einheimische als fremd, Kommunikation erforderte jedoch ein geteiltes Verständigungs-, zumindest Mitteilungssystem. Kaufleute sprachen mehrere Sprachen oder nahmen Dolmetscher in Lohn, Herrschende bevorzugten mehrsprachige Gelehrte in ihrer Begleitung oder am Zielort. Um Zusammen-treffen

MGSL 46 (1906), 22–23. Im islamischen Raum errichtete die asketisch und zölibatär lebende religiöse Bruderschaft (ṭarīqa = Weg, Methode) der Derwische unter herrschaftlicher Charta Herbergen und beschützte Reisende.

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Alltagsmobilität und Fahrende, Reisende, Durchziehende

nicht in Auseinander-setzung münden zu lassen, folgten Reisende Protokollen. Sie galten – wie für die Champagne-Messen – meist gleichermaßen für alle, manchmal separat für Reisende latein- und griechisch-christlicher, slawischer oder jüdischer Kultur. Alterität konnte Ressource sein: Herrscher privilegierten fremde Kaufleute, aber nicht einheimische Untertanen. Vielfach erforderte der Grenzübertritt ein Aushandeln von Ansprüchen, Bedürfnissen und Routinen und Heere und Personen von Rang durften gemäß Geleitrecht nicht ohne Begleitung durch ein fremdes Gebiet ziehen. Geleitrecht und -pflicht galt Mächtigen mit Tross als Ehrengarde, Kaufleuten als Schutz gegen sesshafte Raubritter und itinerante Räuber, Ansässigen als Schutz gegen durchziehende Heere. Kleriker von Rang und Herrscherfamilien, hochgestellte Reisende und transterritoriale Heiratsmigrantinnen ließen sich von einer standesgemäßen Anzahl Dienstpersonal und, bei prunkvollen Ereignissen wie Rom-, Konzil- oder Reichstagszügen, von Panzerreitern begleiten. Das Gefolge musste dem intendierten Auftreten, das heißt der Visualisierung von Macht und Reisezweck, entsprechen: Berater, Kapläne, Kanzlisten, Diener, Bewaffnete. Quartierbeschaffende Dienstleute ritten voraus. Bevoll-mächtigte der Mächtigen hatten Wochen oder Monate vorher alles Notwendige „in die Wege geleitet“, für Krönungsakte oder kirchliche Hochfeste den Ablauf geklärt. Sie hatten Vor- und Nachrang ausgehandelt, damit Rangstreitigkeiten nicht in Gewalt endeten. Komplexe Logistik stellte sicher, dass Kleidung und Geräte, wertvolle Geschenke, Kanzleiutensilien und Küchenausrüstung rechtzeitig eintrafen, dass Unterkunft und Zutaten für standesgemäße Mahlzeiten eingefordert oder bezahlt waren. Herren und bei manchen Feld- oder Rom-Zügen mitreisende Ehefrauen fanden Unterkunft in einem Kloster oder Vasallenhof, Begleiter in Scheunen oder mitgeführten Zelten; Diener mussten sich einen trockenen, wenig zugigen Schlafplatz in Ställen oder anderswo suchen. 108 Gegenüber Herren hatten Äbte und Grafen Gastungspflicht, Stadtbürgerschaften Pflicht zu angemessenem Empfang. Gastung galt als ehrenvoll,

war aber schwere Belastung. Die Edlen erwarteten standesgemäße Bewirtung und damit Vogt, Meier oder Abt das Gewünschte abends auf dem Tisch hatten, mussten Knechte es kurzfristig von Hufenfamilien eintreiben. Reisende Herrschaft folgte bekanntem Ritual auf ausgekundschafteten Wegen. Für sie war Mobilität Normalfall, doch Härtefall für die, die Eier, Fasane oder anderes zu liefern hatten. In fremden Gebieten und besonders in Rom mussten Essen und Unterkunft bezahlt werden. Neu gewählte EB, Äbte und Äbtissinnen zogen von ihren Abgabepflichtigen eine Sonder- oder Weihsteuer ein, um die Repräsentations-Kosten zu decken. Zahlende hofften vermutlich auf ein langes Leben ihrer Oberherren, denn deren früher Tod und schneller Wechsel bedeuteten baldige neue Zahlungsaufforderungen. Eine Belastung stellten auch Itinerante der untersten Schichten dar. Manche der als Vaganten Bezeichneten wollten viel von der Welt sehen, andere auf Kosten der Sesshaften leben oder beides zugleich. Verarmte zogen zu Orten, an denen Almosen verteilt wurden. Mönche reisten viel, Gründer von Orden bewegten sich weit. St. Peters Patron Benedikt war rastlos unterwegs gewesen. Mönche aus Gebieten nördlich der Alpen unternahmen den langen Pilgerweg nach Rom und, wenn sie schon einmal dort waren, die weiteren etwa 150 km nach Monte Cassino. Smaragdus aus Saint-Mihiel in Lothringen und die Reformsynodalen 816 klagten bitter über gyrovagi, wandernd herumkreisende Benediktiner-Mönche. Die „Secte“ von Psalmensängern, Rhapsodisten, Lautenisten, Grammatikern, Dialecticern und Ioculatoren zielte besonders auf Geistliche und wohlhabende Bürger, um sich bewirten zu lassen. Beherbergung von Pilgern und Armen war gottgefällige Pflicht, eine Nacht Kostenlos. Die potenziell Gastgebenden sahen Scholaren sowie Mönche und fratres zunehmend als ziellos fahrendes und gefräßiges Volk. Verfechter der stabilitas loci, der Ortsfestigkeit, kritisierten, dass Re-organisatoren wie Benedikt aus Aniane hypermobil unter-wegs waren. Vielen galt jedoch Zwangsmobilität wie Abtransport versklavter Heiden und Muslime als gottgefälliges Unterfangen. 109

Karl-Heinz Spieß, „Unterwegs zu einem fremden Ehemann. Brautfahrt und Ehe in europäischen Fürstenhäusern des Spätmittelalters“, in: Irene Erfen und Karl-Heinz Spieß (Hg.), Fremdheit und Reisen im Mittelalter, Stuttgart 1997, 17–36. 109 Debra J. Birch, Pilgrimage to Rome in the Middle Ages, Woodbridge 1998; Peter Erhart und Jakob K. Hüeblin, Vedi Napoli e poi muori – Grand Tour der Mönche, St. Gallen 2014. 108

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Äbte und Herrscher entsandten Mönche zu Pfarren und Rodungsgebieten; Pfarrer suchten Pfründe, arbeitslose Kleriker Vikariate als Vertretung eines nicht an seinem Pfarrort residierenden, vielleicht sogar desinteressierten Klerikers. Hinzu kamen seit dem 13. Jahrhundert umherziehende „Scholaren“, denn nicht jeder Domschüler fand einen Job. Lehrende suchten Mäzene und Orte unabhängigen Denkens, fanden sich zu Universitäten zusammen und bewegten sich, da abhängig von den Gebühren ihrer Studenten, zwischen Lehr-, das heißt Broterwerbsstätten; Lernende taten Gleiches, manche genossen Wirtshäuser und Bordelle oder beklagten unzureichende Unterkünfte. Viele der Dienstleistenden waren ihrerseits zugewandert. Da Kleriker, die Sex suchten, sich nicht an Einheimische wenden konnten, nahmen fremde Frauen diese Einkommensnische wahr. Prostitution wurde vielfach verachtet, oft geschätzt, im Fall gebildeter court-isanen hochgeachtet. Viele wanderten nach Rom, denn Männerüberhang und -wünsche waren weit bekannt. Scholaren wandten sich Bologna (Dekretschule, gegr. um 1100), Modena (1175) und Padua (1222), Paris oder Oxford (beide um 1200) zu, mitteleuropäische Routen begingen sie seit den Universitätsgründungen in Prag 1348, Krakau 1364, Wien 1365 – dass dies die Jahre der Pest waren, notierten die Gründungsakte nicht. Spätere Salzburger Kleriker studierten in oberitalienischen Städten und, zunehmend, in Wien, wo um 1450 etwa 6000 Studenten lebten. Viele der Theologen, die sie belehren sollten, deuteten mehr an alten Texten, als über aktuelle Glaubenspraxen nachzudenken. Die Mobilität Militärpflichtiger – zum Heer-

dienst gebannter – änderte sich, als Mächtige Kriegsdienst in Lohnarbeit wandelten. „Landsknechte“, oft jüngere Söhne ohne Erbe, wurden bei Arbeitslosigkeit Landstreicher und trugen ausreichend Waffen, um Hufenfamilien, denen Waffen verboten waren, auszurauben. Sie taten dies während der endlosen Fehden im Raum Bayern-Salzburg-Österreich, während der Großkriege in Palästina und der Kriege der Familie Habsburg. Söldner oder Reisige, ursprünglich bewaffnete Dienstleute oder berittene Begleitpersonen, dauerhaft abgetrennt oder herausgerissen aus ihren Geburtsgemeinschaften, verhielten sich oft brutal. Menschen, die ihre Brandschatzungen überlebten, mussten sich ihnen oft anschließen: Die Entwurzelten entwurzelten sie. Wie nahmen sesshafte, aber freisetzbare, das heißt hinauswerfbare ländliche Familien und am Wegrand Arbeitende das Kommen und Gehen auf? Sie mussten, erstens, angetrieben von Vögten und Pflegern, Wegefron für die Instandhaltung von Straßen leisten. Selbstgenutzte Wege in ihren Gemeinschaften unterhielten sie gemäß Konsens oder Entscheidung des Bur-Meisters. Zweitens blickten sie oft sorgenvoll auf Durchziehende, deren Reit-, Pack- und Zugtiere Nahrungskonkurrenz für eigenes Vieh und Zugtiere waren. Durchreitenden war als Futter nur erlaubt, was für den Pferdehals, ohne die Hufe vom Weg zu nehmen, erreichbar war. Die vielfache Wiederholung des Gebotes zeigte, dass Reiter mächtig und mobil waren und kaum auf Schadensersatz verklagt werden konnten. Anrainerfamilien, nach manchen Großzügen im Winter hungrig, machten ihre Erfahrungen in Volkserzählungen zum Teil historischer Erinnerung.

8.9 Fernes Nahes: Venedigerhandel und „Venediger“ in Erzählungen Die Bildlichkeiten der an vielen Wegen Lebenden ermöglichen Rückschlüsse auf ihre Vorstellungen. Saumhändler, oft aus bäuerlichen Familien, trugen Güter über die Tauern. Sie nächtigten bei Ansässigen, erzählten, was sie gesehen hatten, und zeigten, wenn sie von Süden kamen, vielleicht die „Venedigerwaren“, wie Betrachtende sie generisch und fast mythisch nannten. Unfreie, die über die Passrouten Fron als Wein-Saumdienste abarbeiteten oder italienische Weine zinsten, berichteten von ihren Erfahrungen. An der Wende zum 13. Jahrhundert in326

tensivierten Kaufkräftige und Kauf-Familien die Handelsbeziehungen zu den oberitalienischen Städten. Die Menschen nahmen jeden EB, der nach Rom reiste, um das Pallium abzuholen, und andere Mächtige mit Tross, silbernem Gerät und bestickter Kleidung in Augenschein. Sie wussten, dass am Weg nach Rom große Städte lagen. Pilger*innen erzählten von Jerusalem und Pfarrer, dass dortige Veränderungen – Heiden, Kreuzritter, Sarazenen – ihr Seelenheil beträfen. Wenn sie Fronabgaben zu Sammelstellen trugen oder Vorspanndienste leis-

Fernes Nahes: Venedigerhandel und „Venediger“ in Erzählungen

teten, kamen sie mit Dienerschaft und Pferdeknechten der Hoch-gestellten und Hoch-trabenden zusammen. Die Zuhörer- und Zuschauer*innen entwickelten Vorstellungswelten, um das Erstaunliche oder gar Wunderbare zu inkorporieren. 110 Dafür hatten sie mentale Rahmen: Erstens kannten sie das lokal Besondere wie glitzernde Erze, Bergkristall, andere Kristallformationen und Flussgold, das sie im oberen Salzachtal wuschen. Mit kleinen Fundstücken schmückten sie ihre Stuben, das meiste glitzernd Schöne war allerdings dem EB, der auch Wirtschaftsboss war, abzuliefern. 111 Wie der Himmel mit Engeln war ihre Bergwelt animistisch-personalisierend belebt. So wie Venediger-Säumer ihre Pakete oder Diener von Wohlhabenden deren Koffer öffnen konnten, öffneten Zwerge und Elfen Berghänge, führten besondere Menschen hinein und zeigten ihnen Silber und Perlen. Ihnen war ehrerbietig zu begegnen. Bei Unehrerbietigkeit verschwanden sie wie Durchziehende oder straften wie Vögte. Sie lebten, zweitens, in einer Zeit wirtschaftlicher Innovation: Salzburger Ober- und regionale Unterherren sandten Bergwerker aus, die Gold und andere Erze suchen und abbauen sollten und unternehmungsbereite Bergbauernsöhne suchten selbst. Fanden sie nach langem Hauen und Abräumen Wertvolles, konnten sie es zeigen, bevor sie es den Herren ablieferten. Bergbauern-Familien wurden nie reich, Erzleute, so schien es, über Nacht. Knechte, oft Knappen genannt, zogen aus, um Erzadern zu suchen, die Sesshaften dachten darüber nach. Die Knappen leisteten schwere Arbeit in dunklen, Kienspan-flammend beleuchteten Schächten – dies schien manchen auf Bergwiesen Vieh Hütenden nicht natürlich. Sie wussten, dass der Teufel übermenschlich schwere, fast unmöglich zu bewältigende Arbeit leisten konnte und Hilfe anbot. Der lokale Pfarrer bot keine Hilfe und hob dennoch alljährlich den Zehnten ein. Die Pfarrer standen

über ihnen, doch die Knappen wurden über-mütig. Dafür ereilte sie Strafe durch Berggeister oder durch Verfluchung der von ihnen mut-willig behandelten oberirdisch Lebenden. Der Teufel, als dritter Ankerpunkt für Erklärungen, kam raum-zeitlos durch die Lüfte und versprach armen Menschen oft Gold und Silber. Er bot, was Reisende von Stand, die lokal übernachteten, mit sich führten: silberne Patenen, golddurchwirkte Umhänge. Manche Knappen, die reiches Erz aus höllisch-dunkler Tiefe holten, schienen in ihrem – angeblichen – Übermut fast teuflisch. In anderer Perspektive erschien der Teufel überzeugender: Er wolle keine irdischen Güter, sondern nur die Seele. Doch für Pfarrmitglieder wäre das Verrat gewesen, denn die Seele wollte ihr Pfarrer. In ihren Erzählungen gelang es ihnen immer, den Teufel zu überlisten. Viertens erschienen in Gebirgstälern – sogar im fernen Harz sahen Menschen sie – Fremde, die abgesondert und geheimnisvoll lebten, wohl Bergkristall, Gold und Silber suchten. Traumhaften Reichtum besaßen die Venediger, also mussten die Fremden „Venediger“ sein. 112 Die Überlegung war empirisch korrekt, denn venezianische Investoren sandten Prospektoren in die Bergwelten. Die Venediger zeigten den wenigen, die wagten, sie anzusprechen – so die Geschichte –, reiche Erzadern. Manche der Fremden bewegten sich, aus Sicht der Bergbauern, die mühselig Gebirgspfade erklommen, unnatürlich schnell. Wiederum machten sie sich Gedanken, diesmal über Raum und Zeit. Die Schnelligkeit musste, nach den Worten ihres Pfarrers, teuflisch sein. Bekannt war ihnen, ebenfalls durch ihren Pfarrer, das Fliegen: So bewegten sich Engel und die Apostel in der Todesstunde von Maria. Die Gläubigen fanden eine Erklärung, personifiziert und lokalisiert wie so vieles: Die Venediger konnten fliegen und führten gelegentlich neugierige Gesprächspartner in nächtlichem Flug nach Venedig. 113

Der folgende Teil fasst Erzählungen zusammen, die in zahlreichen Versionen weitergegeben wurden. Michael Dengg, (Hg.), Lungauer Volkssagen, Mauterndorf 31968, 199, 210; Wolfgang Morscher und Berit Mrugalska, Die schönsten Sagen aus Salzburg, Innsbruck 2010, 101–102; Rudolf von Freisauff, Salzburger Volkssagen, Wien 1880, 235–240, und viele andere Sammlungen. 111 Seit 1666 sind Kristallschneider in Salzburg-Stadt nachgewiesen. Zu Arbeitsprozessen und Produkten Hemma Ebner, Reinhard Gratz u. a., Salzburger Bergkristall – Die hochfürstliche Kristallmühle, Salzburg 2002, 17–23 passim. 112 Peter Feldbauer, Gottfried Liedl, John Morrissey, Venedig 800–1600. Die Serenissima als Weltmacht, Wien 2010. 113 Hans-Günther Griep (Hg.), Harz Mythologie: Märchen und Sagen, Goslar 2009, 56–57. Venediger erschienen als „fremdländisch gekleidete Männer [… und] suchten verborgene Stellen auf“. Sie siebten Perlen aus einer Quelle; einen lokalen Bergmann versetzten sie durch Zauberspruch nach Venedig. Dengg, Lungauer Volkssagen, 199, 210. Die Erzählungen werden unter dem Begriff „Venedigersagen“ in der Literaturgeschichte behandelt. 110

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Abb. 8.30 Skulptur am Palazzo Mastelli del Cammello, Venedig

Dort sahen diese mit eigenen Augen eine Wunderwelt, Scheherazade hätte sie nicht besser erzählen können. Am Palazzo del Cammello sahen sie die Skulptur eines beladenen arabischen Kamels. Es war beeindruckend groß und trug doppelt so viel wie ein Saumpferd. Mit dem Kamel waren einst (1112) drei Brüder aus Morea (mittelaltl. Name für den Peloponnes) als Seidenhändler gekommen; vielleicht kamen sie gar aus Afrika, denn der Palast stand am Campo dei Mori und die Häuser waren mit maurischen Arabesken verziert. Auf Brücken über die vielen Kanäle mussten Besucher Maut zahlen, das war zuhause auch so, also vertraut. Die Menschen, die ihnen begegneten, kamen aus fernen Regionen, sie hießen „Lombardo“ oder „Moro“. Und es gab, deutlich wahrnehmbar, Menschen anderer Religion – als größte Gemeinde die der Juden, als zweitgrößte die orthodoxer Christen. Erschraken die Reisenden? Die Existenz orthodoxer Christen bedeutete, dass es andere Christentümer gab! Nahmen sie es hin? Der Flug-Reisende war Bergbauern-Christ, sein Pfarrer römisch-institutioneller Christ. Sein Führer drängte den Reisenden weiter und sprach vom Glauben. Die Kaufleute verehrten die Gebeine von Markus, einem der vier Evangelisten. Gebeine waren Wunder-voll, auch das war dem Reisenden vertraut. Markus war in seiner Lebzeit – so erzählte der Führer – aus Alexandria in die Lagune gekommen, hatte dort gepredigt und, ein

Wunder: Engel verkündeten ihm, dass seine Gebeine dort einst liegen würden. Allerdings beerdigten seine Gläubigen ihren Bischof Markus bei sich in Alexandria. Jahrhunderte vergingen. In separater Entwicklung wurden im 7./8. Jahrhundert RomKirche und Rom-Stadt wichtiger als Venedig. Um mit Rom gleichzuziehen, ließ ein amtierender Doge zwei venezianische See-Kaufleute im christlichkoptischen und islamischen Alexandria Markus’ – angebliche – Gebeine stehlen (828) und die Patrizier errichteten ihm eine wundervolle Basilika. 114 Sie brannte jedoch 976 ab und die Reliquien mit ihr. Der Neubau wurde später abgerissen. Aber, ein neues Wunder: Als man den dritten Bau 1094 (ein-) weihte, tauchten die Gebeine wieder auf. Dies klang vertraut, Ruperts Gebeine waren nach Salzburg gekommen, die des Virgil fand man beim Neubau des Doms. Weit beeindruckender als die Geschichte war das Innere des Doms. Der Reisende hätte sich in der Märchenwelt aus Tausendundeiner Nacht wähnen können – aber er kam ja nicht von dort. Er sah einen orientalischen Altar, den Goldschmiede aus 250 Emailplatten auf Goldfolien in Zellenschmelztechnik hergestellt und mit Edelsteinen besetzt hatten. Nie hätte er gefragt, wo all dies herkam und wer es bezahlt hatte. In Träumen fragt man nicht. Es verschlug ihm ohnehin die Sprache, denn das gottgefällige Werkstück war, wie er schätzte, etwa dreieinhalb Meter breit und anderthalb Meter hoch – er dachte natürlich in den Maßeinheiten seiner Zeit. Hätte er soweit zählen können, wäre er auf 2486 Juwelen gekommen: 526 Perlen, 330 Granate, 320 Smaragde, 255 Saphire sowie Amethyste, Rubine, Topase und geschnitzte Kameen. Dies zählen jedenfalls moderne Enzyklopädisten. Als weitere Quantität tausende Quadratmeter Mosaikböden und Wand- und Deckenmosaike. An manchen wurde noch gearbeitet. Mit Blick für Details – dies war in den Bergen wichtig – nahm er beim Verlassen des Gebäudes wahr, dass die Bögen des mittleren Portals mit Monatsbildern arbeitender Menschen geschmückt waren und mit Gott, der an der Erschaffung der Welt arbeitete. Erzählen würde er zu-

Die Ortsangaben für Venedig sind Stadtführern zu entnehmen. Der Topos unerklärlicher Geschwindigkeit war weit verbreitet. In Kiew wurde im 11. Jahrhundert erzählt, dass oströmische Freskenmaler durch übernatürliche Kraft mit unnatürlicher Schnelligkeit in ihrem Boot Dnepr-aufwärts zum Höhlenkloster gebracht worden seien. Cyril Mango, The Art of the Byzantine Empire, 312–1453: Sources and Documents, Englewood Cliffs, NJ 1972, 221–222. 114 Tintoretto malte den Raub (1562–1566) und nannte ihn trafugamento (Entwendung), Kleriker sprachen von translatio.

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Fernkaufleute: Transkontinentale Routen und Waren

hause von dem Muttergottesaltar, von der auf dem Thron sitzenden Madonna Nikopoia, die sanft in die Ferne oder in sich hinein blickte – er bildete sich ein, sie hätte ihn kurz angeschaut. Hätte der nächtlich Reisende einen Historiker zum Führer gehabt, hätte er noch vieles für sein Weltbild erfahren und Ähnlichkeiten mit seiner Lebenswelt oder Heimatregion erkennen können. Mit Venetern hatten bereits keltische Menschen gehandelt. Um 100 u. Z. hatten Kaufleute aus Palästina, christliche „Syrer“ oder israelitische „Juden“, in der Handelsstadt Verona von Christus erzählt. Später hatten venetische Landbewohner*innen, wie die Bewohner*innen Iuvavums, vor durchziehenden gotisch-sprachigen Wanderverbänden fliehen müssen. Sie entschieden, auf Inseln zu leben und sich als Unterkunft Häuser zu bauen, deren Summe sie herkunftsbezogen „Venedig“ nannten. Die Verortung war doppelt nützlich: Die Inseln boten Schiffslände und Häfen für den Handelsverkehr nach Konstantinopel und sie boten Schutz, als die nächsten aggressiven Bewaffneten, Hunnen (452) und Langobarden (568/69), vorbeizogen und vieles zerstörten. Böses blieb lange im Gedächtnis; es griff tief in Sicherheitsbedürfnis und Identität ein, verunsicherte. Anderes wurde zielstrebig verschwiegen: Viele der Schätze in der Stadt stammten aus dem 4. Raubzug 1204, während dessen Kleriker und Ritter unter venezianischer Anleitung Paläste und orthodoxe Kirchen und Klöster in Konstantinopel ausraubten, darunter die Marmorplatten für ihren lateinchristlichen Dom. Der Reisende hätte auch einem Handwerker oder einer Handwerkerin auf ihren Wegen folgen können und hätte enge, kleine, dunkle Werkstätten und Läden, botteghe, kennengelernt. In den Quartieren der Arsenalarbeiter*innen hätte er Armut

und Erschöpfung gesehen. Auch die Fischer-Familien am Hafen lebten ärmlich. Er suchte vermutlich nicht danach, denn Einfaches war in dem Bild des reichen Venedigs, in seiner Strahlkraft und seinen exotischen Waren nicht erhalten. Fragen konnte er nur im Rahmen seiner Vorstellungswelt. Hätte der Reisende in die Zukunft schauen können, auf die er, so sein Pfarrer, wegen des Jüngsten Gerichts ohnehin warten musste, hätte er eine wundersame Vermehrung wahrgenommen: Immer mehr Venediger und immer mehr Reisende wie er selbst, die die Schätze bewunderten. Er blieb in seiner Zeit: Ihm war jetzt klar, weshalb einzelne Säumer nach dem beschwerlichen Weg ihre Waren nicht in Gemona oder in Treviso eintauschten, sondern, so teuer es war, Venedig sehen und davon erzählen wollten. Eine gute Erzählung war einer bäuerlichen Familie am Weg die Unterbringung für eine Nacht wert. Einordnen konnte er auch, weshalb einige Männer in Venedig sich alpin darstellten, jedenfalls schienen ihre Werkstätten Häusern in den Alpen nachempfunden. Sie waren echt: Die Arbeiter der kleinen Werft kamen aus Cadore in den Tiroler Dolomiten, wo man Ladinisch sprach und wo das Holz für die Boote wuchs. Säumer, die den Weg über Belluno nach Norden nahmen, kamen durch das Cadoretal zum Kloster Innichen und konnten von dort leicht Drau-abwärts reisen. Die Mönche besaßen im Cadoretal seit dem 10. Jahrhundert Menschen und Grund (verdinglicht: „Güter“). Den nächtlichen Reisenden brachte sein Führer wohlbehalten zurück. Andere reisten zu, blieben dauerhaft in Venedig und wurden durch Geschick und Fähigkeiten wohlhabend. Sie sprachen Gebirgsdialekte, zur fondaco tedeschi fanden sie keinen Zugang, denn die Räume waren zu teuer.

8.10 Fernkaufleute: Transkontinentale Routen und Waren Über die transalpinen, mittelmeerischen und donauländischen Wege kamen und gingen Fernkaufleute und Fuhrknechte. Transkontinental nutzten sie oft Wasserstraßen. Der 2000 Stromkilometer lange Weg zwischen Marseille und Flandern war bis auf etwa dreißig Kilometer schiffbar: Rhône bis Genf, Portage über Land zum Neusiedler See, Aare bis zum Rhein; oder, wie schon von Kelten genutzt, die Route Rhône-Saône-Doubs-Donau (Abb. 3.22)

und Inn- und Salzach-aufwärts weiter. Von den gesamten Routen, die sich weit über die lateinchristliche Ökumene hinaus erstreckten, reisten Kaufleute meist nur Teilstrecken (vgl. Abb. 6.8 und 6.20). An Umschlagorten – verdinglicht zu „Handelsdrehscheiben“ – trafen sich Experten, die die Bedürfnisse wohlhabender Kunden nördlich der Alpen kannten, mit Experten für ferne Produzent*innen. Ersteren war die ferne Geografie unbekannt und sie 329

Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

nannten als Provenienz ihrer Waren pauschal „Konstantinopel“, auch wenn westbalkanische Kunsthandwerker*innen sie geschaffen hatten, oder als „orientalisch“, wenn sie über Alexandria und später Kairo aus Handelsemporien am Indischen Ozean kamen und die Produzent*innen zum Beispiel in Sri Lanka lebten. EB kauften Kunstgegenstände und Gewürze von weit her, an ihren Tischen und denen anderer Reicher zählte Schaustellung von Quantität der teuren Würzen mehr als ihr Geschmack. Konstantinopel beschrieb 1170 der weltoffene sephardische Benjamin aus Tudela (Aragon) als Stadt in Bewegung: Kaufleute aus Babylon, Mesopotamien, Persien, Medien, Ägypten, Kanaan, Russland, Ungarn und aus den Ländern der Petchenegen, Chasaren, Lombarden und Sepharden; vergleichbar schien ihm nur „Bagdad, die große Stadt, die den Muslimen gehört“. 115 In Städten Ägyptens sah er Händler mit Farb- und Gewürzpflanzen für Stoffe, Medikamente, Aphrodisia und kosmetische Farbstoffe. Ibn Khaldun (Ibn Ḫaldūn) aus Sevilla lebte zwei Jahrhunderte später (1382–1406) in Alexandria und schrieb rhapsodisch über die Metropole der Welt, Garten des Universums, Treffpunkt der Nationen, Ameisenhaufen der Menschen, Zentrum des Islam, Sitz der Macht. 116 Für Staat und Handel hatte bereits Ibn Chordadhbeh (Ibn Ḫurradāḏbih), im 9. Jahrhundert CEO der Post in der persisch-arabischen Provinz al-Ǧibāl, ein achtbändiges (Hand-) Buch der Wege und Länder (Kitāb al-masālik wa-l-mamālik) zusammengestellt, mit Routen bis nach Korea und Details zu Entfernungen, Klima und Gefahren. An den levantinischen Endpunkten der 7000 km langen und schwierigen Route von Chan’an (Xi’an) mit ihren vielen Nord ←→ Süd-Zubringerpfaden und an den seeseitigen, später „Gewürzstraße“ und „Weihrauchstraße“ benannten Routen erstanden Kaufleute auf eigenes Risiko im Westen unbekann-

te, aber potenziell gewinnbringende Luxusgüter. Sie kalkulierten transaction costs auf der Basis fundierten Wissens. Als Auftragshändler Zahlungskräftiger berieten sie mit Produktspezialist*innen über Qualität und Farbschattierungen, zum Beispiel von Edelsteinen, über Farben für illuminierte Manuskripte und Geschmacksvarianten von Gewürzen. Scriptor*innen und Köch*innen wussten dies zu schätzen. Wie die Kaufleute suchten Gesandte und Pilger Informationen über die muslimischen Herrschaftsund Sozialräume, durch die sie ziehen wollten. Abschriftlich zugängliches Wissen wuchs kontinuierlich. Nur legendenhaft erzählte der aschkenasische Rabbi Petachja, der von Regensburg über Prag und Polen bis Kiew reiste. Hingegen verfasste der Florentiner Francesco Balducci Pegolotti, um 1335 in Genuas Kolonie Kaffa (Krim) tätig, Della practica della mercatura für Routen bis Beijing mit Anweisungen, wo Geld zu wechseln sei, kundige Führer oder Übersetzer einzustellen seien, wie Waren verpackt und gewogen werden müssten. Vier Jahrzehnte später vollendete Abraham Cresques aus Aragon mit Hilfe jüdischer und islamischer Wissenschaftler seinen Katalanischen Atlas für Afrikahandel (1375). 117 Europäer lernten die indischen, von ihnen „arabisch“ genannten Ziffern kennen und arabische Mathematik vereinfachte Berechnungen und Rechnungsführung. Die Kaufleute und Kastner von Pettau über Salzburg und Augsburg bis Flandern schätzen dies und auch Handwerker waren funktional lese- und schreibkundig. 118 Im iberischen Westen der muslimischen Welt blieben Handels- und Produktionszentren kleiner. Leder „aus Córdoba“, das meistens Produkt von Mande-Lederwerker*innen in der Sahel-Region war und von trans-saharischen Händlern über Marokko (maroquin) nach al-Andalus gehandelt wurde, begehrten Kaufkräftige nördlich der Pyrenäen.

Er bereiste ~1160/66–1172 jüdische Gemeinden über Bagdad bis nach Indien und zurück über Russland nach Paris. Jüdische Reisen im Mittelalter: Benjamin von Tudela; Petachja von Regensburg, aus dem Hebr. von Stefan Schreiner, Leipzig 1991, 26, 111–113; Dieter Hägermann, Karl der Große, Herrscher des Abendlandes, München 2000, 446–447. Kairo als Königsresidenz ersetzte Fustat (200.000 Einw.), das der oberste ägyptische Beamte hatte niederbrennen lassen, um Plünderung durch anrückende Kreuzkrieger zu verhindern. 117 Arabische und indische Seeleute zeichneten sich Karten der Küsten und Häfen des Indischen Ozeans und waren fähig, sich auf offenem Meer zu orientieren. 118 George F. Hourani, Arab Seafaring in the Indian Ocean in Ancient and Early Medieval Times, Princeton 1951; L. Rabinowitz, Jewish Merchant Adventurers: A Study of the Radanites, London 1948. Der habsburgische Söldner und Offizier Georg Christoph Fernberger bereiste 1588 bis 1593 eine ähnliche Route und las vorher den Bericht von Benjamin (Reisetagebuch, 1588–1593, hg. von Ronald Burger und Robert Wallisch, Frankfurt/M. 1999, 90). Pegolottis Kompilation zirkulierte in vielen Abschriften. 115

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Fernkaufleute: Transkontinentale Routen und Waren

Die Herrscher in Córdoba ließen hochqualifizierte arabische Handwerker die ersten und größten Papiermühlen Europas errichten. 119 Von dort aus versorgten Kaufleute im 11. Jahrhundert lateinkirchliche und fürstliche Kanzleien und zahlten mit Sklav*innen. Sklav*innen, „Werkzeuge mit Stimmen“, hatte – wie dargestellt – auch die merowingische Herrscherfamilie fangen lassen; die karolingische hatte Fanggebiete für Friesen und Sachsen eingerichtet; die Kleriker Bayerns und Salzburgs hatten die Annektierten in Karantanien zu Beuteobjekten erklärt (s. Kap. 6.1, 6.3, 6.12). Nach dem Diktum der selbst Sklaven besitzenden Päpste durften lateinchristliche Macht-Habende nur Heiden versklaven. Als slawische Menschen unter Einfluss des Missionars Methodius im 9. Jahrhundert die Option, christlichen Glauben anzunehmen, durchdachten, hätten sie sich damit dem Handel entziehen können: Diplomaten aus Venedig, Großmarkt für Sklav*innen, protestierten. Aus nordslawischen Regionen verlief der Ost ←→ Westhandel mit Menschen und Pelzen über die Schnittstelle Raffelstetten und im rus-ländischen Raum verwendeten Händler Salzburger Münzen bis ins Gebiet zwischen Oder und Weichsel. Für Pelze war Salzburg Zentrum des Großhandels, für Sklav*innen Regensburg. Als Herrscher im Osten im 13. Jahrhundert Pelz- durch Getreidezinse ersetzten, änderte sich für Salzburger Kürschner die Rohstoffversorgung. 120 Den Handel betrieben human trafickers vieler Kulturen entlang einer Südroute über Prag und Regensburg zu den Alpenpässen und entlang einer Westroute über Lothringen nach Marseille und Iberien. Islamische Herrscher in Iberien, oströmischchristliche im Balkan und Kleinasien und Romchristliche italienische Stadteliten kauften für den Familienbedarf, für Höfe und Landwirtschaft. In Nordafrika erzielten die Kauf-Familien aus Venedig, Genua und anderen Häfen zeitweise das Vier-

fache des Einkaufspreises. Einflussreich war neben christlichen Händlern besonders die jüdisch-radhanitische Gemeinschaft, die nicht dem päpstlichen Verbot des Handels mit Muslimen unterlag und in der gesamten tri-kontinentalen Ökumene tätig war. 121 Dynamische Kauf-Familien handelten über Aachen, Verdun als Zentrum der „Aufbereitung“ der Ware Mensch, Narbonne, Córdoba und Tanger bis nach Kairouan und China. Frauen wurden für dienende Arbeiten und als Konkubinen verkauft. Soweit sie für Höfe mit hohem kulturellen Niveau bestimmt waren, erhielten sie in Verdun eine entsprechende Bildung. Männer wurden meist kastriert und als Kastraten oder Eunuchen 122 verkauft. Erstere waren wegen ihrer hohen Stimme als Sänger auch an christlichen Höfen, einschließlich des päpstlichen, beliebt. 123 Im Rahmen dieser Zirkulation floss arabischislamisches Geld oder Gold nach Westen. Im Osten handelten sogdische und arabische Händler bis in den indischen Raum. Da in der islamisch-arabischen, jüdischen und oströmischen Welt Schriftlichkeit höher entwickelt war als in der lateinchristlichen, ist die Informationslage für dortige Sklav*innen besser als für Leibeigene romanischund germanisch-sprachiger Eliten. Hier wie dort blieben Menschen Teil herrschaftlicher Verfügungsmasse. EB Eberhard II. gestattete Abt Johann und Stift Admont, „dass alle Frauen, die aus der Hörigkeit der Salzburger Kirche admontische Hörige heiraten“, fortab der Gerichtsbarkeit des Stiftes und der Verfügung derjenigen Kirche unterstanden, in der sie sich niederließen. Als ein steirischer Ministeriale und eine salzburgische Ministerialin heirateten, schlossen der EB und Hz Leopold VI. (Steiermark) ein Abkommen über den Besitz an ihren Kindern. Dem Domkapitel schenkte der EB „Gisila, die Frau des Ritters Heinrich von Kallersberg“. Ein Kärntner Graf resignierte seine Güter, Ministerialen und Lehen an den EB, behielt jedoch ein

Arabisch-islamische Armeen, die 751 die Heere der Tang-Dynastie bei Talas besiegt hatten, nahmen chinesische Spezialisten für die Herstellung von Papier, ein ihnen noch unbekannter Prozess, gefangen und transferierten sie nach Samarkand. Kaufleute aus Sogdien verbreiteten das Produkt und für Papyrus- und Pergament-Hersteller begann eine Rezession. Den Buchdruck, ebenfalls im Ägypten des 10. Jahrhunderts bekannt, übernahmen Christen nicht; Gutenberg erfand den Prozess mit beweglichen Lettern Mitte des 15. Jahrhunderts. 120 Michael McCormick, Origins of the European Economy. Communications and Commerce A.D. 300–900, Cambridge 2001, 732–733, 755 passim. 121 Der Name mag sich von rāhdān, persisch für Wegekundige, vom Rhône-Fluss als Handelsweg oder anders ableiten. Maurice Lombard, Blütezeit des Islam. Eine Wirtschafts- und Kulturgeschichte, 8.–11. Jahrhundert, übers. von Jürgen Jacobi, Frankfurt/M. 1992 (frz. 1980), 211. 122 Kastraten wurden die Hoden entfernt, Eunuchen auch der Penis. 123 Alexandre Skirda, La Traite des slaves. L’esclavage des blancs du VIIIe au XVIIIe siècle, Paris 2010, 81–136; Michael McCormick, „New Light on the ‚Dark Ages‘ : How the Slave Trade Fuelled the Carolingian Economy“, Past & Present 177 (November 2002), 17–54; und ders., Origins of the European Economy, 735–737, 758. 119

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Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten

Schloss, einen Ministerialen, eine Hörigen-Familie und zwanzig Mark Einkünfte in drei Orten. Den Domherren schenkte der EB die Kirche in Gastein samt Hörigen, im Text „Einkünfte“ genannt. Aus deren Abgaben sollten die Mäntel der Domherren mit Lammfell gefüttert werden und der Priester, der beim Altar des EB die Messen für die armen Seelen läse, sollte besseres Essen bekommen. Status und Behandlung der Menschen variierten von Ort zu Ort, gemäß Besitzer*innen und gemäß Regimes. 124 In dem weiträumigen Handel waren deutschsprachige Kaufleute und solche englischer, niederländischer, ungarischer und italienischer Sprache tätig. Die Route von der Adria zur Nordsee und umgekehrt hatte in den Alpen viele Varianten zwischen Brenner und Radstädter Tauern. Kirchliche und weltliche Oberschichten der süddeutsch-sprachigen Städte handelten über ligurische und iberische Häfen, Salzburger und später Wiener meist über Venedig. Sie leisteten sich Gewürze (Pfeffer, Nelken, Zimt, Ingwer, Kümmel, Kaneel, Narde, Koriander, Sumach, Kostwurz), Duftstoffe wie Weihrauch und Myrrhe, Früchte (Datteln, Feigen, Oliven), Steinfrüchte (Mandeln, Pistazien), Öl, levantinischen Wein, Textilien (Baumwoll- und Wollstoffe, Brokat- und Seidenstoffe, Goldtextilien), rohe oder

geschliffene (Halb-) Edelsteine (Granat, Amethyst, Meerschaum/Sepiolith), Elefantenelfenbein, Muscheln und Kaurischnecken sowie echte Perlen, gegossene Buntmetallgefäße, Edelmetallobjekte, Glaswaren, Seidentuche und byzantinische Münzen und vieles andere mehr. Handwerker*innen bezogen Rohstoffe: Schwefel zur Herstellung des Niello; Quecksilber (als Zinnobererz aus der Toskana, aus Dalmatien und Anatolien) zur Feuervergoldung; Natroium (bzw. Natron) vermutlich aus Fundstellen bis Ägypten zur Glasherstellung; Kobalt aus Kleinasien für transluzid-blaues Glas; auro pimento als goldgelbes Pigment für die Malerei. „Illuminierte Manuskripte“ zeigen bis in die Gegenwart die Vielfalt der importierten Mineralien und ihre händische Verarbeitung. 125 Bedeutete das Große Sterben einen wirtschaftlichen Bruch? Im deutsch-dialekt-sprachigen Raum lebten um 1340 etwa 14 Millionen Menschen, nach 1348 mussten innerhalb von Jahresfrist etwa 4,7 Millionen von ihnen begraben werden. Urkunden erwähnten die Pest nicht; Handelsrouten blieben unverändert. Doch Netzwerke mussten neu geknüpft werden. Klerikern blieb als default option, alles und jedes als „Strafe Gottes“ zu interpretieren.

Salzburger Urkundenbuch, 3. Bd.: „1200–1246“, hg. von Willibald Hauthaler und Franz Martin, Salzburg 1918, Urkunden zwischen 1201 und 1230. Jörg Drauschke, Zwischen Handel und Geschenk. Studien zur Distribution von Objekten aus dem Orient, aus Byzanz und aus Mitteleuropa im östlichen Merowingerreich, Rahden/Westf. 2011, 37–184. Je nach Periode und Sicherheit der Routen variierte die Intensität des Handels mit spezifischen Objektgruppen. Bedeutsam war Kaiser Justinians I. (527–565) Restauration eines fast gesamtrömischen Reiches, das mit Ravenna einen oberitalienischen Adriahafen (bis 751) hatte.

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9 Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

Die Menschen verwoben untrennbar Lebens-Mittel schaffende Alltagspraktiken und Vorstellungen von Übernatürlichem jenseits ihrer Kräfte (Kap. 9.1). Im Ostalpenraum lebten Romanisch Sprechende mehrheitlich Gemeinde-christliche Überzeugungen, als die Hierarchie-christlichen Bewaffneten fränkischer Dialekte sie annektierten (s. Kap. 4.8, 5.7). Die karolingische Umgestaltung von Religion und Liturgie (s. Kap. 6.2) endete nach wenigen Jahrzehnten. Für das folgende Dunkle Jahrhundert in der Rom-Kirche sei beispielhaft nur erwähnt, dass Papst Marianus II. (h. 882–884) den Patriarchen in Konstantinopel, Photius I., exkommunizierte und Papst Hadrian III. (h. 884–885) Gewalttäter war und durch Gewalt umkam. Seit dem späten 10. Jahrhundert konkurrierten Päpste und Kaiser bei der Ernennung von Weltklerikern (s. Kap. 6.7) und der Investitur-Machtkampf sowie die Wandlung von Dekreten in kanonisches „Recht“ folgten. Dies betraf Institutionen und Männer in der Region, wenn auch manchmal nur kurz: Der erste „deutsche Papst“ Bruno, aus dem Ennstal und 24-jährig, ernannt 996 von Kaiser Otto III., 14-jährig, blieb vier Monate im Amt. Nur wenige Jahrzehnte nach Benedikt Anianes Neufassung der Ordensregel von Benedikt Nursia „verfiel“ das Klosterleben. In Hegemonialdiskursen „fällt“ vieles und Diskurse „entwickeln sich“ ohne Handelnde. Bischöfe suchten mit Hilfe „Pseudo-Isidorischer Dekrete“, gefälscht zwischen 835 und 850, ihre Position zu stärken. Klösterliche Interessengruppen suchten angesichts der Problempäpste und der neuen Bischofsmacht größere Selbstbestimmung und dafür gaben nach 900 die Äbte und Mönche in Cluny am Saône-Handelsweg, Gallien-Burgund, besonders wichtige Impulse. Ihre Betonung von Gebeten bedeutete weniger Zeit für händische Arbeit. Der Herzog und die Herzogin in Aquitanien und andere Landbesitzer statteten sie mit riesigen Ländereien-mit-Menschen aus und un-

terstellten sie dem Schutz der Apostel Peter und Paul. In einem weiteren Schritt wollten Reformer in Gorz (Lothringen) das Mönchtum von weltlicher Herrschaft und das Papsttum von den Stadtadelsfamilien in Rom lösen und die extreme Regel eines Hirsauer Abtes (Nordschwarzwald) verordnete Mönchen Schweigen und drohte mit drakonischen Strafen. Der von der Hirsau-Regel überzeugte Abt Giselbert in Admont ließ Hintersassen-Familien nahe dem Kloster vertreiben, denn sie seien eine Bedrohung der „strengen Zucht“ der Mönche (1091). Innerkirchlich standen sich Reformatoren und Päpste bis zum 4. Laterankonzil (1215) in einer Kirche gegenüber, die vielsprachig und vielkulturell, Rom-zentriert und zentrifugal war (Kap. 9.2). 1 Religion überbrückte den spirituellen Zwischenraum zwischen Laien und ferner Gottheit und den institutionellen zwischen Gotteshausleuten und „Kirche“. Mönche und Nonnen als Regelklerus und, nach deren Klaustrierung, Pfarrer als Weltklerus sollten die Distanz alltäglich wie sonn-täglich überbrücken. Erstere dokumentierten ihre Leistungen und besaßen Gebäude zur Archivierung, Gemeindepriester arbeiteten unterhalb der Erinnerungsbereitschaft der Kanzlisten. Lynda Coon unterschied Männer mit Stimme, voice men, als Denker, Diskursherrscher und Sprachrohre von Männern mit Körper, body men. 2 Erhalten sind zahllose Beschwerden über schlechte Priester. Auch Priester lebten in einem Zwischen-Raum. Sie standen zwischen Grund-Herren, die sie einsetzten und mit Unterhaltspflichtigen ausstatteten, und den hörigen Gläubigen. Verehrungsorte und -praktiken waren entsprechend kleinräumlich. Weder besaß die Rom-Kirche die Kongruenz, eine einheitliche Linie durchzusetzen, noch betrieb sie Meinungsforschung über lokale Bräuche und Präferenzen (Kap. 9.3 und 9.4). Notwendig ist eine Soziologie der Vielfalt von Schichtung und Professionalität (Kap. 9.5–9.8)

Differenziert fasste Arnold Angenendt in Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 22000, die Gesamtentwicklung zusammen, zu Forschungssituation und Ausgangsthese 1–30. Vgl. auch die Beiträge von Otto G. Oexle und Christoph Auffarth in: Hans G. Kippenberg, Jörg Rüpke und Kocku von Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, 2 Bde., Göttingen 2009, 155–192, 193–218. 2 Lynda L. Coon, Dark Age Bodies: Gender and Monastic Practice in the Early Medieval West, Philadelphia 2011. 1

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

In diesem Vielebenen-System machten sich Laien – etwa 98 Prozent der Gläubigen, wenn denn alle gläubig waren – eigene Gedanken. Um die Jahrtausendwende artikulierten einige Hoffnungen auf ein neues Millennium: „Humiliaten“ oder „Lumpensammler“ in oberitalienischen Städten, „Katharer“ in Aquitanien, „Waldenser“ in der Seidenweberstadt Lyon sowie eine chiliastische Bewegung, die ab 1260 ein neues Zeitalter erwartete. Da Theologen nicht erklärten, wie Eigentums- und als Seelgerät gestiftete Leute zu Gott kommen würden, bezogen diese sich eigenständig auf Jesu Armut und Marias Weiblichkeit. „Unten“ und „oben“ hatten verschiedene Menschenbilder, Glauben, Emotionen und Körperlichkeiten (Kap. 9.9–9.12). Das Spannungsverhältnis zwischen „Kirche“ (deklamatorischer Singular) und „Volksglaube“ (vereinfachender Singular) suchten Hierarchen mit den üblichen Grenzziehungen zu beenden: Andersdenkende, als Häretiker oder Ketzer etikettiert, seien durch Verbrennen bei lebendigem Leib samt Seele zu beseitigen. Neben Diskursmacht erforderte die Ausgrenzung einen Machtapparat, enforcement agency. Doch auch Kirchenväter und Kleriker waren vielgläubig und wussten um Dämonen und den Teufel – personifizierte Kräfte des Bösen. 3 Den Prozess der Verkirchlichung des Glaubens betrieben im Ostalpen- und Donauraum Männer, die fränkisch-iroschottisch-angelsächsischen Textinterpretationen und Bräuchen folgten und andere, die, über Säben und Pustertal kommend, Rom-bischöfliche bevorzugten. Altgallischer Ritus galt neben neufränkischem. Altgallische und irische Prediger verwendeten lokale Sprachen für Vormesse und Buße und gestalteten Gebete persönlich, romkirchlich sozialisierte machten lateinische Sprache und stadtrömische Messbücher zur Schablone. EB Arn besaß ein gelasianisch-päpstliches, ein angelsächsisch-Aachener und ein in Padua verfasstes Sakramentar. Die St. Peter-Mönche lebten vermutlich ge-

mäß irisch-fränkisch-römischer Regula mixta und gaben diese an Slawisch sprechende Menschen an der Save und am Dornbach (später Wien) weiter. Lateinkleriker – die Selbstbezeichnung katholikos (griech. das Ganze betreffend) kam erst nach der Spaltung 1517 in Gebrauch – zogen auf dem Weg nach Jerusalem durch die Gebiete griechischer Christen und schändeten deren Kirchen. 4 Jede Entscheidung für einen Pfad beendete andere Optionen; Projekte der Kleriker in Rom und Aachen beeinflussten die alltäglichen Messen und sonntäglich-sonnengöttlichen Hochfeste, denen Laien bei-wohnten. Oder nahmen sie Teil? Sie erlebten, dass der oktroyierte stadtrömische Heiligenkalender an ihren Wohnorten nicht passte. Sie nahmen wahr, dass die Krieger-Kleriker römischAachener Sozialisation „Stützpunkte“ (H. Dopsch) errichteten und Vielfalt zu Einfalt – mhd. „nicht vieldeutig“ – wandeln wollten. Weder postulierte stabilitas noch ordo waren Teil institutioneller Praxen: 5 Kirchenmänner positionierten sich in Strukturen-in-immerwährendem-Umbau, forderten Respekt, Einkommen und Macht, konkurrierten und befehdeten sich. Wie beim Turmbau in Babel herrschte im römischen Zentrum Sprach-Vielfalt, das verbindende Latein sprachen viele mit regionalen Akzenten. Scriptor*innen schufen weiträumige kunsthandwerklich-geistliche Netzwerke, mobile Handwerker und Handwerkerinnen Kirchenbauten und -ausstattungen. Mönche wanderten nach Jerusalem und in den Sinai. 6 Ein regionales Beispiel für Kleriker-Mobilität war Heinrich aus Göß (gest. 1300): Studium vermutlich in Bologna zum Doctor decretorum, Reisen in diplomatisch-juristischen Diensten zweier EB, Aufgaben in Padua und Rom. Er war Propst von St. Bartholomä in Friesach, Archidiakon der oberen Mark, Pfarrer in Bruck und Pöls im Murtal, EB-Kaplan sowie Domherr zu Passau. Der Vielpfründner

Kurt Flasch, Der Teufel und seine Engel. Die neue Biographie, München 2015, 71–130. Für den Rahmen Heinrich Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts: Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, 2 Bde., Stuttgart 1984; Robert I. Moore, The First European Revolution, c. 970–1215, Oxford 2000; Ian Wood, The Missionary Life: Saints and the Evangelisation of Europe, 400–1050, New York 2001; Lutz E. v. Padberg, Mission und Christianisierung. Formen und Folgen bei Angelsachsen und Franken im 7. und 8. Jahrhundert, Stuttgart 1995; Franz Glaser, Frühes Christentum im Alpenraum: Eine archäologische Entdeckungsreise, Darmstadt 1997; Peter Brown, Die Entstehung des christlichen Europa, übers. von Peter Hahlbrock, München 1996 (engl. 1996). 5 Für Mobilität in anderen Religionen stehen beispielhaft Buddha und buddhistische Bettelmönche, der japanische Forscher-Mönch Ennin (gest. 864), der persische Sufi-Scheich ʿAlī ibn ʿ Uṯmān Huǧwīrī (~990–1072/1077) und andere. 6 Tillmann Lohse, „Pious Men in Foreign Lands: Global-Historical Perspectives on the Migration of Medieval Ascetics, Missionaries, and Pilgrims“, Viator. Medieval and Renaissance Studies 44.2 (2013), 123–136. 3

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Natur, Dämonen, Gottheiten: Überlagerungen und Verschmelzungen

besaß viele Unfreie: In dieser Zeit des ZurschauStellens mag deren Schaulust groß gewesen sein, aber hat die Mehrzahl ihn je gesehen? 7 Die Spannungen zwischen Klerikern und Laien offenbaren die Worte EB Arns um 800 und FEB Matthäus Langs um 1517, nach denen in der „Seelsorge“ vieles im Argen liege. Über diese sieben Jahrhunderte führten die organization men 8 zahllose

Zwänge und Ausgrenzungen ein, brachen in Schismen miteinander, bekämpften sich. Sie diskutierten endlos über Reparaturen, correctiones, die Erinnerer als „Reformen“ beschönigten. Innerkirchlich forderten alternative Gläubige und kritische Kleriker*innen Reformen. Das Evangelium (griech. evangelion, gute Nachricht) lebten viele auf ihre Weise.

9.1 Natur, Dämonen, Gottheiten: Überlagerungen und Verschmelzungen Die Glaubenswelten keltisch-sprachiger Menschen erschlossen sich die imperialen Zuwander*innen durch interpretatio romana, levantinisch-christliche durch Vermischung und poly-Religiosität. Erst spätere Institutionschristen trugen die neue interpretatio clerici heran und bezeichneten alle anderen als „heidnisch“ und, ex negativo, als „abergläubisch“. 9 Keltisch-kulturelle Menschen hatten Quellen und Bäume verehrt, römisch-kulturelle beseelte Natur, germanisch-kulturelle hatten vegetations- und fruchtbarkeits-kultisch Maibrautschaft und Sonnenwende gefeiert. Anthropomorphe Gottheiten ergaben Sinn: Odin-Wotan als Herr des Magischen und der Weisheit, Frigg-Frija als Göttermutter, 10 Fullo als Fruchtbarkeitsgöttin, oft mit Phol als männlichem Pendant. Aus römischen Armeen zurückkehrende germanisch-sprachige Söldner stellten sich dünne Goldbleche (später Brakteaten genannt) mit Abbildungen von Gottheiten her: Kleinkunstwerke mit Thorshämmern und Kreuzen als Nachbildung von Kaisermünzen. Christliche Kleriker wussten, dass sie die Definitionshoheit nicht hatten. 11 Seit Bischöfe und Kaiser Unterstützung und Schutz der christlichen Religion durch den Staat ausgehandelt hatten, besaßen taufchristliche Genossenschaften in der Konkurrenz um den stärkeren Gott einen Startvorteil. Fränkische Kleriker, die

ins Voralpenland zogen, hatten Königsmacht hinter sich. Ihr Ego forderte Erfolg, ihre Institution Erfolgsmeldungen und sie verbanden ihre Glaubensereignisse und Personen mit bereits üblichen Feierbräuchen: Sie errechneten aus Texten, die nur sie lesen konnten, dass die Geburt Johannes (des Täufers) mit der Sommersonnenwende, umbenannt in Johannisfeuer, und die Geburt Christi – WeihNacht genannt, mit der des „unbesiegten Sonnengottes“ Mithras übereinstimmten. Orientalische, keltische, römische sowie slawische Dreiheits-Spiritualität gestalteten sie als Dreifaltigkeit. Die keltische „dreifache Muttergöttin“ verschwand, Anna „selbdritt“ und Maria-Jesus-Maria Magdalena erschienen, einfach geschnitzt oder groß und vergoldet für reichere Gemeinden oder Stifter. Böse und helfende Geister waren Teil vorchristlicher ebenso wie nach-tauflicher Vorstellungen. Frühe „Wüstenväter“ – Eremiten, die sich aus der unreinen (urbanen) Welt zurückzogen – entkamen der Unreinheit nicht, denn Dämonen führten sie in Versuchung oder quälten sie körperlich, und Gläubige baten ihren Gottvater, „führe uns nicht in Versuchung“. Den Bauernsohn und Einsiedler 12 Antonius (?251–356) bedrohte der Teufel unter anderem in Form einer nackten Frau. So notierte es nach seinem Tod der Bischof in Alexan-

Heinz Dopsch, „Klöster und Stifte“, in: ders. und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.2:1002–1053, vgl. auch 1.1:456, 1.2:909, 942. 8 William H. Whyte, Organization Man, New York 1956. 9 Fichtenau, Lebensordnungen, 1:6; Wood, Missionary Life, 266. 10 Der Fuldaer Mönch und Theologe Hrabanus Maurus (geb. ~780), der angeblich Schüler Benedikts aus Nursia war, verband in seinem Namen ahd. hrafn = Rabe, Attribut Odins, mit Maurus (Maure? Mohr?). Nach Frigga ist „Freitag“ benannt. 11 Padberg, Mission, 35–41; Glaser, Frühes Christentum. Kurt Ranke, „Agrarische und bäuerliche Denk- und Verhaltensweisen im Mittelalter“, in: Reinhard Wenskus, Herbert Jankuhn und Klaus Grinda (Hg.), Wort und Begriff „Bauer“, Göttingen 1975, 207–221, hier 212–214; Karen L. Jolly, Popular Religion in Late Saxon England. Elf Charms in Context, Chapel Hill 1996. 12 „Einsiedler“ bedeutete Leben am Dorfrand im Rahmen des lokalen Versorgungssystems oder, bei weiterem Rückzug, Versorgung durch Verehrer*innen. Claudia Rapp, „Die unvollständige Weltflucht des frühen Mönchtums“, in: Heinz-Günther Nesselrath und Meike Rühl (Hg.), Der Mensch zwischen Weltflucht und Weltverantwortung, Tübingen 2014, 167–180. 7

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

dria. Antonius vollbrachte „Wunder“ wie persische Magier und heilte wie jüdische Ärzte und Jesus. Er wurde Heil-iger. 13 Kleriker verurteilten heidnische maleficia und Karl d. G. verbot unterworfenen Sächsisch-Kulturellen Quell- und Waldkulte, doch glaubten Christen an Wettermacher, beteten um Regen und vertrieben Dämonen durch Lärm. Wohlhabende ließen sich für Entscheidungen günstige Zeitpunkte aus Sternen errechnen. Die germanische Frau Perchta (ahd. die Leuchtende?), die Dämonen austrieb, galt Menschen von den Alpen bis zum Baltikum als übernatürliche, komplexe Person. War sie germanisch oder von römisch-levantinischen Le13

Abb. 9.1 Religiöse Dreiheiten: a) Anna selbdritt, Südwestdeutschland/Oberschwaben, um 1480; ursprünglich vermutlich autonomes Andachtsbild oder Mittelstück eines kleinen Altarschreins; b) Slawische Gottheit, St. Martin am Silberberg (Kärnten), 7. Jh. oder früher; c) Dreiköpfiger Gott mit, ursprünglich, Hirschgeweih auf dem mittleren Kopf als keltisch-römische métissage, oft verbunden mit Cernunnos und Merkur (Dordogne)

gionären herangetragen? Im Ostalpengebiet trat der und die „Percht“ in beiden Geschlechtern auf und Menschen schnitzten sich dämonisch-tierischmenschliche Perchtenmasken. Männliche Perchten waren schiach, also schief, und sollten durch wildes Auftreten Übel abschrecken und vertreiben, weibliche Schönperchten im Winter schlafende Fruchtbarkeitskräfte wecken. Fremd war dies Klerikern nicht. In Straßwalchen amtierte einst als Stadtpfarrer ein wohlhabender Percht-old, der im Wappen

Antonius’ Grab, Ort nicht bekannt, wurde 561 gefunden und seine Überreste als Reliquien nach Alexandria sowie, später, Konstantinopel gebracht.

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Natur, Dämonen, Gottheiten: Überlagerungen und Verschmelzungen

Abb. 9.3 Amulett-Psalterium, Nordwestfrankreich, 9. Jh.

Abb. 9.2 Maria und Elisabeth, Türflügel der Kirche in Irrsdorf (Flachgau)

einen Wilden Mann führte. Dies ließ er am Türflügel der von ihm gestifteten Kirche anbringen und daneben Maria und ihre Base Elisabeth während ihrer Schwangerschaft. 14 An Vorangehendes knüpften Kleriker und Stifter*innen auch an, wenn sie ihre Neubauten auf traditionellen Verehrungsorten platzierten und Annektierte so ihre Bezugsorte beibehalten konnten. Sie ersetzten „heidnische Idole“ durch Reliquien – beinerne Überreste gemäß antikem Totenkult – zum Schutz gegen böse Geister. Amulette stellte unter vielen auch Gregor, später Bischof in Tours, her. Ein einzigartiger, im Kloster St. Peter erhaltener Minicodex (etwa 3,5 � 4 cm) wurde „wohl als Amulett an einem Beutelchen um den Hals getragen“ (H. Dopsch). Über die Zeiten wurde das Kreuz generisches Schutzzeichen und sollte sowohl vor Dä-

monen, Krankheit und Übel schützen wie edelsteinbesetzt als Standes- und Rangzeichen dienen. Laien trugen es oft an einfacher Halskette, Priester als reich geschmücktes Pektorale. 15 Einfache Amulette und aufwändige Minicodices reflektierten die sozial-hierarchische Trennungslinie, eine sozial-geografische trennte die Mehrzahl der ländlich lebenden Vielgläubigen von den städtischen Hierarchen, die mit choreografierten Liturgien traditionelle Riten zu übertrumpfen suchten. Verstanden Laien die Gesten? Priester predigten Lateinisch, Gläubige, die nichts verstanden, sangen plebei psalmi und unterhielten sich auf dem Vorplatz der Kirche. Manche schlossen sich zu eigenen Gebetsgemeinschaften zusammen, Frauen zum Beispiel beim Spinnen. Landgeistliche erlebten die Un-wirk-samkeit der Instanzen-Dekrete über sich und den Unwillen der Zehntzahlenden unter sich. Sie wussten um animistische und magische Überzeugungen, um die Anrufung des Wetter-, Gewitter- und Fruchtbarkeitsgottes Thor, um Opfergaben an eine Gottheit, die dem Gedeihen der Feldfrüchte vorstand und kannten vegetationsdämonische Vorstellungen wie Korndämon oder Roggenwolf. Letzterer überfraß sich gierig. War dies ein menschlicher Zug? Familien orientierten ihr Heils- und Schutzbedürfnis an Abläufen der Natur; Pfarrer und Lokaladlige entschieden sich, zu Maibräuchen und Sonnenwendfeuern zu erscheinen. Einst hatten andere

Pierre Riché, Daily Life in the World of Charlemagne, übers. von Jo Ann McNamara, Philadelphia 1978 (frz. 1973), 181–234; Marianne Rumpf, Perchten: Populäre Glaubensgestalten zwischen Mythos und Katechese, Würzburg 1991; Elfriede Kapeller, Die spätgotische Kirchentür in Irrsdorf: Kirchenportal und Paradiespforte, Salzburg 1999. 15 Cordula Nolte, Conversio und christianitas: Frauen in der Christianisierung vom 5. bis 8. Jahrhundert, Stuttgart 1995, 7, 299; Keith Thomas, Religion and the Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in Sixteenth- and Seventeenth-Century England, Harmondsworth 1973, 27–57. Susanne Walter, Christina Peek und Antje Gillich, Am liebsten schön bunt! Kleidung im Frühen Mittelalter, Esslingen 2008, 41–42, 53. 14

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

Gläubige Sarapis und Demeter-Ceres mit Getreide dargestellt, Tafelmaler stellten Maria im „Ährenkleid“ dar. 16 Pfarrer vermittelten durch Fruchtbarkeits-magischen Saatsegen, Prozessionen gegen ernteverderbende Unwetter, Vieh-, Haus- und Brunnensegen. Um 1000 Anno Domini „besprachen“ und heilten Frija und Volla den verrenkten Fuß eines Fohlens, 17 der „gütige“ Wotan heilte Krankheiten. Hinübergleitende „Verchristlichung“ zeigte sich in Beschwörungen: „Christ, der Bienenschwarm ist draußen! Nun flieg du, mein Getier, her/im Frieden des Herrn, in Gottes Schutz, um gesund heimzukommen./Sitze, sitze, Biene! Das gebot dir die heilige Maria./[…] Sitze ganz still, vollführe Gottes Willen“ (10. Jh.). Umzug haltende, aus den heiligen Schriften nicht bekannte Gottheiten segneten zur Wintersonnenwende Gefäße mit Hafer. In übereinander gleitenden Bildlichkeiten wurde der durch die Lüfte reitende Wotan blasser, der berittene hl. Stephan konturenstärker: Er wurde Pferdeheiliger und an seinem Namenstag wurde ein Hafersegen erteilt. Während einer Schneckenplage zog ein Pfarrer mit erhobenem Kreuz ins Gelände, sprengte Weihwasser und verbot den Tieren, weiterhin Satan zu gehorchen. Nicht alle akzeptierten glissement und

fusion. Bischof Burchard in Worms (h. 1000–1025) verhängte Buße gegen bi-Gläubige, die durch Zaubersprüche Rinder und Schweine vor Krankheiten zu schützen suchten – sie wechselten zum Heilsgebet: „Großer Gott, gerechter Gott, treuer Gott, Gott, der [Schweine] vor Schaden bewahrt“. Die Kirche ihrerseits wandelte Frühlingsumzüge zu Prozessionen und knüpfte an Frühlingsfeuer an: Hausgemeinschaften löschten im Blick auf den Kreuzestod vor Ostern Herdfeuer und trugen Holzscheite zur Kirche, die der Priester mit geweihtem Feuer neu entzündete. Angekohlte Scheite, gelegentlich zu kleinen Kreuzen gefertigt, dienten manchen zum Schutz des Hauses oder der Saatfelder, Asche als Schutz vor Hagelschlag und Ungeziefer. Geweihtes Wasser half ebenfalls: „Ich beschwöre dich, Wasser, beim lebendigen Gott, dass du dich rein erweist und keinen Teufelsspuk in dir zurückbehältst.“ Die Frage, ob ländliche Menschen Lehren „der Kirche“ oder ob „die Kirche“ agrarisches Brauchtum umfunktionierte, ist müßig. Menschen im Mittelalter waren gläubig, aber nicht institutions-christlich. Tradition ist Weitergabe, nicht Verehrung des Veralteten, ist Weitergabe von Feuer, nicht Anbeten der Asche. 18

9.2 Kirchenglaube: Praktische, erzählerische und visuelle Neuerungen Wie Volkserzählende ihre Erzählungen passten Kirchenmänner angesichts vielfältigen Wandels ihre Texte an. Alttestamentarisch hatte Gott Adam und Eva zur Last des Ackerbaus verurteilt, benediktinisch war Landarbeit schätzenswert. Leistungsverbesserungen Unfreier erhöhten die Einnahmen der Mönche und aller Grundherren. Kleriker verkündeten zusätzliche Feiertage, aber verboten Sonntagsarbeit zunehmend rigoros. Je nach Region waren im Jahreslauf ein Fünftel bis ein Drittel aller Tage Arbeits-los, aber angesichts des Verbotswesens auch

ohne Vergnügen wie Tanz, Beischlaf, Lesen und, gelegentlich, ohne Waschen und Rasieren. 19 Allerdings waren nach Markus’ Version (2.27) von Jesus’ Worten Menschen nicht für den Sabbath gemacht, sondern der Sabbath für die Menschen. War kirchlicher Regelwuchs gefährlich für den natürlichen Erntewuchs oder war feiern widerständig und Zehnt-verringernd? Fest- und Kirchgänge erlaubten Kommunikation und unterbrachen den Alltag. Im 15. Jahrhundert suchten Prälaten Feiertage wieder zu verringern und kategorisierten sie in (1) 25 all-

Manuel Teget-Welz, „Maria im Ährenkleid. Ein unbeachtetes Tafelbild [~1480)] aus Piding im Bayerischen Nationalmuseum“, Salzburg Archiv 34 (2010), 113–118. 17 Ein Jahrtausend später, 1910, wurde in Niederösterreich ein „Beinbruchsegen“ aufgezeichnet: Statt Phol und Wotan ritten Christus und Petrus durch den Wald, Petrus’ Pferd brach sich ein Bein, Jesus heilte es mit den gleichen Worten wie einst Frija. Paul Kaufmann, Brauchtum in Österreich: Feste, Sitten, Glaube, Wien 1982, 252–253. 18 Siegfried Epperlein, Bäuerliches Leben im Mittelalter: Schriftquellen und Bildzeugnisse, Köln 2003, 17, 115, 132–136 passim. Vgl. Ignaz V. Zingerle, Die deutschen Sprichwörter im Mittelalter, Wien 1864. 19 Manche der Verbote, die ihnen absurd erschienen, zählten die Menschen in den Beschwerdebriefen während ihres Befreiungsversuches 1525 auf (s. Kap. 11). 16

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Kirchenglaube: Praktische, erzählerische und visuelle Neuerungen

gemeine plus Sonntage, (2) lokal tradierte, die nur örtlich begangen werden durften, (3) abzuschaffende fadenscheinige Heiligenfeste und (4) verbotene abergläubische Feste. Allerdings gab jeder Feiertag Klerikern die Möglichkeit, sich in ihrer reichhaltigen Kleidung zur Schau und als Choreografen der Veranstaltung ins Zentrum zu stellen. „Kirche“ bot Heilsversprechen, nicht Heilsgewissheit. Sie bot Optionen für Handwerker*innen, die Kirchenbedarf produzierten, und Händler*innen, die das Konsumpotenzial an KirchfestTagen nutzten, und ihr Bauwesen schuf Arbeitsplätze. Manche Kleriker*innen bemühten sich um Armenfürsorge und suchten Lebensqualität zu verbessern. Doch war vieles von zweifelhaftem Wert: Taufe oft ohne Unterweisung; Tarifbußen für die Verehrung germanischer Gottheiten; Petrus’ Schlüsselmacht über das Jenseits/den „Himmel“. Priester vermittelten eigene, vielleicht auch von einer Lebenspartnerin beeinflusste Versionen der Lehre und „vulgarisierten“ Texte, um sie verständlich zu machen. Was immer sie verkündeten oder zelebrierten, nahmen „Laien“ auf eigene Weise auf, deuteten es, sprachen darüber und gaben es mündlich weiter oder hielten es für falsch. 20 Wenn Konziliare, Kurialen oder Päpste Kultpraktiken und Normenkataloge veränderten und dies nach unten filterten, mussten Priester dazu- oder umlernen, Laien die Änderungen akzeptieren oder übersehen. Modern ausgedrückt entwickelten EvangelienGläubige parallel zu oder genervt von den zahlreichen Patches vor der Glaubensversion 6.0 des 4. Laterankonzils (1215) ein open access-Programm: einfaches Leben wie zur Zeit der ecclesia prima und erreichbare public use-Mittler*innen (Kap. 9.3). Jesus hatte, so Matthäus (19.21–26), gesagt, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr ginge, als ein Reicher in den Himmel käme. Ein allgemeiner Heilszugang hätte den oberen organization men und den Priestern ihr Monopol – einkommensgenerierende Zugangsverknappung – bedroht. So suchten sie ihrer-

seits Volkstümlichkeit durch Legenden: translatio von Theologie in public use-Erzählungen. Kirchliche Schriftzeugnisse belegen die Änderungen, nicht jedoch deren Rezeption. 21 Manche Erzähler setzten auf Dramatik. In den Anfangsjahren des Kulturkampfes hätten Männer unter Lebensgefahr den Glauben (Kohärenz-Singular) unter „den Heiden“ (ausgrenzender singularisierender Plural) verbreitet. Sollte deren Niederlage Warnung an polyvalent Gläubige sein? Ein Ingo habe heidnisch-slawische Fürsten wie Hunde behandelt, aber ihre Untertanen auf goldenen Tellern bewirtet. Christliche Untertanen wussten, dass sie sich Holzschalen für ihr Essen selbst schnitzen mussten. 22 Bonifatius hätte eine von Andersreligiösen verehrte alte Eiche gefällt. Waldnutzende Menschen wussten, dass dies Kenntnisse über Kerbe und Gegenkerbe erfordert hätte, zeit- und kraftaufwändig war und dass der „heilige Mann“ Blasen an den Händen gehabt hätte. Auch hätten die Zuschauer lange ausharren müssen. 23 Salzburgs Abt Vitalis wirkte laut einer Mirakelsammlung von 1181 Wunder und ein Abt von St. Peter erfand eine iuvavische Basilika als frühchristliche Kirche. 24 Am Südaufstieg zum GroßglocknerPass erfanden Interessierte Briccius, normannischer Soldat oder „Prinz“ aus Konstantinopel, der die kaiserliche Palastgarde verlassen hatte und ein Fläschchen mit „Blut Christi“ bei sich trug. Auf dem Weg in die skandinavische Heimat verschüttete ihn am Passhang eine Lawine. Bauern, die – realistischer Aspekt – mit Schlitten Almheu ins Tal brachten, sahen drei Ähren aus dem Schnee wachsen. Sie riefen den Pfarrer, er fand die Leiche und bei dem Begräbnis „fand sich“ das Fläschchen. Salzburger EB tauften den Ort „Heiligenblut“ und ließen eine Kirche errichten. Briccius’ Reise wurde auf 914 datiert, die Verehrung des Blutes begann 1491. Den Ansässigen war dies nützlich, usable past: Pilger*innen bedurften der Nahrung, Herbergen und geistlichen Beistandes. Das Prinzip war von Stapelplät-

Karl Brunner und Gerhard Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht: Der Bauer im Mittelalter, Klischee und Wirklichkeit, Wien 1985, 73–74; Padberg, Mission, 194–195; Ulrich Bentzien, Bauernarbeit im Feudalismus, Berlin 1980, 54–55. 21 Peter Brown, Through the Eye of a Needle. Wealth, the Fall of Rome, and the Making of Christianity in the West, 350–550 AD, Princeton 2012. 22 Wood, Missionary Life, 266 passim. 23 Nach dem Bericht von Willibald aus Mainz, Vita Sancti Bonifatii (um 760), ließ Bonifatius 723 unter dem Schutz fränkischer Soldaten die Donar, Thor oder Jupiter (Erzählungen variieren) geweihte Eiche bei Geismar (Nordhessen) fällen. Walter Baetke, Die Religion der Germanen in Quellenzeugnissen, Frankfurt/M. 1944, 130. 24 Annegret Wenz-Haubfleisch, „Die älteste Überlieferung des Mirakels des hl. Vitalis […]“, MGSL 134 (1994), 167–172. Ein Cancellarius beschwerte sich 1454 über die Last seines Amtes in einem Brief an den hl. Rupert und fingierte eine Antwort des Heiligen. 20

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

Abb. 9.4 Visualisierung von Mutter und Sohn, „Als Maria iren sun zuo schuole fuorte“, Historienbibel aus der Werkstatt Diebold Laubers, Hagenau (Elsass), um 1455

zen – von Haltestelle zu Aufenthalts- und Handelsort – wohlbekannt. 25 „Volksbücher“ in lateinischer Elitensprache schufen der Zisterzienser Caesarius (Heisterbach bei Köln) und der Dominikaner Jacobus de Voragine (Genua). Ersterer schrieb in seinem Dialogus miraculorum (1219–1223) von Dämonen, der heiligen Maria und dem Leib Christi. Letzterer lebte unter den Kaufleuten und Bankiers, die für die Kurie Abgaben einzogen, und wurde dort Erzbischof. Seine Goldene Legende (1264) mit Lebensgeschichten von Heiligen sollte erbaulich für Laien sein. Erfanden die beiden ihre Geschichten oder gelangten laienhafte traditiones in das kirchliche Genre? Gehen die Begriffe „Jäger-“ oder „Schifferlatein“ für Lü-

gengeschichten auf Kirchenlatein zurück? Die Legenden und Bilder bestimmten nachfolgende Imaginationen, denn spätere Künstler verwandelten sie in „Quellen“ für ihre Bilder. Den vielen erzählenden standen wenige zuhörende Kleriker gegenüber. Beispielhaft für Metamorphosen steht die Bildlichkeit um Jesus’ Geburt vor dem Hintergrund von Felsüberhang und Palmen bis hin zur Bettung auf Stroh im Stall: Fels und Palmen waren nicht Teil westlicher Laien-Bildlichkeit, bekannt war Knechten und Mägden aber Stroh und sie arbeiteten mit Ochs und Esel. Darstellungen im alpinen Raum zeigten hinter dem Stall Berge. Die heranziehenden Sterndeuter oder, persisch, Magi verwandelten Narratoren in heilige Könige. Zur Präsentation des Kindes vor dem Herrn nach den Tagen der Reinigung der Mutter vom Makel der Geburt (so Kirchenmänner) kamen Weise wie der gottesfürchtige Simeon und die hochbetagte Prophetin Hanna (Lukas 2,22–40). Den „Jesuskind“-Topos nutzte Bernhard (Clairvaux) für seine Vision während einer WeihNacht; die Mystikerinnen des 14./15. Jahrhunderts, besonders in Helfta bei Eisleben, schmückten in vita communis (s)eine Wiege mit Perlen und Seide; in individuellen Zellen empfingen sie gefühlsintensiv ihren himmlischen Bräutigam. „Krippe“ wurde festliches Inventar und konnte selbst geschnitzt oder aus Ton geformt werden. Manche Kleriker verwendeten Splitter der Originalkrippe als Reliquien. In späterer Zeit, als der Druck Bilder für Handwerker*innen erschwinglich machte, erschien Maria als Näherin eines Kleidchens, Joseph als Zimmermann. 26 Das Verhältnis von Mutter und Kind variierten Maler zeit-weise. Physisch-emotional angemessene Versionen zeigten Maria mit liebevollem Blick auf ihr Kind. Meist wuchs das Kind jedoch unmittelbar in einen aufrecht sitzenden, oft altklug schauenden Dreijährigen. Autoren mancher als apokryph abgewerteter Texte sahen ihn wie andere Kinder im Schlamm spielen und seine Lehrer ärgern. 27 Mit

Claudia Rapp, „Von Konstantinopel nach Kärnten: Die Legende von Briccius und dem Heiligen Blut“, in: Jörg Drauschke et. al. (Hg.), Lebenswelten zwischen Archäologie und Geschichte, Mainz 2018, 783–794. 26 „Jesuskind“-Visionen sind seit dem 7. Jahrhundert auch von Mönchen überliefert. Jeffrey F. Hamburger und Susan Marti (Hg.), Crown and Veil. Female Monasticism from the Fifth to the Fifteenth Centuries, New York 2008 (dt. Orig. Krone und Schleier, 2005), darin dies. und Petra Marx, „The Time of the Orders, 1200–1500. An Introduction“, 41–75, und Hamburger und Robert Suckale, „Between This World and the Next: The Art of Religious Women in the Middle Ages“, 76–108. Die „Kindlein“ in Filzmoos, Salzburg, Steyr und Prag datieren aus dem 17. Jahrhundert. Nora Czapka, Gnadenreiches Jesulein. Jesuskindverehrung in der Andachtsgraphik, Ausstellungskatalog, Wien 1998. 27 „The Book of Adam and Eve“ (Apocrypha, hg. von R. H. Charles, Oxford 1983, 123–154), „Infancy Gospel of Thomas“ (Stephen J. Davis, Christ Child. Cultural Memories of a Young Jesus, New Haven 2014). 25

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Kirchenglaube: Praktische, erzählerische und visuelle Neuerungen

Einstaatlichung der Religion wurde Maria zu Sitz, sedes, und ihr Kind zu sapientia. Es saß von ihrem Körper entfernt vorn auf dem Knie mit Blick auf Betrachter*in oder in die Ferne. Dies übernahm Isis-mit-Horus-Darstellungen, so wie auch die Christus-als-Richter-Bildlichkeit pharaonisch-religiöse „Seelenwägung“ des oder der Toten aufnahm. Oströmische Bildgestalter schufen staatstragende Versionen des Erwachsenen als energisch-ernst blickenden „Pantokrator“ und Welt-erhaltenden „Allesbeherrscher“. Ähnlichkeit mit den Kaisern war beabsichtigt. 28 In späterem Rom-kirchlichen shape shifting des eingeforderten Glaubens sollte menschliches Leben die Passion Christi nachempfinden – für Laien eine freudlose Lebensperspektive. Seit etwa 1000 ließen Kleriker ihre Maler die „Leidenswerkzeuge“ in den Vordergrund stellen. In weiterer Imaginationsvorgabe im späten Mittelalter litt der Schmerzensmann, dargestellt mit Wunden und Totenschädel am Bildrand für die – als sündig gesetzten – Menschen. Debattiert wurde, ob Christus mit oder ohne Bart als Männlichkeitskennzeichen darzustellen sei. 29 Gegenprojekte zeigten ergreifende Bilder schöner Madonnen mit „Kindlein“ im weichen Stil. Laien nahmen die Umdeutungen wahr und förderten manche durch intensive Rezeption. Allerdings wurden Fresken in ihren Kirchen nicht ständig umgestaltet. In der Ostalpenregion entstand das früheste Schmerzensmann-Bild in der Bergkirche Oberzeiring (Murtal, Mitte 14. Jh.). Der Prozess der Visualisierung betraf auch Hautfarbe. Levantinische Menschen waren meist bräunlicher Hautfarbe und so stellten orthodoxkirchliche Maler sie dar: „Marien-Ikone“ konnotiert ein dunkles Gesicht mit Kopftuch/Hijab, „Christus Pantokrator“ einen dunklen, ernst blickenden und bärtigen Mann. In purgatio memoriae

erschienen Maria und Jesus lateinkirchlich als so hellhäutig wie die Betrachter*innen. 30 Es sei angemerkt, dass „weiß“ aus anderer Sicht als „blass“ und ohne Vitalität (pale-faced) erscheint und dass Alpen-Bauernfamilien angesichts des hohen ultravioletten Lichtanteils nicht „weiß“ waren. Weißheit bedeutete und bedeutet soziale Schicht, Klasse, Superiorität. Maria, Leben gebende Mittlerin der Menschwerdung Gottes, wirkte über allen wie die Magna Mater. 31 Gott-Vater geriet in bildlichen Darstellungen zwar nicht in den Hintergrund, aber an den oberen Bildrand. Laien und Kleriker entwickelten seit dem 5. Jahrhundert den Zyklus der Marienfeste von Verkündigung bis Entschlafung. Der Dichter Romanos der Melodiker (~490–560) setzte sich intensiv mit der Verkündigung als spirituell-körperliche Empfängnis auseinander, Gabriel als Mann, Maria als durch die Schwangerschaft strahlend. Seit dem 10. Jahrhundert wählten viele Maria für Matronate von Stiftungen, Klöstern und Kirchen. 32 In Črna Gora hüllte Maria nach einer Legende „die Kirche“, dargestellt als 82 zum Teil zeitgenössische Personen, während eines Angriffs „der Türken“ in eine dunkle Wolke. Allerdings hatten zum Zeitpunkt der Entstehung der Statue osmanische Heere weder die Region noch Konstantinopel erreicht. Vermutlich seit dem 13. Jahrhundert nähten Frauen für Statuen von Heiligen und Maria Bekleidung als Votivgaben. „Maria – Licht im Mittelalter“ galt für viele, die strahlende Antike für wenige. 33 Auch Gott passten Text- und Bild-Gestalter ihren Sichtweisen an. Die handelnde Kraft, die als schaffende Hand aus Wolken Gesetzestafeln herabreichte, gestalteten sie maskulin und alt. In der gotischen Kosmologie stellten einige Gott mit Zirkel, Symbol für die rationes Arithmetik-Musik-Geometrie-Astronomie, dar. Irdische Hierarchien über-

Maria als sedes sapientiae nahmen volkstümliche Darstellungen im Alpenraum im 12. Jahrhundert auf. Landesdenkmalamt Baden-Württemberg und Stadt Zürich (Hg.), Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300, Stuttgart 1992, 451. 29 Ein weiteres Problem war die Darstellung der, laut Bibel, jüdischen Beschneidung von Jesus. Lateinchristliche Maler stellten ihn, wenn nackt, meist unbeschnitten dar. 30 Zu Konstruktionen von „Weißheit“ Theodore W. Allen (The Invention of the White Race, 1976), im deutschen Sprachraum Maureen M. Eggers (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005. 31 Auf oströmischen Siegeln ersetzte Maria seit dem 6. Jahrhundert die Siegesgöttin Nike/Victoria. 32 Kim Haines-Eitzen, „The Gendered Palimpsest: Women, Writing, and Representation in Early Christianity“, Oxford Scholarship Online (Jan. 12), DOI: 10.1093/acprof:oso/9780195171297.003.0004 (13. September 2020); Hedwig Röckelein, „Founders, Donors, and Saints: Patrons of Nuns’ Convents“, in: Hamburger und Marti, Crown and Veil, 207–224, bes. 218; Thomas Arentzen, Virginity Recast. Romanos and the Mother of God, Lund 2014; Klaus Schreiner, Maria. Leben, Legenden, Symbole, München 2003; Heimo Kaindl (Hg.), Maria. 1001 Gesichter der Liebe, Graz 2015. 33 Bergbaumuseum Leogang, Maria – Licht im Mittelalter. Meisterwerke der Gotik, Ausstellung 2003, Leogang 2003. 28

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

Abb. 9.5 Visualisierungen von Maria als Mittlerin, Heilige, Madonna a) Schutzmantelmadonna, Wallfahrtsort Črna (später Ptujska) Gora/Schwarzer Berg (Slowenien), um 1410

trugen Kleriker in den Himmel 34 und in illuminierten Manuskripten erschienen die Hirten in Bethlehem randständig, barfüßig und nur mit Hemd bekleidet. Auch Laien zugängliche Fresken vermittelten, dass Gottes Bote sich nicht direkt an das gemeine Volk wendete. Wie Gläubige dies aufnahmen, wissen wir nicht. Sie besprachen sich, Volksmund und Klerikermund standen sich interaktiv gegenüber. Zu besprechen gab es im neuen geldwirtschaftlichen Kontext vieles. Stiftungen von Seelenmessen und „Seelgerät“ galten als auf Ewigkeit im Himmel deponiert (Mt. 6,19–20), doch de facto waren die Wertanlagen Besitz nachfolgender Kleriker-Generationen und erforderten zusätzliches Personal und Seitenaltäre als Arbeitsplätze. Ein Dominikaner konzipierte um 1230 die Verdienste Christi und der Heiligen als Kirchenschatz, thesaurus ecclesiae, an dem Teilhabe – wie an Schiffen und Banken – erworben werden konnte. Im Ablasshandel dehnten Wirtschaftstheologen den Herrschaftsbereich der Päpste

von der gelebten Welt in den Raum des Fegefeuers aus und Kassierer verkauften gegen hartes Geld Passierscheine. Vormals in Palästina aktive Ritter- und Hospitalorden, die dringend Geld benötigten, beteiligten sich und die neuen Bettler- und Bankiers-Orden entwickelten Verkaufsstellennetze. Bei ortsspezifischem Geldbedarf erlaubten hohe Kleriker gegen Courtage lokale Ablässe. In ihren Visualisierungen von Himmel und Hölle stellten Maler jedoch nie Buchhalter dar, die Ablasszettel einsammelten, addierten und von der Gesamtstrafe subtrahierten. Salzburger*innen und viele andere stellten 1525/26 – und vermutlich früher – nüchtern fest, dass Gottes Gnade nicht verkäuflich sei (s. Kap. 11). Ewigkeitsvorstellungen waren wenig konkret. Laien bedeuteten Hungersnöte und Sonderbelastungen Einschnitte, Geburten und Tod trennten „vor“ und „nach“. Er-zählende Zeitzählung basierte auf Sonne und Mond und ägyptischem Brauch, 3 + 4 = 7 Tage, 3 � 4 = 12 Monate. Der römischskytische Mönch Dionysius Exiguus begann die

Bürokraten im chinesischen Imperium waren genauer und gaben Dahingeschiedenen von Rang Zertifikate ins Grab, damit die Kollegen in der Nachwelt Bescheid wussten.

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Kirchenglaube: Praktische, erzählerische und visuelle Neuerungen

b) Maria im Ährenkleid, Maler unbek. Namens, vermutlich Salzburg, um 1480

c) Statue der Schönen Maria, Regensburg, Wallfahrt von 1519 (Michael Ostendorfer, Holzstich)

Jahres-Er-Zählungen männlich ab Fleischwerdung des Herrn (incarnatione domini) oder weiblich-lebensgebend ab Maria Niederkunft. Er verwandte die Sonnenjahr-Zählung, die babylonische Sieben-Tage-Woche, den Rom-bezogenen ab urbe condita-Kalender in julianisch-konstantinopolitanischer Form. In Konstantinopel, Irland und anderen Christentümern sozialisierte Komputisten errechneten andere Daten. Exiguus’ anno dominiZählweise (6. Jh.) löste lokale erst im 10./11. Jahrhundert lateinkirchenweit ab. Zeit-Er-zählung war mit Herrschaftsinteressen in Einklang zu bringen. Ein Experte im Umfeld Karls (d. G.) errechnete 798 auf Basis der Weltjahres-Datierung ab Schöpfung, dass laut Hieronymus-Version des AT von Adam bis Karl im 31. Herrschaftsjahr 5998 Jahre vergangen seien. Das Jahr 6000 wäre – das sähen moderne Werbefachleute und Influencer ähnlich – zu feiern. Die Kaiserkrönung wurde anberaumt. Weniger genau

war die Berechnung der Jahreslänge. 1582 musste Papst Gregor XIII. zehn Tage streichen, damit die Zählung wieder mit Sonne und Mond zusammenpasste. Hatten Gläubige die Unstimmigkeiten wahrgenommen? Lichteinfall, auch der des Mondes, beeinflusst das Pflanzenwachstum. Kleriker debattierten über den Jahresanfang: 1. März wie jüdisch und altrömisch, 1. Januar wie christlich-römisch, 24./ 25. März als Tag von Mariä Verkündung, 1. September wie christlich-oströmisch? Darüber, wie der nach Mondlauf wechselnde Ostertermin zu berechnen sei, stritten Komputisten-Theologen. Laien erfuhren die Daten in ihrer Kirche, wenn Boten den Priester informiert hatten. Neben Zeitteilungen entstanden Raum-ein-teilungen. Kleriker konzipierten eine Kirchenlandschaft mit Kirchvorplatz und Kirchturm als Blickund Bezugspunkte. Laien stellten angesichts ihrer geringen Mittel Bildstöcke („Materln“) und „Leichbretter“ zur Erinnerung an Verstorbene auf. 35 Prak-

Eine Karte in der Broschüre „Pinzgauer Heimatmuseum Schloss Ritzen Saalfelden“ (1981), 20–21, stellte die religiöse Zeichensetzung durch Kirchen, Kapellen, Kreuze, Bildstock/Materl, Leichbrettorte und Profandenkmäler in der Region dar.

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

Abb. 9.6 Händische Übergabe der Gesetzestafeln, Kloster St. Katharina, Sinai, Apsis, vor 600

Abb. 9.7 Gott, der die Welt mit einem Zirkel schafft, Holkham [Norfolk] Bible Picture Book, anonymer Dominikaner, vor 1350

tisch denkend nutzen sie letztere, waagerecht, auch als Stege über Wasserläufe und Hinübergehende sprachen im Andenken ein Ave Maria. Als mit Übergang zur Geldwirtschaft Fronhöfe, Orte der Herren-Kirchen, aufgelöst wurden, „blieb die Kirche im Dorf“. Doch sprach der Priester meist nicht den lokalen Dialekt, sondern sozial ferne Herrensprache. Kirche-im-Ort umfasste das eigentliche Gebäude, den Pfarrhof mit Vieh und Landwirtschaft, den Friedhof oder Gottes-Acker. Im 10. Jahrhundert eignete sich „die Kirche“ durch Glocken flächendeckend auch den Klangraum an. Wohlhabende Laien adaptierten dies und riefen mit Glöckchen in Dachtürmchen Feldarbeiter*innen zum Essen.

Sozial teilten die Hierarchen auch Gebetsgebäude: Privatkapellen für hohe Herren; Klosterkirchen für Mönche oder Nonnen; multiple use-Kirchen mit Vorraum für Laien, getrennt-erhöhtem Chor für Kleriker, Empore für Hoch-Stehende. Einfache Gläubige nahmen die Selbsterhöhung wahr und formulierten ihre kritischen Gedanken darüber. In der Zeit ihrer Befreiungskriege um 1500 nutzten sie Glockengeläut, um zum Widerstand gegen den Erzbischof zu rufen. Als dieser siegte, ließ er die Glocken abmontieren. Ihre mündlich-dynamischen Erzählungen von ihren Heiligen und der Armut Christi konnte er ihnen nicht nehmen.

9.3 Helfer*innen und Mittler*innen: Die Besiedlung des spirituellen Zwischenraumes Angesichts kirchlicher Hierarchien, Kontrolle des Alltagslebens und individueller Unzulänglichkeit vieler Priester suchten Gläubige un-mittel-bare HILFE von Kräften, die ihr Leben beeinflussten und besiedelten dafür den spirituellen Leerraum, der sich aus der Getrennt-Stellung von Erde und Himmel ergab. Ihnen schienen nahe Kräfte für Bitten um Fruchtbarkeit und Hilfe bei Krankheit an36

sprechbar und sie verehrten lebensnahe, dahingeschiedene Heilige, deren Frauenanteil bei etwa 15 Prozent lag. 36 Dies ermöglichte eigenes Handeln: inbrünstige Gebete, Gaben und Wallfahrten und, bei Hilfe, Dank durch Votiv-Täfelchen oder Wachsmodelle geheilter Körperteile. Die Schaffung begreifbarer Nähe war auch hohen Klerikern nicht fremd. Sie kannten aus der

Der Anteil von Frauen unter neuen Heiligen stieg zwischen 1250 und 1300 auf 25 und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf 30 Prozent.

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Helfer*innen und Mittler*innen: Die Besiedlung des spirituellen Zwischenraumes

Abb. 9.9 Reliquienschrein mit Frontkreuz um 900, oberitalienischer Stil, vormals St. Peter

Abb. 9.8 Votivtafel für einen von der Leiter gefallenen Knecht, Mariazeller Wunderaltar, Anf. 16. Jh.

ägyptischen, griechischen und römischen Mythologie geflügelte anthropomorphe Wesen und adaptierten diese in vertrauter Rangordnung: thronender Gott, Seraphim und Cherubim 37 an seiner Seite, Erzengel als Boten und Wächter, 38 einfache, scheinbar geschlechtsneutrale Schutzengel, die Kirchendekorateure jedoch als „Knäblein“, ital. putto, darstellten. Sie übernahmen Brauchtums-genealogisch Vorchristliches und umgingen das Gebot „Du sollst dir kein Gottesbild machen“ (Exodus 20, 2) durch anfassbare Reliquien. Deren physische Berührung berührte Gläubige emotional-körperlich und viele spendeten zum Dank der jeweiligen Kirche. Bereits ein römisch-gläubiger Offizier, konvertiert als Bi-

schof in Rouen, hatte in De laude sanctorum (Vom Lob der Heiligen) Reliquienverehrung befördert (4. Jh.) und während des 2. Konzils in Nicäa 787 legten die Anwesenden fest, dass keine Kirche ohne Reliquie im Altar geweiht werden dürfe. Dies stimulierte die Nachfrage und, da das Angebot steigender Nachfrage folgt, spezialisierten Handwerker*innen in Konstantinopel sich auf den Bedarf. 39 Andersgläubige mögen sich gefragt haben, wieso unter Christen Tote so wirkmächtig sein konnten. Als komplette Gebeine, wie von Ambrosius gefunden, knapp wurden, entschieden Kleriker bereits im Zuge der karolingischen Kirchen-Neuordnung, dass auch Einzelteile wirkmächtig seien. Körper (teile) verstorbener Heiliger heilten lebende Körper(teile) Gläubiger. Totenkult? Die Konziliare des restriktiven 4. Laterankonzils würden festlegen, dass Reliquien, möglichst in Seide gehüllt, in wertvollen Schreinen auf- und ausgestellt werden müssten. Dies erforderte, erstens, die Investition von Zehnten der Laien und schloss sie, zweitens, von physischer Berührung aus. Den größten Schrein lateinkirchenweit ließ König Ludwig IX. als SainteChapelle für seine in Konstantinopel gekaufte Dornenkrone bauen (Paris, 1244–1248). Nach Darstel-

Seraphim hatten, so Theologen, sechs Flügel und gelegentlich einen gefiederten Körper. Cherubim, aus syrischem Wortschatz, waren in den abrahamitischen Religionen Diener und Mittler Gottes, Wächter des Paradieses. Jacques Dalarun, „Die Sicht der Geistlichen“, in: Christiane KlapischZuber (Hg.), Mittelalter, Frankfurt 1993 (ital. 1990), 29–54. 38 Ihre hebräischen Namen bedeuten: Michael = „wer ist Gott?“, Gabriel = „Gott ist meine Stärke“, Raphael = „Gott heilt“, Uriel (nicht immer zu dieser Kategorie gezählt) = „Licht Gottes“. 39 Martina Bagnoli (Hg.), Treasures of Heaven. Saints, Relics and Devotion in Medieval Europe, London 2010. 37

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

lung der Verkäufer hatten römische Soldaten sie Christus auf das Haupt gedrückt. Der König, genannt „der Heilige“, schenkte seinem Verwandten Hz Friedrich II. einen Dorn, den bis heute die Mönche des Klosters Heiligenkreuz verwahren. 40 Zeitgenössische Kritiker, wie der Humanist Giovanni Boccaccio in der Zeit des Großen Sterbens, verhöhnten Reliquien zur Schau stellende Wandermönche, die Dörflern Geld abnahmen, zum Beispiel für eine Feder, die der Erzengel Gabriel in der Kammer der Jungfrau Maria verloren habe. Der Städter Boccaccio verhöhnte zwar die angeblich tief beeindruckten Dörfler, erwähnte aber, dass zwei kritisch-widerständige Jugendliche den Schwindel erkannten. Oder dachte Boccaccio hintersinnig an die Hochgestellten, die Reliquien in großen Mengen zur Stützung ihrer politischen Macht und, wie sie glaubten, zum Schutz ihres Seelenheils sammelten? 41 Neben den Heiligen, männlich wie weiblich, bevölkerten anthropomorphe, aus dem Himmel vertriebene oder „gefallene“ Engel den Zwischenraum. Sie suchten Menschen vom „rechten Weg“ abzubringen, in Volkserzählungen erschienen sie als Nörggelen, Klerikern als Teufel. Letztere herrschten in der von Augustinus konzipierten Hölle und Kirchenmaler entwickelten für den imaginierten Raum zwischen Tod und Gericht ein duales Darstellungsschema: in dramatisch-lebendigen Farben lodernde Feuer und wilde Teufel vs. blasse anthropomorphe Seelen auf dem Weg in einen lichten oder strahlenden Himmel und – anstelle der Seraphim – die Seelen bärtiger Heiliger durchaus körperlich zu Seiten des Herrn. Sie malten die Gequälten in dramatischen Posen, die Aufsteigenden in neutraler Rückensicht. Böses ließ sich anschaulicher darstellen als Nirwana. Engel und Teufel in vielerlei Gestalt ließen Monotheismus flexibel werden. In ihrem Glauben erschien Laien die allgegenwärtige, immer ansprech-

bare Maria als wichtigste Mittlerin oder Eingreifende (intercessor). Den Teufel konnten sie überlisten und sie erzählten, dass er in besonders schlimmer Not gegen habgierige Vögte oder sexgierige Männer geholfen habe. 42 Sie verehrten „lebende Heilige“: Severin und Erentrudis dank Hilfstaten, Regintrud als Stifterin, Hemma als Sozialhelferin – Persönlichkeiten, saints, die einfaches Leben mit sozialer Hilfe und pragmatischer Autorität verbanden und so intensiv alltagswirksam waren, dass sie übernatürlich-spirituell erschienen. „Tote Heilige“, holy men, im Leben meist Würdenträger, stilisierten Hagiographen und Kirche posthum und lebende Hierarchen nutzten sie als symbolisches Kapital, wenn sie behaupteten, ihnen nahe zu stehen. Unter allen Religionen beschäftigte sich das Christentum am intensivsten mit toten Körpern. Gewalttäter, die Gläubige zu Märtyrern machten, rissen – so Kleriker – mit dem Schwert die Gedärme der Mutter Kirche auf. 43 In Salzburg-Residenz ließ ein EB nach dem Dombrand, 845, die Gebeine eines Märtyrers aus Rom herantransportieren. Lokal lebte laut Erzählungen im 10. Jahrhundert der Regensburger Kleriker Wolfgang an dem vorchristlichen Verehrungsort Falkenstein nahe St. Gilgen. Er galt als „Einsiedler“, war allerdings von Rodungsarbeitern umgeben. Als diese durstig wurden, schlug er mit seinem Stab gegen einen Fels und eine Quelle entsprang. Dies Wunder zog Pilger*innen in großer Zahl an und dank ihrer Geschenke lebte die Kleriker-Gruppe mit reichem Hausrat. Sie leitete das Wasser mit Holzrohren in ihren Keller und füllten es in Fläschchen. Dies „heilige Wasser“ erwarben Pilger*innen, trugen es nach Hause und erzählten über ihre Reise. 44 In der Messe hörten Gläubige von Fernheiligen, denn ihr Priester nannte die Apostel und Paulus, frühe Päpste, wichtige Personen aus der Bibel und Märtyrer*innen. Beliebt waren Drachentöter, allein

Robert Bartlett, Why Can the Dead Do Such Great Things? Saints and Worshippers from the Martyrs to the Reformation, Princeton 2013, 145–150, 239– 332; Patrick J. Geary, Living with the Dead in the Middle Ages, Ithaca 1996; Garth Fowden, Empire to Commonwealth. Consequences of Monotheism in Late Antiquity, Princeton 1993, 5; Fichtenau, Lebensordnungen, 20–39; Werner Richter, „Die Dornreliquie im Stift Heiligenkreuz“, Sancta Crux 62 (2001), 133–135. 41 Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 102–103. 42 Ein Mann, der eine ihn abweisende Frau umbringen wollte, rief den Teufel an. Doch ihn tötete in schwarzer Nacht ein herabfallender Stein. Ein „schöner Jägersmann“ warnte eine „Bauerndirn“ vergeblich vor dem Dienst in der Burg eines brutalen Ritters. 43 Fowden, Empire to Commonwealth, 5–6, 97–99; Kurt A. Mitterer, „Die Patrozinien der Diözese Salzburg unter besonderer Berücksichtigung der Heiligenverehrung im 8. und 9. Jahrhundert“, MGSL 132 (1992), 7–127; Bartlett, Why Can the Dead, 1–84, hier 3. 44 Wolfgang Neubauer, „Auf den Spuren des heiligen Wolfgang“, Ludwig Boltzmann Institut, http://archpro.lbg.ac.at/press-releases/auf-denspuren-des-heiligen-wolfgang (21. August 2020). 40

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Helfer*innen und Mittler*innen: Die Besiedlung des spirituellen Zwischenraumes

in der Legenda aurea etwa dreißig. Stellten Drachen-Würmer das äußere Böse dar oder waren sie Symbol auch für das Überwinden innerer, potenzieller Bösartigkeit, wie es personifiziert „Wurmheiligen“ gelang. Pilgerfahrten und die Vermischung lokaler und ferner Verehrungen förderten kultische Vereinheitlichung. 45 All dies nahmen ländliche Gläubige auf, ihre Überlegungen und Beobachtungen zu weiblichen und männlichen Heiligen galten Städtern allerdings nur als „Bauernregeln“: „Wie die 40 Märtyrer das Wetter [am 10. März] gestalten, so wird es noch 40 Tage anhalten“, 46 „Regnet’s am Antoniustag [17./18. Januar], wird’s Wetter später wie es mag“, „Wenn Sankt Anton gut Wetter lacht, Sankt Peter [29. Juni] viel ins Wasser macht“. Petrus, Fels der Kirche, konnte als Regenmacher die Himmelsschleusen öffnen. Ohne christlichen Bezug hieß es: „Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich’s Wetter oder bleibt, wie’s ist.“ Herren forderten eine Gänseabgabe am Martinstag (11. November) und die „Martinsgans“ ist in die Sprache eingegangen. Wettererwartungen – auf Nebel am Martinstag folge ein milder Winter, auf Rauhreif ein harter – waren Laien bekannt, Theologen vielleicht nicht. 47 Hilfesuchende riefen in interreligiöser Kontinuität die „drei göttlichen Frauen“ an: Göttinnen der Anmut, Schicksalsgöttinnen, Grazien, geflügelte Schreckensgestalten mit Schlangenhaaren und, christlich, die drei Bethen und Ewigen, Wilbede, Embede, Warbede, auch als Barbara (Nikomedien), Katharina (Alexandria) und die aus göttlicher Befruchtung Muschel-geborene Margareta (Antiochia). Embede/Ambeth verhalf zu Fruchtbarkeit, Warbede/Borbeth folgte der kleinasiatischen Baubo, „Bauch“ oder „Höhle“: „Barbara mit dem Turm, Margareta mit dem Wurm [Drachen], Katharina

mit dem Radl – das sind die drei heiligen Madl“. Sie waren schöne und kluge Frauen: Margareta, von einem machtvollen Mann begehrt, verweigerte sich und wurde umgebracht; Katharina war klüger als fünfzig Philosophen; Barbara wollte sich ihrem Vater nicht unterwerfen. Regensburger Christen benannten ihr Spital nach Katharina und ließen den Hochaltar unter anderem mit Szenen aus den Leben der drei Frauen gestalten. Bauherr und/oder Gemeinde einer Kirche nahe Bischofshofen (Buchberg, urk. 1370) ließen die drei Madl und Maria lactans darstellen. 48 Die drei bildeten mit elf Männern die vierzehn Nothelfer*innen. 49 Da Gott nicht überall sein konnte, wählten sich Handwerker*innen, Dorfbewohner*innen, Bruderschaften und Städte einen Heiligen oder eine Heilige als Schutzpatron*in. Ländliche, von Mäusen, Ratten, Heuschrecken und vielem anderen bedrohte Menschen riefen die heilige Gertraude an und die heilige Konkubilla, Schwester Columbans, wie manche erinnerten. 50 Columban trieb Dämonen aus, sie Ratten. Gertraude (~621–659), Äbtissin des von ihrer Mutter Itta gegründeten Klosters Nivelles (Belgien), hatte Männer, die ihren Besitz und Einfluss wollten, abgewiesen und für alternde irische Wandermönche ein Spital eingerichtet. Ihr Todestag, der 17. März, liegt an der Wende zum fruchtbringenden Frühjahr: „Wer an Gertraud nicht in den Garten geht, im Sommer vor leeren Beeten steht“; „Sente Gertrütt, die Plugg herütt“. 51 Im bayerischen Voralpenraum half St. Mang, Maginold oder Magnus, irisch oder einsiedlerisch oder erdacht, gegen Raupen, Engerlinge und Schimmelbefall. Seinen Stab trugen Ortskleriker um Weingärten. Den hl. Antonius (Padua, ~1195–1231, geb. in Portugal, Missionar in Marokko und Sizilien) wählten Bäcker, Schweinehirten, Bergleute und Reisende

Bartlett, Why Can the Dead, 113–122. Die Zahl vierzig hatte in den Religionen des Buches einen hohen symbolischen und spirituellen Wert, der jedoch ebenfalls ins Praktische verlagert werden konnte: die „Kraft von 40 Ochsen haben“. 47 Noch um 1600 galt eine Höhlung an der alten Verehrungsstätte am Berg Schöckl bei Graz als Wetter beeinflussend – wer ein Steinchen hinwarf, löste Hagel aus. Joanneum, Archäologie, Graz. 48 Matthias Zender, „Die Verehrung von drei heiligen Frauen im christlichen Mitteleuropa und ihre Vorbereitungen in alten Vorstellungen“, in: Gerhard Bauchhenß und Günter Neumann (Hg.), Matronen und verwandte Gottheiten, Köln 1987, 213–228. Lokal wurden weitere arm und asketisch lebende Frauen verehrt. 49 Reihenfolge seit etwa 1400 kirchlich festgelegt; im Bayerischen zusätzlich Apollonia (Ägypten), Brigida (irisch- keltische Göttin) und Adelgundis (Äbtissin in Maubeuge). St. Georg, dessen griechischer Name „Landwirt“ oder „Kultivator“ bedeutet, tötete, zu Pferd gekommen und zum Ritter gewandelt, einen menschenbedrohenden Drachen. Er wird in Islam und persischen Religionen mit anderen Attributen als Mar Girgis oder al-Ḫaḍir verehrt. 50 Colum Cille (altirisch: Kirchentaube) war Columbans einheimischer Name. 51 https://www.heiligenlexikon.de/BiographienG/Gertrud_von_Nivelles.htm (28. Januar 2018). 45

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

als Schutzpatron. Er half Armen mit „Antoniusbrot“. 52 In alpinen Lebenswelten war Maria präsent. Eine Holzstatue der „Himmelskönigin mit Jesukind und Szepter“ stand an einem Brunnen nahe Tamsweg. Nach „uralter Sage“ wollte „man“ die Statue in die älteste Kirche im Lungau, „Lorenzi im Walde“, übertragen. Doch am nächsten Morgen fand sich die Statue wieder bei dem Brunnen. Dies wiederholte sich und die Menschen erkannten, dass die Mutter Gottes an dem Brunnen eine Kirche haben wollte. Weiter östlich, in einem Grenzgebiet, entsandte ein Abt des Klosters St. Lambrecht 1157 einen Mönch, um die Menschen an der Route zum Mürz-Fluss zu betreuen. Dieser fand seinen Weg durch einen Felsbrocken blockiert, hob die mitgetragene Marienstatue und sie spaltete den Stein. Der Mönch erbaute ihre eine Marien-Zelle, Mariazell. Der Vorfall oder die Erzählung war weit bekannt, ein böhmischer Markgraf mit seiner Frau sowie das ungarische Königspaar Ludwig I. und Elisabeth (aus Polen) unterstützten die Verehrung. 53 Maria mit ihrem Kind wanderte in Region und Vorstellungsraum. Sie rastete nahe Ramingstein (Lungau) bei einer Quelle und der Stein, auf den sie sich setzte, passte sich ihr an. Dies erkannten die Menschen und errichteten ihr eine Kapelle, gewissermaßen ein Quellheiligtum. In urbanem Kontext zogen Maria und Joseph mit ihrem Kind an Wien vorbei und sie besuchte dort ihre Base Elisabeth in der Kärntnerstraße – so eine lokale Erzählung (Abb. 11.20). An anderem Ort bat sie eine Sennerin um Almosen. Diese wies das „Bettelweib“ ab, ihre Butter wurde zu Stein. In der nächsten Hütte, ebenfalls abgewiesen, wurde Milch zu Wasser. Erst in der dritten Hütte erhielt sie, „wie es Brauch ist, Milch und Butter“ und die Kühe gaben doppelt so viel Milch. Entsprechende Ereignisse werden von

vielen Orten berichtet. Gläubige riefen Maria mit Engels-Gruß an: „Du bist gebenedeit [benedictus] unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus“ (Lukas 1,42). 54 Für die Wallfahrtskirche „Mariapfarr“ bei Tamsweg – im 12. Jahrhundert einzige Pfarre im Lungau (urk. 923) – hatten die Kleriker einen intensiv bewirtschafteten Ort gewählt. Ländliche Familien versorgten Bergarbeiter der nahen Silbervorkommen und Eisenhütten; Händler kreuzten die schiffbare Mur (zu Drau und Donau) auf dem Weg zur Tauern-Passroute nach Italien. Die Salzburger EB hatten früh die nahe Rupertikirche in Weißpriach (fränkisch-lokal, Fresken konstantinopolitanisch) erbauen lassen. Die Patronate und Matronate der nahen Kirchen St. Michael (levantinischtranschristlich), St. Martin (pannonisch-gallisch), St. Margareten (Syrien), St. Andrä (See Genezareth, Anatolien, Konstantinopel) und St. Gertrauden (Belgien) ließen das Wegekreuz als fast panchristliches Zentrum erscheinen. Den Apostel Andreas, als Beispiel, verehrten orthodoxe Gläubige wie lateinische seinen Bruder Petrus. Lateinkleriker klauten 1204 seine Gebeine aus Konstantinopel, Laien war sein Gedenktag am 30. November vielfach bedeutungsvoll: Entrichtung von Zins; Wettermarke; magisch-hoffnungsvolle Erwartung, denn junge Frauen könnten ihren Zukünftigen erschauen. Diese Palette an Möglichkeiten lag außerhalb der Reichweite der Kleriker, Ökonomisches hingegen innerhalb. Laut Erinnerung stand in Tamswegs Pfarrkirche eine Statue des hl. Leonhard, Helfer für Gefangene des brutalen Merowinger-Königs Chlodwig I. – die Menschen hatten offenbar Geschichtsbewusstsein. Auch sie verschwand eines Tages, Täter nicht ermittelt. Sie wurde oberhalb des Ortes in einem Wacholderoder Kranewitt-Strauch (Heilpflanze) gefunden

Manfred Weitlauff, „Magnus von Füssen“, in: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), 670–671, Online-Version: https://www.deutsche-biographie.de/ pnd118865870.html#ndbcontent (21. August 2020). 53 Matronatstag der Kirche ist Mariä Himmelfahrt; ein Gnadenbild „der Schönen Madonna“ bewegte zahllose Pilger*innen. Während der Gegenreformation erhoben katholische Habsburg-Österreich-Hierarchen durch den Bau einer gewaltigen Barockkirche Mariazell zu einem nationalen Wallfahrtsort. Die Statue gilt als Magna Mater Austriae. Nationalisten deponierten in der Kirche eine Reliquie des letzten Kaisers, Karl Habsburg (Stand Februar 2018). Ein Tafelbild der Anbetung der drei Weisen gilt als Inspiration des Priester-Dichters Joseph Mohr (1792–1848) für das Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“. 54 Johannes Lang, „Zur höheren Ehre Unserer Lieben Frau. Volksfrömmigkeit, Wallfahrtswesen und das siebenhundertjährige Jubiläum des Gnadenbildes auf der Gmain im Jahre 1776“, Salzburg Archiv 22 (1996), 173–192; Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, bearb. von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, 38–39, 49–50, 185–186; Cölestin R. Rapf, Das Schottenstift, Wien 1974, 31–32. In der koptisch-christlichen Welt rastete die heilige Familie auf der Flucht im östlichen Nildelta unter einem alten Feigenbaum. Bartlett, Why Can the Dead, 151–162. Der Bedarf an Marias posthumer Präsenz war groß: Aachener Kleriker behaupteten ihr Kleid zu haben, Kleriker in Chartres, sie liebe diesen Ort besonders; Engel trugen das Haus der heiligen Familie von Nazareth über Illyrien nach Loreto (Italien); Ritter des Deutschen Ordens nannten ihr Hauptquartier im Baltikum „Marienburg“. 52

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Helfer*innen und Mittler*innen: Die Besiedlung des spirituellen Zwischenraumes

und damit war deutlich, dass der Ort „heilig“ und Leonhard dort eine Kapelle zu errichten sei. Das Jahr war 1421. Die Kunde „verbreitete sich“, Wallfahrer*innen kamen. Sie gaben Spenden in einem Ausmaß, dass die Kleriker statt der Kapelle eine große St. Leonhard-Kirche errichten ließen. Der Baumeister Peter Harpinger aus Salzburg-Stadt entwarf ein beeindruckendes Sternrippengewölbe, zuwandernde Bauleute setzten es um. Die Kirche wurde bereits 1433 geweiht, doch stritten wenig weihevoll Tamsweger und Mariapfarrer Kleriker um die Erträge. Bauern und Gesinde verehrten Leonhard als Viehheiligen, Fuhrleute als Pferdeheiligen. Weiblichkeit fehlte nicht, die hl. Katharina war mehrfach dargestellt. Kirchenlandschaft war multifunktional und polyvalent. Ansässigen brachte der große Steinbau unerwartet Probleme. Der aus der Nachbarschaft stammende Magnat, Kardinal und FEB Burkhard, zog überhöhte Steuern ein. Sie wehrten sich 1462 vergeblich, er ließ von seinen Einnahmen einen großen Flügelaltar in der Kirche aufstellen. Nur wenig später, 1478, mussten Arbeiter*innen um die Kirche Wehranlagen gegen osmanisch-muslimische Truppen errichteten. Diese kamen zwar nicht, doch verpfändete FEB Bernhard angesichts seiner enormen Schulden die Anlage an Bewaffnete des ungarischen Königs. Erinnerer nannten die Jahre nicht „EB-Bankrottzeit“, sondern „Ungarnzeit“. 55 Pilgerströme, wie es in Naturbildlichkeit oft heißt, kamen selbstbestimmt oder unter Gruppenzwang als „Kreuztrachten“. Für Knechte und Mägde war Wallfahrt die einzige Möglichkeit, Alltagsroutinen für wenige Tage zu verlassen, anderes zu erleben und vielleicht Spaß zu haben. Im Gegensatz zu ritualisiertem Messbesuch ermöglichte die Pilgerfahrt eigenes Handeln und war anregender als

quantitatives „Beten an der Schnur entlang“: Paternoster oder Ave Maria in fünfzehn Zehnereinheiten mit – aus dem Orient entlehntem – „Rosenkranz“ oder „Himmelsschnüren“ als Zählhilfe. Diese stellten Ärmere sich aus Fruchtkernen her, Wohlhabende ließen dafür Bernstein und Lapislazuli verarbeiten. 56 Inbrünstige Gebete und tiefe innere Hoffnung bewirkten gelegentlich extramedikale „wallfahrtssynchrone Spontanremissionen“. Vermutlich hätten therapeutische Seelsorge oder psychologische Beratung durch weise Frauen und Medizinkundige, die die erkrankte Person ins Zentrum stellte, helfen können. Erfolg projizierten Geheilte auf die oder den Heilige*n. Kleriker führten Buch, warben mit Erfolgen und ließen in manchen Kirchen Bilder der Heilungen, gewissermaßen als Katalog, in Fresken darstellen. Der Buchhalter von St. Peter verzeichnete im Jahr 1376 Kreuztrachten aus 37 Pfarren und ihre pflichtgemäßen „Opfer“. 57 Jede Abreise – selbst für kurze Zeit – bedeutete das Verlassen der vertrauten, vielleicht einengenden Normengemeinschaft und die „liminale“ Erfahrung ermöglichte Aus-wege oder Aus-bruch. 58 Homo und femina viator erweiterten ihren Horizont und schufen sich temporäre Gemeinschaften. Manche pilgerten zu entfernteren Marienzentren oder bis nach Santiago de Compostela, Rom oder Jerusalem. Zurückkehrende trugen Erfahrungen – Wahrnehmungen oder zumindest Blicke – über andere Gesellschaften zu ihren Familien und Nachbarn. Relativierte dies die eigenen, nun vielleicht nicht mehr selbst-verständlichen Praktiken? Pilger*innen, die sich übervorteilt fühlten, verkündeten Abwertung und Verhöhnung der Anderen. 59 Pilgerfahrten nach Rom nahmen ab, als städtische Optionen zunahmen. Angesichts des sinken-

Monika Heitzmann-Weilharter und Klaus Heitzmann, „Die Wallfahrt nach St. Leonhard bei Tamsweg“, Salzburg Archiv 25 (1998) 119–150; Beate Rukschcio, Die Glasgemälde der St. Leonhardskirche ob Tamsweg. Studien zur österreichischen Glasmalerei in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Dissertation, Univ. Wien 1973. 56 Peter Keller, Edelsteine, Himmelsschnüre: Rosenkränze und Gebetsketten, Ausstellungskatalog, Salzburg 2008. 57 Bartlett, Why Can the Dead, 410–470; Amand Jung, „Beiträge zur Schilderung des kirchlichen Lebens in Salzburg“, MGSL 1 (1860–61), 53–58, 74–80; Fichtenau, Lebensordnungen, 79–80. 58 Victor W. Turner, „Pilgrimages as Social Processes“, in: ders. (Hg.), Dramas, Fields, and Metaphors, Ithaca 1974, 166–230; ders. mit Edith Turner, Image and Pilgrimage in Christian Culture. Anthropological Perspectives, New York 1978; Ludwig Schmugge, „Kollektive und individuelle Motivstrukturen im mittelalterlichen Pilgerwesen“, in: Gerhard Jaritz und Albert Müller (Hg.), Migration in der Feudalgesellschaft, Frankfurt/M. 1988, 263–298, hier 268–269; Alan Kendall, Medieval Pilgrims, London 1970. 59 Ein zeitgenössischer Guide du Pèlerin (Hg. Jeanne Vielliard, 1963) für den Weg nach Compostela wertete alle Bewohner*innen nach Verlassen des Bordelais und vor Erreichen des Heiligtums als minderwertig und verschlagen. F. E. Peters, Jerusalem and Mecca. The Typology of the Holy City in the Near East, New York 1986; Michael Mitterauer, St. Jakob und der Sternenweg. Mittelalterliche Wurzeln einer großen Wallfahrt, Wien 2014; Peter Danner, „Salzburger Jakobspilger“, Salzburg Archiv 29 (2004), 49–68, bes. 58–59; Aryeh Graboïs, Le pèlerin en Terre Sainte au Moyen Âge, Brüssel 1998. 55

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

den Spendenaufkommens riefen Papst und Kurie das Jahr 1300 als „Heiliges Jahr“ mit Sonderablässen aus. Dies traf, wie sich zeigte, Kundenwünsche: Etwa 200.000 kamen, 20.000 wären ein Erfolg gewesen. Zu dem (angeblichen) Grab des Apostels Jakob, Sant-Iago, pilgerte ein Salzburgischer Burggraf im frühen 12. Jahrhundert, Erzählern gilt er als Begründer des lokalen „Jakobskultes“. Er und seine Begleiter kamen auf ihrem Weg am Zisterzienserinnen-Kloster Las Helgas (Burgos) vorbei, dessen Äbtissin auf dem Altar gekrönt wurde und mit ähnlicher Macht wie Bischöfe ausgestattet war. Nahmen sie es wahr? Implizit – vielleicht auch explizit – stellten Pilger*innen die Bedeutung heimischer Institutionen und Priester in Frage, wenn sie sich vertrauensvoll an die nahe Hemma, an Katharina oder Martin und an die sozial tätige Brigid wendeten. Kopien von Brigids vita besaßen Gläubige von Dänemark über die Niederlande bis London, die Kirche in Ölling nahe Salzburg besaß bereits 846

Reliquien von ihr. Wer schuf ihr Bild, wer entwickelte es, wie behielten Gläubige Autonomie über die Imagination? Die Mönche von St. Peter verzeichneten durchreisende Pilger von Rang, darunter ein irischer Bischof und Gesandte des Patriarchen von Jerusalem, und als Reliquien-Besitz „Erde von den Plätzen, wo Gott stand, als er mit Moses sprach, und wo Christus in den Himmel aufstieg, ferner Überreste aus dem Grab Christi und aus Bethlehem, Kreuzpartikel und Reste von dem Schwamm, mit dem Jesus am Kreuz gelabt wurde.“ Es ist, fügte der Historiker hinzu, „nicht bekannt, wo diese Reliquien erworben wurden und wie sie nach Salzburg gelangten.“ Unter Leitung des Bischofs in Regensburg, Otto, und anderen Kirchenfürsten pilgerten 1065 mehrere tausend Menschen nach Jerusalem. Laien und Kleriker teilten Glaubensinhalte, muslimische Herrscher boten Schutz, wenn auch nicht immer gegen lokale Begehrlichkeiten. 60

9.4 Mönche, Nonnen, Priester: „Niedere“ Geistlichkeit im institutionellen Zwischenraum Als middlemen minority überbrückten Mönche und Nonnen die Distanz zwischen Kirche und Laien sowie, nach deren Klaustrierung, Gemeindepriester. Sie alle blieben oft Fremd-Körper im wörtlichen Sinn und sie hatten – soziologisch nicht unerwartet – eigene Interessen. Priestern untersagte um 800 der erste Salzburger EB eine weltzugewandte Lebensweise, Wuchern bei Geldverleih, die Aneignung von Laienbesitz bei Immobiliengeschäften sowie Mönchen die Bereicherung durch Zehnt, Spenden, Pilgergaben und Devotionalien-Verkauf. Alkuin warnte vor praedicatores, die praedatores seien, und fragte, in welchem Ausmaß Zehntpflicht Glauben zerstöre. 61 Für das klösterliche Leben entschieden sich Noviz*innen selbst-bewusst oder wurden fremd-bestimmt meist im Alter von sieben Jahren durch die Eltern „Gott geweiht“. Das Ziel Seelenheil erforderte eine Entfremdung vom eigenen Körper und selbst-bezogenes Arbeiten an „einer neuen Persön-

lichkeit“ (H. Fichtenau). Die aktive Verneinung von eigener Sexualität sowie von Partner*innen- und Kinderliebe erforderte Kraft und dies erschwerte kontemplative Ruhe. „Übereinkommen“ (consuetudines) bestimmten das Gemeinschaftsleben, gelegentlich schadeten autoritäre Äbte oder Äbtissinnen dem Wohlbefinden. Klösterliche demonstrative Abgeschiedenheit und gebetsintensive vita religiosa beruhten auf der Teilhabe am wirtschaftlich-gesellschaftlichen Kontext. Adligen Regulargeistlichen und Dorfpriestern niederer Familien dienten Wirtschaftshöfe zur Ernährung und als Betriebskapital. Klöster boten sicheren Lebensunterhalt und oft Beschulung, Männer vermieden das Risiko von Tod im Krieg, Frauen bei Geburten. Viele replizierten das materielle Leben Bessergestellter. Zwar war das Fleisch vierbeiniger Tiere an vielen Tagen verboten, aber „Vogelspeise“ war erlaubt. Maler stellten Mönche meist gut genährt dar, nur Franziskaner und Nonnen schlank. 62

Róisín Ó Mara, „Die heilige Brigid und ihr Kult im Salzburger Land“, in: Heinz Dopsch und Roswitha Juffinger (Hg.), Virgil von Salzburg. Missionar und Gelehrter, Salzburg 1985, 381–383; Peter Danner, „Kreuzritter und Abenteurer, Seelsorger und Pilger aus Salzburg im Heiligen Land“, MGSL 141 (2001), 183–195, Zitat 183. 61 Hans Wagner, Heinz Dopsch und Fritz Koller, „Salzburg im Spätmittelalter“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:437–661, hier 497–498. 62 Peter Brown, The Body and Society: Men, Women and Sexual Renunciation in Early Christianity, London 1989. Zum organisatorischen und ideellen 60

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Mönche, Nonnen, Priester: „Niedere“ Geistlichkeit im institutionellen Zwischenraum

Mönche und Nonnen hatten, wie Zensuale bei Tradition (s. Kap. 7.5), bei Eintritt und Profess ausreichend Besitz für ihren lebenslangen Unterhalt einzubringen. Die dafür Mehrwert schaffenden Unfreien fielen bei Tod des Tradierenden an die Korporation. Mönche und, seltener, Nonnen mit Gesinde, die sich in wenig kontrollierten Gebieten (s. Kap. 6.8) niederließen, mussten selbstversorgend werden und siedelten an Seeufern mit Fischreichtum, Fließgewässern für Mühlenbetrieb, Wegkreuzungen und Furten. Sie unternahmen Inspektionen, Kontaktreisen, Zehnteinzug, Einkauf von Werkzeugen und Geräten, Vermarktung von Überschüssen. Mönche trugen durch Lesen von Messen für zahlungskräftige Klienten zu den Klosterfinanzen bei, Nonnen hingegen mussten auch für ihre eigenen Messen Kapläne einstellen und bezahlen. Der Besitz von Klöstern wuchs, wenn Kreuzfahrer und andere bei ihnen Darlehen aufnahmen, diese nicht refundierten und ihnen verpfändete Güter (mit Menschen) verblieben. Regulargeistliche lebten eine multifunktionale wirtschaftspolitische Religiosität (W. Störmer) und ein idealisierter Klosterplan für St. Gallen zeigte die Verbindung von Denkrahmen und Wirtschaftseinheit (frühes 9. Jh.): Räume jeweils mit Küche getrennt für Novizen, Mönche und Abt sowie für hochgestellte Besucher und Pilger; Quartiere für Handwerker und unfreie Arbeiter; Getreidespeicher und Mühle, Garten und Kräutergarten, Geflügelhof, Ställe, in denen auch die Hirten schlafen mussten. Die Mönche besaßen 4000 Bauerngüter-mitMenschen. Handarbeit, notwendig, um Müßiggang

– Feind des Seelenheils – zu vermeiden, galt ihnen als Teil von Buße. 63 Die Klöstern zugeschriebene Bedeutung lässt hohe Mitgliederzahlen erwarten. Doch zählten die sanktpetrinischen Mönche im Durchschnitt 28 im 15. und 23 im 16. Jahrhundert, 64 die Domfrauen zwischen vier und zwanzig, die Petersfrauen sechzehn, 65 die Erentrudis-Frauen zehn bis zwölf, zusammen etwa siebzig Klaustrierte neben den 4–5000 Bewohner*innen Salzburgs. 66 Abzuziehen wären lange Abwesenheiten durch auswärtige Tätigkeit, Reisen zu Nachbar-/Konkurrenzklöstern, Wanderungen zur Gründung neuer Klöster. Herauszurechnen wären alternde Religiose mit Abbau geistiger und körperlicher Fähigkeiten. Die Sozialgruppe war bedeutungslos nach Anzahl, machtvoll durch Grundbesitz, Manuskript- und Ornat-Herstellung und sie besaß Erinnerungshegemonie. 67 Doppelklöster für Frauen und Männer, geleitet von Äbtissinnen, wie in Anglia und Franken (s. Kap. 5.7) und bis ins 12. Jahrhundert in Sachsen fehlten im Donau- und Ostalpenraum weitgehend. Das von Passau aus gegründete Stift Göttweig war nach etwa 1200 für dreieinhalb Jahrhunderte auch Frauenkonvent. Auf Geschlechterfragen weist eine Erzählung: EB Ortolf verlieh den Domfrauen Landgüter bei Scheffau, bestimmte jedoch die Erträge für die Domfrau Katharina Czukkin zu ihrer Lebzeit. Sie galt den Menschen im Lammertal als Wohltäterin. War sie Klerikern ein Ärgernis? Sie wurde nicht in geweihtem Grund begraben, „man weiß heute nicht mehr, wie es kam“. Wollte Ortolf ihre Wohltätigkeit danken? Gab es Zuneigung, vielleicht eine

Hintergrund Karl S. Frank, Grundzüge der Geschichte des christlichen Mönchtums, Darmstadt 1975, 62010, 66–123. Vgl auch Gert Melville, Frommer Eifer und methodischer Betrieb. Beiträge zum mittelalterlichen Mönchtum, hg. von Cristina Andenna und Mirko Breitenstein, Wien 2015. 63 Wilhelm Störmer, „Beobachtungen zur historisch-geographischen Lage der ältesten bayerischen Klöster und ihres Besitzes“, in: ders., Mittelalterliche Klöster und Stifte in Bayern und Franken, hg. von Elisabeth Lukas-Götz, Ferdinand Kramer und Andreas O. Weber, St. Ottilien 2008, 83–102; und ders., „Zur Frage der Funktionen des kirchlichen Fernbesitzes im Gebiet der Ostalpen vom 8. bis zum 10. Jahrhundert“, in: Helmut Beumann und Werner Schröder (Hg.), Die transalpinen Verbindungen der Bayern, Alemannen und Franken bis zum 10. Jahrhundert, Sigmaringen 1987, 379–403; Stephan Freund, Von den Agilolfingern zu den Karolingern: Bayerns Bischöfe zwischen Kirchenorganisation, Reichsintegration und Karolingischer Reform (700–847), München 2004, 141–142. 64 Errechnet aus Professdatum und angenommenem Aufenthalt von 25 Jahren bzw. Todesdatum. Pirmin Lindner, „Professbuch der BenediktinerAbtei St. Peter in Salzburg (1419–1856)“, MGSL 46 (1906), 1–329. 65 Maurus Schellhorn, „Die Petersfrauen. Geschichte des ehemaligen Frauenkonventes bei St. Peter in Salzburg (c. 1130–1583)“, MGSL 65 (1925), 113– 208, hier 136 passim; Heinz Dopsch, „Die Petersfrauen“, in: Das älteste Kloster im deutschen Sprachraum. St. Peter in Salzburg, Salzburg 1982, 85–90; Judas T. Zauner und Corbinian Gärtner, Chronik von Salzburg, 1. Teil, Salzburg 1813, 137. 66 Laut Hans Wagner und Herbert Klein, „Salzburgs Domherren von 1300 bis 1514“, MGSL 92 (1952), 1–81, sank mit Beginn des Wirtschaftsabschwungs ihre Zahl von 24 auf 19–20 (1312, 1319), 13 (1366) und 8 (1385, 1442). Franz Esterl, Chronik des adligen Benediktiner-Frauen-Stiftes Nonnberg in Salzburg […] bis 1840, Salzburg 1841. 67 Dopsch, „Klöster und Stifte“, 1.1:1002–1053. Um 830 sollen in Frauen- und Herrenchiemsee insgesamt mehr als 130 Mönche und Nonnen gelebt haben (ebd., 1027). In Klöstern wie Fulda und im dicht besiedelten Norden des westfränkischen Bereiches lebten größere Zahlen.

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

Abb. 9.10 Grundbesitz und Grundherrschaft der Mönche der Abtei St. Peter laut Urbar von 1369 (nach Fritz Koller) und Fernbesitz

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Mönche, Nonnen, Priester: „Niedere“ Geistlichkeit im institutionellen Zwischenraum

intime Beziehung? Die Menschen, die davon erzählten, wussten, dass etwas unrecht war: In dunklen Nächten kam Katharina an Haustüren, klagte, dass sie keine Ruhe fände, und bat, dass ihr Sarg in der Kirche, gleich hinter der Eingangstür, bestattet würde. Wenn der Sarg bis an den Altar gewandert wäre, hätte sie ihr Seelenheil erreicht. Ließ sich ein Unrecht noch nach dem Tode richten? 68 Mönche und Nonnen übernahmen geistliche Patenschaften und soziale Verantwortung. Aber diesen einzigen Weg emotionaler Beziehungen über die Klostermauern hinaus verboten die Hierarchen: commaternitas berge Gefahr dauerhafter Kontakte zwischen Mönchen und Frauen und da für Frauen eigene Gefühle gefährlich seien, wie Dekretisten 1298 behaupteten, seien Nonnen besonders strikt zu klaustrieren. 69 In Klosterkirchen, die auch Pfarrkirchen waren, grenzten Mauer oder Gitter Kleriker*innen ein und Laien ab. Die St. Michaelskirche in Salzburg-Stadt, die bis zum 12. Jahrhundert als Pfalzkapelle und Pfarrkirche diente, war baulich eine Zweiebenen-Kirche: oben vom EB-Palais aus zugänglich, unten vom Marktplatz. Wirtschaftlich positionierten die Regularkleriker sich zentral. Die St. Peter-Gemeinschaft akkumulierte Grundbesitz, das heißt unfreie Abgabenpflichtige weiträumlich: Bereits 860 besaß sie Weinberge in der Wachau und im Ennstal (Steiermark) richteten die Mönche im Auftrag des EB 1074 das Kloster Admont ein. 1124 erhielten sie großen Waldbesitz im Lammertal (Tennengau) und durch Rodung entstand die Au des Abtes, Abtenau. Sie richteten an der vormals keltischen Handelsroute und dem Ort römischer Verehrung der Isis Noreia 1147 die Propstei Wieting (Kärnten) ein. Als die dort angesetzten Familien während der Přemysl ←→Habsburg-Kriege schwer geschädigt wurden und flohen, wiesen die Mönche ungerührt lokale

Herren an, sie einzufangen und zurückzustellen. Sie nutzten in Salzburg-Stadt den Peterskeller als Schenke, besaßen Salzsieder-Familien in Reichenhall und Pfarrrechte samt Einnahmen am Ostrand von Sprachraum und Provinz. Zwar mussten sie die dortige Pfarre an die Passauer Kollegen-Konkurrenten abtreten, behielten jedoch die Hufen, Kirche und Weinberge am Dornbach (westlich Wiens), die ihnen zum Teil noch im 21. Jahrhundert gehören. 70 In der Residenzstadt mussten sie ihre Pfarrrechte 1167 an die Domherren abtreten. Sie nahmen laut Stadturbar (1434) von 123 Häusern die Burgrechtspfennige ein, durchschnittlich dreißig Pfennige pro Jahr. Ihre Unfreien betrieben Landwirtschaft in der Stadt. In den Seelsorge- und Wirtschaftseinheiten herrschte rechtliche Vielfalt, in Wieting zum Beispiel setzten die Mönche den Priester ein, besaßen aber die Pfarre nicht, die ihrerseits fünfzig Untertanen besaß. Zahlende und Nutznießer mussten ein umfangreiches tradiertes Detailwissen haben und weitergeben. 71 Die Erentrudis-Nonnen im Stift Nonnberg besaßen Fisch-, Salz- und Jagdrechte von Traun- und Attergau bis Reichenhall und Chiemsee. König Heinrich III. ließ im Glauben, dass ein Gebet zu Erentrudis ihn von einer Krankheit geheilt hätte, ihre Gebäude wiederherrichten; ein Abt von St. Peter stahl ihnen 1025 ein Partikel der Überreste Erentrudis’. Sie erhielten von einem Passauer Ministerialen, der einem Kloster-Offizial das Augenlicht geraubt hatte, als Ausgleich vier Leibeigene. Männer beschwerten sich beim Papst, dass sie ihr Haar lang und mit weltlichem Kopfputz trügen. Den Wiederaufbau der 1423 abgebrannten Kirche finanzierte die Äbtissin durch Verkauf von Besitz-mitMenschen. Am Palmsonntag – dem Einzug Christi nach Jerusalem – zogen die Nonnen mit einer Christusfigur, getragen von einem Esel als Sinnbild

Benedikt Pillwein, Das Herzogthum Salzburg oder der Salzburger Kreis: Ein Originalwerk, Linz 1839; http://www.sagen.at/texte/sagen/ oesterreich/salzburg/tennengau/strubberg.html (12. September 2020). Eine weitere Überlieferung sieht in der Scheffauer Kirche eine „Volksheilige“ namens Sand Gruen begraben. 69 Nolte, Conversio und christianitas, 152–163. 70 Vgl. die Beiträge in Das älteste Kloster und Festschrift von St. Peter zu Salzburg 582–1982, Salzburg 1982, bes. Gerhard Jaritz, „Zur Alltagskultur im spätmittelalterlichen St. Peter“, 548–569. 71 Seit den 1430er Jahren ermöglichen jährliche Gesamtabrechnungen die Analyse der Einnahmen und Ausgaben (Mönchs- und Abtbedarf, Investitionen in Weinbau u.v. a. m.). 68

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von Bescheidenheit und Friedfertigkeit, in die Stadt (urk. 1433). Die Figur schmückten sie so reich mit Korallen und Granat, dass „das Volk“ sagte, sie „trage den Werth eines ganzen Königreiches“. Die Prozession wurde Volksbelustigung und verboten. Am Ende des 15. Jahrhunderts beschäftigten die nur zehn Nonnen und Äbtissin neun Kapläne. Aus dem Bestand ihrer Bibliothek (deutsche und lateinische Texte im Verhältnis 2 : 1) mit zahlreichen, besonders an Maria gerichteten Gebetstexten ließe sich das Netzwerk kirchlicher Autoren rekonstruieren, das sie sich erschlossen. 72 In Göß nahe Leoben (altslow. liupina, liebliches Tal) richtete Gräfin Adala 1004 gemeinsam mit ihrem Sohn Aribo, Diakon in Salzburg und später EB von Mainz, ein Stift als Witwensitz ein mit Tochter/Schwester Kunigunde als erster Äbtissin. Es diente wie viele Frauenstifte Adelsfamilien zur Erziehung und Bildung ihrer Töchter. Die Äbtissinnen gliederten ihren umfangreichen Besitz vom Ennstal bis zur Untersteiermark in Ämter, manche reisten nach Rom, eine nannte sich nach der verehrten Hemma. Sie mussten der Familie Habsburg oft Kriegs- und Familien-Kontributionen zahlen: Diese netzwerkte in Richtung Brandenburg und Baden und als Friedrich III. 1447 seine Schwester mit Heiratsgut ausstattete, forderte er die Zahlung von 500 Gulden. Herzogin Katharina bot dem Badener Karl Einheirat in eine ranghöhere genealogia und als Brautschatz 30.000 Dukaten. Die Klöster legten die Zahlungen ihren Unfreien auf, die die Details der Habsburger Familienplanung vermutlich nicht kannten. „Fromme“ Frauen, moniales, die sich dem Peterskloster anschlossen, institutionalisierte EB Konrad I. als sanctimoniales (1125). Er unterstellte sie jedoch geistlich wie materiell dem Abt, so dass das Männerkloster von ihren Eintrittszahlungen profitierte. Mädchen aus wohlhabenden Familien er-

hielten Unterricht und konnten im Alter von zwölf Jahren als Novizinnen zugelassen werden. Die Frauen lebten standesgemäß mit Dienerschaft, feinem Tafelgeschirr und silbernem Besteck, mit Rosenkränzen aus Edelsteinen und Korallen, Pelzmänteln, feinem Leinen und Federbetten; sie hatten Erlaubnis, ihre Haare lang zu tragen und nach weltlicher Art zu pflegen. Sie hielten Kontakt zu ihren Familien, richteten sich eine Bibliothek ein und verliehen Bücher. Sie schufen Manuskripte, kunstvolle Miniaturen und farbenprächtige Malereien, prachtvolle Webereien und Stickereien. Sie und die Mönche nutzen anfangs die St. Anna-Kapelle gemeinsam, getrennt durch eine Mauer, mit dem Altar auf der Männerseite, Betstühlen der Frauen hinter der Mauer. Ihre eigene Kirche wurde die Pfarrkirche St. Marien (Liebfrauenkirche). 73 Den zweiten Strang dieser untersten Ebene bildeten Pfarreien (griech. parochia, Nachbarschaft). Anfangs richteten Grund-mit-Menschen-Besitzer sie entsprechend ihren Interessen ein. Gelegentlich schlossen sich freie Landbesitzer zusammen und stifteten Land-mit-Menschen für eine Kirche, die ihnen und sich Hinzugesellenden gehörte. Sie setzten oft eigene Unfreie als Pfarrer ein und konnten ihre Anteile vererben. Um diese Privatkirchen zu übernehmen, oktroyierten Bischöfe Priester aus ihrer familia. 74 Priester als „Arbeiter vor Ort“ (I. Wood) waren vielleicht inkompetent, vielleicht Pfründennutzer, vielleicht gebildet und aufopfernd. Für Herren stellte „die Durchdringung mit dem rechten Glauben eine Machtfrage dar“ (H. Mierau), doch statteten sie Priester oft mangelhaft aus und „arme“ Priester, denen ein durchreisender Herr eine Münze gab, wurden Topos von Erzählungen. 75 Über Priester haben die mönchischen Chronisten kaum Zeugnisse hinterlassen, denn ihr Selbstabschluss förderte die Bildung von „Wir-Gruppen“

Zur Ökonomie des Klosters Esterl, Nonnberg, 51–82; Adam Doppler und Willibald Hauthaler (Hg.), „Urbar des Benedictinnen-Stiftes Nonnberg“, MGSL 23 (1883), 41–144; und H. Widmann (Hg.), „Urkunden und Regesten des Benedictinerinnen-Stiftes Nonnberg in Salzburg“, MGSL 35 (1895), 1–34; Gerold Hayer und Manuel Schwembacher, Bearb., Die mittelalterlichen Handschriften des Stiftes Nonnberg in Salzburg, Wien 2018; Jacques Heers, Vom Mummenschanz zum Machttheater. Europäische Festkultur im Mittelalter, Frankfurt/M. 1986 (frz. 1983), 156–164. 73 Viele Autoren folgen einem anderen Narrativ: Die Petersfrauen seien arm gewesen, hätten abgeschlossen gelebt, hätten nur schlecht singen können. Sie mögen unter den wirtschaftlichen Problemen des Männerklosters zeitweise mit nur geringen Mitteln gelebt haben. 74 Stifter, die sich selbst zum Priester einsetzen ließen, setzten ihrerseits meist Unterpriester ein. Thomas Kohl, „Presbyter in parochia sua: Local Priests and Their Churches in Early Medieval Bavaria“, in: Steffen Patzold und Carina van Rhijn (Hg.), Men in the Middle: Local Priests in Early Medieval Europe, Berlin 2016, 50–77. 75 Störmer, Mittelalterliche Klöster und Stifte, Zitat 461; Alexander Murray, „Missionaries and Magic in Dark-Age Europe“, Past & Present 136.1 (1992), 186–205; Wood, Missionary Life; Thomas Kohl, Lokale Gesellschaften: Formen der Gemeinschaft in Bayern vom 8. bis zum 10. Jahrhundert, Ostfildern 2010; Julia Barrow, The Clergy in the Medieval World: Secular Clerics, Their Families and Careers in North-Western Europe, c. 800–c. 1200, Cambridge 2015. 72

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mit Superioritätsanspruch über Weltpriester. Historiker*innen haben diese Sozialgruppe, verglichen mit ihrem Interesse an Vertretern der theoretischen Theologie, wenig erforscht. 76 Landpriester hätten für ein Kollegen-Gespräch zur nächsten und doch oft weit entfernten Pfarre reiten müssen. Sie waren nicht Teil des geistlichen Lebens naher Klöster und nicht Teil der Laien ihrer Gemeinde. Gemäß karolingischer Ordnung sollten die Pfarrer regionaler Dekanate am ersten Tag jeden Monats für Messe, Gespräche und gemeinsames Mahl zusammenkommen. Erst im Rahmen des Pfarrbanns richteten die EB-Ministerialen im 11./12. Jahrhundert ein umfassendes „Pfarrinstitut“ ein und bezeichneten die dafür erhobenen Abgaben als „Gerechtigkeiten“ – die Päpste setzten zu dieser Zeit das kanonisch-Bologneser Dekretrecht durch. Pfarraspiranten mussten Mindestkenntnisse der lateinischen Liturgie und Sakramente nachweisen, höhere Institutions-Kleriker sahen Dorfpriester, dörpern nahestehend, als Leutpriester oder plebani, da sie zum plebs, mhd. liud, predigten. 77 Priester betrieben multi-tasking: Pfarrverwaltung, Erhalt der Bausubstanz der Kirche, Pflege der liturgischen Geräte, Leitung des Widums (gewidmetes Gut) mit Unfreien. Manche mussten Jagdgesellschaften der Herren samt Jagdhunden beherbergen. Als Zehnteinzieher waren sie Mittler zum Finanzwesen der heiligen Kirche, als Wortkundige halfen sie Laien gegen Gebühren bei der Erstellung von Schriftstücken. Aufsicht-führende Kleriker ermahnten sie, die Messe regelmäßig, auch wenn niemand anwesend war, zu zelebrieren. Sie hatten zu kontrollieren, dass alle Laien den „Leib des Herrn“ empfingen – doch erschienen viele nur selten. Der Wein, eigentlich in magischer Transsubstantiation Blut Christi, war oft säuerlich, denn manche Priester kauften nur billige Sorten. Vielen Laien blieb die von oben verfügte und ab 1415 ge-

nerell durchgesetzte Änderung im liturgischen Protokoll, die sie vom Wein-Blut-Empfang ausschloss, unverständlich. Auch war die Pflicht zum Messbesuch oft Last: Die Kirche stand im Ortszentrum, viele lebten weit entfernt. Als ob all dies für Priester nicht Erschwernis genug wäre, positionierte die Kirche sie auch in Bezug auf Emotionen, Sexualität und Männlichkeit „dazwischen“. Viele suchten und fanden Partnerinnen, sei es aus Liebe, sei es beschränkt auf Sex. Nur für höhere Kleriker war Ehelosigkeit oder, im Fall von Heirat vor ihrer Weihe, ruhende Ehe verbindlich. Erst die Synodalen in Pavia (1022) und Magnaten in weltlich-kirchlicher Zusammenarbeit bis zum 2. Laterankonzil (1139) verschärften die Kontrolle über Priesterkörper. Sie bezeichneten Hausgemeinschaften als „Konkubinat“, die Männer als unrein, die Frauen als Prostituierte. Androzentrische Chronisten verschwiegen, dass Frauen seit Beginn des Glaubens als Diakoninnen ordiniert worden waren. Der Ausschluss von Pfarr-Frauen implizierte, dass Laien-Frauen Ansprechpartnerinnen genommen wurden, die vielleicht bei Sexualität und Schwangerschaft informierter waren als geweihte Männer. 78 Die Hierarchen behandelten Priester-Paare wie Unfreie, die eigene Emotionen und Bindungen nicht leben durften. Da viele trotz Verbotes weiterhin zusammenlebten und ihre Kinder großzogen, verordneten sie, dass dem Mann Amt und Benefizium zu entziehen seien und Gläubige seine Messen nicht besuchen dürften (1059), Frauen würden Sklavinnen des zuständigen Herren werden (1089). Die Paare dürften Besitz nicht an ihre Kinder vererben, die Kinder seien Kirchenhörige. 79 Das Dekret von 1089 wagten manche Bischöfe kaum zu verlesen: Tausende, vielleicht Zehntausende Frauen und mehr Kinder waren betroffen. In Passau, Konstanz und anderswo wehrten Priester – und viel-

Karl F. Hermann, Heinz Dopsch und Johann Paarhammer widmeten im Kapitel „Die Salzburger Kirche“ (Geschichte Salzburgs, 1.2:983–1070) den Themen „Seelsorge“ und „Religiöses Leben“ 2,5 von 87 Seiten. Dietrich Kurze, Pfarrerwahlen im Mittelalter, Graz 1966, untersuchte das Thema vergleichend. Kohl, „Presbyter“, 50–77; Alois Trenkwalder, Der Seelsorgeklerus der Diözese Brixen im Spätmittelalter, Brixen 2000; Heike J. Mierau, „Die Seelsorgeorganisation auf dem Lande im frühmittelalterlichen Bistum Freising“, und Sabine Arend, „Kleriker auf Pfründensuche. Aspekte lokaler Pfründenbesetzung in der Diözese Konstanz im 15. Jahrhundert“, in: Natalie Kruppa (Hg.), Pfarreien im Mittelalter. Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn im Vergleich, Göttingen 2008, 121–154, Zitat 153, 537–549. Andreas Meyer, „Der deutsche Pfründenmarkt im Spätmittelalter“, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 71 (1991), 266–280. 77 Ulrich Stutz, Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens von seinen Anfängen bis auf die Zeit Alexanders III. (1895), hg. von Hans E. Feine, Aalen 1961. 78 Elaine Pagels, Adam, Eve, and the Serpent, New York 1988, 122–126; Gary Macy, The Hidden History of Women’s Ordination: Female Clergy in the Medieval West, Oxford 2007. 79 Georg Denzler, Die Geschichte des Zölibats, Freiburg i. B. 2002, 22016; Stefan Heid, Zölibat in der frühen Kirche. Die Anfänge der Enthaltsamkeitspflicht für Kleriker in Ost und West, Paderborn 1997. 76

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leicht Frauen – sich in Massenversammlungen und der Augsburger Bischof Ulrich verurteilte das Eheverbot als Schrift- und Sitten-widrig. Christoph Auffarth formulierte: Wer keine Familie gründen, keine Frau umarmen, keine Kinder haben darf, schützt sich vor dem Gefühl der Liebe dadurch, dass er Frauen als gefährlich, verführerisch, sündhaft abstößt. 80 Mit ihrer Sexualitätsideologie hatten die Kirchenmänner in Rom, die Salons von Kurtisanen zu schätzen wussten, die Priester in weitere Dilemmata manövriert. Denn was bedeutete die „Entmännlichung“ in Bezug auf Interaktion mit Gemeindemitgliedern, die Sexualität lebten? Die Abwertung kolonisierter Männer durch Kolonialherren ist überzeugend unter der Perspektive Entmännlichung/Verweiblichung (engl. effeminate) untersucht worden. Zeitgenossen erfanden höhnisch die Geschichte der als Mann verkleideten „Päpstin“ Johanna, der ihre Körperlichkeit so wenig deutlich war, dass sie während einer Prozession ein Kind gebar. 81 Angehende Priester mussten den Arbeits-/ Pfründenmarkt nutzen, um eine Pfarr-Position zu erlangen, und sie suchten meist eine Position innerhalb ihrer Region. Pfarrbenefizien wurden durch Tod, Resignation und Rücktritt zum Zweck eines Stellentausches aus Karrieregründen frei oder um im Alter eine ruhigere Position zu finden. Unzufriedene Pfarrer resignierten fette wie magere Pfründen, manche resignierten gegen Rente zugunsten eines anderen. Kirchenherren konnten Priester weiterempfehlen oder sie freisetzen (abstiften) und in Armut stürzen. Pfarrwechsel stellte für viele die Frage der Umsiedlung mit Familie; Gemeinden wünschten oft nur einen Mann. Wenn Bevölkerungszunahme die Einnahmen steigen ließ, stellten Kleriker mit vielen Aufgaben und Zahlungsverpflichteten Gesellpriester, viceplebani, FrühmessKooperatoren und exkurrierende Kapläne für Herrenhaus oder entfernte Gemeindeteile ein. Wie bei

der Vergabe von Hufen wurden die gegenseitigen Verpflichtungen in Urbaren festgehalten. Messdienst zählte zu den onera, Lasten; cura, Seelsorge in abgelegenen Orten, erfolgte gegen Entgelt. Die Gebühren-gewohnten Kurialen erlaubten Priestern im 4. Laterankonzil, Stolgebühren oder Accidenzien für das Umlegen der Stola bei „Kasualien“ wie Taufen, Trauungen und Begräbnissen zu erheben. Laien erbitterte dies. 82 Gemäß den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen verschenkten, vertauschten oder verkauften klerikale und weltliche Adlige Kirchen samt Priester-, Grund- und Menschen-Zubehör. Priester handelten, modern ausgedrückt, oft als Kleinunternehmer. Gut dotierte zogen in Städte und ließen in out-sourcing und sub-contracting schlecht bezahlte Vikare die Arbeit erledigen. Dass dies einen Bruch der Residenzpflicht bedeutete, störte sie ebenso wenig wie Ämterkumulierung und Pfründenhäufung. So entstand im 13. Jahrhundert „eine große Zahl von Stellvertretern aller Art [clerici vagantes …], die nirgends seßhaft, bald da, bald dort aushalfen und etwas wie einen Stand wandernder Seelsorger darstellten“, ein klerikales Proletariat (J. Sacherer). 83 Die Märkte für mobile Kleriker – untersucht für Freising im frühen sowie für Konstanz und Brixen im späten Mittelalter – beherrschten Pfründen-vergebende Familien und Korporationen. In einem Konzentrationsprozess stiegen in Konstanz geistliche Patronate vom 14. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts von etwa fünfzig Prozent auf zwei Drittel. Patronatsherren versorgten vielfach Familien- oder Konvent-Angehörige und betrieben Klientelpflege. Wie für Papst-Aspiranten war die Position in Machtgefüge und Kommunikationsstruktur wichtig, Kenntnisse und Fähigkeiten nachrangig. Die wenigen, die zum Zeitpunkt ihrer Installation nicht geweiht waren, mussten die Weihe in Jahresfrist erreichen. Laien, denen Mitsprache nicht zustand, mögen Zugezogenen nicht immer Interesse oder

Christoph Auffarth, Die Ketzer: Katharer, Waldenser und andere religiöse Bewegungen, München 2005, 115. D. M. Hadley (Hg.), Masculinity in Medieval Europe, London 1999, bes. Janet N. Nelson, „Monks, Secular Men and Masculinity, c. 900“, 121–142, Robert N. Swanson, „Angels Incarnate: Clergy and Masculinity from Gregorian Reform to Reformation“, 160–177, und Hadley zur Forschungsgeschichte, 256–272; Mrinalini Sinha, Colonial Masculinity: The ‚Manly Englishman‘ and the ‚Effeminate Bengali‘, Manchester 1995; Megan McLaughlin, Sex, Gender, and Episcopal Authority in an Age of Reform, 1000–1122, New York 2010. 82 EB Eberhard II. berief nach dem 4. Laterankonzil Provinzialsynoden nach Salzburg und eine Legatensynode nach Wien. Trenkwalder, Seelsorgeklerus, 1–123. 83 Trenkwalder, Seelsorgeklerus, Zitat 23; Johannes Sacherer, „Habsburgs Griff auf die Salzburger Positionen in Kärnten zur Zeit Erzbischof Eberhards III. (1403–1427)“, MGSL 139 (1999), 7–26. 80 81

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gar Wohlwollen entgegengebracht haben. Manche Gemeinden forderten gelehrte Priester, die Schüler gegen Hilfsdienste aufnahmen, Lateinunterricht boten und den Erwerb von Bibelkenntnissen ermöglichten. Im Suffraganbistum Brixen, in dem Ausbildungsstätten fehlten, kam um 1500 etwa die Hälfte aus der „Fremde“ (in Konstanz zwei Prozent), meist ebenfalls nachgeborene Adelssöhne oder Eigenleute. Am Ende des 15. Jahrhunderts arbeiteten in dem Bistum von etwa 330 Weltpriestern 250 in Vollzeit. 84 Die Anerkennung von Leistungen der Priester überliefern kirchliche Chroniken kaum, in großer Zahl hingegen Kritik und Verbote. Ihnen waren Gasthausbesuch und Spiel verboten; sie durften Gasthäuser nicht führen, zu Tänzen und in unanständige Gesellschaft nicht gehen. Dass sie bei Geldgeschäften nicht wuchern, Zehnte nicht veräußern und „bei Pfändungen nicht mehr […] nehmen als zusteht [und] keine verwerflichen Vorkäufe […] tätigen“ sollten, musste zwischen 1287 und 1449 wiederholt angeordnet werden. Geistliche durften Wallfahrer*innen nicht übervorteilen, Kirchengut nicht heimlich veräußern, nicht mehrere Messen gleichzeitig lesen. Zudem musste hervorgehoben werden, dass sie das Kirchgebäude nicht als Abstellraum nutzen dürften und für saubere Altartücher und Kelche zu sorgen hätten. Weiterhin verboten Provinzialsynodale (1437) kurze Hosen, Schnabelschuhe, glänzende Schnallen, aufwändige Hüte oder Kappen und geckenhaftes Auftreten. War dies Bild übertrieben? Auch Priester blieben Teil der Wirtschaftsinteressen ihrer Geburtsfamilien. Das Ersparen einer Alterssicherung war ihnen nicht möglich, bei Tod gehörte ihre Fahrhabe der weltlichen Obrigkeit und den Pfarrmitgliedern. Sie kämpften um das Recht, ein Testament schreiben zu dürfen. 85 Kleriker, die Einkommenssteigerung anstrebten, nutzten nicht das Gebet, sondern suchten ihr Heil Kosten-aufwändig bei der Kurie. Die seit dem

ausgehenden 13. Jahrhundert geführten Supplikenregister des Provisionswesens verzeichneten Begehren um Pfründen, Dispense, Ablässe und um Erlaubnis zum Besitz einer zweiten Pfarre oder um finanzielle Abfindung konkurrierender Aspiranten auf Kosten der Gemeinde. Die Akten bieten Informationen über Gebühren oder „Geschenke“ und, implizit, zu Kosten der Anreise des Supplikanten, Prokurators oder Boten. Papst und Kurienbürokraten wurden mit Details befasst: Zum Beispiel bat König Friedrich IV. 1452, „dass die Nonnen im Kloster Göß wegen Mangel an Eiern und Fischen an drei Tagen in der Woche Fleisch essen dürften“. Das irdisch-ferne „Rom“ war lokal nah und die Kurienbürokraten gut informiert. 86 Über die Jahrhunderte waren Laien und Synodale sich in ihren Beschwerden einig. Die sittliche Verwahrlosung Geistlicher beklagte EB Arn um 800, ein anonymer Passauer Inquisitor um 1260, eine Provinzialsynode 1418. Der Umgang mit Übernatürlichem blieb vielfältig und Diözesansynodale forderten 1432, Wahrsagerei, Zauberei und Blendwerk gegen Gewitter auszurotten. Die Regelungen für Arbeit an Feiertagen waren komplex, vor der Messe war Notwendiges erlaubt, nach der Messe verboten. Aufwändige Recherchen erforderte das dekretrechtliche Verbot der Eheschließung bei Verwandtschaft bis zum vierten Grad und bei Taufpatenschaft, sogenannter geistlicher Verwandtschaft. Eheleuten war Sex verboten an Sonn- und Feiertagen samt Vorabenden, montags, mittwochs und freitags sowie je vierzig Tage vor Ostern und Weihnachten. Belegten streitende Kleriker sich gegenseitig mit Interdikten, mussten die Kirchtüren verschlossen werden – aber auf Antrag durften dahinter Messen leise gelesen werden. All dies „wirkte sich verheerend auf Seelsorge aus“ (A. Trenkwalder) und auf das Vertrauen von Laien in die Institution.

Conrad Leyser, Oxford, Forschungsprojekt zu Kirchenstrukturen, Oktober 2018; Mierau, „Seelsorgeorganisation“; Arend, „Pfründensuche“, 537– 549. 85 Trenkwalder, Seelsorgeklerus, Zitat 67. 86 Franz Martin, „Aus päpstlichen Supplikenregistern“, MGSL 54 (1914), 97–117; Sabine Weiss, Kurie und Ortskirche. Die Beziehungen zwischen Salzburg und dem Päpstlichen Hof unter Martin V. (1417–1431), Tübingen 1994. 84

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9.5 Menschenbilder: Kindheiten, Emotionen, Gender Menschenbilder entwickelten Laien persönlich im Kontext von Brauch, Familie und Gemeinschaft als Beziehungs- und Körperbilder, Diskurs-Bildner schichtenspezifisch in Hierarchie-Kontexten. Doch seit dem 15. Jahrhundert stellten einzelne Maler die Gleichheit aller vor Tod und Gottheit dar, oft plakativ in Fresken. Nach unten Geschichtete erinnerten Christi und der Apostel Armut. Ihre Vorstellungen – sprachlich statisch – entstanden prozesshaft in Eltern-Kind- und Geschlechter-Verhältnissen, in lebenszyklischen Praktiken und in Nähe des Todes. Wortführer der Institution Kirche konstruierten intensive Körperlichkeit: die Kirche als Braut Christi, ihrer Gottheit entgegenfiebernde Mönche, Ekstase als innerliches, gelegentlich liturgisches Ziel. Doch Ekstase und Hingabe widersprachen dem Männlichkeitsbild einer ratio ohne nicht-rationale Höhepunkte. 87 Kinder galten von Geburt oder schon vorher als beseelte Wesen. Eltern sorgten sich um ihr Seelenheil und ihre Perspektiven und in Gemeinschaften mit Taufe mündiger Erwachsener verlangten sie die Taufe Neugeborener, wenn diesen früher Tod drohte. Unfreie versuchten gelegentlich eines oder mehrere ihrer Kinder freizukaufen. 88 Eltern von Stand versprachen aus vielfältigen Gründen Kinder Gott und übergaben sie, meist im Alter von sieben Jahren, einem Kloster: Aus ihrem Leben verschwanden Mutter und Vater, Mönche oder Nonnen betreuten sie vielleicht verständnisvoll, Erleichterungen beim Chordienst und angemessene Ernährung waren wohl üblich. Autoren der wenigen autobiografischen Texte erinnerten Trennungstrauma, freudlose Zucht, „Deprivationen, Vexationen und Frustrationen“ – so Othloh in St. Emmeram (11. Jh.) und das „Zwölfjährige Mönchlein“ in Niederösterreich (14. Jh.). Guibert aus Nogent (geb. ~1055) litt unter der Institution ohne Mutter; Hugo in Lincoln

(geb. 1140?) klagte, „ich habe die Freuden dieser Welt nie gekostet, und nie wusste oder lernte ich, wie man spielt“; Chiara in Montefalco (geb. ~1268) durfte, um den Trennungsschmerz zu lindern, mit dem Jesuskind spielen, so zeigte es ein Fresko. Dies „Schicksal“ durchlebten Arn und Alkuin seit der Wiege; Winfrid-Bonifatius, Petrus Diaconus, Gertrud (Helfta, Sachsen), Thomas (Aquin, Mittelitalien) mit fünf Jahren; Beda Venerabilis (Northumbrien) mit sieben; Hrabanus Maurus mit neun. Eltern, die „gottgeweiht“ mit ihren weltlich-materiellen Interessen gleichsetzten, gaben Kinder in Onkel-Neffe-, Tante-Nichte- und Mutter-TochterSequenzen in geistliche Ämter. Die Dekretisten in Bologna verpflichteten Gottgeweihte zu lebenslanger Klaustration, nur erzwungene Profess sei ungültig. 89 Kirchenmänner, mit oder ohne Kindheit, äußerten sich über Geburten, Kindheiten, Lebensphasen, Emotionen; Mütter und Väter sowie Hebammen dachten „laienhaft“, aber lebens-weise. Geburt ohne Sex, „unbefleckt“, schien nur Klerikern möglich. Diese schrieben nur über die Söhne der Elite und ihre „Schwert-Leite“ genannte Statuspassage zu Maskulinität. Dies war marginal, denn von hundert Männern besaß einer ein Schwert, einer eine Gänsefeder, etwa acht metallene Handwerkzeuge und die übrigen neunzig Pflüge oder Spaten. Sie schrieben die heiligen Schriften um: Hieß es in Genesis 1,27 f., Gott habe die Menschen als sein Abbild geschaffen, reduzierten sie dies auf Gleichheit der Seele, körperlich seien Frauen dienstbar und dem Mann untertan. Für sie und andere Männer war dies praktisch. 90 Rabbiner und christliche Theoretiker wie Augustinus waren sich, vermutlich ohne ihre Mütter zu befragen, einig, dass Frauen angesichts der Menstruation „kultisch unrein“ seien. 91 Sie folgten

Dalarun, „Sicht“, und Claude Thomasset, „Von der Natur der Frau“, in: Klapisch-Zuber, Mittelalter, 55–83; und allgemein Claudia Opitz, „Frauenalltag im Spätmittelalter“, ebd., 283–344. 88 Klaus Arnold, Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance, Paderborn 1980; Matthias Winter, Kindheit und Jugend im Mittelalter, Freiburg 1984; Käthe Sonnleitner, „Die Stellung der Kinder von Unfreien im Mittelalter in Salzburg, Steiermark und Kärnten“, MGSL 123 (1983), 149–166; Hamburger und Marti, Crown and Veil, 7. Siehe auch Detlef Illmer, Erziehung und Wissensvermittlung im frühen Mittelalter, Kastellaun 1979; und ders. „Zum Problem der Emanzipationsgewohnheiten im merowingischen Frankreich“, in: L’enfant, Bd. 2, Brüssel 1976, 127–168. 89 Arnold, Kind und Gesellschaft, 22–23, Zitate 23; Eva Schlotheuber, „Gelehrte Bräute Christi“. Religiöse Frauen in der spätmittelalterlichen Gesellschaft, Tübingen 2017, bes. 61–74; Chiara Frugoni, „Frauenbilder“, in: Klapisch-Zuber, Mittelalter, 359–429, hier 416–418. 90 Martina Neumeyer, „Mittelalterliche Menschenbilder. Eine Einführung“, in: dies. (Hg.), Mittelalterliche Menschenbilder, Regensburg 2000, 7–20. 91 Vgl. für einen Überblick http://www.womenpriests.org/de/traditio/unclean.asp (12. September 2020). 87

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den Geschichten über wandernden Uterus und manche proklamierten Sperma als reinstes Blut aus dem Gehirn, das auf dem Weg durch die Venen eine weiße Farbe annähme. Dem starken Samen, im Uterus nur von schwachem Menstruationsblut ernährt, ermögliche die Natur mit Wärme die Formung der Glieder und Eintritt der Seele. 92 Ein Dominikaner und Kölner Bischof predigte um 1260, dass Jesus sich herabließ, von Maria geboren zu werden: „Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und selig sind die Brüste, die du gesogen hast“. Andere diskutierten in taktiler Rhetorik die Festigkeit der Brüste von Ammen. Ein selten zitierter Theologe, der Teufel, sah die Angelegenheit „menschlich“: Obwohl Eva Gott nicht gehorcht hätte, helfe Gott bei der Geburt: „Do ward Eva von got gesund / Und genas loblich und wol / Als denn ain frow genesen sul.“ 93 Empiriker und Denker in anderen Kulturen waren informiert: Moḥammad bin Zakaryā-ye Rāzī („Rhazes“, 854–925) in Persien und ʿ Arīb ibn Saʾ īd (geb. ~910) in Córdoba hatten die Entwicklung des Fötus im Mutterleib und kindliche Entwicklung beschrieben. An der Medizinschule in Salerno – etwa 200 km südlich des Sitzes der Kurie – kompilierten die Ärztin Trotula und zwei männliche Kollegen De curibus mulierum (nach 1100) zu Frauenheilkunde. Dort übersetzte Constantinus („Africanus“, gest. vor 1098) arabische Texte. In Karthago sozialisiert, war er nach Mesopotamien und Indien gereist und in Monte Cassino Benediktiner geworden. In Salerno verbanden alteingesessene Einheimische, oströmische Griechen, Langobarden-Lombarden, Normann*innen und ägyptisch-nordafrikanische Muslim*innen ihr Wissen. Sie verfügten über umfassende Kenntnisse um Wirkmittel aus Regionen um den Indischen Ozean, Armenien, der Levante und Nordafrika, Kreta und Sizilien und andere

pharmakologische Autor*innen wussten um lokale Kräuter. Frauen und Männer kannten Möglichkeiten der Empfängnisverhütung. Die Trotula-Texte, seit Mitte des 13. Jahrhunderts als Korpus standardisiert, zirkulierten lateinisch und volks-hochsprachlich auch nördlich der Alpenpässe. Erreichte dies Wissen Frauen ländlicher und unterer städtischer Schichten? Oder war ihnen, wie anzunehmen ist, lokal tradiertes Wissen um Gesundheit und Geburt ausreichend? 94 Gelehrte in Palermo übersetzten eine Schrift des nestorianischen Arztes Ibn Butlan (geb. in Bagdad, gest. 1065 in Antiochia) zu gesundem Leben und Wohlhabende ließen sie zu einem tafelartigen instruktiven Bildercodex erweitern (Tacuinum sanitatis, zw. 1254 und 1266). Lateinische und deutsche Ausgaben erschienen 1531/1533 in Straßburg. Illustrator*innen eines „Pseudo-Apuleius“ (zw. 1300 und 1400) und des Hortus sanitatis (Fassung 1499) stellten die Alraune, die menschengestaltige Wurzel der Mandragora, der sie magische Kräfte zuschrieben, als Mann mit Samenkapseln und Frau mit Frucht dar. 95 Mutterschaft, „ältester Beruf“ menschlicher Geschichte (C. W. Atkinson), verweist durch das Suffix – wie Bürgerschaft oder Bauernschaft – auf normativ Reguliertes. Dies zeigt gesellschaftliche Anerkennung und verdeckt Individuelles. 96 Als „die Kirche“ Mitte des 13. Jahrhunderts begann, die Ehe intensiv zu kontrollieren, beschäftigten Intellektuelle sich verstärkt mit der Rolle von Ehefrauen und Denker suchten ein Modell wirtschaftlich aktiver Ehefrauen zu schaffen. Mit dem Konzept „Hauswirtin“ war dies seit langem gelebte Praxis. 97 Die Behauptung der Theologen, Frauen könnten ohne männliche ratio Gott nicht erkennen, diente der Monopolisierung des Arbeitsmarktsegmentes. Frauen seien durch Munt in feste Hände zu klaustrieren, Männer zu rational-kaltem Verhal-

Dass Lebewesen weibliche Eizellen hätten, argumentierte William Harvey (1568–1657), menschliche entdeckte erst Karl E. Baer (1827). Clarissa W. Atkinson, The Oldest Vocation. Christian Motherhood in the Middle Ages, Ithaca 1991, 23–63; Arnold, Kind und Gesellschaft, 29, 100, 111– 114; Jacques Rossiaud, Dame Venus. Prostitution im Mittelalter, übers. von Ernst Voltmer, München 1989 (frz. 1984), 82; Des Teufels Netz. Satirischdidaktisches Gedicht, hg von K. A. Barack, Stuttgart 1863, aus der 1. Hälfte 15. Jahrhundert, Z. 6559–6587. 94 Die Klosterbibliothek der Erentrudis-Nonnen enthielt laut Verzeichnis von 1496 medizinische und kräuterkundliche Bücher für Apotheke und Spital. Hayer und Schwembacher, Nonnberg, 10–11. 95 Manuskripte in der Universitätsbibliothek Leiden und Bodleian Library, Oxford. 96 Ibn Butlan, Tacuinum sanitatis in medicina, 2 Bde., nach dem Wiener Codex, hg. von Franz Unterkircher, Graz 1967; Das Debrecener Pflanzen- und Tierbuch (2. Viertel 15. Jahrhundert) stellte antike Schriften in mittelbayerischer Übersetzung zusammen. Monica H. Green (Hg. und Übers.), The Trotula. A Medieval Compendium of Women’s Medicine, Philadelphia 2001, 14–37, mit Verweisen auf die kontroverse Literatur; dies., Making Women’s Medicine Masculine: The Rise of Male Authority in Pre-Modern Gynaecology, Oxford 2008; Riché, Daily Life, 49–51. Eine Miniatur in Jean Bondol, Histoire ancienne jusqu’à César (1375), stellte drei Frauen bei einem Kaiserschnitt dar (Frugoni, „Frauenbilder“, 399, Abb. 32). 97 Silvana Veccio, „Die gute Gattin“, in: Klapisch-Zuber, Mittelalter, 119–145, hier 119–120. 92 93

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ten zu ermahnen. Ihre eigenen Gefühle verneinend, behaupteten sie, dass Männern ein den Verstand ausschaltender Liebesaffekt gefährlich sei und verurteilten verliebte Ehemänner und lustvolle eheliche Sexualität. Bildner sahen als Konsequenz von Sex und Erotik Kopf-lose Männer: Holofernes von Judith und Johannes („der Täufer“) auf Wunsch einer Tänzerin geköpft. Die ratio-ordo-Ideologen verstanden fließend-situationsangemessene und emotionale Religiosität nicht, denn sie passte nicht in strukturierte Liturgien und Gottesdienst-Choreografie. Gottesliebe war, wiederum anschaulich gezeigt durch Kirchenmaler, nur durch Beenden irdischer Liebe zu erreichen: Verbrennen von Amors Pfeilen oder ein Engel in Rüstung und mit Schwert als Verkünder himmlischer Liebe. Erst nach Verknappung der Ressource Mensch im Großen Sterben kamen neue Sichtweisen hinzu. Im 15. Jahrhundert erschien in Abhandlungen zum Familienleben die Erkenntnis, dass Frauen Seelen hätten; im 16. Jahrhundert empfahl Erasmus in Rotterdam Heirat und Familienleben mit Kindern, Thomas Morus in London die liebevolle Ernährung von Babys durch Mütter statt Ammen. Manche Beobachter erkannten, dass religiös-asexuelles Leben zu physischen und moralischen Gefährdungen führe. 98 Gläubige in der Salzburger Kirchenprovinz, die dies beobachten konnten, nannten ihren EB Bernhard (h. 1466–1482) Prunz-Zagel (Fickschwanz). 99 Laien hatten sich schon lange und weniger spekulativ mit Frauenrollen und Fürsorge beschäftigt. Sie verehrten, zum Beispiel, Hemma/Ema Krška schon zu Lebzeiten als Heilige. Geboren nach 980 in Bayern oder Slowenien, war Hemma am Bamberger Hof bei der Kaiserin aufgewachsen und sozialisiert. Ihren Mann, Markgraf Wilhelm, ermordete der Hz Kärnten 1036, ihre beiden Söhne ermordeten – nach Legenden – „übermütige Bergknappen“, um einer Bestrafung wegen sexueller Belästigung einer Bürgersfrau zu entgehen (Kap. 8.2). 100 Sie entschied sich, nicht erneut zu hei-

Abb. 9.11 Hemma von Gurk (Ema Krška) von Sebald Bopp, ~1500

raten und aus dem Einkommen ihrer Ländereien, Bergwerke und Münzrechte Verarmte zu versorgen. Ihre Kirchenbauten boten Arbeit und Lohn. Sie war verwandt mit der wohltätigen Hildegard, die slowenisch-sprachige Menschen im Drautal verehrten. 101 Die EB, institutionell-männlich, wollten dies nicht hinnehmen. Als Hemma die Erlaubnis des EB benötigte, um 1043 im Gurktal mit Hilfe von Erentrudis-Nonnen ein Kloster mit Maria geweihter Kirche für adlige Frauen zu errichten, forderte dieser Geld. Sie übergab Besitz-mit-Menschen bei Reichenburg/Save und Adegliaccio/Friaul. Testamentarisch vermachte sie, vermutlich aus Sorge vor habgierigem Zugriff benachbarter Adliger, große Gebiete südlich der Drau und östlich der Sann treusorgerisch dem Erzstift (1045/46). EB Gebhard schloss das Frauenstift um 1072 unter dem üblichen

Atkinson, Motherhood, erläutert die Entwicklung des Denkens im Mittelalter. Rüdiger Schnell, „Liebe und Freiheit. Ein literarischer Entwurf des männlichen Adels“, in: Neumeyer, Menschenbilder, 35–78, Barbara Könneker, „Der ‚verkehrte‘ Mensch. Narren, dörper, Schwankhelden in mittelalterlichen Texten“, ebd., 147–172. 99 Heinz Dopsch mit Michael Mitterauer, „Salzburg im Hochmittelalter“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:229–436, hier 253; Veccio, „Gattin“, 145. 100 Andere Versionen ließen den Grafen auf der Rückkehr von einer Pilgerfahrt nach Rom sterben, den Mörder der Söhne ebenfalls Adalbero sein. 101 Josef Till, Hemmas Welt. Hemma von Gurk. Ein Frauenschicksal im Mittelalter, Klagenfurt/Celovec 1999; Marlene Gradischnig, Hemma von Gurk: Leben, Werk und Verehrung, Diplomarbeit, Univ. Salzburg 2001. Ein Kleriker behauptete 1925, dass ein „dichter Schleier“ über der Umwandlung vom Kloster zum Eigenbistum läge. Seine Vorgänger hatten den Schleier gelegt. „Reliquien“ Hemmas sind Produkte späterer Zeiten. 98

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Vorwand sittlicher Verfehlungen und nutzte den Besitz samt Hemmas Mitteln für ein in Admont geplantes Männerkloster als Einnahmequelle. 102 Als er das Kloster schließlich einrichten ließ, verwendete er die Rechtsform „Eigenkloster“ und erwähnte in damnatio memoriae Hemma nicht. 103 Die Güter des Frauenstiftes wandelte er in sein Eigenbistum Gurk, 104 die Gläubigen erinnerten Hemmas fürsorgende Religiosität und im 14. Jahrhundert stellte ein Schnitzer Hemma mit Arbeiter*innen und Handwerker*innen dar. 105 Anders als Hemma lebte die asketische Witwe Ava (~1060–1127) als Inkluse in den Donauklöstern Göttweig und Melk. Sie beschrieb Kriege und Gewaltherrschaft ebenso wie Not und Verwirrung als Werk des Antichrist. Gerettet werde im Jüngsten Gericht nur, wer die Welt in „anständiger Weise“ besäße. In Gedichten beschrieb sie Jesus mit den Seelenkräften „der Furcht, Frömmigkeit (guote), Erkenntnis und Stärke […], Gedächtnis, Verstand und Willen […] Rat, Einsicht und Weisheit“ und die Leiden Jesu, Maria Magdalenas und Marias mit persönlicher Betroffenheit. Sie schrieb evangelientreu-systemkritisch und bezog sich auf apokryphe Schriften und Aspekte der Laienfrömmigkeit. 106 Autoren der Literaturgattung Speculum Virginum änderten die Parameter der GeschlechterDebatte. In einem dieser Jungfrauenspiegel (1140) wies der Dialog sowohl auf Geschlechterspannungen wie frauenspezifische Verehrungen. Ein wandernder Mann, Peregrinus, belehrte seine ortsgebundene Schülerin Theodora (griech. Gottes Geschenk). Die mit antiken Autoren vertraute Theodora trat als informiert Fragende auf und argumentierte, Hingabe an Gott bedeute Freiheit von

der „Fron der Ehe“, sie bedürfe zwar geistlicher Berater, läge jedoch spezifisch in der Person. Frauen seien „Miterbinnen unseres Königs und Retters“ und erlebten Hochzeit und Vereinigung: „da des ewigen Königs Braut,/ seine Taube, Schwester und Freundin,/ sich mit ihrem Bräutigam im Feuer vollkommener Liebe vereint,/ da die Braut jauchzt mit ihrem Bräutigam/ und die Einzige im Einzigen frohlocket ewiglich.“ Jungfrauenspiegel zirkulierten wie die Trotula-Texte in zahlreichen Abschriften. Wer las sie und zog welche Schlüsse? 107 Der dekretierte Ausschluss von Frauen von Altar und Sakrament-Spendung zwang sanctimoniales, Beichtväter und Kaplane zu beschäftigen. Diese verhielten sich gelegentlich unsittlich und einige durften ein Kloster – zum Beispiel das der Petersfrauen – nur in Begleitung eines zweiten Mannes als Aufseher betreten. Ein Papst (Bonifatius VIII.) bezeichnete Nonnen pauschal als sittenlos, gefährlich und widerwärtig (1298). Frauen sollten nicht reden, dürften aber innerlich imaginieren. Letzteres taten sie ohnehin und schufen, angeregt durch eine Vision der Augustinerin Juliana (Lüttich/Liège), wirkmächtig das Fest des heiligsten Leibes und Blutes Christi (Fronleichnam, Corpus Christi) als Altarsakrament. Körperliche Präsenz war Teil der Eucharistie: Brot und Wein wurden Körper Christi und gingen in die Körper der Gläubigen ein. Gläubige in Untergreutschach/Spodnje Krčanje (nahe Klagenfurt/Celovec) ließen in ihrer Kirche Christus sitzend darstellen, seinen Arm um Maria Ecclesia gelegt, flankiert von zwei Frauen mit Lilie und Schwert. Offenbar nahm der weltläufige Maler die Bildlichkeit von Santa Maria in Travestere (Rom) auf. Ein späterer Maler fügte Maria mit ihren Eltern,

Vgl. Ulrich Andermann, „Die unsittlichen und disziplinlosen Kanonissen. Ein Topos und seine Hintergründe, aufgezeigt am Beispiel sächsischer Frauenstifte (11.–13. Jahrhundert)“, Westfälische Zeitschrift 146 (1996), 39–63; Günther Jontes (Hg.), „‚1782 sünd wir aufgehoben worden‘ : Die Chronik des Benediktinerinnenstiftes Göß“, o. O., o. J., https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Essays/Geschichte/Chronik*des*Stiftes*G%C3% B6%C3%9F (12. September 2020). Kleriker differenzierten die Konsequenzen von Regelverstößen: Nonnen seien mit „großer Strenge“ zu bestrafen, Mönche müssten „sich reformieren“. 103 Niederländische Jesuiten (bes. Jean Bolland, 1596–1655) nahmen Hemma in ihre kritische Sammlung von Viten und Legenden, Acta Sanctorum, auf. 104 Das erzbischöfliche Eigenkirchenwesen, von Virgil im Fall weltlich-adliger Familien bekämpft, sicherte Grundherren Verfügungsgewalt und Einnahmen. 105 Julia Pörnbacher, Dom zu Gurk, Passau 2011. 106 Fritz P. Knapp, Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273, Graz 1994, 117–123, Zitate 119, 121–122. 107 Jutta Seyfarth (Übers. und Hg.), Speculum virginum – Jungfrauenspiegel, 4 Bde., Freiburg 2001, 7–47, Zitat 69; Matthäus Bernards, Speculum Virginum. Geistigkeit und Seelenleben der Frau im Hochmittelalter, Köln 1982, 210–213. Die Bildlichkeit stammte aus vorchristlichen, aber ideologisch akzeptierten oder annektierten Texten des AT. In Isaiah 62,1–5, war Jerusalem (feminin) Braut ihres göttlichen Erbauers. 102

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

Abb. 9.12 Darstellungen im Gurker Dom, die Gläubige beim Messbesuch sahen: a) Freskenprogramm in der Vorhalle, ~1340 (alpenländischer Meister, italienische Einflüsse)

Anna selbdritt und Maria als Pietá hinzu. 108 Männer hatten Frauen vom Altar entfernt, Frauen holten Christus enger zu sich. Religiose, deren Christus-, Marien- und Menschenbilder den Hierarchie-offiziellen oft entgegenstanden, wehrten sich gegen Eingriffe. Zisterzienserinnen, denen ein Bischof mitteilte, dass sie einem Abt unterstellt werden und höhere Abgaben leisten sollten, verließen den Raum unter lautem Protest (Kloster Parc aux Dames, Frankreich, 1243); Stiftsdamen in Obermünster (bei Regensburg) sperrten Bischof und Begleiter ein, als diese ihren Klosterschatz beschlagnahmen wollten (1470). In Salzburg visitierte 1451 der Kardinal, Pfründenjäger und Universalgebildete Nikolaus aus Kues/Cusanus Erentrudis-, Dom- und Peters-Klöster und verbot den Frauen Fleischspeise, Leinenkleider und Federbetten. Sie hielten sich nicht daran. 109 Den Stiftsfrauen in Göß verbot er, über Erbanteile und Besitz zu verfügen. Sie beschwerten sich beim Papst. In seinem Suffraganbistum Brixen versuchte er, die Benediktinerinnen des reichen Suanapurc/Sonnenburg (Pustertal, gegr. nach 1022) zu Klausur zu

b) Hemma auf dem Grünschieferstein sitzend, sieht dem Bau ihrer Marienkirche zu

c) Darstellung von Pilger*innen, die Heilung suchend um Hemmas Grab drängen

zwingen. Sie wehrten sich und er belegte sie mit Bann; sie blieben selbstständig, er nannte sie „diabolische Frauen“. Sein Kontrolleur, der keine sexuellen Verfehlungen nachweisen konnte, schrieb erbittert, dass nicht das Kloster, sondern das Geschlecht zu ändern sei. Gegner der Frauen töteten deren abgabepflichtigen Bauern-Familien. 110 Anlässlich der Visitation in Salzburg 1451 setzte sich der Kleriker Bernhard aus Kraiburg für mildere Regeln für die Nonnenklöster ein und sah, wie in humanistischem Denken üblich, Pluralität der Teil-

Hamburger und Marti, Crown and Veil, xv–xvi, 57–58; Dehio-Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs. Kärnten, Wien 2001, 983–984. Janet L. Nelson, The Frankish World, 750–900, London 1996, 199–200; R. W. Southern, Western Society and the Church in the Middle Ages, Harmondsworth 1970; Claudia Märtl, „pos verstockt weyber? Der Streit um die Lebensform der Regensburger Damenstifte im ausgehenden 15. Jahrhundert“, in: Regensburg, Bayern und Europa, hg. von Lothar Kolmer und Peter Segl, Regensburg 1995, 365–405; zu Kanonissen http://www.mittelalter-recherche. de/kanonissen.html (12. September 2020); Dopsch, „Klöster und Stifte“, 1.2:1012. 110 Josef Gelmi, Cusanus. Leben und Wirken des Universalgenies Nikolaus von Kues, Kevelaer 2017, 57–58; Esterl, Nonnberg. Die Äbtissin von Sonnenburg ersuchte 1494 um Bestrafung des volkh des Grafen von Görz. Dieses hatte das Kloster bei Nacht überfallen, die Kirche geschändet, die Türen zu den Zellen der Nonnen aufgerissen und diese waren, „wie sy Gott auf di erd beschaffen hat, nacket vor ihnen umbgeloffen“. Nadja Krajicek, Frauen in Notlagen. Suppliken an Maximilian I. als Selbstzeugnisse, Wien 2018, 85–88, Zitat 87. 108

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Abb. 9.13 Fresko in der Kirche in Untergreutschach, Mitte 14. Jh.

Abb. 9.15 Tanz der Gerippe, Schedel’sche Weltchronik, „Das siebte Alter der Welt“, 1493

Abb. 9.14 Maria Magdalena und der auferstandene Christus, wohlbeleibt als Gärtner, dargestellt von Lavinia Fontana (Bologna, 1581)

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

nahme am Göttlichen. Melker Kollegen warfen ihm Ketzerei vor. 111 Hätte das Berauben von Frauen oder Töten ihrer Unfreien Höllenstrafen nach sich ziehen können? Totentanz-Zyklen sahen die Hierarchen in der Hölle.

Abb. 9.16 Totentanz, Metnitzer Karner: Ein Franziskaner predigt zu Laien, ein Dominikaner zu den Hierarchen (Teilfresken rechts und links neben der Eingangstür)

Den Tod, immer präsent, schlossen die Lebenden in ihre Weltbilder ein. Sterbenden war das Sakrament (viaticum) wichtig und ihnen Nahestehende trauerten. Bildner personalisierten den Vorgang des Dahinscheidens als Macht und Tat. Der Tod – anfangs

auch „die Tödin“ als furchterregende Alte 112 – erschien dämonenhaft, später als Skelett, geschlechtslos, aber mit Sense, die nur Männer führten. Wie die Trennung von Lebenden und Toten wahrgenommen wurde, ist schwer nachzuvollziehen. Gebete und Seelenmessen sollten den Weg Gestorbener beeinflussen; unrecht zu Tode Gekommene gingen um; tote Heilige oder ein Splitter ihrer Gebeine hatten Kraft, den Lebenden zu helfen. Dies glaubten einfache Laien, die eine beinerne Reliquie berührten, und hohe Kleriker, die sich nahe Heiligen bestatten ließen. Tote waren gegenwärtig (O. G. Oexle) und wirkmächtig (R. Bartlett). Die Frage, wie der Seelenweg nach dem Tod verliefe, beschäftigte viele. Das Fegefeuer als „reinigend“ mag Menschen, die Stadtbrände oder den feuerlegenden „Roten“ erlebt hatten, nicht einleuchtend erschienen sein. Im Totentanz senste „Gevatter“ Tod alle dahin, ohne Rück-Sicht auf irdische Position oder ein geplantes Begräbnis in Altarnähe. Laien waren oft sicher, dass ihre Kleriker in der Hölle enden würden und Maler des 15. Jahrhunderts zeigten Erzbischöfe und Päpste im Höllenfeuer – Wiedergabe von Alltagserfahrung und spöttische Erkenntnis der „Kleinen“, wie Michail Bachtin für totalitäre Regimes gezeigt hat. 113

9.6 Totalitäre Kurie, „elende“ Humanität, neue Orden Die Wandlung der Kurie zum absolutistischen und totalitären Machtzentrum kritisierten Kleriker*innen und Laien seit dem 10./11. Jahrhundert. Die in ihrer Deutungsdominanz bedrohten Institutionskleriker reagierten mit einem umfassenden Verfolgungsapparat, persecuting society (R. I. Moore): Bußzwang als psychologische Kontrolle; Repression selbstdenkender Christen; Abgrenzung gegen Juden und Muslime durch Außenkriege und Pogrome genannte Innenkriege; Verfolgung von Leprösen,

Prostituierten und Zigeunern als Fremdkörper. Ihre Polizeiorganisation, die Dominikaner (s. u.), rekrutierte zusätzliches Personal und weitete die Verfolgungen auf Wucherer, Taubstumme und Stumme, „Idioten“, Homosexuelle („Sodomiten“) und „Manichäer“ aus. Im späten 15. Jahrhundert würde die Kirche Frauen als „Hexen“ brandmarken und sie von weltlichen Schergen verbrennen lassen. 114 Welcher institutionelle Bedarf begründete die Ausgrenzungen? Innere Gegner wie einst Arianer

Rainer Rudolf, „Bernhard von Kraiburg“, in: Wolfgang Stammler, Karl Langosch und Kurt Ruh (Hg.), Die Deutsche Literatur des Mittelalters, 13 Bde., Berlin 1978–2007, Verfasserlexikon, 1:769–772. 112 Buffalmacco, „Triumph des Todes“, Camposanto monumentale, Pisa, 1343, Abb. in Frugoni, „Frauenbilder“, 380. 113 Michail M. Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur, übers. von Gabriele Leupold, Frankfurt/M. 1995 (Dissertation 1940, russ. 1965, engl. 1968, dt. 1969 als Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur). 114 Robert I. Moore, The Formation of a Persecuting Society: Power and Deviance in Western Europe, 950–1250, Oxford 1987; David Nirenberg, Communities of Violence. Persecution of Minorities in the Middle Ages, Princeton 1996; Malcolm Lambert, Häresie im Mittelalter: Von den Katharern bis zu den Hussiten, übers. von Raul Niemann, Darmstadt 2001 (engl. 1977); Peter Putzer, Zigeunerverfolgung im Salzburgischen, Saalfelden 1996. Die Klaustrierung ansteckender Lepröser diente meist der Vorsorge, gelegentlich der Besitzakquisition. 111

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und äußere wie einst Wikinger gab es nicht mehr, doch bedrohten Konkurrenz-Päpste die Einheit der Organisation und die Geldwirtschaft stellte (Kirchen-) Adelswerte grundsätzlich in Frage. Geld wurde standardisierter Wert für die, die es besaßen. Kloster-Korporationen, die Grundpfand-gesicherte Kredite vergaben, erhielten Konkurrenz durch Finanziers. Die Behauptung, Geld sei schmutzig und beschmutzend, konnte Grund nicht sein, denn Adlige (Kleriker) verwendeten es und machten Schulden. In einer „Ökonomie der Gier“ (R. I. Moore) stiegen kleine Klöster ab, kirchliche und andere Großgrund-mit-Menschen-Besitzer auf. Laien beobachteten dies und erzählten in vielen Varianten von Gierigen, die ihre Seele dem Teufel verschrieben. 115 Die kirchlichen Dekretisten reagierten vielfältig und widersprüchlich. Sie griffen mit einem EheDekret (um 1100) energisch in weltliche Akkumulationsstrategien ein, indem sie Inzest konstruierten, die Unauflösbarkeit der Ehe postulierten, legitime Erben nur aus kirchlicher Heirat akzeptierten. Damit verboten sie die für Besitzarrondierung wichtigen Verwandten-Ehen und manchen jungen Menschen die Heirat aus Zuneigung. Magnaten-Familien konterten mit verändertem Erbrecht: Der älteste Sohn erhielt die Immobilie Burg, die jüngeren wurden Mobilien und mussten mit Rüstung, Pferden und Helfern ausgestattet als „Ritter“ ehrenhaften Dienst suchen. Manche fragten als Zeitarbeiter oder Söldner höhnisch, wozu Klerikale – anders als Jesus und Maria – Gold und Besitz bräuchten. Im weltlich städtischen Bereich suchten Patrizier, die bereits über Handelsmonopole verfügten, als Stadträte durch städtische Bordelle Monopole auf Prostitution, ein akzeptierter, aber un-ehr-licher Beruf. Im Rahmen der persecuting society sollten einzeln arbeitende Frauen wie Aussätzige behandelt und wie Juden gekennzeichnet werden. Auch hier Frag-würdiges: Prostituierte verkauften Körperliches, Kleriker Spirituelles. 116

Polit-ökonomisch, sozial-strukturell, kirchlich und juristisch bedeutete die Dekret-Um-Ordnung die Erfindung der Häresie als Verbrechen ohne Opfer und Täter ohne Tat sowie der Beleidigung Christi als Beleidigung seiner Vertreter auf Erden, Monopolisierung durch Verbot von Zusammenschlüssen außerhalb der Kirche und die Verurteilung von Hexerei unter Beibehalt von Wundern. 117 Verhasst war einfachen Gläubigen der „Bann“, der als Finanzinstrument – Gebühren für die Nutzung von Wald, von Wind für Mühlen, von Backöfen für Brot – tief in ihre Lebens-Mittel eingriff. Verhasst waren professionelle Abgaben-Einheber, oft Kleriker, die energisch und vielleicht brutal vorgingen. Der Prozess der Pauperisierung wandelte paupertas, Landlosigkeit, in intergenerationelle Machtlosigkeit und die wachsenden Schichten Verarmter erforderten aus Magnaten-Sicht zusätzliche Kontrollinstrumente. Für die Konstruktion von Devianz waren Aussätzige, die niemand ansehen mochte, besonders dienlich. Hass-Gewinnler stellten Devianz dramatisch dar, um sie tief zu verankern: Juden als Kindesmörder, Hexen als Viehtötende. Die Verinnerlichung von Angst – anders als Innerlichkeit des Glaubens – senkte die Kosten für den Unterdrückungsapparat (s. Kap. 11.3). Dies Regime-in-Installation war ein strategisch verfolgter Weg von segmentierter zu zentralisierter Herrschaft, von regionaler Vielfalt zu einheitlicher Profan- oder Kirchen-Herrschaft mit neuen Berufsprofilen und -gruppen: Wer Geld zählen und Schriftsätze siegeln konnte, hatte Macht. Lesen, Schreiben und Abrechnen übertrafen Geburt, Rang und Schwert; Kleriker mit Gehalt übertrumpften Ritter, Profess wurde Professionalisierung. Innerkirchlich kanalisierten und kaschierten Päpste und Kurie Kritik durch Zulassung von „Orden“ und ließen so zentralkirchlich-interne Pluralisierung und Laufbahnvielfalt zu. 118 Zur Stärkung innerer Geschlossenheit stellten die Legendenbildner auf Feindbilder um. Sie singu-

In dieser Zeit entstanden vielerlei Teufelserzählungen, „Des Teufels Netz“ (nach 1418), Geschichten vom „armen Teufel“ u.v. a. m. Eine Zusammenstellung verfasste Sigmund Feyerabend als Theatrum diabolorum, 1569. 116 Moore, Persecuting Society, 91–110. 117 Zu sexueller Deprivation gezwungene Mönche stellten sich eine satanische Verschwörung von wilde Orgien feiernden Hexen vor: Wollte man den Satan besiegen, müsse man Frauen bekämpfen. 118 Christoph Auffarth, „Mittelalterliche Modelle der Eingrenzung und Ausgrenzung religiöser Verschiedenheit“, in: Kippenberg, Rüpke und Stuckrad, Europäische Religionsgeschichte, 1:193–218, hier 199–208; Carla Casagrande, „Die beaufsichtigte Frau“, in: Klapisch-Zuber, Mittelalter, 85–118, hier 85– 86. 115

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larisierten „Juden“ und „Sarazenen“, beide sozial, liturgisch und doktrinär heterogen, und nutzten ein Ereignis zur Entfesselung von Hass: Kalif alHākim (Fatimiden-Familie) ließ 1009 die Grabeskirche in Jerusalem zerstören. Die Propagandisten in Rom verbreiteten fake news: Ein Jude habe ihm die monströse Tat eingeflüstert. Von Mainz bis Orleans „kam es“ zu Pogromen – wer ließ sie kommen und wer führte sie aus? Dass die Mutter des Kalifen das Heiligtum der Christen wiederaufbauen ließ, verschwiegen sie. Der Mönch Rodulfus Glaber schrieb in seiner düsteren Historiae (1046) von Weltverschwörung und Teufelswerk und schloss unmittelbar einen „Bericht“ über erste Ketzerei an: Eine Frau, Italienerin zudem und „voll des Teufels“, verführe sogar Kleriker – zu einer Zeit, in der die zugereiste Königin Frankreichs sich nach aquitanischer Mode freizügiger als die Pariser Elite kleidete. 119 Ihr Mann, König Robert II. („der Fromme“), ließ in Orleans vierzehn Kleriker, Gelehrte und Patrizier, die Luxus und Gebührenpflicht für Sakramente kritisiert hatten, als Häretiker verbrennen (1022). Im ZWH stellte Kaiser Heinrich IV. Juden unter Schutz und falsche Anklagen unter Strafe, doch erklärten die Päpste aus der Familie Conti, Lotario/Innozenz III. und sein Neffe Ugolino/Gregor IX. (1. H. 13. Jh.), Juden zu Sklav*innen, perpetua servitus iudaeorum. Auch Frauen, die mit Priestern lebten, sollten Sklavinnen werden und in italienischen Städten war Haussklaverei von Frauen noch üblich. 120 Die Konziliare, Salzburger eingeschlossen, die sich 1179 und 1215 zur 3. und 4. Lateransynode trafen, verboten die Zinsnahme als „schweren und unmäßigen Wucher [von Juden, …] mit dem sie das Vermögen von Christen in kurzer Zeit erschöpfen“ und erwähnten Zins-nehmende Kleriker und Korporationen nicht. Sozial verboten sie Juden und Sarazenen, christliche Haus-Sklav*innen zu beschäftigen, munizipal die Tätigkeit in öffentlichen Ämtern, rechtlich die Gültigkeit ihrer Zeugnisse. Sie schlossen Heiden von öffentlichen Ämtern aus, es muss sie also noch gegeben haben. Da Menschen

unterschiedlicher Religionen im Alltagsleben nicht voneinander zu unterscheiden waren, erzwangen sie – selbst standesgemäß gekleidet und ausgegliedert – eine visuelle Trennung durch Kleidung. Als um 1300 der Aufschwung der Städte in Rezession überging, „häuften sich“ Vorwürfe von Ritualmord und Brunnenvergiftung gegen Juden: Es folgten Ausweisungen durch den englischen König (Gascogne 1288/89, 1305, 1314, England 1290) und den französischen (1306). Beide folgten persönlichen Aversionen, der Hauptgrund war Geld. Philipp IV. wies anschließend die Lombarden aus Frankreich aus und ließ die 2000 Templer-Ritter – straff geführt und finanzstark – der Magie, Ketzerei und Sodomie beschuldigen und hinrichten (1307–1314). Die ZWR-Könige Karl IV., Sigismund und Wenzel verpfändeten zukünftige Judensteuern, futures, oder enteigneten die Menschen direkt (1388, 1390). Viele Betroffene flohen in Randgebiete von Böhmen über Mähren bis Österreich oder migrierten nach Litauen-Polen, oft auf Einladung der dortigen Herrscher. Manche Kleriker ließen den Pflegevater von Jesus, Joseph, durch Judenhut kennzeichnen und mit bäuerlich-tölpelhaften Zügen darstellen. 121 Innerchristlich führte die Kurie die Todesstrafe für abweichendes Denken ein: Der Dekretale „Zur Beseitigung der kriminellen Energie der unterschiedlichen Ketzer“ (Ad abolendam diversarum haeresium pravitatem, 1184) – kurz: „Schafft sie ab“ – folgte die Bulle „Konfisziert ihre Güter“ (Vergentis in senium, 1199), die die Inquisitoren auf eine sichere Finanzbasis stellte: „Ketzer“ wurden vor Beginn der inquisitio als solche abgestempelt, ihre Körper samt geistigem Vermögen durch schaustellende Verbrennung auf dem Scheiterhaufen vernichtet, ihr materielles Vermögen eingezogen. 1252 folgte Ad extirpanda, „Vernichtet sie“. 122 Das zugrunde liegende Menschenbild hatte Papst Innozenz III. in „Von der Mühsal und der Nichtswürdigkeit des menschlichen Daseins“ (De miseria humanae conditionis, 1195) zusammengefasst: „Aus Erde geformt ist der Mensch, empfangen in Schuld und geboren zur Pein. Er handelt schlecht …“. Die

Eine erste (Kampf-) Beschreibung von Häretikern (Bogumilen) verfasste im Rhein-Mosel-Raum der mit Bernhard (Clairvaux) befreundete Eberwin (Steinfeld). 120 Karl Forstner, „Die sogenannte Altbairische Beichte: Ältester Zeuge aus Mattsee (Anfang 9. Jahrhundert)“, MGSL 150 (2010), 49–54. 121 Vorwürfe von Ritualmord hatten viele Kulturgruppen gegen „Fremde“ erhoben. Moore, Persecuting Society, 27–45; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 226–232; Herbert Klein, „Zur Geschichte der Juden in Salzburg“, MGSL 108 (1968), 181–195. 122 Zu „Rom“ insgesamt Volker Reinhardt, Pontifex. Die Geschichte der Päpste von Petrus bis Franziskus, München 2017. 119

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Schrift wurde „Bestseller“ in manchen Kreisen. Innozenz legitimierte auch die Schwertbrüder, die baltische Menschen umbrachten. So klar diese Linie, so komplex Frontstellungen und persönliche Entwicklungen. Ein Bernhard (~1090–1153) zum Beispiel verließ mit Vater und Brüdern den weiblichen Teil der adligen Familie und nahm Wohnsitz im Kloster in Cîteaux (südlich von Dijon). Dessen Gründer Robert aus Molesme (~1028–1111) wollte mönchische Lebensweisen zu Askese und Arbeit zurückführen. Er scheiterte. Bernhard avancierte zum Abt in Clairvaux, kritisierte den höfischen Lebensstil der Kurienkleriker und Päpste und predigte erotisch aufgeladene Gottesliebe. Wie im „Hohelied“ Solomos für seine Braut Shulamit 123 seien Mönche verliebt, bereiteten das Bett mit Lilien und duftenden Rosen, sehnten sich nach Küssen, fieberten Gott entgegen. 124 Troubadours, in Aquitanien auch Frauen, schrieben weltliche Lieder gleichen Inhalts. In Familienpolitik wurde Bernhards Schwester Humbelina Priorin eines Klosters, ein Onkel war einflussreich im Templer-Orden. Die Salzburger Mönche und Nonnen lebten benediktinisch, Bernhards Reform-Benediktiner/Zisterzienser kamen als Konkurrenz hinzu (s. Kap. 8.3). 125 Er rief 1147 zu Gewaltmission durch Orient- und Balten-Kreuzzüge auf und organisierte eine schlagkräftige Mönchsgefolgschaft gegen die – von ihm konstruierte – Ketzer-Macht. Die Ketzer, „Füchslein“, bedrohten des Herren Weinberg – im Hohelied bedrohten sie Shulamits Sexualität. Frauen mit eigenem Glauben, wie zum Beispiel eine Gruppe in Köln, bezichtigte Bernhard der Promiskuität. Besitzsuchende Eliten trugen die Verfolgung nach außen, im „Wendenkreuzzug“ (1147) gegen „Elbslawen“ von der Trave bis zu Elbe und Oder 126 und in Stedingen (friesisches Unterwesergebiet) gegen christliche bäuerliche Familien, die sich selbst verwalteten. Als dort 1234 die „Kreuzfahrer“ des

Bremer Missions-EB siegten, notierte Amtsbruder Albert in Stade: „und so stark kam die Hand des Herrn über sie, dass in kurzer Zeit 6000 derselben zu Grunde gingen“. 127 Im Süden hatte Pisas Stadtelite im Balearenkreuzzug (1113) die Bewohner*innen der Inseln erobert, im Norden zogen Kreuzheere schwedischer Herrscher gegen Menschen finnischer Sprache und Kultur (13. Jh.). Dies schien von der Salzburger Kirchenprovinz weit entfernt, doch näherten sich die Deutsch-Ritter, die EB waren informiert, Ottokar zog gegen Balten. Ein freundliches Menschenbild vertrat im 9. Jahrhundert der irische, am fränkischen Hof und in Regensburg lebende Johannes Scottus Eriugena. Er sah Menschen als unmittelbar zu Gott gehörend und im Lauf der Gestirne eine harmonische Welt-Ordnung. 128 Nahe des lateinkirchlichen Zentrums und doch anfangs randständig engagierten sich Minderbrüder und -schwestern. In einem Vater-Sohn Konflikt löste sich Franz Bernardone (1181/82–1226), nach Berichten mit dramatischer Geste, in Assisi (Umbrien, östl. Roms) aus einer reichen Handelsfamilie. Wie viele hatte er in einen lokal-zentraleuropäischen Krieg (Staufer gegen Welfen) ziehen müssen und war mit Freunden im Gefängnis gelandet. Dies regte sie zum Nachdenken an. Sie wurden – unbeabsichtigt samt neuer Gedanken – frei-gekauft. Franz gab Geld seiner Familie für Arme aus und konnte begeistern. Da er Kirchen restaurieren ließ, nahm ihn der Bischof unter seinen Schutz. Sein Regel-loses Leben als Bettler mit – wie immer – zwölf Gefährten, die sich ioculatores Dei, Spaßmacher Gottes, nannten, irritierte hohe Kleriker. Die kriegsmüden fratres minores wollten in imitatio Christi leben: „Geht aber und predigt! […] Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben, auch keine Reisetasche, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Stecken“ (Mt. 10,7–10). „Rom“ anerkannte, dank Fürsprache des Bischofs, 1210 den Orden teil-

Shulamit sagt im Hohelied, „schwarz bin ich und lieblich“. Übersetzer machten sich Gedanken über die Hautfarbe und schrieben „schwarz, aber lieblich“. 124 Theolog*innen und Historiker*innen debattieren die Bedeutung des Textes: Sexualität, Erotik, Glaube als Freude und Genuss, Trunkenheit über den Reichtum des Hauses Gottes, Gottesliebe? In den 1490er Jahren kamen Bernhards Hohelied-Predigten in die Bibliothek des Erentrudis-Klosters. 125 Robert B. C. Huygens, „Idungus“, Neue Deutsche Biographie 10 (1974), 120, Online-Version (24. November 2018). 126 Bernhard rief auf einem Reichstag zu dem Kreuzkrieg auf. Durch Teilnahme konnten Ritter sich dem gleichzeitig vom Papst ausgerufenen Orientkreuzkrieg entziehen. 127 Albert von Stade, Chronik [1221–1256], übers. von Franz Wachter, Leipzig 1896, https://de.wikisource.org/wiki/Die_Chronik_des_Albert_von_Stade (12. September 2020). 128 Neumeyer, „Menschenbilder“, 9, 13. 123

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weise, 1223 endgültig; zur Befreiung vom Vorwurf des Irrweges erkannte Franz Regelhaftigkeit an. Letzteres war, angesichts schnell zu entzündender Scheiterhaufen, eine Überlebensfrage: Die Verkündung des „Ad abolendam“ lag nur 26 Jahre zurück. Im Jahr des 4. Restriktionskonzils, 1215, beobachtete der in kastilischer Kauffamilie sozialisierte Mönch Dominikus de Guzmán (~1170–1221) die Misserfolge der Zisterzienser-Magnaten, die prunkvoll gegen alternative Christen in der Grafschaft Toulouse agierten (s. u.). Er gründete einen nach ihm benannten, schon 1216 päpstlich akzeptierten Orden, dessen Mitglieder bescheidener leben und repressiv effektiver handeln sollten. Er wurde heiliggesprochen, sie bauten ab 1231 die Inquisition auf, nannten sich zwar Minderbrüder, konnten aber dank „Konfisziert ihre Güter“ reichhaltig leben. Ihre Hierarchie-Faszination war Laien bewusst. Sie ließen im Fresko des Karners in Metnitz einen Dominikaner darstellen, der zu Papst und Großen predigte und einen Franziskaner zu Kleinen. Gegenüber den Franziskanern eignete sich der amtierende Papst nur zwei Jahre nach Tod des Gründers die Definitionsmacht wieder an: Er sprach Franciscus 1226 heilig und ließ über seinem Grab eine Pracht-volle Klosteranlage mit Basilika errichten. Wie intendiert, spalteten sich die Brüder in Wohllebende (Konventuale oder Relaxati) und weiterhin Armut-praktizierende Apostolische oder Spirituale Fraticelli (Kleine Brüder, Minoriten). „Die Kirche“ verfolgte letztere, setzte sie gefangen, exilierte sie nach Armenien, zwang sie zur Flucht. 129 Franziskanern, die nach Pettau kamen, schenkte der dortige EB-Lehnsherr Einnahmen, damit sie den Zuschauenden nicht allzu ärmlich erschienen. Frauen schlossen sich ab 1212 auf Anregung von Klara, die sich ebenfalls aus einer bürgerlichwohlhabenden Familie in Assisi gelöst hatte, zu einem Orden zusammen. Die Klarissen lebten asketisch, halfen und erwarben das Vertrauen von Menschen, für die knappe Nahrung Alltag war. Ihr Weltbild war naturverbunden: Die Schöpfung von

Pflanzen und Tieren – von Theologen selten erwähnter Bibelabschnitt – war Lebenswelt der ländlichen Gläubigen mehr als die Schriften der Kirchenväter. Franziskus, dem die Bedeutung der ländlichen Welt ebenfalls bewusst war, hatte in wirksamer Schaustellung 1223 das Weih-nachtsEvangelium in einem Stall mit lebenden Tieren nachspielen lassen. Bäuerliche Menschen fütterten und molken Vieh auch an heiligen Abenden und die Stall-Esel-Ochs-Trope wurde konstitutiver Teil populärer Bildlichkeit. 130 Der sichtbare Luxus der Hierarchen und die gelebte Armut der Minderbrüder spalteten die Kleriker. Reichtums-Theologen stellten pauschal die Armut Christi und der Apostel in Frage, Scholastiker wie Thomas (Aquin, ~1225–1274) rechtfertigten Luxus: Es ginge Kardinälen nicht um Ruhm, sondern um das heilige Priesteramt und den Kult Gottes. Gold und Seelenheil waren für solche, die es besaßen, eng verbunden. Seine Summa theologiae contra gentiles sollte, wie Gratians Dekret-Kompilation, theologische Widersprüche, discordiae, verbinden oder verdecken. Seine Kollegen schrieben Handbücher für Argumente gegen Ketzer und Papst Johannes XXII. (geb. 1244 im Finanzzentrum Cahors, h. 1316–1334 in Avignon) verdammte das Armutsnarrativ. Auf welcher Seite standen gläubige Laien? „Rot scharlatin und sidin gewand,/ Das ist laster und is schand“, wussten sie. 131 Die Mendikanten-Orden hatten in der Kirchenprovinz Salzburg separat von Pfarren ihre Termineien (terminus, umgrenzter Bezirk) für Seelsorge und das Sammeln von Almosen eingerichtet und Wanderprediger lebten von der Zustimmung ihrer verarmten massenhaften Zuhörer*innen, den pauperes Christi. Augustiner aus München (seit 1407), Franziskaner in Wels und Dominikaner in Friesach wirkten in der Diözese und kauften in Salzburg-Residenzstadt größere und kleinere Gebäude als Stützpunkte und Lagerhäuser für Naturalalmosen. Domprobst, Suffragane und EB beschwerten sich 1402 beim Papst über die Termineiprivilegien. 132 Die Gläubigen nahmen 1309 eine unerwartete

Der Eremit-Papst Coelestin V. rief sie 1294 zurück. Sein Nachfolger, Papstneffe und Papst Benedetto Caetani/Benedikt VIII. aus der fünften der großen Papstfamilien, Anagni, der 1300 als heiliges Jahr ausrief, ließ die Inquisitoren zuschlagen: Ihre Verurteilung 1299 gab sie weltlichen Gewalten/ Gewalttätern zur Vernichtung frei, die den Initiator der Apostelbrüder Fra Dolcino 1307 verbrannten. 130 Sie wurde vereinzelt seit dem 4. Jahrhundert verwendet. Heinrich Schmidt und Margarethe Schmidt, Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst, München 2007, 86–93. 131 Des Teufels Netz, Z. 3195–3196. 132 Johann Sallaberger, „Die Präsenz der Bettelorden mittels Mendikanten-Termineien im mittelalterlichen Salzburg“, MGSL 144 (2004), 45–98. 129

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Migration wahr: Person-samt-Institution „Rom“ migrierte nach Avignon 133 und residierte nach Zweiteilung 1377 bis 1417 sowohl in Avignon als auch in Rom. Ein Grund für den Umzug war die Besteuerung kirchlichen Besitzes durch den französischen König, die der Papst mit der Bulle Clericis Laicos (1296) verhindern wollte, ein anderer die Fraktionskämpfe adliger Familien in Rom. Die seit Klimaverschlechterung und europaweiter Hungersnot 1315 sinkenden Zehnteinnahmen ergänzten oder ersetzten Papst-Kardinäle-Kurie durch die Servitien, Annaten und Pfründenvergaben (Präemptionen) – Räuberhauptleute in Kardinalspurpur? Sie begannen ein gewaltiges Bauprogramm in Avignon und im Jahr der Pest bezog der Papst seinen neuen Palast, von außen Wehr- und vorausschau-

ende Verteidigungsanlage gegen Konkurrenten und Gegner, im Inneren Bürozentrum, konzentrisch auf den Thronsaal ausgerichtet. Salzburger EB, die dort ihre Investiturgebühren zahlten, lernten die Produkte transeuropäisch migrierender Luxushandwerker*innen kennen. Wer die Gebühren nicht zahlen konnte, musste hohe Zinsen auf ausstehende Summen kalkulieren. Alle erlebten großartige Empfänge und prunkverliebte Herrscher, die weltliche übertreffen wollten. 134 Mit Beginn des Obödienz-Streites, 1378, mussten die EB sich entscheiden, ob sie nach Rom oder Avignon reisten. Wussten Gemeindemitglieder davon? Was erzählten Bauleute der Paläste und die Luxushandwerker auf ihren Wanderungen? Der italienische Dichter Petrarca erlebte die Stadt als Sündenpfuhl.

9.7 Institution Kirche: Apparat und hohe Kleriker in der Kirchenprovinz Salzburg 135 Die Verwaltung der Provinz mit Laien deutscher, slawischer und italienischer Dialekte hatte der 987 amtierende EB systematisiert und verweltlicht. Die neuen Dienstmannen stiegen auf, agierten als Immobilien- und Zinsbesitzer und schufen sich Genealogien als ministeriales Rudberti. Absteigende Edle und aufsteigende Ministerialen verschmolzen zu niederem Adel, der Allod-besitzende alte oder „hohe“ Adel behauptete sich samt konstruierter Abstammung von germanischen Heerführern und anderen. Ministerialen wirkten als nachdenkliche, gebildete Berater, Soldatenführer oder Apparatschiks und nutzten die Fehden und Schwächen der EB, um Teile der Herrschaftspraxis an sich zu ziehen. Im 11. Jahrhundert förderten Klostergründungen, ein verbessertes Wegenetz und neue Brücken die territoriale Geschlossenheit. Die Abgrenzung der Kirchsprengel ließ Kulturlandschaft „abgesteckt“ und aus der Ferne kontrollierbar werden. Pflegherren übten niedere Gerichtsbarkeit aus, die

Pflegschaften hatten das „Aufgebot“ von Bewaffneten zu stellen, dem Burggrafen in Salzburg unterstand das Militär. Geistliche von Rang trafen sich als Prälaten- oder Vorsteherversammlung und Provinzialsynoden befassten sich mit „Seelsorge“, das heißt mit der Besetzung von Pfarren und Kapellen. Diese doppelte Teilung, oben-unten und StadtLand, die die Position der Laien massiv verschlechterte, nannte Robert I. Moore eine erste europäische Revolution. Im Rahmen der Großfehde Päpste ←→ Kaiser seit 1076 mit langer Provinzfehde zwischen EBpäpstlich und EBkaiserlich entließ der Kaiser den seinigen und ernannte 1106 Konrad aus der bayerischen Grafenfamilie Abersberg (I., h. 1106–1147). Der Vorgang war un-regel-mäßig, denn der Papst durfte erst nachträglich zustimmen. Konrads Eltern hatten ihn als Kind Gott geweiht; seine Brüder verweigerten ihm seinen Erbteil, da er von „reichen“ Pfründen leben könne; er schwelgte in prunkvoller Klei-

Avignon war kurz zuvor päpstlich akquiriertes Territorium, nicht französisch-dynastisches. Reinhardt, Pontifex, 389–432. 135 Dies Kapitel beruht weitgehend auf Heinz Dopsch, „Die Zeit der Karolinger und Ottonen“, „Salzburg im Hochmittelalter. Die äußere Entwicklung“ und „Die Entstehung des Territoriums“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:157–213, 229–346; sowie Hermann, Dopsch und Paarhammer, „Salzburger Kirche“, ebd., 1.2:983–1070; Judas T. Zauner, Chronik von Salzburg, 2. Teil, Salzburg 1796. Während Dopsch imperiale und sacerdotiale Aktivitäten der EB betonte, stellte Zauner Auseinandersetzungen in und um die Diözese in den Vordergrund und schilderte Verwüstungen mit eindringlichen Zitaten aus zeitgenössischen Quellen. Zauner, aus einer bäuerlichen Familie, gelang es, im Kloster Michaelbeuern zu studieren. Er schrieb, als Napoleons Heere das „Alte Reich“ erobert hatten. Wie er dies oder die Französische Revolution wahrnahm, ist seinem Vorwort zum 4. Teil (1800) nicht zu entnehmen. 133

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dung. Als Mitglied der Hofkapelle König Heinrichs IV. hatte Konrad dessen Lebensstil – und vermutlich den anderer – kritisiert 136 und Heinrichs zweiten Sohn unterstützt, als dieser sich gegen den Vater erhob. Die Erhebung zum Erzbischof mag dessen Dank gewesen sein. Konrad plante Konsolidierung und Neuerung, Ministerialen fürchteten um ihre reiche Ausstattung, Domherren um ihre weltliche Lebensweise. Sie wollten seinen Einritt verhindern, er ließ sich von zahlreichen Bewaffneten begleiten. Als er im Dom, wie alle Kathedralen Rahmen für herrschaftliche Schauspiele, 137 seine erste Messe las, zerstörten Knechte seiner Gegner das angerichtete Festmahl. Konrads erste Aufgabe war der Nachkriegs-Wiederaufbau des durch die EB-Fehde schwer geschädigten Erzstifts. Er kämpfte um Rückstellung von Gebieten, die Kaiserliche annektiert/geraubt hatten. Seine Reformen, unterstützt von religiösen Frauen und einem Berater-Team, zeigten die Möglichkeiten, die das Amt über Egozentrik, Selbstbedienung und Fehdeführung hinaus bot. Doch stand Konrad zwischen imperial-kurialem Sacerdotium und weltlichem Regnum. In dem Investitur-Durcheinander ließ der König den gerade amtierenden Papst gefangen nehmen, dieser krönte ihn zum Kaiser und kam frei. Konrad, prokaiserlich, wechselte seine Position zu pro-päpstlich. Als er plante, die strikte Hirsauer Regel einzuführen, vertrieben Kleriker und Dienstmannen ihn 1112. Er und seine Begleiter fanden Schutz bei Gräfin Mathilde in Tuszien, die König Heinrich IV. und Papst Gregor VII. versöhnt hatte, und später lebte Konrad im Kloster Admont, der Abtei Benediktbeuern und in Sachsen. Welche Anregungen nahm er auf? Benediktbeuern hatte der Augsburger Bischof Ulrich nach Zerstörung durch ungarische Trupps als Doppelkloster mit Nonnen in Kochel neu eingerichtet und das Wappen zeigte den Doppelstab von Abt und Äbtissin. Auch in Sachsen lernte Konrad Doppelklöster kennen. Durch Fürsprache des Hz in Bayern und anderer Magnaten konnte er ein Jahrzehnt später nach Salzburg zu-

rückkehren. Er fügte den Domherren und Petersmännern Dom- und Petersfrauen hinzu. Sprachlich wäre Domherren „Domdamen“ gleichgestellt oder, umgekehrt, Domfrauen „Dommänner“. Die häufig verwendete Bezeichnung „Stiftsdamen“ reflektierte die wohlhabende Lebensweise mit Möglichkeit zu Familienbesuchen. 138 Konrads Berater und Suffraganbischöfe waren weit ge- und bewandert: Hartman wirkte in Klosterneuburg, dann im 600 Kilometer Tal- und Bergwege entfernten Brixen; Hiltebold, Kriegsmann „von außerordentlichen Fähigkeiten“, und Roman waren Eigenbischöfe in Gurk; Gerhoch in Augsburg, der „sündhaft“ unter einem durch Amtskauf zur „Würde“ gekommenen Bischof gelebt hatte, wechselte Leben und Ansichten und setzte sich derart energisch für die Regulierung von Kanonikern ein, dass seine Gegner ihn als Häretiker anklagten. Als Probst von Kloster Reichersberg am Inn sah er die Lateinkirche pessimistisch, entwickelte sich jedoch im Alter zu einem so rigoros pro-päpstlichen Theoretiker, dass Kaiser Friedrich I. ihn 1167 bannte und das Kloster niederbrennen ließ. Die Zahl der zwölf mit reichen Pfründen versehenen Herren des Domkapitels, ursprünglich eine Art Gilde oder Zeche der Kleriker, die an Liturgie und Stundengebeten in einer Kathedrale mitwirkten, verdoppelte EB Konrad entgegen Hirsauer Askese und zwang sie, gemäß den Regeln des nach Augustinus benannten Ordens als Regularkanoniker zu leben. Über den Verbleib ihrer Partnerinnen ist nicht geforscht worden. Der Orden geriet schnell in Verfall und würde ab 1215 erneut korrigiert werden. Angesichts der Kosten der Domherren und der Reformstifte bildete der EB ein Dominikalgut mit dienst- und abgabenpflichtigen Unfreien in standesgemäßer Menge. Das großangelegte und mit Härte durchgeführte Reformprogramm kam nach Konrads Tod, wie die Sprache es ausdrückt, „zum Erliegen“. Nicht das Programm legte sich nieder, sondern viele hatten es von Anfang an nicht mitgetragen. 139 In Gurk im Kärntner Osten der Provinz akqui-

Heinrich, als Kind mit Bertha von Turin verheiratet, hatte sie als Jugendlicher mit Gewalt zurückweisen wollen, aber nach öffentlichen Verhandlungen einlenken müssen. Sie begleitete ihn nach Canossa. Seine zweite Frau, Praxedis/Adelheid aus Kiew, beschuldigte ihn auf der Synode von Piacenza (bei der EB Thiemo anwesend war) „unerhörter Scheußlichkeiten der Unzucht“. 137 Heers, Vom Mummenschanz zum Machttheater, 53–54. 138 Birgit Wiedl, „Konrad I. von Abenberg (1106–1147): Reformer im Erzstift“, Salzburg Archiv 24 (1998), 63–82; Heinz Dopsch und Franz Machilek, „Erzbischof Konrad I. von Salzburg und seine Familie: Die Grafen von Abenberg-Frensdorf in Franken“, MGSL 146 (2006), 9–50. 139 Zauner und Gärtner, Chronik, 137; Dopsch mit Mitterauer, „Hochmittelalter“, 1.1:254–273. 136

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rierten die Eigenbischöfe zügig Grund-mit-Slawisch-Sprechenden, diversifizierten in Wege-, Maut- und Schürfrechte sowie andere Einkommen und ließen sich angesichts des Widerstandes der lokalen Gläubigen Sicherheits-halber die „Straßburg“ bauen. Als sie die Lösung vom Salzburger CEO anstrebten, fehlte ihnen genealogia-Legitimation und so beseitigte ihr Kaplan Conrad Hemmas Gründungsurkunden und fälschte neue. Wirtschaftsfachleute transferierten Hemmas Gebeine als Spendeneinbringendes Ziel für Wallfahrer*innen in die Krypta des noch unfertigen Doms. 140 Der amtierende EB griff ein und im „Bischofskrieg“ 1179/80 zerstörten seine Söldner nicht die Burg, sondern die unterhalb gelegene Siedlung der zivilen Zehntzahlenden. 141 Die nachfolgenden EB handelten ebenfalls im Rahmen der Sacerdotium-Imperium- und BayernÖsterreich-Konflikte. Eberhard (I., 1147–1164), mit etwa sechzig Jahren bei Amtsantritt fast doppelt so alt wie Konrad, hatte als Jugendlicher aus dem Bamberger Domkapitel fliehen wollen, im Kloster Michelsberg gelebt und in Paris studiert. Er widmete sich den Klöstern, viele weiterhin Siedlungsinseln in Waldgebieten, und vermittelte weltlich unter anderem zwischen den Babenberg-Brüdern Konrad (Bischof Passau, dann EB Salzburg) und Heinrich II. (Hz Bayern, dann ducatus Austriae), die sich bekriegten. Dank seines friedlichen Auftretens verehrten Gläubige ihn früh und erinnerten Wunder an seinem Grab. 142 Kein Kleriker durfte ohne den Papst, gewissermaßen privatrechtlich, eigene Bischöfe ernennen und die Eigenkirchen Weltadliger hatte bereits Virgil abgeschafft. Doch EB Gebhard hatte die Regel missachtet und das Vikariat Gurk als Eigenbistum organisiert, da ihm angesichts der Gebirgswege die „Seelen“ zu schwer zu erreichen waren. 143 Diesen Präzedenzfall nutzte EB Eberhard II. und legte, ebenfalls im Osten, die Eigenbistümer Seckau (1218) und Lavant (1228) an sowie Chiemsee (1215) im Westen. Die Mittel für letzteres wollte er durch

Aufhebung des Frauenklosters Chiemsee freimachen und behauptete, dass dort die „Zucht gänzlich verfallen“ sei. Die Nonnen riefen den Papst an, dessen Kommissäre verwarfen die Anschuldigungen. 144 Derartige Aneignung war Teil des Systems: Wie im Todfall„recht“ gegenüber Unfreien fiel die Nutzung beweglicher Hinterlassenschaft verstorbener Kleriker an den EB und ebenso alle Rechte bei Sedisvakanzen. Zeitgenoss*innen nannten den Vorgang ius rapite capite, das Recht schnellen An-sich-raffens. Sich etwas „rips raps aneignen“ wurde geflügeltes Wort. „Recht“ ist ein vielseitiger Begriff. In der Residenzstadt stritten Domkapitel und Kloster St. Peter, beide ehrwürdig, um den Vortritt bei Prozessionen. Die Mönche, denen EB Konrad I. das Recht, den Erzbischof zu wählen, zugunsten der Domherren genommen hatte, fälschten Urkunden zur Stützung ihrer Ansprüche. Die AugustinerChorherren expandierten lokal zu einem der größten Immobilienbesitzer, ihr Orden expandierte in der Ferne durch Einrichtung von Stützpunkten an der Ägäis nach der Eroberung Konstantinopels durch Muslime. In Salzburg wählten die Domherren seit 1312 die Erzbischöfe fast ausschließlich aus ihren Reihen und verteilten „Dignitäten“ unter sich: Dekan für Liturgie, Kustos für Materielles, Scholasticus und Kantor, Oblajar für Einnahmen, Spitalmeister. Sie besaßen die unfreiwillig von den St. Peter-Mönchen abgetretene Position des Stadt-, das heißt des ranghöchsten Pfarrers. Ein „Ökonom“ oder „Pfleger“ bearbeitete „geistliche und weltliche Sachen des Gotteshauses“. Wohlhabende Familien sandten ausgewählte Söhne in die Domschule, Stipendien für Ärmere gab es nicht. Dompröbste waren eitel und erstritten sich vom Papst das Recht, bischöfliche Pontifikalien einschließlich des Bischofsstabs zu tragen; St. Peter-Abt Berthold, ebenfalls eitel, durfte sich an Festtagen mit Mitra zeigen (seit 1230). Die Äbtissin des Erentrudis-Klosters folgte 1242, trug aber eine Krone statt Mitra. Die Diözesanverwaltung unterstand einem Archidiakon, der den EB während Reisen, Fehde- und

Das Grab grenzten lokale Kleriker 1720/21 mit Marmorschranken und schmiedeeisernem Gitter ab, so dass Laien sich ihm nicht mehr nähern konnten. 141 Peter Štih, Vasko Simoniti und Peter Vodopivec, Slowenische Geschichte: Gesellschaft, Politik, Kultur, Graz 2008, 58–65, 91–118. 142 Ein späterer EB, Wolf Dietrich, ließ die Gebeine anderswohin transferieren. Sie gingen verloren. 143 Gebhard verweigerte dem Eigenbischof Einnahmen; der Papst musste dem Unterkleriker zu Unterhalt verhelfen. 144 Da der weltliche Bischof nicht im Regularkloster Chiemsee residieren durfte, erhielt er Pfarren und andere Güter als Pfründen. Gegen die Einrichtung von Seckau protestierte stellvertretend für Hz Leopold VI. Herzogin Theodora (aus Ostrom) wegen Verletzung herzoglicher Rechte. Der EB reagierte nicht. 140

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Kriegszügen vertrat. Schon um 800 warfen Kollegen den Archidiakonen Habsucht, schlechten Lebenswandel und Schändung des Amtes vor und Kritik an ihrer Tyrannei bei Abgabeneinzug blieb Teil kirchlichen Lebens. Ihnen oblag die „Seelsorge“ und sie waren „Auge des Erzbischofs“ bei der Verfolgung von Wahrsagerei, Zauberei, Zukunftsdeuterei. Sie übernahmen Qualitäts-controlling über Pfarrpriester und Finanz-controlling über den Zehnteinzug. Rang-eleien und Streitereien zwischen Klerikern aller Ebenen endeten nie: Pfründen – oft verdinglicht zu „Territorien“ – grenzten aneinander, Interessen stießen zusammen, Positionen und Einkünfte wurden verglichen, Kleidung und Altäre in Konkurrenz ausgeschmückt. Hinzu kamen Probleme zwischen Persönlichkeiten und um Glaubens- und Ritualpräferenzen. Für die wenige Dutzend Männer wurde eine eigene Schlichtungsinstanz notwendig, aber den zuständigen Provinzialsynoden gehörten höhere Weltadlige, Hofbeamte, Grafen und Vögte an. Da nach Ansicht der EB die Bestrafung einzelner Geistlicher durch Weltliche dem Ansehen aller Geistlichen abträglich war, trennten sie die beiden Stände. In einer Pfarrordnung (11. Jh.) legten Synodale Sendgerichte und deren Prozedere fest: Inquisitoren befragten Pfarrer nach ihrem Wissensstand zu Bibel und Liturgie, untersuchten die Erfüllung von Amtspflichten, gingen Gerüchten und Klagen nach, bestraften Vergehen, kontrollierten liturgische und geistliche Bücher und Amtsgerät. „Gotteshausbücher“ dienten der Buchführung. 145 Die Kleriker, die weltlich nicht tätig sein sollten, aber die Abgabe ihrer weltlichen Rechte und Einnahmen im Investiturstreit 1111 dramatisch abgelehnt hatten (s. Kap. 6.7), beschäftigten Vögte und Untervögte. In alles griffen die Päpste, die sich nach ihrem Sieg im Investitur-Machtkampf als Iudex ordinarius omnium sahen, ein. Sie erhielten „Einfluss in die entlegensten Täler und Regionen der damaligen [lateinischen] Christenheit und konnten so lokale gewohnheitsrechtliche Eigenheiten zugunsten des allgemeinen Kirchenrechts zurückdrängen.“ 146

1164 wählten die Domherren in einer Blitzaktion Konrad II. (h. 1164–1168) aus der aufsteigenden Familie Babenberg, um kaiserlichem Eingriff zuvorzukommen. Er war ein Beispiel für Streit nicht vermeidende Familienvernetzung: Halbbruder eines Gegenkönigs (h. 1127–1135) und König Konrads (h. 1138–1152) sowie Halbonkel Kaiser Friedrichs I. (gekrönt 1155). Seine Eltern waren der Graf der Marcha orientalis Leopold III. („der Heilige“) und Agnes, Tochter eines Kaisers. Ein Halbbruder, über Heirat verbunden mit den Herrscherfamilien in Polen, Ungarn, Kroatien und Kiew, war Vogt aller österreichischen Klöster. Bruder Otto hatte in Paris unter anderem bei Peter Abelard studiert und war Bischof von Freising und Historiker seines Neffen, des Kaisers (Gesta Friderici Imperatoris); er hatte das Desaster des zweiten Kreuzzuges knapp überlebt und konnte als Hofhistoriker auf Wohlwollen für sein Kloster hoffen. Bruder Heinrich II. war Hz von Österreich. Konrads Vita hob seinen ungewöhnlich untadeligen Lebenswandel hervor. Er agierte antikaiserlich, doch war pro-päpstliche Loyalität schwierig, da es derer mehrere gab und sich in der Kirchenprovinz Anhänger Alexanders und Viktors sowie Neutrale gegenüberstanden. 147 Alexander dankte Konrad für seine „treue“ Haltung mit Ernennung zum „ständigen päpstlichen Legaten für ganz Deutschland“ und schuf damit eine weitere Konfliktlinie, denn die anderen Bischöfe goutierten dies nicht. 1166 ritten fast 500 angehende Kleriker aus großen Entfernungen nach Salzburg, um von einem Alexander-treuen Bischof konsekriert zu werden und nach seiner Flucht aus dem Nordteil der Diözese ritten Klosterneuburger Kleriker zu ihm ins Gebirge, um die Weihe durch den kaisertreuen Suffragan Rupert in Passau zu vermeiden. Wie Pfarrer den Reiseverkehr ihren Gemeindemitgliedern erläutert haben, ist nicht untersucht. In weiterem Durcheinander wählten die Domherren 1168 den unreifen Sohn des Königspaars in Böhmen, Adalbert, der nur Diakon war, und inthronisierten ihn heimlich. Er nannte sich „von

Kruppa, Pfarreien im Mittelalter; Christian Schwab, „Geistliche Gerichtsbarkeit“, in: Historisches Lexikon Bayerns, https://www.historischeslexikon-bayerns.de/Lexikon/Geistliche_Gerichtsbarkeit (22. August 2020). 146 Johann Paarhammer, „Die geistliche Gerichtsbarkeit“, in: Geschichte Salzburgs, 1.2:1059. 147 Fraktionen im Kardinalskollegium hatten 1159 den römisch-absolutistischen Roland Bandinelli (Alexander III.) und den kaiserfreundlichen Kardinal Oktavian (Viktor IV.) ausgerufen. 145

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Gottes Gnaden Erzbischof“, holte sich jedoch die Regalien nicht. Kaiser Friedrich I., dessen Unterstützer 1167 Salzburg-Stadt angezündet hatten, drohte an, erneut Stadt, Dörfer, Klöster und Kirchen zu zerstören. Adalbert, flüchtig, verzichtete, widerrief, versprach laut Berichten eine enorme Geldsumme für das Erzbistum und wurde, modern ausgedrückt, steckbrieflich gesucht. 148 1174 wurde Heinrich, Propst in Berchtesgaden, EB, jedoch schon 1177 zurückgestuft und als Bischof nach Brixen geschickt, damit Kardinal Konrad III. (Wittelsbach), EBa. D. aus Mainz, vom Kaiser Diözese und Provinz als Versorgung erhalten konnte. Er begann den Neubau des von Kaiser Friedrichs Anhängern eingeäscherten Doms (s. Kap. 8.3). 149 Als sein Mainzer Konkurrent Christian, tätig als Heerführer in Italien, an Malaria starb, ritt Konrad III. mit Gefolge zurück nach Mainz. 150 Der Kaiser befahl den Domherren, Adalbert erneut zu wählen. Die Verfahrenskosten waren hoch. Die Ministerialen suchten Adalbert (III.), jetzt diplomatisch und wirtschaftlich klug, 1198 durch Gefangennahme zu erpressen – vergeblich. Er ließ sich das Bergregal für Salz und Metalle bestätigen, förderte Salzhandel und Friesacher Münze, erweiterte die bilinguale Diözese an der Save (Gurkfeld, Krško), sorgte für Arme und beteiligte sich an Spitalsgründungen im Zillertal, an der Drau und am Pyhrn. Für viele Menschen war das Leben schwierig: Während einer langjährigen Fehde der Grafen in Ortenburg 151 nahe Passau zerstörten seit etwa 1190 alle Seiten Dörfer systematisch und brutal; ein Großbrand vernichtete 1200 erhebliche Teile von Salzburg-Stadt; in Ostbayern „herrschte“ 1203 eine verheerende Fehde zwischen Hz Wittelsbach (Ludwig I.) und dem Bischof in Regensburg (Konrad III.). Auf weltlich-imperialer Ebene führten die Familien Welf und Staufen nach 1197 Thronfolgekriege, auf kirchlich-imperialer Ebene herrschten nach dem Tod von Alexander III. fünf Päpste sehr

unterschiedlicher Persönlichkeit, Offenheit und Machtstrebigkeit (1181–1198). Sie nahmen, vermutlich anders als einfache Gläubige, die Gottesfriedensbewegung nicht wahr (s. Kap. 7.9). 152 Anderthalb Jahrhunderte nach EB Gebhards Kriegseintritt beendete der viereinhalb Jahrzehnte regierende EB Eberhard II. die Beteiligung an den interimperialen Auseinandersetzungen. Seine Wahl (im Alter von ca. dreißig Jahren) kassierte Papst Innozenz III.: Als Bischof in Brixen hatte Eberhard in Speyer eine Erklärung gegen Usurpation von Reichsrechten durch „Rom“ unterschrieben. Erneute Wahl, Romreise, Verhandlungen „mit viel Mühe“, Pallium vermutlich nach Gegenleistung. Geschenke von Königsseite folgten als Gegengewicht. Der EB aus der Thurgauer und schwäbischen Familie Regensberg handelte strategisch. Er konsolidierte die Streubesitz-Grundherrschaft zu einem Territorium, denn er befürchtete dessen Aufteilung durch begierige Nachbarherrscher angesichts des Trends, tauschbare Territorien zu weltlich-fester „Landesherrschaft“ zusammenzufügen: Übertragung unfrei wirtschaftender Menschen, Kauf und Tausch von Herrschaften, Entgrafung, Kontrolle eines weiteren Passes und Gebietserweiterung im Voralpenland. Für die Arrondierung und den Ausbau des Besitzes in Kärnten und Steiermark verwendete er große Summen aus Einnahmen der Halleiner Salzsiederei (s. Kap. 8.3). Zur Herrschaftsarrondierung wirkte er aktiv gegen Stadtrechte (s. Kap. 8.7), zeitweise lebte der bauernfeindliche Dichter Neidhard Reuenthal an seinem Hof. 153 Eberhard inspizierte Pfarren und schlichtete Streitigkeiten zwischen Pfarrern, zum Beispiel um Besitz von Unfreien. Er strafte: Als sein höriger, mit Grenzverteidigung beauftragter Dienstmann Karl (Guetach oder Gutrat) sich mit einer Frau verheiratete, die nicht zur familia ecclesiae Salisburgensis gehörte, nahm er ihm sein beneficium und stattete damit den soeben eingesetzten Eigenbischof in

Dopsch mit Mitterauer, „Hochmittelalter“, 1.1:274–296. EBinterim Heinrich erscheint in damnatio memoriae in der Liste der Salzburger EB nicht. 150 Konrad war dank Papst auch Kardinalpriester mit „Titelkirche“ San Marcello (Rom) und Kardinalbischof von Santa Sabina (westl. Roms) sowie Bischof von Sora (Kampanien). Als ernannter legatus durfte er Legatenpurpur tragen und vererbte das Recht an seine Nachfolger. Die Magdeburger EB-Konkurrenten hatten sich mit Hilfe eines gefälschten, auf 968 datierten Privilegs den Titel „Primas Germaniae“ angeeignet. 1529 zogen die Salzburger nach. Die Rang-elei entschied, wer oberster Klerikaler im Reichsfürstenrat war und in der ersten Reihe saß. 151 Die Familie, die sich bis 1185 riesigen Landbesitz angeeignet hatte, besaß um 1250 noch 4 km2 Grund, behielt aber den Grafen-Titel. 152 Dopsch mit Mitterauer, „Hochmittelalter“, 1.1:296–308. 153 Heinrich, als Neunjähriger zum König gewählt, bezog als Erwachsener Stellung gegen die Auswüchse der Inquisition und damit den Papst. Er lehnte sich 1234 gegen seinen Vater, Kaiser Friedrich II., auf. EB Eberhard musste über ihn den Kirchenbann verhängen und den zu lebenslanger Kerkerhaft Verurteilten nach Aquileia überstellen. Dort nahm Heinrich sich 1242 das Leben. 148

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Seckau aus. Einem regelwidrig lebenden Domherrn entzog er die Pfründe. Er belohnte: Er schenkte den St. Peter-Mönchen eine Salzpfanne und verfügte Erinnerung an sich: „ein feyerlicher ewiger Jahrtag [in der Klosterkirche …] und an demselben Tage [solle] nicht nur den Mönchen und Nonnen daselbst, damit sie dieser Feyerlichkeit desto andächtiger beywohnen, ein festlicher Schmaus zubereitet, sondern zugleich auch unter die Armen, die dabei erscheinen, drey Metzen Korn, fünfzig Käse, und soviel Bier als sie mögen, ausgespendet werden.“ 154 Eberhard nahm am 4. Laterankonzil teil, trug also dessen rigorose Beschlüsse mit. Er konnte wählen, mit welchen der anwesenden etwa siebzig Patriarchen und Metropoliten sowie mehr als 400 Bischöfen und rund 900 Äbten und Priores er sich unterhalten wollte. In Salzburg verlas er die Beschlüsse, die seinen Untertanen Beichtpflicht auferlegten, und berief Dominikaner-Inquisitoren nach Friesach. Seine bischöflichen Kollegen in Südfrankreich hatten einen Vernichtungs-Kreuzkrieg gegen Andersdenkende bereits begonnen (s. u.). Informierte Chronisten notierten die Verfolgung der Humiliaten 1252 und die Tötung zweier Dominikaner-Inquisitoren, die Templer-Häretiker-Anklage 1309 und – in der Nähe – Verbrennungen eines Mannes im Lungau (1285) und einer Jüdin in Salzburg (1298) sowie die Kremser inquisitio (1315). Autoritäten in Graz hatten bereits 1115 dreißig oder mehr Frauen verbrannt, Bauern in Freising 1090 drei Personen umgebracht, weil sie angeblich Nachbarn vergifteten. In Böhmen hatten zwei Brüder, König und Bischof, 1080 mehr als hundert Männer köpfen und Frauen ertränken lassen, da sie angeblich Menschen verrückt werden ließen, Stürme herbeiriefen und Bauern Milch und Getreide entwendeten. Graz, Freising und Prag lagen viele Tagesreisen entfernt, aber Erzählungen reisten schnell. Sprachen Konziliare über diese Fälle? 155 Eberhard regelte Kreuzkriegsbeteiligung: Pfarrer sollten auf drei Jahre ihre Pfründen nutzen, als ob sie anwesend seien. Setzten sie arbeitslose Gesellpriester als Vikare ein oder wurden Messen nicht gelesen? Nicht-ziehende Geistliche sollten

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ein Zwanzigstel ihres Einkommens beisteuern. Domprobst, Berchtesgadener Propst und der Graf in Plain „bezeichneten sich mit dem Kreuze“ und traten „mit einem beträchtlichen Gefolge die Reise nach Palästina an“. Angesichts ungewisser Überlebenswahrscheinlichkeit war es sinnvoll, vor Abreise Besitz zu regeln. Todesfälle in der Ferne waren Zurückbleibenden nah. 156 EB Eberhard gelang es nicht, die Machenschaften eines Passauer Archidiakons und Domherrn zu beenden: Albert Behaim war seit 1238 Iudex delegatus von Papst Gregor IX. und behielt das Amt, als Innozenz IV. (aus Genua), der nach diversen Intermezzos 1243 die Papstposition übernahm, nach Lyon floh, den Kaiser absetzen wollte und die gesamte Kleriker-Hierarchie verunsicherte. Behaim, der von EB Eberhard Pfründen und Geld forderte, exkommunizierte ihn, als er nicht zahlte. Klöster sperrten seinen Boten die Alpenpässe; er war so verhasst, dass er mehrfach fliehen musste. Für das Seelenheil des EB war Behaim gefährlicher als für sein Leben mongolische Heere, die 1241 nach Böhmen, Pannonien und an die Adria vordrangen. Von Behaim exkommuniziert, durfte Eberhard 1246 nicht kirchlich begraben werden und seine ausgekochten Knochen blieben vierzig Jahre lang in Altenmarkt (bei Radstadt) gelagert. 157 Auf die problem-beladene Konsolidierung folgten verheerende Kriege, als das nach Berthold-Thiemo „zweite Salzburger Schisma“ mit Philipp (Familie Spanheim) als Administrator und „Erwählter“ (1247–1257) begann. 158 Er verweigerte die Weihe, um in seiner Kärntner Herzogs-Familie erbberechtigt zu bleiben. Eine Domherren-Fraktion initiierte seine Absetzung und machte sich auf den Weg zum Papst; die pro-Philipp-Fraktion tat Gleiches. Beide Seiten hatten zu wenig Geld mitgenommen und machten gegen zehn Prozent Zins hohe Schulden bei christlichen römischen Bürgern. Eine dritte Domherren-Fraktion wählte Ulrich, Suffragan in Seckau, und dieser ritt ebenfalls mit Entourage nach Rom. Trotz Geldzuwendungen zögerten Papst und Kurie; Ulrich und Begleiter hielten sich anderthalb Jahre in der Stadt auf. Sie hatte vieles zu bieten

Zauner, Chronik, 2. Teil, 210. Johannes Lang, „… vocari Undique-lucentem. Marginalien zu einer Salzburger Ketzergeschichte“, Salzburg Archiv 27 (2001), 155–173. Zauner, Chronik, 216–217. Dopsch mit Mitterauer, „Hochmittelalter“, 1.1:308–336 und 1.2:1027–1028. Fand Eberhard II. keinen Biografen, weil er gebannt war? Im 15. Jahrhundert würden die Schismen Eberhard gegen Berthold (Wehingen) und Bernhard gegen Johann folgen (s. Kap. 10.7).

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Institution Kirche: Apparat und hohe Kleriker in der Kirchenprovinz Salzburg

und war teuer, er musste offenbar sein Pallium als Pfand versetzen. Die Kurialen drohten wegen unbezahlter Gebühren mit Bann. Der „Steirische Reimchronist“ Ottokar beobachtete und notierte, dass man alles bekommt, „wann waz man Silber und Gold in des Pabsts Hof bringt“. Der „Erwählte“ Philipp fälschte unter dem Namen des Gegen- oder Alternativkönigs Wilhelm (Holland, a. 1248–1254) eine Urkunde, um geweihter EB und weltlicher Hz gleichzeitig werden zu können. Er verprasste weit sichtbar Geld, während Söldner in den Kämpfen der Familien Habsburg und Přemysl weite Regionen verwüsteten. Wälder boten, trotz wilder Tiere, den Landbewohner*innen Schutz vor amtierenden, aspirierenden und vertriebenen Herren. Der Árpáden-König und der Wittelsbach-Bayern-Hz griffen ein und der (Weih-) Bischof von Chiemsee bannte Philipp auf Anweisung des Papstes 1257. Da ein Bann bei entzündeten Kerzen und Glockengeläut öffentlich in standesgemäßer Kirche von einem standesgemäßen Kleriker zu verkünden war und da Boten Kopien zur Verlesung in jede Pfarre trugen, waren Laien informiert. Bis zum Ende des Schismas würde noch viel vorzulesen sein. Bann bedeutete, dass Kirchen verschlossen wurden. St. Peter-Mönche, Erentrudis-Nonnen und einige Dorfpriester hielten sich nicht daran. 159 Was taten Gläubige, die sich um ihre Seele sorgten? Nahmen sie Partei? Waren sie wütend? Zahlten sie den Zehnt, wenn ihr Pfarrer die Messe nicht las? Wendeten sie sich „waldensischen“ Prediger*innen zu, die unter ihnen lebten? Viele Optionen – sie mussten sich entscheiden oder drifteten in religiöse Abstinenz. In der Residenzstadt „wütete“ Philipps Soldateska gegen die Domherren und ließ deren Hörige und Vorräte „ohne Schonung ausplündern und durch Feuer und Schwert verheeren“. Als der Bischof von Chiemsee sich ihm entgegenstellte, verwüstete er dessen Besitz. „Durch seine Grausamkeit und Übermacht verbreitete er solchen Schrecken um sich her, dass die Bürger von Salzburg und andere Unterthanen sich nicht von ihm abzugehen getrauten.“ In dem Chaos versagte, so ein Bericht, das Kleriker-controlling und manche nahmen sich

„öffentlich Beischläferinnen“. 160 Im Osten, in Kärnten und Steiermark, suchten sowohl Philipp wie Ulrich Hilfe bei Ottokar II. (Böhmen) und Stephan (Ungarn, Statthalter in der Steiermark). Ulrich lieh sich von Stephan 4000 Mark und gab ihm die Menschen in Pettau als Pfand; Bauern mussten in Fronarbeit Pass-Sperren errichten. Von Westen griff der Hz in Niederbayern ein, ließ Burgen und Dörfer besetzen und Salzburg-Stadt belagern. Seine Söldner brannten die rechtsufrige Vorstadt nieder und nahmen den Bewohner*innen Heim und Kirche. Das Regime war dysfunktional. Einflussreich in der Kirchenprovinz war weniger das ferne deutsche Fürstenkonglomerat als die nahen Herrscher-Familien in Böhmen, Ungarn und Polen. Nachfolgende EB erleichterten den Menschen das Leben: EB Wlodizlaus aus Schlesien (h. 1265–1270) und, erster Einheimischer, EB Friedrich II. (Walchen, Pinzgau, h. 1270–1284). Wlodizlaus (Wladislaw), Familie der Piasten, war zum Zeitpunkt der Wahl 28 Jahre alt und Student in Padua. Er stabilisierte die Lage in der Diözese und besuchte Klöster und Pfarren. Er herrschte gleichzeitig in Schlesien, der wirtschaftlich weitest entwickelten Region seiner Familie, die Handwerker und Kaufleute für neue Städte, Bergleute für die Silbervorkommen und Bauern für neu gerodetes Land anwarb. Er kehrte 1268 dorthin zurück (gest. 1270). 161 Von Arn bis Friedrich II. herrschten 28 Erzbischöfe in Salzburg. Quantitative Einschätzungen erlauben die unzureichenden Daten nicht. Bei Amtsantritt war Adalbert mit 23 Jahren der jüngste, Eberhard I. mit 62 Jahren der älteste. Aus der jeweiligen Amtsdauer (zwischen zwei und 46 Jahren) müssten Zeiten von Exil und Flucht sowie monateoder jahrelange Abwesenheiten herausgerechnet werden. Wieviel Tausende Kilometer legten sie im Sattel während Romzügen, diplomatischen Missionen und Kriegskampagnen zurück? Für eine Bestimmung ihrer Bedeutung „für Salzburg“ wären diese Daten bedeutsam, beforscht sind sie nicht. Doch wäre die Frage ohnehin anders zu stellen: „Bedeutsam für wen“?

Die Mönche und Nonnen wurden päpstlich bestraft und unterwarfen sich. Daraufhin verwüstete Philipp ihre „Güter“. Sie gingen erneut zu Philipp über, dessen Gegner verwüsteten alles ein weiteres Mal. 160 Zauner, Chronik, Zitat 265; Esterl, Nonnberg, 29–30. Der Papst in Lyon hatte eigenmächtig Burkhard aus Ziegenhain zum EB eingesetzt, er starb auf dem Weg. Philipp reiste nach Lyon, mit Vorschuss für die Reisekosten und Kreditbriefen von den Domherren. Conrad Wuttke und L. Schmued (Hg.), „Päpstliche Urkunden zur Geschichte des Erzbistumes Salzburg aus dem 13. und 14. Jahrhundert“, MGSL 33 (1893), 117–144. 161 Jürgen Heyde, Geschichte Polens, München 32011; Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 1.1:437–444; Zauner, Chronik, 317–324. 159

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

9.8 Die Familie Habsburg nähert sich, Erzbischöfe reagieren Nach den vielen internen Spaltungen einerseits und dem Sieg der Familie Habsburg über die Familie Přemysl 1278 andererseits (s. Kap. 6.10) wählten die Domherren situationsangemessen den Kanzler der Sieger-Familie, Rudolf aus Hohenegg (Schwaben, h. 1284–1290), zum EB. Doch unterschätzten Domherren und neuer EB die obstinate Ich-Bezogenheit des Habsburg-Sohns Albrecht I. Der EB legte das Kanzleramt bei dem Vater nieder und zog mit Bewaffneten gegen den Sohn. Doch in realistischer Einschätzung der Machtverhältnisse hatten sich zahlreiche Ministerialen bereits zu Albrecht abgesetzt und die Eigenbischöfe im Osten unterstanden weltlich „Wien“. Um den Apparat von Ämterhäufungen zu befreien, berief EB Rudolf für November 1288 ein Provinzialkonzil ein und Gläubige zusammen, ließ die Gebeine des hl. Virgil demonstrativ in einen neuen Altar des Doms umbetten und gewährte allen Anwesenden Ablass. 162 Da er bei Nichterscheinen Bann angedroht hatte, erschienen ungewöhnlich viele Prälaten mit Gefolge. EB Rudolfs Handfeste, von einem Rechtsgelehrten verfasst, war sowohl revolutionär wie Traditionen verpflichtet: „Erneuerung der alten Kirchengesetze, besonders aber der Satzung, dass bei Strafe der Exkommunikation die Geistlichen sich in weltliche Händel nicht einmischen, und daher keine weltlichen Ämter und Geschäfte führen sollen.“ 163 Ad personam zielte dies auf den egomanischen, zahlloser Amtsmissbräuche beschuldigten Abt von Admont, Heinrich II., der weltlich als Hz Albrechts Hauptmann in der Steiermark amtierte. Die Prälaten reisten nach der öffentlichen Verlesung sehr zügig ab, Abt Heinrich zu seinem Wohl-Täter in Wien. Er veranlasste Albrecht durch „täuschende Beredsamkeit“, gegen den EB zu mobilisieren, der daraufhin die Pilgergaben zur Anwerbung von Söldnern nutzte: Sie verheerten „das ganze Ennsthal mit Raub und Brand“, die des Hz

griffen Friesach „mit aller Wuth an [… und haben] die mauern niedergestürzet, viele Bürger ermordet, auf viel Orten Feuer angelegt“. Als der EB per Schiff für Verhandlungen nach Wien kam, „weinte, schrie und lärmte“ Heinrich und angesichts des Zeterns konnte auch Herzogin Elisabeth ihren Mann nicht zum Einlenken bewegen. 164 Der EB wurde, wie „Ketzer“, gedemütigt: Er musste im Dom in Salzburg die Handfeste öffentlich zerreißen. 165 Der Autor der „Steirischen Reimchronik“ (~1311), die als erstes quellengestütztes mitteldialektdeutsches Geschichtswerk gilt, notierte, Abt Heinrich habe „unbarmherzig und gierig […] die Bevölkerung schwer unterdrückt“, Geld für Kreuzzüge auf Jahre im Voraus eingetrieben, sei „des Teufels Kaplan“ und Menschenschinder gewesen. In der ministerialen Chronik spielte wie in Volkserzählungen der Teufel eine wichtige Rolle. 166 EB Rudolf stärkte die Wirtschaft des Erzstifts und übertrug das Prinzip guter Konditionen für Neusiedler in Rodungen auf städtische Neubürger. 1286 erhob er Radstadt zur Stadt und erließ den Bürger*innen für zehn Jahre Steuern und Fronen, damit sie sich etablieren konnten. Angesichts habsburgischen Vordringens im Osten erwarb sein Nachfolger im Westen die Rechte der bayerischen Herzöge am Gasteinertal mit Goldbergbau (1297). Nach dem Tod EB Rudolfs folgte Lavieren und Parteiung. Abt Heinrich versuchte Wahlherren zu kaufen. Diese wählten Stephan Wittelsbach-Niederbayern: Er war per Familie Gegner der Habsburger, Domherr in Passau, noch nicht zwanzig Jahre alt und ohne höhere Weihen. Als eine Delegation, geleitet von Eigenbischof Konrad (Lavant), in Rom eintraf, lehnte der Papst Stephan ab. Zufällig (?) befanden sich zwei steirische Kollegen des Delegationsleiters bei der Kurie und Konrad wurde EB. Die Bürger und Ministerialen akzeptieren ihn nicht, verbündeten sich mit Hz Otto III. (Niederbayern) und räumten diesem das Bürgerviertel vor der Por-

EB Wolf Dietrich (h. 1587–1612) ließ das Grab später öffnen und die Gebeine an Getreue verteilen. Magdalena Hörmann, Alles Meister. Kunsthandwerk in Tirol, Bozen 2006, 71–72. 163 Zauner, Chronik, Zitat 379. 164 Zauner, Chronik, Zitat 384; Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 1.1:455. 165 In habsburgischem Besitz – Kirchenprovinz – besaßen die EB bis zum Rezess von Wien 1535 Enklaven im Ennstal (Obersteiermark), Sulm- und Laßnitztal (Weststeiermark), Pettau, Gurkfeld und Rann (Untersteiermark). 166 Robert Engele, „Des Teufels Kaplan“ regiert das Land, https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Damals_in_der_Steiermark/Des_ Teufels_Kaplan_regiert_das_Land (22. August 2020). 162

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Die Familie Habsburg nähert sich, Erzbischöfe reagieren

ta samt dem Turm ein. EBpäpstlich Konrad erschien mit großem Gefolge steirischer und Kärntner Ritter sowie einer Kirchenstrafen androhenden Bulle und erzwang Huldigung. 167 Die Position der Diözese und Provinz verbesserte sich, als Familie Habsburg 1291 ihr Ziel einer Erbmonarchie nicht erreichte (s. Kap. 6.10). Zwar standen „die Salzburger“ laut Legenden „treu“ zu den Habsburgern, doch real hatten sie über vieles nachzudenken. Erstens standen, politikrelevant, anderswo Untertanen nicht treu zu Herrschenden. Die der drei Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden schlossen gegen die Königsaspiranten einen Bund. Deren Sprecher, offenbar nicht Bauern, verfassten ihren Bundbrief in lateinischer Sprache, auf Deutsch erst bei seiner Erneuerung 1315. Sie besiegten das Heer des habsburgischen Hz, der fliehen musste, und sie würden 1386 Hz Leopold III., ebenfalls Habsburg, bei Sempach besiegen. 168 Zweitens scheiterte, religionsrelevant, 1291 ein letzter levantinischer Kreuzkrieg, als ein ägyptisch-islamisches Heer Akkon eroberte. Drittens hatten, kirchenpolitisch, ab 1309 die Salzburger EB nach Avignon eine längere und teurere Anreise. Viertens verpachtete die Kurie ihre bereits zentralisierte Finanzverwaltung (s. Kap. 6.12). EB Konrad IV. musste 1310 für die erste servitia-Forderung der Kurie in Höhe von 10.000 Goldgulden Ratenzahlung beantragen, sein Nachfolger Weichhart (h. 1312–1315) angesichts der Schulden lange auf sein Pallium warten. 169 „Salzburg“ und „Habsburg“ waren eng verquickt. EB Weichhart traute im Januar 1314 Hz Friedrich und Isabel (~1300–1330) in Judenburg: Für die Hochzeit kam die weite Welt ins Murtal. Isabel, aus der Familie Aragón ○○ Anjou (Neapel und Sizilien), 170 hatte die weit über 1000 Kilometer lange Reise mit „reichen“ Brautgeschenken im Winter zurücklegen müssen. Die Zeit sowohl ihrer Ehe wie der Menschen der Kirchenprovinz würde schwierig werden. Als im Herbst 1314 ihr Gatte und Ludwig Wittelsbach-Bayern Ko- und Konkurrenz-Könige wurden,

diente ihr Schmuck der Finanzierung der Kriege um die Inbesitznahme des Thrones. Ihr Mann, 1322 geschlagen, saß zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Sie suchte im Rahmen ihrer religiösen Welt durch schwere körperliche – vermutlich gesundheitsschädigende – Kasteiungen ihrem Mann zu helfen. Sie starb 1330. 1322 war Jahr 7 des Klimawandels, dessen Dauer die Lebenden nicht erahnen konnten. War es erklärungsbedürftig, dass Gott gegen Missernten, Mangelernährung und Hungertod nicht half? Der amtierende EB Friedrich III. (h. 1315–1338), vorher Dompropst und Erzpriester (Stadtpfarrer), hatte andere Probleme. Für das Pallium nach Avignon gereist, hatte er wegen Tod des Papstes warten müssen. Er zahlte 5000 Goldgulden an die päpstliche Kammer und 869 weitere an Kanzlisten und Dienerschaft. Er kam 1317 mit großen Schulden zurück, während die Zehnterträge angesichts der Hungersnöte sanken. Viele Einwohner*innen verarmten, die der Residenzstadt gründeten 1317 ihr Spital, der EB beteiligte sich kaum. Gottes Stellvertreter, Papst Johannes XXII. aus Cahors (h. 1316– 1334), sah nicht Gott, sondern Magie an der Wetterunbill schuldig. Mit seiner Autorität machte er den Magie-Vorwurf „Salon-“ und, wichtiger, Bauernstuben-fähig. In den Hungerjahren entschied er, dass die Lehre, Christus und die Apostel hätten kein Eigentum besessen, verboten sei (Cum inter nonnullos) und er exkommunizierte ein Jahr später alle, die die Armutskapitel der Evangelien verbreiteten. Von den vier EB zwischen 1312 und 1365 herrschten zwei nur kurz, Weichhart drei und Heinrich vier Jahre. Ihr früher Tod bedeutete zusätzliche Gebührenlast. Lästig war auch, dass Papst und Bürokratie begannen, schon vor „Erledigung“ (Freiwerden) von Pfründen diese für Besetzung nach ihrem Gutdünken zu reservieren. Die „päbstliche Gewalt“ mache sich „die Christenheit zinsbar“, formulierte der Historiker Johann (Kleinmayrn, Schwaben) 1784. Doch verhinderten die Domher-

Zauner, Chronik, 395–441; Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 1.1:457–466. Unumstritten sind Zusammenschluss, Siege und Unabhängigkeit; Rütlischwur und Schlacht am Morgarten scheinen Gründungsmythen zu sein. 169 Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 1.1:245–466; Zauner, Chronik, 442–445. EB Weichhart, aus niederösterreichischer MinisterialenFamilie, war Gelehrter und Schriftsteller. 170 Ihr Vater hatte sie 1312/13 mit dem König von Armenien (Kilikien) verlobt mit dem Ziel, die in Sis aufbewahrten Reliquien der hl. Thekla für die Kathedrale in Tarragona zu erhalten. Der Handel scheiterte am Unwillen der armenisch-christlichen Bevölkerung gegenüber dem lateinisch-christlichen Reliquienkauf. 167

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ren, dass päpstliche Kandidaten je in den tatsächlichen Besitz eines Amtes gelangten. 171 Ihre Wahl Ortolfs als EB 1343 erforderte für die Bestätigung eine Sonderzahlung an die Kurie. Ortolf, aus einer Kärntner Ministerialen-Familie des Bistums Bamberg und in Bologna ausgebildet, vertrat das kanonische Dekret-Recht. Als er sich im Streit um Tirol auf die Seite der Familie Habsburg gegen Familie Wittelsbach stellte, zerstörten Söldner letzterer Orte und Höfe im Rupertiwinkel und Flachau. Mit Blick auf die Spannungen zwischen Kirche und Gläubigen entschied sich um 1330 ein nicht geweihter, vermutlich in Krems lebender „österreichischer Bibelübersetzer“, die Evangelien und andere Texte ins Mitteldeutsche zu übertragen. Gegen die Diskurs-Machthaber sicherte er sich mit dem Hinweis ab, der Heilige Geist hätte ihn inspiriert und er folge dem Vorbild des hl. Hieronymus. Gegen Häretiker grenzte er sich mit Zitaten aus kirchlich approbierten Schriften ab. Die Worte der Evangelien – die nicht aufzeichneten, was war, sondern was Jesus den Autoren bedeutete – waren ihm wichtig, aber nicht allein maßgebend. Leser*innenfreundlich fasste er Jesu Leben unter Einschluss sogenannter apokrypher Texte zu einer fortlaufenden Geschichte mit belustigenden Erweiterungen zusammen. Auch die offiziell akzeptierte Legenda aurea erweiterte vieles und er kannte zeitgleich im entfernten Paris verfasste Bibelkommentare. Viele Zahlungskräftige interessierten sich für sein Werk, 120 meist prachtvoll gestaltete Abschriften sind bekannt. Kannten die EB die Übersetzung? Vom 9. bis zum 15. Jahrhundert entstanden etwa siebzig (Teil-) Übersetzungen der Bibel und vor Luthers Version stellten Drucker zwischen 1466 und 1522 achtzehn deutsch-sprachige Bibeln her. 172 Wenige Jahre später ließ ein EB „in Glaubenseifer“ den „Ketzer“ Rudolf von weltlichen Autoritäten verbrennen. Rudolf hatte erklärt, dass Juden und Heiden ohne Taufe selig würden. Die Transsubstantiationslehre, Christus sei im Altarsakrament zugegen, war umstritten und Rudolf schleu-

derte im Dom einen Kelch mit Blut-oder-Wein gegen die Wand. Zur Verurteilung reiste der Bischof von Seckau, oberster Inquisitor der Kirchenprovinz, an. Der Viktinger Chronist berichtete: „Der Dekan [des Domkapitels] und die Kanoniker haben – in geweihte Gewänder gehüllt – gottesfürchtig und andächtig, mit Wachskerzen in der Hand, unter Lobpreisungen und lauten Klagen das Blut des Herrn mit Sorgfalt entfernt.“ Gespielte Emotionen wie laute Lobpreisung, Wehklage und dramatisches Weinen waren Teil jeder Kleriker-Ausbildung. 173 EB Ortolf ließ nach dem großen Sterben neue Steuerbücher anlegen und betonte, dass er FürstErzbischof sei. Nachfolgend wählten die Domherren aus eigenen Reihen Pilgrim II. (s. Kap. 10.1). Er unterhielt einen kleinen Kreis gebildeter und gesangsverständiger Kleriker, darunter den „Mönch von Salzburg“ und seinen Mitschaffenden Martin, Pfarrer von Werfen. Die Dichterkomponisten schufen, teils kunstvoll aus dem Lateinischen übersetzt, geistliche und weltliche Lieder und experimentierten mit „schwerem“ und „flüssigem“ Deutsch. In Minneliedern versicherten sie ihren Damen in Schloss Freisaal, nahe der Burg, ihrer Sehnsucht und Treue. 174 Liturgischer Gesang war Aufgabe von Knaben, die Eltern oft „in zarter Jugend […] frommen Vätern zur Erziehung übergaben“. Sie „jubelten“ und „flehten“, wann immer die Liturgie es forderte, manche Anwesende hörten nur „ungeordnetes Geschrei“. Levantinische Mönche hatten einst den gemeinschaftsbildenden stimmigen Gesang entwickelt, später erleichterten Tonschriftzeichen und Notation Harmonie, Zweistimmigkeit und mensurierte Gesangsweise (Discantus, 1322). Takthalten sollte der Ordnung dienen. EB Pilgrim führte Gregorianischen Gesang ein, regelte die Knabenchöre und gründete Stiftungen für die Sänger. Während Prozessionen förderte Gesang den Zusammenhalt, außerliturgisch bewirkten dies Lieder und Inszenierungen, zum Beispiel des Besuches der drei Frauen am Grab. Mitteldeutsche Texte und Teilhabe von

Johann F. T. von Kleinmayrn, Nachrichten vom Zustande der Gegenden und Stadt Juvavia […], Salzburg 1784, 206, § 186; Herbert Paulhart, „Eine päpstliche Reservation von 1389“, MGSL 99 (1959), 159–168. 172 Freimut Löser u. a., Akademien-Projekt „Österreichischer Bibelübersetzer“ auf Basis des sog. Klosterneuburger Evangelienwerks und des Schlierbacher Alten Testaments (https://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/sbs/0008 und https://www.uni-augsburg.de/de/fakultaet/philhist/professu ren/germanistik/deutsche-sprache-und-literatur-des-mittelalters/forschung/) (22. August 2020). 173 Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, Zitat 1.1:473; Lang, „Marginalien“, 155–173, Zitat 155–156. 174 Der „Mönch von Salzburg“ mag der EB selbst gewesen sein. Peter F. Kramml, „Pilgrim II. von Puchheim (1366–1396)“, Salzburg Archiv 24 (1998), 101– 122; Ingo Reiffenstein, „Dichtung und Literatur. Die Deutsche Literatur“, in: Geschichte Salzburgs, 1.2:1097–1106, bes. 1100–1103. 171

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Fragen und Satiren zu rechtem Glauben und sozialer Gerechtigkeit

Laien an der szenischen Gestaltung verbanden Einzelsänger, Chor und Gläubige. Aus Pilgrims Korpus verbreiteten Kleriker besonders die Osterlieder Stabat mater dolorosa (Es stand die Mutter schmerzerfüllt) und Victimae paschali laudes (Lobgesänge

dem Opferlamm) sowie Marienlieder. Gemeinden inszenierten Passions- und Osterspiele, „Marienklagen“, Weihnachts-Kindelwiegen und Feste zu Kirch- und Landespatronen. Die Grenzen zu allgemeiner Belustigung waren fließend. 175

9.9 Fragen und Satiren zu rechtem Glauben und sozialer Gerechtigkeit Laien-Inszenierungen befreiten Glaubenspraxis aus den Mauern der Institutionskirche und setzten abgehobener Theologie Eigenes entgegen, kritische Fragen an die Kirchenlehre stellten Laien, Mönche und Nonnen sowie Theolog*innen. Laut Augustinus hatten Fragen negative Folgen, auf Evas Frage folgte der Sündenfall und Lucifers lichtbringende Fragen endeten ebenfalls in tiefem Fall. Doch war laut 2. Petrusbrief Jesus „Lichtträger“ (1,19) und, gelegentlich, Teufelsaustreiber. Der LichtbringerTeufel-Topos hatte eine lange, variantenreiche Geschichte. Für Sumerer*innen und Babylonier*innen war Lucifer der hellste Stern und für Iraner und Araber als Morgenstern Symbol einer weiblichen Gottheit: Inanna und Ištar, Anahita und al-ʿ Uzzā. Griechische Religionsdenker setzten die Lichtbringerin phosphoros und die Bringerin der Morgenröte eosphoros mit Aphrodite gleich; Lateiner benannten das Licht am Himmel nach der Göttin Venus; Germanen verbanden es mit Freya. Christliche Mythologen blieben uneinig: War der helle Stern Symbol für den herannahenden Christus (Offenbarung des Johannes 22,16) oder für einen gefallenen Engel (Lukas 10,18)? In der Vulgata war Lucifer Morgenstern. Erst weit später re-formierten christliche Theologen Lucifer als „Satan“ (männlich), die Morgensternin blieb auch für sie die „Venus“. Laien und manche Kleriker interpretierten die Rolle des wandlungsfähigen Teufels lebensnäher. In einer um 1220 niedergeschriebenen Erzählung sandte der Teufel als barmherzige Kraft einen unbarmherzigen Vogt in die Hölle. Nach Ende des Konstanzer Konzils, während dessen die Menschen der Region das Verhalten hoher Kleriker leibhaftig beobachten konnten, beschrieb ein Teufel seine Erfolge einem Einsiedler (Des Teufels Netz, ~1418– ~1441). Da die Hauptsünden als seine Knechte

wirkten, bekäme er besonders luxuriös lebende Geistliche und Weltliche ins Netz. Nur Beginen und Begarden, Klausnerinnen und Regelnonnen, Einsiedler sowie vollkommene und willige Arme (Waldenser*innen) könne er nicht mit seinen Stricken binden. 176

Abb. 9.17 Des Teufels Netz, Codex Donaueschingen, f. 113

Angehende und arbeitslose Geistliche, Schüler in Kloster- und Domschulen sowie Sängerknaben verhöhnten Kirchenobere in Pantomimen. Sängerkinder, die ihre Rolle während der Messen brav spielten, kehrten diese an einem Tag im Jahr um. Ausgehend von England und Nordfrankreich inszenierten sie ihre Unzufriedenheit in öffentlicher Schaustellung: Lords of Misrule – Tag der Missherrscher, für Chronisten säuerlich „Narrenfest“. Sie wählten aus ihrer Mitte einen Bischof, Abt oder gar Papst, der die gesamte oder ihre schulische Welt regierte. Ihr Gegenritual, belegt für Salzburg, St.

Johannes Peregrinus, „Geschichte der salzburgischen Dom-Sängerknaben“, MGSL 28 (1888), 357–416, Zitate 359–364, 372. Gerhard Walterskirchen, „Zur Pflege der mehrstimmigen Musik in St. Peter bis zum 18. Jahrhundert“, in: Das älteste Kloster, 134–137. 176 Des Teufels Netz; Epperlein, Bäuerliches Leben, 250–251. 175

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

Gallen, Regensburg und Augsburg, begingen die Knaben am Tag der Beschneidung Jesu (1. Januar), am Tag „des unschuldigen Kindes“ (28. Dezember 177) oder des hl. Nikolaus (6. Dezember). 178 Als die Bezahlung der Sänger in Salzburg-Residenz angesichts der Teuerung 1543 nicht mehr zum Leben reichte, drohten sie wegzuziehen. Ihr Genre hatte Tradition, denn bereits Konziliare in Konstantinopel hatten das Spiel verboten. Viele Gläubige stellten das bestehende, von Klerikern auferlegte Alltagsleben in Frage. Sie hatten den Meinungsforschern Karls und Ludwigs die Gründe ihrer Unzufriedenheit und ihre Überlegungen zu menschlicher Freiheit erläutert und seit dem 11. Jahrhundert suchten Gottesfriedens- und Armuts-Vertreter Evangelien-nahe Wege. Nach Ansicht besitzkritischer Theologen hatte Papst Sylvester (h. 314–335) den rechten Weg zum Seelenheil verlassen, als er von Kaiser Konstantin die „Schenkung“ des weströmischen Reichsteils angenommen habe. Empirisch hatte jedoch Papst Symmarchus (h. 498–514) die Geschichte erfinden und den Besitztitel fälschen lassen. Die einengenden Lateranbeschlüsse zwischen 1123 und 1215 erlebten viele als verkehrte Welt. Der absolutistischen Kirche entzogen sich Denker durch eigene Lesarten der Evangelien. Joachim (~1130/35–1202) aus Fiore im armen süditalienischen Kalabrien, wie viele junge Männer in Konflikt mit seinem Vater, sah „Rom“ als Auslaufmodell. Nach der Zeit Gottvaters (AT) und des Sohnes (NT) würde 1260 ein drittes chiliastisches Zeitalter (griech. chilia, tausend) urchristliche Zustände, intelligentia spiritualis, wiederbringen. Die offiziellen Texte in Latein seien nicht identisch mit dem ewigen Evangelium, das in Volkssprachen verkündet werden müsse. In Rundum-Abwehr verboten die Mehrheitskleriker 1215 die „Joachimiten“, obwohl sie Joachims Bedrohungsszenario (Liber figurarum) teilten: Schuld an der kommenden Apokalypse trügen Mohren, Sarazenen, Äthiopier, Türken und Germanen. 179

Güte Gottes und innere Hingabe stellte Petrus Abelard (1079–1142) in den Mittelpunkt. Der spätere Salzburger Suffragan in Freising, Otto, studierte bei ihm. Abelards Schülerin Heloise (1090er– 1164) las Lateinisch, Griechisch und Hebräisch und dachte lebenspraktisch: Sorge um Kinder sei wichtiger als theologische Debatten. Sie verband inneren Glauben, Idealismus und Gefühlsintensität und bezeichnete die Ehe als Zwang; entscheidend sei Zuneigung. Heloise und Abelard gingen eine intensive Liebesbeziehung ein. Ihr Onkel, von Beruf Bischof, sah sich dadurch in seiner Ehre verletzt und ließ Abelard überfallen und kastrieren; Mönche verübten Mordanschläge auf ihn; der Zisterzienser-Gründer Bernhard verfolgte ihn; Konziliare in Soissons (1121) zwangen ihn, seine Schrift Theologia summi boni zu verbrennen. Heloise ging nach der erzwungenen Trennung zu den Nonnen des Klosters Argenteuil (bei Paris), die sie zur Priorin wählten. Diese Frauen vertrieb Abt Suger, Saint-Denis, Zeitgenosse von EB Konrad III. Suger vertrat König Ludwig VII. des noch sehr kleinen Francia während dessen Kreuzfahrt, nannte ihn „Stellvertreter Christi“ und promovierte sich so zum Vizestellvertreter Christi. Heloise, bescheidener, leitete als Äbtissin das Frauenkloster Paraclet (Nogentsur-Seine). 180 Im mitteldeutschen, Oberschicht-lateinischen Sprachraum äußerten sich Hildegard (Bingen, 1098–1179) und Herrad (Landsberg, ~1125/1130– ~1195). Hildegard – Universalgelehrte, Dichterin und Äbtissin – stellte in ihrem Liber divinorum operum Menschen, die sich autonom verwirklichten, ins Zentrum des biblisch-heilsgeschichtlichen Weltenbaus. Sie verband in ihren Schriften zur Medizin Trotula-Texte mit dem Wissen zeitgenössischer Heilkundiger und lehrte die Vereinigung mit Gott, unio mystica. In dem Frauenkloster Rupertsberg bei Bingen (Rhein) lebten die Nonnen freudigoffen, zelebrierten die Messe in weißen, seidenen Gewändern, mit offenem Haar und goldbestickten Hauben. Das Wort Gottes wirke wie bei der Ver-

Das Datum liegt auf dem 27. bzw. 29. Dezember in der Syrischen, Chaldäischen und Orthodoxen Kirche und verweist auf die angeblich von König Herodes angeordnete Tötung von Kindern. 178 Bischof in Myra (Demre, westanatolische Mittelmeerküste), früh wegen seiner Hilfsbereitschaft verehrt. Seine – angeblichen – Reliquien raubten im 11. Jahrhundert süditalienische Kaufleute und stellten sie in Bari aus. Der Autor von Des Teufels Netz sah Nikolaus als vorbildhaft (Z. 3262 ff.). 179 Lambert, Häresie; Auffarth, Ketzer, 101; Amalie Fößel und Anette Hettiger (Hg.), Klosterfrauen, Beginen, Ketzerinnen. Religiöse Lebensformen von Frauen im Mittelalter, Idstein 2000. 180 Im autoritativen Lexikon des Mittelalters (4:2126–2127) reduzierte der Autor sie „als Symbolgestalt für die Unbedingtheit weiblicher Liebesleidenschaft“. Joan Ferrante (Hg.), Epistolae: Medieval Women’s Letters, https://epistolae.ccnmtl.columbia.edu/woman/28.html (6. Januar 2016). 177

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Abb. 9.18 Menschenbild und Weltbild der Hildegard, Liber divinorum operum, 1163–1170

kündigung durch innere Empfängnis. Die Äbtissin erteilte Mächtigen energisch Rat oder übte Kritik. 181 Herrad, Äbtissin in Hohenburg (Elsass), 182 stellte um 1175 für die 47 Nonnen und 13 Novizinnen in lateinischer Sprache das gesamte bekannte weltliche und religiöse Wissen zusammen sowie das Denken von Philosoph*innen über die Jahrtausende. Sie nannte ihre Schrift Hortus deliciarum, Garten der Köstlichkeiten, mit Christus als Gärtner. 183 Viele hörten genau zu. Albertus Magnus (~1200–1280), der ihren wissenschaftlichen Ansatz aufnahm, würde häufiger zitiert werden als sie. 184 Der romanisch-, italienisch- und bayerischsprachige artes liberales-Ethiker Thomasîn (Familie

Zerclaere, Cividale), Bischof in Passau und später Ministeriale des EB-Aquileia, übte Hof- und Zeitkritik in einem Lehrgedicht (1215/16). Der franziskanische Spirituale Petrus Johannis Olivi (~1247– 1298) in Südfrankreich forderte Rückkehr zur Armut, kritisierte, dass Reichtum als „Kapital“ weiteren Reichtum generiere, und sah Joachims Drittes Zeitalter mit Franz Assisi beginnen. Der amtierende Papst Johannes XXII. sah dies anders: Er beendete die franziskanische Armenfürsorge und verbot die Armutslehre des Philosophen-Theologen William (Ockham, ~1288–1347). Daraufhin warf König Ludwig IV. (der Bayer) dem Papst Ketzerei vor. Wie William wollten Ludwigs Berater, unter ihnen Marsilius aus Padua, innerkirchlich gegen Papstherrschaft und für Klerikerarmut wirken. Ein Manuskript aus dem 2. Viertel des 15. Jahrhunderts, das in die Bibliothek der FEB gelangte, sah Theologie kritisch: Die sieben artes liberales, dargestellt als Frauenfiguren, bauen einen Wagen und ziehen die Sacra Theologia mit Christuskopf in der Hand zum Himmel. Ein Scholastiker trägt nichts bei, sondern treibt sie mit Peitsche zur Eile an. 185 Jungfrauen oder Witwen, die in einen Orden nicht eintreten wollten oder mangels Stand und Mitteln nicht eintreten durften, lebten als devotae oder religiosae ohne Gelübde und Regel. Sie stammten überwiegend aus Bürgerfamilien und, als Frauen seit dem 13. Jahrhundert zunehmend zu städtischen Tuch- und Dienstleistungssektoren wanderten, auch aus Unterschichten. Die Beginen und Begarden, ähnlich lebende Männer, ernährten sich durch Handarbeit, gelegentlich durch Stiftungen, selten durch Betteln. Vom urbanen Flandern und Brabant bis nach Böhmen lebten sie devotio moderna und stellten sich gemäß Apostelgeschichte (2,42–47) Armen und Verarmten gleich, boten Hilfe und Unterricht. Südfranzösische Beginen, beeinflusst von Johannis Olivis Denken und entsetzt über die Verbrennung von vier Franziskaner-Spiritualen 1318, grenzten sich von der Lateinkirche ab

Jan Gerchow u. a., „Early Monasteries and Foundations (500–1200). An Introduction“, in: Hamburger und Marti, Crown and Veil, 13–40. Das Kloster hatte Hz Friedrich II. (Schwaben) geplündert; Herrad war die zweite Wiederaufbau-Äbtissin. 183 Ihr Werk war nach Isidor (Sevilla, ~630), Rabanus Maurus (Fulda, 847) und Lambert (Saint-Omer, ~1120) die vierte lateineuropäische Globalenzyklopädie. Danielle B. Joyner, Painting the Hortus deliciarum. Medieval Women, Wisdom and Time, University Park, PA 2016. Zum Leben in Frauenklöstern Erika L. Lindgren, Sensual Encounters: Monastic Women and Spirituality in Medieval Germany, New York 2009. 184 Die oft genannte Nonne Roswitha/Hrotsvitha (Gandersheim, 934–nach 973) dichtete Hierarchie-verbunden und hatte Bauern sagen lassen, „Ach Herr, Ihr habt ja zu befehlen./ Was Ihr gebietet, das ist recht./ Ihr seid der Herr, ich bin der Knecht./ Wenn Ihr es wollt, so muss ich fort./ Ich füg mich willig Euerm Wort“ (Gongolfus). Zitiert in Ranke, „Agrarische Denkweisen“, 221. 185 Beatrix Koll, Farbenpracht auf Pergament. Gotische Handschriften für die Salzburger Erzbischöfe an der Universitätsbibliothek Salzburg, Luzern 2015. 181

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Abb. 9.19 Die Kirche nach Herrad, Hortus deliciarum (wiss. Rekonstruktion des bei der Beschießung Straßburgs während der Nationenfehde Preußen ←→ Frankreich 1870/71 verbrannten Manuskripts)

und in Vadstena (Schweden) gründete Birgitta 1349 einen Orden für Frauen. Anders als Dominikus musste sie zwei Jahrzehnte auf das päpstliche Plazet warten. Die Frauen näherten sich Gott durch Ge382

bet, Kontemplation und Reflexion sowie Askese. Für diese Art Religion zu leben fehlten Institutionsklerikern die Worte. Konziliare verboten den Beginen offene Sozialarbeit und klaustrierten sie

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schließlich unter dem üblichen Vorwand unmoralischen Lebens (Vienne, 1311–1312). 186 Eine burlesk-kirchenkritische Bewegung entwickelten Domschüler, niedere Kleriker und Studenten der entstehenden Universitäten. In Kirchenund Weltadel, Stadtpatriziat und -bürgertum sozialisiert, lebten sie von Mitteln ihrer Familie oder Bettelei. In Liedern, Gedichten und karnevalesken performances persiflierten die „Goliarden“ die Institution Kirche und Kleriker. Die bekannteste Sammlung der trink-, ess- und genussfreudigen Carmina Burana – carmen bedeutete in klassischem Latein auch „Zauberspruch“ – oder Beurer Lieder entstand in der Kirchenprovinz Salzburg vermutlich um 1230. Die Autoren verwendeten das Mittellateinische sowie Deutsch, Französisch und Provenzalisch, letzteres die Sprache der Albigenser. In den Versen wurden Äbte verprügelt, waren Liebesbeziehungen möglich, sexuelle Freizügigkeit – in der Zeit, als „die Kirche“ Priestern das Zölibat auferlegte – nicht unüblich. In ihrem Schlaraffenland-Entwurf (pays de Cocagne) fanden wohlgenährt Ruhende gebratene Tauben und Spanferkel, floss neben viel Wein auch Milch und Honig. Waren Ähnlichkeiten mit den Tischen der Herren beabsichtigt? Der Wunschort war Gegenbild zum asketisch-ärmlichen Normalort. Die Autoren waren bibelfest: Gott hatte seinem Volk ein Land mit Getreide, Weinstöcken, Feigen- und Ölbäumen versprochen. Ländliche Familien hätten sich dies gewünscht. Institutionskleriker reagierten 1249 wiederum mit Verbot und – offenbar waren die Gedichte beliebt – wiederholten dies bis ins 16. Jahrhundert. „Dass herumirrende Schüler, vagi scholares, nirgends geduldet, sondern überall, wo sie betreten würden, verhaftet werden sollten“, verkündete eine Provinzialversammlung in Salzburg 1292 mit der Begründung, dass sie öffentlich nackt herumlaufen, in Backöfen schlafen, Spiele und Prostituierte besuchen und sich durch ihre Schandtaten ernähren würden. 187 Bilder vom pays de Cocagne waren nicht neu. Aus – paradiesischem – Füllhorn verteilte die grie-

Abb. 9.20 Fortuna, einzige in den Carmina Burana dargestellte Gottheit, als Glücksrad

chisch-römische Glücksgöttin Tyche-Fortuna Gaben ohne Ansehen der Person. Sie blieb für viele christlich Gläubige Teil ihrer Vorstellungen. Sie war „wankelmütig“ wie Glück und Unglück im Lebenslauf, wie das Wetter bei Saat und Ernte. Die Bewohner*innen Carnuntums hatten sie als Beschützerin der Stadt gewählt, einfachen Menschen war sie lebensnah, Theologen debattierten ihre Rolle. 188 Das selbstständige Denken und Handeln einfacher Gläubiger kommentierten Hierarchiekleriker wütend. Der – später als „heilig“ bezeichnete – Kardinal Petrus Damianus (11. Jh.) notierte: In unseren Tagen geschieht es, dass Bauern und Tölpel, die nichts anderes können, als mit Pflugscharen die Äcker aufzureißen, Schweine und andere Herdentiere zu hüten, nunmehr, ohne zu erröten, auf öffentlichen

Alison More, Fictive Orders and Feminine Religious Identities, 1200–1600, Oxford 2018; Walter Simons, Cities of Ladies: Beguine Communities in the Medieval Low Countries, 1200–1565, Philadelphia 2001. 187 Carmina Burana. Die Lieder der Benediktbeurer Handschrift, zweisprachige Ausgabe, München 1979, Lied 14. Zu ähnlichen Wunschvorstellungen Armer in römischer Zeit Robert Knapp, Invisible Romans, Cambridge, MA 2011, 118–119; Max Harris, Sacred Folly: A New History of the Feast of Fools, Ithaca, NY 2011; Zitat: Zauner, Chronik, 414. 188 Franz Humer u. a. (Hg.), A.D. 313. Von Carnuntum zum Christentum, St. Pölten 2014, 344; Knapp, Invisible Romans, 112. 186

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Plätzen und Straßen vor Dirnen und Ochsentreibern wie sie selbst, über den Sinn der hl. Schriften disputieren. Und, gar schändlich zu sagen, während sie die Nacht über brünstig zwischen den Schenkeln der Weiber liegen, scheuen sie sich nicht tagsüber Reden der Engel zu erörtern und auf solche Weise Urteile über die verba doctorum zu fällen.

Es wäre für den Kardinal nicht notwendig gewesen, über nächtliche Tätigkeiten zu reden. In Regensburg dachte ein Probst von Kloster Emmeram bereits im 11. Jahrhundert anders: Das Neue müsse das Alte verändern, durcheinander geratenes Altes sei wegzuwerfen, Nebensächliches solle mit Respekt begraben werden. 189

9.10 Eigene Wege und Bewegungen Unter dem Druck der zahllosen Gewalttätigkeiten in Fehden, Kriegen und niedergebrannten Städten wandten Gläubige sich von der Kirche ab, die auf Ablasshandel statt auf Werkgerechtigkeit setzte. Handarbeiter*innen wussten, wann ein Werk aus dem Lot und ein Produkt unrecht waren. Über Jahrhunderte suchten sie Verhältnisse, die recht und billig waren, forderten eine verständliche und wörtliche Umsetzung der Evangelien und der Apostelbriefe. Aus wenigen wurden viele: Bogumilen, Patarener, Albigenser (Katharer), Waldenser und andere. Ärmliche Handwerker*innen in Mailand lebten als Humiliaten. „Rom“ verbot die Bewegung. 190 Andere verehrten um 1260 die Religiose Guglielma und wählten sich nach ihrem Tod Maifreda da Piovano als Päpstin. „Rom“ verbot die Bewegung. Salzburger Erzbischöfe und ihre Abgesandten reisten durch die Städte und hielten sich in Rom auf. Sie werden informiert gewesen sein. Laien lebten einen sozial-ökonomischen Alltag, der mit Religion untrennbar verbunden war, und schufen ihr Weltbild aus Welterfahrung. Im Balkanraum belasteten Kriege zwischen bulgarischen Zaren und oströmischem Kaiser die Menschen extrem. Viele lehnten materielles Streben, kirchliches Bildwerk und schließlich auch die Sakramente ab. Sie wussten um Anderes und verschmolzen Elemente einheimischer und persischer Religionen miteinander. Sie baten bog milui („Gott erbarme dich“) und wurden als „Bogomilen“ oder „Gottesfreunde“ bezeichnet. Christen in anderen oströmischen und Kiewer Herrschaftsbereichen schlossen sich an. Kaufleute, Kreuzfahrer*innen, Wanderprediger und reisende Priester berichteten und so erfuhren Gläubige von ihnen. In Adriahäfen, die

Händler aus der Salzburger Kirchenprovinz frequentierten, übernahmen manche diese Lebensund Denkweisen. In den wenigen Jahrzehnten zwischen den besonders restriktiven 3. und 4. Laterankonzilen (1179–1215) lebten viele Menschen ihren Glauben alternativ. Städter*innen in der Toskana und der Lombardei, die unter der Besitzgier hoher (und niederer) Kleriker litten, war der Mailänder EB Guido (11. Jh.) besonders verhasst. Häresiarchen predigten gegen Hierarchen; Laien forderten Kirchenund Sozialreformen; Pataria oder „Lumpensammler“ genannte Menschen lebten innerliche Gotteserfahrung und lehnten die kirchlichen Sakramente ab, da alle Kleriker der Simonie und Unkeuschheit verfallen seien. In Flandern predigte der Laie Ramihrdus ähnlich. Statt ihm zuzuhören, verhörten Inquisitoren ihn, fanden nichts Anstößiges, ließen ihn aber verbrennen. Die Patarener hofften, städtisches Kommune-Denken wiederherzustellen, und wehrten sich gegen willkürliche Herrschaft. Dadurch wurden sie Teil von Familien- und Fraktionsfehden und Mächtige schlugen ihre Bewegung nieder. In Süddeutschland bildeten in den 1090er Jahren ganze Dörfer eigene Gemeinden unter einem Pfarrer, so notierte es der Konstanzer Chronist Bernold. Er war Gegner des Ämterhandels und musste in ein anderes Kloster ausweichen oder fliehen. Diese Vielfalt konstruierten Päpste und hohe Kleriker generisch als „Ketzer“ und griffen, statt sich um Gottesfrieden zu bemühen, streitsüchtig in Alltagsleben und Denken der Laien ein. Sie erzwangen die Beichte, Laien hingegen fragten, ob nicht Institutions-Kleriker beichten müssten. Deren Orthodoxie forderte Widerspruch geradezu heraus

Bernd Fuhrmann, Hinter festen Mauern. Europas Städte im Mittelalter, Stuttgart 2014, Zitat Damianus 48; Moore, First European Revolution, 2. Der Frauenorden der Mailänderin Clara Blassoni existiert bis in die Gegenwart. Maria Pia Alberzoni, „Die Humiliaten zwischen Legende und Wirklichkeit“, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 107 (1999), 324–353.

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und über den rechten Glauben dachten urban oder kleinstädtisch Lebende aller Schichten nach, von der Champagne bis zur Grafschaft Toulouse, von der Stadt Albi – daher der Name „Albigenser“ 191 – bis nach Barcelona und bis in die Toskana. Die sprachliche Nähe von Katalanisch, Provenzalisch und Norditalienisch erleichterte die Kommunikation. 192 Sie fragten, wie es Böses neben einem allwissend-gütigen Gott geben könne. War er allwissend, hätte er von Anfang an um den zukünftigen Sünden- und Engelsfall wissen müssen. In der Provence mit ihren Seeverbindungen nach Konstantinopel und Syrien-Judäa trafen auch aschkenasische und sephardische Juden zusammen und einige entwickelten die Kabbala, fragten nach dem Ursprung der Welt, nach einer/einem eigenschaftslosen en-sof als verborgener Welt und suchten mystische Gotterkenntnis. Im Christentum bot die Verwandlung von Wein in Blut magische Aspekte und Mönche suchten nach magischen Bedeutungen in Namen, Zahlen und alten Texten, wie ihr Liber iuratus honorii (vermutl. 13. Jh., urk. 1347) und, besonders verbreitet, die Ars notoria (vor 1236) zeigten. 193

Abb. 9.21 Ars notoria, Titelblatt, London 1657

Unter Albigensern dachten manche, die Welt bestünde seit Ewigkeit. Gut sei die umfassende Kraft des Spirituellen, schlecht seien Materie und Menschen samt ihrem unvollkommenen Produzenten „Gott“. So hatten einst Gnostiker gedacht. Andere sahen, analog zur Kirche, Sexualität als negativ, doch befreie Erwachsenentaufe selbstverantwortlich Denkende. Für viele war Dogmatik über Gut und Böse weniger wichtig als die bewusste Entscheidung für die Taufe, für eine bescheidene Lebensweise und verständliches, praxisnahes Predigen. Als ein Papst im Zuge eines Besitzstreites in Orvieto (Mittelitalien) die Sakramente instrumentalisierte, riefen die Bürger*innen einen albigensischen Prediger. Auch wohlhabende Städter änderten ihren Glauben im Angesicht der großen Armut. Der Seidenkaufmann Petrus Valdes (gest. 1218) bot in Lyon in den 1170er Jahren Speisung für Weberfamilien. Diese schlossen sich als „Arme von Lyon“ zusammen, Arme in anderen Städten folgten und in der Languedoc hießen sie generisch „Weber“, tesseyres, tisserands. Erinnerer übernahmen die Bezeichnung „Arme“ nicht, sondern personalisierten die Bewegung nach Valdes als „Waldenser“. Die durchaus nicht ungebildeten Armen verwendeten selbst übersetzte Evangelien, um die ecclesia prima wiederherzustellen. Im Gegenzug verboten die Hierarchen Laien das Bibelstudium außerhalb kirchlicher Versammlungen und die aus ganz Lateineuropa zusammengekommenen Laterankonziliare verdammten „die armen Biblizisten“. Einige lokal herrschende Kirchenmänner akzeptierten sie, andere vertrieben sie, der EB-Lyon exkommunizierte sie 1182/83. Er bewirkte ungewollt, aber vorhersehbar, die Verbreitung des Gedankenguts: Flüchtlinge trugen es bis nach Brandenburg und Pommern im Nordosten, bis nach Bayern und Österreich im Südosten. Inquisitoren, darunter Passauer und Klosterneuburger, verfolgten sie. Menschen-Besitzer hatten die Abgaben, die

„Katharer“ war ein Schimpfname ihrer Gegner, die Übersetzung als „die Reinen“ wird in der jüngeren Forschung abgelehnt. Ein Überblick über Forschung und Interpretationen sowie eine soziologische Analyse bietet Jean-Louis Biget, Hérésie et inquisition dans le midi de la France, Paris 2007. Frederick A. Norwood, Strangers and Exiles: A History of Religious Refugees, 2 Bde., Nashville 1965, 1969; Anne Brenon, Les Femmes cathares, Paris 1992; Margaret Spufford (Hg.), The World of Rural Dissenters, 1520–1725, Cambridge 1995; Daniela Müller, Frauen vor der Inquisition. Lebensform, Glaubenszeugnisse und Aburteilung der deutschen und französischen Katharerinnen, Mainz 1996; Kathryn M. Karrer, Millennial Activities in Late Thirteenth-Century Albi, France, New York 1996. 193 Valerie I. J. Flint, The Rise of Magic in Early Medieval Europe, Princeton 1991; Richard Kieckhefer, Magic in the Middle Ages, Cambridge 1989; Michael Camille, „Visual Art in Two Manuscripts of the Ars Notoria“, in: Claire Fanger, Conjuring Spirits: Texts and Traditions of Medieval Ritual Magic, Sutton, GB 1998, 110–139; Zachary A. Matus, Franciscans and the Elixir of Life. Religion and Science in the Later Middle Ages, Philadelphia 2017. 191

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ländlich Produzierende nicht erbringen konnten, städtischen Handwerksfamilien auferlegt und diese formulierten kritische Gedanken lange vor Gründung der Franziskaner und Klarissen. Ihre Erkenntnis Gottes (gnosis) in eigenem Gebet, Anrufung Marias oder lokaler Heiliger ließ Zehnt-finanzierte Mittler überflüssig werden. Waldenser*innen forderten kein Bekenntnis: audientes hörten, credentes glaubten, „Gute“ – perfecti und perfectae in Inquisitionstermini – spendeten Trost und tauften durch Handauflegen. Durch ihrer Hände Arbeit mussten sich alle ernähren. Die Lebensweise erforderte Mut und, angesichts der schnell einsetzenden Verfolgungen, Solidarität. Viele Kleriker zielten, wie der miseria humanae conditionis-Papst Innozenz III., nicht nur auf Mund-Tod, sondern auf physische Vernichtung. Für einen Kreuzkrieg gegen die Albigenser gingen „Rom“ und „Paris“ eine Allianz ein. Die Kapetinger-Familie, Philipp II. amtierend, besaß nur das auf die Île de France beschränkte Krongut sowie Lehensleute im Sprachgebiet der langue d’oïl von Flandern über Burgund bis zur Loire. Die westliche Hälfte besaß, beanspruchte oder erheiratete die Königsfamilie Angevin – aus Anjou, unteres Loiretal, dann England. Den Kultur- und Sprachraum der langue d’oc, Languedoc oder Okzitanien genannt, beherrschte die Grafen-Familie in Toulouse. König Philipp wollte Land-mit-Untertanen und Zugang zum Mittelmeer, der Papst Ausrottung der Alternativen ohne Kosten für die Kurie. 1204, als Venezianer und Kreuzkrieger sich mit seinem Segen in Konstantinopel bereicherten und orthodoxe Kirchen zerstörten, regte Papst Innozenz einen Kreuzkrieg auch in Südfrankreich an. Dort hatte Graf Raimund VI. – in einer Etappe seiner sequenziellen Ehen – Eleonor aus Aragón geheiratet, deren Familie das Roussillon bereits besaß und begehrlich auf die Languedoc blickte. Der Papst schlug dem König zur Kostendeckung Annexion der Grafschaft vor. Er plante, wie bei den Orient-Kreuzzügen, den Kreuzkriegern die Aneignung des Besitzes der „Ketzer“ zu gestatten. Selbst der begehrliche König in Paris erkannte, dass dies einer Ermutigung zum

Raubrittertum auf allen Ebenen gleichkam. Er forderte Verfahrensregeln. 194 Nach Schätzungen standen zehn bis fünfzehn Prozent der Gläubigen der Alternativversion nahe, ein ähnlicher Anteil blieb traditionell-kirchlich, die übrigen standen dazwischen. Graf, Adel und Stadtbürger*innen sympathisierten mit ersteren. Der päpstliche Kardinallegat und Zisterzienser Peter (Castelnau) forderte als Oberbefehlshaber Graf Raimund, Familie Trencaval, provokativ auf, gegen seine Lehensleute, die eigene Familie und Untertanen vorzugehen. Dieser weigerte sich, der Legat exkommunizierte ihn, Unbekannte töteten den Legaten. 1209 begannen die kirchlichen Gewalttäter Krieg und eroberten die Stadt Béziers. Die Heerführer fragten, wie Papsttreue von zu vernichtenden Albigenser*innen zu unterscheiden seien, und der Zisterzienser-Abt Arnaud Amaury entschied: „Tötet sie alle! Es kennt der Herr die Seinen!“ Gewaltsamer Tod bei Kreuzigung, Martyrium bis zu brutalem Tod, Erschlagen von Heiden: In dieser Religionserzählung wurden viele umgebracht. In Béziers kamen 6000 (zeitgenössisch 20.000) Menschen um. Eine derartige Quantität Getöteter erschien im lateinkirchlichen Erzählraum meist nur im Zusammenhang mit „den Mongolen“. Der siegreiche Legat zwang den Herzog, nur mit Hemd bekleidet, vor angereisten hohen Klerikern zu schwören, Befehlen der Römischen Kirche zu gehorchen und „riss ihn fort in die Kirche durch das Spalier [von Mönchen?], die auf ihn einschlugen“ (Historia Albigensis). Kleriker in der Salzburger Kirchenprovinz berichteten ab etwa 1200 von Einflüssen lombardischer Armer, von Albigensern und Waldensern. Sie übernahmen die Demütigungsrituale. 195 In die annektierte langue d’oc-sprachige Region wanderten als Karriere-Migranten Inquisitoren von weither zu. Sie unterwarfen Stadtbürger*innen pauschaler Untersuchungshaft, zerstörten Wohnhäuser, zogen Vermögen ein und ließen die Leichen Verstorbener exhumieren, verurteilen und verbrennen. So könnten deren Seelen nicht auferstehen und die überlebende Familie war in Sippenhaft in Schande gestürzt. Sie entvölkerten die Region in einem Aus-

Die Zusammenhänge zwischen Glaubensverfolgung und Besitzaneignung stellte bereits Henry Charles Lea dar: A History of the Inquisition in the Middle Ages, 3 Bde., New York 1887–1888, dt. Geschichte der Inquisition im Mittelalter, hg. von Joseph Hansen, Bonn 1905. 195 Peter des Vaux de Cernay, Kreuzzug gegen die Albigenser. Die „Historia Albigensis“ (1212–1218), übers. von Gerhard E. Sollbach, Zürich 1997, 77–78, zitiert bei Auffarth, Ketzer. 194

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Abb. 9.22 Titelblatt des St.-Blasius-Bürgerspital-Urbars, 1512; links der hl. Stephanus, rechts der hl. Blasius

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maß, dass sie langue d’oïl-sprachige Arbeiter anwerben mussten, um Befestigungen verurteilter Adliger und Städte niederzureißen, und nördliche Adelsfamilien sandten Söhne als Soldaten und Administratoren. Während der über zwei Jahrzehnte nach dem Modell der Kolonialkriege in Palästina geführten Kämpfe (M. Roquebert) dehnte Philipp II. seine Macht bis an die Pyrenäen aus und seine Nachkommen errichteten über den Gräbern der Getöteten das königliche Frankreich. 196 Auch dies war der Salzburger Kirchenprovinz nicht fern: Die Herzöge in Österreich beteiligten sich an dem Krieg zwischen 1209 und 1229 und von der Languedoc aus zog Leopold VI. Babenberg 1212 in den anti-muslimischen Kolonialkrieg in Iberien und 1217 nach Damietta, Ägypten. Im mitteldeutschsprachigen Raum schlossen sich nur wenige Hochgestellte alternativen Überzeugungen an. Bekanntestes Beispiel war die im Alter von 21 Jahren verwitwete Landgräfin Elisabeth (1207–1231) in Thüringen, Tochter des arpadischbayerischen Königspaares. Sie widmete ihr Leben der Armenhilfe und Krankenpflege. Ihr Beichtvater – eine zweifelhafte Benennung – Konrad ließ sich vom Papst zu ihrem Vormund ernennen, behandelte sie brutal, nahm ihr und ihren Freundinnen, die später darüber berichteten, die Kinder weg und wollte ihren Besitz für die Kirche oder sich selbst akquirieren. Elisabeth starb im Alter von 24 Jahren, ob an Auszehrung oder durch die Misshandlungen Konrads wird debattiert. Sie blieb in der Erinnerung als „Volksheilige“ lebendig. Als 1512 Sebastian Waginger in Salzburg die Titelseite des Bürgerspital-Urbars gestaltete, stellte er Elisabeth in gleicher Größe wie Rupert und Virgil dar, ihr gegenüber Anna Selbdritt mit Ähnlichkeit zu Schutzmantelmadonnen. Elisabeths Verwandte, Herzogin Hedwig (Schlesien, ~1174–1243) und Äbtissin Agnes (Böhmen, 1205/11–1282), handelten ähnlich und bildliche Darstellungen zeigten sie als bescheidene An-

hängerinnen Christi nach dem Vorbild Maria Magdalenas. 197 Bekannt wurde der Theologinnenkreis im Kloster Helfta (bei Eisleben): Mechthild aus Magdeburg (~1207–1282), Mechthild aus Hackeborn (1241–1299) und Gertrud (später „die Große“, 1256–1301/2). 198 In Frankreich schrieb Marguerite Porète (~1250/60–1310) Le mirouer des simples ames (Spiegel der einfachen Seelen): Die Bischöfe in Cambrai ließen, unter Verweis auf den gefälschten Paulus-Text zum Schweigen von Frauen, erst das Buch, dann die clergesse, wie Chronisten die Autorin nannten, auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Theologinnen und Nonnen beschrieben Visionen, setzten sich mit Transzendenz auseinander, führten alltägliche Gespräche mit Christus, Maria und Heiligen, um religiöse Zweifel aufzuheben und theologisch-praktische Fragen zu klären. Auch sie lösten bei Institutsklerikern Angst vor Kontrollverlust aus. In der Salzburger Kirchenprovinz gab es viele Gründe zu klagen. „Unter den Armen, so wird berichtet, herrschte großer Unmut darüber, dass Priester die Spendung der letzten Ölung vom Besitz wenigstens zweier Kühe abhängig machten oder sie nur im Schein von zwölf teuren Leuchtern durchführen wollten“, notierten Passauer Inquisitoren. Wandergeistliche boten Gleiches kostengünstiger. Einige Pfarrer bestraften Körperpflege am Freitag oder Sonntag als verbotene Arbeit, andere fragten als Beichtväter – Beichtmänner? – Frauen nach ihrem und ihrer Gatten fleischlichen Gelüsten. Weitere verletzten das Beichtgeheimnis, verwendeten Essig und verdorbenes Brot für die Kommunion, lasen Messen nach durchzechter Nacht ohne liturgische Kleidung. Die Zahl der Fest- und Feiertage, an denen Leute ihre Äcker nicht bestellen und ihr Handwerk nicht ausübten durften, war unübersichtlich. Ein Passauer Kleriker zählte 120 im Jahr, oft für unbekannte Heilige oder skandalöse Reliquien. Pfarrer benachbarter Kirchen stritten sich um die Echtheit der von ihnen aufbewahrten Ge-

Michel Roquebert, Die Geschichte der Katharer. Häresie, Kreuzzug und Inquisition im Languedoc, übers. von Ursula Blank-Sangmeister, Stuttgart 2012 (frz. 1999); Auffarth, Ketzer, 62–63, 84–90. Der Zisterzienser Caesarius (~1180–~1240) in Köln verwendete das Massaker in Béziers in seinen Exempla zur Belehrung von Novizen über künftiges Verhalten. 197 Atkinson, Motherhood, 64–100. 198 Sabine B. Spitzlei, Erfahrungsraum Herz. Zur Mystik des Zisterzienserinnenklosters Helfta im 13. Jahrhundert, Stuttgart 1991. Gertrud argumentierte in Exercitia spiritualia und Legatus divinae pietatis, dass Visionen andersartiger Glaubensausdruck seien. Legatus wurde im späten 12. Jahrhundert bekannt, die Drucklegung erfolgte durch die Frauen der Kölner Kartause St. Barbara 1536. Wichtiger wurde die deutsche Übersetzung Boten göttlicher Milde, Leipzig 1505. 196

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beine. Für Gläubige gab es der kirchlichen Anweisungen sehr viele, von Christus nur wenige. 199 Den Herrschaftsraum der Salzburger EB und der Hz Babenberg erreichten fliehende Waldenser um 1200, nur etwa 25 Jahre nach den ersten Armenspeisungen in Lyon. Historiker fragten sich, weshalb die „Fremden“ unter lokalen Christen „unbehelligt“ leben konnten. Sie lebten ihre persönliche vita apostolica, ihre „Guten“ spendeten Trost ohne Gebühr. Ansässige waren aus eigener Anschauung zu ähnlichen Überzeugungen gelangt: Laut kirchlichen Quellen sprachen inquisitorisch Befragte nicht Französisch oder Lombardisch, sondern Deutsch. Zugewanderte und eingeborene Waldenser*innen dürften in der Provinz weit zahlreicher gewesen sein als Kleriker aller Ränge. Zwölf (!) Meister (rectores) der Armen, je sechs langue d’oc- und lombardisch-sprachige, versammelten sich 1218 in Bergamo und legten Glaubenssätze in einem „Sendschreiben“ nieder: Christus spräche ohne Interpretation und Kommentare von Theologen und ohne Vermittlung durch Priester; Materielles und Spirituelles bilde eine Einheit ohne Unterscheidung zwischen heilig und profan; es gäbe keine heiligen Orte oder Dinge; Frauen und Männer könnten predigen, taufen und das Abendmahl vollziehen – sie wirkten durch Christus; alle müssten in Armut leben und so den Ärmsten nahe bleiben. Lateinkleriker sahen dies anders, Salzburger hatten schon 1207 in Passau und 1210 in Klosterneuburg die Verfolgung begonnen. Leopold, Hz Österreich, wollte profitieren: Nicht nur hätten Pfarrer jedes Gerücht über „Ketzerei“ zu melden und Pfarrmitglieder in Kollektivhaftung zu beschwören, dass sie keine Ketzer seien, sondern angesichts der im Passauer Suffraganbistum festgesellten „ketzerischen Schlechtigkeit“ forderte er vom Papst ein eigenes Bistum für Wien. Dies verhinderte jedoch der in Wien an eigenem Hof residierende, Zehnt-einziehende Passauer Offizial. Die Herzöge konnten ihr Ziel erst 1469 verwirklichen. Klosterneuburger Mönche entdeckten Anhänger der „häretischen Pest“, pestilens heresis, und berichteten, dass die Angeschuldigten brutal zu Tode gebracht worden seien. Ketzer gäbe es auch in Wie-

ner Neustadt, Friesach und Kärnten, in Wien und Umgebung. Dreizehn Jahre nach der Konferenz der zwölf Meister wählte Papst Gregor IX. Bergamo, um seine Inquisition zu dekretieren. Er ernannte Konrad, geprägt von Menschenverachtung und seinerzeit (mit-) verantwortlich für den Tod Elisabeths, zum Inquisitor. Gestützt auf dessen Behauptungen, „informierte“ der Papst 1233 die deutschen Bischöfe über häretische Luziferianer oder Teufelsanbeter. Gesichert ist, dass viele Angst vor Konrad hatten: Unbekannte erschlugen ihn. In Salzburg verweigerte sich EB Eberhard II. dessen fanatischer Hetze. Als nach Berechnung des Joachim aus Fiore Ankunft und Niederlage des Antichristen und Beginn der dritten und letzten Weltepoche ohne Bedarf für Kirche nahte und der Papst sein ad extirpanda-Dekret verkündete, verurteilten Inquisitoren 1252 einen Geistlichen in Friesach und 1260 viele in der Traun-Ybbs-Region. Verängstigt durch eine Epidemie in Oberitalien und den Weltuntergang befürchtend zogen 1260 Geißler durch die Lande. Friedlich lebten Waldensisch-Gläubige von Vorarlberg über den Donauraum bis zum Wienerwald. So mussten EB, Passauer Suffragan und König zeigen, dass sie in Kontrolle waren. Der Passauer Bischof begann lokale „Ketzerverfolgungen“, der König mit den Rittern des Deutschen Ordens „Kreuzzüge“ in die Ferne gegen Menschen wendischen Glaubens. Die Passauer Inquisitoren zählten 1260 42 Dörfer und Städte, in denen Männer und Frauen waldensischer Überzeugung Versammlungsräume, scolae, unterhielten; ihre Kinder seien „eingewachsene“ Gemeinschaft (M. Windischhofer). Ein vermutlich in der Region tätiger Geistlicher, genannt „Passauer Anonymus“, stimmte Teilen der Kirchenkritik der Armen zu und beschrieb ihre brutale Verfolgung. 200 Die „Leonisten“ (Lyonisten) genannten Armen galten in vielfacher Hinsicht als gefährlich: (1) Ihre mit den Aposteln beginnende genealogia ließ sie traditionsreicher erscheinen als die angeblich durch Kaiser Konstantin inthronisierten Päpste. (2) Sie verbreiteten sich über alle Länder und wirkten (3) durch ihr „gerechtes Leben“ als Vorbild. Sie glaubten an Transsubstantiation von Brot und Wein

Martin Windischhofer, Die Waldenser in Österreich. Aufbruch, Verfolgung und Wandel der frühen Bewegung bis 1315, Diplomarbeit, Universität Wien 2006, 77–79, Zitat 77. 200 Windischhofer, Waldenser, 30–65. Alexander Patschovsky, Der Passauer Anonymus. Ein Sammelwerk über Ketzer, Juden, Antichrist aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1968. 199

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Abb. 9.23 Pfarreien, in denen Inquisitoren 1266 Ketzer „entdeckten“, nach Werner Maleczek

im Mund von Empfänger*innen statt durch Weihe und lehnten Fürsten, Richter und das gesamte Instrumentarium von A bis Z, Ablass bis Zehnt, ab. Ihre Prediger lebten von Arbeit; Predigeramt und Eucharistie standen Frauen offen. Sie trafen sich in Werkstätten von Webern und Schustern; wandernde Handwerker*innen trugen die Gedanken weiter; eine Vielfalt von Gemeinden und Netzwerken entstand. Der Passauer Anonymus war beeindruckt: Männer und Frauen, alt und jung, lernten bei Tag und, nach ihrem Tagewerk, bei Nacht in Volkssprachen; sie verkündeten apostolisch das Evangelium allen Geschöpfen (Mk. 16,15); Bauern waren fähig, Textstellen zu zitieren. Das Engagement mag modernen Bürgerinitiativen vergleichbar sein (M. Windischhofer). Noch ein halbes Jahrhundert später war es selten, dass „ein Mann oder eine Frau den Text des Neuen Testaments nicht auswendig hersagen“ konnte. Die Inquisitoren ließen viele umbringen und auch darüber werden Nachrichten in viele Richtungen getragen worden sein. Wie wirkten die Verhöre auf Dorfnachbarn? Sie erlebten Terror: gezwungen auszusagen, durch Drohungen eingeschüchtert, grausame Hinrichtungen. 201 Fünf Jahrzehnte später ließen der Passauer Bischof und der Salzburger EB Konrad IV. die Verfolgungen wieder aufnehmen. Sie entsandten „zween

inquisitores bonos“ nach Steyr, die das Tragen des grellfärbigen Ketzerkreuzes auf der Oberbekleidung erzwangen, lebenslange Haftstrafen verhängten und die Ketzerei durch Tod auf Scheiterhaufen auszurotten (estirpant) suchten. Die „Kremser Inquisition“ (1312–1315) in Wien, Krems und St. Pölten fällte Hunderte von Urteilen, darunter fast vierzig Verbrennungen wegen „schwarzer Messen“ genannten Feiern des „siegreichen Lucifer“, Ablehnung von Heiligenverehrung, Verachtung von Lateingläubigen als „krumbs holcz“, Verunglimpfung von Dominikanern und Franziskanern als „kirchphaffn“ und von Geistlichen als „Römlinge“ und „Verkehrer guter lewtt“. Andacht außerhalb von Kirchen verurteilten die Inquisitoren als „Teufelsmessen“. Aber unternahmen sie Teuflisches? Sie rückten einer Gysla (Gisela) unter Zuhilfenahme von Folterwerkzeugen „zu Leibe“ und fragten nach ihrer Jungfräulichkeit. Sie antwortete, sie sei Jungfrau auf der Erde aber nicht (mehr) unter der Erde. 202 Ein Jahrzehnt nach der Pest, 1362 bis 1370, agierte in Steyr der Inquisitor Heinrich aus Olmütz. Waren seine Opfer Nachfahren der früher Verfolgten? Besonders intensiv wirkte auf Veranlassung des Passauer Fürstbischofs Georg (Hohenlohe, h. 1390–1423) 203 der Inquisitor Petrus Zwicker – geboren in Ostpreußen im Herrschaftsgebiet des Deutschen Ordens, Schulrektor in Böh-

Windischhofer, Waldenser, 66–105; Ernst Werner, „Ideologische Aspekte des deutsch-österreichischen Waldensertums im 14. Jahrhundert“, Studi Medievali (Spoleto) Serie 3, 4.1 (1963), 217–237; Peter Segl, „Die Waldenser in Österreich um 1400: Lehren, Organisationsform, Verbreitung und Bekämpfung“, in: Albert de Lange und Kathrin Utz Tremp (Hg.), Friedrich Reiser und die „waldensisch-hussitische Internationale“ im 15. Jahrhundert, Heidelberg 2009, 161–188. 202 Windischhofer, Waldenser, 110–117. 203 Georg, vom Domkapitel gegen den Willen der Bürger gewählt, konnte die Stadt nicht betreten. Dort residierte seit 1387 Bischof Ruprecht, bei Amtsübernahme 22 Jahre alt, über den bayerischen Teil der Diözese. Georg residierte im österreichischen Teil in St. Pölten. Er verschaffte sich 1393 gewaltsam Zugang zu Passau. 201

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men, Mönch – oft gemeinsam mit dem Inquisitor Martin aus Prag: 1391 in Steyr; Massenprozesse in Erfurt und Stettin; 1395 erneut in Steyr und dem benachbarten Garsten; 1396 in Enns; 1397/98 wiederum in Steyr, wo mehr als tausend Menschen verhört und achtzig oder mehr verbrannt wurden. Ihr Todesort heißt bis heute „Ketzerfriedhof“. 204 Weiter in Tyrnau/Trnava (Mähren) und Hartberg (Steiermark), 1401 in Sopron/Ödenburg Abriss von Häusern der Waldenser und Verbrennung von aus ihren Gräbern gerissenen Toten. Danach Wien. In und nahe Steyr wehrten Gläubige sich. Sie zündeten das Pfarrhaus der Garstener Filialkirche an und brachten, nach Berichten, Pfarrer samt Gesinde um; der Nachfolger entging einem Anschlag nur knapp. 1394 wohnten Zwicker und Gefolge bei dem Pfarrer und Gesinnungsgenossen Friedrich in Steyr. Dessen Speicher wurde in Brand gesteckt und verkohltes Holz mit blutigem Messer am Stadttor angebracht. Zwicker verurteilte auch Kinder, nahe Steyr einen zehnjährigen Jungen. Angeklagte Frauen wehrten sich und hielten Heinrich seine Tod- – für die Verbrannten tödlichen – Sünden vor. In Garsten wurde eine Els Fewr als junge Frau bestraft, dann durch den Pfarrer Friedrich als Sechzigjährige zu Bußgängen um die Kirche verurteilt, während derer der Priester sie mit Ruten schlagen sollte. Wolle sie die Kirche betreten, müsse sie sich an der Türschwelle hinlegen, damit die Messbesucher sie mit Füßen träten. Die Demütigung erinnert an die des Grafen Raimund. Petrus Zwicker ließ sie als 67-Jährige verbrennen. Ulrich aus Pottenstein, seit 1380 Landeshauptmann ob der Enns, später Pfarrer und Dechant in Enns, unterstützte die Verfolgungen und Verbrennungen und erwarb bis zu seinem Tod 1416/17 bedeutenden Grundbesitz. Profitierte er von Vermögensstrafen? 205 In dem auf die Pest folgenden Jahrhundert wehrten sich lateinkirchenweit Pariser Handwerkerfamilien 1358, 206 Arbeiter*innen (ciompi, popolo minuto) der Florenzer Bekleidungsgewerbe 1378, flandrische bürgerliche Woll- und Textilzünfte 1381, Genuesen

gegen Bourbonen-Herrschaft 1409. In England ließ die Plantagenêt-Familie zur Finanzierung ihrer 1337 in Frankreich begonnenen Kriege seit 1373 Sondersteuern erheben: Der Priester, Gelehrte und Politiker John Wyclif (1330–1384) veröffentlichte seine Kritik an der Römischen Kirche, Bauern rebellierten 1381 in Essex gegen das rigorose Vorgehen eines Klerikers bei der Einziehung unbezahlter Steuern. Sie forderten die Abschaffung der Leibeigenschaft und Grundherrschaft, freies Jagd- und Nutzrecht in Wäldern, Abschaffung der Arbeitszwang-Gesetzgebung von 1349 und 1351 und eine Kirchenreform. Wandernde „Heckenprediger“ förderten das Denken und John Ball verkündete Gottesgnade für alle rechtschaffen Lebenden. „Alles ist Gott; jedes Wesen ist überall, da jedes Wesen Gott ist.“ Wie Patarener*innen und Albigenser*innen lehnte Wyclif Augustins character indelebilis-Schutzbehauptung ab, irrende oder sündigende Kleriker seien abzusetzen und zu bestrafen. Nach England reisten 1382 im Zuge der Heiratsmigration von Anne, Schwester des böhmischen und seit 1376 römisch-deutschen Königs Wenzel, junge Adlige. Sie studierten in Oxford und trugen Wyclifs Schriften nach Prag. Dort nahm Hieronymus (1379–1416), der in Oxford, Jerusalem, Paris, Köln und Heidelberg studiert, gebetet und gelehrt hatte, das Denken auf. Jan Hus las sie, entwickelte die moderne Schreibweise des Tschechischen – national-kultureller Aspekt im Religionskonflikt – und predigte auf Straßen. Der Prager EB tolerierte dies trotz der Interventionen eines der drei KonkurrenzPäpste, der in Prag durch Ablassversprechen Söldner für seinen Krieg gegen die Familie Anjou in Neapel anwarb. Als Gläubige den Ablasshandel 1412 beenden wollten – Gottes Gnade dürfe nicht käuflich sein –, ließ der finanziell beteiligte König drei von ihnen hinrichten. Straßenkämpfe folgten. 207 Anders als Wyclif blieb Hus in Bezug auf die Rolle von Frauen Rom-kirchlich: keine Priesterehe, Warnungen an alle Kleriker vor Kontakt mit Frauen. Adlige unterstützten Hus, sei es aus Überzeugung, sei es als Gegenposition zur Herrscherfamilie

Den Opfern wurde erst 1997 ein Denkmal gesetzt. Werner Maleczek, „Die Ketzerverfolgung im österreichischen Hoch- und Spätmittelalter“, in: Erich Zöllner (Hg.), Wellen der Verfolgung in der österreichischen Geschichte, Wien 1986, 18–39. 206 Den „Aufstand“ schlugen Adlige nieder. Sie hatten gefordert, dass die Unterschichten die Verwüstungen der Kriege mit den englischen Plantagenêt und Karl Navarra („der Böse“) zusätzlich zu allen Abgaben reparierten. 207 J. Patrick Hornbeck und Michael Van Dussen (Hg.), Europe after Wyclif, New York 2016, bes. Ota Pavlíček, „Wyclif’s Early Reception in Bohemia and His Influence on the Thought of Jerome of Prague“, 89–114. 204 205

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Habsburg, sei es in der Hoffnung auf Bereicherung am Besitz unwürdiger Kleriker. Hus, 1410 aus Prag verbannt, wirkte als Wanderprediger, sah Gesellschaft als Volk und viele Herrscher und Kleriker als teuflisch, corpus diaboli. Diese gesellschaftsund kirchenkritische Bewegung war Salzburg nicht fern, der Salzhandel führte nach Böhmen. Kleriker hatten die Situation der Kirche und der Gläubigen im 1. Lied der Benediktbeurer Sammlung zusammengefasst: Hand, die was zu bieten hat, / macht die Frömmigkeit zum Hohn; Mammon weiß sich immer Rat, / Mammon auf dem Friedensthron; Mammon macht das Krumme grad, / Mammon ist der Kriege Lohn. Gilt doch den Prälaten / Geld für gute Taten, und die Richter raten / nur für Golddukaten.

Weiter hieß es; „Armut selbst wird eingeschirrt / in das Joch der Gebepflicht“ und „Schenken von Pfründen heiligt die Sünden“. Dies hörte auch der Passauer Anonymus von Gläubigen. Was hörten die Erzbischöfe? Was wollten sie hören? Und was hörten Laien über die Schismen der Kleriker? 208 Über deren Geburtstheologie wussten sie nicht nur Bescheid, sondern wussten es besser: Eva het einen man, / der was gehayssen Adam. Seytt der zeyt an [= ohne] man/nye kain fraw kain kindt gewan, noch nymmer gethuet. / Also stett unser gelawben und unser uet. 209

Die Kirchenprovinz war, wie Lateineuropa insgesamt, eine sehr lebendige Glaubenslandschaft.

9.11 Institutionelle Innenkämpfe: Konstanzer Konzil, viele Päpste, Scheitern Innerhalb der Institution suchten Kleriker gegen den Papst-mit-Kurie Konzile wieder in ihre (Gewohnheits-) Rechte einzusetzen. Dafür tagte, nach einem Konzil in Pisa 1409, über vier Jahre das Konstanzer Konzil (1414–1418), ein weiteres achtzehn Jahre in Basel (1431–1449) sowie, päpstlich abgespalten, in Ferrara-Florenz-Rom (1437–1445). In Konstanz sollte, erstens, das personelle sogenannte „große abendländische Schisma“ (seit 1378) zwischen zerstrittenen Kardinälen und Parallelpäpsten gelöst werden, causa unionis. Die Konziliare besprachen sich über die Konkurrenzpäpste Gregor XII. (Rom), Benedikt XIII. (Avignon) und Alexander V., gefolgt von Johannes XXIII. (Pisa), setzten sie ab und Martin V. aus der stadtrömischen Adels-Familie Conti 1417 ein. Er residierte angesichts des Chaos im Patrimonium Petri anfangs in Mantua und Florenz, stattete in hemmungslosem Nepotismus seine Familie mit der Region Latium aus, verbündete sich in süditalienischen Kriegereien mit einem der unbeliebten Anjou und rief seine nördlichen Bundesgenossen zum Kreuzzug gegen die Hussiten auf. Der Kardinal und Konziliar Pierre d’Ailly (Petrus de Alliaco) wusste um die Geduld des Teufels: Er warte, bis Herrschaftsbereiche sich 208 209 210

durch interne Kriege selbst in desolaten Zustand brächten. 210 Das zweite Ziel, das inhaltliche Schisma zwischen Apparat und Kritiker*innen zu beenden, causa reformationis, erreichten die Verhandelnden nicht. Auch das dritte Ziel, Glaubensfragen so zu lösen, dass alternativen Gedanken der Boden entzogen würde, causa fidei, blieb unerreicht. Ein viertes Thema war die einst von Salzburg aus im Südosten begonnene und im 12. bis 14. Jahrhundert im baltischen Nordosten fortgeführte Expansion. Zwar hatten die Mächtigen der Polnisch-Litauischen Union um 1400 das Christentum angenommen, doch die Raubritter des Deutschen Ordens unternahmen Beutezüge, bis sie 1410 bei Tannenberg vernichtend geschlagen wurden. Über die Bevölkerung Žematiens, die sich gegen den Zehnt wehrte, richteten die Konziliare 1417 das Bistum Varniai ein. Ein Erfolg der causa reformationis hätte für viele Kleriker finanzielle Einbußen – besonders aus dem Ablassverkauf – bedeutet. Die Mehrheit entschied für ihr Einkommen. Sie verurteilte den Reformdenker Jan Hus und ließ ihn trotz Zusage freien Geleits nach folterähnlicher Haft am 6. Juli 1415 verbrennen und ebenso ein Jahr später seinen

Carmina Burana, 6–9. Zitiert in Windischhofer, Waldenser, 111–117. Barbara H. Rosenwein, A Short History of the Middle Ages, 2 Bde., Peterborough 2004, 2:305.

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Prager Lehrer Hieronymus und die Gebeine des 1384 verstorbenen John Wyclif. Wie einst die Zerstörung Lindisfarnes durch Heiden, verbreiteten Boten die Nachricht im gesamten Lateineuropa. Die Konziliare konnten den durch ihre Entscheidung initiierten böhmischen Religions- und Habsburg-tschechischen Krieg mit ansehen; sie erlebten nicht mehr, dass Martin Luther, wie es heißt, Gottes Gnadenzusage – ohne Ablasszahlung – „entdeckte“. Diese stand im Johannesevangelium (1,16–17) und viele lasen sie. Der Teufel war sich sicher, „es wirt kain reformation beschehen“ (Des Teufels Netz, Z. 2947). Im Konzilort Konstanz lebten 6000 bis 8000 Männer und Frauen samt ihren Kindern; 1492 Bürger zahlten Steuern, die übrigen waren Familienangehörige oder zu arm. 211 Bischof, alte Patrizier und Zunftmeister stritten teils blutig um die Macht. Ulrich Richental, der nahe dem Münster wohnte und als Schreiber und Notar des Konzils fungierte, verfasste eine Chronik aus Bürger*innen-Perspektive. Er zählte, samt Bediensteten, zwischen 50.000 und 70.000 weltliche und klerikale Besucher*innen mit Pferden und Trosswagen. 212 Versammlungsort waren das Münster und ein großes Kauf- und Lagerhaus, dessen Bau Mailänder Kaufleute, die bessere Infrastruktur benötigten, angeregt oder durchgesetzt hatten. Unterkäufer vermittelten zwischen Fern- und lokalen Händlern, sicherten Belieferung von Kleinhändler*innen und sollten eine Machtballung bei Großkauf-Familien verhindern. Diese lokal-weltgewandten, oft zugewanderten, etwa hundert Familien handelten von Krakau bis Flandern, über Oberitalien bis nach Rom und westwärts bis nach Spanien. Für die Vermarktung der als Tela di Constanza bekannten schwäbischen Leinwand hatten 1380 drei Familien aus Ravensburg, Konstanz und Buchhorn (Friedrichshafen) die Große Ravensburger Handelsgesellschaft gegründet. Das Konzil leitete König Sigismund (1368– 1437), dessen Name in deutscher, tschechischer,

kroatischer und ungarischer Variante geschrieben wurde und der Deutsch, Lateinisch, Italienisch und Französisch sprach. Er war Kurfürst von Brandenburg (zweimal) und König von Ungarn und Kroatien (als beide gerade vereint waren). 1387 hatten er und Maria, Königin von Ungarn (1370/71–1395), geheiratet: Daher der entsprechende Titel, den allerdings Marias Geburtsfamilie, „die Anjou“, gern gehabt hätte. Die Anjou hatten von Frankreich her mittels Verhandlungen und Hinrichtungen, Einkerkerungen und Kriegen-Kreuzzügen-Duellen gegen Dynastien, Teildynastien und Päpste ein Weltreich und das Königreich Jerusalem angestrebt. Letztlich besaßen sie Sizilien und Neapel, wo sie ihre „französischen“ Administratoren die Bevölkerung so unterdrücken und ausbeuten ließen, dass diese sich 1281 am Abend der Ostermontags-Vigil in Palermo gewaltsam gewehrt hatte. Sigismund lebte in ständigen Geldnöten und hatte 1388 die gesamte Bevölkerung der Mark Brandenburg verpfändet und der Familie (Hohen-) Zollern (ursprünglich Zollernalb in Schwaben) zum Lehen gegeben. Nach Marias frühem Tod, 1395, behielt er Ungarn und zog gemeinsam mit französischen und burgundischen Truppen – und im Streit mit deren Anführern um den Oberbefehl – gegen „die Türken“. Das Heer erlitt 1396 eine vernichtende Niederlage. Sigismund floh auf einem venezianischen Schiff über Konstantinopel nach Dalmatien und heiratete 1405 Barbara, Familie Cilli (1390– 1451, Slowenien). Die Königin, später Kaiserin, verwaltete ihren eigenen Besitz und übernahm zeitweise die Regierungsgeschäfte des Reiches. Sie hielt sich ein Jahr in Konstanz auf und der Stadtrat bat sie, der armen Frau Maria bei der Eintreibung von Herbergsschulden zu helfen. Als ihr Ehemann 1418 die Stadt verließ, prellte er Rat und Bürger*innen um die Kosten seiner Unterbringung. Der Salzburger FEB Eberhard III. erreichte die lebendige Stadt nach einem Ritt über Hunderte Kilometer mit Rast im Zisterzienser-Kloster Salem. Er

August Franzen und Wolfgang Müller (Hg.), Das Konzil von Konstanz. Beiträge zu seiner Geschichte und Theologie, Freiburg 1964, bes. Otto Feger, „Das Konstanzer Konzil und die Stadt Konstanz“, 310–333; Sabine Weiß, „Salzburg und das Konstanzer Konzil (1414–1418)“, MGSL 132 (1992), 143–308, und MGSL 134 (1994), 173–190; Walter Brandmüller, Das Konzil von Konstanz, 1414–1418, 2 Bde., Paderborn 1998–1999; Ansgar Frenken, Konzil von Konstanz, 1414–1418, in: Historisches Lexikon Bayerns, https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Konzil_von_Konstanz,_1414–1418 (24. August 2020). 212 Mit einem quantitativen Ansatz ließen sich die Gesamtkilometer der Anreisen abschätzen und unter Berücksichtigung regionsspezifischer Bevölkerungsdichte die Anzahl der Menschen, die anreisende Gruppen sahen. Angesichts von deren Zahl wird allerdings der Neuigkeitswert zumindest entlang der Hauptrouten abgenommen haben. 211

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

hatte in tiefer systemischer Finanzkrise entschieden, seine Probleme auf Juden zu projizieren. Sie waren Teil des Wirtschaftslebens und noch im Mai 1404 vermietete er dem Vertreter der Gemeinde Nachem samt Söhnen Heli und Ehaser ein Haus als Synagoge und Schule. Wenige Wochen später ließ er alle Juden in Salzburg und Hallein zusammentreiben und verbrennen. Nur reiche Juden, magni judei, und Kinder unter elf Jahren ließ er am Leben und zwei schwangere Frauen, deren Verbrennung er bis nach Geburt ihrer Babys aufschob. Eberhard nutzte ein von einem Kirchendieb erpresstes „Geständnis“, im Auftrag von Juden gestohlen zu haben. Kirchenprovinz-weit ließ er Menschen jüdischen Glaubens vertreiben und Boten deren „Untaten“ in München und Linz vermelden. Familien-finanzpolitisch konfiszierte er Häuser vertriebener Juden in Pettau und Friesach und gab sie seinen Brüdern Sigmund, Burghauptmann in Salzburg, und Andreas, Burghauptmann in Friesach, bei denen er Schulden hatte. 213 Erinnerer haben oft von mordendem „Pöbel“ gesprochen – auf welcher sozial-korporativen Ebene dieser angesiedelt war, wäre zu klären. Die Salzburger jüdische Gemeinde galt, mit etwa siebzig Mitgliedern, als klein. Die St. Peter-, Petersfrauen- und Erentrudis-Klöster, zusammen ebenfalls etwa siebzig Personen, galten nicht als klein. 214 Eberhard reiste als Judenmörder und würde viele Kollegen treffen, die – nach gleichem Maßstab – Christenmörder waren: Sie hatten Ketzer in eigenartiger Sprachfigur „dem Scheiterhaufen überantwortet“. Unter den – in Konstanz nicht immer gleichzeitig anwesenden – Salzburger*innen befanden sich 9 Prälaten, 14 hochgestellte Kurialen und Prokuratoren, 16 oder mehr niedere Geistliche, die sich etwas erbitten wollten, eine Hofmeisterin, ein Mönch und ein Küchenknecht. Der FEB und der Propst in Berchtesgaden, die sich vom König belehnen ließen, hatten viel zu sehen, zum Beispiel dessen Einzug am Jahrestag von Christi Geburt, dem 24. Dezember 1414. Oder die Rückführung des als

Stallknecht verkleideten und mit Hilfe von Friedrich IV. Habsburg aus der Stadt geflohenen exPapstes Johannes XXIII. Die Verbrennung von Jan Hus sah der EB nicht, denn er war im April 1415 abgereist und erst von März bis Juli 1417 erneut anwesend. Die Konstanzer*innen nahmen wahr, wie die schaustellenden Hochgestellten mit den Abgaben ihrer Untertanen Einritte, Prozessionen, Herrschaftsrituale und vieles andere inszenierten. Salzburgs Passauer Suffragan Georg (Hohenlohe) kam, Reichtum demonstrierend, mit hundert Pferden – die Händler des Heumarktes werden angetan gewesen sein. Geistliche wohnten in Bischofssitz und Klöstern, Botenreiter und Pferdeknechte schliefen in Stallungen. Bei Diners der Herren war die Essensmenge Schaustellung. Wo kauften Köch*innen, Mägde und Knechte die Besonderheiten ein? Bäcker*innen wanderten zu, um spezifisch regionale Geschmäcker zu bedienen, Bodenseeschiffer lieferten ihnen Getreide. Um Preistreiberei zu vermeiden, regelte der Rat die Preise für viele Nahrungsmittel, Wein, Pferdefutter und Brennholz und ernannte zur Qualitätskontrolle Herings- und Fleischbeschauer sowie Vermittler bei Herbergsproblemen. Durch den Hafen hatte die Stadt Zugang zur weiteren Umwelt, als Umschlagplatz für den Fernhandel hatte sie eine gute Infrastruktur. Händler mussten Sonderposten wie Frösche und Schnecken für die Tafel der französischen Gäste einführen. Schnecken hätten sie lokal kaufen können, denn sie waren von Süddeutschland bis Wien Speis armer Leute. Welche Erlebnisse erzählten Pferde- und Küchenknechte an Stationen der Rückreise? Handwerker*innen kamen in großer Zahl und in kluger Entscheidung stellte der Rat Fremde und Einheimische gleich und hob Zunftregelungen auf: So durften Brotbäcker auch Zuckerwerk herstellen, Weißgerber auch andere Leder bearbeiten, Tafelmaler sich ihre Holztafeln selbst zuschneiden. Als Gewerbetreibende wanderten auch 700 Prostituierte zu, heimliche Zeitarbeiterinnen nicht gerechnet.

Der FEB beglich aus den eingezogenen Vermögen Schulden der Ermordeten, zumindest gegenüber einem Gläubiger in Nürnberg. Vermutlich konnte er sich mit dieser Stadt keinen Konflikt leisten. Herrscher zahlten oft christlichen Kauf- und Handwerker-Familien Rechnungen nicht. Den so Ruinierten galten sie unter Anspielung auf ihre Blutsgerichtsbarkeit als „Halsabschneider“. 214 Adolf Altmann, Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg. Von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart, hg. und ergänzt von Günter Fellner und Helga Embacher, Salzburg 1990 (1. Aufl. 2 Bde., 1913, 1930), 91–97. 213

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Institutionelle Innenkämpfe: Konstanzer Konzil, viele Päpste, Scheitern

Neben den öffentlichen Häusern richteten hochgebildete Kurtisanen für die hochgebildete Elite private Häuser ein. 215 Mit den vielen Währungen waren italienische Wechsler, Kloster-Kämmerer und Zisterzienser vertraut. Die Wachleute der Stadt hatten es nicht leicht: Die Freiherren von Enne (Thurgau) – Lehnsnehmer der Hz Österreich und ab 1415 im Gefolge des Königs – betätigten sich als Räuber. Als sie ein Handelsschiff angriffen, ertränkten wütende Bürger ihre Knechte im See und zündeten ihre Burg an. Jeder Magnat musste mit seinem eigenen Zentralort kontinuierlich in Verbindung bleiben und sich Geld schicken lassen. Vielen „arme priester, curtisan und schüler“ ging das Geld aus und der Rat richtete ein Arbeitsbeschaffungsprogramm gegen „spis und lon“ ein. Sie arbeiteten als Bauhelfer, gelehrte und geweihte Männer in Weingärten. Dies amüsierte Stadtbewohner*innen dermaßen, dass der Rat verbot, die „fremden armen gesellen“ zu verspotten. Mit Konzilsende brach für Städter*innen wie Zugewanderte der Markt zusammen, nur die Fernhändler-Familien traf die scharfe Rezession nicht. Für die Tagung gaben die Konziliare sich eine Geschäftsordnung und stimmten in fünf nationes ab: Italica, Gallicana, Germanica – Skandinavier, Polen und Litauer, Böhmen und Ungarn, Kroaten – sowie Anglica und Hispanica. Die Konziliare hatten einander vieles zu berichten und zu debattieren. Sie sprachen mit dem orthodox-kirchlichen Gesandten Manuel Chrysoloras, der lateinkirchlichen Gelehrten den Anstoß zur Auseinandersetzung mit frühen, „antik“ genannten Texten gab. Manche hörten den Südtiroler Dichter und Diplomaten Oswald von Wolkenstein (1376–1445), der Kreta, Preußen und Litauen, Tatarei und Türkei, Frankreich, Spanien und die Lombardei kannte und, wie er stolz schrieb, zehn Sprachen, darunter das Arabische, gelernt hatte. 216

Die Versammelten setzten eine Kommission ein, die das Verbot des Zinsnehmens mit dem Kreditbedarf der Fernhändler, Herrscher und Klerikalen in Einklang bringen sollte. Ein Jahrhundert früher hatten Fachleute des Konzils in Vienne Nehmen und Geben von Zins zur Häresie erklärt und der Inquisition unterstellt. Doch der Kreditbedarf wuchs, Prälaten nahmen leichtfertig Geld auf; Verrentung von Besitz betraf jeden Mönch und jede Nonne, die bei Eintritt ins Kloster als „Mitgift“ unfrei Arbeitende einbrachten, deren Zinse ihren Unterhalt sicherten. Die wirtschaftstheologische Kommission löste das wirtschaftsethische Problem Zins vs. Wucher, indem sie Rentenbeziehungen Kreditcharakter absprachen und sie unter Kauf-Verkauf einordneten. Vereinfacht: Wucher war verwerflich, Zins fragwürdig, aber sinnvoll, Gewinn legitim. Sie segneten die „kommerzielle Revolution“ ab. 217 Nur ein Jahr nach dem Versagen in causa reformationis und causa fidei begannen Kriege zwischen böhmischen Hussiten und Habsburg-nahen Adligen und König Sigismund. Letzterer, seit 1419 böhmischer König, verlor fünf Kriegszüge und in Basel akzeptierten die Konziliare 1436 die hussitische Kirche. 218 Als sie den Papst absetzten, exkommunizierte er sie und verlegte ein Rumpfkonzil dank Finanzierung durch die Familien Este und, anschließend, Medici in seinen Einflussbereich. Die in Basel Verbliebenen debattierten ergebnislos die Aufhebung des Zölibats; erklärten, dass Maria nicht mit „Erbsünde befleckt“ sei und dachten über die Schriften von Birgitta nach. Sie schrieben, ökonomisch traditionell, einen Ablass für die Konzilsfinanzierung aus. Sozial nahmen sie die Aussage des Schwabenspiegels (~1280), alle Menschen seien anfangs frei gewesen, auf. Ein Maler schuf an einer Friedhofsmauer im Zentrum der Stadt für alle sichtbar ein Totentanz-Gemälde mit der Botschaft, dass der Tod alle gleich behandele: vom Papst und

Der Bildhauer Peter Lenk setzte ihnen und den korrupten Klerikern und Weltlichen in Konstanz mit „Imperia“ und Laubebrunnen 1992 und 1993 Denkmäler. 216 Judith Herrin und Stuart M. McManus, „Renaissance Encounters: Byzantium Meets the West at the Council of Ferrara-Florence 1438–39“, in: Marina S. Brownlee und Dmitri H. Gondicas (Hg.), Renaissance Encounters: Greek East and Latin West, Leiden 2013, 35–56; Hans Moser, „Wie eine Feder leicht“: Oswald von Wolkenstein, Lieder und Nachdichtungen, Innsbruck 2012, 13. 217 Clemens Bauer, „Diskussionen um die Zins- und Wucherfrage auf dem Konstanzer Konzil“, in: Franzen und Müller, Konzil von Konstanz, 174–186. 218 Der amtierende EB ging – vielleicht des Amtes halber – zur hussitischen Seite über und von 1421 bis 1561 amtierte in Prag kein römischer EB. 215

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

Kaiser bis zum Koch, Bauer, Waldbruder. 219 Die Botschaft war so bedeutungsvoll, dass das Fresko einem Musterbuch zum Vorbild diente. Auf diesem

beruhte das Totentanz-Fresko am Karner der Gemeinde Metnitz (Abb. 9.16).

9.12 Religionskriege, Reformen und Judenvernichtung in Böhmen, Salzburg und Österreich Mehrheitskleriker verstanden die Gleichheits-Botschaft nicht, sondern lebten die Feindbilder „Ketzer“ und „Türken“. Die Gemeinden Jüdisch-Gläubiger und südeuropäischer Muslimisch-Gläubiger hatten sie bereits weitgehend vernichtet. 220 Für die Menschen vom Bodensee über Salzburg bis Wien bedeuteten sowohl die Habsburg-Kriege gegen Hussiten wie die internen Kriege in Böhmen schwere Belastungen. Kleriker grenzten sich gegen Hussiten ab, Laien in dem mit Böhmen eng verbundenen Waldviertel der Passauer Diözese waren mit deren Denken vertraut. Bei Eggenburg zog ein Hz Habsburg 1422 ein Heer zusammen, Nahrungswerker mussten zuwandern und Maurer für Backöfen. Ein hussitisches Heer belagerte die Stadt 1428/29. Auch diese Nachrichten verbreiteten die Menschen schnell. 221 Schiffer führten Salz von Reichhall und Hallein über Laufen zur Donau, Säumer von Passau, Linz, Krems und Stein kommend auf Pfaden über den Böhmerwald. Sie wechselten ihre Routen gemäß Machtverhältnissen und Abnehmer*innen. Salzburgs Kauf-Familien ließen auch „Südwaren“ nach Böhmen transportieren und erhielten von dort Getreide und Glasprodukte. Kirchlichen Institutionen diente der „Salzweg“ als Einkommensquelle, das Frauenkloster Niedernburg (Passau) zum Beispiel besaß Zollrechte auf dem Weg nach Prachatice (Südböhmen), wo Säumer übernachten mussten. 222 Ein wenig östlich lag Husinec und, wer Maut und Stapel vermeiden wollte, „hinterging“ den Mautort Prachatice durch einen Seitenweg über Husinec, wo

Jan Hus in einer Fuhrmanns-Familie geboren worden war und wohin er sich 1412 für zwei Jahre zurückzog. Hörten sie seine Gedanken? In Böhmen war Mittelhoch- oder Dialektdeutsch Bürgersprache, Tschechisch die Sprache städtischer Unterschichten und der Landbevölkerung. In einer Verquickung herrschaftlichen Lavierens und universitär-gesellschaftlicher Debatten um die Frage, welcher von mehreren Päpsten zu unterstützen sei, hatte König Wenzel IV. auf Rat von Hus im Kuttenberger Dekret die tschechische Sprache aufgewertet. Unter Protest zog ein großer Teil der Rom-treuen und nominalistischen deutsch-sprachigen Scholaren ab. Sie gründeten im 260 km westlich gelegenen Leipzig/Lipsk, Kreuzungsort von Handelsrouten, eine neue Universität; manche fanden kongeniale Umgebung anderswo; alle waren mit den Prager reformatorischen Debatten vertraut. In Husinec entschieden sich 1419 Anhänger von Hus für den Laienkelch unter beiderlei Gestalt, Freiheit der Predigt des göttlichen Wortes, Verzicht von Geistlichen auf irdische Güter und weltliche Herrschaft, Bestrafung von Todsünden, besonders der Simonie. Sie spalteten sich jedoch in Utraquisten und in Taboriten, die rigoros gemäß der „reinen Heiligen Schrift“ an baldige Wiederkehr Christi glaubten und sozialrevolutionäre Forderungen stellten. Säumer hörten viel, trugen es weiter und erzählten es Kollegen, die die nächste Wegstrecke übernahmen. Sie trugen auch Wissen um Brutalitäten weiter: Als die Prachaticer sich gegen Hus’ Denken entschieden, eroberte ein Heer unter Jan Žižka 1420 die Stadt, ver-

Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 133. Hexenverfolgungen waren nicht Thema des Konzils. Die Gefahr eines „Teufelspaktes“ hatte Augustinus propagiert. Thomas (Aquin) hatte, vielleicht als Gegenbild zu Joachims drittem, aufgeklärtem Zeitalter, um 1260 einen dämonischen Staat von Teufels-Verführten konstruiert. Ronald Hutton, The Witch. A History of Fear from Ancient Time to the Present, New Haven 2017. In der Diözese Salzburg wurde eine „Zauberin“ im Raum Goldegg verbrannt (1443); Hexenverbrennungen begannen in westalpinen Regionen; im Österreichischen fanden die letzten Verbrennungen ~1680 statt; im insgesamt wenig beteiligten Erzstift Salzburg endeten die Verfolgungen ~1690. 221 Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 1.1:497–498. Die Prälaten verboten Frauen luxuriöse Kleidung und geboten Juden be-zeichnende Kleidung. 222 František Kubů, Petr Zavřel, Goldener Steig, in: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Goldener_ Steig (24. August 2020). 219

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Religionskriege, Reformen und Judenvernichtung in Böhmen, Salzburg und Österreich

brannte die Männer in der Kirche und vertrieb Frauen und Kinder als vogelfrei. Nicht nur durch das päpstliche Ausrottungsdekret und durch die Ordensmänner des Dominikus konnten christliche Glaubensbekenntnisse tödlich sein. Im Jahr der Salzburger Judenvernichtung, 1404, wurde Albrecht Habsburg (V., 1397–1439) als siebenjähriger Bub Herzog in Wien. Seine Berater sahen in der neuen christlichen Kritik an den alten kirchlichen Verhältnissen eine Bedrohung alt-aktueller Machtverhältnisse. Seine Familie verheiratete Albrecht mit Elisabeth, Tochter des Kaiserpaars Sigismund und Barbara. Sie war bei den Eheverhandlungen zwölf Jahre alt. Ziel der elterlichen biopolitics war es, Albrecht besonders (kosten-) intensiv in den vom Papst angeordneten Krieg gegen die Hussiten einzubinden. 223 Er strebte eine Klosterreform an, um das Übergreifen reformerischen Denkens auf Niederösterreich zu verhindern. Aus dem Kloster Melk am Donauhandelsweg schickte er die Mönche fort und den Abt in gut dotierte Pension. Der neue Abt Nikolaus Seyringer (1360–1425) war Rektor der Universität Wien gewesen, dann Abt des Benediktinerklosters von Subiaco nahe Rom. Er und die anfangs nur etwa zwanzig neuen Mönche verkündeten 1431 die „Melker Klosterreform“: Aufhebung des Adelsprivilegs für die Aufnahme von Noviz*innen, solide Wirtschaftsführung, Verbesserung des Bibliothekswesens und (Wieder-) Aufnahme von Schulbildung, Trennung von geistlichen und weltlichen Klosterämtern. 224 Die Neuerer wiesen unliebsame Mönche (zum Beispiel aus dem Wiener Schottenkloster) aus und versetzen widerspenstige Priester in kleinere Gemeinden. Mönche aus fernen Klöstern reisten an, um die Lebensformen zu studieren. In St. Peter führte Abt Georg Waller (1428–1435) die Reformen angesichts „dringend benötigter innerer Erneuerung“ ein. Das Adelsmonopol fiel in St. Peter 1431, in Erentrudis 1451, in Göß erst 1618: „slechte leut“ und „edle leut“ seien gleichermaßen aufzunehmen. Die Rückkehr zu asketischer Lebensweise erhöhte das Ansehen der Klöster. Die zu dieser Zeit nur vier Salzburger Domherren hingegen lebten, acht Jahrzehn-

te vor ihrer Verweltlichung, sehr locker und von Laien wenig respektiert. 225 Ein unerwünschter Anstoß für Änderungen kam aus der Ferne, als muslimische Heere den Balkan erreichten. Statt sich selbstkritisch über Gottesstrafe zu befragen oder gar die causa reformationis wieder aufzunehmen, errichteten die christlichen Herrschenden eine Propagandamaschinerie. Dies aufgeheizte Meinungsklima nutzte Hz Albrecht, um rigoros gegen Alternativ-Gläubige und mörderisch gegen Juden vorzugehen. Da ihm, unter anderem wegen seiner Söldner in Böhmen, Geld fehlte, beschuldigte er die etwa 800 Wiener Juden, Hussiten mit Waffen versorgt zu haben und befahl 1421, alle jüdischen Gemeinden zu vernichten: durch Zwangstaufe (die der angerufene Papst verbot), durch Vertreibung der ärmeren donauabwärts nach Ungarn, durch Verbrennung. Wiens jüdische Kauf-, Gelehrten- und Händler-Familien verbrannten sich in der Or-Sarua-Synagoge (urk. seit 1204) selbst und angesichts der bevorstehenden Ermordung nahmen sich jüdische Männer und Frauen in anderen Orten, Mödling und Perchtoldsdorf zum Beispiel, das Leben. Die Beschreibungen der Brutalitäten durch den Wiener Theologen Thomas Ebendorfer (Cronica Austriae, 1463) und einen anonymen, vielleicht nach Ungarn deportierten jüdischen Autor (Geserah in deutscher Sprache und hebräischer Schrift) stimmten überein. Christliche Untertanen christlicher Magnaten litten ebenfalls lateineuropaweit. Jack Cade formulierte in Punkt 1 der Beschwerde der armen Untertanen in Kent (1450) eine fundamentale Elitenkritik und festen Glauben an einen gerechten Gott: „[we] trust to Almighty God to remedy, with the help and the grace of God and of our sovereign lord the king, and the poor commons of England, and else we shall die therefore“. Der König sei umgeben von „insatiable, covetous, malicious persons [… that] daily inform him that good is evil and evil is good“: 226 Herrschaft als verkehrte Ordnung. Als Narrenfest? Von einem besonders unersättlichen Kleriker sahen sich Salzburger Gläubige bedroht. Kardinal und Fürsterzbischof Burkhard II. aus

Albrecht, auch König von Böhmen, Ungarn, Kroatien, wurde 1438 „römisch-deutscher König“. Anfang des 16. Jahrhunderts war das Kloster erneut zerrüttet. 225 Heinz Dopsch, „Klöster und Stifte“, Zitat 1.2:1012. 226 Text History Department, Fordham University, New York: Medieval Sourcebook: Jack Cade: Proclamation of Grievances, 1450, https:// sourcebooks.fordham.edu/source/1450jackcade.asp (24. August 2020). 223

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege

Weißpriach (Lungau) versorgte seine Familie aus Kirchenbesitz und forderte 1462 das Vierfache der üblichen Abgaben. Die zu Zahlung Verpflichteten

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dachten ähnlich wie die englischen und wehrten sich.

10 Wirtschaft, Alltagsleben und Herrschaft vom Großen Sterben bis zum 16. Jahrhundert Die Überlebenden des Großen Sterbens mussten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ihre persönlich-familiären und community-weiten Verhaltensmuster und Netzwerke re-arrangieren, KindEltern-Beziehungen und Zuneigungen neugestalten und zerbrochene Hauswirtschaften zu existenzbietenden Einheiten zusammenlegen. Lebten sie unter einer „Psychologie der Pest“? Mit veränderter Spiritualität, da Gott nicht geholfen hatte? Einzelne bemittelte Gläubige spendeten der Kirche, wenn sie überlebt hatten; Künstler*innen wendeten sich, oft auf der Basis eigener Erlebnisse, dem Tod als Topos zu; Maler und Flugblattdrucker dem Gegensatz zwischen arm und reich. Mächtige übergaben zwar unverändert Immobilien, mussten jedoch angesichts der Verknappung ihrer wichtigsten Ressource – Unterhaltszahlende und Dienstpersonal – Kompromisse eingehen: Leibeigenschaft wurde für zwei Generationen weniger drückend, Städte erhielten oder nahmen sich dauerhaft mehr Rechte. Auf der Ebene des ZWH → ZWR (Zentraleuropäisches Weltliches Reich) bewegte sich Kaiser Karl IV./Wenczeslaw zwischen Instabilität und Stabilität: instabile Finanzen durch hohe Zahlungen für seine Wahl 1355, stabiles Wahlprozedere 1356, Destabilisierung der Herrschaftseinheit zur Versorgung seiner Familie. 1421 gingen Karls Familie Luxemburg und die zweisträngige Familie Habsburg ein Ehebündnis ein. Elisabeth L. und Albrecht II. H. heirateten; Vetter Friedrich III. H., Innsbruck, übernahm nach Albrechts frühem Tod 1439 die Geschäftsführung. Er heiratete 1452 Eleanor aus Portugal in Rom; sein vormaliger Sekretär Aeneas Silvius de Piccolomini amtierte von 1458 bis 1464 als Papst Pius II. Friedrichs und Eleanors einzig überlebender Sohn, Maximilian (I., geb. 1459) wurde 1493 Kaiser. Parallel expandierte die Nachbargroßmacht der unter anderen Partnerschaftsbräuchen lebenden Sultane. Beide standen einander ab Mitte des 15. Jahrhunderts entgegen.

Im Rom-kirchlichen Bereich herrschte Durcheinander und Verfolgung. Papst Johannes XXII., gewählt im Jahr nach der großen Hungersnot 1315, lebte fürstlich und dekretierte, dass über Christi und der Apostel Armut nicht gesprochen werden dürfe (s. Kap. 9.9). Nachfolger Benedikt XII. hatte als Inquisitor die Albigenser besonders des Dorfes Montaillou verhört und begann den Palastbau in Avignon. Als Clement VI. ihn im Jahr der Pest bezog, ließ er Astrologen prüfen, ob nicht ungünstige Sternenkonstellationen die Pest hervorgerufen hätten. Dies hätte Gott von Schuld freigesprochen. Der nachfolgende Innozenz VI. verfolgte die Armen Franziskaner rigoros. Laien formulierten im gesamten Lateineuropa „Beschwernisse“. Die Zahl der Menschen sank angesichts weiterer Epidemien bis 1420 auf ihren tiefsten Stand. Statistiker der Salzburger Diözese, die nicht Wirtschaftskraft, sondern militärische Stärke interessierte, zählten 1456 etwa 11.000 Häuser oder Haushalte (je zehn hatten im Falle eines Aufgebotes einen ausgerüsteten Mann zu stellen): Bei etwa sechs Personen je Haushalt bedeutete dies eine Bevölkerung von 66.000 Menschen. Die Zahl hatte sich 1495 bei der Erhebung der „Gemeiner Pfennig“ genannten Reichssteuer wenig geändert. Zwei weitere militärbezogene Zählungen, 1531 und 1541, ergaben 108.500 bzw. 123.500 Menschen im gesamten Gebiet (79.000 bzw. 86.500 innerhalb der heutigen Landesgrenzen). Etwa die Hälfte lebte im Inner-Gebirg mit knapp drei Vierteln der Fläche, die Hügel im Vorland waren dichter besiedelt. 1 Wirtschaftlich half den Überlebenden das selektive Sterben: Alte und Kranke, Geschwächte in arbeitsfähigem Alter und kränkliche Kinder mussten sie nicht mehr unterhalten, ertragsarme Hufen und marginale Handwerksbetriebe nicht weiterführen. Ein Drittel der Bevölkerung starb, ein Viertel aller Siedlungen stand leer, doch sank die Landnutzung nur um ein Fünftel und die Pro-Kopf-Leistung

Heinz Dopsch mit Michael Mitterauer, „Hochmittelalter“, in: Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.1:229–436, hier 354–359. H. Dopsch hat als Landeshistoriker viele Angaben auf „das Land Salzburg in seinen heutigen Grenzen“ umgerechnet.

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stieg. In Städten lagen Werkstätten und Häuserzeilen wüst. Die Menschen bildeten zügig neue Partner- und Hausgemeinschaften, denn Landund Handwerk erforderten Familienarbeit. Ein sektoraler Aufschwung begann bereits seit den 1360er Jahren. Da in den Pest-Folgedekaden Kinder fehlten, stieg der Wert gebärfähiger Frauen und sexuelle Enthaltsamkeit wurde wirtschaftsfeindlich. Kleriker hätten über vieles sinnieren können. Ich behandle zuerst die Arbeitskraft-Verknappung und technische Innovation nach 1348/49 und wende mich (an Kap. 8 anschließend) dem Leben in kleineren Städten und Marktorten sowie der Residenzstadt zu (Kap. 10.2, 10.3). Ich blicke auf die vielfältigen Gewerbe, auf Knechte, Mägde, Diener*innen und Tagelöhner*innen (Kap. 10.4); auf ländliche Menschen (Kap. 10.5, im Anschluss an Kap. 7) und das Wirtschaften im Gebirge (Kap. 10.6). Abschließend wende ich mich der allgemeinen Krise seit den 1450er Jahren und der FEB-Krise 1466 bis 1495 zu (Kap. 10.7) und erläutere Gesellschaft und Machtstrukturen um 1500 (Kap. 10.8). Zwei Entwicklungen, asiatisch-imperial und zentraleuropäisch-urban, rahmten und beeinflussten die Entwicklungen. Nach Ende der Pax mongolica ermöglichte das osmanische Sultanat weiterhin den Austausch mit Zentralasien und, über muslimisch-arabische Mittler, zum Indischen Ozean. Innerhalb Lateineuropas adaptierten Städter die ländliche Technologie der Weinpressmaschinen zu Druckerpressen und handwerklich-intellektuelle Kleinunternehmer verbreiteten Schriften, die vorher nur Klerikern und Gelehrten zugänglich waren: Druck mit Holzplatten seit 1409, mit beweglichen Lettern seit 1445/46. Bürger und Landpfarrer erwarben Bücher, das „gemeine Volk“ pfennwerte Flugschriften. Unter diesen Dynamiken veränderten die Menschen Mentalitäten und Beziehungen zwischen Herren- und Untertanen-Familien. Zunftmeister suchten Kontrolle, unzünftige „Störer“ unkontrollierte Arbeit; akkumulierende Einzelne (zer-) störten Gemeinsames; überhöhte Bedürfnisse der Mächtigen störten die Versorgung aller mit Nah-

rung. Weistums- oder Rechtsverlesungen betonten leistbare Preise, geeichte Maße, normierte Brotgewichte. Wer sich daran nicht hielt, übertrat die Normen. „Über“ schuf Probleme: Ländliche Menschen durften Güter der Nachbarn nicht überfahren, übermähen, überackern und anderes über gemeinschaftlichen Konsens hinaus tun. „Übertun“ als Rechtsbruch setzte eine moral economy. Doch Amtleute und Priester übertrieben Gebühren und die Räte der FEB mahnten repetitiv vor Übervorteilung der Untertanen und individuellem Profitstreben (Überteuerung). Die Übervorteilten ihrerseits wehrten sich seit 1462 übermäßig, aber situativ angemessen. 2 Städter*innen suchten, wie Dorfbewohner*innen vor ihnen, ihr Gemeinschaftsleben zu regeln: munizipal selbstbestimmt als convivia oder commune, verstanden als Gemeinschaft, „nützlich und ehrlich“ (utile et honestum) im Rahmen handwerklicher „Gerechtigkeit“. Die feste Basis, jede*r müsse seine/ihre Nahrung erarbeiten können, implizierte dynamische Initiative. Der industrious revolution ab Mitte des 17. Jahrhunderts (Jan de Vries) ging eine Phase hoher Spannungen zwischen individuellem Streben und Gemeinschaft voraus. Akkumulation, oft als Fortschritt verstanden, bedeutete (relativen) Rückschritt für andere Teile der jeweiligen Gemeinschaft. 3 Im Interesse des Gemeinwohls begannen die Menschen, Sozialhilfeeinrichtungen und Berufsgenossenschaften zu bilden. „Wir als gemainde“, arm und reich, schrieben Augsburger Bürger*innen in ihrer neuen Stadtordnung von 1340. Die Erzbischöfe sahen die Dynamik der Reichsstädte, die Bürger*innen deren Liberalität. Gemeinwohl war auf dem Markt der Ideen und Staatstheorien „im Angebot“: Das Konzept formulierten Denker wie Johannes Viterbiensis (Liber de regimine civitatum, Viterbo, ~1250), Brunetto Latini (Livre du Trésor, Paris/Florenz, ~1260), Aegidius Romanus (De regimine principum, Paris u. a., 1277–1279) und Marsiglio (Defensor pacis, Padua, 1324). Konrad aus Megenberg stellte Mensch und Kosmos im Rahmen göttlicher Schöpfung und allegorischer Bedeutungen an den Anfang seines „Buches von den natür-

Die Interpretation beruht auf den Urkunden und Dokumenten in Heinrich Siegel und Karl Tomaschek (Hg.), Die Salzburgischen Taidinge, Wien 1870; Franz V. Spechtler und Rudolf Uminsky (Hg.), Die Salzburger Stadt- und Polizeiordnung von 1524, Göppingen 1978; und dies. (Hg.), Die Salzburger Landesordnung von 1526, Göppingen 1981. 3 Jan de Vries, „The Industrial Revolution and the Industrious Revolution“, Journal of Economic History 54 (1994), 249–270; und ders., The Industrious Revolution: Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, New York 2008. 2

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Wirtschaft und Herrschaft nach der Pest

lichen Dingen“ (Regensburg, 1348–1350). Die Regensburger Steinmetzordnung von 1459 würde auf rechtem Werk beruhen (s. u.). „Gemeinwohl“ war angesichts unterschiedlicher Interessen jedoch ein Plural, initiativ Akkumulierende konnten abnehmenden Zusammenhalt bewirken. 4 Die Menschen

arbeiteten produktiv und reproduktiv – die Trennung der Bereiche ist ohnehin ideologisch – für Lebens-Mittel. Arbeitslos bedeutete brotlos, übermäßige Abgaben an und Bereicherung durch Herrschaft bedrohten Gemeinschaft und Einzelne. 5

10.1 Wirtschaft und Herrschaft nach der Pest Um 1350 lebten in der gesamten Kirchenprovinz nach Schätzungen etwa eine Million Männer, Frauen und Kinder. Jede der folgenden sechs Generationen erlebte – aber überlebte nicht immer – Kriege und Brandschatzungen, Seuchen wie Pest und Pocken („englischer Schweiß“), die alle trafen, und Fleckfieber („Kriegspest“), das als Krankheit der Armen galt. Krankheiten breiteten sich besonders in engen Bergarbeitersiedlungen, Handwerksvierteln und bei massenhaftem Auftreten von Soldaten aus; in den kontaktintensiven Städten war die Ansteckungsgefahr auch für Bessergestellte hoch, im Gebirge trug die Mobilität der Säumer zur Verbreitung bei. Dennoch lebten um 1500, wiederum geschätzt, 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen in der Region. Im veränderten Sozialgefüge der Oberschichten befehdeten sich verarmende Grundherren- und Ritterfamilien um die verknappten Ressourcen und dies erhöhte die Gefahren und verringerte den Lebensstandard für ländliche Familien. Äbte und Bischöfe, die von Natural- und Geldzinsen lebten, gerieten, handwerklich ausgedrückt, in die Klemme. Heimliche Abwanderung, geringere Ernten und Münzverschlechterungen ließen ihre Einnahmen – sprachlich selbstläufige Einkommen oder Einkünfte – sinken. Klein-ritteradlige Familien lebten weiterhin „standesgemäß“. Die daraus folgende Schuldenlast begrenzte ihre Optionen auf Ämter unter MagnatenFamilien, begünstigte Raubrittertum und erhöhte den Druck auf ihre Unfreien, die – ökonomisch rational – mit Abwanderung reagierten. Die Mehrheit der Magnaten-Familien hingegen

hatte die Veränderungen früh erkannt und die Unterhaltszahlungen von bäuerlichen Zinsen auf Handelszölle und Abgaben der Städter*innen verlagert. Besitzstrategisch verdrängten sie kleinfeudale Zwischen-Gewalt-Täter, beschränkten dörfliche Rechte, verschärften Weide-, Wald- und Holzbanne, Regalien auf Mühlen, erhoben neue Steuern. Die regional und persönlich spezifischen Rechtsstellungen ihrer Unfreien ersetzten sie durch einen den Gewohnheiten widersprechenden Untertanenstatus – Gewohnheitsrecht war bewohntes Recht und Schutzraum. Sie führten Abwanderungsverbote bzw. hohe Lösegebühren ein, proklamierten Treuepflicht, verstärkten regionsspezifisch Lebenseigenschaft und erhöhten Heirats- und Todfallabgaben. 6 Dies betraf auch die Emotionen ihrer Untertan*innen: Sie verliebten sich und sahen Heiratsbeschränkungen mit Unmut; sie hatten Angst vor Generationenwechseln, denn der Einzug von Todfall verringerte die Optionen ihrer Kinder; Erben ohne Land hatten kaum Möglichkeiten, einen neuen Hausstand zu gründen. Herrschaftliche Besitzinventuren zielten auf Erhöhung der Abgaben. Menschen quer durch Lateineuropa stellten die Herrschaftsverhältnisse in Frage (s. Kap. 9.10), SchriftBeherrschende werteten die Versuche zur Selbstbefreiung als „Bauernkriege“ und „Aufstände“, die Beteiligten als gewalttätig und brutal. Die Männer, Frauen und Kinder waren wütend und gelegentlich zerstörerisch; sie hatten über Generationen die strukturelle Gewalt der Grund-mit-Menschen-Besitzer durchlebt, hatten Verwandte und Nachbarn durch Fron und Fehde zu Tode kommen sehen.

Antony Black, Guild and State. European Political Thought from the Twelfth Century to the Present, rev. New Brunswick, NJ 2005 (11984). Die genannten Autoren des 13. und 14. Jahrhunderts nahmen komplexe Positionen ein, Aegidius unterstützte die Vernichtung der Templer, Konrad wandte sich gegen Bettelmönche. 5 Barbara A. Hanawalt (Hg.), Women and Work in Preindustrial Europe, Urbana, IL 1986. Zum Konzept „Nahrung“ Josef Ehmer, „Arbeitsdiskurse im deutschen Sprachraum des 15. und 16. Jahrhunderts“, in: Jörn Leonhard und Willibald Steinmetz (Hg.), Semantiken von Arbeit: Diachrone und vergleichende Perspektiven, Köln 2016, 93–113, hier 99. 6 Werner Rösener, Bauern in der europäischen Geschichte, München 1993, 102–103. 4

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Aus Sicht der Eliten bedeutete die Verknappung von Arbeitskräften nach der Pest Verlust von Macht-über-Menschen. Statt ihre Unfreien zu verschenken oder zu verkaufen, mussten sie in Konkurrenz um Arbeiter*innen bessere Löhne und Bedingungen bieten. Als letztere sich individuell mobil für das beste Entgelt verdingten – aber bevor sie kollektiv ihre verbesserten Positionen nutzen konnten –, begannen die Machthabenden Bewegungsfreiheit und Lohnhöhe einzugrenzen. Eliten von Skandinavien bis Italien und im Alpen- und Donauraum, in Tirol 1349 und in Wien 1352, legten „Knechte-Ordnungen“, die auch Mägde betrafen, fest, um Arbeit zu den alten Bedingungen zu erzwingen. 1351 sollte ein Statute of Labourers des englischen Obermagnaten („König“) alle Männer und Frauen, die sich nicht von eigenem Land, Handel oder Handwerk ernähren konnten, zwingen, für ein Jahr in Dienst zu gehen, ohne das Recht zu kündigen oder abzuwandern. Das Parlament, zusammengesetzt aus Dienstherren, bezeichnete dem Zwangsdienst Entflohene und Lohnfordernde als böswillig, frech und „überheblich“. Sie wollten sich in der Tat über den ihnen zugewiesenen Platz erheben. Johannes aus Salisbury hätte dies voraussagen können. Doch stieg das Lohnniveau über zwei bis drei Generationen, dann stagnierten oder sanken die Löhne wieder und die Herren setzten Unfreiheit auf Zeit durch: Arbeitsplatzwechsel nur an einem einzigen Tag im Jahr, dem des hl. Martin, nach Abschluss der Ernte. 7 In diesem Rahmen wies zum Beispiel der habsburgische Herzog die adlige Äbtissin des Stiftes Göß 1363 an, unerlaubt abziehende Eigenleute festnehmen zu lassen. In der Kirchenprovinz re-signierten ländliche Familien ihre Lehen und wanderten ab, mit Gewalt (violenter), wenn sie daran gehindert werden sollten. FEB, Domherren und St. Peter-Mönche zogen ausgeliehene Freisassen-Familien zwangsweise zurück auf eigenes Land. 8

Für ländliche Hausgemeinschaften bedeutete der Nachfrage-Rückgang bei steigender Pro-KopfProduktivität graduelle Neuorientierung, zügigen Pfadwechsel oder Marginalisierung. Für handwerkende Familien scheinen – wiederum regional sehr unterschiedlich – die Einnahmen gleich geblieben zu sein. Da in Land- wie in urbaner Gartenwirtschaft Eigenversorgung vorherrschte, hatten steigende oder sinkende Preise nur geringen Einfluss auf die alltägliche Nahrung, denn Subsistenzwirtschaftende substituierten Familienarbeit für Zukauf. Im 12. und 13. Jahrhundert hatte Bedrückung durch Herren und Vögte Land→ Stadt-Wanderung, vielleicht Flucht vom Land und aus Leibeigenschaft, initiiert, im beginnenden 14. Jahrhundert schlechte Ernten. 9 Knechte und Mägde, ländliche Handwerker und Kleinpächter, die Taglohn oder Dienst suchten, nutzten städtische Chancen. Arbeit gegen Geld erlaubte Entscheidungen über dessen Verwendung, soweit über das Lebensnotwendige hinaus etwas übrigblieb. Kleinbäuerliche Familien mit geringer (Getreide-) Marktanbindung hatten ein Auskommen und verkauften – wenn nötig – einen Teil ihrer Arbeitskraft gegen Lohn oder expandierten in verwaistes marginales Land. Bessergestellte Familien mit ertragreichen Hufen oder mittleren Höfen mussten Knechte und Mägde entlohnen; solche mit größeren Höfen erwarben günstig zusätzliches Land und gestalteten dieses zu Betrieben mit Lohnarbeiter*innen und Marktanbindung, kalkulierten Lohnkosten und Preise. Schlechte Ernten, Viehkrankheit, Kriegseinwirkung und persönliche Unbill wie Arbeitsunfälle und Krankheit drängten auch sie leicht an den Rand des Existenzminimums. Auf allen lasteten alte Abgaben und neue sogenannte Landessteuern. Immerhin ersetzte um 1400 die Erbleihe weitgehend das Freistift, aber die Leib-/Lebenseigenschaft wurde nicht abgeschafft. 10 Im Montansektor erreichte die Regression ihren

Robert Vivier, „La grande ordonnance de Février 1351. Les mesures anticorporatives et la liberté du travail“, Revue Historique 46 (1921), 201–214; Helen Robbins, „A Comparison of the Effects of the Black Death on the Economic Organization of France and England“, Journal of Political Economy 36 (1928), 447–479; Jacques Le Goff, „Le temps du travail dans la ‚crise‘ du XIVe siècle“, Moyen Âge 69 (1963), 597–613; William M. Bowsky, „The Impact of the Black Death upon Sienese Government and Society“, Speculum 39 (1964), 1–34. 8 Herbert Klein, „Das große Sterben von 1348/49 und seine Auswirkungen auf die Besiedlung der Ostalpenländer“, MGSL 100 (1960), 91–170. Angesichts der Mindereinnahmen waren von den 24 Posten der Kanoniker des Domkapitels weniger als die Hälfte besetzt. 9 Die frühere Interpretation einer europaweiten Agrarkrise und Zeit „goldenen Bodens“ für Handwerker*innen haben zahlreiche Regionalstudien widerlegt. Peter Schuster, „Die Krise des Spätmittelalters. Zur Evidenz eines sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Paradigmas in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts“, Historische Zeitschrift 269 (1999), 19–55. 10 Karl-Heinz Spieß, „Zur Landflucht im Mittelalter“, in: Hans Patze (Hg.), Die Grundherrschaft im späten Mittelalter, Sigmaringen 1983, 157–204. 7

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Tiefststand um 1400 und betraf besonders bäuerliche Erzsucher und Kleingewerken. Als um die Mitte des 15. Jahrhunderts mechanische Hilfskonstruktionen und technische Innovationen zunahmen, konnten nur noch kapitalkräftige Großgewerken oder „Hüttherren“ die Investitionen aufbringen. Ihre wachsende Arbeiterzahl erforderte in Bergbautälern Versorgungs-Großbetriebe und umfangreichen Viehhandel. 11 Stadtbürgerschaften in Oberdeutschland und Flandern erkämpften, erkauften oder erhielten Ratsverfassungen; im Norden hatten sie bereits den Hanseverband und in Oberitalien die Patrizier-Korporationen gebildet. Die Salzburger FEB, die diese Dynamik nicht zuließen, benötigten dennoch initiative Kauf-Familien für die Vermarktung der Produkte ihrer Unfreien und für den Bedarf ihrer Hofhaltung. Handwerker*innen, die als Pilger nach Rom oder als Gesellen in oberitalienische Städte wanderten, lernten neue Produkte und Verfahren kennen. Unternehmende mit Kapital gründeten Manufakturen wie Brauereien und Ziegelöfen. Die Handelsplätze in Burgund und Flandern würden 1477 durch die Heirat Habsburg-Burgund näher rücken. Handwerker schlossen sich zusammen und nannten, wie ihre mönchischen Nachbarn, die fratres, ihre Zechen oder Zünfte confraternitates. Beide lebten gemäß consuetudines. Die Zechen legten Ausbildungs- und Produktstandards sowie tägliches Beten fest und trafen sich Regel-mäßig zu gemeinsamem Abendmahl. Gesellen waren Arbeitsmarktund Jahreszeit-abhängig, die kürzere Arbeitszeit im Winter bedeutete geringere Löhne und Arbeit im Freien war nicht möglich: Brotlose Monate mit höherem Kalorienbedarf. Unternehmer-Familien, die es sich leisten konnten, ersetzten angesichts der Lohnkosten menschliche Arbeitskraft durch Zugtiere und technische Neuerungen. Die Herrschenden hatten Wirtschaft und Religion miteinander verwoben: Zwangsabgaben an Sebastiani (20. Januar), Lichtmess (2. Februar), Georgi (24. April), Bartholomä (24. August), Michaeli (29. September) und Martini (11. November). Vergleichbare Fest-Termine für Sozialhilfe fehlten, doch speisten Mönche an einigen Heiligen-

tagen Arme. Im Rahmen des entstehenden Sozialwesens (s. Kap. 8.7) richteten Herrscher- und Bürgerfamilien Siechenhäuser ein, zuerst 1360 in Radstadt. Auch Frauen stifteten selbstständig aus ihrem Besitz. Räte und Bürger erließen Vorschriften über die sofortige Bestattung Toter bei Seuchengefahr und entwickelten eine Alten- und Krankenversorgung durch Einlieger- und Aushäuserwesen, durch Bruderladen und Spitalstiftungen. Bergwerker zahlten in eine Kasse, die Bruderlade, damit Hilfsbedürftige Lebensmittel zum halben Preis erwerben konnten. Die „traditionell“ Mächtigen – mit Traditionsbeginn im 6. bis 8. Jahrhundert – suchten Konkurrenz zu verhindern. Sie lebten in über die Jahrhunderte etablierten Machtstrukturen und nahmen wahr, dass städtische Patrizier und Bergbau-Gewerken sich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft Wohntürme, mehrstöckige Häuser oder gar Residenzen errichten ließen. Strategisch klug passten sie sich an und fügten ihren Immobilien-Holdings Salz-Monopol oder Bergbau-Unternehmungen hinzu. Da sich dies in das dichotome Machthaber-Untertanen-Regime nicht einfügen ließ, räumte das neue Konzept „Landschaft“ den Patrizierfamilien – sprachlich: den Städten – einen Platz ein. Nach der wenig bedeutsamen (Landes-) Ordnung von 1328 musste FEB Pilgrim, als er von den bayerischen Herzogsbrüdern freigekauft werden wollte, 1387 die Stände zusammenrufen. Sie forderten eine Landesordnung und zahlten. Der FEB hielt nicht Wort, sein Versprechen war Ver-sprecher. Herrschaftliche wie bürgerliche Agenten der Um-Ordnung konzipierten weder Gesellschaft noch res publica. Das Ausmaß, in dem Territorien willkürlich durch Herrschende mit Menschen gefüllt oder entleert werden konnten, zeigten die Umsetzungen Unfreier und, 1731/32, die Vertreibung von 22.000 „Protestanten“ durch FEB Firmian. „Land“ war Territorium als veränderbar umgrenzte, mit Bewaffneten beherrschte Region, ideologisch unterfüttert durch Herrscher- und Religionsgenealogien. In seiner Schrift über die Ungleichheit der Menschen (1754) formulierte Jean-Jacques Rousseau Jahrhunderte später, dass Herrschafts-Rechtfertigung unbedarfter Gläubiger bedürfe, die die

Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, 47–101, hier 50–51; Heinrich Koller, „Die ältesten Wassermühlen im Salzburger Raum“, in: Helmut Maurer und Hans Patze (Hg.), Festschrift für Berent Schwineköper, Sigmaringen 1982, 105–115.

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Abb. 10.1 Igelbundurkunde vom 20. Mai 1403

Ideologie akzeptierten (2. Teil, 1. Satz). Doch die Hof-Intellektuellen, die Glaubenssätze und RechtsIdeologie formulierten, erreichten Hegemonie nicht. Landesordnung erfuhren Untertan*innen als Unordnung und Unruhe. Sie durchlebten 1364 den Wirtschaftskrieg EB-vs.-Propst in Berchtesgaden mit Niederbrennen von Städten und über drei Jahrzehnte geführten Fehden. Zwar war durch die Pest ein Drittel der Abgaben-Zahlenden „abgängig geworden“, wie es administrativ hieß, doch für den oft als „Landesausbau“ bezeichneten Herrschaftsbetrieb erwirtschafteten Goldbergwerker gute Renditen. Als die FEB Eigenständigkeit gegenüber Bayern-Wittelsbach erreichten, verloren die lokalen Herren-Familien ihre Rechte nach bayerischem

Brauch und wehrten sich mit Gewalt. Zum Beispiel verloren in einer besonders schweren, vier Jahrzehnte andauernden Fehde zwischen 1358 und 1398 die Herren und Ministerialen von Alt- und Lichtentann (nordöstlich von Salzburg-Stadt) Positionen und Besitzungen. Andere Familien „starben aus“, das heißt die Männer starben, der weibliche Teil lebte weiter. „Landesausbau“ bedeutete Fehden und Konkurrenzen zur Einkommensmaximierung des Landesherrn. 12 Weit stärker als regionale Herren-Familien bedrohten absolutistische Päpste die Selbstständigkeit der Kirchen-Magnaten (s. Kap. 9.8). Die Domherren wehrten sich gegen die Papstherren wie Bauerngegen Grundherren-Familien und suchten zusätzliche Macht auch gegenüber dem eigenen Ober-

Zu Struktur und Anzahl der adligen, ritterlichen und vogtischen Familien sowie ministeriales maiores und minores: Peter Feldbauer, Herren und Ritter, Wien 1973, 168–196.

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herren: Als sie nach dem Tod FEB Pilgrims papstfrei und zügig ihren Probst Gregor Schenk (Osterwitz, Kärnten; h. 1396–1403) und anschließend Probst Eberhard III. (Neuhaus, h. 1403–1427) als FEB wählten, forderten sie von ihnen eine – in Kapitel gegliederte – Wahlkapitulation. Sie sahen ihre korporative Position als Selbstbedienungs-Institut und forderten, dass Eigenbischöfe aus ihren Reihen zu ernennen seien. Die EBin spe ver-sprachen Änderung, doch waren auch dies nur Versprecher. FEB Gregor herrschte wirtschaftlich ergebnisorientiert, seine autoritäre Selbstüberschätzung war ein individueller, aber nicht einzigartiger Aspekt des Regimes. 13 Eberhard III. aus der Kärntner Grafenfamilie Cilli hatte die hohe Summe für seine Investitur und die hohen Schulden seines Vorgängers abzuzahlen und er stand von 1403 bis 1406 mit Bischof Berthold (Freising) in Konkurrenz. Gegen die FEB-Gewalt schlossen sich 1403 einige Prälaten, Ritter- sowie Patrizier-Familien in Salzburg, Lau-

fen, Tittmoning, Hallein und Radstadt im „Igelbund“ zusammen, benannt nach den stachelartig abstehenden Siegeln der Schwururkunde. Sie beschwerten sich über Kurienabgaben und dafür neu eingeführte Weihsteuern, über die unrechtmäßige Einziehung von Lehen, über die harte Bestrafung von Untertanen wegen geringer Schulden bei gleichzeitiger Nichteinlösung der FEB-Schuldverschreibungen, über die Bedrückung von Witwen durch den Zwang, wider Willen erneut zu heiraten, und von Waisen, insgesamt über „grosse gewalt und unrecht“. Die Stände planten, jährlich im Herbst zusammenzutreten. Der FEB machte Zugeständnisse, aber trickste die Adligen und Bürger anschließend aus. 14 Nicht nur die Beschwerden des Igelbundes, sondern das gesamte FEB-Wahlprozedere zeigte, wie dringend Reformen waren. Für Streitereien, Verfahrenstricks, Machtdemonstration und Fehden zahlten die Untertan*innen. Führten Un-Kosten zu Un-Glauben? 15

Gegen Eberhards Wahl intervenierte Hz Wilhelm III. (Wittelsbach, Teil München) bei Papst Bonifaz IX. Dieser verwarf die Wahl kraft „päpstlicher Reservation“ und ernannte Berthold (Ministerialen-genealogia Wehingen), vormals Rektor der Universität Wien und ab 1381 Bischof in Freising. Für die entstehenden Gebühren lieh sich Berthold von Finanzier Giovanni Medici in Florenz 50.000 Gulden. Die Domherren protestierten, die Kollegen in der Kurie revidierten ihre Entscheidung. Um seine Macht-Reservation zu demonstrieren, hob der Papst die Wahl Eberhards auf. Es folgten jahrelange juristische Prozesse, Entfremdung und Rückstellung von Kirchengütern, Exkommunikations-Drohungen. Dann sprach der Papst auf Kosten der gläubigen Untertanen Berthold eine Pension in Höhe von 2000 Gulden jährlich zu.

Auch die vielfältige, oft kriegerische Mobilität der Herren finanzierten die Untertan*innen: Anmarsch (angeheuerter) Truppen, Boten für Kampf-TerminAbsprachen, Zeugen für Kompromiss-Verhandlungen, Umsetzen besiegter Burgbesatzungen, Benachrichtigung an akquirierte oder getauschte Pfarrer und Pfarrgemeinden. Neben vielen anderen stritten die Habsburg-Brüder Leopold IV. (Kärnten/Krain) und Ernst (Steiermark): „Landschaft“ als Konzept und Einheit war ihnen nicht geläufig. Unter Vermittlung des FEB und weiterer 15 Schiedsleute von

Rang teilten die Brüder 1409 den Familien-Besitz. Im Westen unterstützte der FEB den Hz Oberbayern-Ingolstadt gegen den Hz Niederbayern-Landshut, beide Familie Wittelsbach. Er stritt mit Görzer Herrschern und Bamberger Beamten. 16 Landadlige „Absager“ kündigten dem FEB die Loyalität und griffen nach „Leib und Gütern“ der Gotteshaus-Untertanen. Doch die Herren verausgabten sich, der FEB-Magnat zahlte Kriegskosten aus den von Halleiner Salzsieder-Familien erarbeiteten Gewinnen. 17 Während der Kriegszüge und Reisen erwarteten die

Heinz Dopsch, „Salzburg im 15. Jahrhundert“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:487–593, hier 487–491, 498 ff. Hans Wagner, Heinz Dopsch und Fritz Koller, „Salzburg im Spätmittelalter“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:437–661, hier 491–492. 15 Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 1.1:493–494. 16 Die Bischöfe von Bamberg verfügten besonders in den einst annektierten slawischen Gebieten über umfangreichen Grundbesitz. 17 Gestritten wurde erneut um die Fürstpropstei Berchtesgaden und den dortigen Salzabbau: Der Papst entschied sich für die Unabhängigkeit des Propstes, die Kontrahenten entschieden sich 1458 für ein Salzkartell. 13

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Herren luxuriöse Mahlzeiten; für Bauersfrauen und -familien bedeutete dies, dass sie zusätzliche Eier und Hühner zu liefern hatten und für Jagdgesellschaften Bettzeug, dass Söldner ihnen vielleicht Haus und Stallung zerstören würden und dass sie oft Gelände – darunter ihre Felder – für die Aufstellung gegnerischer Heere in Schlachten vorzubereiten hatten. Die Lage der Menschen verschlechterte sich rapide. Kaiser Habsburg und Familie Wittelsbach, die seit 1392 Bayern viergeteilt hatte, „lagen im Streit“, aktiv und hochmobil. Mit Unterstützung der FEB Friedrich IV. und Sigmund I. (h. 1441–1452, 1452– 1461) setzte der Kaiser auf Wirtschaftskrieg und inszenierte 1449 bis 1460 durch allgemeine Münzentwertung eine Finanzkrise. Als „Schinderlinge“ erinnerten die geschundenen Menschen das minderwertige Geld. Die Kämpfer erließen ab 1460 angesichts der Inflation Pfennwert- oder Höchstpreisordnungen. Ihre Bautätigkeit, darunter die Umgestaltung des Domportals, hatten die FEB nicht eingestellt, die Untertanen hatten die Gürtel enger schnallen müssen. Sie waren missgestimmt. In unverbundener Entwicklung in und aus der Ferne bekämpften sich die Habsburg-Herrscher und die Herrscher-in-Ungarn. Auch näherten sich Heere der Sultane. Dies zwang die FEB zu zwei ihnen unangenehmen Maßnahmen. Erstens musste Friedrich IV. 1456 einen Landtag (Wehrkraft) und eine Provinzialsynode (Kreuzzugszehnt) einberufen, um Besteuerung zu erreichen. Er belegte auch die Güter von Welt- und Prälaten-Adel mit Steuern, diese wälzten die Summen auf ihre Grundholde ab. Zweitens beschlossen die Stände ein allgemeines Landesaufgebot, das heißt die Bewaffnung der Bauern. Je zehn wehrfähige Männer mussten einen der ihren für den Heerdienst ausrüsten. Angesichts des Aufwandes durfte jede Land-/Pfleggerichtsgemeinde als Institution zwei Vertreter (von Stand) zu den Landtagen entsenden, doch gestand kein FEB den Bauern je formellen Anspruch auf Teilnahme zu. Im Rahmen der Geldentwertung einerseits und der steigenden Ausgaben für „Landes“-Verwaltung und Kriegführung andererseits suchten die Magnaten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ihre Einkünfte zu steigern. Sie forderten zusätzliche Abgaben, hoben Schreib- und Siegelgelder an, 18 19

Priester kassierten Gebühren für jede Leistung. Sie intensivierten die Leibeigenschaft, zum Beispiel im neu aufgezeichneten „Stiftrecht“ der Freisassen von Mittersill: Bei Ehen zwischen Eigenleuten der FEB und anderer Herren sollten alle Kinder an den FEB fallen; uneheliche Kinder fielen durch Geburt an ihn. Durch ein neues „Wildfangrecht“ bestimmten sie, dass Fremde und Gäste, die ein Jahr lang die Luft des lokalen Grundherren geatmet hatten, dessen Eigenleute wurden und auch ihre Nachkommen „des gotzhaus“ seien: „Herrscherluft macht eigen“ statt „Stadtluft macht frei“. Nicht nur Hofbesitzer, sondern jedes Familienmitglied und alles Gesinde hatten Leibzins zu entrichten und neue Urbare bezogen Sölden und Keuschen – die Hütten – ärmlich lebender nachgeborener Bauernsöhne und Handwerker ein. Die Abgabe des Besthaupts bei Tod und Besitzerwechsel wurde erneut befohlen. Der Abt von St. Peter verlangte von seinen Grundholden, die unter den günstigen Bedingungen des Erbrechts oder Leibgedings lebten, dies mit Brief und Siegel nachzuweisen. Er würde jeden, der nur mündliches Gewohnheitsrecht geltend mache, als Freistifter, der jederzeit von Haus und Hof abgestiftet werden konnte, behandeln. 18 Die ersten drei FEB nach der Pest hatten zwar Wirtschaftspolitik betrieben, aber durch Fehden und Hofhaltung die Finanzmittel völlig überzogen. Den fünf Nachfolgern (1403–1461) fehlten Konzepte und Fähigkeiten. Einnahmen sanken, als nach Verbrennung von Johann Hus während der antiHussiten- und Hussiten-internen Kriege der Salzverkauf nach Böhmen abnahm. 1461 wurde Burkhard (II., aus Weißpriach südl. des Radstädter Tauern, h. bis 1466) FEB. Er machte für die Investitur durch den Papst hohe Schulden und ritt nach Erhalt des Kardinalats in Viterbo, Italien, als zweite Pfründe, in Salzburg im März 1462 erneut aufwändig ein. Zur Kostendeckung vervierfachte er die Weihsteuer. Seine Untertanen, Kleriker*innen eingeschlossen, zahlten bereits neue Steuern, „Aufwechsel“ seit der Münzverschlechterung und Gebühren für doppelte Gerichtsverfahren („Streich mit zwei Ruten, das Gott nit geschaffen“). 19 Seine Weißpriacher Untertanen verfassten „12 Artikel“ mit ihren Beschwerden und forderten Wiederherstellung ihrer „alten Rechte“. Die von erneuerter

Dopsch, „Einleitung“, in: Spechtler und Uminsky, Landesordnung, 32+–33+. Handwerker*innen waren, solange sie zu Fronhöfen gehörten, nicht separat besteuert worden.

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Leben in kleineren Städten und Marktorten

Leibeigenschaft bedrohten Mittersiller hielten fest, dass es dort niemals Leibeigenschaft gegeben hätte.

Viele wehrten sich 1462 zum ersten Mal bewaffnet gegen einen EB. 20

10.2 Leben in kleineren Städten und Marktorten Stadtrecht erlaubte den Bewohner*innen viele Aspekte ihrer Angelegenheiten selbst zu regeln, schützte aber nicht vor Herrengewalt: Sie wurden gelegentlich annektiert, geplündert, übergeben. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts besaßen ein Stadtrecht in der Diözese neben der Residenzstadt nur Mühldorf am Inn und, von West nach Ost, Tittmoning, Hallein, Radstadt, Gmünd, Friesach, St. Andrä (Lavanttal), Pettau und Rann. 21 Kleinere Orte erreichten Bannmarkt-Privilegien zum Nachteil der Bauern und der mobilen Händler*innen, denen „Gäuhandel“, Handel außerhalb von Märkten, verboten wurde. Seit den 1390er Jahren stimmten Marktorte Termine und Regelungen regional aufeinander ab. Großhandel mit Vieh, unabdingbar für die Versorgung der Bergleute und wichtige Einnahmequelle für Schwaigen-Familien und Almwirte, bot kapitalkräftigen Spekulanten unerlaubte Gewinne, wenn sie entgegen altem Brauch und neuen Vorschriften der höheren Erlöse halber Herden ins Tiroler Ausland trieben. Verboten war der Austrieb von mehr als 300 Hammeln, Ochsen, Nutzrindern und Schafen sowie die Ausfuhr von Schmalz als Nahrung und Unschlitt (Talg) zur Stollenbeleuchtung. Bürger*innen vieler Orte suchten die schriftliche Fixierung ihrer Rechte zu erreichen. Sie hielten untereinander Kontakt und orientierten sich meist an der Residenzstadt. Marktorte zielten auf Ausgliederung aus den Pfleggerichten. 22 Dies zeigte beispielhaft das umfassende, 1376 mitteldialektdeutsch aufgezeichnete Stadtrecht der Pettauer*innen. Der EB-Vizedom in Leibnitz verlieh es ihnen, aber sie sahen darin „Rechte, die wir und unsere Eltern ge-

halten haben“ und sie hatten sich über die Schwaben- und Sachsen-Rechtsspiegel (13. Jh.) informiert. Ihr Zusammenleben bezeichneten sie als gmain statt lateinisch als communitas. In dem Stadtrecht regelten sie die Beziehung Bürger*innen ←→ Machthabende, Konkurrenz- oder Kooperations-Verhältnisse zu Bürgern benachbarter Orte und, innerhalb der Stadt, die zwischen Wirtschaftssektoren sowie, besonders ausführlich, die Versorgung von Witwen und Waisen (zur vorangehenden Zeit s. Kap. 8.2). 23 An erster Stelle wollten sie destruktive Machtstrebigkeiten zwischen Erzbischöfen, Herren-Familie und Bürgerhaushalten verhindern: Die Herren dürften (1) nicht Fehde gegen den EB oder benachbarte Burgen führen, hätten (2) den EB bei deren Besuchen Burg/Schloss zu überlassen, dürften (3) ihr Gesinde nur in den zwölf Häusern auf dem Burgberg und keinesfalls in der Stadt unterbringen und (4) zwar für die „Burghut“ Maut einziehen, jedoch nicht von den Bürgern, und sie hätten den EBAnteil korrekt abzuliefern. Die Herren sollten (5) die Stadt „mit ganzer Treue“ gegen äußere Feinde schützen: Dass Bürger*innen das Verhalten der Herren regelten, war eine Neuerung. Ihre „gewöhnliche“ Steuer an den EB betrage „von alters“ jährlich sechzig Mark, aber sie sei – wie sie notierten – 1370 vom Vizedom, der selbst zwölf Mark erhielt, auf siebzig Mark erhöht worden. Die Bürger*innen hielten ebenfalls fest, dass „der von Pettau“, das heißt der Burggraf, sie innerhalb und außerhalb der Stadt in ihrem Besitztum „ungestört“ lassen müsse und Todfall nicht einziehen dürfe. Ein tief verankertes Vertrauensverhältnis zur Obrigkeit bestand nicht.

Im Habsburger Teil der Kirchenprovinz wehrten sich die Stände intensiv gegen hohe Steuerauflagen des Hz Friedrich (III., deutscher König 1440) und forderten, die Grenzverteidigung gegen Böhmen, Mähren und Ungarn aus den regulären Landesrenten zu zahlen. Adlige, die sich bereits für Schulden der Familie H. verbürgt hatten, und Söldner, die nicht bezahlt wurden, sagten sich ab. Karl Gutkas, „Landesfürst und Stände Österreichs um die Mitte des 15. Jahrhunderts“, in: Beiträge zur [oberösterreichischen] Rechts-, Landes- und Wirtschaftsgeschichte, Graz 1964, 233–243. 21 Für den Südwesten Volker Stamm, Grundbesitz in einer spätmittelalterlichen Marktgemeinde. Land und Leute in Gries bei Bozen, Stuttgart 2013. 22 Willibald Hauthaler, „Die Pergaments-Urkunden des Pfarrarchivs zu Rauris“, MGSL 32 (1892), 17–54; Valentin Hatheyer, „Topographie und Entwicklung des Marktes Tamsweg“, MGSL 76 (1936), 145–168; Fritz Koller, „Das Marktlibell von St. Johann im Pongau“, MGSL 133 (1993), 53–69, Textedition 62– 66. 23 Repertorium digitaler österreichischer Rechtsquellen der Frühen Neuzeit, Ferdinand Bischoff und Heino Speer (Hg.), http://repertorium.at/qu/13 76_pettaustr_bischoff.html (26. August 2020); Erich Marx, „Das Salzburger Vizedomamt Leibnitz“, MGSL 119 (1979), 1–142. 20

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Wirtschaft, Alltagsleben und Herrschaft vom Großen Sterben bis zum 16. Jahrhundert

Geregeltes Wirtschaften war den Bürger*innen wichtig und sie hatten das Recht auf einen jährlichen Markt bei der Kirche St. Oswald: Verkäufer hatten Standgebühr zu entrichten, manche Handwerke festgelegten Regeln zu folgen, die einflussund finanz-reichen Fleischer nutzten ein verbrieftes Monopol. Während der Wochenmärkte am Dienstag war alles Angebotene sichtbar auszulegen, früh durfte nur an Bürgerinnen (sic!) verkauft werden, danach an lokale Straßenhändlerinnen (sic!), schließlich an die Salz-Händlerinnen, Wächserinnen und Fragnerinnen. Unverkauftes musste am Abend eingepackt werden. Täglich durften Höckerinnen im Kleinhandel während Frühmesse, Tagamt und Vesper verkaufen, was sie auf eigenem Grund gezogen, selbst hergestellt oder in nahen Dörfern gekauft hatten. Fremde Gäste (lat. hospes) durften untereinander nur am Markttag handeln, zum Beispiel Loden, Röcke, Mäntel und geschnittenes Leder, auf das Feistritzer sich spezialisiert hatten; durchfahrende ungarische Händler waren von Maut befreit. Ihre Vorstadt-Bewohner*innen hingegen schränkten die Pettauer rigoros ein: keine Kaufmannschaft, kein Verkauf von Brot und Fleisch, kein Herstellen von Schuh- und Lederwerk. Sie durften am Markttag in der Stadt verkaufen, jedoch – Monopol der Stadtfleischhauer – kein Fleisch für den täglichen Gebrauch. Kein*e Bewohner*in durfte einem anderen Herrn als Stadtrichter und Vizedom untertan sein; der jährlich von zwölf Geschworenen gewählte Stadtrichter hatte darauf zu achten, dass Streitigkeiten geregelt, Gerichtstage gehalten und Zinse an den EB gezahlt wurden. Die Zinse reflektierten Wohlstand und Armut: Die Fleischer zahlten 24 Mark, die Bäcker zwei Pfund Pfennig, Lederer und Schuster sechs Schillinge in zwei Raten, Kleinhändlerinnen bescheidene Beträge, Hökerinnen nichts. Der Stadtrichter kontrollierte die ausreichende Versorgung mit Brot, beschlagnahmte untergewichtige Brote und ließ sie „den armen Leuten“ im Spital senden, prüfte bei Mangel, dass kein*e Bäcker*in Mehl zurückhielte. Im Spital lebten 1315 zwölf „Pfründner“, davon neun Frauen. Sehr genau legten die Bürger*innen fest, in welchen Rechtsfällen und Marktzeiten der EB-Landrichter nicht eingreifen durfte. Pettaus Bürger*innen waren wirtschaftlich weit verbunden und herrschaftlich von Territorien-mit408

Menschen-Käufen betroffen. Als die Teil-Familie Habsburg-Graz 1374 Inner-Istrien und 1382 die Hafenstadt Triest kaufte, begingen Händler die Karststraße von Görz über Pettau wieder stärker, aber konkurrierende Kaufleute in Wien suchten – noch – erfolglos ein Monopol für die SemmeringRoute zu schaffen, die Pettau abgeschnitten hätte. Den Phyrnpass durften nur oberösterreichische Städte/Kaufleute benutzen. Wirtschaftliches Handeln war genau geregelt – über die Einhaltung der Regeln sagen die Quellen nichts. Die Kauf-Familien erhandelten süddeutsche und norditalienische Tuche en gros auf Messen in Frankfurt am Main, Nördlingen und Bozen und verhandelten sie gegen ungarische Ochsenhäute. Sie flößten und verkauften untersteirische Weine Drau-aufwärts und beteiligten sich am Viehhandel „auf den Hufen“ von der pannonischen Ebene bis zu den Bergarbeiter-Siedlungen der Tauern und Norditalien. Dies erforderte eine genaue Festlegung von Tages-Etappen und geregelte Weidenutzung am Abend. Die Kaufleute stellten Wechsel auf eine Bank in Venedig aus oder lösten sie während Messen ein. Sie waren wohlhabend, ließen sich ein neues Chorgestühl schnitzen und einen Flügelaltar vermutlich durch Conrad Laib aus Schwaben malen. Nach dem Tod des letzten Herren „der von Pettau“ wurden Stadt und Bewohner*innen Teil der Erbmasse, um die die mesoregionale Grafenfamilie Celje/Cilli und die makroregionale Familie Luxemburg konkurrierten. Nach Ermordung des Familienoberhauptes Cilli zwei Jahrzehnte später eignete sich der Kaiser, jetzt Friedrich III. Habsburg, durch Todfall Herrschaft und Maut an und führte Krieg mit dem König in Ungarn, Matthias Corvinus, Familie Hunyadi (h. 1464–1490). Friedrich verdoppelte die Maut für ungarisches Vieh, Corvinus besetzte die Stadt. Ihm und Königin Beatrice, deren Familie in Neapel herrschte, war die Ungarn ←→ ItalienRoute wichtig. Nach Corvinus’ Tod in Wien, das er 1485 als Residenz erobert hatte, annektierte Maximilian I. die Region; die Grafschaft Görz besaß er bereits und ordnete alles (Neutrum), das heißt alle Menschen, dem Herzogtum Steiermark zu. Aus Wiener Herrschersicht verloren die Bürger*innen von Pettau an Wert, als ab 1470 osmanische Heere bis in die Umgebung vordrangen. Räuberbanden und marodierende Söldnertrupps nutzten die Un-Ordnung und Kauf-Familien mussten je nach macht- und raub-politischer Lage um-

Leben in kleineren Städten und Marktorten

disponieren. Die finanzstarke Fugger-Thurzo-Gesellschaft (Augsburg und Krakau) ließ in dem Jahrzehnt nach 1495 über die Stadt fast 2400 Tonnen Rohkupfer von ihrem slowakischen Kupferrevier zur Saigerhütte bei Arnoldstein (westl. Villachs) transportieren, wo ihre Arbeiter in einem kapitalintensiven Verfahren Silber aus dem Rohkupfer trennten. Der Kaiser bestätigte den Bürger*innen 1503 alle Rechte, jedoch verpfändete oder verkaufte er 1511 die Stadt samt Maut (und Menschen) für 20.000 Gulden an FEB Matthäus. Die beiden kannten sich gut. Je nach Wirtschaftslage und Familieninteressen wanderten Kaufleute zu oder ab und bedurften dafür als Unfreie einer FEB-Genehmigung. Der abziehende Bürger Heinrich Meichsner gab – vielleicht höhnisch – an, er zöge nach Salzburg und brauche deshalb Maut nicht zu zahlen. Doch zog er in die Reichsstadt Nürnberg, die weit bessere Chancen bot. Lokale Familien drängten die – die Kroatien ←→ Ungarn-Route beherrschenden – Familien Bartolotti aus Venedig, Piro Pitti aus Florenz und Baptista Manati aus Ravenna aus dem Geschäft. Mit Beginn osmanischer Herrschaft über große Teile Ungarns einige Jahrzehnte später erwarben neue italienische Familien das Bürgerrecht wegen der damit verbundenen Handelsprivilegien. Als sich 1532 Sultan Soliman II. mit seinem Heer näherte, ließen die Verteidiger die Häuser der Vororte niederbrennen. Deren christliche Bewohner*innen waren obdachlos, die muslimischen Trupps wählten eine andere Route. 24 Im Westen der Kirchenprovinz bestimmten der seit Mitte des 15. Jahrhunderts schnell expandierende Bergbau und der Handel über die TauernPässe die Entwicklungen. Dort zählte die – im Vergleich zu Pettau – kleine Stadt Saalfelden neben den Gasteiner und Rauriser Bergbau-Tälern und den Marktorten Golling, Mauterndorf und Tamsweg zu den größten Ansiedlungen. In dem Ort lebten um 1500 nur 325 „Steuerträger“, im Gasteiner Bergbautal mehr als 600. Die Städter teilten sich eine Generation später in nur 77 Hausbesitzer- und 43 Herberger-Familien sowie 34 ledige Handwerksgesellen, etwa 500 Personen insgesamt. Die Ortsgrenzen, auch sie als Weistum tradiert, schritten Kundige jährlich ab, um zu prüfen, ob Bewoh24 25

ner*innen der Nachbarorte sich Land angeeignet hatten. Lokale Einkommen hingen von großräumlichen Konjunkturen ab. Der Weinhandel sank rapide, als die „obere Straße“ über die Felber bzw. Rauriser Tauern ihre Bedeutung gegenüber der „unteren Straße“ über den Radstädter Tauern und den Katschberg verlor. Andererseits nahm der Transithandel von Eisen aus der Steiermark und Blei aus Kärnten zu und die Eisen-Unternehmer im nahen Dienten (Hochkönig) und Leogang mussten seit 1415 ihre Produkte vor Verschiffung über die Saalach 14 Tage lang zum Kauf anbieten. Im auch hier wichtigen Schlachtviehhandel standen ländliche, städtische und Großabnehmer-Interessen konträr zueinander. Für die Versorgung ihrer ertragreichen Bergbauorte Gastein und Rauris erlaubten die FEB Viehgroßhändlern, direkt bei Bauern zu kaufen. Sie kauften in spekulativem futures-Handel Vieh auf zwei bis drei Jahre im Voraus und vermarkteten es höheren Gewinnes halber widerrechtlich im Ausland Tirol. Die kommunale Verwaltung führten unter Aufsicht des Pflegers Bürger*innen. Sie erhielten das Recht, Waffen zu tragen, als durchziehende und/ oder marodierende Landknechtstrupps und, wie es hieß, „Zigeuner“ bedrohlich schienen: Söldner, die zudem das Terrain nicht gekannt hätten, wollten die FEB nicht bezahlen. Wenn befohlen, hatten die Bewohner*innen Kriegsfronen zu leisten und erhielten dafür – wie sie wussten wertlose – Schuldscheine. Sie wogen angesichts der FEB-Kriegereien schwerer als alle anderen Fronleistungen. Einnahmen erhielt die Gmain aus der Verpachtung von Grundstücken und Gebühren, Inwohnerzinsen, Strafen für unerlaubtes Holzfällen. Auf der Soll-Seite stand der Unterhalt des Marktbrunnens, der Kauf von Rohren aus Lärchenholz, Arbeits- und Fuhrleistungen, Baumaterial, Wegegelder für Marktordner, Lohn für das „Stundenläuten“ der Messner und Kanzleitaxen, Schreibgebühren, Honorare. Ein Schul- und Sozialwesen gab es nicht. 25 Ärgerlich war den Bürger*innen, dass sie zinseinhebende Amtleute bewirten mussten, denn deren Essenskosten überstiegen die abzuliefernden Zinse um das Vierfache. Das Bannmarkt-Privileg für Wirtschaft und

Rudolf Pertassek, Pettau: Die älteste steirische Stadt, Graz 1992. Erst 1564/65 wurden zwei Schulmeister genannt, die vom Schulgeld ihrer Schüler lebten. Nur wenige konnten dies aufbringen.

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Cramerey, Weinausschank und Gewandschneiderei benachteiligte ländliche Gewerbetreibende des Pfleggerichts: soweit registriert 114 Gewerbe und 46 „fliegende“ Weber, Schneider und Schuster. Bewohner*innen kleiner Orte durften, akribisch festgelegt, nur gelegentlich Märkte für Vieh, Schmalz, Käse, Schotten (Quark), Loden und Leder halten. Festgelegt war, welche Abschnitte von Urslaubach und Saalach die Städter*innen mit großem Zugnetz leer fischen durften. Bürger-Meister bestimmten das Schlägern des jährlich notwendigen Brennholzes. Die drei Seiten – FEB-Amtleute, Bürger*innen, Dorfbewohner*innen – mussten ein gutes Gedächtnis haben, um die vielen Regelungen genau zu erinnern. Ob sie in kritischen Situationen „treu“ zum (amtierenden) Landesherren standen, ist nicht überliefert. 26 Auch die Bewohner*innen Friesachs waren weiterhin Kriegen und Willkür ausgesetzt, nur in fried-

lichen Zeiten war ihre Lage an der Transitroute günstig. Gewerken und Knechte gruben in den umliegenden Bergen Silber und auch Eisen, sie errichteten ein Hammerwerk und Stucköfen und Amtleute führten Buch: In den Kasten gelangten im Jahr bis zu 2880 Körbe Erz zu je 56 kg. Die Gewinn-beteiligten Gurker Kleriker beauftragten den Friesacher Meister Konrad 1458, ein riesiges Fastentuch, 90 m2 mit 99 Feldern, zu schaffen; Bergleute beteten in der Kirche St. Mauritius. Transportarbeiter mussten laut Mautlisten (1425) 108 Positionen angemessen verpacken, lagern oder, soweit verderblich, zügig weiterleiten. Die Mautner hatten hohe Detail- und Fachkenntnisse. Zum Beispiel wurden 14 Sorten Pelz und 10 Sorten Fell zu je 100 vermautet, als Sonderposten Pergamenthäute (je 3) und, in von Kürschnern bearbeiteter Form, alles noch einmal zu je einem Stück. 27

Maut war zu zahlen neben Fellen, Salz und Getreide, Vieh und Holz – auf Honig, Met, Bier, Käse, Öl, Weinbeeren, Mandeln, Reis, Feigen, Lorbeer, Granat(Paradies ) Äpfel, griechische und italienische Weine, getrocknete Fische – auf Pfeffer und Ingwer sowie Bockshorn (Medikament) – auf Glas aus Böhmen, Gold- und Silberschmuck – auf Hüte aus Stroh oder Filz, Geschirr aus Passau, Messer und Eisenwaren – auf feine Tuche aus Verona und Florenz, Samt, Seide, Decken und Leinwand – auf Eisen, Kupfer, Salpeter, Schwefel, Alaun.

Alles beeinflusste Herrscherwillkür: Hz Ernst Habsburg, „der Eiserne“, behinderte den Handel mit Eisen und Salz in den Territorien des FEB und verhinderte den Viehtrieb vom Murtal nach Friesach; hinzu kam die königlich verfügte Münzwert-Verschlechterung; herrschaftliche Abgaben fraßen – wie Heuschrecken – 1469 den gesamten Ertrag einer Hufe auf; 1470, mit Aufstieg vom Herzog zum Kaiser, forderte Friedrich III. Habsburg eine zusätzliche Leibsteuer. Unzufrieden waren Friesacher*innen mit den vielen Kleriker*innen, die Infrastruktur nutzten, ohne Steuern zu zahlen: Zwanzig Prozent der 502 besteuerbaren Objekte waren 1442 in ihren Händen. Die Augustinerinnen besaßen die Holzmaut auf dem Fluss; die Dominikaner nahmen angeblich Unwürdige auf, betrieben nachweislich Weinausschank und entschieden sich laut Berichten erst 26 27

1502 für Rückkehr zu Armut. Als im Rahmen neuen Reformdenkens die Zahl der – bis 1429 nur adligen – Zisterzienserinnen auf neun sank, mussten sie ihr unwirtschaftliches Haus aufgeben und sich, um der St. Ursula-Gebetsgemeinschaft beitreten zu dürfen, verpflichten, je Nonne 100.000 Paternoster und Ave Maria zu beten, 40.000 je Laienfrau und 56.000 je Pfründnerin. Ebenfalls in dieser Zeit warf ein Pfarrer dem Stadtprobst vor, dass er sich bereichere und, mit einer Helsula liiert, Vatersorgen hätte. Weit besser integriert waren Kaufleute jüdischen Glaubens. Die im Seidenhandel tätige Familie Judenspan bezeugte Urkunden und wurde in den Ritterstand erhoben – bis FEB Eberhard III. sie 1404 vertrieb. Die etwa 1550 jüdischen und christlichen Bewohner*innen mussten nach jeder Vernichtung von Glaubensbrüdern und -schwestern während Landesherren-Fehden, Stadtbränden und Pest neu

Alois Eder (Hg.), Chronik Saalfelden, Saalfelden 1992, 119–137. Leopold Spatzenegger (Hg.), „Mautordnungen“, MGSL 10 (1870), 25–79, hier 32–39.

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anfangen. Familien-Bildnisse aus späterer Zeit stellten Eltern mit allen geborenen Kindern dar, die früh verstorbenen mit roten Kreuzen gekennzeichnet. Ein Stadtbild von Friesach müsste jedes Haus mit Kreuzen für die in Kriegen und Brandschatzungen Umgekommenen versehen. 28 Im Vergleich zu den drei Städten lag das Dorf Filzmoos abgelegen. Die Menschen-samt-Ländereien im Pongauer Mandlingtal hatte König Heinrich II. Weihnachten 1002 dem EB geschenkt und Domherren, St. Peter-Mönche und ErentrudisNonnen hatten sich zügig Grund und Menschen angeeignet. Es passte, dass zwei fromme Hirten ein Glöckchen hörten und auf einem verwitterten Baumstumpf eine geschnitzte Jesuskind-Statue fanden. Der Pfarrer in Altenmarkt ließ die Statue holen, doch war sie am nächsten Tag, eigenwillig, wieder an der alten Stelle und dort wurde – im 15. Jahrhundert – die weithin sichtbare Peterskirche

gebaut. Den Bewohner*innen war, wie anzunehmen ist, schon früh eine Kirche wichtig; die Geschichte zeichnete ein Vikar erst 1718 auf. Nachweislich kamen fremde Bergleute zum Silber-, Kupfer- und Eisenabbau ins Tal, unversorgte Bauernsöhne „fanden Arbeit“, andere legten die Transportwege an. Viele erlebten Trauriges: Ein Kind ertrank, Männer verloren beim Holzfällen Arm oder Bein, beides für die Familien ein Drama; der Tod einer Kuh bedeutete Mangel an Milch für Kleinkinder. Für Familien zählte die eigene – kleine? – Geschichte, Freuden wie Tragödien, und die „große“ Geschichte, Abgaben an Herrscher. Lebenseigene bewirtschafteten den Oberhof; als Familie „Hofer“ würden sie sich durch harte Arbeit, ausreichend Familienarbeitskräfte und kluges Wirtschaften freikaufen und damit ab 1648 den Hof, wörtlich, „besitzen“. Anderswo endete in diesem Jahr der 30-jährige Krieg. 29

10.3 Stadt und Land: Ordnungen, Weistümer, Bräuche 30 In der Residenzstadt sparte FEB Pilgrim, der die für seinen Freikauf versprochenen Rechte verweigert hatte, nicht, sondern verpfändete Gerichtsgebühren, Maut und Zölle. Der Stadtrat durfte Besitz „der toten Hand“, Geistlichkeit und Ministerialen, nicht besteuern, doch da die Kleriker sehr lebendig Immobilien erwarben, war nur das erste Haus abgabenfrei. Pilgrim bevorzugte ausländische Kaufleute, da sie ihm Abgaben zahlten, zum Schaden der Maut- und Zoll-befreiten Einheimischen und überging so das traditionell-korporative Denken. Die ausländische Konkurrenz ermöglichte gering Bemittelten, relativ günstig einzukaufen, aber die Getreide-Zufuhr sank und die Preise stiegen, als die FEB-Mannen städtischen Kaufleuten Schutz verweigerten. Das gesamte Weingeschäft fiel Fremden zu, der FEB monopolisierte Wechselgeschäfte, maßte sich Kontrolle über Bäcker und Marktpersonal an

und entfremdete für die Stadtbefestigung bestimmte Steuern. Als er 1388 eine weitere Sondersteuer einhob, beschwerte sich die bemittelte Bürgerschaft und forderte: (1) dass Fremde mit Tuch und Öl, Wein, Seife, Eisen, Häuten, Wild und Fellen nur Großhandel in Mengen ab fünf Saumladungen treiben dürften; (2) dass der Ausschank von Wein durch Fremde verboten und (3) Detailhandel Fremder mit städtischen Wirten und untereinander nicht zulässig sein solle; (4) dass Wechsler und Marktpersonal wieder der Bürgerschaft unterstehen sollten; (5) dass Pilgrim Witwen und Waisen nicht wider Willen zu Heirat zwingen dürfe. 31 Auch die nachfolgenden FEB ließen das Stadtrechtsweistum nicht gelten und die Ratsherren konnten erst ein Jahrhundert später, 1481, von Kaiser Maximilian – der gegen den amtierenden FEB Unterstützung suchte – einen Ratsbrief erwirken.

Robert Gratzer, Friesach. Die bewegte Geschichte einer bedeutenden Stadt, Klagenfurt/Celovec 1986; Heinrich Gressel, Friesach. Chronik der ältesten Stadt in Kärnten, Klagenfurt/Celovec 2008. 29 Christian Salchegger, Filzmoos: Überliefertes und Erlebtes, Filzmoos [1996]. 30 Siegel und Tomaschek, Taidinge; Spechtler und Uminsky, Stadt- und Polizeiordnung; und dies., Landesordnung; Des Teufels Netz. Satirisch-didaktisches Gedicht, hg. von K. A. Barack, Stuttgart 1863; Pettauer Stadtrecht, 1376, http://repertorium.at/qu/1376_pettaustr_bischoff.html (26. August 2020). 31 „Salzburg“ in: Felix Czeike et al. (Hg.), Österreichischer Städteatlas, Bd. 5.1, Wien 1996; Heinz Dopsch, „Zeit der Karolinger und Ottonen“, ders., „Salzburg im Hochmittelalter“, und Michael Mitterauer, „Wirtschaft und Handel“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:157–436; Adolf Hahnl, „Die bauliche Entwicklung“, ebd., 1.2:836–865; Herbert Klein, „Erzbischof Pilgrim II. von Puchheim (1365 bis 1396)“, MGSL 112/113 (1972/73), 13–71. 28

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FEB Leonhard würde ihnen 1511 diese Rechte wieder nehmen und sein Nachfolger Matthäus Lang oktroyierte den unwilligen Untertanen – etwa 5000 Bürger und Bürgerinnen, Inwohnende, Kinder, Klosterknechte und -mägde – 1524 eine Stadtordnung (SO) und zwei Jahre später allen Einwohner*innen der Diözese eine Landesordnung (LO). Sein Diktat verweigerte Selbstbestimmung, doch blieben alltägliche Rechtsgewohnheiten weitgehend bestehen, die „Ordnung“ verschriftlichte ein dehnbares Brauchtum. Die Bäcker- und Brotpreis-Regelungen zum Beispiel gingen auf 1420 zurück. Die Stadtordnung umfasste im ersten Buch neben Herrschaft und Verwaltung das Malefiz-Recht (Straftaten und Ordnungswidrigkeiten), eine Feuerordnung, das Bruderschaftswesen und die Waisenbetreuung. Das zweite Buch fasste auf 170 FolioSeiten (FS) das Handels- und Zivilrecht zusammen: Markt, Gastgewerbe, Hausbesitz und -verkauf sowie die Behandlung von Gästen. Zu den städtischen Amtleuten für Wirtschaft und caritas gehörten Stadtschreiber und Kämmerer, Zech-, Spital-, Bruder- und Viertelmeister sowie, für Handel und Marktkontrolle, Beschaumeister, Wäger, Unterkeuffel, Lötschenmeister. Die Vorschriften nannten – eine juristische Notwendigkeit – geschlechtsdifferenziert Bürger und Bürgerin, Inwohner und Inwohnerin, Bettler und Bettlerin. Sie deuteten auf ein entwickeltes individuelles Streben nach Eigennutz und suchten Gemeinschafts-schädigendes Verhalten zu verhindern. Hintergrundinformationen zu solchem Verhalten bot ein Gespräch des Teufels mit einem Einsiedler, etwa ein Jahrhundert früher verfasst, in dem ersterer die vielen kleinen Betrügereien aufzählte, die Händler und Handwerker in sein Netz trieben. Unbegründet war regulierende Vorsorge nicht. 32 Das Stadtrecht schloss diejenigen – auch Frauen – ein, die Jahr und Tag dort gelebt und Bürgerrecht erhalten hatten. Inwohner*innen, oft ohne familiäre Netzwerke, lebten unter Minderrecht; die Aufnahme Unfreier verbot der FEB allen Städten. Um Bürgerrecht Ansuchende mussten eheliche Geburt nachweisen und, gelegentlich, persönliche Freiheit. Nach positivem Bescheid hatten sie durch

Bürgereid Gehorsam und Hilfe gegenüber FEBStadtrichter und städtischem Rat zu schwören und die Taxe, einen rheinischen Gulden, zu zahlen. Für einen Gürtler mit wenig Geld bürgte ein Kollege; einem Schneider wurde ein Teil erlassen, „er hab nicht mer“; einem Goldschmied und einem Barchenter, deren Tätigkeiten nützlich waren, die gesamte Gebühr. Das System war flexibel, die Taxe konnte in Naturalien oder durch Dienste beglichen und Inwohnenden vorangegangene Leistungen anerkannt werden. Wie in vielen Orten entfiel die Gebühr bei Einheirat. Handwerker mussten keine Meisterschaft nachweisen, aber gelegentlich in einer Probezeit ihr Können beweisen. Diener*innen erhielten das Bürgerrecht nur, wenn ihre Herrschaft Einfluss nahm. Ein Knecht, der nicht wusste, ob seine Eltern gestorben oder „von den Türken“ verschleppt waren, hatte Mühe, eheliche Geburt nachzuweisen. „Hauswirt“ und „Hauswirtin“ besaßen, gelegentlich gemeinsam mit Kindern und lateralen Verwandten, Haus und Hof zu Burgrecht, das heißt mit der Pflicht, die Burgpfennig genannte Grundsteuer zu zahlen. Streitfälle wurden urkundlich festgehalten, zum Beispiel einigten sich zwei Frauen mit Männern um einen Nachlass und ein Müller einigte sich mit seinem Vater und dessen Hauswirtin, das heißt seiner Stiefmutter. Die Teilhabe am Recht bedeutete „Mit-Leiden“ an Pflichten wie Stadtwacht. Außerhalb des Rechts standen Prälaten und Priester, Weltadelige, EB-Hofgesinde und Stadthofgesinde auswärtiger Kleriker. Mit-leidig wurden sie, wenn sie Handel und Gewerbe trieben. Bewohner*innen konnten ihr Bürgerrecht aufgeben, manche Schuldner reisten ohne Papiere ab, andere wurden ausgeschlossen, weil sie ein Gerichtsurteil nicht akzeptierten. Abwandernde hatten eine Abzugsgebühr in Höhe der Aufnahmetaxe zu zahlen. 33 Besonders wichtig war das Familienrecht mit Eheabreden, Heiraten gemäß Kirchenordnung, Schulden und Pfändung. Hauswirt und Hauswirtin handelten in Rechtsgeschäften gemeinsam, Witwen und unverheiratete Frauen für sich selbst. Eltern waren für die Erziehung von Töchtern und Söhnen verantwortlich, der Vater durfte Kinder nach sei-

Peter Putzer, „Rechtshistorische Einführung“, in: Spechtler und Uminsky, Stadt- und Polizeiordnung, 27*–62*; Des Teufels Netz, Z. 8372–12281. Heinz Dopsch und Peter M. Lipburger, „Rechtliche und soziale Entwicklung“, in: Geschichte Salzburgs, 1.2:727–732; zum Bürgerbuch 1441–1541 und Neubürger*innen im 15./16. Jahrhundert Christine E. Janotta und Michaela Krissl in: Carolino Augusteum Jahresschrift 32 (1986) und MGSL 128 ff. (1988– 1990).

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nem Willen verheiraten. Waren sie im Alter von 25 Jahren noch unverheiratet, durften sie sich selbst eine*n Partner*in suchen. Knechte und Dirnen waren ihren Herren unterstellt und, solange sie nicht ausgedient hatten, durfte niemand sie dingen. Fahrhabe wie Wein, Getreide, Vieh, Bettzeug und Hausrat, die eine Frau in die Ehe einbrachte, konnte ihr Mann zur Begleichung seiner Schulden verwenden; Morgengaben behielten Frauen auf ihren Namen. Genau geregelt waren Scheidungen sowie Erb- und andere Rechtsfragen, damit Handels- oder Handwerksbetriebe weitergeführt und Streitigkeiten vermieden werden konnten. Viele Gewerbe beruhten auf Familienarbeit und testamentarisch vermachten Meister ihrer Frau, oft selbst Meisterin, Betrieb und Werkzeug. Meisterinnen legten die Weiterführung ihres Betriebes fest. Männer wollten ihre Familien nicht in Armut geraten lassen, verwitwete Frauen betonten gegenüber Stadträten, dass ihr Ausschluss von der Betriebsführung ihren und ihrer Kinder Lebensunterhalt bedrohe. Erblasser*innen gestalteten Testamente persönlich, manche schlossen Dienstfrauen, oft Ehefrauen von Gesellen oder Witwen, ein. Wiederheirat war üblich. Frauen waren für die Schulden ihres verstorbenen Mannes nicht verantwortlich, konnten sie aber aus freiem Willen abgelten. Um ihren Anteil betrogene Frauen wehrten sich vor Gerichten oder, wie Christine de Pizan in Frankreich, literarisch. 34 Witwen waren nicht so schutzlos wie oft dargestellt. 35 Zeitgenössische Gesellschaften waren industrious, vielfältig und „Ehrbarkeit“ galt als zentraler Wert; Städter*innen schätzten „gute policey“ (engl. policy im Gegensatz zu police). Ihr Strafrecht begann oft mit der allgegenwärtigen Feuergefahr: Selbst bei kleinen Bränden, bei denen außer dem Verursacher niemand der Gmain Schaden hatte, mussten hohe Strafen gezahlt werden. Rauchrohre und Feuerstätten hatten aus Stein zu sein und waren ordentlich zu versorgen. Bei Feuerstätten-Be-

schau festgestellte Mängel mussten Besitzer abstellen. „Schädliche Männer“ seien je nach Vergehen vor Stadt- oder EB-Landrichter zu bringen. Hatten sie „eine Frau ihrer Ehre beraubt“, wurden sie mit dem Tode bestraft. Bei körperlicher Bestrafung schwangerer Frauen durfte das Kind keinen Schaden nehmen. Gesundheitsrechtlich waren alle verpflichtet, „Unsauberkeit“ abzustellen und Abfälle zu beseitigen. Niemand – privilegierte Kirchen- und Weltadlige eingeschlossen – durfte Abwässer auf die Straße leiten oder Mist auf sie werfen. Koteimer waren nur nachts an zugewiesenen Orten zu entleeren. 36 Doch war Sauberkeit und Geruchsfreiheit angesichts von Kühen, Rindern, Lämmern und Schweinen nicht leicht zu erreichen. Viehbesitzer*innen durften Schweine nicht frei herumlaufen lassen, aber ihre Tiere auf die Moose treiben. Offenbar gab es hartnäckige Egoisten, denn nicht nur musste eine „Verringerung“ der Allmende, das heißt die Aneignung eines Teils, bestraft werden, sondern vorgenommene Verringerungen von Amtleuten waren rückgängig zu machen. Das Leben in der Gmain war auch im Gebirge zu regeln (LO, Teil 8): Spannungen traten hinsichtlich der Einzäunung und Nutzung bei Bergwerken auf und wegen übermäßiger Nutzung durch unterversorgte Sölhäusler. An Markttagen begann, wie für Pettau beschrieben, der Verkauf zuerst nur an Einheimische. Tradition ebenso wie wirtschaftliche Macht zeigten die vielen Sonderrechte für zum Beispiel Erbfleischhacker in Hallein, Wochenmärkte in kleinen Orten, lokale Freimärkte für regionale Produkte. Gehandelt wurde, solange die Marktfahne aufgesteckt war, nur die außerhalb des Rechts- und Normensystems stehenden FEB durften zu jeder Zeit und in jeder Menge willkürlich kaufen (lassen). In SalzburgStadt zogen zwei Jahrmärkte, (Ruperti-) Dult seit 1331 im September und Chaerrein zur Fastenzeit,

Verwitwete Schriftstellerin und Frauenrechtlerin (geb. 1364 in Venedig, gest. nach 1429 in Poissy, nahe Paris), Hauptwerk Le Livre de la Cité des Dames. 35 Katharina Simon-Muscheid, „Der weite Weg zur Erbschaft. Weibliche Rechtswege und Strategien im späten Mittelalter“, in: Jens Flemming (Hg.), Lesarten der Geschichte: Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse; Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag, Kassel 2004, 402–417; Katalin Szende, „‚… mit Irer trewn Arbait geholffen‘. Frauen und Handwerk in mittelalterlichen Testamenten“, in: Katharina Simon-Muscheid (Hg.), „Was nutzt die Schusterin dem Schmied?“ Frauen und Handwerk vor der Industrialisierung, Frankfurt/M. 1998, 85–97, zog als Beispiele das westungarische Ödenburg/Sopron (~3000 Einw.) und Pressburg/Bratislava (~5000 Einw.), beides königliche Freistädte, heran. Franz V. Spechtler, „Ein Salzburger Formularbuch von etwa 1381“, MGSL 106 (1966), 51–70. 36 Friedrich R. Besl, „Die Entwicklung des handwerklichen Medizinalwesens im Land Salzburg vom 15. bis zum 19. Jahrhundert“, MGSL 137 (1997), 7– 112, und MGSL 138 (1998), 103–296. 34

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Menschen an, erreichten aber überregionale Bedeutung nicht. Güter trugen Kraxenträger, Säumer mit einem Maultier oder Pferd und zunehmend größere Saumzüge, sogenannte Rodfuhren, heran. Soweit der Straßenausbau es zuließ, verwendeten Fuhrleute ein-, zwei- oder mehrspännige Wagen; wohlhabende ländliche Familien und städtische Spediteure, die in große Wagen investieren konnten, verdrängten Kleinfuhrleute. 37 Kleinhändler*innen und Hingeberinnen versorgten die Bewohner*innen mit „failer“ Ware, sogenannten Pfennwerten. Tagelöhner erhielten je Arbeitstag ohne Kost und Trunk 16, Tagelöhnerinnen 12 Pfennige, im Winter 14 bzw. 10 Pfennige. Die Obrigkeiten wussten um Armut und Unmut der kleinen Leute und widmeten acht Folio-Seiten der SO Fleischwaren, aber 32 Backwaren: Weizenund Roggenbrot sowie Semmeln und Wecken in vielen Gewichtsklassen mit festgelegter Mehlqualität und, gelegentlich, Kleie-Zusatz. Gewinn-strebige Fleischhacker durften Bauern am Stadttor keinesfalls Vieh und Geflügel um einen billigen Preis abnehmen und Beschau verhinderte den Verkauf „schädlicher“ Ware. Preise, Angebot und Ordnung sollten allen ein Auskommen ermöglichen und wirtschaftlicher Übervorteilung Grenzen setzen. Doch dürfte „Ordnung“ flexibel gehandhabt worden sein und Beanstandungen bewirkten vermutlich lebhaftes Verhandeln. Außerhalb der Marktzeiten durften nur Bäcker*innen und Metzger ihre Läden für „die tägliche Notdurft“ öffnen und Fragner*innen hatten Schmalz, Schmer, Kaß, Schotten, Kerzen, Unschlitt, Obst und andere Pfennwerte feilzuhalten. Bürger*innen durften in ihren eigenen Häusern verkaufen, nicht jedoch in Filialen, fremde Kramerund Landfahrer*innen an maximal drei Marktagen. Im Kreuzgang oder der Vorhalle, „Paradeis“, der Domkirche boten Händler Messgewänder, Bücher, Bildwerke und anderen Bedarf der Geistlichkeit an. In der Residenzstadt kauften für die etwa 1000 Haushalte Frauen (und vielleicht Männer), Köchinnen und Mägde den täglichen Bedarf; Klöster entsandten Einkäufer*innen; Landfahrer*innen versorgten sich für den Weiterverkauf. Käufer*innen

sahen auf dem Markt ländliche Händlerinnen, die in großen Kiepen Eier herantrugen und ihren Lieferantinnen bestellte Waren zurücktrugen. Sie wussten, dass jede Warengattung ihren Ort hatte, dass sie Preise vergleichen und Beschauer Qualität überprüfen konnten: Milch und Kräuter, Schmalz und Eier, Geflügel und Hasen auf dem gemeinen Platz; Fisch um den Brunnen am Tränktor; Hafnerware am Rinderholz; am „Asthof“ Stroh und Heu, Holz aller Sorten, Schindeln, Laden, Zaunholz (vgl. Abb. 10.5). Arme Bewohner*innen und Handwerksgesellen ohne Feuerstelle beköstigten sich in Gar- oder Sydelküchen 38 „um einen ziehmlichen Pfennig“. Schenken boten meist nur Getränke und Gäste brachten ihren „Mundvorrat“ mit. Weinschenke und „Leutgeber“ hatten für Wein, Met und Bier auf feile Preise, Qualität und korrekte Herkunftsauszeichnung zu achten; sie durften Sorten nicht mischen oder gar mit Wasser verdünnen. Nichtbürger durften Wein nicht steuerfrei einlagern; Mönche und Herren hatten auch dafür Vor-Rechte. Viele Bürger*innen brauten Bier, manche für den Verkauf. Dies war den Großbrauern, das heißt Klöstern und FEB Leonhard, im Volksmund „der Schenk“ genannt, nicht recht. Sie ordneten die Schließung der Kleinbrauereien an, es sei denn, sie bestünden länger als zehn Jahre – „von alters her“? Wurde dies Dekret eingehalten? Gemeinschaftliche Gewohnheit und individuelle Interessen legten je eigene Rationalität nahe. Die hohe Mobilität erforderte ein entwickeltes Gastgewerbe. Herrschaftliche Boten erhielten Zehrung oder Geld für Herbergen; Kaufleute und Zünfte boten private Gastlichkeit; Pilger und Priester baten oder forderten Unterkunft in Pfarren und Hospizen. Wirte mussten Konzessionen, „Gerechtigkeiten“ oder „Gerechtsame“ genannt, beantragen und bezahlen, und, wollten sie ein Schild aushängen, für Schildgerechtigkeit zahlen. Sie hatten die Ankunft von Fremden zu melden und Fastengebote und Schankzeiten einzuhalten. In schlecht einsehbaren Winkeltavernen umgingen fröhliche Menschen das kirchliche Tanzverbot und trieben, so vermuteten Amtleute und Kleriker, Spiel und Sex.

Franz Narobe, „Die Römerstraße über den Radstädter Tauern“, MGSL 100 (1960), 15–22; Herbert Klein, „Der Saumhandel über die Tauern“, MGSL 90 (1950), 37–114. 38 „Sidel“ = Bank, zugleich Sitz und Behältnis für Wäsche, Flachs und anderes; Garkoch oder -köchin für einfache Speisen; Menge und Haufen des Gekochten; daraus vermutlich später abwertend „Sudel“. 37

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Stadt und Land: Ordnungen, Weistümer, Bräuche

Die Landesordnung (Teil 15) regelte den Handel von Kaufleuten bis zu Hausierer*innen. Fremde durften nur am Kirchtag und auf dem Jahrmarkt handeln, doch durften sie sich mit Erlaubnis niederlassen und aus ihrem Haus Geschäfte treiben. Als rügenswert galten Landfahrer, oft unangesessene Bauern und Dienstleute, die „einfachen Leuten“ an Hoftor oder Hüttentür, angeblich mit betrügerischen Maßen, billig Schmalz, Käs, Wolle, Flachs und Fleisch abkauften und überteuert schlechte Spezereien, unkontrolliertes Schweinefleisch, Salzhering und Stockfisch verkauften, ihren Käufer*innen also die Nahrung schmälerten. Als rügenswert galten auch wandernde Tuchhändler, deren Ellenlänge ungenau war, und wandernde Müller, die „Durcheinander und Irrung“ der Vielfalt von Maßen zu ihrem Vorteil nutzten. Die LO folgte den Erfahrungen von Untertan*innen und verbot Amtleuten, Pflegern, Pröpsten, Landrichtern und Verwesern den Pfennwerthandel, der Kleinhändler*innen schadete, sowie Druck auf Untertanen, Hochzeit und andere Zusammengänge in ihren Anwesen zu halten. Die Offiziale verhielten sich ungerecht statt Recht-mäßig. Besucher beeindruckte das komplexe, genau geordnete Marktgeschehen. Zugwerker packten, banden, be- und entluden Frachtwagen. Fasszieher und Sackwerker, die Waren in die richtigen Lagerkeller führten, arbeiteten nach Tarif gemäß Arbeitsaufwand, abwärts in die Tiefgeschosse oder nach oben und auf einen Wagen. Sie arbeiteten, modern ausgedrückt, als Team und teilten – oder sollten dies tun – Einnahmen getreulich. Sie zahlten, in sozialem Denken, auch einen Anteil an Erkrankte und an Alte. Kombinierte Handels- und Wohnhäuser mit mehrgeschossigen Kellern zur Warenlagerung hatten sich wohlhabende Familien seit dem 14. Jahrhundert in allen Handelsstädten errichten lassen. In der Salzburger Getreidegasse, auch Durchgangsstraße für Fernverkehr, verbanden viele ihre Gebäude mit Durchfahrten zu „Durchhäusern“ und sparten so den Raum zum Wenden von Fuhrwerken. Damit alles mit rechten Dingen zuging, kontrollierten „Unterkeuffel“ als Makler den Kauf und Verkauf und Spezialisten den Pferdehandel. Sie vermerkten jeden Umsatz – Mengen, Preis, Tag und Uhrzeit – in ihrem Buch und hatten Reiche und

Arme, Bürger und Fremde gleich zu behandeln. „Visierer“ überprüften die Qualität aller Getränke, „Abmesser“ Menge und Qualität allen Getreides, der „Wagerer“ der Fronwaage wog Metalle, Wolle, Federn und Leder, Leinwand und Barchent, Weinbeeren, Weine, Hering und Stockfisch, Lachs und Hechte, Glas und Wachs. Detailhändler*innen durften nur geeichte, „gerechte“ Gewichte, Hohlmaße und Maß-Stäbe verwenden. Wie von den groß- und kleinräumlich denkenden Untertanen gefordert, hielt die LO fest, dass Gewichte und Maße nach Tiroler und bayerischem Vorbild einheitlich zu halten seien; die Geltungsbereiche von Salzburger und Halleiner Maß diesseits und jenseits der Tauern blieben erhalten. Unverändert blieben die Zinsmaße für Abgaben. Fernhändler und, im Detail, lokale Lebzelter boten Pfeffer, Mandeln, Weinbeeren, Ingwer, Nelken, Zitronen und Spezerei an. Da für diesen Handel in der Kirchenprovinz aussagekräftige Quellen fehlen, sei der Kaufmann Francesco Datini (1335– 1410) im norditalienischen Prato herangezogen: Er handelte mit Reis, Mandeln und Datteln aus Valencia, Rosinen und Feigen aus Malaga, Äpfeln und Sardinen aus Marseille, Olivenöl aus Katalonien und Gaeta in Süditalien. Zahlungskräftige wussten um ferne Qualitäten und feine Geschmacksunterschiede. 39 Salzheringe brachten Händler in großen Mengen für Fastenzeiten von der Ost- oder Nordsee. Dort fischten Männer die Heringsschwärme vor Schonen und auf der Doggerbank ab, Frauen nahmen sie aus, salzten sie ein und verpackten sie. Blieben die Schwärme in einem Jahr aus oder verhinderten Stürme den Fang, waren Laien und Kleriker*innen europaweit betroffen. Für den Freikauf des FEB Pilgrim hatten die Salzburger Kauf-Familien sich den Tuchhandel mit Ungarn ertrotzt. Sie kannten die Kollegen in Pettau, waren anfangs meist für oberdeutsche Firmen tätig, intensivierten ihre Beziehungen nach Gemona und Venedig und betrieben im 15. Jahrhundert überwiegend Eigenhandel. Mit ihnen über die Pässe zogen englische und niederländische Händler. In Salzburg-Stadt handelten Regensburger und Münchener Gäste; generell regelten Städter*innen Rechte auf Gegenseitigkeit. Fremde Großhändler durften nur in Mindestmengen von fünf Stück, fünf Tü-

Barbara Santich, The Original Mediterranean Cuisine. Medieval Recipes for Today, Sheffield 22018. Eine Abhandlung über Früchte und Gemüse, Tacuinum sanitatis in medicina, und Regeln für Tischsitten, De quinquaginta curialitatibus ad mensam, instruierten Wohlhabende.

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chern, fünf Tonnen kaufen und verkaufen. Untereinander durften sie, unterteilt in „Landmann“ und „Ausländer“, nur Großhandel treiben, an Bürger durften sie ein Stück/eine Tonne verkaufen. Sie waren in ihrem Warenbesitz rechtlich geschützt. Regionaler Handel in einem Radius von meist nur 150 bis 200 km ermöglichte, von Salzburg-Stadt aus gesehen, den Handel mit Linzer Märkten ob und unter der Enns; der Fernhandel reichte westlich bis nach Konstanz, Zürich und Basel sowie nach Prag und Frankfurt. Die Salzburger und Nürnberger Kaufleute wickelten um 1500 je dreißig Prozent des gesamten Venedig-Handels ab. Erstere belieferten Märkte und Detailhändler*innen im Waldviertel und in Böhmen, Pettauer lieferten nach Ungarn. Die Tauern-Pässe blieben randständig im Vergleich zur Brenner-Route, über die um 1430 mehr als neunzig Prozent der jährlich etwa 6500 Frachtwagen verkehrten. In Innsbruck errichtete die Augsburger Handels- und Finanzfamilie Fugger eine Niederlassung; Brixen wurde wichtiger Markt und Bozen Messestadt. In größeren Städten schmückten Wohlhabende ihre Stuben mit Calcedonia- und Cristallo-Glas, ersteres eingefärbt mit Mineralien und Silber, letzteres durch Zugabe von Manganoxid „kristallklar“ wie Bergkristall, hergestellt von Glasbläsern in Murano (Venedig) oder in der Innsbrucker Hofglashütte. Klares oder einfach gefärbtes Glas böhmischer und Waldviertler Glasbläser erreichte die Stadt als Rückfracht im Salzhandel. 40 Tausende Fuhrleute trugen Informationen und Geschichten hin und her. „Die Bürgerschaft“, das heißt reiche Kaufleute und Stadträte, hatte in Salzburg-Stadt ein Niederlagrecht für Eisen aus Kärnten und der Steiermark, für Weine aus Italien und für Tuche aus Oberdeutschland durchgesetzt und Lager, „Lötschen“ genannt, am Fluss eingerichtet. Tuchgroßhändler bezeichneten ihre Ware nach Herkunftsorten, in denen zünftisch-städtische Standardisierung und Beschau garantieren sollten, dass schlechte Ware nicht den Ruf aller Produzenten und Kaufleute einer Stadt beeinträchtigte. Kleinere Händler wie Tuchscherer, „Tüchler“ und Kürschner legten ihre Ware auf der Schranne (Gericht) und vor dem Rathaus aus. Weinlagel oder -fuder, abgefüllt nach Ma-

ßen der Anbauregion, mussten in Salzburger Maß umgefüllt werden. Wein, hygienischer als Wasser, wurde in großen Mengen gehandelt und diente dem Genuss ebenso wie der Eucharistie. Säumer, Wagenführer und Ladeknechte hatten eine mental map der Weinregionen im Kopf: Friaul, Etsch und welsche Länder; „Osterwein“ aus dem Osten; Marchwein; Franken-, Neckar-, Rhein-, ElsässerWein und andere. War an einem Tag nur eine einzige Wagenladung Wein auf dem Markt, durften Schenkenwirte nur ein Fass kaufen, damit andere nicht leer ausgingen. Vielen schädlich war „Fürkauf“, spekulativer Großeinkauf mit dem Ziel, Waren zu exportieren, um hohen Gewinn zu erzielen. Ansässige beschwerten sich besonders in Zeiten der Teuerung, wenn sie Kauffuhren in die Ferne beobachteten. Die vielfache Wiederholung des Fürkaufverbots zeigte, dass „Ordnung“ nicht immer durchsetzbar war und Kapitalkräftige, darunter oft Amtspersonen, sie umgingen. Nur Berggewerken durften für die Arbeiterfamilien Schlachtvieh in großer Zahl ankaufen. Fürkauf von Getreide war strikt verboten und auch Handwerker wie Kürschner, Lederer, Riemer und Schuster durften nur so viel Gefill und Leder kaufen, wie sie für ihre eigene Arbeit benötigten, Prälaten, Adel und Bürger nur für den Bedarf ihrer Häuser (LO, Teil 12). Ein Fürkauf allerdings blieb ungestraft: Per Salzmonopol versorgten die Kirchenfürsten das südliche und östliche Mitteleuropa mit „weißem Gold“ zu ihren Preisen und Mengen (s. Kap. 8.3). In Hallein und ähnlich in (Reichen-) Hall hatten Berg- und Salinenarbeiter*innen, Küfer und Trockner*innen, Arbeiter und (kirchliche) Meister die Produktionstechnik zu Manufakturen entwickelt: Auslaugen der Sole, Verdunstung in Pfannen, Füllen des „nassen“ Salzes in abgestumpfte kegelförmige, etwa 1 m hohe Holzbehälter (Perkufen); Transport in große, von unten beheizbare Trockenschuppen (Pfieseln); Abnahme der Holzbehälter und Aufstellen von je 180 bis 540 Salzstöcken (Fuder) zum Trocknen über etwa zehn Tage. 41 Brennholz schlugen Holzknechte in reservierten Wäldern, Unternehmer (Bestehholzer) ließen es anliefern, Kleizler zerkleinerten es zu Brennholz oder sägten es zu

Wilfried K. Kovacsovics, „Die archäologischen Untersuchungen im Haus Lederergasse 3, 1997–1998. Ein Rückblick“, Salzburg Archiv 34 (2010), 71– 112; Gerhard Ammerer und Jutta Baumgarten, Die Getreidegasse. Salzburgs berühmteste Straße, ihre Häuser, Geschäfte und Menschen, Salzburg 2011. 41 Im 15. Jahrhundert waren vermutlich 80–90 Trockenschuppen gleichzeitig in Betrieb. 40

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Stadt und Land: Ordnungen, Weistümer, Bräuche

Abb. 10.2 Salzverschiffung zwischen Passau und Laufen, Zechbuch der Passauer Schiffsleute, 1422 (aquarellierte Federzeichnung)

Fassbrettern, aus denen Küfer Tonnen (Kufen) für den Transport zimmerten. Andere lieferten ihnen Ringe aus Metall oder starken Weidenruten. Das zerkleinerte Fudersalz füllten Arbeiter*innen in die Kufen, manchmal nur locker, unehrlich, um die „Unterschleife“ sackweise unter der Hand zu verkaufen. Die dann zuständigen Salz-Fertiger beschäftigten Säumer für die Wege nach Süden und Osten, Schiffer Salzach-abwärts. Gegen die Halleiner Bürger-Familien hatte das Patrizier-KlerikerKombinat der Residenzstadt ein Transportmonopol durchgesetzt: Nur an ihrer Schiffslände unterhalb der Stadtbrücke durfte Salz auf Boote geladen werden. Die Fahrt Salzach-abwärts vergaben die EB 1267/1278 als vererbbares Ius navigii an 27 Laufener Bürger. Es regelte detailliert, dass jeder Schiffsherr zwei große und ein kleines Schiff betreiben und Schiffsführer (Ausfergen, Amt vererbbar) sowie Schiffer in festgelegter Zahl beschäftigen durfte. Die

FEB teilten die Rechte 1389 und 1417 in zwei Strecken, Hallein–Laufen und Laufen–Passau, sowie sozialhierarchisch in nicht zu Schiff gehende Adlige und selbst fahrende Bürgerliche. Für die Gegenstromfahrt, oft von mehreren Schiffen gemeinsam, wurden Treidler angeheuert und Umführer ermöglichten vom Ufer aus durch Seile und geschickt gesetzte Pflöcke die Passage von Stromschnellen. Passau erreichten 1401/02 laut Mautregister 108.600 Zentner. 1426 entließen die Schiffsherren die Treidler und setzten Pferdezug ein. Mit den akkumulierten Gewinnen stiegen FEB- und Bürger-Familien in den Erzbergbau ein und handelten Edelmetalle und Arsenik nach Venedig (s. u.). Das einträgliche Verschiffungsprivileg erhielt 1532 der EB-Rat und Kammersekretär Johann Christoph Perner und lebte, wie ein Maler darstellte, gut. Die im Salzhandel konkurrierenden Fürsterzbischöfe und Habsburg-Herzöge (Tirol und Salz417

Wirtschaft, Alltagsleben und Herrschaft vom Großen Sterben bis zum 16. Jahrhundert

Abb. 10.3 Johann Christoph Perner von Rettenwörth und Lampoting, erzbischöflicher Rat und Erbausferge Imagination von 1622: Reiche Kleidung aus unterschiedlichen Tuchen und Spitzen, Kette, Schwert, Körperfülle mit (vermutlich) Siegel und Kette und, am Fuß des Kreuzes, Totenschädel als Vergänglichkeitszeichen. Die Körper der Salzschiffer waren eher schmal.

kammergut) schlossen einen Vertrag – sie vertrugen sich – über die Verschiffung auf der Donau bis zur Linzer Maut und weiter zu den Niederlagen in Stein, Krems und Korneuburg. Dafür waren die Stromschnellen bei der Insel Wörth zu durchfahren. Nicht alle handelten unternehmerisch klug, der Zisterzienser-Abt von Raitenhaslach (a. d. Salzach) zum Beispiel musste den Klosteranteil an der Halleiner Saline verpfänden. Seit dem 13. Jahrhundert sank in vielen Wirtschaftssektoren der Klerikeranteil zugunsten von Bürgern, die für ihre VorRechte zahlten, und der FEB verpachtete die Saline

Hallein 1423 gegen 3000 Pfund jährlich an ein Konsortium von Beamten und Bürgern. 42 Das intensive Wirtschaftsleben erforderte Infrastruktur und Nutzer zahlten in Salzburg-Stadt Pflasterzoll, Fremde Brückenzoll. Je eine Institution, darunter die Klöster und das Spital, war für Erhalt und Reparatur der acht Bögen der Brücke verantwortlich. Von Maut befreit waren Bürger*innen für ihren Eigenbedarf und von Zoll für die Einfuhr von Produkten ihrer ländlichen Güter. Mauteinnehmer hatten nicht nur die Tarife für bis zu 200 Waren zu kennen, sondern auch die Befreiungen. Kaufleute wie Landfrauen, die mit offenen Augen und Ohren ihrer Wege gingen, hatten Standnachbarn, Herbergsgästen und Zuhause „Neuigkeiten“ zu erzählen. Dies war nicht zu regeln, doch verbot der FEB lästerliche Worte über sich und Gott. Wussten „seine Gnaden“, was geredet wurde? Gafften die Leute, wenn Räte und Dienstmannen sich zeigten oder schauten sie bewundernd? Despektierliche Beinamen für einzelne FEB sind überliefert. Dichter der Zeit gaben all diesem keinen Platz. Ihre Sicht privi-legierte „fahrende Ritter“, weit ausgreifende Berichte über „Kreuzritter“, und sie überhöhten – wie in dem didaktischen Roman Le Livre du chevalier errant (Paris) – den Solddienst als symbolisches Kapital und religiösen Gewinn. Erst ein Jahrhundert später würde Miguel de Cervantes über Don Quichotte (1605, 1615) Lachen ermöglichen. Pilger*innen wurden meist positiv bewertet, doch suchten lokale und römische Kirchenherren ihre Wege zu reglementieren. Ritter bewegten sich großspurig und Mächtige lebten auf „großem Fuß“. Sie mussten sich weiterhin für die Überschreitung einer Grenze bei dem jeweiligen Herrscher anmelden und konnten oder mussten Schutz- und Geleitrecht in Anspruch nehmen. Dies wurde nicht immer gegeben. Der Salzburger EB und andere Fürsten hatten König Heinrich IV. den Rückweg aus Canossa verlegt. Ein zu Geleit verpflichteter Graf nahm 1350 einem Salzburger Reisenden das Geld. Gefährlich waren oft nicht der wilde Wald oder die Türken, sondern – sollte man sagen undomestizierte? – Raub-Herren und ihre Knechte. 43

Fritz Koller, „Hallein im frühen und hohen Mittelalter“, MGSL 116 (1975) 1–116; ders., „Die Ausfergenurkunde des Jahres 1531“, MGSL 118 (1978), 69–88; und ders., „Die Salzachschiffahrt bis zum 16. Jahrhundert“, MGSL 123 (1983), 1–126; Franz Heffeter, „Die Salzachschiffahrt und die Stadt Laufen“, MGSL 129 (1989), 1–60, und MGSL 130 (1990), 279–344; Ernst Neweklowsky, „Linz und die Salzburger Weinfuhren“, MGSL 96 (1956), 179–190; und ders., „Die Salzachschiffe und ihre Erbauer“, MGSL 100 (1960), 273–290. 43 Werner Paravicini, „Fahrende Ritter: Literarisches Bild und gelebte Wirklichkeit im Spätmittelalter“, in: Martina Neumeyer (Hg.), Mittelalterliche Menschenbilder, Regensburg 2000, 205–254. 42

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Stadt und Land: Ordnungen, Weistümer, Bräuche

Abb. 10.4 Stadtansicht, 1493, Weltchronik Hartmann Schedels

Routen waren Teil der mental maps auch vieler Sesshafter, die Erzählungen hörten und, vielleicht, über eine Pilgerreise nachdachten. Hinzu kamen im Rahmen der neuen Drucktechnik und zentralisierter Verwaltung topografische Landkarten und gedruckte Stadtbilder. Die älteste Bergbaukarte vom Dürrnberg (1554) verzeichnete die unterirdischen Gänge genau, denn oberirdisch verlief die Grenze zu den Herzögen Wittelsbach und ihnen standen Abgaben für Teilstollen zu. Zustehendes erfordert Bringwege. Die erste Katasteraufnahme (1562) zielte auf die Kalkulation der Einnahmen der FEB. Entsprechend verbanden die Topografen die jeweiligen Flurnamen mit ihrer Größe und ihrem Ertrag, listeten Bauwerke separat nach Holz und Stein samt Schätzwert und Schuldenstand auf und beschrieben Gewerbebetriebe mit technischer Ausstattung: Topografie für Bann-Besitzer. Stadt, Stadtbild und Stadt-Selbstbild entstanden aus der Summe häuslicher, handwerklicher und tagelöhnerischer Arbeit, aus Handelsaktivitäten und sozial differenzierten Sichtweisen. Zeichner stellten statische Gebäude statt dynamischer Tätigkeiten dar und arbeiteten ideologisch-diskursiv genau: Sie privilegierten Kirch- und Burgtürme und exkludierten Arme-Leute-Hütten. „Nach Relevanz sor-

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tiert“ erforderte die Macht, zu bestimmen, was relevant ist. Angesichts der Kosten für Illustrationen zeigten Drucker und Autoren „souveräne Gleichgültigkeit“ gegenüber spezifischen Topografien, verwendeten eine Ansicht unter mehreren Stadtnamen oder setzten Ausschnitte neu zusammen. Zünftisch war dies unrecht. Hartmann Schedels Weltchronik (Nürnberg, 1493) reflektierte den Übergang von Kirchen-und-Burg Diskurs zu Bürgerstadt-Sichtweise. 44 Selbstbewusste Stadträte und Patrizier ließen auf Münzen ihr Stadtpanorama statt Herrscherporträt prägen: Mitteilung und selektierte Erinnerung. Ebenso selektiv suggeriert in der Gegenwart eine Ausstellung des Stadtmuseums, Salzburg sei „das Werk der Fürsterzbischöfe“ (Stand März 2018). Durchreisende venezianische Gesandte nahmen das Statische, den erzbischöflichen Palast und den Sitz des Suffraganbischofs von Chiemsee wahr: „eine Menge feiner Sachen, Gemälde, äußerst feine deutsche Holzschnitzereien und einige Goldmedaillen, [… Wein aus] vergoldeten, silbernen Gefäßen“. 45 In den süddeutschen Reichsstädten, zu denen Kauf-Familien und Fuhrleute enge Kontakte hielten, war das Selbstverständnis anders und Optionen vielgestaltiger.

Wilfried Schaber, „Eine unbekannte Stadtansicht Salzburgs aus dem 15. Jahrhundert“, Salzburg Archiv 14 (1992), 121–132. Peter F. Kramml, „Salzburg in einem Reisebericht des Jahres 1492“, Salzburg Archiv 14 (1992), 133–140, Zitat 135.

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Wirtschaft, Alltagsleben und Herrschaft vom Großen Sterben bis zum 16. Jahrhundert

Abb. 10.5 a) Stadtansicht, 1553, b) Ausschnitt mit Markt- und Handelsorten nach Peter F. Kramml

10.4 Gewerbetreibende und „Gemeine“ Städtische Gewerbetreibende, die meist in überdachten und zum Teil beheizbaren Werkstätten arbeiteten, hatte die Schlechtwetterperiode des 14. Jahrhunderts weniger betroffen als ländliche Menschen. Gesellen und – der deutschen Sprache unbekannt – Gesellinnen sowie Meister*innen und Unternehmer*innen 46 entwickelten in einem Technologieschub Pressen sowie Mühlen zum Walzen, Gerben und Waschen, Sägen und Pochen und Mah-

len von Farbpigmenten. Hinzu kamen größere Ofengebläse für Hochtemperaturprozesse und Blasebälge für Orgeln; feinkörnige Schleifsteine und -sände zum Schärfen und Polieren; Radwerke mit vielfältigen Übersetzungen und Zähnen oder Nocken sowie, schließlich, Uhren. Die Mit- oder Eigenarbeit von Frauen war selbstverständlich, erst seit dem 15. Jahrhundert stieg die Männerdominanz und Zunftexklusivität. 47

Als ein Grazer Waffenschmied, der 1571 aus Augsburg in die Stadt gekommen war, vor seinen Gläubigern floh, führte seine Frau den Großbetrieb weiter und zahlte je hergestellter Rüstung einen Teil seiner Schulden ab. 47 Dies untersuchten bereits Karl Bücher, Die Frauenfrage im Mittelalter, Tübingen 1882, 21910, und andere. Katharina Simon-Muscheid, „Frauenarbeit und Männerehre. Der Geschlechterdiskurs im Handwerk“, in: dies., Frauen und Handwerk, 13–33; und Erika Uitz, „Frauenarbeit im Handwerk. Methodenfragen und inhaltliche Probleme“, ebd., 35–52; Martha Howell, „A Documented Presence: Medieval Women in Germanic Historiography“, in: 46

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Gewerbetreibende und „Gemeine“

Abb. 10.6 Zum Vergleich die geringe Bebauung um 1160 (Modell, Entwurf Gerhard Plasser)

Taglohn konnte eine Familie nicht ernähren und viele Produktionsvorgänge erforderten mehr als zwei Hände: Wie in ländlichen Hufengemeinschaften war Arbeitspartnerschaft die Regel. Gewerbe umfassten Nahrungsproduzent*innen und Gastwirt*innen, Haushandwerke und Heimgewerbe sowie „klassische“ Handwerke aller Sparten – auch die Festlegung von „Klassik“ unterliegt Diskurs-Herrschern. Besonders in Ernährungs- und GastungsGewerben, in medizinischen und hygienischen Bereichen wirtschafteten Frauen selbstständig und selbst-verständlich. Sie produzierten Lebens-Mittel, doch verschwand das Produkt angesichts des sofortigen Konsums oder gar Herunterschlingens. Im Transportgewerbe arbeiteten Frauen nicht. War eine „reisende Jungfer“ nicht vorstellbar? Sprachlich bekannt waren „gefährliche Straßen und Wege“, das bedeutete analytisch Männer, die die Ehre von Frauen bedrohten. Bei Bauarbeiten, wie der Restaurierung der Kirche „Unserer Lieben Frauen“ in Salzburg-Stadt erhielt Maurer Veit für „gross mueh und arbaitt“ Lohn, seine Frau, die Veitin, „die geholfen hat“, ebenfalls. 48 Mit der Trennung von Wohnund Arbeitsort im 15. Jahrhundert ließen sich Alltagsrhythmen oft nicht mehr verbinden. Viele Handwerke sind bis in die Gegenwart als Familiennamen erhalten: von Fragner, Fassmann, Küfer oder Kufner bis Zimmerer und Zinner. Gesinde sollte, gemäß Ordnungen, fromm und

ehrbar sein. Lehrlinge, auch Mädchen, „dienten“ über eine festgelegte Zeit, die jedoch flexibel verlängert oder verkürzt werden konnte. Frauen blieben, in der Biopolitik der Sprache, Dienstmädchen bis ins Alter. Laut SO und LO müsse, wer sich nicht selbst unterhalten könne, arbeiten; wer nicht arbeite, dürfe nicht beherbergt werden; Ordnungs-gemäße Löhne wären zu akzeptieren. Knechte und Mägde mussten sich auf ein ganzes oder ein halbes Jahr verpflichten. Die Kündigungsfrist zum Ende der Dienstzeit betrug für sie sechs Wochen, für ihre Herren acht Wochen. Kündigte die Herrschaft nicht, hatten sie das Recht zu bleiben; kündigten sie nicht, hatten sie weiter zu dienen. Niemand dürfe bei Strafe des Jahreslohnverfalls aus „unredlichen“ Gründen Dienst aufsagen; wer redlich aufsagen müsse, solle den Wirtsleuten Ersatz besorgen. Wirtsleute, die Dienstboten außerhalb der Fristen entließen, hatten den Gesamtlohn zu zahlen. 49 Erfahrene Bauernknechte, die Wagenfuhren sowie Feld- und Hofarbeit verrichteten, erhielten – so die Festlegung – pro Jahr 5 Pfund Pfennig und vier Paar Schuhe, das heißt bei sechs Arbeitstagen pro Woche knapp 4 pf. pro Tag. Kleinere Bauern zahlten, was ihnen möglich, lokal üblich, der Geschicklichkeit und dem Arbeitsanfall angemessen war. Futterknechte erhielten zusätzlich ein Paar Lodenhosen; Knechte oder starke Buben, die Zugvieh führten, nur 1 pf. am Tag sowie Lodenhose und Schuhe. Köchinnen, die in großen Gast- und Herrenhäusern zuverlässig – „fleißig und getreu“ – arbeiteten, erhielten 5 fl. und 3 Paar Schuhe im Jahr, bei geringerer Arbeit weniger; Vieh- oder Hausdirn maximal 2 fl. und 4 Paar Schuh; eine noch ungeschickte Kindsdirn etwa 1 fl. Alle hatten Nahrung und eine Schlafecke. Stadträte regelten die Löhne, aber die Getreidepreise für das tägliche Brot variierten gemäß Witterung und Ernte. Handwerker*innen und Gemeine in Taglohn erhielten Kost morgens, mittags Suppe sowie Jause und Nachtessen. Löhne und Kost variierten für Mäher, Schnitter, Heuer, Drescher, Strohschneider, Mistbreiter, Holzhacker. Als Richtwert galt das Bauwesen: Arbeitszeit im Sommer von St. Peter Stuhltag bis St. Gallen (22. Februar–16. Okto-

Susan Mosher Stuard (Hg.), Women in Medieval History and Historiography, Philadelphia 1987, 101–131; Angelika Kronreif, „Die Geschichte des Gasthauses Krimpelstätter“, Salzburg Archiv 33 (2008), 25–152, hier 29–32. 48 Franz Pagitz, „Zwei Beiträge über das Wirken Stephan Krumenauers in Salzburg“, MGSL 106 (1966), 141–180, hier 143. 49 Spechtler und Uminsky, Stadt- und Polizeiordnung, f. 114v–115r.

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Wirtschaft, Alltagsleben und Herrschaft vom Großen Sterben bis zum 16. Jahrhundert

ber) von fünf Uhr morgens bis sechs Uhr abends, im Winter von sieben bis fünf, Pausen für Suppe, Mittag und Jause. Steinmetze und -brecher erhielten oft Werkzeugzulage. Taglöhne betrugen im Sommer für Meister 28 Pfennige (im Winter 24), für Knechte 24 (20), für Jungen 20 (16). Kost und Trunk mussten sie sich meist selbst beschaffen, am Samstag erhielten sie meist zwei Pfennige Badgeld. Feiertage, arbeitsfrei und ohne Lohn, hatte „die Kirche“ in ihren vielen lokalen Inkarnationen überwiegend in die dunkle Jahreszeit gelegt, wenn die Ernte eingebracht war und Bauleute wegen der Temperaturen nicht arbeiten konnten. Arbeiter*innen erhielten Lohn täglich oder wöchentlich, in Bergwerken jedoch oft als Gedingelohn, teils in Geld, teils als Nahrungsmittel, selten mit einem Extra für Festtagsmale, sehr selten für Kleidung. Im Bau erhielten Steinversetzer in großer Höhe Gefahrenzulage, Windeknechte und Radtreter für ihre schweißtreibende Arbeit Extrazuteilungen von Bier. Frauen arbeiteten als Hafner und Ziegler für Ofenkacheln, Bodenfliesen, Backsteine und Dachziegel, trugen auf Baustellen Wasser heran und halfen bei der Mörtelzubereitung. Für den ländlichen Ständer- oder Fachwerkbau trugen Familien Lehm heran, sammelten Reisig, füllten Gefache, banden Strohbündel für Dächer. 50 Verbindungen ehrbarer Handwerker*innen fürchteten die Herren und Patrizier. SO und LO hoben Zünfte und allen „Zusammengang“ auf, nur auf richtige Lehrzeit und Qualität der Arbeit hätten „die Berufe“ selbst zu achten. Sie dürften Bruderschaften für soziale Zwecke und zur Beschau der Gesellen- und Meisterstücke bilden. Nur wo keine Meister anwesend seien, dürften ausgelernte Gesellen direkt beschäftigt werden. Alle seien einzeln – individuell – der Obrigkeit unterworfen und zu Gehorsam verpflichtet. Ansässige Meister beschuldigten oft Auswärtige unehrbarer Arbeit und zogen gemäß ungeschriebenem Protokoll als Gruppe zur Baustelle des Konkurrenten und nahmen ihm sein Werkzeug als „Faustpfand“. Sie hatten es ordentlich zu bewahren und mussten innerhalb kurzer Frist bei Gericht

Klage einbringen. Taten sie dies nicht, hatten sie das Werkzeug zurückzugeben und den Schaden zu ersetzen. Oft setzten Gerichte Schlichter ein. Basis war die moralische Ökonomie angemessenen Auskommens aller Ansässigen. Für Großbauten warben Herren selbstverständlich Fremde an; Meister aus Regensburg oder Passau galten als besonders qualifiziert. 51 Ländliche und städtische Produzent*innen webten Tuche, in der Kirchenprovinz weit weniger als in oberrheinischen und flandrischen Gebieten. Sie gerieten durch Fernhändler- und Großunternehmer-Familien zunehmend in Konkurrenz zu Massenproduzent*innen. Auf Gebirgsschwaigen mit Schafzucht stellten sie grobe Loden her, in Hofwirtschaften und städtischen Webereibetrieben der unteren Inn- und Salzach-Region einfaches „graues“ Lodentuch. Frauen waren – zumindest in einigen Orten – an munizipaler Entscheidungsfindung beteiligt: Als die Lodenwebermeister der Stadt Mühldorf 1359/60 die Bestätigung – alter – Rechte wünschten, verbrieften „wir der richter, der rat und di gemain der purger ze Muldorf unser hausfrawn“ die Rechte auch für die Erben. Um Einheimischen den Broterwerb zu erhalten, durften Fernhändler nur schwarze und weiße Tuche verkaufen. 52 Weitläufig kauften die Mönche und Nonnen von St. Peter Tuche: aus Speyer einfache schwarze für Oberkleidung; aus Krems weiße für Unter- und Nachtkleidung; andere Qualitäten aus Mähren und Schlesien; Wollware aus nieder- und oberösterreichischer Produktion; feine Tuche vermutlich für Abtkleidung aus Flandern, Brabant, England und der Lombardei. Hinzu kamen Näh- und Stickmaterialien aus der Ferne, mit denen Petersfrauen Klerikergewänder applizierten. Stadt-Salzburger Handels- und Spediteurs-Familien kauften im 15. Jahrhundert billige schlesische, polnische und Braunauer Tuche sowie niederbayerisches Leinen für den Export nach Italien. In Braunau gingen Produzent*innen zur Herstellung einer breiten Palette von Geweben über, Salzburger*innen spezialisierten sich seit dem 14. Jahrhundert auf Barchent (arab. barrakan, Stoff aus Kamelhaar, pers. baranka,

Rechnungs-, Steinmetz- und Musterbücher für Kirchen-, Pfalz- und Mauerbauten von Canterbury bis Prag und Wien listeten Arbeitsvorgänge, -entlohnung und -zeit detailliert auf und erlauben einen fast lateinkirchenweiten Vergleich. Günther Binding mit Gabriele Annas, Bettina Jost und Anne Schunicht, Baubetrieb im Mittelalter, Darmstadt 1993, 137–170, 268–445. 51 Pagitz, „Krumenauer“, 164. 52 Weistum in Herbert Klein, „Die Tuchweberei am unteren Inn und der unteren Salzach im 15. und 16. Jahrhundert nach Salzburger Quellen“, MGSL 106 (1966), 115–139, hier 136–137. 50

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Schafwolle) und verwendeten dafür importierte Baumwolle und Leinen. Als Gregor Maer um 1520 Stiftsprediger wurde, wuchs der Kauf bayerischer Ware schnell, denn er hatte Verwandtschaft in Münchener Tuchhändlerkreisen. Bürger*innen kauften während des Dult, ein Passauer Weber – und nach seinem Tod seine Frau – verkaufte dort. Tuchscherer, die Stoffe veredelten, arbeiteten laut Salzburger „Stadtbuch“ des Christian Reutter (1495) nach Tarif. 53 Spezialisten arbeiteten für Herrschaften und Patrizier. Das Seidennater-Ehepaar Goldfuß (Nater = Nadler) stellte wertvolle Gewänder und sogar Reliefstickerei her – auch herstellen bedürfte sprachlicher Präzisierung, denn es ist Prozess und erst am Ende steht das Produkt. Das Ehepaar, er aus Niederösterreich zugewandert und ab 1442 als Bürger genannt, nahm Lehrjungen auf. Sie kauften Seidengarne, darunter „Angesichtsfäden“ und Goldgarne; ein Steinpolierer schnitt, durchbohrte und polierte für sie Perlen, Edel- und Halbedelsteine. Kollegen aus Regensburg und Marburg/Maribor adressierten ihre Briefe an „lieber Herr und liebe Frau“ und durchreisende Freunde übernachteten bei ihnen oder liehen sich Betttücher, ließen sich Ställe für Knecht und Pferde besorgen, baten um Information zu Lebensmittelpreisen. Für Hz Sigismund, Tirol, produzierte das Ehepaar 1478 ein Kreuz für ein Messgewand und weitere drei Kreuze. Für die Kosten, 89 Gulden, hätte ein Baugeselle mehr als drei Jahre arbeiten müssen. 54 Hofhandwerker*innen sahen Luxuriöses, darunter heidnisch-abergläubisch oder exotisch-mythisch anmutende Gegenstände. Zum Beispiel bewahrten die EB in ihrer Silberkammer eine „Greifenklaue“: Greife (hebrä.→ lat. cherub) waren, so die Vorstellung, geflügelte Wesen mit Adlerkopf, Löwenkörper, vier Füßen und zwei Flügeln. Dies altorientalische Wesen hatten Griechen adoptiert oder adaptiert, muslimische Kulturen von Palästina bis Sizilien übernommen. Ein Christ von Stand hatte die Klaue als Geschenk über Bulgarien und Siebenbürgen – einer auch mit Sagen gut ausgestatteten

Region – zur Residenz gebracht. Damit die Klaue als Statussymbol würdig wurde, fügten Hofhandwerker silberne „khlaidung“ hinzu und setzten einen nahtlos in den Rand eingepassten Trinkbecher ein. Silber- und Goldschmiede veredelten, wie dies unchristliche, aber interessante Gefäß, auch Exotika wie Kokosnüsse und Straußeneier oder Alpinika wie Steinbockhörner. Über ihr religiöses Denken fehlt Erinnerung, aber am Ende der Klaue bildeten sie ein Pelikannest nach: Nach antikem Glauben nährten Pelikane ihre Jungen mit eigenem Blut, Christen übernahmen dies als Blutopfer. Naturwissenschaftlich war die Greifenklaue ein Büffelhorn. 55 FEB Matthäus hinterließ bei seinem Tod (1540) Greifenklauen, Straußeneier, türkische Teppiche, eine Kristallkugel mit Bild von Veronika und Weihnacht, einen Baum von Korallen, fossile „Natternzungen“ zur Anzeige von Gift in Getränken (naturwiss. Haifischzähne), eine Muschelschnecke und indianische Nüsse, jeweils mit silbernen Füßen oder Fassungen. Weiterhin hinterließ er goldene Ketten und Ringe; Edelsteine wie Saphir, Türkis, Achat, Chalcedon, Serpentin, Jaspis; viel Silber, Perlen und Perlmutt sowie kristallenes Tischgeschirr. Jeder Stein hatte, wie man glaubte, magisch heilende oder schützende Fähigkeiten. Doch dies hatten selbst apokryphe Schriften nicht erwähnt. Kunsthandwerker*innen produzierten für wachsende Kundenkreise oft in gemeinsamen Werkstätten. Sie erwarben Gussmodelle auf den Frühjahrsund Herbstmärkten von reisenden Händlern und verwendeten ältere und neuere Generationen von Modeln in einem Werkstück. Einzelne arbeiteten als Steinmetz, Maler und Werkmeister, andere schlossen sich zusammen, um ihre Expertise zu poolen. Die Theorie, dass am Beginn der „Renaissance“ Meister sich von Handwerkern zu Künstlern gewandelt hätten, übersah, dass sie weiterhin ihr Skulptur-Handwerk von Grund auf lernten – ohne Lehre kein (Kunst-) Werk. 56 Das Handwerk des Glockengießens diente Kirche und Kirchen. In zeittiefer Werkgenealogie hat-

Klein, „Tuchweberei“, 122; Peter F. Kramml, „Der Färber Ulrich Imholz in Konstanz und Salzburg. Großkaufmann, Wirtschaftsinnovator und Bankrotteur“, Salzburg Archiv 32 (2007), 105–116. 54 Michaela Krissl, „Korrespondenz eines Salzburger Seidenstickers im 15. Jahrhundert“, MGSL 130 (1990), 351–360; Franz Wagner „Seidenstickerei“, in: Heinz Dopsch und Roswitha Juffinger (Hg.), Das älteste Kloster im deutschen Sprachraum. St. Peter in Salzburg, Salzburg 1982, 205–215. 55 Franz Wagner, „Ein Trinkhorn der Herren von Maissau für den Erzbischof von Salzburg“, Salzburg Archiv 27 (2001), 167–173; „Archivalien“, MGSL 17 (1877), 65–67. 56 Günther Binding und Norbert Nußbaum (Hg.), Der mittelalterliche Baubetrieb nördlich der Alpen in zeitgenössischen Darstellungen, Darmstadt 1978, 53

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ten um 3000 v. u. Z. Kupferwerker in China Glocken als Gongs gehämmert und, unabhängig von ihnen, später Handwerker in Ägypten, Mesopotamien und Rom. Benediktinische und, vielleicht vor ihnen, irische Mönche und Laienbrüder entwickelten die Gießkunst. Den Ruf für Kirchgang erweiterten Glockenbesitzer schnell: Zinsglocken am Termin der Steuerzahlung, Armesünderglocken bei Vollstreckung eines Todesurteils, im Lebenszyklus Sterbeglocken sowie Feuer- und später Pferde- und Kuhglocken; Wetterglocken warnten vor Unwettern. Kleriker ließen dem „Glockenspeise“ genannten Gußmaterial Reliquien beimengen; Laien in St. Quirin sagte ihre Glocke: „Annemarie heiß i, alle Wetter weiß i, alle Wetter vertreib i, und zu St. Krein bleib i“. Der FEB ließ nach 1525 den Gläubigen, die für die Evangelien und gegen die Herrschaft aufgetreten waren, die Kirchenglocken, mit denen sie sich zusammengerufen hatten, nehmen. Er benötigte sie als Rohstoff für Kanonen, die er auf die Gläubigen richtete. Theophilus Presbyter beschrieb in seiner schedula diversarum artium den Fortschritt bei der Herstellung der konischen Grundgestalt. Im 13. Jahrhundert erreichten Glockengießer Mehrstimmigkeit und im 14. Jahrhundert lernten sie, Glocken in zwölf Segmente zu unterteilen und sie durch Relation von Höhe und Durchmesser in ein Tonverhältnis zueinander zu bringen. Glockenkünstler verbesserten die Gussform aus Lehm durch Mischung von altem und neuem Lehm, Zugabe von Bierhefe, Ziegelmehl, Graphit, Kälberhaaren, Gerstenhäcksel, Hanf, Quarzsand und Holzkohle. Der Tiroler Bartlme Grassmayr, dem Namen nach ländlicher Herkunft, lernte dies auf seinen weiten Wanderungen, bevor er sich 1599 in Innsbruck niederließ und sein Wissen seinen Kindern weitervermittelte. 57 Lehm, Basismaterial für die Glockengussformen, war Töpfer*innen als Feinmaterial seit langem bekannt und diente als Grobmaterial allen, die sich im flachen Land eine Hütte bauten. In den Bergen Lebende verwendeten die im Überfluss vorhandenen Steine, Ärmere lebten in kleinen Holzbauten

oder als Herberger bei Bessergestellten. Stadträte achteten auf den Hausbau und der Stadtrat in Salzburg betrieb zeitweise Lehmgruben und Ziegel- sowie Kalköfen. Beschauer kontrollierten die „geziemende“ Größe der Modeln, damit der gemeine Mann (und seine Hauswirtin) Gutes und Beständiges erhalte. Geregelt war, dass die Häuser seitlich Brandmauern haben mussten. Reiche Bürger – auch Ritterbürger genannt – ließen sich nach dem Vorbild von Wehrmauern und Burgen an ihren Wohnhäusern Erker zur Verteidigung und Beobachtung als „Eigenbefestigung“ anlegen. Die Familie Keutzl, die zwischen 1392 und 1438 vier Bürgermeister und von 1466 bis 1495 den Abt von St. Peter stellte, erweiterte ihren Wohnkomplex nach italienischen Vorbildern um einen Wohnturm mit sechseckigem Aufbau. Dies Gebäude erwarb der Rat und wandelte den Patrizierturm zum Rathausturm mit Glocken. Das alte Rathaus wurde zur Stadttrinkstube umgewidmet und für Gäste geöffnet. 58 Bürger-Familien bauten meist mit schmalem Giebel, um die nach Frontlänge bemessenen Steuerlasten gering zu halten. Manche ließen am Giebelende Schildmauern hochziehen, deren kubisches Aussehen Größe suggerierte. Herren ließen ihre Repräsentationsbauten von großzügigen Freiflächen umgeben und oft lagen offene Repräsentationsräume und enge Gassen dicht beieinander. Jeder Kauf oder Verkauf eines Hauses erforderte Kenntnis der Belastungen: Sicherheiten für Kredite, die Höhe des Burgpfennigs, Pflichten wie Reinhaltung der Abwasserrinnen oder Rechte und Dienstbarkeiten gegenüber Nachbarhäusern. Immobilien wurden durch Grundriss beschrieben und sozial durch die Nachbarhäuser. In SalzburgStadt kauften Bürger*innen mittleren Einkommens oft nur ein Stockwerk. Viele Häuser und Grundstücke waren um 1500 so überlastet, dass Eigennutzung oder Mietzins die Lasten nicht trug und Besitzer oder Pächter sie verfallen ließen. Ein Teil des Problems ergab sich aus der Zeitperspektive: Zinsen und Verpflichtungen wurden „auf ewiglich“ auferlegt, aber über die Zeiten vergessen, denn wer

22–42; Franz Wagner, „‚Spätgotik‘ in der Stadt Salzburg. Zu einigen Problemen der kunstgeschichtlichen Forschung“, Salzburg Archiv 32 (2007), 51– 104, hier 73; Birgit Wiedl, „Das Goldschmiedehandwerk in der Stadt Salzburg im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit“, MGSL 135 (1995), 497–604. 57 Vom Erz zur Glocke und Glockengiesser Grassmayr seit 1599, Innsbruck, o. D.; Augustin Jungwirth, „Die Glocken und Glockengießer Salzburgs“, MGSL 75 (1935), 11–32. 58 Wagner, „Spätgotik“, 90 ff.; „Trinkstuben-Ordnung [1526]“, MGSL 7 (1867), 361–364. Die Stube wurde einem „Stubenknecht“ (Wirt) mit Schreiber, Köchin und Hilfsknechten überlassen.

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Abb. 10.7 Dom und Pfarrkirche 1553, in der Mitte das Geviert des Bischofshofes, im Hintergrund das Klosterareal St. Peter (Steckbild des Landesplaners Richard Schlegel auf der Basis von Stadtansicht und Katasterplan)

abzog, nahm seine/ihre Erinnerung mit und es entstanden nachbarschaftliche oder Haus-bezogene Erinnerungslücken. Auch verschwiegen Verkäufer in Übervorteilung Lasten – bis jemand sich erinnerte und sie einforderte. Andererseits konnte Erinnerung dauerhaft, doch das belastete Objekt verfallen sein. Ein Heinrich, vermutlich „Leibgeding“ der Erentrudis-Nonnen, „dient von einem garten 10 pfg. da emalen ain haws ist auf gestanden“ (1405). Die SO verbot die Ewigkeitsklausel als „nichtig und vncrefftig“, doch um Erinnerung zu verstetigen, hatte der Stadtschreiber jede Immobilientransaktion in einem neu eingerichteten Grundbuch festzuschreiben und zu verbriefen (120 pf. Gebühr). Der Richter hatte sie zu siegeln (240 pf. Gebühr), denn daraus, dass früher viele gesiegelt hätten, sei „viel Irrung“ entstanden. 59 Für repräsentative Großbauten organisierten Bauhandwerker sich als fabrica, für kleinere wanderten sie in Baurotten (s. Kap. 8.5, 8.6). 60 Sie hat-

ten lange unter „freiem Himmel“, also bei Wind und Regen ohne Schutz, gearbeitet; erst als Arbeitskräfte nach der Pest knapp waren, zeigten Darstellungen Arbeitshütten und Unterstände. Bei der Bearbeitung von Steinen ermöglichten Schemel eine ergonomische Körperhaltung; Maurer verwendeten flächige und Fugen-Kellen sowie Lotwaagen für waagerechte und senkrechte Genauigkeit und Abstandhalter für Steine. Für den Lehm- oder Mörtelverstrich waren Reibebretter in unterschiedlicher Form und Größe zum Glätten notwendig. Kirchenhandwerker benötigten Werkzeuge für Glocken, Orgel, Glasmalerei, prunkvolle Grabstätten und anderes. Die selbstbewusste Bürgerschaft in SalzburgStadt – aber vielleicht nicht die ärmeren Inwohner*innen – plante am Beginn des 15. Jahrhunderts eine große Kirche als Antwort auf den Dom des Stadtherrn und ließ dafür ihre Stadtpfarrkirche „Zu unserer Lieben Frau“ 61 durch einen beeindrucken-

Spechtler und Uminsky, Stadt- und Polizeiordnung, f. 62v., 116v, 117v–123v.; „Notizen über ‚Tafelmacher‘ [Maler] in Nonnberger Urbarien“, MGSL 52 (1912), 32–34. 60 Bei Neuerrichtung der Marienkirche des Erentrudis-Klosters ab 1460 musste das Stift für Hütte und Eisenwerkzeuge aufkommen, der Meister seinen angedingten Gesellen Essen liefern lassen und für Leitern, Tragen und Bänke sorgen. 61 Die Kirche der Petersfrauen bezeichnen Historiker und Stadtführer oft fälschlich als „Franziskanerkirche“. Den Orden berief ein FEB erst 1583 und erst 1635/1642 erhielten die Brüder das Gebäude als Ordenskirche. Abtei St. Peter (Hg.), Franziskanerkirche in Salzburg, Salzburg 2018. 59

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← Abb. 10.8 Grundriss der Liebfrauenkirche mit rekonstruiertem spätgotischen Kapellenkranz (Entwurf Alfred Rinnerthaler, Ausführung Herbert Moser) und idealer „Maßgrund“ des Chores (Franz Fuhrmann) Ein nur zum Teil erhaltenes Fresko (datiert: 1456) an einer Chorsäule zeigte idealisiert die Bauarbeit: Vor einer offenen, gezimmerten Hütte mit Bänken und Böcken arbeiten zwei Werkleute; einer, mit rotem Gewand und grünem Hut gekleidet, behaut mit Spitzhacke einen Block, vielleicht als Grundstein, der andere, mit violett gerahmtem, grauem Wams und rotem Hut, schafft mit Meißel und Schlägel an einem Stück Maßwerk. Es handelt sich vermutlich um die Baumeister Hans und Stefan. Statt der üblichen linnenen naturfarbenen Kittel trugen sie das Hofkleid aus lombardischem („Loferer“) Tuch. Die Darstellung stammte aus der Werkstatt von Conrad Laib, dem bekanntesten der zeitgenössischen Maler der Stadt.

Abb. 10.9 Sternrippengewölbe des Chors, getragen von Mauersäulen und fünf freistehenden schlanken Säulen

Abb. 10.10 Wandgemälde in der Kirche „Zu unserer Lieben Frau“

den gotischen Hallenchor erweitern. Der Turm sollte den des FEB-Doms überragen und da der Platz zwischen beiden offen war, war die Zeichensetzung allen sichtbar. Der Chorherr und Pfarrer Dietrich Raurisdorfer, Kunigunde Schön und Jörg Sammer stifteten die Mittel, Ratsbürger verwalteten das Vermögen der Pfarrkirche samt den zahlreichen Messstiftungen.

Sie hatten Mitsprache bei der Bestellung der Geistlichen; der jeweilige Stadtpfarrer ließ sich durch einen Vizeplebanus (Nachpfarrer) vertreten. Das Amt war anstrengend: täglich eine Messe, samstags – und in der Advents- und Fastenzeit täglich – eine Predigt. Zu besonderen Anlässen verpflichteten die Bürger auswärtige Prediger und sie luden sich in

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den Jahren der großen Kirchenkritik Johann (aus Staupitz) und Paulus Speratus (s. Kap. 11.4) ein. Für den Chorbau beriefen die Bürger Meister Hans aus dem bayerischen Burghausen und, nach dessen Tod, den ebenfalls bayerischen Stefan Krumenauer. Sie bestellten Steinmetze, Glaser und Schmiede und als Material Steine, gebrannte Ziegel, Kalk und Eisen sowie Glas für die hohen Fenster. Die Fenster von Hütten und Häuschen überspannte nur Papier oder Leinwand. Für einen besonderen Kalkofen erhielt 1456 der aus Grenoble zugewanderte Antonio Marini ein Privileg. 62 Die handwerklichen Fähigkeiten für Holzbau und für komplexe Kreuzgewölbe hatten einen Stand erreicht, der bis ins 19. Jahrhundert nicht überschritten werden würde. Architekt Hans konzipierte beeindruckende Lichteffekte: Die Gläubigen betraten (und betreten) den zweiteiligen Bau durch die (ältere) dunkle Halle und bewegten sich zum lichten, hohen Chor mit Blick auf den Marienaltar, den der aus Tirol zugewanderte Michael Pacher (~1435–1498) entwarf und schnitzte. Er hatte seine Lehrzeit in Brixen abgeschlossen, besaß in Bruneck (Pustertal) eine überregional geschätzte Werkstatt und sein Entwurf hatte die Auftraggeber, die auch mit dem Passauer Maler Rueland Frueauf d. Ä. Kontakt aufgenommen hatten, überzeugt. Er siedelte seine gesamte Werkstatt 1495 in dem Haus des Seidenstickers Gabriel Breitfuss an. Als er und die Witwe Baumgartner heirateten, konnte er ihr Haus nutzen. Korporative „Ämter“ – Zimmerer, Steinmetze und Maurer, Böcker, Schiffleute und Schiffbaumeister, Goldschmiede und Schmiede, Weber und Fischer – ließen sich in den kranzförmig angeordneten Seitenkapellen Altäre einrichten. Die gotischen Langschiffe eigneten sich hervorragend für zusätzliche Kapellen, denn angesichts der zahlreichen Stiftungen für Seelenmessen wurden zusätzliche Altäre als Priesterarbeitsplätze benötigt. Steinmetze galten als die Elite der Bauhandwerker und organisierten sich in Bruderschaften mit Arbeits- und Qualitätsordnungen. Jungmeister und Gesellen wanderten aus eigenem Antrieb und ge-

mäß Arbeitsmarktlage, Wanderzwang führten die Zünfte erst im 15./16. Jahrhundert ein. Sie arbeiteten oft nur für kurze Zeit, wanderten weiter und erhielten sofort guten Lohn. Nur Unbekannte mussten in Tagelohn ein Probestück meißeln. Nach, regional variierend, sechsjähriger Lehrzeit konnte ein Lehrling Geselle werden. „Knechte“ der Dombauhütten strebten Dauerbeschäftigung an und übernahmen das Läuten der Glocken und die Baupflege wie das Reinigen der hohen Fenster. 63 Ortsfeste Baumeister bzw. ihre Witwen suchten mit zunehmender Privatisierung Steinbrüche aus Herrscherbesitz zu erwerben. Meister verwendeten Zirkel und Dreieck als wappenartiges Zeichen: Der Zirkel war Attribut von Gott und Meistern (Abb. 9.7), nicht von Bischöfen und Königen. 64 Der vielseitige Leon Battista Alberti (geb. in Genua 1404) beschrieb in De re aedificatoria (1452) nach dem Vorbild des römischen Architekten und Ingenieurs Marcus Vitruvius Pollio (~80 v. u. Z. bis ~15 u. Z.), wie er von einfachen Menschen und Handwerkern gelernt habe. Matthäus Roriczer aus böhmischer und Regensburger Familie stellte 1486 die bis dahin mündlichen Traditionen zur Konstruktion von Fialen (ital. foglia, Blatt einer Pflanze) und Wimpergen (fein gemeißelte Ziertürmchen) zusammen und in Nürnberg verfasste Hans Schmuttermayer ein ähnliches Werk. Ehrliches Verhalten und Arbeiten bedeutete Identität. Porträts von Architekten, Skulpteuren und Malern zeigten, dass sie sich Gründern/Finanziers und hohen Klerikern ebenbürtig fühlten. Die Steinmetz-Bruderschaften beschlossen 1459 in Straßburg und Regensburg eine Ordnung für „teutsche lande“, die wie Roriczers „Büchlein von der Fialen Gerechtigkeit“ das handwerkliche, spirituelle und gesellschaftliche Praxis- und Welt-Bild zeigte. „Gerechtigkeit“ bedeutete statisch und perspektivisch gerecht-richtige Verhältnismaße, sozial gerecht-richtige Arbeitsverhältnisse und zeugte von materiell-sozial-spiritueller Einheit. Sie war diametraler Gegensatz zu Dekret-„Recht“ ohne Statik und Harmonie. Bauherren und Bauleute such-

Marini durfte Bier brauen, Salz sieden, Mühlen, Brücken und Dämme bauen; eine Lizenz, gewissermaßen ein Unterprivileg, zum Ziegelbrennen gab er dem Goldschmied Matthäus Neupeck oder Newpeckh. 63 Binding und Nußbaum, Baubetrieb nördlich der Alpen, 22–42; Binding u. a., Baubetrieb im Mittelalter, 108–120, 332–333, 364–365. 64 Bei dem Regensburger Dombau über 250 Jahre ab 1273 schlugen und setzten 650 Steinmetze rund 10.000 Steine. Die Loge der „Freimaurer“, die Zirkel und Dreieck samt Auge verwendeten, war vermutlich eine Adaption der englischen free masons, die Stein in Feinarbeit zurichteten und sich von roughstone masons für Gröberes unterschieden. Nicola Goldstream, Masons and Sculptors, Medieval Craftsmen, London 1991. 62

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Abb. 10.11 Mathäus Roriczer, porträtiert von Hans Holbein d. Ä.

ten die passende Materie und Form für baukörperlich-göttliche Harmonie. Sie beriefen sich auf die Vierheit Vater-Sohn-Mutter Maria-Hl. Geist und auf irdische „nutz vnnd notturfft“ der Gesellen, Meister und Auftraggeber. Sie erwähnten in selbstbewusster genealogia, dass Altvordere und „Liebhaber des Handwerks“ Bauleute geschätzt hätten. Die Reichweite des Zusammenschlusses war neu, das Gesellschaftsbild traditionell: Die Bruderschaft verwehrte Unfreien und unehelich Geborenen die Mitgliedschaft, erwartete eheliches Zusammenleben und dass die Brüder mindestens einmal im Jahr das „heilige Sakrament“ nähmen. 65 Die Regensburger Bauleute verpflichteten sich, regelmäßig in die gemeinsame Büchse für Geselligkeit und Sozialhilfe zu zahlen. 66 Doch wen hatten die Bauleute im Blick, wenn sie in alternativer Zeichensetzung Horrorgesichter an Dachtraufen oder kragende Steine meißelten? Nach Fertigstellung der „grosse steinwerckh“ oder, dörflich, der Kirchen folgte die Inszenierung der Gebäudeweihe. Lorentz Spennig und Steffan Krumenauer wirkten an der Ordnung, die Korporatives und frühes Kapitalistisches verband, mit. Lorentz, Werkmeister des Stephansdoms in Wien, war oberster Meister

von der Enns donauabwärts bis Ungarn. Krumenauer (1400?–1461), aus einer Bau- und Steinbruch-Besitzerfamilie in Passau, hatte in Wien und Wasserburg/Inn gearbeitet und war seit Mitte der 1440er Jahre „pawmeister und werchkman“ des Salzburger FEB, dann „howpawmeister“ (Vorstand der Dombauhütte). Nach seiner Rückkehr aus Straßburg wird er vermutlich bei geselligem Beisammensein, Umtrunk mit religiöser Formalität, berichtet haben. Er lebte nicht konfliktfrei, denn die ansässigen Meister bezeichneten ihn als Gast und verklagten ihn. Er benötigte als Zugewanderter einen „Vorsprecher“ und bestritt als Hofbediensteter die Zuständigkeit des Stadtgerichts. Nach seinem Tod führte seine Witwe, die Steinmetzin Anna, den Betrieb weiter, schloss Verträge und ließ von den „Herren“ der Pfarrkirche in Kitzbühel Schulden eintreiben. 67 Der Arbeitsvertrag für den Hofmaurer und Bürger der Stadt Salzburg (seit 1488) Ynntzinger zeigte die Herr-Handwerker Beziehung: Er wolle „seiner gnaden stifft“ mit seiner „kunst und arbeit trewlich dienen“ und sicherte zu, dass an Dächern und Mauern kein Schaden durch seinen „unfleis“ entstehe. Er erhielt jährlich zwölf Pfund Pfennig plus je Quatember drei Pfund sowie, wenn er selbst mit seiner „Hand“ arbeitete, zusätzlich Taglohn. Für auswärtige Arbeit forderte er von der Kammer Pferd und Zehrung. Würde er tage- oder gar monatelang auswärts arbeiten, sollte der zuständige Pfleger oder Amtmann Speise mittlerer Qualität und zu jedem Mahl „ein mässel wein“ liefern. 68 Als Maurer und Zimmerer versuchten, ihren Taglohn um ein Viertel zu erhöhen, konstatierten die Hof-Räte Konspiration mit auswärtigen Meistern und oktroyierten 1485 eine Ordnung. Fünf Jahrzehnte später erlaubte die Obrigkeit „wälschen“ Maurern in der Stadt zu arbeiten, ohne eingeschriebene Mitglieder der Bruderschaft zu werden. Die Meister klagten, dass „dadurch unnser khunst und narunge geschmelert“ würde. Der zugewanderte Hans Hyliprant entgegnete, er habe gelernt, „wie es

Die Vielzahl der Regelungen für Streitfälle mag auf Konflikthäufungen statt Einhelligkeit deuten, doch waren derartige Regelungen Bestandteil vieler Rahmenordnungen. 66 Binding u. a., Baubetrieb im Mittelalter, 71–75, 109, Zitat 71. 67 Hans Puchta, „Beiträge zur Tätigkeit Stephan Krumenauers im Inn-Salzach-Gebiet“, MGSL 112/113 (1972/73), 331–346; Wagner, „Spätgotik“, 58–90; Goldstream, Masons, 15, 36–37. 68 Pagitz, „Krumenauer“, 143–146; Franz Fuhrmann, „Der Chor der Franziskanerkirche [= Liebfrauenkirche] in Salzburg und sein ‚Massgrund‘. Eine Nachlese“, in: Beiträge zur Mittelalterlichen Kunst, 2 Bde., Wien 1993, 195–209. 65

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Gewerbetreibende und „Gemeine“

sich gebürt unnd bey unnser nation gebreuchig ist“, und beschwerte sich über die „violentische Tat“, als die Meister ihm sein Werkzeug nahmen (1567). 69 Holzkunst, von Gebrauchsgegenständen bis zu Altären, hatten Menschen in den Tälern des InnerGebirg über Generationen in vielfältigen lokalen Formen entwickelt. Sie schnitzten sich Geräte, denn ohne Napf und Löffel war schlecht Brei essen. Im holzreichen Tirol begann Spezialisierung und Vollzeitarbeit früh; im Salzburgischen hatten Fronende Holzmöbel zu fertigen, manche führten („schwärzten“) ihre Produkte heimlich ins Tiroler Ausland aus. Die Arbeit von Schiffbauern für das Befahren von Etsch und Inn, Salzach und Drau scheint gröber, aber eine einzige ungenau gearbeitete Planke hätte Kahn oder Schiff unbrauchbar gemacht. Einige wanderten ab und arbeiteten in Venedig (s. Kap. 8.9). Kunsthandwerker-Künstler, die für die Oberschichten produzierten, waren mit denen des urbanen Flandern-Oberrheins und Norditaliens vernetzt, nahmen säkulare Stil- und Technikentwicklungen auf und importierten besondere Hölzer für Einlegearbeiten und Furniere. Plastische Bildner*innen schufen Christuskreuze und Marienstatuen für die „Herrgottswinkel“ in Wohnstuben und für Wegekreuzungen; große Statuen mit ausgehöhltem Rücken, um Risse zu verhindern; Kirchengestühl; Altäre und, in großen Kirchen, Hochaltäre. (Seiden-) Sticker*innen, Buch-, Wand-, Tafel- und Glasmaler*innen bemalten Altäre und fertigten Altarvorhänge. 70 Die Holztafeln für Tafelmaler fügten Spezialisten aus mehreren haargenau geschnittenen Brettern mit Dübeln und Leim zusammen, damit sie sich weder verziehen noch reißen würden. 71 Wandernde Händler*innen vertrieben kleine Bilder bis nach Norddeutschland. Rauchfangkehrer aus dem Vigezzotal, Piedmont, kauften Kopien des Bildes der „blutenden Maria“

in der Müllner Kirche und vertrieben diese im Winter in vielen Teilen Europas. Die Legende besagte, dass ein wütender Bürger, der im Spiel verloren hatte, am 29. April 1494 einen Stein auf das Bildnis geschleudert und Maria danach zwanzig Tage lang blutige Tränen geweint habe. 72 Kunsthistoriker*innen hierarchisierten die Werke retrospektiv als „hohe“ und „Volkskunst“ und zeitgenössische Kleriker werden dies auch so gesehen haben. Doch wie dachten die Gemeinen? War ihnen ein Marienbild in der Wohnstube oder ein glänzender Altar emotional näher? Waren sie beeindruckt von übermenschlich hohen, vergoldeten Altären? Nicht „alte Meister“, sondern „alles Meister“ urteilte die Spezialistin für Tiroler Kunstschaffen. 73 Gegen Ende des 14. Jahrhunderts entwickelten Kunstschnitzer und -maler, anfangs in Prag und Paris, dann in Mailand und Neapel sowie Aquitanien, neue Stile. Einen „weichen“ Stil 74 nahmen Schaffende der Alpenregionen auf oder entwickelten eigenständig Vesper- und Marienbilder, welche die Zuwendung zwischen Mutter und Kind zeigten und als „schöne Madonnen“ bezeichnet wurden. Sie standen im Gegensatz zu dem direkten, manchmal harten Blick der sedes sapientiae und theotokos-Visualisierungen Marias. Sollten besonders Frauen angesprochen werden? Kleinformatige Christusam-Kreuz-Darstellungen dienten der persönlichen Andacht, doch die lebende Mutter scheint Gläubige stärker angesprochen zu haben als der tote Sohn. 75 Altäre, auch vergoldete, waren Gebrauchskunst mit weiten Bezügen. Pacher hatte in seinem Altar, der 3300 rheinische Gulden kostete, Maria ins Zentrum gestellt und zeigte in anderen Werken unter anderem Mauritius, Benedikt und Scholastika, Margaretha und Katharina. Dies erforderte Bibelkenntnis ebenso wie Vorstellungskraft. Zwei Jahr-

Pagitz, „Krumenauer“, 155–160. Nach 1580 ernannte FEB Wolf-Dietrich (Raitenau) Vincenzo Scamozzi aus Venedig zum Hofarchitekten. Josef Gassner (Hg.), Spätgotik in Salzburg: Die Malerei 1400–1530, Salzburg 1972, mit Beiträgen von Beate Rukschcio, Albin Rohrmoser und Isolde Hausberger zur Glas- und Tafelmalerei, Franz Wagner zur Seidenstickerei, Kurt Holter zur Buchmalerei. 71 Für die Tafeln eigneten sich nur spezifische Hölzer. Flämische Tafelmacher und Maler schätzten Eichenholz aus dem ostbaltischen Raum. 72 Aushang in der Müllner Kirche (Stand Mai 2020). 73 Magdalena Hörmann, Alles Meister. Kunsthandwerk in Tirol, Bozen 2006; Hans K. Ramisch, „Zur Salzburger Holzplastik im zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts“, MGSL 104 (1964), 1–88; Wagner, „Spätgotik“, 51–104; Otto Fischer, „Max Reichlich und die tirolische Malerei in Salzburg“, MGSL 47 (1907), 119–143. 74 Die Bezeichnung, alternativ „spätgotisch“, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Kunsthistoriker*innen deuten auf den „weichen“ Fall des Gewandes, im Gegensatz zu „hartem“ Faltenwurf. Ob dies zeitgenössischen Anbetenden wichtig war, sei dahingestellt. 75 Dieter Großmann und Johannes Neuhardt (Hg.), Ausstellung Schöne Madonnen 1350–1450, Salzburg 1965; und Großmann, „Schöne Madonnen 1350–1450“, MGSL 106 (1966), 72–114. 69 70

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hunderte später, im Barock, galt sein Stil als altmodisch. 76 Die Franziskaner ließen 1709 die Gold- und Silberauflagen einschmelzen und erzielten einen Gewinn von 512 Gulden. Erhielten blieben zwei Tafelbilder und die Statue der Madonna. Kirchenherren tauschten gelegentlich Altäre oder beschafften sich ausrangierte Altäre Wohlhabenderer, die sich einen neuen leisten wollten. 77 Dank der nahen Adneter Rotmarmorbrüche spezialisierten sich Gebrauchskünstler auf Grabmalplastik und Bildner entwickelten um 1400 eine Steingusstechnik für Marienstatuen mittlerer Höhe und andere leicht transportable Stücke, Maler standardisierten Andachtsbilder. Diese Serienprodukte zeigten Frauen vielfach mit schablonenhaft-ausdruckslosen Gesichtern, Männer mit fast fratzenartigen. Die Kunsthandwerker/Handwerkskünstler, meist nur als „Meister von“ bekannt, waren oft Wanderkünstler und weiterhin Leibeigene von Kirchen-Korporationen. 78 Künstler*innen aus Nürnberg, Augsburg und Passau, aus Böhmen, Tirol und Brixen wanderten in der Region. Weitere machten auf der Durchreise nach Italien Station, die der „Donauschule“ produzierten ohne kirchlichen oder sozialen Bezug. Für jedes Werk ist nicht nur die Aussage, adressiert an die Zielgruppe Kirchen- und Weltadel, zu untersuchen, sondern die Rezeption durch Laien. Sie hatten Zugang zu Pfarr- und Wallfahrtskirchen, aber nicht zu Klosterkirchen und Adelshöfen. In der Liebfrauen-Pfarrkirche konnten sie die Vielfalt der Altäre wahrnehmen, in der ebenfalls Maria geweihten Nonnberg-Kirche summierten sich Hochaltar, Seitenkapellen und Krypta zu insgesamt vierzehn. Auftraggeber*innen wurde Quantität wichtig: Wer besitzt ein Marienbild oder eine Marienstatue mit besonders vielen Perlen in der Krone und Edelsteinbesatz an Gewandborten? Dafür arbeiteten Maler, Schnitzer und Kistler (Tischler) mit Vergoldern zusammen, mit Männern und Frauen, die Flussperlen sammelten, stickten und Borten wickelten sowie mit Gürtlern, Goldschlagern und Perlenheftern. Die Mitra des Abtes Rupert (V.) Keutzl

(a. 1466–1495) von St. Peter stellte seinen Reichtum zur Schau. Er und sein Nachfolger Virgil (II.) Pichler (a. 1495–1502) agierten als integraler Teil der Strategien ihrer Patrizierfamilien. Einfache religiöse Schriften wurden Massenware, als die Fähigkeiten, Strichzeichnungen in druckfähige Hartholzplättchen zu übertragen und Pressen für Flugblatt- und Buchstabendruck zu adaptieren, Flugblätter und Bücher in unerwartetem Maß verbilligten. In den fünf Jahrzehnten nach Gutenbergs Innovation druckten Meister und Gesellen in 350 Städten Lateineuropas rund 30.000 Titel in etwa neun Millionen Exemplaren. Kleriker nutzten das neue Medium für Ablasszettel, Grafiker wie Dürer erzielten ihre Wirkung dank Tausender Kolporteure. Dürer wanderte weit, der Afrikaner und die afrikanische Frau, die er zeichnete, lebten in Venedig, Mailand oder Nürnberg, das Rhinozeros aus Indien besaß der König in Portugal. Als er für den Ritter-begeisterten Kaiser Maximilian I. arbeitete, schuf er „Ritter, Tod und Teufel“: Ein Ritter zog – 1513 – geistesabwesend, vielleicht mürrisch, einer Zukunft entgegen, ohne den nahen Tod und Teufel wahrzunehmen. 79 Holzarbeitende erweiterten die Wasserrad-getriebenen Gattersägen durch Einbau mehrerer senkrechter Sägeblätter und Zimmerer-Tischler stellten aus den Brettern Möbel und Wandverkleidungen her. Marktniederlagen (modern: Baumärkte) für Stämme, Balken, Bretter, Dachrinnen, Schindeln, Räder und Artikel wie Mulden, Fässer, Schaufeln entstanden; Händler ex- oder importierten Hart-, Weich-, Furnier- und andere Hölzer über große Entfernungen. Sägen betrieben Männer, Mühlen auch Frauen. Ländliche Familien beschuldigten Müller oft der Unterschleife und Bereicherung, denn beim Mahlen von Getreide traten Verluste auf. Haben Müllerinnen aus der Mechanik herausfallendes und -staubendes Mehl bewahrt? Dass Quellen darauf keine Antwort geben, darf das Stellen der Frage nicht verhindern. Diese bereits sehr lange – aus Sicht der genannten Berufe viel zu kurze – Darstellung könnte wei-

In der Phase der Barockisierung wurde in Kirchen vieles Vorangehende beseitigt und vernichtet. Nur in abgelegenen, ärmeren Orten blieben alte Altäre erhalten. 77 Fuhrmann, „Marienaltar“, 29–58. 78 Wagner, „Spätgotik“, 51–104. Malerei, meist als Tätigkeit mit Pinsel dargestellt, schloss weitere Techniken wie Wischen, Tupfen und Bürsten ein. 79 Lynn White, Medieval Technology and Social Change, Oxford 1964, 89–126. 76

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tergeführt werden: Waffenschmiede, Plattner, Armbrustmacher, Kanonengießer, Kürschner, Lederer. 80 Darzustellen wäre das Leben der Lehrlinge, die Meistern und Meisterinnen übergeben wurden und dienten. Darzustellen wären auch die initiativen Männer und Frauen, die Arbeits- und Lebensweisen abseits von „ordentlichem“ Handwerk suchten. Zunehmend wanderten Handwerker*innen, teils Gesellenehepaare. Manche nannten sich monarchos (griech. Mönche) und schlossen sich zu einem „Königreich“ zusammen. Sahen die Handwerker*innen und Tagelöhner*innen ihre Herrschafts-Umwelt kritisch? Ein Anonymus forderte in der Zeit des Baseler Konzils die Modernisierung des Gesundheitswesens, die Priesterehe und Säkularisierung des Kirchenguts. In einer Flugschrift, die er Reformatio nannte, nahm er die Position des Sachsen- und des Schwabenspiegels zur Freiheit der Menschen auf. Zum „Baumann“, also zu landbearbeitenden Familien,

schrieb er: „Es ist ein ungeherte sach, das man es offen müß in der Cristenheit, das groß Unrecht ist, das vorget, daz einer vor Got also durstig ist, das er sprechen tar (darf) zu den Menschen: ‚Du bist mein eigen!‘, den Got hertglich erloßet hat und gefreiet; es ist heidenisch getan.“ In Bezug auf Handarbeiter hielt er fest: „Hantwerck sei darumb erdacht, daz yederman sein teglich prot damit gewynnen soll“. Niemand solle in ein Handwerk eingreifen, dann möge „sich yederman erneren“, niemand solle anderen etwas „abschneyden“, wie Wohlhabende es bei der Almende taten. Der Autor wusste, dass er Autorität dringend benötigte und nannte seinen 1476 erstmals und dann in vielen Auflagen gedruckten Text „Reformation Kaiser Sigismunds“. Seine Worte helfen zu verstehen, weshalb „kleine“ Handwerker so sehr darauf achteten, dass niemand ihnen Konkurrenz machte. Ihr und ihrer Familien „täglich Brot“ hing von ihrer spezifischen Arbeit und ihren Fähigkeiten ab. 81

10.5 Ländliche und landstädtische Menschen Das Menschenbesitzregime lastete weiterhin auf ländlichen Hausgemeinschaften. Grundherren stifteten sie auf einer Hufe an: „Stift“ war (1) das Verhältnis zwischen Grundherrn und unfreiem Leihnehmer, (2) Zuge-Hörigkeit, „zur stift gehörig“, (3) Abgabe, steur oder stift. Festgehalten war dies im Urbar. Urbar-machen bedeutete ur-sprüngliches Nutzbarmachen von eigenem oder, je nach Perspektive, ge- oder ver-liehenem guot durch das Baumannsrecht, einen Hof zu bauen und Grund zu bebauen. Ursach war ein Rechtsstreit darum. Die Bezeichnung „Bauleute“ galt generisch für schaffende Haus-, Erz- und Land-Arbeitende. „Freisässig“ bedeutete weiterhin Herren-seitige Willkür, die Leihe „frei“ zurückzunehmen und Angesetzte zu entstiften, das heißt, sie zu vertreiben oder anderswo anzusetzen – „anzustiften“. Umgangssprachlich sind „Anstifter“ meist Übeltäter, die andere zu etwas Schlechtem bewegen wollen. Die Angestifteten hatten die Leihe stiftlich und paulich gut zu erhalten

und, wer dies nicht konnte oder durch Dienste überlastet war, musste „stiften gehen“, um Strafen zu entgehen. Doch verfolgten Leib- oder Lebenseigene eigene intergenerationelle Lebensplanungen. Nach der Pest waren sie sich ihres gestiegenen Wertes bewusst und wandelten ihren unsicheren Status schrittweise in die Gewohnheit, Leihsitz an Kinder weiterzugeben. So machten sie sich intergenerationell zu Erblern (s. Kap. 7.8, 7.11). Parallel fand der Übergang von herrschaftlicher Eigenwirtschaft, Fronhofverbänden und Vogt-Kontrolle zu Rentengrundherrschaft seinen Abschluss. Manche Zinsempfänger verweigerten bereits Naturalien und zwangen ihre Unfreien in Lohnarbeit und Marktwirtschaft. 82 Herren verschenkten, stifteten oder verkauften Bauleute weiterhin „samt allem was [räumlich] dazugehört“: mit Weideplätzen, Ödungen, Bachläufen, Zugängen, mit Geräten wie Sensen und Wagen, Schmiedehämmern und Sägen. Sie dokumentierten

Karl Adrian, „Sattlerhandwerk in Salzburg“, MGSL 80 (1940), 33–84, als eines von vielen. Dorothee Rippmann, „Frauen und Handwerk. Gedanken zum Stadt-Land-Vergleich im Spätmittelalter“, in: Simon-Muscheid, Frauen und Handwerk, 131–157; Gerhard Jaritz, „Der Kontext der Repräsentation oder: Die ‚ambivalente‘ Verbildlichung von Arbeit im Spätmittelalter“, in: Verena Postel (Hg.), Arbeit im Mittelalter, Berlin 2006, 245–226; Karl Brunner und Gerhard Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht: Der Bauer im Mittelalter: Klischee und Wirklichkeit, Wien 1985, 133–136; Siegfried Epperlein, Bäuerliches Leben im Mittelalter: Schriftquellen und Bildzeugnisse, Köln 2003, 139. 82 Nach Siegel und Tomaschek, Taidinge, „Glossar“, 9, 418–441. 80 81

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Besitztransaktionen weit besser als praktizierte Religion: Die Urkundenbücher der EB, die den Zeitraum bis 1343 abdeckten, enthielten ausschließlich Besitz- und Herrschafts-relevante Festlegungen. Die Hufengröße war dem Bedarf einer Familie angemessen, solange nicht mehr als zwei Kinder überlebten. Weitere nicht erbende Nachkommen mussten als Sölhäusler an die Siedlungsränder ziehen oder als Knechte oder Herberger bei anderen arbeiten. Problemsituationen wie Unwetter und starke Winde galten als „gotsgewolt“. Familien in guter Verkehrslage, seien sie geschäftsgewandt oder rücksichtslos, vergrößerten ihr Land und dingten Kinder von Kleinhufen als ledige Knechte und Dirnen. Zunehmende Erbsässigkeit kleiner bäuerlicher Familien wie wachsender Landbesitz reicherer zwang Schwert-führende Ritter zu Pfad- und bessergestellte Grund-Familien zu Strategie-Wechsel. 83 Da sie weiterhin Ausgaben und Einnahmen nicht balancierten, wuchs das Kreditwesen mit Menschen als Pfand und deren Arbeitsprodukten als Zins. Dies war den Verpfändeten bewusst. Ortsnamen von Siedlungen reflektierten oft herrschaftliche Verhältnisse oder die natürliche Umwelt samt wirtschaftlichen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten: grundbesitzende Geistlichkeit in Bischofshofen, Abtenau, Abtsdorf, Tumherespach/ Domherrenbach; pfarrgeistliche als Pfaffing und Pfaffenhofen; weltliche durch das Suffix -burg ebenso wie Fürstenreut, Grafenhof und Grafenlehen oder Vogtenberg. Die Beschaffenheit des Lebensraumes reflektierten -bach, -feld, moos-, -möser und -erz oder vorherrschenden Bewuchs: -aich, -birk, -erl. Persönliche Nachnamen, die nur langsam aufkamen, reflektierten Funktionen, Wirtschaftsleistung und Positionen in der Kulturlandschaft: Huber, Höfer, Burmester, Dorfmaister, Schulte, Meier, Zehntmaier, Schmidt, Müller, Wagner, Rademacher, Schindelhauer. Sonnberger oder Sonnleitner, Schattberger und Bodner, Steinacker und Hinterdorfer gaben Informationen über erzielbare Erträge wieder, Zinser und Zinshofer kennzeichneten Abhängigkeiten. Manche Vornamen reflektierten ebenfalls Ländliches: Georg, griechisch georgios, Bauer, Landarbeiter; Tanya, ungarisch,

einen (abgelegenen) Einzelhof. Auch galt ein kluger, leistungsfähiger Mensch wie ein mit Hufeisen beschlagenes und dadurch leistungsfähigeres Pferd als „beschlagen“. Bauern-Schelter – auch „Bauernfeind“ wurde Nachname – verstanden all dies nicht und sie dehnten ihre Abwertung auch auf den folgenden Produktionsschritt, Zubereitung des Lebens-notwendigen meist durch Haus-Frauen/Hausfrauen, aus. Wer undifferenziert denkt, wirft alles in einen Topf; wer Komplexes auf Einfaches reduziert, kocht es zusammen. Haushalte besaßen nur eine Feuerstelle und einen Kessel, Schreiber nur einen Bezugsrahmen. Für Lohnarbeitende bedeuteten sinkende Nahrungspreise und gleichbleibende Nominallöhne höhere Realeinkommen. Soziale Schichten, die Lebensmittel hinzukauften, profitierten: landarme Familien; handwerkliche in Dorf, Markt und Stadt; bäuerliche, die sich auf industrielle Rohstoffe wie Wolle und Farbstoffe, Sonderkulturen wie Wein oder Viehzucht spezialisierten. Ländliche Familien, meist angewiesen von der Obrigkeit, begannen um Krems und Horn den Saffran- und im Ennstal MalzAnbau, anderswo Färberwaid, im Waldviertel Teichwirtschaft mit Fischzucht. In Oberdeutschland und im Bodenseegebiet stieg die ländliche wie städtische Textilherstellung durch technische Verbesserungen und Investitionen; aus Konjunkturen und Kommerzialisierung folgten Intensivierung von Familienarbeit, reges Marktleben und Entwicklung einer schnelle Gewinne anstrebenden Schicht. 84 Ländliche Menschen sprachen ihr ZusammenLeben ab, lebten jedoch nicht konfliktfrei. Sie errichteten „fridbar“ Haus- und Hofzaun, Feld- und Flurzaun und diese wurden zu Georgi (23. April) gemeinsam beschaut. Die neue ökonomisch-soziale Hierarchisierung engte den Zugriff auf die Gemeinweide ein: (Hörige) Be-Sitzer eines ganzen Hofes durften dreißig Stück Vieh weiden, Halbhöfer, also Hufenbauern, fünfzehn, Viertelacker bearbeitende Bauern nur sieben bis acht Stück. Ein Hof umfasste im Durchschnitt fünfzig bis sechzig Joch Ackerland, etwa dreißig Kühe und einige Ochsen; eine Hufe dreißig Joch und fünfzehn Kühe. Die Nutzung von Wald und Hängen als Fütterungsweide war aus-

Die „Landesrügung des Landgerichtes Glanek“ (Siegel und Tomascheck, Taidinge, 112–141) belegt, in welchem Ausmaß Dienste bis ins 17. Jahrhundert weiter bestanden. 84 Markus Cerman, „Mittelalterliche Grundlagen: Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im Waldviertel bis zum frühen 16. Jahrhundert“, in: Herbert Knittler (Hg.), Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels, Waidhofen/Thaya 2006, 1–76. 83

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Ländliche und landstädtische Menschen

zuhandeln, in Bannwäldern durften Untertanen Bauholz nicht fällen und Astholz nicht sammeln. Wiese und Wald dienten dem „Blumbesuch“ der Bienen für die Honig- und Wachsproduktion, Flussufer der Sandentnahme, Bachufer als Korbgärten dem Rutenschneiden. Besitzteilung – Achtelhöfe oder Baufelder als Hütte, Sechzehntelhof als Leerfeld, zweiunddreißigster Teil als Leerhäusl – ließ Abwanderung steigen. Verbindungen zwischen Orten, Stege, mussten die Leihnehmer von Steggütern unterhalten. Aus Stegen wurden Wege für Zugtiere und bespannte Wagen: Landstraße, Rennweg, Freigasse oder, im Wald, Freischlag. 85 Die Menschen lebten „von alters her“ unter überlappenden Herrschaftsordnungen, deren Ein-

führungsdatum jeweils zu bestimmen ist. Sie zinsten ein komplexes Gemenge von Diensten und Abgaben und mussten diese genau erinnern: Einige zahlten ihre Zehnte an ein nahes, ferneres oder über Hunderte Kilometer entferntes Kloster oder einen Bischof, andere ihre Pacht an einen Priester der lokalen Kirche, wieder andere an eine Kapelle und deren Kaplan. Die Jagd gehörte einem fernen Herrn, Holz im Wald dem Vogt, Fischerei einer nahen Grafenfamilie; Getreide mahlte ein Müller, der das Vor-Recht dafür einem (Kloster-) Herren zu bezahlen hatte. Sie mussten Zinsmaße kennen, denn Hohlmaße variierten, zum Beispiel für schweres und leichtes Getreide. Dörper hatten ebenso hohe Fähigkeiten wie Urbar-Amtleute.

In „Mühldorf“, als Beispiel, lebten die Menschen auf der erzstiftlichen Seite des Inn teils im Vogtgericht, teils in der Stadt, teils im anliegenden Burgfried, auf der bayerischen Seite im Pfleggericht Neumarkt, im Landgericht Krayburg oder im Pfleggericht Neuötting. Zwei weitere Ebenen waren die Zugehörigkeiten zu Grundherrschaften und Archidiakonaten/ Pfarrbezirken, Gerichtsherr und Pfarrherr. Viele Höfe und Hufen bestanden aus unzusammenhängenden Landstücken unterschiedlicher Herren mit jeweils separat auszuhandelnden Nutzungsrechten. Das Land mit den Menschen schenkten die Hz Bayern den FEB, behielten jedoch das Landgerichtsrecht – bis ihnen das Geld ausging und sie es samt Halsgericht in der Herrschaft Mattsee an die FEB mit Recht auf Wiedereinlösen verkauften. 1481 nahmen sie es sich gewaltsam zurück. In der nahen Pflege Raschenberg (Teisendorf) besaßen 24 Grundherren – 14 Geistliche, 2 Stifte, 8 Weltliche – die Urbarleute. Bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Personen, die mehreren Herren und Gerichten unterstanden, musste erforscht werden, welche Gerichtsbarkeit zuständig sei. Eltern vermittelten ihren Kindern von klein auf Arbeitsfähigkeiten. Aber wie vermittelten sie ihnen ihre multiplen Besitzer oder Rechte-Haber?

Trotz des zersplitterten Herrschafts-Überbaus waren Haus-, Dorf- und Stadtgemeinschaften verwobene Systeme, die wirtschaftlich funktionieren mussten: ausreichend Nahrung für Wintermonate, Abgaben entsprechend natürlichen Ressourcen und erworbenen Fähigkeiten, Produktion gemäß regionalen Konsumbedürfnissen und, später, Marktmöglichkeiten. 86 Das Leben der Menschen war mit Krankheiten verbunden und unfallträchtig. Entsprechend erzählten sie Heilungsgeschichten, stifteten Votivbilder und -figuren oder Tafeln mit Heilgebeten. Bilder im Dom in Gurk zum Beispiel zeigten Kranke im Bett, eine Frau mit verkrümmter Hand, ein blindes Kind, Geschwülste am Auge,

einen schwer verletzten Holzfäller, einen Unfall mit einem Pferd, eine bei Feldarbeit von einem Ochsen gestoßene schwangere Frau, von einem Baum gefallene Kinder. Alle hofften, dass lokale Heilige und Maria halfen. Diese komplexe Lebensweise bezeichneten die Oberen als knechtisch, das Bild verewigten Hofdichter und Bauern-Schelter und Umgangssprachler schlossen sich mit dem – auch in dieser Studie verwendeten – Terminus „einfache“ Menschen an. „Der edle, hochgeborene Mann strebt stets nach Ehre, so liebt der Bauer, seinem Wesen nach, was Schande bringt. Tut er das Tadelnswerte, ist ihm wohl“ (13. Jh.). Wanderdichter schrieben gegen

Franz V. Zillner, „Salzburgische Dörfer im Mittelalter“, MGSL 32 (1892), 159–202; und ders., „Der Hausbau im Salzburgischen. Ein geschichtlicher Umriß“, MGSL 33 (1893), 145–163, und MGSL 35 (1895), 80–143; Viktor H. Pöttler, Österreichisches Freilichtmuseum. Kurzführer, Stübing 1998. 86 Siegel und Tomaschek, Taidinge, Anm. S. 341. 85

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Wirtschaft, Alltagsleben und Herrschaft vom Großen Sterben bis zum 16. Jahrhundert

Abb. 10.12 Ländlicher Hof mit Darstellung wichtiger Arbeitsgeräte, Straßburger Vergil, 1502 (Holzschnitt)

bäuerliche Parvenüs, besangen bauernfeindliche Handlungen, machten sich lustig über Bauernburschen, die an höfischem Tanz teilnehmen wollten und nach Mist rochen. 87 Diese Eigenschaften galten ebenso als angeboren-gottgewollt wie die körperliche Schönheit der Mächtigen, die Maler als Ausdruck sittlicher Vollkommenheit darstellten. Dörper, „verkehrte Menschen“ aus Perspektive von oben, bildeten sich eigene Meinungen. 88 Einige wenige Schriftkundige, von hegemonialen Meinungsmachern als schalck bezeichnet, übten Kritik. Ein Bauer namens Unibos/Einochs, so eine ursprünglich im 11. Jahrhundert lateinisch aufgezeichnete Geschichte, durch-schaute die gesellschaftlichen Verhältnisse. Als sein einziger Ochse krepierte, verkaufte er die Haut für ein paar Heller auf dem Markt. Auf dem Rückweg fand er am Wegesrand einen Schatz, empfand statt Freude aber Angst: Vogt, Meier und Priester würden ihn des Diebstahls verdächtigen. Er entschied sich für energisch selbstsicheres Auftreten und erklärte den dreien, die Haut sei auf dem Markt so viel wert gewesen. Offenbar gab es Wunderbilder über Markt-

mechanismen, denn die drei Herren schlachten ihre Herden. Nach enttäuschender Erfahrung auf dem realen Markt entschieden sie, Unibos zu töten. Dieser griff erneut zur List: Er bestrich seine Frau mit Ochsenblut, sie lag wie tot. Er erweckte sie gemäß biblischem Motiv mit Flötenspiel wieder zum Leben. Die drei Herren, offenbar Gläubige, kauften ihm die Flöte ab und wollten – einschließlich des Priesters – die Wunderkraft an ihren eigenen Frauen ausprobieren und brachten diese um. Wieder drohte Unibos der Tod – er verkaufte den drei Dignitäten eine Goldstücke äpfelnde Stute. Das weit verbreitete Motiv des Dukatenesels und des Tischlein-deck-dich mag von dem Anblick der Tische und Keller hochgestellter Herren abgeleitet sein. Die drei entschieden endgültig, Einochs umzubringen; er erbat sich als Gnade, in einem Fass ins Meer geworfen zu werden. Auf dem Weg dorthin lud er sie auf seine Kosten in ein Wirtshaus ein. Sie betranken sich, er überzeugte einen Schweinehirten ins Fass zu kriechen. Der Hirt wurde ersäuft. Unibos zog drei Tage später mit dessen Herde in sein Dorf und erzählte, dass es auf dem Grund des Mee-

In manchen Abgabenlisten waren Fuhren Mist als Zins verankert. Barbara Könneker, „Der ‚verkehrte‘ Mensch. Narren, dörper, Schwankhelden in mittelalterlichen Texten“, in: Neumeyer, Menschenbilder, 147–172, Zitat 159; Arno Borst, „Alpine Mentalität und europäischer Horizont im Mittelalter“, Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees 92 (1974), 1–46, hier 36.

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Abb. 10.13 Gemeinsam abgesprochene Arbeit, Straßburger Vergil, 1502 (Holzschnitt von Johannes Grüninger für Sebastian Brant)

res viele solcher Herden gäbe. Auf ihren gierigen Wunsch hin führte er die drei zu einer Klippe, sie sprangen ins Wasser. Kannte der Erzähler das älteste der Evangelien? Dort rannte eine von Dämonen besessene Schweineherde ein steiles Ufer hinab in einen See (Markus 5.13). In der realen Welt war es nicht so einfach, sich der Unterdrücker oder Dämonen zu entledigen. 89 Was „verkehrte Welt“ ist, hing (und hängt) von der Perspektive ab. Mittelalterlich-wirtschaftlich war „Gier“ im Rahmen von Macht, für die die drei Dignitäten standen, ein zentrales Thema: Aneignung ohne Leistung. Da wirtschafts-dynamische Vorteilnahme und Gier – der „Amtsträger“ oder anderer – sich nahestanden, entwickelten Stadträte die dargestellten komplexen Regelungen für Land- und Markt-Wirtschaft. Laien verstanden ehr-lich oder ehr-bar als Handeln, das Nachbarn nicht beschwerte. Der Dichter Philipp Frankfurter sammelte um 1450 in seiner gereimten Geschichte über den

„Pfarrer vom Kalenberg“ westlich Wiens widerständige „Schwänke“. Herren übertrieben, Unfreie überlisteten. Fronende Mäher, zum Beispiel, tricksten ihren sie überwachenden, aber am Feldrain schlummernden Pfarrer und Besitzer aus. 90 Nach sonntäglichem Kirchbesuch tauschten sich die Gläubigen – oder, vorsichtiger: die Anwesenden – vor der Kirche auf dem Plauder- oder Schwätzmarkt oder im Dorfkrug aus. Oft schenkten Pfarrer selbst Wein aus, „da habent sew ein pesseren gewinn“, spottete ein Verseschmied. Pfarrhöfe drohten Dorfkrüge zu werden, manche aufsichtführende Kleriker mahnten und 1445 verbot der amtierende Herrscher der Steiermark Pfarrern den Weinausschank. Das Debattieren bei Wein oder Bier und feuchtfröhliche convivia bei Ablieferung von Zehnten und Zinsen sahen die Mächtigen mit Sorgen. 91 Kunsthandwerker begannen, sich sozialkritisch und respektvoll mit dem Leben ländlicher Familien auseinanderzusetzen und sozialen Konflikten Aus-

Karl Langosch (Hg.), Waltharius, Ruodlieb, Märchenepen: Lateinische Epik des Mittelalters mit deutschen Versen, Darmstadt 31967, 251–305, zusammengefasst bei Könneker, „Der ‚verkehrte‘ Mensch“, 163–164. 90 Epperlein, Bäuerliches Leben, 85–88. 91 Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 112. 89

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Wirtschaft, Alltagsleben und Herrschaft vom Großen Sterben bis zum 16. Jahrhundert

Abb. 10.14 Schmale Nahrung Petrarca, Von der Artzney bayder Glück: des guten und widerwärtigen (Augsburg, 1532): Der einfache Mann sitzt bei Brei und Brot, Rüben und Zwiebeln liegen auf dem Tisch; der Hof ist mit Flechtzaun umgeben und Reisigbündel lehnen an der Wand. Die Hütte mit den Kindern und der Mutter, die offenbar krank vor der Wiege liegt, besteht nur aus Flechtwänden, die Kleidung ist abgerissen oder fehlt.

Abb. 10.15 Armut

druck in pfennwerten Holzschnitten zu geben. Holzschneider gab es viele und Drucker investierten dank des reißenden Absatzes der Flugblätter in zusätzliche Pressen. In einer süddeutschen Stadt illustrierte ein namentlich unbekannter Meister in verständlichen Bildcodes mit 254 Zeichnungen die 92

Schilderung menschlicher Erfahrungen des Humanisten Francesco Petrarca (ital. 1354–1367, dt. 1532). 92 In Frankreich stellte der für Wohlhabende arbeitende Miniator und Illuminator Jean Bourdichon (~1457–~1520) neben Adel und Patriziat in Stundenbüchern auch Arbeit und Armut dar: Gras-

Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 44, 91–107; Walther Scheidig, Die Holzschnitte des Petrarca-Meisters, Berlin 1955.

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maht, Getreide- und Weinernte, Sähen des Wintergetreides, Schweinemast und -schlachten. Für die Adressaten ästhetisierte er das Alltagsgeschehen allerdings. In der Kirchenprovinz belegte eine Aufzeichnung von 1405, erneuert 1441 und 1515, das Verhältnis der „gnädigen Frauen der Äbtissin auf dem Nonnberg“ zu den „Gotteshaus Hintersassen und Holden und Güter Stift“ und deren extrem eingeengtes Leben. Die fünfzehn Artikel von „altem Herkommen und ohne Weil und Zeit“ hielten Pflichten fest und alles, was verboten war. Neben den üblichen Abgaben erhielt die Äbtissin als „gefürstete“ Frau zwei Pfennige zusätzlich, ihre Amtleute erhielten Gebühren. Wer ihnen und ihren Anwälten nicht gehorsam war, zahlte Strafe; wer sich an ein anderes Gericht wandte, zahlte Strafe; wer Dienste schmälerte, verleugnete oder nicht zinste, zahlte Strafe; wer bei Säumigkeit nicht innerhalb von 14 Tagen nach Mahnung zahlte oder diente, zahlte Strafe; wer einen verbotenen Baum fällte, zahlte Strafe; wer dem „gotshauss aigen ist“ und ohne Wissen und Willen der Herrschaft heiratete, zahlte Strafe; wer Grund und Boden „meiner frawen gnaden“ auswechselte, verpachtete, versetzte oder verkaufte, zahlte Strafe und hatte Schaden und Mühe wieder gutzumachen oder verfiel mit Leib und Gut. Wer behauptete, nach anderer „Gerechtigkeit“ als jährlich kündbarem Freistift Erb- oder Leibgeding zu besitzen, hatte dies mit Brief und Urkunde zu beweisen. Soweit die Artikel 1 bis 14; Artikel 15 verkündete, wo sich der Stall für gepfändetes Vieh befand. Einziger Fortschritt war, dass generell Kinder bei Ausheiraten nicht mehr getrennten Herren

– im Fall des Erentrudis-Klosters Frauen – zugeteilt wurden. Das „Stiftsrecht des Gotteshauses“ war Dekret. 93 In der Zeit der Differenzierung ländlicher Schichten und aufsteigender Großbauern-Familien verboten die Oberen durch Kleider-Ordnungen alles außer Arbeitskleidung. Ländliche Familien trugen Kittel und Gugel, das heißt eine Kopfbekleidung, und, seit Mitte des 15. Jahrhunderts, einen kurzen Überwurf mit Knopfloch und Kapuze. An Fest-, Kirchen- und Sonntagen begannen sie, mit billigem Blau gefärbte Kleidung zu tragen und diese in kräftigen Farben zu besticken. Wer sie bezahlen konnte, trug Schuhe oder Stiefel aus Rindsleder oder Filz. Die Strohhüte, die ländliche Frauen flochten, verwendeten Maler der folgenden Jahrhunderte ikonografisch nicht als Zeichen für Fingerfertigkeit, sondern für friedliches Landleben. Erst am Wechsel zum 16. Jahrhundert gestatteten Ordnungen Hofbesitzerfamilien Festtagskleidung mit seidenen Teilen wie Borten und ähnlichem. Der Konnex BauerSeide wäre vorher unmöglich gewesen. 94 Zur Reichssteuer 1497 trugen die dörper die größte Summe bei, „obwohl die überwiegende Mehrzahl der Familienvorstände, wie ihre Frauen, Kinder und Dienstleute nur zu [der niedrigsten Abgabe von] 10 Pfennigen eingeschätzt“ wurden. Laut Steuerlisten bezahlte in Bruck (Pongau) die Witwe Anna Steuer für drei Pferde- und vier Hausknechte sowie einen Ochsenknecht, zwei Mägde und eine Sennerin; doch derartige Großbetriebe gab es in den Gebirgsgauen kaum, im Flachgau gar nicht. In manchen Orten zahlten „Arme“ nichts, in Salzburg zahlte der wohlhabende Urbarrichter Alexius Keutzl nichts. 95

10.6 Wirtschaften in Wald und Gebirge Die Menschen verringerten auch nach Ende der zweiten Rodungsphase angesichts ihres Weideund Holzbedarfs die Wälder und sie änderten den Blick auf „Wald“: Landleute und Reisende fürchteten weiterhin Schadtiere wie Wölfe, Luchse und Bären. Zisterzienser, die Land appropriierten, ersetzten Waldschelte durch Waldlob; Reimschmiede er-

zählten von Drachen, die nur edle Ritter besiegen konnten; Dörfler mussten Erlaubnis einholen, um Bären zu jagen. Unverändert war Holz Lebens-Mittel für den Bau von Unterkunft und Stall, für die Einrichtung von Stuben und Kirchen, für Küchengerät und -borte, als Brennholz für Wärme und als Kienspan

Abgedruckt in Siegel und Tomaschek, Taidinge, 110–112. Harry Kühnel (Hg.), Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung. Vom Alten Orient bis zum ausgehenden Mittelalter, Stuttgart 1992, darin Kühnel, „Kleidung und Gesellschaft im Mittelalter“, xxvi–lxix; Harry Kühnel u. a. (Hg.), Alltag im Spätmittelalter, Graz 1984. 95 Hans Widmann, „Die Einhebung der ersten Reichssteuer in Salzburg im Jahre 1497“, MGSL 50 (1910), 91–106, hier 103. 93

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Abb. 10.16 Der Büttner, Jost Amman, Eygentliche Beschreibung aller Stände auff Erden, mit Versen von Hans Sachs (Nürnberg 1568)

für Licht. Die Menschen höhlten Stämme für Viehtränken und Futterkästen aus, schlugen Stangenholz für Zäune, sägten Bretter. Eichen und Buchen dienten der Schweinemast, niederes Holz als Ziegenweide und trockenes Laub als Spreu. Sie flochten aus bieg- und haltbaren Rinden Taschen zum Beerensammeln, Körbe und Kästen, schnitten Holz für Spankästen und Ruten für Körbe und für Geflechte, die, mit Lehm bestrichen, zu Wänden zwischen Balken wurden. Holz war Rohstoff für Drechsler, Schüsseldreher, Löffel- und Gabelmacher, Hersteller von Arbeitsgeräten, Wagenbauer und Rädermacher, Scheffler für Schaffe und Bottiche sowie Binder, die diese mit aufgesplitteten Weidenruten „banden“. Doch mussten sich nicht erbende Kinder, land96

Klein, „Tuchweberei“, 132–134.

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lose Handwerker und Holzarbeiter an Dorfrändern hangaufwärts ansiedeln und ihre milchgebende Geiß verbiss Jungwald, nagte an Baumrinden und verursachte Trittschäden. Amtleute kontrollierten: weder Geißen noch Vieh an Orten, wo Haselholz und Weiden für Küfel und Fässer wuchsen, wo Fischer Gerten für Reusen schneiden und Bauern Laub für Ställe rechen durften, wo Baumharz gewonnen wurde. Von oben, von den Almweiden her, verringerten wohlhabende Schwaigen-Familien den Wald. Mit der Bevölkerungszunahme nach 1420 stieg der Bedarf an Käsen, Fleisch und Lodentuchen. Angesichts des rauhen Bergklimas ergab die Schafzucht, die auf den Hochalmen bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts überwog, nur grobe Wolle und Loden. Auch entfernte Betriebe waren dem Hof des EB integriert; im Amt im Tal der Ziller, als Beispiel, hatten die rechtsufrigen Hausgemeinschaften den Amtleuten siebzig Ellen Loden als Nebendienst zu leisten; die linksufrigen gehörten den Tiroler Grafen (um 1180). Die Menschen im Gasteinertal hatten der Familie Peilstein 20.000 Stück Käse und 300 Ellen Lodentuch zu liefern, nach Übergang an die Hz Bayern (1218) nur noch 5500 Stück Käse und 160 bayerische Ellen (= 133 lfd. m) Loden. Nach 1350 dienten Familien im Amt Mittersill (Salzachtal) Loden und exportierten es zu den Umschlagplätzen Gemona/Glemaun und Tolmezzo/ Schönfeld am friulanischen Ende der Passrouten, denn die dortigen Tuchmacher*innen hatten sich auf feine Gewebe spezialisiert. Der Investitionsbedarf wuchs mit der technischen Entwicklung: Die erste urkundlich genannte Walkmühle entstand in der Ramsau am Dachstein und war den Admonter Mönchen dienstpflichtig (1434). 96 In ihren umfassenden und von der Intention her allmächtigen Regelwerken legten Ministerialen – modern: Bürokraten – fest, dass Niederalmen im Früh- und Spätsommer und Hochalmen im Sommer nur mit einer festgelegten Anzahl von Tieren „bestoßen“ werden durften. Um 1500 registrierten Schreiber jedes Tier von Geiß bis Ross oder Arbeitspferd. Zwar durften die Weiden nicht erweitert werden, doch „es vermehrten sich“ – Handelnde ungenannt – deren Anzahl und Fläche. Das Leben oberhalb der Waldgrenze war oft dürftig. Senner*innen sichelten jedes Grasbüschel und trugen

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es im Grastuch zur Hütte; Amtleute missgönnten ihnen den geringen Holzbedarf für Unterstände und Hütten. 97 Herren mit Waldregal und Jagdleidenschaft belegten ausgedehnte Gebiete mit Bann, das heißt, sie verbannten Menschen, und manche ließen sie zusätzlich große Jagdgehege anlegen – Massenproduktion von Wild zum Abschuss. Den Fleischkonsum der Unfreien beeinträchtigte dies nicht, denn sie hatten für die Jagd keine Zeit, doch wurde ihnen die übliche Nahrung knapper: Sie durften Wild „in seiner Wohnung“ nicht stören, also nicht von ihren Feldern vertreiben und Schweine und Ziegen nicht in die Wälder treiben. Sie mussten zusehen, wie die „wilde Jagd“ sagenhafter Kräfte und real lebender Erzbischöfe, Äbte und anderer Adliger in parforceJagd über ihre Weiden und Felder hetzte und massive Trittschäden verursachte. Sie hatten untereinander aus gutem Grund das Überfahren oder Übergehen der Felder verboten. Diese Männlichkeitsrituale der Kirchen- und Weltherren sind wenig untersucht; Bildquellen fehlen und ikonografisch war Christus Hirte, nicht Jäger. Ein elsässischer Autor klagte um 1500 über Edelmann, Jäger und Falkner: „Gunst, Gaben und Gewalt beenden das Recht. Ist es nicht ein Elend zu sagen, dass ein wildes Tier mehr Freiheit haben soll als ein Mensch? Geht ein Tier in den Weingarten oder Baumgarten eines armen Mannes und verursacht ihm großen Schaden, so darf der arme Mann es dennoch nicht totschlagen. Geht aber ein fremder Mensch in seinen Garten und er schlägt ihn tot, so hat er recht gehandelt.“ Dekret-Recht würde im 19. Jahrhundert Klassenjustiz genannt werden. 98 Junge Männer begannen, selbstbestimmt zu jagen – laut Machtdiskurs zu wildern. Oder verringerten sie den Wildbestand zum Nutzen bäuerlicher Felder? Weit später lebende städtische Schreiber romantisierten sie zu Maskulinität lebenden

Burschen, Zeitgenoss*innen sahen anderes. Junge Männer, die „fliegend Wildbret“, das heißt Vögel, schossen, wurden – so ein Mandat 1523 – zur Landplage. Das Schießen von Klausraben 99 mit Büchsen mitten in Städten bedeute für „Geystlich, Weltlich, Hofgesind, Bürger oder Innwonnen“ große Gefahr. Von Dörflern eingesetzte Bärenjäger nutzten ihre Macht und Wilderer belästigten Senner und Sennerinnen; andere machten mit Büchsen, Stächel, Armbrust „den fridlichen frumen landtsassen und arbeittern groß enthsetzen und abscheuchen“. Die Herren dramatisierten (übertrieben): Bauernknechte wollten, statt zu arbeiten, Wildbret schießen, Großbauern es verspeisen, in manchen Regionen gäbe es kaum noch Wild. Die Großen bauten einen weiteren Kontrollapparat auf: Gerber hatten der Obrigkeit anzuzeigen, von wem sie Hirsch-, Wild-, oder Gamshäute kauften. Die Bestrafung von Wilderern schloss im 16. Jahrhundert Gefängnis, Tortur, Schanz- und Bauarbeiten ein, Pranger und Geldstrafen, Landesverweisung auch von Angesessenen mit Weib und Kind zu Ungarn oder Türken, Zwangskriegsdienst. Kinder, die Vogelnester ausgenommen hatten, wurden am Markttag im Narrhausl eingesperrt und zur Schau gestellt. Jagdprivilegien vergaben die Herren gegen Lieferung von Fellen: Füchse, Hasen, weiße Hasen, Edelmarder, Steinmarder, Eichhorn oder Bälge von Haslhuhn, Auerhahn, Schneehuhn. Auch ließen sie sich Sperber für die Vogeljagd fangen. Ihre Amtleute hatten viel zu registrieren. 100 Stärker bedrohte die städtische und (salz-) industrielle Nutzung die Ressource Wald. Den Umwald von Nürnberg holzten Unternehmer bereits im 12./13. Jahrhundert großflächig ab (s. Kap. 7.7), ebenso Wälder im Salzach- und Inntal sowie im Salzkammergut Salzsieder. Regionale Herrscher hatten sich neben den königlichen Waldregalen die Bergregale angeeignet und Erzgewerken verstärkten den Raubbau. Für die EB hatten Schreiber – also

Engelbert Koller, Forstgeschichte des Salzkammergutes, Wien 1970; und ders., Forstgeschichte des Landes Salzburg, Salzburg 1975; Sonja Pallauf und Peter Putzer (Hg.), Die Waldordnungen des Erzstifts Salzburg, Wien 2001; Peter Putzer, „‚Ohne Holz kein Salz‘. Einführende Bemerkungen zur Edition der Waldordnungen des Erzstiftes Salzburg“, in: Louis C. Morsak (Hg.), Festgabe für Kurt Ebert zum 60. Geburtstag, Innsbruck 2002, 237–254. 98 Epperlein, Bäuerliches Leben, Zitat 142. 99 Eine gänsegroße Ibis-Art, in Mitteleuropa durch übermäßige Bejagung im 17. Jahrhundert ausgerottet. 100 Rupert Im-Hof, „Beiträge zur Geschichte des salzburgischen Jagdwesens aus archivalischen Quellen gesammelt“, MGSL 27 (1887), 111–219, 409–517; Hans Freudlsperger, „Vogelfang und Vogelherde in Salzburg“, MGSL 79 (1939), 9–26. FEB und Kardinal Guidobald Thun (h. 1654–1668) ließ ertappte Wilderer als Galeerensklaven nach Venedig verkaufen. Ein Nachfolger hob das Dekret 1705 wieder auf. Norbert Schindler, Wilderei im Zeitalter der Französischen Revolution, München 2001, 11–39. 97

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Mönche – am Beginn des 11. Jahrhunderts ein ihnen zustehendes allumfassendes Bergregal in echte und gefälschte Dokumente interpoliert. 101 Hauswirtschaften in den Tauern wuschen, wie ihre Vorfahren in keltischen und römischen Zeiten, Gold aus Flusssand und „Güter“ im Fritztal entrichteten seit dem späten 11. Jahrhundert Goldzinse. Die mehr als hundert Goldwäschen in den Ämtern Werfen und St. Veit lieferten zusammen weniger als zwei Kilogramm im Jahr (13./14. Jh.). Silber gewannen Erzleute zuerst bei Friesach und die „Rechte“ an ihren Abgaben besaßen Kleriker in Gurk und die Mönche des Klosters Admont neben anderen. 102 Edelmetallabbau begann im Lungau im 13. Jahrhundert und 1297 kauften die EB das Gasteinertal samt Bewohner*innen von den bayerischen Herzögen, die es ihrerseits samt Menschen erst zwei Generationen vorher gekauft hatten. Auch in Leogang bei Saalfelden wurden Silber und andere Mineralien abgebaut. Wiederum fiel den EB, gemäß intentionaler Sprachgestaltung, etwas zu: Von der „Bergsegen“ genannten Ausbeute erhielten sie „Gefälle“. 103 Der Holzbedarf der Verhüttung führte zu dramatischen Waldzerstörungen und Herrscher reagierten bereits 1237 (Salzburg) und 1339 (Steiermark) mit „Ordnungen“. Sie beendeten Gewohnheitsrechte gemeinschaftlich-extensiver Waldnutzung und verbrieften Bergwerkern Vor-Rechte: Diese durften bei Holz- und Erztransport Wiesen und Äcker überfahren, für ihre Arbeitspferde mussten die ländlichen Familien Weiden reservieren. Das umgangssprachlich wüste „Holzen“ erforderte Fachkenntnis und Körperbeherrschung von Tausenden Holzknechten: Bei Schlägerung mussten Bäume in die richtige Richtung fallen, durften sich nicht im Geäst anderer verfangen und nicht so hart aufschlagen, dass Stämme brachen. Zogen sich Knechte so schwere Verletzungen zu, dass sie arbeitsunfähig wurden, mussten ihre Frauen und Kinder sie ernähren. Holzarbeiter differenzierten edles und unedles Holz und unterschieden „Stangen“ mit bis zu 49 Ringen von „Bäumen“ mit 50– 100 oder mehr als 100 Ringen. Nutzer kannten die Brennwerte und -prozesse: Salzwerker benötigten

zum Sieden großflammig brennendes Holz, das rasch Hitze gab (Fichte, Tanne); Buchenholz brannte kleinflammig, erreichte aber besonders hohe Temperaturen. Da letzteres schwer war und sich wegen hoher Sinkverluste schlecht Triften ließ, durften Landleute Buchen schlägern. Köhler sollten Windbruch-, Fall-, Dürr- und Schneedruckholz verwenden, doch reichte dies bei weitem nicht. Tischler unterschieden Hölzer nach Härte und Maserung. Lärchen eigneten sich besonders für Entwässerungs- und Trinkwasserrohre und der Bedarf an ihnen stieg, als Sole zu Orten geleitet werden musste, an denen noch Siedeholz vorhanden war. Allen Regelungen zum Trotz ließen Finanzkräftige Bestände unabhängig vom Schaden für die „Untertanenbehülzung“ schlagen und lieferten Salzsiedereien je Pfanne etwa 400 Raummeter jährlich. Nach „Abtrieb“ genanntem Kahlschlag mussten die Holzknechte die „Werkstatt“ sauber räumen und erst nach zwei Generationen konnten erneut Stangen, aber noch nicht Bäume geschlägert werden. Nadelhölzer wuchsen schneller als Laubhölzer, Buchen in hügeligen Gebieten schlechter als Eichen. Die EB-Forstverwaltung förderte der Profite halber „Schwarzwald“ aus Tanne und Fichte. Nach oberflächlich sichtbaren oder vermuteten Erzgängen suchten Söhne von Bauernstellen in Hoch- und in felsigen Tälern. Berggänger sammelten in engen Gängen Bergkristall, das Christen wie Muslimen als reinster, wertvollster aller Steine für Objekte mit religiöser Bedeutung galt. Gebirgsbewohner*innen gaben ihr Wissen oder ihre Erzählungen um Fundstätten nur lokal weiter. Anders als die Venediger Prospektoren (s. Kap. 8.9) nutzten die (Erz-) Bischöfe und Äbte meist das Wissen lokal Ortskundiger. Fanden diese oder Zugewanderte „gottberat“ eine abbauwürdige Stelle, mussten sie ihren Anspruch beim Bergrichter eintragen lassen und den „Feldbau“ (4 ½ Klafter = 44 m2) in Anwesenheit benachbarter Rechteinhaber vermessen und kennzeichnen lassen. Die geringe Fläche erlaubte auch Kleingewerken Lehennahme, Genossenschaften durften maximal drei Feldbaue betreiben. Sie errichteten auf dem Feld eine „Bergstube“, hatten mit dem Abbau innerhalb von vierzehn

Die Darstellung des Bergwesens beruht auf Fritz Gruber und Karl-Heinz Ludwig, Salzburger Bergbaugeschichte, Salzburg 1982, 9–18; Gerhard Feitzinger, Wilhelm Günther und Angelika Brunner, Bergbau- und Hüttenaltstandorte im Bundesland Salzburg, Salzburg 1998. 102 Die Bergbaueinnahmen des Klosters spiegelten sich im Namen „Isenrich“ eines Abtes im 12. Jahrhundert. 103 Im Schwazer Bergbuch (1556), f. 1, reichte Gottvater mit Goldkrone, vermittelt durch einen Engel, einem Bergmann einen Erzbrocken. 101

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Tagen zu beginnen und innerhalb von drei Tagen ein Mundloch zu öffnen. Unterbrachen sie die Arbeit für mehr als vier (in anderen Fällen sechs) Wochen, konnte das Feld neu verliehen werden. Später kontrollierten Beschauer die Entwässerung und Luftzirkulation, regelten Brandsetzung (seit Mitte 15. Jh.) zur Hitzelockerung von Gestein und legten „Erbstollen“ als unterste Entwässerungsebene fest. Ein Bruch der gemeinschaftlichen Ordnung wurde mit „großem Wandel“, Zahlung von 5 Pfund und 62 Pfennigen, bestraft. Kapitalistische Genossenschaften entstanden früh und in der Region um Trient/Trento legten die Bischöfe schon 1208 fest, dass die Silbergruben den werci und silbarii – differenziert in Werkleute, selbstarbeitende Teilhaber und bezugsberechtigte Teilhaber*innen – gemeinsam gehörten. Als im 13. Jahrhundert Markgraf und Zisterzienser des Klosters Rein im Ennstal eine Saline öffneten, arbeiteten Eigenleute und herangezogene Lohnarbeiter*innen als opifices und focarii (Salzleute und Siedeknechte). Die Salzleute sicherten ihre prekäre Position durch das Modell erblicher Berechtigung zum Salzsieden. Von den produzierten Edel-, Buntund Eisenerzen und anderen Mineralien dienten Gold und Silber der Liturgie und dem Luxus sowie vermünzt als Geld, Eisen als Werkzeug- und Baumetall, Quecksilber und das Metalloid Arsen als hochgiftige Hilfsmittel für Verhüttungsprozesse. Die Arbeiter waren Knechte oder Knaben, die romantisierende und Berufsstolz konnotierende Wandlung von Knabe zu „Knappe“ nahmen Erzähler vor. Bäuerliche Erzleute wechselten von der Arbeit unter „freiem Himmel“ zu Untertagearbeit, BerufsBergleute wanderten, oft mit Familien, aus Böhmen, Schlesien und Sachsen zu. Sie lebten als Inwohner bei Bauernfamilien oder in selbstgebauten Hütten auf der Gmain. Ersteres bedeutete enge Kontakte, letzteres zahlreiche Konflikte. Kamen Hunderte oder Tausende in wenigen Jahren, veränderte dies – oft zum Schaden Ansässiger – die lokale Sozialdemografie tiefgreifend. BergbauernFamilien produzierten Alltägliches wie Käse und Getreide, Erzleute Besonderes wie glänzendes Gold und Silber. Nach ländlichem Weltbild straften Gott und Natur „übermütige Knappen“. Übermut, Gegenstand vieler Erzählungen, hätte seitens der Erz104

leute Mittel erfordert, doch zahlten die FEB und Gewerken nur geringe Löhne, um durch niedrige Verkaufspreise den Markt zu dominieren. Frauenarbeit bei der Erzzerkleinerung, in Gartenwirtschaft und Kleinviehhaltung war Teil ihrer Kalkulation. Sie alle mussten aus den Tälern versorgt werden, da die Almwirtschaft abnahm. Lehensnehmer durften mit Anteilen und Rechten privatwirtschaftlich-unternehmerisch handeln und Erfolgreichere kauften Feldbaue von weniger Erfolgreichen. Kleingewerken taten sich zusammen, um Gezähe (Werkzeug), Geleuchte und Unschlitt zu kaufen. Gedingearbeiter, die nach Arbeitseinheiten wie Stollenmeter bezahlt wurden, und Halbgewerken, die in einem Lehensverhältnis zum Grubenbesitzer standen, erhielten Arbeitsmaterial gestellt. Erzleute arbeiteten in 8-Stunden-Schichten mit wochenweise ausgezahltem Taglohn. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts wurden Arbeitszeit und Lohn auf 5 ½ Tage je Woche festgelegt, strittig war die Bezahlung der vielen Feiertage. Gewerken, die Arbeiter „gewannen“, mussten ihnen die versprochene Arbeit geben; benötigten sie sie nicht mehr, konnten sie ihnen ohne Frist „urlaub“ geben, hatten aber vorher den Lohn auszuzahlen. 104 Während der Schlechtwetterperiode sank die Schneegrenze und nach der Pest fehlten Arbeitskräfte. Hinzu kam, dass die voranschreitende Entwaldung längere „Holzwege“ bedeutete und dass für Stollen oberhalb der Waldgrenze Holz bergauf transportiert werden musste. Im Salzabbau arbeiteten zwei Drittel der Männer im Wald, nur ein Drittel im Berg und beim Sud. Im Erzabbau vereinfachten Unternehmer den Transport ins Tal durch das lebensgefährliche Sackzugverfahren: Arbeiter führten im Winter Erzsäcke wie Schlitten über vereiste Steilhänge ohne Möglichkeit zum Bremsen. Den Erzleuten verboten die FEB das unkontrollierte Ausschmelzen von Edelmetallen, den privaten Besitz von Waagen und „Einigungen“, modern: Gewerkschaften. Schmelz- und Salinenarbeiter erlebten die Widersprüche zwischen Glauben und Praxis nicht nur durch die Abgaben an Ehrentagen Heiliger und den Streit um Bezahlung an Feiertagen, sondern auch dadurch, dass sie selbst an Sonnund Heiligentagen die Schmelz-Feuerungsprozesse nicht unterbrechen durften. So wie Kleriker Scriptorien und Stickerei zu-

Rudolf Palme, „Frühe soziale Regelungen für die mittelalterlichen Bergknappen in Österreich“, in: Morsak, Festgabe für Kurt Ebert, 181–195.

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nehmend aus Klöstern ausgelagert hatten und an Weltliche vergaben, verpachteten die FEB ihre Regale an Privatunternehmer. Der zehnte Teil des abgebauten Erzes gehörte ihnen als „Fron“, das übrige kauften sie zu niedrigem Festpreis, verkauften es zum Marktpreis und strichen die Differenz als „Wechsel“ ein. Die Marktpreisbildung bezog Goldimport aus den Karpaten und dem subsaharen Afrika sowie Silber aus Böhmen ein. Regional stritten Salzburger EB mit Görzer Grafen, Tirol-Habsburg-Herzögen und anderen um Besitz und Profite. Sie hatten Stollenbau für Silber und Gold im Gasteiner- und Rauristal angeordnet und forderten während der Klimaverschlechterung ungerührt höhere Produktion. Die EB-Kammer richtete in Salzburgs Getreidegasse eine Erzhandelsstätte ein und um 1400 war der Erzhandel – nach den weit höheren Zinsen der ländlichen Hörigen – die zweitwichtigste Finanzquelle. Das Monopol auf alles in Gastein für die Judenburger Münze geförderte Gold erwarben fünf Bürger gegen 1500 Gulden. Ihren „erwiesenen Wucher“ verurteilten Synodale 1385 und Hans der Göldlein und Konrad Decker aus einem Judenburg-Strettweger Familienclan flohen. Die Prägung des Goldguldens endete 1386. Die Pächter-Unternehmer, meist im VenedigHandel reich geworden, waren nicht immer investitionsbereit und die Finanzbeteiligung der Wiener Erz- und bayerischen Klein-Herzöge verbesserte Technik und Rentabilität nicht. Große Unternehmer drängten Kleingewerken in Abhängigkeit, nutzten sub-contracting für Teilaufgaben und ließen sich die – theoretisch alle schützenden – Bergämter übertragen. Viele betrieben Raubbau und verschuldete FEB verpachteten ihre „Gefälle“ an Radstädter, Leobener und Stadt-Salzburger Bürger und an Pfarrer. 105 Als nach 1400 der Abbau von Gold-, Silberund anderen Erzen zunahm, dehnten Gewerken und Arbeiter die Niederbringung von Gruben in

hochalpine Fundstätten westlich und südlich von Gastein und Rauris sowie von Schellgaden bis Ramingstein und Schladming (altslow. slaebnich, Schluchtberg) aus. Sie bauten Blei für die Edelmetallscheidung und silberhältigen Bleiglanz ab. In Schladming verfasste der Stadt-, Markt- und Bergrichter Leonhard Ecklzain, Fachmann der Habsburger Herzogin Elisabeth, 1408 den für die nordalpine Montanindustrie richtungweisenden Bergbrief. 106 Eine Ramingsteiner Bergordnung folgte 1459. Sie regelten Funde, Hofstätten und Holzbedarf, Aufgaben von Amtleuten wie Frönern, Wechslern und Grubenmeistern. Sie legten Rechte und Pflichten der Erzleute fest und die Pfennwerte ihrer Abgaben. Diese berufs- statt orts-spezifischen „Freyungen“ galten für „arm und reich“ und sollten Zuwanderer mit minderem Rechtsstatus in der Region halten. Sie entzogen Investoren und Arbeiter der Kompetenz der Landrichter und unterstellten sie fachkundigen Bergrichtern, die allerdings oft aus Investoren- oder Amtmanns-Familien stammten. 107 Als angesichts zurückgehender Ausbeute die Fugger-Bankiers als Inhaber der Tiroler Gefälle ihr Interesse verloren und die Menschen im Inntal die Schließung der Gruben und Arbeitslosigkeit befürchteten sowie, daraus folgend, Einkommenslosigkeit für Geschäfte und Händler*innen, hofften die Unternehmer mit dem Schwazer Bergbuch als Werbeschrift 1556 Kaiser Ferdinand I. zu finanziellem Engagement zu motivieren. Mehr als einhundert farbige Illustrationen stellten die Beteiligten, beginnend mit den höchsten Chargen, dar. Bergrichter und Landrichter inspizierten hoch zu Ross die Gruben und trugen dabei das feierliche, teure Schwarz der spanischen Hoftracht mit steifer Halskrause aus gestärkten Rüschen – spanische Hofschneider wanderten angesichts des verordneten Bedarfs Habsburg- und europaweit. Der Fronbote, Büttel des Gerichtes, erschien bunt gekleidet und

Mitterauer, „Wirtschaft und Handel“, 419–436; Georg Mutschlechner, „Über den Bergbau im Lungau. Eine geographisch-historische und geologisch-montanistische Einführung“, MGSL 107 (1967), 129–168, hier 134. Unparteyische Abhandlung von dem Staate des Erzstifts Salzburg („Bergwerksfreyung“), verfasst 1765, gedruckt 1770, http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10315908–9 (29. August 2020). 106 Ordnungen in Iglau (Jihlava) und in Goslar datieren bereits von um 1300 und 1360, eine königlich-ungarische von 1327. Christoph Bartels und Lothar Klappauf, „Das Mittelalter. Der Aufschwung des Bergbaus unter den karolingischen und ottonischen Herrschern, die mittelalterliche Blüte und der Abschwung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts“, in: Bartels und Rainer Slotta (Hg.), Der alteuropäische Bergbau. Von den Anfängen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Münster 2012, 111–248, hier 183–191; Hans-Joachim Kraschewski, „Das Spätmittelalter“, ebd., 249–316. 107 Fritz Steinegger, „Der Schladminger Bergbrief vom 16. Juli 1408, eine europäische Wirtschaftsordnung“, in: Morsak, Festgabe für Kurt Ebert, 270– 305, Textedition 287–305; Walter Brunner, „Die Ramingsteiner Bergordnung von 1459“, MGSL 116 (1975), 255–276, Textedition 267–276; Gruber und Ludwig, Bergbaugeschichte, 19–30. 105

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Abb. 10.17 a) Arbeit im Tagebau und b) im Untertagebau mit Durchschlag zwischen zwei Stollen; die spitzen Kappen dienten mit Heu gefüllt als Kopfschutz

doppelt bewaffnet, der Gerichtsschreiber bescheiden. Der Hutmann (modern: Steiger) trug den üblichen Kittel der Bergleute und Arschleder. Das Bergbuch enthielt auch die Arbeitsprozesse bei Aufschluss von Hängen für den Obertagebau, das Schlägeln von Stollen, bei dem die Arbeiter oft auf einem Brett, dem Sitzörtl, saßen, und das Ausschmieden von Stangen in einem Hammerwerk. Die Bilder zeigten Arbeiter – aber nicht Frauen und Kinder – bei Löhnung sowie beim Essen und Trinken und – Emotionen fehlten nicht – ein sich zugeneigtes Paar. Im Bruderhaus sorgten Köchin, Bedienerin und Pflegerin für Arbeitsunfähige. Der Autor erwähnte einen Priester für die tägliche Messe und zeigte wartende Erzleute mit für Getreide geöffneten Säcken: Ihre Nahrung bedrohten herrschaftliche Kriege oder individuelle Faulheit, Teuerung und Armut. Begräbnisse gestalteten Kollegen in Arbeitskleidung und da Tod durch fallendes Gestein sehr präsent war, wählten sie sich Schutzheilige: An erster Stelle Anna, da sie den größten Schatz, Maria, aus dem Dunkel ins Licht brachte, sowie Maria mit Mondsichel und Jesus mit Sonne als Symbole für Silber und Gold; an zweiter Stelle Barbara, die während ihrer Flucht je nach Legende ein Fels schützend umschloss oder von Bergleuten aufgenommen wurde; an dritter Stelle Daniel, der verborgene Dinge offenbarte. Je Revier standen unterschiedliche Heilige im Mittelpunkt und migrierende Erz-Familien trugen ihre Verehrungen mit sich. 108 Die FEB-Kammer war sich der Bedeutung fachkundiger Arbeiter bewusst und mahnte in den

Abb. 10.18 Perckhrichter, Gerichtsfronpote, Grubenhüter, hoch aufgerichtet, und ein Erzmann mit Sack, der vielleicht auf heimlich mitgenommenes Silbererz kontrolliert wird

Günther Jontes, „Das Schwazer Bergbuch als Quelle zur Montanvolkskunde“, Geo.Alp, Sonderband 1 (2007), 63–71, https://www.zobodat.at/pdf/ GeoAlp_SB001_0063–0071.pdf (29. August 2020), auf der Basis der Handschrift Cod. 10.852, ÖNB, Faksimile-Ausgabe, Graz 1988, mit Kommentarband von Erich Egg. Ausstellung und Publikationen des Bergbaumuseums Leogang.

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Abb. 10.19 Bruderhaus für Kranke und Alte

1520er Jahren, dass sie zu halten seien. Wolle ein Arbeiter wegen des geringen Lohns, der für das Brot nicht reichte, oder um zu heiraten wegziehen, solle er 10–15 rheinische Gulden Heiratsbeisteuer erhalten. Dafür müsse er sich jedoch „verschreiben […] nit weg setzen sonder der arbait peym sieden ir lebentag getreulich zu warttn“: Unterstützung gegen lebenslange Arbeitspflicht. Manch „arme Arbeiter“ waren unterernährt; Bäcker und Fleischer erhielten Subventionen, um die Preise niedrig zu halten; Fische mussten den Arbeitern zum Kauf angeboten werden, bevor sie ausgeführt werden durften; herangeführtes Getreide und Schmalz mussten preiswert abgegeben werden. Manche Großunternehmer führten des Profites halber beides dennoch aus. Die Silberwerker im Rauristal hatten bereits vor Mitte des 14. Jahrhunderts Öfen mit Blasebälgen, „Blahäuser“, für hohe Schmelztemperaturen errichtet und zugewanderte schlesische Erzleute führten das Amalgamverfahren ein. Dabei lösten die Hüttenarbeiter Gold durch Vermischung mit Quecksilber, das sie aus Bergwerken in Idrija (Slowenien) 109

bezogen. Sie und einige Säumer suchten ihre Einkommen durch Eigenverkauf von Gold und Umgehen der Zollstellen zu erhöhen: Hinter-Gehen von Vor-Recht. Der FEB setzte berittene Überreiter zur Überwachung ein. Zusätzlich zur giftigen Quecksilber-Verdampfung wandelte sich im Erz enthaltener Arsenkies beim Ausschmelzen von Gold und Silber in giftige Dämpfe, die sich an den Decken der Werkhütten kristallisierten und daher „Hüttrauch“ hießen. Die Technik zur Gewinnung des Minerals Arsenik hatte ein Unternehmer in der sächsisch-böhmischen Region gelernt und ließ sie seit Mitte des 14. Jahrhunderts in Schellgarden und Rotgülden (Murtal) sowie im Felskessel des Lanisch in 2200 m Höhe und im Pöllatal, westlich vom Katschberg, in engen Stollen ohne Zimmerung anwenden. Die ArbeiterFamilien lebten in primitiven Hütten und mussten, damit sie sich lebenslang verschuldeten, Nahrung überteuert bei FEB-Agenten kaufen. Sie zerschlugen die Brocken, mahlten den Gruß in Handmühlen zu „Bröselerz“ und raffinierten dies im „Giftkuchl“. 109

Der Abbau wurde Ende des 19. Jahrhunderts eingestellt. Das von Malern verwendete gelbe Auripigment löste sich bei Feuchtigkeit in giftiges Gas.

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Die Hüttrauch-Kristalle galten als Kostbarkeit und FEB Pilgrim II. sah diese Geldquelle als Geschenk des Himmels. Trotz Verbots beschafften Gebirgsbauern sich kleine Mengen für sich selbst und zur Aufbesserung des Aussehens von Pferden und Vieh vor Verkauf. Die Herren in Moosham führten Arsen nach Venedig aus, eine Salzburg-Halleiner Gesellschaft zwischen 1417 und 1420 bis zu 1500 kg im Jahr. Es galt als Heilmittel, machte „Arsenesser“ süchtig und diente als Rattengift. Eine weitere Verwendung suggeriert die Kärntner Gerichtsordnung von 1507, die Giftmorde unter Strafe stellte. Überregional, besonders unter Männern in der Levante, galt es als Aufputsch-, Verjüngungs- und Potenzsteigerungsmittel, Frauen gab es angeblich üppige Formen. Die Bergleute und mithelfende Frauen und Kinder starben früh. Paracelsus (1493–1541, gest. in Salzburg) führte Arsen in die Heilkunde ein, der chinesische Apotheker und Enzyklopädist Li Shi-zhen (1518–1593) beschrieb es etwa zur gleichen Zeit. 110 Unternehmer aus vielen Schichten agierten oft innovativ. Der bayerische Hofarzt Hans Hartlieb (1410–1468) zum Beispiel betrieb gemeinsam mit Herzogin Anna (1414–1474) und drei Genossen ein Bergwerk. Er übersetzte klassische medizinische Texte, darunter das Trotula-Kompendium, und verfasste ein Kräuterbuch. Annas Vorgängerin als Ehefrau des späteren Herzogs Albert III. Wittelsbach war Agnes Bernauer, vermutlich eine Hausdienerin. Ihr Schwiegervater, wütend über den Bruch der Hierarchie, ließ sie 1435 der Hexerei anklagen und in der Donau ertränken. Johannes Hartlieb, Arzt und Dichter am Wittelsbacher Hof und offenbar informiert, hatte großes Interesse an den artes magicae, teilte dies mit Dominikanern und schrieb ein „puch aller verpoten kunst, ungelaubens und der zaubrey“ mit Informationen zum Flugwesen von Hexen. 111 Eisen, unabdingbar im Alltagsleben, umrankten Menschen anders als Gold und Silber nur selten mit Geschichten. Erzleute bauten es im Pongau, Tennengau und Bundschuhtal (Zufluss zur Mur), in dem Ort Eisenhütten sowie in Dienten ab. In Kärn-

ten gruben sie Brauneisenerz seit dem 14. Jahrhundert und errichteten bei Eisentratten eine Schmelzhütte und ein Hammerwerk. Gewerken und Spekulanten verkauften das Roheisen direkt für den höchsten Marktpreis und umgingen einheimische Händler. Diese und der FEB intervenierten: Die zehn Gewerken mussten bekennen, dass sie der „gantzen gemayn der arbaitt“, dem „gemaynchlichen lande“ und dem „genedigen herrn“ Schaden verursacht hatten. Sie wurden „in straff und pesserumb genommen“ und mussten Eisen, das sie durch St. Veit führten, vierzehn Tage niederlegen und lokalen Händlern anbieten. Ein FEB verlieh 1472 zwei Bürgern in Radstadt „einen Hamber [Hammerwerk] und ein Blahütten [Hochofen], auch Kholhütten auf ihr aigen gut […] und dazu den Wasserfluss“ unter anderem gegen Lieferung von sechzig Pfund Eisen zum Halleiner Salzsieden und zwei Pfund „ewige Gült“ an das Amt Radstadt. Bergbau war lukrativ. Im Vergleich zu Kärnten, Steyr (Ennstal, Oberösterreich) und Leoben (Steiermark), wo Erzarbeiter und Schmiede mehrere 10.000 t Roheisen jährlich sowie Halbfertigprodukte herstellten und exportierten, blieb die Produktion in der Diözese Salzburg gering. Der Gewerke Christoph Perner versuchte die Salzachklamm bei Pass Lueg durch Sprengungen für den Erztransport schiffbar zu machen, Metallhändler in Salzburg-Stadt kauften besonders aus der nach ihrem Eisenberg benannten Stadt Eisenerz und aus Leoben. 112 Den FEB war die Versorgung der Salinen mit Blecheisen für Pfannen und Barren zum Schmieden von Werkzeugen wichtig, ländliche Familien benötigten Pflugschare und Sensen, Holzfäller Beile, Wagenführer Radeisen, Gerber Schabemesser, Hauswirtschaften Messer. Um die Produktion zu erhöhen, gab FEB Bernhard 1477 das Schurfrecht zum Erschließen neuer Lagerstätten frei und gestattete dem Gewerken Achaz Zach in Dienten Erzguss gegen Lieferung kleiner Geschütze, wegen der steinernen Kugeln „Steinbüchsen“ genannt, und für andere Waffen. Büchsenmeister waren auch für das Feuerwerk zuständig, wenn die FEB feiern wollten. 113

Mutschlechner, „Bergbau im Lungau“, 147–157; Karl Lukan und Fritzi Lukan, Kärnten: Verborgenes, Seltsames, Unbekanntes. Kunsthistorische Wanderungen, Wien 2001, 57–59; Gruber und Ludwig, Bergbaugeschichte, 18. 111 Das „Schicksal“, das heißt das aktive Leben und die Ermordung der Bernauerin, wurde Thema von Friedrich Hebbel und, vertont, von Carl Orff. 112 Die Produktion stieg im 16. Jahrhundert auf 60.000 t Roheisen jährlich, die Bürger der Stadt Gmünd hatten Niederlagrecht und konkurrierten mit Bürgern der Stadt Spittal und den lokalen, vormals rheinländischen Grafen Ortenburg. Sie verkauften „Eisenwurzen“ bis ins Zarenreich. 113 Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 1.1:537. Bei Feldkirchen existierte um 1540 ein Hammerwerk, später „Hammerau“, mit einer „Ge110

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Abb. 10.20 Hammerwerk-Bergschmiede, Schwazer Bergbuch

Etwa dreißig Gewerken-Familien investierten, darunter Zott, Strasser und Weitmoser als reichste, später weitere aus Nürnberg und Augsburg. Am Ramingsteiner Revier hatte Familie HabsburgWien Interesse, an dem im Tal der Ziller Familie Habsburg-Innsbruck. 114 In der Hochphase der Edelmetallproduktion von 1450 bis in die 1560er Jahre wanderten Bergleute von weit her zu. Um 1500 lebten in Schwaz 17.000 Menschen, im Raurisertal mehr als 3000, im Gasteiner bis zu 2000, in Leogang weniger. Weitere bauten seit den 1520er Jahren im Tal der Arl Kupfer ab. Für das Gasteiner Silber hatte das Familienkonglomerat Fugger von den verschuldeten FEB Erzrechte erhalten. Sie investierten in eine große Schmelzhütte, versorgten Kleingewerken mit Kapital („Verlag“) und übernahmen deren Betriebe, wenn diese ihre Schulden nicht abzahlen konnten. Das zum Ausschmelzen unerlässliche Blei lieferten

ihre Faktoren aus Primör (Südtirol) und Bleiberg (Villach). Sie verkauften in Venedig. Der FEB als Konkurrent protegierte die Gesellschaft „Gasteiner Handel“, deren Inhaber der FEB-Kanzler, der Gewerke und Kapitalist Christoff Zott und der Salzburger Metallhändler Virgil Fröschlmoser waren. Der kirchliche Wirtschaftsfürst manövrierte mit und gegen Kapitalisten und Bürger. Die Erzleute lieferten dem Handelsverwalter der FEB, Hans Goldseisen, bis zu 830 kg Gold jährlich und große Mengen Silber (2723 kg im Jahr 1557). Dank Ressourcen und Arbeiter-Familien zählten die FEB zu den vier reichsten Fürsten im deutschsprachigen Raum und „Rom“ legte ihnen die zweithöchste Franchisegebühr in der Lateinkirche auf. Da FEB und Kurie spirituelle Bedürfnisse nicht wahrnahmen, entschieden viele KnappenFamilien sich für Evangelien-basierte statt Kirchendekretierte Religion. Sie würden sich am Befrei-

rechtsame zu Drahtzügen, Waffen-, Zeug- und Nagelschmieden“. Vital Jäger, „Die Eisenhütte im Flachau [oberes Ennstal] und ihr Schurfbereich“, MGSL 56 (1916), 183–227, und MGSL 57 (1917), 25–60, Zitat 185; Georg Mussoni, „Die Eisengewerkschaft Achtal, 1537–1919“, MGSL 60 (1920), 1–32; Gruber und Ludwig, Bergbaugeschichte, 15–18. Karl-Heinz Ludwig, „Die Bibliothek eines Montanunternehmers 1511“, MGSL 130 (1990), 407–414, beschrieb den Gewerken Hans Maierhofer als Teil der „technischen Intelligenz“ mit Büchern zu Geschichte und Religion, über Kräuter und Krankheiten. 114 Eine dritte Linie herrschte seit 1379 über Innerösterreich von Graz aus.

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ungskrieg 1525/26 beteiligen und nach dessen Fehlschlag abwandern. 115 Die Gewerken-Familien der Kirchenprovinz unterhielten geschäftlich-verwandtschaftliche Beziehungen zu Bankiers, besonders den Fugger-Brüdern und den Welser-Thurgo Kupferhändlern. Manche expandierten in die Steiermark, andere ins Venezianische und sie heirateten über die Tauern, bis Kärnten und in die Steiermark. Weit berühmt – und Stoff für Erzählungen – wurde die Familie Weitmoser. Der Ahn Hans hatte, wie es hieß, als einfacher Talbewohner erfolglos Gold gesucht und war darüber so verarmt, dass die Ehefrau ihren Hochzeitsschmuck verpfändete: Mit ihrem Geld stieß er auf eine reiche Ader. Real studierte Sohn Christoff in Freiburg (Breisgau) und in Wittenberg zur Zeit Luthers. Wie viele Gewerken-Investoren beteiligte er sich initiativ an dem Versuch, den Kleriker-Magnaten 1525 abzusetzen und fand, wiederum wie viele Kollegen, nach dem Fehlschlag mit diesem schnell einen Ausgleich. Dank seiner Expertise wurde er 1552 Kaiserlicher Rat. Erfolg schuf Neider und, wie oft, weitere Erzählungen: Eine Weitmoserin hätte einer Bettlerin Almosen verweigert. Daraufhin schwand der Bergsegen, die Familie verarmte. Wandersagen mit diesem Topos wurden über viele Reiche erzählt. Real blieb die Familie reich. Generisch inkorporierte die spätere Geschichte Richtiges: Erschöpfung vieler Lagerstätten seit den späten 1560er Jahren, schwierigere Suche und Erschließung, teures Niederbringen von wasserableitenden Stollen und Einbau von Wasserhebewerken. Die Zahl der Arbeiter sank auf etwa ein Zehntel, wer nicht abwanderte, war Arbeits- und Brot-los. Religiös ausgedrückt, endete der Bergsegen; wirtschaftlich gesehen kam als neue globale Kraft der Gold- und Silberzufluss aus Mittel- und Süd-Amerika hinzu und Preisverfall folgte (s. Kap. 12.2). Im Lauf der sogenannten Kleinen Eiszeit würden Gletscher die zum Teil auf fast 3000 m liegenden Stolleneingänge überdecken. Schon vorher änderten Gewerken-Familien ihre bürgerlich-unternehmeri-

Abb. 10.21 Schmelzhütte, Mittelalterliches Hausbuch, 1470–1480

sche Tätigkeit in Renten- und Gültenbesitz und lebten wie Welt- und Kirchen-Herren als neuer Gewerkenadel. Christoff Weitmoser I. erwarb 1539 eine Herrschaft und eine Propstei. 116 Der Märchenstoff „Gold und Silber“ ließ, im Prozess des Abbaus, den „Märchenwald“ zu abgeholzter Erosionszone werden und die FEB und die Unternehmer-Familie Habsburg ließen nach 1500 Waldschauberichte erstellen: im Gasteinertal mehr als eine halbe Million Bäume „verhackt“ und trotz Wiederaufforstung und holzsparendender Schmelzmethoden auch in der Rauris innerhalb einer Generation kein Wald mehr. 1530 betrug der angemeldete Jahresbedarf der Saline in Hallein 130.000 Kubikmeter. Neue „Gerechtigkeiten“ an Holz beschränkten die FEB auf von ihren Waldmeistern und Holzgehilfen zugeteilte Schläge. Unbezahlte Forstknechte, Aufseher und Waldhüter kontrollierten – gegen „Ehrung“ oder „Trinkgeld“ – die Schlägerung von Hof- und Heimhölzern. Angesichts dieser Situation behauptete FEB Matthäus 1524, dass seit dem hl. Rupert, dem hl. Virgil und dem hl. Römischen Reich aller Wald der Fürsten aigentumb sei und hob mit einer „Waldordnung“ alle Rechte von Bauern, Marktbürgern, Städtern, Salinenbesitzern und Gewerken auf, es sei denn, sie könnten durch Brief und Siegel nachgewiesen werden. Adel, Klöster, Städte und Märkte

Gerhard Ammerer und Alfred S. Weiß, „Das Tauerngold im europäischen Vergleich. Archäologische und historische Beiträge“, MGSL 141 (2001), 9– 168; Mutschlechner, „Bergbau im Lungau“, 129–168; Peter Schöll, „Auf den letzten Spuren der Schmelzhütten im Rauriser Tal“, MGSL 136 (1996), 27–66; Werner H. Paar und Wilhelm Freh, „Zum Bergbau Salzburgs und seiner Nachbargebiete“, in: St. Peter in Salzburg. Das älteste Kloster im deutschen Sprachraum. Schätze europäischer Kunst und Kultur, Salzburg 1982, 206–210. Die 1555 in Konkurs gegangene Gewerken-Familie Premauer wanderte mit anderen Bergleuten nach England aus. 116 Gruber und Ludwig, Bergbaugeschichte, 33. Im Rauristal ließ die Wieland-Familie als letzte der Augsburger Investoren Silber abbauen. Augsburger Finanz- und Handels-Familien schädigte der innerfamiliäre Erbfolgekrieg Wittelsbach-Landshut mit Elisabeth als Erbin gegen Wittelsbach-München, dessen Albrecht IV. auf männlicher Erbfolge, das heißt auf sich selbst als Erben, bestand. 115

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besaßen Verbriefungen, soweit sie sich Wald nicht wild angeeignet hatten, ländliche Familien besaßen Schriftstücke nicht. Zwar sollten designierte Waldstücke den Bedarf ländlicher und städtischer Familien sichern, doch warfen Amtleute Dorfgemeinschaften und Individuen Raubbau vor: Fällen zur falschen Jahreszeit, „Umhauen“ anderer Bäume beim Schlägern, Beschädigung von Jungholz beim Abtransport. Übermäßiger Holzeinschlag für Repräsentationsgebäude der Oberen, den sie nicht erwähnten, bedeutete für Bürger*innen mancher Städte (Gmünden, Oberösterreich, zum Beispiel), dass sie wegen Holzknappheit zeitweise keine neuen Häuser errichten durften. Das betraf das täglich Brot der Zimmerleute. 117 Da die Entfernungen zwischen Einschlag- und Verwendungsort immer größer wurden, mussten Holzarbeiter zum „Herwurchen“ oder „Herwerken“ Bringeanlagen über schwierige Hänge und große Distanzen errichten. In differenzierter Schlägerung begannen sie mit dem wertvollen (astfreien) Kufund Schiffholz. Stämme nahe Bächen und Flüssen verwendeten sie zur Verwehrung von Wasserläufen, für Flößkanäle zur Umgehung von Wasserfällen und für künstliche Rutschbahnen, sogenannte Riesen, die sie im Winter übereisten. Niederschlagsmenge und -zeitpunkt, schneereiche Winter, hohe Frühlingstemperaturen und Südwindeinbrüche bestimmten die Trift, niedrige Wasserstände verhinderten sie, Hochwasser schwemmten Anlagen weg. Die Holzknechte-Facharbeiter regulierten den Wasserablauf durch Steinkasten- oder Balken-Klausen mit Hebetoren oder seitlich zu öffnenden Schlagtoren. Wo notwendig, errichteten sie eine Sequenz von Klausen. Für das Schwemmen zerkleinerten sie die Stämme durch „Trennhacken“ in Drehlinge von 1,2 m Länge und konnten so auch kleine Bäche nutzen. Dies vergeudete Holz, ergab jedoch abgerundete Enden, die das Schwemmen erleichterten. Bevor sie eine Klause öffneten, reinigten sie die „Schuss-

tenn“ von Geröll und altem Schwemmholz. Die Triftholzmenge stimmten sie auf die vorhandene Wassermenge ab. Sie stießen entlang der Rinne ans Ufer geschwemmtes Holz wieder hinein, hoben Senklinge und lösten verspreiztes. Am Ende des Wasserlaufs diente ein „Holzrechen“ als Auffang. Für die Ferntrift auf breiten Flüssen verbanden Flößer Langholzstämme zu Gebinden. 118 Die „wilde“ Bergwelt wandelten die Facharbeiter und Techniker zu einem Wirtschaftsraum, dessen Triftnetze sich im 16. Jahrhundert von der Krimmeler Höhe Salzach-abwärts bis nach Lend erstreckten, Saalach-abwärts bis (Reichen-) Hall, aus dem Einzugsgebiet der Mur bis zu den Eisenwerken in der Steiermark. 119 In Lend an der Salzach (vorher „Hirschfurt“) lag die Schiffslände zum Eingang des Rauristals. Die Anwohner*innen hielten im 13./14. Jahrhundert bis zu 200 Vorspannpferde für den steilen Anstieg des Handelsweges über die Tauern bereit. Der Weg gabelte sich zum Hochtor-Pass (2500 m, Großglockner) und zu den Gold-Fundstätten. Ein Chrysant – griech. Goldblüte, also ortsangemessen goldhaltiger Name 120 – hatte dort bereits 1203 eine Kapelle errichtet, die um 1340 zu einer Kirche ausgebaut wurde. Da EB-Mautner dort kassierten, verzweigten Säumer ihre Wege. Die unwirtliche Bergwelt bot vielfältige wirtschaftliche Möglichkeiten. Die Bergarbeiter lebten unter der Woche in Hütten nahe der Stollenlöcher und stiegen am Wochenende hinab ins Tal. Aufseher hatten am Montagmorgen Mühe, sie anzuregen oder zu zwingen, den beschwerlichen Weg nach oben anzutreten, angeblich aufgrund ihres übermäßigen Weingenusses. Der Topos mag zutreffen, es fehlen Berichte über Arbeitsbedingungen und ebenso über Gespräche, in denen zum Beispiel Zugewanderte ihre Erfahrungen verglichen und vielleicht überlegten, wie Arbeitsprozesse adaptiert werden könnten. Die schwierige Route zwischen Salzach- und Rauristal ließ FEB Leonhard zu einer Mautstraße

Auszug aus der Ordnung in Koller, Waldordnungen Salzburg, 530–531. Eine Gesamtbeschreibung von 1530 umfasste 346 Seiten. 1526, als Francisco Pizarro (aus der Extremadura) zu seiner Expedition entlang der Pazifikküste Südamerikas aufbrach und den Einheimischen ihr Gold wegnahm, taten sich die Mächtigen des Schwäbischen Bundes, denen der FEB hohe Summen schuldete, zusammen, um durch eine Ordnung für die Bergwerke im Erzstift ihre Forderungen abzusichern. Heinz Dopsch, „Bauernkrieg und Glaubensspaltung“, in: Geschichte Salzburgs, 2.1:11–131, hier 84–86. 118 Künstler des Mittelalters haben Flößer und Treidler so wenig dargestellt wie Handwerker. Auch in diesem Fall zeigten vorangehende Gesellschaften, z. B. assyrische Reliefs in Chorsabad ~710 v. u. Z., im römischen Aquitanien und Trier (2./3. Jahrhundert u. Z.) größeren Respekt. Trifter, Flößer, Schiffslait – Menadàs, Zattieri, Barcari, Ausstellungskatalog, Schloss Tirol 2007, 12, 15, 50, 164. 119 Die Mehrzahl der Flüsse entwässerten in die Salzach, nur die Mur in Richtung Obersteiermark und die Saalach zum bayerischen Reichenhall. 120 Vermutlich erfanden Renaissance-Humanisten den Namen nach einem Märtyrer des 4. Jahrhunderts. 117

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Abb. 10.22 Pochwerk mit vier Stempeln: Noppen (Tatzen) im Wellbau heben Stempel ½ bis 1 m und lassen sie fallen, De Re metallica, 1556

ausbauen. Im Eröffnungsjahr 1500 verkehrten Talintern und transalpin 2475 Säume auf 9722 Pferden, 490 Wagen-Karren-Schlitten mit 920 Pferden, zusammen etwa 3000 Reisen mit 11.000 Zug- und Packtieren. Hinzu kamen 2760 einzelne Tiere. Der Mauteinnehmer kassierte je Lastpferd, für Karren und Schlitten sowie Wagen je Zugpferd, für Rösser, Rinder, Kühe je Tier, für Schweine je zwei Tieren und Ziegen und Schafe je drei; für Auf- und Abtrieb der Almrinder galt ein Viertel des Normaltarifs. Wenn jeder Viehtrieb und Saumzug von nur einer Person geführt wurde, nutzen die Route etwa 3300 Personen, die Glauben, Informationen, Geschichten und vielleicht heimlich unvermautete Ware mit sich trugen. 121 In Lend ließen die Gewerken 1544 einen Rechen durch die Salzach bauen und technisch so auslegen, dass Drehlinge für die Halleiner Salzgewinnung und Salzburg-Stadt weitertreiben konnten. Die Gewerken betrieben in Lend einen aus Stein gebauten „montanindustriellen Komplex“, in dem die Pinzgauer Wälder zu Holzkohle verarbeitet wurden, anfangs 42.000, später bis zu 72.000 Sack im Jahr. Der frühkapitalistische Unternehmer

Abb. 10.23 Kombinierte Erz- und Amalgamationsmühle, De re metallica, 1556 Wichtige Teile: A Wasserrad, B Welle, C Pochstempel, F unterer Mühlstein, M Getriebe der eisernen Welle aus Spindeln, N Zahnrad der Welle, O Fässer, Y drei Gerinne, Z deren Wellen.

Hz Ernst (Familie Wittelsbach) würde sich als EBErwählter und Administrator (1540–1554) an der Anlage beteiligen. 122 Im Nachbartal sprudelte die Gasteiner Ache aus warmen Quellen (in der Gegenwart maximal 50°, leicht radioaktiv). Dass dörperinnen die Quellen kannten und darin Wäsche wuschen, passte nicht in Diskurse um adliges Christentum und, wie üblich, erfanden Diskursschaffende eine Genealogie: Um 680 fand ein Ritter aus Goldegg einen von ihm waidwund getroffenen Hirsch, den zwei christliche Einsiedler auf einer schneefreien Lichtung in heil-

Peter Schöll, „Das Rauriser Weglohnbuch des Michael Aster über die Mauteinnahmen vom 1. Juni 1500 bis 20. Mai 1501“, MGSL 143 (2003), 160–194. Peter Schöll, „Die Rauriser Wälder und ihre Schlägerung zur Deckung des Holzbedarfs des Rauriser Goldbergbaus im Mittelalter. Ein Umweltthema des Mittelalters“, MGSL 130 (1990), 361–406; Gruber und Ludwig, Bergbaugeschichte, 31.

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kräftigem Wasser badeten. Real waren die Quellen seit dem 13. Jahrhundert überregional bekannt, lebte die Goldegg-Familie im Hochmittelalter, entstand eine erste medizinische Darstellung um 1350. Im 15. Jahrhundert besuchten hochgestellte Gäste die Quellen, im 16. analysierte der Arzt Paracelsus sie. 123 Angesichts von Bergbau, Holz-fern-wirtschaft und Großlandwirtschaft befassten sich Techniker und Wissenschaftler, Kompilatoren und Drucker mit den „nützlichen“ Prozessen. Petrus de Crescentiis’ Ruralia Commoda (Bologna, 1304–1309) erschien in deutscher Sprache als Vom Nutz der Dinge in Augsburg (1471) und nachfolgend in fast sechzig Ausgaben in vier Sprachen. Der sächsische Georg Pawer (Bauer), der sich Georgius Agricola (1494–1555) nannte, befasste sich in Bermannus, sive de re metallica (1530) mit dem gesamten Prozess von der Erzsuche über Abbau und Verarbei-

tung bis zu den Details von Technik und Transport. Er informierte sich in Italien und wählte für seine Rückreise 1526 den beschwerlichen Weg über den Rauriser Tauern, um die dortigen Anlagen zu studieren und mit den Fachleuten zu sprechen. Seinen Text übersetzte der Gelehrte Philipp Bechius in Basel als die Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen (1550–1558). Der Holzstecher Jost Amman (Zürich und Nürnberg) stellte in seinem Ständebuch (1568) Handwerker und Arbeiter dar, darunter Bergleute mit ihren Werkzeugen, ihrer Arbeit und Kleidung. In Venedig stellte Tomaso Garzoni „alle Berufe der Welt“ zusammen (1585). Handwerker und Mechaniker waren sich bewusst, dass ihre Tätigkeit überall wichtig war. Ihre ars mechanica, Wasserkunst oder Kunstgezeug, erweiterte das Spektrum der Künste. 124

10.7 Die FEB-Krisen 1462 bis 1495 Die ländlichen, berg- und holzarbeitenden sowie (klein-) städtischen Familien besaßen strategische Fähigkeiten und sie übernahmen, als FEB Burckhard ihnen bei Amtsantritt die Lasten heftig erhöhte, vom Pinzgau über Pongau bis zum Brixental 1462 die Kontrolle über Straßen, Brücken und Pässe, Burgen und Amtssitze, Schlösser und Märkte. Sie sperrten Pass Lueg gegen FEB-Militär, dem Macht-Haber kam die Macht abhanden. Hz Ludwig IX. (BayernLandshut) bot ihm Vermittlung an und die „aufständischen“ Traditionalisten erreichten die Begrenzung der Steuerhöhe auf die Summe von 1452, die Verpflichtung des FEB, auf schriftlich niedergelegte Beschwerden einzugehen, und ein Verbot der Gefangennahme ohne Gerichtsverfahren (habeas corpus). Die Kompromiss-lose Kanzlei des FEB hinterging dies, indem sie für die zwei Bestätigungsbriefe 2000 Gulden plus 50 Gulden Brief- und Siegelgeld forderte. Gegen dies Strafgeld wehrten sich die Menschen

1463 im Salzachtal erneut. Doch der FEB hatte den wohlhabenden Bürger Ulrich Dienstl in St. Johann, einer der Sprecher von 1462, mit der lukrativen Position eines Pflegers bestochen und er warf den „Aufstand“ nieder. Die Menschen forderten nicht nur altes Recht und Herkommen, sondern ein recht-mäßiges Einvernehmen direkt zwischen Obrigkeit und Untertanen ohne zwischengestellte Amtleute, die sich un-recht- und übermäßig bereicherten. Die Berater des Machthabers hätten die politische Theorie erkennen und die Zwischenräume von Hierarchen zu Unteren mit ehr-baren Amtleuten besetzen können. 125 Die folgenden vier FEB verloren nicht Macht, aber, soweit sie sie noch hatten, Autorität. FEB Bernhard (aus Rohr, h. 1466–1482, gest. 1487) aus weitverzweigter Familie im Traunviertel führte als Domherr das profitable Oblai-Amt für die Verteilung der erhaltenen Geschenke und gleichzeitig die

Herbert Klein, „Badgastein. Die Entwicklung der Ortschaft und des Bades im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit“, MGSL 96 (1956), 1–66; Frank Fürbeth, „Die ältesten Mineralquellenanalysen des Gasteiner Thermalwassers [… 1450–1530]“, MGSL 136 (1996), 7–18. Die Großarler Straße durch die Liechtensteinklamm zum Kupferbergbau entstand 1564 bis 1566. 124 Joseph Ehmer, „Work and Workplaces“, in: Bert De Munck und Thomas M. Safley (Hg.), A Cultural History of Work in the Early Modern Ages, London 2018, 67–87. 125 Franz Ortner, „Die Bauern wehren sich. Bauernunruhen – Kriege – Aufstände“, in: Eder, Chronik Saalfelden, 137–141; und Ortner, „Sigmund I.“, in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), 363–364, http://www.deutsche-biographie.de/pnd1021269565.html (16. September 2020); Karl Köchl, „Die Bauernkriege im Erzstifte Salzburg in den Jahren 1525 und 1526“, MGSL 47 (1907), vi–117, bes. 1–8; Herbert Klein, „Neue Quellen zum Salzburger Bauernaufstand 1462/63“, MGSL 77 (1937), 49–80. 123

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Die FEB-Krisen 1462 bis 1495

dritthöchste Dignität, die Stadtpfarrei. Er galt als jähzornig, als Frauen- und Prunk-liebend. Mit päpstlicher Bewilligung löste er 1459 das Kloster der Domfrauen wegen „argen sittlichen Verfalls“ auf und nutzte die Räumlichkeiten für seine Bettpartnerinnen. 126 Zu ihnen ließ er einen nicht einsehbaren, aber Bauleuten und Bürger*innen bekannten Zugang bauen. Bernhards Söldner und die nachfolgender FEB zer-störten vieles. Galt er ehrbaren Handwerksmeistern als Störer? Die Untertanen wussten von osmanischen Trupps und Heeren, Pest und Heuschrecken, buken in Hungerszeiten Brot aus Kleie und Hafer. Sie hörten, dass sich Friedrich III. Habsburg, König seit 1440 und Kaiser seit 1452, und sein Sohn Maximilian die Kronen von Ungarn und Böhmen aneignen wollten. Als dies zu Krieg führte (1477–1488), erfuhren sie, dass FEB Bernhard sich und sie gegen den Kaiser gestellt hatte, dass er die Schulden des Kunstmäzens Burkhard beglich und südöstliche Teile des Kirchenbesitzes familienintern verpfändete. Da er seine Schulden nicht zahlte, sagten adlige Gläubiger-Familien sich ab. Salzwerker in Hallein bezahlte er schlecht, sie streikten 1478, er ließ die Sprecher foltern und die Familien Strafen zahlen. Die ebenfalls unbezahlten Gläubiger des Kaisers ließen Landstriche verwüsten und Menschen umbringen. „Türken“ taten zwischen 1473 und 1483 Gleiches oder verkauften Gefangene als Sklav*innen. All dies behinderte Schaustellung nicht: Zum „Christenreichstag“ in Regensburg 1471 ließ sich Bernhard von Organist, Chor, Lautenschlägern, insgesamt 300 Mann auf 300 Pferden, begleiten. Er bestellte bei dem Buchmaler Berthold Furtmeyer ein prachtvoll ausgestattetes Missale. Es kostete zehn Jahre Arbeit und den Einband schmückten „M“ und Wappen, Kürzel für Maria und Bernhard. Der FEB ahnte nicht, dass sein Schulden-beladener Nachfolger Matthäus das Tafelsilber samt einer Rupert-Statue im Wert von 8000 Gulden einschmelzen lassen würde. 127 Wusste Bernhard, was seine Untertanen erlitten? Osmanische Trupps und Heere, die sich über die lokale Topografie genau informiert hatten,

zogen plündernd und tötend durch das Friesacher Tal und Nachbar-Täler. Diejenigen, die überlebten, hatten gesehen, wie sich die zu Schutz verpflichteten Oberen auf ihren Burgen und die von ihnen mit Sondersteuern finanzierten habsburgischen Söldner hinter Stadtmauern versteckten. Sie nahmen auch wahr, dass Fürsten und Fürst-EB sich über die Kosten der Türkenabwehr nicht einigten. Daraufhin schlossen sie sich 1478 zu einem Bund zusammen und schufen eine eigene Verwaltung mit Rat und Gerichten. Sie forderten die Abschaffung der geistlichen und weltlichen Gerichte, die Hoheit der Gemeinden, Pfarrer ein- und abzusetzen, und die Zahlung der Grundzinse an ihren Bund. Politiktheoretisch und -praktisch standen sie den eidgenössischen Schweizern nahe. Gegen den Kaiser wehrten sich auch Städter*innen in Flandern 1483–1485 und 1487–1492. Dieser führte 1499 gegen Schweizer Bauern und Städter Krieg und verlor. Gegen die steirischen Bündler sandte er bayerische Hilfstruppen. Sie siegten und die Grundherren kerkerten die Überlebenden ein, der Kaiser forderte die vierfache Steuer. „Viel volks gemurmelt wider die einnemer“, notierte ein Chronist. 128 Der Kaiser ließ während einer diplomatischen Pilgerfahrt nach Rom seine Bewaffneten im Vorbeiziehen das Suffraganbistum Lavant besetzen und beanspruchte Gurk. Der Papst sah dies als rechtmäßig, der FEB suchte Hilfe bei Matthias Corvinus, König in Ungarn. Die Domherren und, separat, Dompröpste 129 verfolgten andere, eigennützige Ziele. Zum Landtag des Kaisers 1478 in Graz erschien der hoch verschuldete FEB mit kostspieligem Gefolge – für die Untertanen waren die Kosten nicht Spiel. In Graz traf FEB Bernhard auf den Protagonisten eines anderen Handlungsstranges, Johann/János „Beckenschlager“, genannt nach dem Beruf seines aus Sachsen über Breslau migrierten Großvaters und Kesselschmiedes. Johann hatte dem Kaiser gedient, war zu König Corvinus gewechselt und machte Karriere bis zur EB-Position in Gran/ Esztergom und Primas in Ungarn. Dort war er unbeliebt. Als der König ihn nicht für Kardinalswür-

Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 1.1:535–537; und Dopsch, „Klöster und Stifte“, 1.2:1002–1053, hier 1007. Friederike Zaisberger, „Der Salzburger Hof in Regensburg“, MGSL 122 (1982), 125–240, hier 131. 128 Roland Schäffer, Der obersteirische Bauern- und Knappenaufstand und der Überfall auf Schladming 1525, Wien 1989, Zitat 3. 129 Domprobst Kaspar (Stubenberg) begann den Vorrangstreit mit den Suffraganbischöfen erneut und führte, u. a. um seinen Sitzplatz an der FEBTafel, Klage bei Kaiser und Papst. 126 127

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den vorschlug, wechselte er unter Mitnahme des Kirchenschatzes und eines Barvermögens von 300.000 Gulden wiederum die Seite und agierte als Berater und Finanzier des Schulden-beladenen Kaisers sowie des Sohnes Maximilian, dem er ein Darlehen zur Finanzierung der Heirat mit Maria (Burgund) gab. 130 Der dankbare Kaiser plante, ihn mit dem FEB-Stuhl in Salzburg zu belohnen. Viel Geld wechselte die Hände, alle Seiten – gebildete Männer von Stand – beschuldigten sich gegenseitig verlotterten Lebenswandels. Dies war Untertanen bekannt und ihre Enkel würden die Klagen darüber 1525 schriftlich als einen Grund ihrer Befreiungsbestrebungen niederlegen. Doch trat FEB Bernhard nicht zurück, die Domherren wählten ihren Domprobst Christoph Ebran zum FEBKonkurrenz. FEBauf Abruf und FEBin spe ließen Felder verwüsten und Untertanen töten. Um Johann zu helfen, verhängte der Kaiser eine Handelssperre über Salzburg-Stadt und viele wurden brotlos. Er wechselte 1480/81 jedoch die Taktik und suchte durch Handelsprivilegien an die Linzer und Kremser sowie Ratsbrief an die Salzburger Bürger*innen diese auf seine Seite zu ziehen. Bernhard rief den König in Ungarn zu Hilfe, dessen Söldner mit den unbezahlten kaiserlichen wiederum große Landschaften verwüsteten. Ein dritter Ereignisstrang, Streit um den Passauer Bischofssitz, führte zu einem weiteren FEBHilferuf nach Osten und König Corvinus – dem der Papst 1466 bereits Böhmen zugesprochen hatte – erhielt die Ertragskraft der Bewohner*innen von St. Pölten und Mautern als Pfand für die Kosten seiner Intervention. Gegen den Kaiser erhoben sich 1467 Bürger in Triest und 1468 ein Adelsbund, geleitet von Andreas Baumkircher, in der Steiermark. Der Kaiser ließ die Triester Bürger hart bestrafen, Baumkircher köpfen, Teile der Kirchenprovinz besetzen. FEB Bernhard im ZWR versprach dem König in Ungarn außerhalb des ZWR Schutzgeld und verpfändete dafür die (Einnahmen von den) Menschen des Lungau, Kärntens und der Steiermark. Söldner-Ungarn besetzten Radkersburg (Steiermark) und St. Leonhard (Lungau); Söldner-Kaiser verwüsteten Taggenburg (Kärnten), Fohnsdorf (Steiermark) und Tamsweg sowie Mauterndorf 130 131 132

(Lungau). Bewohner*innen der Regionen kamen um (sprachliches Passiv), Überlebende mussten neu anfangen. Bauern, die bei Friesach eine Viehlieferung an „die Ungarn“ verhindern wollten, vernichtete deren Kommandant – mit dem „deutschen“ Namen Hans Haugwitz – brutal. Der Kaiser verlor seine Hauptstadt Wien an den benachbarten König (1485–1490), Johann B. wurde FEB, Bernhard R. erhielt als Entschädigung eine Pension in Höhe von 4000 Dukaten: 2000 zahlten Wiener*innen, 1302 die Bewohner*innen Tittmonings, den Rest andere Untertan*innen. 131 In der Fassung professioneller Erinnerer war dies weder „Habsburgische Aggression“ noch „Rohr’sches Desaster“, sondern „die Ungarnzeit“; die Selbstorganisation der Abgabepflichtigen belegten sie mit damnatio memoriae. Johann zahlte der Kurie für die Ernennungsformalitäten viele Tausende, 11.535 fl. genau, tote Untertan*innen zählten ebenfalls Tausende. Johann fürchtete – vielleicht mit Recht – um sein Leben und ließ die Burg zum Hochsicherheitstrakt ausbauen. Ein Chronist kommentierte erbittert, es wäre besser gewesen, dass statt der untertänigen Menschen Bernhard gestorben wäre. 132 Der nachfolgende FEB Friedrich V. (Schaunberg, h. 1489–1494) zahlte der Kurie ebenfalls über 11.000 Gulden und für Kriege Kaiser Maximilians mehr als 5000. Er sei grob und dumm, könne weder Messe lesen noch in lateinischer Elementargrammatik sprechen, so Maximilian vor seinem Hofstaat. Eine venezianische Delegation, der er „ungebildet“ erschien, beeindruckte der Reichtum der Domkirche: eine getriebene Hochaltar-Tafel „ganz aus Silber“, „viele herrliche Reliquien von Heiligen, geschmückt mit kostbaren Steinen jeder Art, auch Karneole (roter Achat) und sehr wertvolle Kameen, darunter sehr große Tabernakel, ganz von Silber, und ein Kreuz, ganz von massivem Gold, und andere Gegenstände, beladen mit Edelsteinen, Ballasrubinen, Saphiren, Rubinen und Perlen in großer Menge.“ Der Stadtpalast der FEB war „mit vielen Teppichen und Tapeten“ sowie Gerätschaften aus „vergoldetem“ und „weißem“ Silber geschmückt, der ebenfalls eindrucksvolle Stadthof des Bischofs in Chiemsee mit Tiroler Holzschnitzereien. Die Delegation aß gut, ein „Salzburger Koch-

Leopold Spatzenegger (Hg.), „Testament Johannes III. Peckenschlager, Erzbischof von Salzburg, 1482–1489“, MGSL 7 (1867), 353–357. Johann war zum Ärger der Kurienkardinäle nicht bereit, auf das Erzbistum Gran zu verzichten. Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 1.1: 536–567.

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buch“ dieser Zeit enthielt Rezepte für Fremdländisches, Süßspeisen, vielerlei Soßen und Wildbret, Speisefarben und eingedickte Fruchtsäfte sowie Fastenspeisen. 133 Als FEB Friedrich starb, zeigte sein Testament, dass er sich im Erzstift vieles angeeignet hatte. Er verfügte für seine Erinnerung ein Grab aus zierlichem Marmor im Zentrum des Doms beim Altar des hl. Ruprecht. Wütende Bürger*innen wiesen seine verhasste Partnerin samt Sohn aus der Stadt. 134 Wäre eine grundlegende Reform möglich gewesen? Der offenbar Reform-bereite Nachfolger Sigmund II. (aus Hollenegg, r. 1494–1495) berief zügig einen Landtag ein und die Ritterschaft, Städte und Märkte sowie Bauern legten Beschwerdeschriften vor. Erstere beklagten die Bevorzugung von in das Habsburger Gefolge zuwandernden „Ausländern“; Städter beklagten ländliche – aus ihrer Sicht unberechtigte – Initiativen in Handel und Bewirtung; ländliche Menschen beklagten hohe Gebühren, das Pfründenwesen und Pfarrkleriker, die sich durch Gesellpriester vertreten ließen und mit ihren Partnerinnen in der Stadt lebten. Gemeinsam beklagten alle Stände die Flurschäden durch die Bergwerksbetriebe. Doch Sigmund starb nach nur acht Monaten, nichts geschah, die Untertan*innen mussten innerhalb eines Jahres die Weihsteuer ein zweites Mal zahlen. 135

Die Debatte um Rechte sowie den Initiativ- und Innovationsraum in Stadt und Kirchenprovinz kann in vergleichender Perspektive durchdacht werden: Wie Salzburg lag Nördlingen (Bayern) an zwei Handelsstraßen, hatte 1459 genau 5295 Einwohner*innen, einschließlich der achtzig Kleriker und acht Juden. Die Bürger*innen hatten seit 1215 den Status einer Reichsstadt und eröffneten 1219 eine Messe, die schnell überregionale Bedeutung erlangte. Sie verbanden sich durch Ab-, Zu- und zirkuläre Wanderung mit anderen Handelsorten. Die Stadt war Grundherr über die Menschen in benachbarten Dörfern und, statt sie per Bannmeile auszuschließen, erlaubte sie die Ansiedlung von Handwerker-Familien vor der Stadtmauer und inkorporierte sie 1327. Im exportorientierten Textilgewerbe durften laut Zunftordnung von 1348 Töchter eigenständig und zünftig als Schneiderin, Tuchschererin und Kürschnerin arbeiten, Schleierwirkerinnen gründeten eine eigene Zunft. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts – in Salzburg die Zeit der FEB Leonhard, Matthäus und Ernst (Bayern, Erwählter) – beschäftigte der Nördlinger Rat, meist auf Basis von Teilzeit, einen Uhrmacher, einen Arzt und Hebammen, Handwerker, Straßenpflasterer, Musiker. Rechtsverfassung und Rat ermöglichten Initiativen. 136

10.8 Gesellschaft und Machtstrukturen Die Familie Habsburg beabsichtigte seit langem, einen Teil der Zehnteinnahmen der Kirchenprovinz eigenen Bischöfen zukommen zu lassen. Sie richteten mit Zustimmung der Päpste Bischofssitze und -positionen in Laibach/Ljubljana 1462, in Wien 1469 und in Wiener Neustadt 1477 ein. Die Gesamtfamilie erwarb derweil Burgund 1477 und Spanien 1496. Die FEB wussten um die Bedrohung durch osmanische Heere, doch rüsteten sie gegen ihre Untertanen (s. Kap. 11.4–11.7). Im Rahmen des Herrschafts- und Technikwandels hatten Mäch-

tige und Ministerialen Verwaltung und Kriegswesen grundlegend verändert. Die vielfach aus Schwaben zugewanderten Herrschafts-Migranten hatten früh die südslawisch-sprachigen Herren-Familien verdrängt und die zu Kriegsfolge verpflichteten Dienstmannen hatten sich als familia sancti Rudberti (13. Jh.) verselbstständigt und eigene Genealogie-Erzählungen schreiben lassen. Die Ministerialen nutzten das bayerische Eherecht, nach dem der Status der Kinder dem der Mutter folgte, und strebten Heirat mit freien Frauen ohne Zustim-

Kramml, „Reisebericht“, 132–140, hier 134–135. Spatzenegger, „Testament“, 353–357. Der FEB versorgte neben Verwandten den Waisen Görgl, gab „zwei armen dirnlein“ bei der ErentrudisÄbtissin Mittel für die Aussteuer und versorgte ein Kind ebendort, bis es in einen Dienst aufgenommen würde. 135 Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 567–569. 136 Christopher R. Friedrichs, Urban Society in an Age of War. Nördlingen 1580–1720, Princeton 1979, 3–35; Ingrid Bátori, „Frauen im Handel und Handwerk in der Reichsstadt Nördlingen im 15. und 16. Jahrhundert“, in: Barbara Vogel und Ulrike Weckel (Hg.), Frauen in der Ständegesellschaft. Leben und Arbeiten in der Stadt vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit, Hamburg 1991, 27–47. 133

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mung des EB/FEB an. Wollte der „geschädigte Herr“ dem „untreuen Dienstmann“ das Lehen entziehen, erforderte dies meist Fehdekrieg. Sie nutzten die Machtkämpfe zwischen FEB und den Habsburg- und Wittelsbach-Familien zur Abkehr von ersteren. Kostenträchtig waren neue Waffentechnik und Spezialisten, seit dem 11. Jahrhundert fußläufige Schützen mit Armbrust (lat. arcubalista), 137 dann solche mit Schießpulver, Büchsen und Geschützen. „Ritter“, denen so ihr Arbeitsmarkt Kriegshandwerk abhanden gekommen war, verdingten sich als „arme Knechte“, milites minores, und schlossen sich mit Söldnern zu „Gesellschaften“ unter einem Anführer zusammen. Nur diese niederen Landritter, entpersönlicht „Helme“ genannt, erschienen zu den Aufgeboten des FEB und dieser musste auf dem freien Arbeitsmarkt zusätzliche Lohnarbeiter anwerben: Söldner, die menschliche Basis der neuen Kriegsführung, wurden unmenschliche Räuber, wenn ohne Sold und brotlos. Ihre Arbeitgeber hatten neben Sold den Schaden an Rossen und Bewaffnung zu ersetzen und Brot und Wein zu liefern, alles Weitere beschafften sie sich gewaltsam selbst. Die FEB führten in den 45 Jahren vor 1402, wie üblich meist in den Sommermonaten, 21 Kriege und entsandten in den folgenden Jahrzehnten Söldnerheere gegen protestantische Hussiten. 138 In Böhmen predigte der Adlige Tomáš aus Štítný/Serowitz in Volkssprache: „Wenn auch das Dorf dem Grundherrn gehört, so bleibt der Mensch doch Gottes“. Dies, Bibel-festen Menschen bekannt, verkündeten Kanzel-Prediger nicht (s. Kap. 9.10– 9.12). Doch auch unter den Hussiten lebten die Menschen unter ständigen Bedrohungen. Radikale zerstörten Teile von Prachatice und nach dessen Wiedereroberung verpfändete König Sigismund die Stadt 1437 an Jan Smil. Sie „fiel“ nach dessen Hinrichtung – sei es, weil er Hussit war, sei es seines Besitzes wegen – an die Konkurrenz-Familie Rosenberg, die Stadt-mit-Menschen zügig verkaufte. Die Menschen sprachen lokale Varianten des Mit-

telhochdeutschen und des Westslawischen. Die Hussiten-Habsburg- und Habsburg-Hunyadi-Kriege, oft in Gebieten des Passauer Suffragans der FEB, unterbrachen Fernhandelsrouten und dies förderte im Waldviertel die Bedeutung kleiner Städte in Randlagen. 139 Weit bedrohlicher als Hussiten und Osmanen erschienen den FEB ihre zahlungsunwilligen und systemkritischen Untertanen. Sie ließen seit FEB Burkhards fehlgeschlagener Steuererhöhung den Wehrbau auf dem Burgberg zur Festung Hohensalzburg ausbauen: drei Meter starke Mauern, Zinnen, vier Rundtürme, Wehrgänge und Fluchtweg zum Riedenberg. Das Misstrauen der Stadtbürger*innen war hoch; sie befürchteten, dass eine Fraktion der fehdenden Kleriker ungarische Truppen in die Stadt schleusen würde. Die zunehmend unbeliebten FEB hielten sich in ihren zunehmend luxuriösen Burgquartieren auf: abgeschottete Gemeinschaft innerhalb der Stadt. FEB Leonhard (aus Keutschach, Kärnten, h. 1495–1519) ließ weitere Türme, eine St. Georg geweihte Festungskirche, Schleuderpforten und Wurferker einrichten. Den Materialtransport-Schlitten, einen anfangs von „Schlossbüßer“ genannten Sträflingen betriebenen Seilzug, ließ er zu einer komplexen Maschinerie ausbauen: Ein schweres, von vier Pferden gezogenes Drehkreuz betrieb über die senkrechte Achse unten das Aufzugsseil und oben Mühlsteine. Er kombinierte die schaustellende Außenansicht der Burg – ziegelgedecktes, zeltartiges Dach über dem Hohen Stock – mit üppigen Wohnräumen: Säulen aus rotem Adneter Marmor im Goldenen Saal; eine Holzdecke aus Kassetten in Blau – vielleicht Azurit aus Leogang – mit vergoldeten Noppen als Sterne und einem Kachelofen mit vollplastischen Figuren, Rankenwerk, Emailfeldern, Bildnissen von Marienkrönung, Wappen und anderem. Die Stadt war Zentrum des regionalen Keramikhandwerkes und der Ofen war vermutlich ein Werk der Hafner in der rechtsufrigen Steingasse. Der Kunsthafner Hans Kraut (1532–~1592) zum

Kampf mit Bogen und Armbrust war abhängig von der klimatischen Region und dem täglichen Wetter, da Holz und Sehnen auf Feuchtigkeit reagieren. 138 Herbert Klein, „Das salzburgische Söldnerheer im 14. Jahrhundert“, MGSL 66 (1926), 99–158; Johann C. Pillwax, „Hohen-Salzburg. Geschichte, Baulichkeiten und Ausrüstung“, MGSL 17 (1877), 1–88; Heinz Dopsch, „900 Jahre Hohensalzburg. Die Festung im Wandel der Zeiten“, in: Eberhard Zwink (Hg.), Salzburg Dokumentation, Salzburg 1977, 63–88. Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 22009, 109–151. 139 Johannes Jetschgo, Südböhmen. Ein Natur- und Kunstführer, Linz 1991, Zitat 13. Friedrich Prinz, Böhmen im mittelalterlichen Europa. Frühzeit, Hochmittelalter, Kolonisationsepoche, München 1984. 137

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Abb. 10.24 a) Der Wunder-voll ausgeschmückte goldene Saal mit b) dem „schönsten Kachelofen der Spätgotik“ (Oberteil), von Touristen bis in die Gegenwart bewundert

Beispiel war im Schwarzwald geboren, hatte in Südtirol und der Schweiz gelernt und arbeitete nach Vorlagen von Raffael, Holbein und Cranach. 140 FEB Leonhard nahm die bei seinem Amtsantritt vorgebrachten Beschwerden der Landschaft nicht ernst, obwohl ein Kassensturz zeigte, dass seine Vorgänger Schulden in Höhe von 40.000 Gulden hinterlassen hatten. Seine Position war stark, denn er betätigte sich als Finanzier des Kaisers. Wirtschaftlich förderte er die Stadtbürgerfamilien, ließ aber – sechs Jahre nach den spanischen und zwei Jahre nach den portugiesischen Herrschern – 1498 die Familien jüdischen Glaubens „auf ewig“ vertreiben. Seit längerem drängten steuerbefreite Kleriker in bürgerliche Gewerbezweige und besonders ins Kreditwesen. 141 Leonhard führte als neue Währung den aus Tauerngold mit seinem Wappen, einer Rübe, geprägten „Rübentaler“ ein. Dafür berief er 1500 Hans Thenn – vielleicht aus Dänemark („Dan“), sicher nach Tätigkeit in niederländischen und schwäbischen Städten – mit seiner Familie als Münzmeister. Dessen Söhne Marcus und Marx und nach Thenns Tod 1552 seine Witwe Barbara „Thennin“ (1519–1579) aus der reichen Salzburger Handelsfamilie Alt führten die lukrative Tätigkeit

fort. Bei der Prozession zur Huldigung des Erwählten Ernst (Bayern), 1540, zog Marcus mit zwanzig Münzgesellen zwischen Bürgerkorps und Reiterei mit. Die Thennin musste jedoch 1552 das Geschäft zu halbem Lohn führen und 1572 nahm der „windige Pfennigmeister“ Hans Geizkofler ihr das Geschäft weg. 142 Der FEB, der als „tiefgläubiges und frommes Finanzgenie“ (H. Dopsch) zweieinhalb Jahrzehnte

Rainald Franz und Angelina Pötschner, „Wiedergeburt eines Renaissanceofens“, Denkmal heute 11.1 (2019), 57–59. Kunst galt als Mysterium und nach einer Erzählung wurde Kraut als Hexer verbrannt. Real wurden ein Sohn und dessen angeschuldigte Magd verbrannt. 141 Markus J. Wenninger, „Zur Geschichte der Juden in Salzburg“, Geschichte Salzburgs, 1.2:747–756. 142 Eduard Holzmair, „Salzburgs Münzwesen 1500 bis 1572 im Lichte einer Chronik der Münzmeisterfamilie Thenn“, MGSL 75 (1935), 81–118. Marx (geb. 1499) wanderte 1512 nach Venedig, um Italienisch zu lernen. 140

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herrschte, war ein kluger und auf eigene Interessen bedachter Unternehmer. Er ließ seine Knechte eine Bierbrauerei mit Ausschank betreiben; die adligen Prälaten in der Stadt, die steuerfrei nur Eigenbauweine hätten ausschenken dürfen, betrieben „regelrechte Wirtsgewerbe mit dem Verkauf von Essen und fremden Weinen“. Er ließ Burgen und Schlösser errichten und erkaufte gelegentlich Frieden. Er duldete keinerlei Widerspruch oder Auflehnung. 143 Dies war konfliktträchtig. Gemäß Großem Ratsbrief des Kaisers im Rahmen des „Spiels der Mächtigen“, 1481, durften Rat und Bürgermeister eine Getränkesteuer („Ungeld“) erheben und Zoll auf jedes durch die Stadt geführte, mit Salz beladene Saumpferd aus Hallein. Ob sie den Status einer Reichsstadt anstrebten, ist eine rechtshistorische Frage, wirtschaftlich wichtig war ihnen Manövrier- und Innovationsraum. Vielleicht lasen die Stadtväter, interpretationsgewandt wie Kirchenväter, in den Formulierungen des Briefes Rechte analog zu denen der Reichsstädte. Genau besehen war der Text absichtlich vage, denn der Kaiser benötigte die Unterstützung sowohl der Bürger*innen wie die Finanzkraft des FEB. Leonhard sah sich durch die Bürger-Rechte in seiner Herren-Ehre gekränkt und versuchte unter dem Vorwand, fremde Räuber abwehren zu müssen, Bewaffnete heranzuziehen. Er verbot dem Rat, „unnützes Volk“ aus der Stadt zu schaffen, und ließ seinerseits Gewalttäter, die Bürger misshandelten und nach Ansicht der Städter*innen seine Knechte waren, entkommen. Er versuchte, sich seiner Pflicht zur Reparatur eines im Hochwasser von 1498 zerstörten Brückenjoches zum Schaden des Bürgerspitals zu entziehen und verweigerte die Rückstellung eines Turmes der Stadtmauer, deren Bewachung Bürgerrecht war. Die Stadträte planten eine Verbesserung der Stadtmauern, die Trockenlegung eines Moores, die Reparatur der Landstraßen, ein Verbot der Ausfuhr von Vieh, Unschlitt, Käse und Schmalz in Krisenzeiten. Sie wollten Nichtbürgern – also Klerikern – das Betreiben von Wirtshäusern verbieten und Eingriffe des FEBRichters in die städtische Gerichtsbarkeit verhindern. Sie sprachen im April 1503 ergebnislos bei ihm vor. Leonhard drohte, er könne innerhalb we-

niger Tage mehrere 1000 Mann aufbringen. Die Räte appellierten erneut an den Kaiser, doch dessen Wohlwollen hatte sich der FEB-Finanzmagnat „mit enormen Summen erkauft“. Die Städter*innen waren Maximilian „wenig nützlich“, doch da sie Station der Verbindung Wien ←→ Tirol waren und er in Innsbruck residierte, entsandte er Kommissäre. Deren Empfehlungen akzeptierte die Stadt, aber nicht die von Weinausschank profitierenden und Bier brauenden Kleriker. Die Stadträte stellten ihre Vorbehalte gegen die Regierungsführung 1510 erneut in 59 Artikeln zusammen. Der FEB, der die Steuern erhöhen wollte, zog ein Fähnlein von Söldnern zusammen, die Bürgerschaft besetzte Mauern und Türme. Der FEB ließ zwar seinen Fluchtweg zur Riedenburg sichern, entschied sich aber für einen Gewaltstreich. Er lud Bürgermeister, Stadträte und Stadtschreiber am 24. Jänner 1511 zur Tafel, ließ sie verhaften und in der Nacht per Schlitten im Beisein des Henkers nach Radstadt abtransportieren. Dann kassierte er den kaiserlichen Ratsbrief. Nur drei Jahrzehnte lang hatten die Bürger ihre Stadt teilweise selbst verwalten können. 144 Die ländlichen Provinzbewohner*innen hatten sich bei Leonhards Amtsantritt über die hohen Abgaben beschwert. Er wollte höhere. Dafür ließ er alle Urbare durch neue, detaillierte Verzeichnisse ersetzen: Höfe wurden geteilt, Handwerke separat gelistet, die stark anwachsende Schicht der Söldenund Keuschen-Bewohner*innen noch detaillierter registriert. Die Urbarämter verpachtete er 1505 für zehn Jahre an seinen Kanzler Wolf Pachhaimer. Dank der hohen Einnahmen konnte die EB-Kammer trotz Leonhards Vetternwirtschaft alle Schulden seiner Vorgänger und der Domherren abzahlen. War Leonhard Keutschach der letzte feudal-ritterliche FEB, wie Historiker geurteilt haben? War er Auslaufmodell oder „Wirtschaftsgenie“? Er verbesserte das Straßennetz, hielt das Erzstift aus den vielen Kriegen des Kaisers heraus und hielt Hof bescheiden mit nur zwölf geistlichen und zehn weltlichen Personen. Er war – wie viele Kleriker – Finanzier und, anders als Feudalritter, kluger Wirtschafter. Er war von sich selbst in einem Ausmaß überzeugt, dass er im Burghof sein eigenes Denk-

Dopsch und Lipburger, „Rechtliche und soziale Entwicklung“, 1.2:739–740; Dopsch, „Einleitung“, in: Spechtler und Uminsky, Landesordnung, 35+; zu Details Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 1.1:572. 144 Dopsch und Lipburger, „Rechtliche und soziale Entwicklung“, 1.2:740 (Zitat), 746; Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 1.1:581. 143

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mal aufstellen ließ, mit scheinbar zum Segen – oder als Herrschaftsgeste – erhobener Hand. Seine Untertanen bewerteten ihn: Er jagte gern und verjagte die Stadträte, „Leonhard der Jäger“; er ließ Bier brauen und steuerfrei ausschenken, „Liendel der Wirt“ oder „Liendel Pierschenkh“; 145 angesichts der Rübe in seinem Wappen „Liendl der Rübner“; angesichts seiner Herkunft aus Kärnten, „Leonhard der Windische“. Er besaß viel, seine Familie bald mehr, den Respekt der christlichen Laien besaß er nicht. 146 Die Untertan*innen der Kirchenprovinz erinnerten Schreckensjahrzehnte: Finanz- und Münzkrise des Hz Friedrich Habsburg; Verpachtung des Münzwesens an Gläubiger, unter ihnen ein Söldnerführer; Fehde zwischen steirischem Adelsvertreter und Kaiser; Plündern und Brandschatzen lokaler Adliger in der Region Seckau; seit 1477 Krieg zwischen dem Kaiser und dem König von Ungarn; seit 1479 Verpfändung der Burgen in Kärnten und Steiermark samt zahlungspflichtiger Bevölkerung an König Corvinus; Abwehraktionen ansässiger Adliger gegen Kaiser (ZWR-HRR), König (Ungarn) und Erzbischof (Salzburg). Eine heftige Kälte ließ im Frühjahr 1459 Weinreben und Getreidepflanzen erfrieren, Preisspekulanten nutzten dies. 1480 vernichteten Heuschrecken die Ernte in der Steiermark, Überschwemmungen und Hagel folgten und – unter den geschwächten Menschen – eine Pest. Osmanische Trupps und die „Soldateska“ (B. Pillwein) von Berthold und Bernhard verwüsteten Märkte und Dörfer. 147 In das Eigenbistum Seckau war Matthias Scheit aus Schwaben zugewandert, 1481 vom FEB zum Herrn und Bischof ernannt worden und mit der Waffe in der Hand „unerbittlicher Verteidiger seiner bischöflichen Rechte“ oder Ansprüche. Er hatte Rom kennengelernt und in Paris studiert. Er nutzte

seine Position als kaiserlicher Rat „zur Verbesserung und Sicherung seiner materiellen Existenz“, verpachtete Pfründe und arbeitete 1489 als Finanzmanager für den Kreuzzugsablass Innozenz VIII. gegen Bayezid II. 148 Während seiner Amtszeit wechselten FEB und Kaiser, er musste sein Amt, aber nicht Titel und Einkünfte abgeben. 149 Die Stadt Graz, ebenfalls im Südosten der Kirchenprovinz, war seit 1379 Residenz der Familie Habsburg für das Segment „Innerösterreich“, das heißt die Steiermark, Kärnten, Krain und das nördliche Istrien. Nach großen Nöten stifteten Bürger*innen 1480 ein Gottesplagenbild an die Kirche des St. Ägidius – Nothelfer gegen Pest, Dürre und vieles andere, der einst, so die Legende, dem „Sarazenenbezwinger“ Karl Martell geholfen hatte. Kaiser Friedrich III., der gern Ungarn- und Türkenbezwinger sein wollte, nutzte St. Ägidius als Hofkirche. Der Maler, vermutlich Thomas Artula aus Villach, stellte als Plagen, wie zu erwarten, Pestilenz, Türken und Haberschreck dar, nicht jedoch (kaiserliche und ungarische) Söldner. Er bildete die in der Stadt anwesenden Franziskaner und Dominikaner ab und himmlisch-irdische Hierarchie: einfache Engel nahe den Menschen, Erzengel im Zwischenraum, nahe Gott sowohl Cherumbim und Seraphim als auch geistlich und weltlich Einflussreiche. Positiv erschien Maria: Sie fing eines der Blitzbündel Gottes – analog zu Jupiter – mit einem Tuch ab. Doch das Bild half nicht: Über die gläubigen Steirer*innen sandte die Natur 1486 eine MurÜberschwemmung und 1489 Missernte, dann der Kaiser eine Steuererhöhung. In diesen Jahren ließen sich die nur 100 km Luftlinie oder Engelsflug entfernt lebenden Metnitzer Gläubigen ihr TotentanzFresko malen. Gevatter Tod behandelte Kaiser, Päpste und Mönche den Laien gleich. 150 Auf Reichsebene forderten Kaiser und Fürsten

Der FEB nutzte die Kaltenhauser Brauerei (bei Hallein), seine Nachfolger suchten ihrem „Hofbier“ ein Monopol zu verschaffen. Erst FEB Guidobald Graf Thun (h. 1654–1668) erreichte dies per „Bierzwang“: Er verbot bürgerlichen Brauern, an Wirte und andere „Zäpfler“ zu verkaufen. Dies Monopol galt bis 1809. 146 Putzer, „Rechtshistorische Einführung“, 42*–48*; Wagner, Dopsch und Koller, „Spätmittelalter“, 1.1:580–581; und Dopsch und Lipburger, „Rechtliche und soziale Entwicklung“, 1.2:709–717, 742–746; Leopold Spatzenegger (Hg.), [Keutschach Familien-Vermächtnisse], MGSL 7 (1867), 358–360. 147 Historiker, die die Rolle der kaiserlichen Truppen nicht in den Vordergrund stellen wollten, behaupteten, „die Türken“ seien mit einem Heer von 15.000 oder 16.000 Mann eingedrungen. Papst und Sultan hatten jedoch eine Art Stillhalteabkommen. 148 Der Kreuzzug entfiel, der Papst und der König von Neapel bekriegten sich. Der Papst „verwahrte“ Bayezids (h. 1481–1512) Bruder und Konkurrenten und Bayezid bezahlte ihn, damit er ihn nicht freilasse. 149 Peter F. Kramml, „Bischof Matthias von Seckau (1481–1512), ein streitbarer Suffragan am Ausgang des Mittelalters“, MGSL 125 (1985), 345–394, Zitate dort. 150 Zsuzsa Barbarics-Hermanik, „Gottesplagenbild an der Südseite des Grazer Doms“, https://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/grazgottesplagenbild-an-der-sudseite-des-grazer-domes/ (29. August 2020). 145

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Wirtschaft, Alltagsleben und Herrschaft vom Großen Sterben bis zum 16. Jahrhundert

in Worms 1495 eine progressiv gestaffelte Steuer, auch „gemeiner“ oder „türkischer“ Pfennig genannt, von allen über 15 Jahre alten geistlichen und weltlichen Bewohner*innen 151 und gleichzeitig verkündete der vielfach Krieg-führende Maximilian I. einen „Ewigen Landfrieden“. Intern sollten die Einnahmen für dessen Durchsetzung verwendet werden und extern für die Aufstellung eines Heeres gegen „Türken“. Zahlen sollten auch, wie von seinem Vater Friedrich III. begonnen, die geistlichen Stände. Die Salzburger Prälaten reagierten ungehalten, die geistlichen und weltlichen Untertanen in Bayern verweigerten die Zahlung. In „unsers stifts gebieten in österreich, Kernden und Steyr“ hoben Gemeindepriester 1543 Pfund Pfennig ein, die der FEB 1497 an die Fugger-Bank ablieferte. Städte lieferten ihre Steuern selbst ab. 152

Zu FEB Leonhards Tod 1519 war das Erzstift nach einem Jahrhundert des Niedergangs durch die erzwungenen erhöhten Steuerleistungen wirtschaftlich konsolidiert. Doch im Apparat war vieles, besonders das Gerichtswesen, Missstand. Der Generalvikar und Offizial Dr. Jacob Haushaimer kritisierte in einem Reformgutachten die Zustände: allzu materielle Maßstäbe der FEB-Kurie; pastorale, disziplinäre und organisatorische Probleme unter dem Klerus, aber auch unter Gläubigen. Doch auch Haushaimer starb 1519 und der Nachfolge-FEB Matthäus Lang beachtete das Gutachten nicht. Die unteren Christenmenschen hingegen nahmen das übermäßige Einkommen der Kirche wahr und drückten dies in Klagepunkten und, als diese nicht gehört wurden, in Befreiungskämpfen aus.

Vorangehende Versuche, reichsweite Steuern einzuheben, waren gescheitert: 1427 zur Finanzierung der Kriege gegen Hussiten, geplant als Kopfsteuer für Bauern und Mittelschichten, Vermögenssteuer für Reiche, Einkommenssteuer für den Klerus und persönliche Steuer für Adelige; 1471 und 1474 zweckgebunden für die Türkenkriege. In jedem Fall waren Kleriker und weltliche Finanzagenten bereit, gegen erhebliche Margen den Einzug zu übernehmen. 152 Widmann, „Reichssteuer“, 91–106. 151

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11 Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre Vielfältige parallele und intersektorale Veränderungen kennzeichneten den tiefgreifenden Transformationsprozess zur sogenannten Frühen Neuzeit seit den 1450er Jahren. Die Fixierung auf das Jahr 1492 als Ankunft von Südwesteuropäern auf karibischen Inseln 1 ergibt wenig Sinn. Wenig Ansatzpunkte zur Analyse bietet auch das Schlagwort „Himmel und Erde in einer Hand“ 2 als Salzburger Herrscherund System-Perspektive für den Wechsel von „feudal-ritterlicher“ zu „absolutistischer“ Herrschaft mit Tod des FEB Leonhard (Keutschach) 1519 und Amtsantritt des FEB Matthäus Lang (Wellenburg) in der Kirchenprovinz. Demografischer Rahmen für die Entwicklungen war nach dem Bevölkerungstiefpunkt um 1420 der Bedarf an Kindern und eine entsprechend höhere Wertschätzung von Ehe und Frauen sowie fehdeund kriegsbedingte Männerverringerung und Besitzkonzentration bei Magnaten-Familien. Wirtschaftlich schadete die Herrscher-dekretierte Münzverschlechterung, stimulierend wirkten unternehmerische Fernkaufleute. Herrscher-Familien auf der Suche nach zusätzlichen Einkommen belasteten die Unteren schwer, diese re-agierten und initiierten. Makroregional hatten christliche Herrscher Lateineuropa aufgeteilt und muslimische den Dar-asSalam. Iberische See- und Kaufleute, Konquistadoren und „Freibeuter“ richteten ihren Blick zum atlantischen Ozean und begannen Reichtümer zu suchen, entlang westafrikanischer Küsten Mehrwert produzierende Zwangsarbeiter*innen und Gold, dann auf den Karibischen Inseln und in Mittelamerika (s. Kap. 12). Sie handelten dynamisch, diejenigen, auf die ihr Blick fiel, erfuhren die Dynamik anders.

Anders als Seeleute, die auch Sehleute waren, agierten die Fürsterzbischöfe kurzsichtig. Sie erkannten nicht, dass ihre Untertanen es hassten, als Pfänder für FEB-Schulden zu dienen, dass sie das Sexleben vieler Kleriker ärgerte – der Kleriker, wie manche vereinfachten – und vielen „die Kirche“ unerträglich war. Sie forderten Evangelien-bezogenes Leben (s. Kap. 9.9–9.10). Die zeitgenössischen System-Theoretiker hatten Abgaben mit dem Schutz für Untertanen begründet, doch die Magnaten schufen eine verkehrte Welt: Ihre Söldner oder Soldateska zerstörten die Leben Schutzgeld Zahlender und ihre Büttel zogen nach 1460 höhere Abgaben ein. Nach etwa sechs Jahrzehnten vergeblichen Wehrens suchte sich ein Teil der Untertan*innen 1525/26 durch einen Befreiungskrieg Handlungsraum zu schaffen. Dörper-, Städter-, Bergarbeiter- und Unternehmer-Familien forderten eine angemessene Vermittlung des Evangeliums, Selbstbestimmung und wirtschaftliche Optionen. Singularisierende Erinnerer nannten dies „Bauernkrieg“. Ich erläutere zuerst den Machtrahmen, Familie Habsburg und osmanische Interessen (Kap. 11.1– 11.2) und wende mich dann der „Last der Kirche“ (B. Pürstinger), den Befreiungsversuchen seit 1462 und den dabei artikulierten Forderungen zu (Kap. 11.3–11.5). In der Kirchenprovinz reagierten die Räte des FEB anfangs hilflos, die der Habsburger Erzherzöge mit brutaler Repression (Kap. 11.6– 11.7). Abschließend fasse ich die „Ordnung“, die der FEB oktroyierte, zusammen (Kap. 11.8) und suche die Denkwelten der Menschen zu erfassen (Kap. 11.9).

Baskische Fischer, die die Pilger*innen in Santiago de Compostela versorgten, hatten vermutlich seit langem Jahr für Jahr vor Neufundland (späterer Name der Neuankommenden) gefischt. 2 Titel der Ausstellung (seit 2014) im Salzburg Museum (Stand August 2020). 1

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Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre

11.1 Familie Habsburg, Herrschaft – Großreich – Kolonien, und FEB Matthäus Lang Der mehrsträngigen Familie Habsburg diente FEB Leonhard als Finanzier, FEB Matthäus als Diplomat. Maximilian Habsburg (1459–1519, 1486 König, 1508 Kaiser), der oft in Innsbruck (Tirol) residierte, verkündete 1495 einen allgemeinen Landfrieden, bekriegte aber Untertanen, die seine Geldforderungen nicht akzeptierten. „So haben wir Kurzweil getrieben mit unseren aufständischen Bauern“, berichtete er seinem Onkel Siegmund. Er habe deshalb in der Nacht nicht getanzt. 3 Die Bauernfamilien zahlten an Hz Friedrich (Friedl) „mit der leeren Tasche“ (ab 1406) und Siegmund, „den Münzreichen“ (bis 1490). Gläubiger Siegmunds war Jacob Fugger (1459–1525), der in Venedig in der fondaco di tedeschi gelernt, in Gastein und Rauris investiert und für seine Dar-Lehen den Silber- und Kupferbergbau in Schwaz als Pfand erhalten hatte. Den Bergleuten war bekannt, dass sie nicht mehr für ein Herrscher-, sondern für das Augsburger Finanzhaus arbeiteten (Kap. 10.6). 4 Als der überschuldete Siegmund auf Druck der Landstände abdanken musste, folgte ihm Maximilian als Erzherzog und ergänzte die Handlungsebene Krieg – er führte derer 25 – durch teure, aber insgesamt kostengünstigere Heiraten. Bella gerant alii, tu felix Austria nube – würden es Autoren im 17. Jahrhundert formulieren. „Austria“ als Teil von Habsburgia hatte Maximilian aus drei Teilen wieder zusammensetzen müssen. Er selbst heiratete 1477 die reichste Erbin Lateineuropas, Maria-mit-Burgund – genauer: mit Dutzenden regionaler Kulturen von der Freigrafschaft Burgund über Luxemburg, Hennegau, Flandern, Brabant bis nach Holland. Die offenbar glückliche Ehe endete früh, denn Maria starb 1482 nach einem Reitunfall bei einer Falkenjagd. Maximilian erbte. Anschließend gingen er als größter Schuldner und die Fugger-Familie als größte Gläubiger im deutschsprachigen

Teil Lateineuropas – tu felix Habsburgia nube – gewissermaßen eine Firmenhochzeit ein. 5 Letztere verbanden sich auch mit der Kirche, Sektion Kurienfinanz, besonders in Bezug auf das profitable Ablassgeschäft des Jubeljahrs 1500. Die Bankiers übernahmen für einige Jahre die Verwaltung der päpstlichen Münze und ließen in lateinkirchliches Geld ihre Handelsmarke punzen. 6 Maximilian verheiratete zweifach in je doppelter Verbindung, zunächst (a) 1496 seinen 18-jährigen Sohn Philipp („der Schöne“) und die 14-jährige Juana/Johanna I. von Kastilien und (b) seine Tochter Margarete mit Juanas Bruder, dem spanischen Infanten Juan. So ließen sich die allfälligen Mitgifte gegeneinander verrechnen. Habsburgia und die bereits über den Atlantik ausgreifende Herrscherfamilie in Kastilien wurden eine Einheit, Philipp und Juana nicht. Eine weitere Doppelhochzeit-in-Planung, die eine Verlobung war, sprach Maximilian 1515 mit der bereits teil-habsburgischen Familie Jagiello (Böhmen, Ungarn, Kroatien) ab: Die noch nicht heiratsfähigen Kinder (c) Jagiello-Sohn Ludwig (geb. 1506) mit Habsburg-Enkelin Erzherzogin Maria (geb. 1505) und (d) einen der Habsburg-Enkel, sei es Karl (geb. 1500) oder Ferdinand (geb. 1503), mit Ludwigs Schwester Anna Jagiello (geb. 1503). 7 Von den Kurfürsten ließ Maximilian die Enkel zu seinen Nachfolgern wählen und lieh sich von den Brüdern Fugger mehr als zwei Drittel der 851.918 Gulden, die er den Kurfürsten zahlen musste. 8 Wirtschaftlich waren „die Habsburger“ ein Kredit-finanziertes, multinationales Unternehmen mit Hauptsitzen in Madrid und Wien sowie Filiale in den Niederlanden. Maximilian konstruierte sich Ritterlichkeit und ließ Gelehrte und den Zeichner Hans Burgkmair d. Ä. Theuerdank, Weißkunig und Freydal als legendäre Geschichte (n) für die Nachwelt schreiben und illustrieren.

Barbara Könneker, „Der ‚verkehrte‘ Mensch. Narren, dörper, Schwankhelden in mittelalterlichen Texten“, in: Martina Neumeyer (Hg.), Mittelalterliche Menschenbilder, Regensburg 2000, 147–172, Zitat 162. 4 Zum Silber- und Kupferhandel der Fugger Mark Häberlein, Aufbruch ins globale Zeitalter. Die Handelswelt der Fugger und Welser, Stuttgart 2016, 56– 78. 5 Kaiser Ferdinands I. Tochter Johanna heiratete 1565 Francesco de’ Medici. 6 Jacob Fugger ließ als Sozialeinrichtung „die Fuggerei“, 53 Häuser mit je 2 Wohnungen, bauen. Für die geringe Miete, 1 rh. fl./Jahr, mussten die Mieter den Stifter und seine Brüder in ihre Fürbittgebete einschließen. 7 Darstellungen der Familienplanung betonen die Hochzeiten und erwähnen die zahlreichen Todesfälle kaum. 8 Um einen rheinischen Gulden zu verdienen, musste ein Handwerker mehrere Wochen arbeiten. 3

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Familie Habsburg, Herrschaft – Großreich – Kolonien, und FEB Matthäus Lang

Vielleicht diktierte er Teile selbst, auf jeden Fall nutzte er das neue Medium Buchdruck souverän. 9 In Kastilien wollte Philipp allein herrschen, doch starb er 1506 und Juana besaß den FamilienReichsteil samt, überseeisch, dem größten Kolonialreich der Welt. Ihr ehrgeiziger Sohn Karl ließ die Mutter für psychisch gestört erklären, die Stände verweigerten sich der „Diagnose“, jedoch nennen viele Erinnerer sie „die Wahnsinnige“. 10 Er schob seinen Bruder Ferdinand ins Burgund ab und machte sich so zum Gesamtbesitzer als König Karl I. und Kaiser Karl V. FEB Matthäus nahm an den vielen Festlichkeiten und 1520, nach Maximilians Tod, an der Krönung Karls zum Kaiser teil und forderte für die Kosten Ungeld von seinen Untertanen. 1521/22 änderte Karl seine Meinung über Ferdinand und übergab ihm die fünf „Erblande“ Niederösterreich, das slowenisch- und deutschsprachige Innerösterreich (Steiermark, Kärnten, Görz, Gradiska und Windische Mark) sowie Tirol, Württemberg und die Vorlande Elsass und Breisgau. Dies entzweite die Familie in eine „spanische“ (bis 1700) und eine „österreichische“ (seit 1740 „lothringische“) Linie. Nicht ein „glückliches Austria“ hatte geheiratet, sondern eine unterfinanzierte, überehrgeizige Familie. Ferdinand – nahe Madrid geboren und ohne Deutschkenntnisse sozialisiert – verließ sich in Wien auf spanische Berater und Gabriel Salamanca aus einer reichen Kauf-Familie in Burgos sollte als Schatzmeister und Kanzler die Kasse sanieren und dabei auch Ferdinands Anteil an Großvater Maximilians hinterlassenen Schulden abtragen. Sein Schwager Ludwig Jagiello, in Ungarn Kind-König geworden, entschied sich mit Teilen des dortigen Adels, ohne jegliche Vorbereitung ein osmanisches Heer zurückzuwerfen. Er verlor 1526 die Schlacht bei Mohács (a. d. Donau) und ertrank auf der Flucht. 11 Die Politikstränge Erbland und Ungarn kamen zusammen, als Ferdinand nach Ludwigs

Tod die Herrschaft beanspruchte. Eine ungarische Ständeversammlung wählte ihn im Dezember 1526, nachdem eine andere zwei Monate zuvor Jan Szapolyai (1487–1540) gewählt hatte. In den folgenden Konkurrenzkampf griff der Sultan ein. Die Heiratspolitik brachte der Familie den Krieg mit den Sultanen (arab. der Starke) ein. Die in der Pannonischen Ebene Lebenden hatten 1513/14 versucht, sich unter Führung des Siebenbürgers (Szekler) György Dózsa von den Großgrundbesitzern zu befreien, waren aber vernichtend geschlagen und von den Herren in völlige Leibeigenschaft gezwungen worden. Sie blieben passiv, als das Heer des Sultans 1526 heranzog. Abgaben mussten sie so oder so zahlen, die Robot-Lasten waren unter osmanischer Herrschaft geringer, ihre Religion konnten sie beibehalten. Kaiser Maximilian, der sich oft in Augsburg, Heimat der Fugger, aufhielt, hatte dort eine reiche bürgerliche Familie 1498 geadelt. Aus ihr stammte FEB Matthäus Lang (1468–1540), der in der nahen Herrschaft Wellenburg ein Schloss errichten ließ. Er erhandelte Maximilian für die Wiener Doppelverlobung ein Fuggersches Darlehen von 200.000 Gulden und erhielt 1511/12 vom Papst, anfangs geheim (in pectore), die Kardinalswürde sowie über die Fugger-Filiale in Rom kaiserliche Bestechungsgelder für die anstehende Papstwahl. Seine Brüder Johann und Lukas wurden zu Rittern „geschlagen“, die Schwester Apollonia (~1475/80–1520) förderte als Geliebte des Hz Georg (Bayern-Landshut, „der Reiche“) Matthäus’ kirchliche Karriere – so Clemens Sender, Chronist und Benediktinermönch im Augsburger Kloster St. Ulrich und Afra. Obwohl Kleriker, trat er meist als weltlich-kaiserlicher Gesandter mit Schwert auf. „Seine üppige Hofhaltung [in Wellenburg] erregte schon bei den Zeitgenossen Aufsehen; der [Augsburger] Chronist Wilhelm Rehm bezeichnet ihn als ‚Speckbuob‘ und ‚Hurenjäger‘.“ 12

Maximilians Stammbaum-Autoren integrierten die Ahnentafel der vorher in Österreich herrschenden „Babenberger“, Namensgebung durch Ladislaus Sundhaym; ein Papst sprach Hz Leopold III. Babenberg kurz vor Maximilians Amtsantritt heilig; Maximilian ließ sich als bei der Entschlafung der theotokos-Maria anwesend darstellen. Zum Kaiser konnte er nicht in Rom gekrönt werden, denn die von ihm bekriegten Venezianer ließen ihn nicht durchreisen. 10 Königin Juanas Vater stellte sie unter Arrest, der englische König hoffte, die Universalerbin zu heiraten, ihr Sohn Karl ließ sie über 40 Jahre gefangen halten. Sie mag nach dem Tod ihres Mannes, 1506, einen psychischen Zusammenbruch erlitten haben. 11 Seine Witwe Maria Habsburg übernahm 1530 als Statthalterin die Herrschaft in den Niederlanden und handelte in Distanz zum Habsburg-HRR. 12 Er legitimierte zwei Söhne, Matthäus und Marcus. Stadtlexikon Augsburg: „Lang II“, https://www.wissner.com/stadtlexikon-augsburg/artikel/ stadtlexikon/lang-ii/4558 (30. August 2020). Hans Wagner, Heinz Dopsch und Fritz Koller, „Salzburg im Spätmittelalter“, in: Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.1:437–661, hier 585–593. 9

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Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre

Abb. 11.1 Matthäus Lang als Berater und Diplomat des Kaisers mit fremden Gesandten, 1514, Hans Burgkmair, Weißkunig

Matthäus erhielt als Pfründen die Positionen Domprobst in Augsburg, Bischof in Gurk (1505), Bistum Cartagena (Spanien, 1510) und andere; 13 die Pfründe „Salzburg“ war neben dem Bistum Trient, dem Erzbistum Magdeburg und dem Bistum Halberstadt für ihn nur eine von mehreren Optionen. Der Papst, der mit Matthäus’ Hilfe das Wohlwollen des Kaisers suchte, verbot den Domherren im Fall von FEB Leonhards Tod einen Nachfolger zu wählen und ernannte 1515 Matthäus zum Koadjutor mit Nachfolgerecht. Der sparsame Leonhard befürchtete, dass der hoffärtige „Zehrer“ das Stift in den Bankrott treiben würde. Als Revenue

erhielt Matthäus die (Einwohner*innen der) Städte Mühldorf und Tittmoning, 1519 schickte er Vertrauensleute voraus, „die die Macht im Land übernehmen sollten“, hielt mit „noch nicht gesehener Pracht“ Einritt von Schloss Freisal aus, aß mit seinen Gästen opulent und unternahm den abschließenden Umritt in vollen Pontifikalien. Der Papst gewährte den Teilnehmenden von Rang einen vollkommenen Ablass, Matthäus forderte von den Untertanen eine hohe Weihsteuer für die Kosten der Inszenierung. 14 Gegen Matthäus’ Amtsübernahme opponierten, wie vorhersehbar, die Wittelsbach-herzoglichen

Matthäus strich die Einnahmen diverser Pfarren ein, des Kollegiatskapitels Maria Wörth, der Zisterzienser-Abtei Viktring, der Kanonikate in Aschaffenburg und Eichstätt, der Dompropstei Konstanz (neben der Augsburger) und war Kardinaldiakon von Sant’Angelo. 14 Als Matthäus Koadjutor wurde, zog Leonhard sich – nach vielleicht parteilichen Berichten mit Kostbarkeiten aus der Schatzkammer – nach Kärnten zu seiner Familie zurück. 13

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Annäherung: Osmanisch-muslimische Heere und Herrschaft

Brüder, die vereinfachter Erbteilung halber planten, ihren minderjährigen Bruder Ernst auf die Position abzuschieben. 15 Diplomat Matthäus fand Lösungen: Ernst wurde die Koadjutorie des Bistums Passau zugesagt. Den Salzburger Domherren, die ebenfalls gegen ihn opponierten, sagte Matthäus Säkularisierung zu – sie wollten, wie St. Peter-Mönch Leonhard Tornator (1444–1524) notierte, ihrer Verschwendung und ihren Skandalen ohne Ordenskleid nachgehen. 16 Die Abgaben der Menschen der Kirchenprovinz brachten Matthäus nach venezianischer Schätzung ein Einkommen von 90.000 Gulden jährlich. Nur diejenigen Bayerns und Kölns erwirtschaften höhere Summen für ihre Herren. Matthäus würde sich in seiner Residenzstadt nur selten aufhalten. 17 Die Menschen in der Diözese ernährten sich in der Landwirtschaft, in Städten (10 Prozent) und Märkten (3,6 Prozent) sowie im Bergbau (5,6 Prozent). Städtisch stellten Bürger die Mehrheit

(61 Prozent), die übrigen waren Inwohner und ledige Knechte (Berechnung K.-H. Ludwig für 1531). Auf dem Lande lebte etwa ein Fünftel ärmlich als Sölhäusler*innen, Herberger*innen und Inwohner*innen mit einigen Ziegen und vielleicht einer Kuh. Mussten sie die Kuh als Zugtier nutzen, verringerte dies die Milchleistung. Zahlten sie Abgaben nicht, konnten Zehnteintreiber Vieh einziehen und in dafür reservierte klösterliche Ställe treiben. Städte blieben, in absoluten Zahlen (1541), klein: etwa 5000 Einwohner*innen in Salzburg, 2400 in Hallein, 1600 in Laufen und 1400 in der Enklave Mühldorf, je etwa 800 in Tittmoning und Radstadt. Unter Marktorten stand Mauterndorf mit etwa 550 bis 650 Einwohner*innen an der Spitze; in Saalfelden, Tamsweg und Golling lebten je 500. In Innsbruck, Verkehrskreuz für Brennerpass und InnWasserweg, lebten 1567 neben Hofstaat und Ordensklerus 5570 Menschen, in Graz als Hauptstadt für Innerösterreich etwa 5000. 18

11.2 Annäherung: Osmanisch-muslimische Heere und Herrschaft Zusätzlich zu den Bedrohungen durch die inneren Fehden ihrer Herrscher näherte sich den Menschen Lebensgefahr von außen. Osmanische Sultane – genannt nach Osman I. (h. 1288–1324/1326) – mit anderer Regelung von Frauenrollen und Generationenfolge hatten 1354 die Dardanellen überquert und Südosteuropa erreicht. Ihr Versuch, den „Balkan“ – Türkisch für bewaldete Hügel – zu annektieren, endete mit der Niederlage am Amselfeld 1389. Erst 1453 eroberten sie Konstantinopel mit nur noch etwa 40.000 Einwohner*innen. Lateinkleriker bezeichneten die zeitgenössisch übliche Expansion – Familie Habsburg war auf dem Weg nach Osten – als Religionskrieg und singularisierten die Gegner als „die Türken“. Untertanen nahe der Grenze wussten, dass die muslimische Seite weniger Fronarbeit und geringere Abgaben verlangte. Im Westen wussten christliche Herrscher-Familien um die Probleme der Familie Habsburg und nutzten dies;

kirchliche Wortführer hängten dies nicht „an die große Glocke“, sondern trieben europaweit eine „Türkensteuer“ ein. 19 Die vielkulturellen Heere der Sultane, die ab 1473 Kärnten und den Lungau erreichten, zogen jeweils vor Winterbeginn wieder ab. Im Mittelmeerhandel waren die religiösen Gegensätze nicht ersichtlich, Genuas Kauffahrer hatten 1387 mit Sultan Murad I. in einem Vertrag Privilegien, Steuerzahlung und die Nutzung ihrer Schiffe sowie die Behandlung „entlaufener“, teilweise balkanischer Sklav*innen geregelt. Die überwiegend turk-sprachigen Identifikationsverbände hatten – wie Franken, Langobarden, Goten und viele andere – lange Migrationen durchlebt. Ihre Vorfahren, Teil der viehzüchtenden und kriegerischen Oghusen, hatten sich unter Khan Seldschuk um 1000 aus Transoxanien südwestwärts ins iranische Hochland bewegt. Dort herrschte eine kleine, aus Arabien eingedrungene islamische Elite

Ernst Wittelsbach wurde nach Matthäus’ Tod Erwählter und Administrator. Die 1497 nur noch 10 Domherren hatten je bis zu sechs Kapläne sowie Diener und Köch*innen. 17 Hans Bayr, „Matthäus Lang von Wellenburg (1519–1540). Schlechte Kriege, gute Frieden“, Salzburg Archiv 24 (1998), 137–162, Zitat 151. 18 Karl-Heinz Ludwig, „Neue Quellen zur Bevölkerungsentwicklung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Salzburger Mannschaftsauszüge von 1531 und 1541“, MSGL 117 (1977), 201–216. Ältere Schätzungen von 7000 scheinen überhöht. Hans Widmann, „Die Einhebung der ersten Reichssteuer in Salzburg im Jahre 1497“, MGSL 50 (1910), 91–106, hier 97–98. 19 Paula Sutter Fichtner, Terror and Toleration: The Habsburg Empire Confronts Islam, 1526–1850, London 2008, Kap. 1: „An Enemy Real and Imagined“. 15

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Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre

Abb. 11.2 Seldschukische und umliegende Herrschaftsbereiche, 11./12. Jh.

über die ansässige Mehrheit zoroastrischen Glaubens mit islamisierten Varianten. Die Neuherrscher hatten sich iranisiert, verwendeten die persische Sprache und förderten die Wissenschaften. Der Khan seinerseits übernahm die islamische Religion, wie bei christlicher Herrscher-Taufe mit Proklamation und ohne Kulturwechsel. Khan Seldschuk avancierte im späteren Narrativ zum Gründervater und Namensgeber: „Die Seldschuken“ hatten, wie lateineuropäische Eliten, Traditions-Schaffer. 20 Die Verbände erreichten im Westen das TaurusGebirge, sahen diese natürliche Grenze zwischen Zentralasien und Anatolien jedoch nicht als Hindernis und gelangten ins Oströmische Reich. Die dortigen Zugewandert-Eingesessenen besiegten sie 1071 bei Manzikert (Ostantolien) und errichteten ihr Sultanat mit Zentrum in Konya, wo einst Paulus gepredigt und Thekla gelebt hatten. Die muslimischen Neuen halfen oströmischen Kaisern gegen lokale Kriegsherren und ermöglichten armenischen und syrischen, monophysitischen Christen freiere

Religionsausübung. Sie eroberten 1075 Nicäa (Iznik) und Nikomedia (Izmit) am Marmara-Meer und Suleiman nannte sich selbstsicher Sultan der „Rum“ (Römer). Dass in dieser Zeit kreuzkriegerische „Franken“ weite oströmische Landgebiete, Städte und Strukturen verwüsteten, erleichterte ihm den Sieg (s. Kap. 6.10). Die finanzschwachen Franken erreichten Herrschaft nur kurzfristig; die wirtschaftlich denkenden Sultane siedelten Tausende Kriegsgefangene in fruchtbaren Gebieten an und boten Bedingungen, die Nachwanderung anregten. Vom iranischen bis zum anatolischen Hochland hatten Menschen vieler Religionen Ländereien kultiviert und Städte errichtet. Angesichts des guten Auskommens der Einheimischen änderten die Neuen ihre mobile Lebensweise, ließen sich nieder und die Kinder wuchsen gemeinsam auf. Angesichts der geringeren Abgaben wanderten solche, die dies wussten, aus Ostroms grenznahen Gebieten zu und Magnaten und Kaufleute migrierten aus dem schrumpfenden Kaiser- ins expandierende Sul-

Reşat Kasaba, A Moveable Empire: Ottoman Nomads, Migrants, and Refugees, Seattle 2009; Alexander Beihammer, „Patterns of Turkish Migration and Expansion in Byzantine Asia Minor in the Eleventh and Twelfth Centuries“, in: Johannes Preiser-Kapeller, Lucian Reinfandt und Ioannis Stouraitis (Hg.), Migration History of the Medieval Afroeurasian Transition Zone, Leiden 2020, 166–192; Niels Brandt, Gute Ritter, Böse Heiden: Das Türkenbild auf den Kreuzzügen (1095–1291), Wien 2016. „Türkenstechen“ würde bei erzbischöflichen und Österreich-habsburgischen Festveranstaltungen Teil der Unterhaltung werden. Das überkommene Türkenbild tradieren bis in die Gegenwart österreichische Schulbücher; die deutsche Sprache sieht „getürktes“ Handeln als Betrug.

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Annäherung: Osmanisch-muslimische Heere und Herrschaft

tansreich. Nichtmuslimische Gruppen und Glaubensrichtungen banden die Sultane in ihre Verwaltung ein. Orthodox-christliche Eliten in Konstantinopel blickten angesichts dieser Situation zum lateinchristlichen Westen und „Rom“ seinerseits verfolgte während der Konzilphase Ferrara-Florenz-Rom ab 1438 europäisch-asiatische Pläne: Vereinigung mit den armenischen, maronitischen, jakobitischen, nestorianischen Kirchen und besonders der orthodoxen. Doch orthodoxe Gläubige, die „die Lateiner“ als die Kirchenräuber und Vergewaltiger von 1204 erinnerten, verhinderten dies. Als Konstantinopel muslimisch wurde, setzte auch Sultan Mehmed II. (h. 1444–1481) auf Kontinuität, nannte sich „Kaiser der Römer“ und respektierte das Orthodoxe Patriarchat. Christen zahlten wie Gläubige aller nichtmuslimischen Religionen eine dhimma-Schutzabgabe und praktizierten ihren Glauben ungestört. 21 Die Ost ←→ West-Verbindungen blieben eng, Unternehmer und Transportarbeiter der genuesischen und venezianischen Handelsemporien siedelten sich in Istanbul an. Transbalkanische und -alpine Kraxenträger, Säumer und Rodfuhrleute nahmen verändertes Handelsvolumen und -richtung sowie Preise wahr. Als die Könige in Kastilien und León 1492 Juden vertrieben, sank die Bedeutung ihrer Mittelmeerhäfen rapide, osmanische und nordafrikanische Herrscher nahmen viele der Vertriebenen auf. Während christliche Bewaffnete entlang afrikanischer und mittelamerikanischer Küsten vordrangen, drangen osmanische westwärts vor. Familie Habsburg war seit dem Bruch sowohl mit dem Reformer Jan Hus wie mit tschechisch-sprachigen Menschen mit Kriegen in Böhmen beschäftigt. Wie beschrieben (s. Kap. 10.7), wehrten sich die Herren nicht gegen die osmanischen Heere, die FEB ordneten Gebete „der Türken wegen“ an. Den Gläubigen mögen, soweit sie informiert waren,

Gegnerschaften nicht einsichtig gewesen sein. Herrscher katholischen und protestantischen Glaubens kämpften gegeneinander und als Karl V. Habsburg König François I. Valois gefangen nahm, sondierten dessen Mutter Louise (Savoyen) und protestantische Fürsten bei Sultan Suleyman I./Solomon (h. 1520–1566) über ein gemeinsames Vorgehen. Wenig später, Ende September bis Mitte Oktober 1529, belagerte ein osmanisches Heer kurz Wien. 22 Tausende der Einwohner*innen waren geflohen, habsburgische Militärs zerstörten die Häuser vor den Mauern, um freies Schussfeld zu haben. Eine osmanische Reiter-Vorhut, durch Plündern selbstfinanziert, verwüstete die Umgebung und tötete, aus ihrer Sicht, Ungläubige oder verkaufte sie in Sklaverei. Für die Hauptarmee schafften in hochentwickelter Logistik Tausende Lastkamele und Hunderte Donauschiffe Nahrung, Waffen und Munition heran sowie Luxuszelte für den Hof. Allerdings war der September so regnerisch, dass die schweren Kanonen im Schlamm ungarischer Straßen steckenblieben. 23 Vor habsburgischen Heeren flohen zur gleichen Zeit böhmische Brüder und Schwestern in den Herrschaftsbereich der Familie Hohenzollern. 24 „Wer gegen oder für wen?“, fragten sich die Menschen. Ihre Herrscher bedrohten sie spirituell durch falsche Lesart der Evangelien. Sie erinnerten, dass ein Papst verboten hatte, an Christus’ und der Apostel Armut zu glauben. Steiermärker*innen wussten, dass sie zu Festigungsbauten herangezogen wurden und dass italienische Baumeister und Handwerker an den Wall- und Maueranlagen arbeiteten. Zwar sind Informationswege schwer zu rekonstruieren, doch wussten später, Mitte des 17. Jahrhunderts, sozioökonomisch ähnlich situierte Menschen in Neapel, dass im osmanisch-muslimischen Herrschaftsbereich die Lebensbedingungen günstiger waren. In einem Spottvers verkündeten sie, dass sie wohl zu den „blutrünstigen“ Türken fliehen müssten. Diesen Vers wiederum kannten

Der Moskauer Großfürst und die Synode der russischen Bischöfe nutzten den Herrschaftswechsel, um ihr Patriarchat aus der Byzantinischen Kirche zu lösen und zur eigenständigen Russisch-Orthodoxen Kirche zu erheben. 22 Ob das Ziel die Eroberung der Stadt war, wie lange interpretiert, oder die Familie Habsburg gezwungen werden sollte, ihre Ansprüche auf Ungarn aufzugeben, wird debattiert. 23 Als die im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts beginnende sog. Kleine Eiszeit das Osmanische Reich besonders hart betraf, nahm die Expansion ab. Elena Xoplaki, Johannes Preiser-Kapeller u. a., „Modelling Climate and Societal Resilience in the Eastern Mediterranean in the Last Millennium“, Human Ecology (April 2018), 1–17 (Online-Version). 24 Rudolf Rícan, The History of the Unity of Brethren: A Protestant Hussite Church in Bohemia and Moravia, aus dem Tschechischen von C. D. Crews, Bethlehem, PA 1992 (Orig. 1957). 21

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Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre

Menschen, die sich 1765 gegen Sondersteuern der britischen Herrscher in Boston, Nordamerika, wehrten und Angst hatten, deren Zöllner würden ihnen das Brot aus dem Mund nehmen. 25 Das

Großleinwand-Schlachtengemälde „Türkenkrieg“, das Erinnerungsmacher als Raumteiler aufstellten, war löcherig.

11.3 Die „Last der Kirche“ und das „rechte“ Evangelium Raumteiler hatten die Herrscher über Diskurse und Sitzordnungen auch im Inneren errichtet: abgeteilte Klosterbezirke, Kirchen zweigeteilt für Kleriker*innen sitzend und Gläubige stehend. Beidseits der Trenngitter einheimisch waren der aramäisch-sprachige Christus, seine Mutter und Großmutter sowie Maria Magdalena, die ihm die Füße gesalbt und mit ihren Haaren getrocknet hatte. Viele Gläubige, die vielleicht über die Raumtrennungen nachgedacht haben, werden sich der synkretisch-orientalischen Herkunft ihres Glaubens kaum noch bewusst gewesen sein. Die Ursprünge waren zu Orten geschrumpft, zu „Heiligem Land“ und „Heiligen Stätten“, Jerusalem. Die Pilgerfahrt dorthin war teuer und der Aufenthalt gelegentlich gefährlich. Anders als die Institutionshierarchen glaubten und dachten nicht nur die in die Kirchenprovinz zugewanderten Waldenser*innen. Auch Kleriker und Klerikerinnen hatten über die Jahrhunderte eigene Denkwege entwickelt. Johannes Scottus Eriugena hatte im 9. Jahrhundert Mensch und Natur als unmittelbar zu Gott gesehen, Gräfin Hemma half Armen in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts. In Regensburg forderte ein Probst, die Un-Ordnung der Institution zu beseitigen, und der Denker Gerhoch drängte in Opusculum de aedificatione Dei (1128/29) auf Reformen. Die Goliarden kritisierten um 1230, dass viele Zins-einziehende Prälaten von ihren Gotteshausleuten für jede Amtshandlung zusätzliche Gebühren einhoben und ein vermutlich Seckauer Kleriker verspottete dies im „Geldevangelium“ (Carmina Burana 44). Wenige Jahrzehnte später sah der Passauer Anonymus die Kritik der Armen Christi als berechtigt und noch einmal wenige Jahrzehnte später kritisierte der adlige Reimchronist Ottokar, Familie Gaal, die Käuflichkeit der Kurie. Der Bibelübersetzer in Krems begann

seine Arbeit und Konrad aus Megenberg schrieb ein Jahrhundert später über Mensch und Kosmos in seinem „Buch von den natürlichen Dingen“. Gerechtes Werken verankerten die Steinmetze in ihrer Regensburger Ordnung von 1459. Kein zeitgenössischer Chronist fasste dies zusammen. Was nahmen Pilger*innen und Reiselustige wahr, die den langen Weg nach „Rom“ zu Fuß oder Pferd unternahmen? Dessen Stadtbischof besaß Reliquien im Überfluss, denn er wohnte über den Katakomben, die Herkunftsbezeichnung „Katakombenheiliger“ bürgte nicht für Authentizität. Das Amt kauften gegen Ende des 15. Jahrhunderts Papst Innozenz VIII. und seine Familie, Simonie war üblich, Sex ebenfalls. Er versorgte seine Familie, verheiratete einen Sohn mit einer Medici-Tochter, erhielt Geld vom osmanischen Sultan und verpfändete zeitweise Mitra und Tiara. Er mahnte „mit tiefem Kummer“ zu intensiverer Hexenverfolgung. Die von Innozenz III. errichtete inquisitio haereticae pravitatis ließ „Geständnisse“ über SatansVerehrung erfoltern. In französischer Sprache wurden vauderie und vaudois, Zauberei und Zauberer, lautlich mit Waldensern assoziiert, in der Salzburger Kirchenprovinz lebten Alternativgläubige sowie als „Hexen“ und „Zigeuner“ Ausgegrenzte wehrlos an den Rändern der Gesellschaft. Für den gesamten deutsch-sprachigen Raum ließ sich Heinrich Kramer (Henricus Institoris) von Papst Innozenz VIII. die Bulle Summis desiderantes affectibus über Schadenszauber ausstellen 26 und in Innsbruck leitete er 1485 verleumderische Verfahren gegen Bürger*innen in einem Ausmaß ein, dass sie ihn aus der Stadt vertrieben. In Speyer veröffentlichte er den „Hexenhammer“, Malleus Maleficarum, und 1496 bezeichnete er sich als „lector ecclesiae Salzburgensis“. 27 Doch setzten Salzburger Kleriker eher auf den Sinn

Dirk Hoerder, Crowd Action in Revolutionary Massachusetts, 1765–1780, New York 1977, 141. Auch Konrad in Marburg hatte sich vom Papst (Gregor IX.) eine Bulle, Vox in rama (1233), gegen Ketzer ausstellen lassen: Sie trieben in Konrads und Gregors Fantasien rituelle Unzucht und veranstalteten Kultfeiern mit Teufeln. 27 Jakob Sprenger, oft als Koautor genannt, scheint ein Gegner von Kramer gewesen zu sein. Johannes Dillinger, Hexen und Magie. Eine historische Einführung, Frankfurt/M. 2007, 48. 25

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Die „Last der Kirche“ und das „rechte“ Evangelium

von Reue, „Reumut“, denn auf Strafe (Provinzialsynode 1569). 28 Armut der Pilger*innen galt als christlich, doch erschienen ihre wachsende Zahl und ihr forderndes Auftreten in der persecuting society als suspekt. 29 Zigeuner, angeblich aus dem Osten und „türkische“ Kundschafter, stellten Maler mit Turban dar und niemand durfte ihnen Unterkunft gewähren. Handel war ihnen verboten und Reichstage verordneten ab Mitte des 15. Jahrhunderts Landesverweisung. In Salzburg betrögen sie, geschlechtsspezifisch, „die Armen und Ainfaltigen unnser unnderthanns weib“ und waren bei Straftaten zu verbannen, bei Rückkehr zu verbannen, bei unverdächtigem Leben zu verbannen. Die Strafen waren terroristisch, aber – gemäß Augustins character indelibilis der Exekutivorgane – keine Amtsperson durfte wegen Mitwirkung daran behelligt werden. 30 Pilger und Fahrende mögen eine Belastung gewesen sein. Die Belastungen durch die Herren wogen schwerer und die Lebenseigenen dachten über die Evangelien, in denen es Unfreiheit nicht gab, nach. Ihnen war der „Augustinische Konsens“ der Theologen (K. L. Jolly) 31 fremd und sie verabscheuten den „Römischen Konsens“ zu Ablass, Ämterhandel und Luxus. Sie wandten sich „Leutpriestern“ zu und beugten sich über preiswerte Flugschriften, die die falsche Kirche kritisierten. Auch hohe Salzburger Kleriker kritisierten die Missstände. Der aufmerksame und nachdenkliche Bürger Berthold Pürstinger (1465–1543) hatte ziviles und kirchliches Recht in Wien und Perugia studiert und interessierte sich für mystische Glaubenszugänge. Als er 1486 in den Klerikerstand trat, erhielt er zwei Benefizien, ließ dort jedoch Vikare predigen und lebte in der Residenzstadt. Er wurde 1495 Finanzverwalter (magister camerae) des FEB und 1508 als

Bischof von Chiemsee dessen Stellvertreter. Er entschied sich für radikale Kirchenkritik und Verbleib in der Kirche. Er trat für die Bürger*innen ein, als FEB Leonhard 1511 den Rat verhaften ließ. Zuhörer*innen bedrohten ihn, als er 1523 in Kitzbühel gegen die Reformation predigte: Er war gleichzeitig populär und unpopulär. Pürstinger bot Priestern Hilfestellung und Anleitung (Chiemseer Brevier, gedr. Venedig 1516) und schrieb die „Tewtsche Theologey“ (gedr. München 1528) als erste breit verständliche Glaubenslehre. 32 In Onus ecclesiae, „Last der Kirche“ (verfasst 1519, gedr. Landshut 1524) verurteilte er die lasterhafte Kirche. Das Gleichgewicht der Gesellschaft sei durch Unrecht und Missbrauch der göttlichen Ordnung ge- oder zerstört und alle Stände vom Papst und Fürsten bis zum gemeinen Volk müssten zu Gemeinsamkeit zurückkehren: „das Adelsprivileg sei kein Lasterprivileg und die hohen Herrschaften seien ebensogut an göttliche und menschliche Rechtssatzungen gebunden, wie der gemeine Mann, dem man keine Rechte gönnen will.“ In den Reformbestrebungen stünden Junge gegen Alte und (Erz-) Bischöfe zögen unkirchlich mit Schwert und Schlachtrüstung in den Krieg. Dies war eine Anspielung auf FEB und Kardinal Matthäus, der „im glänzenden Harnisch, mit dem Feldherrnszepter in der Hand“ an der Spitze Tiroler Söldner 1523 gegen die Salzburger*innen ritt und seinen wegen „pyrotechnischer Künste und Artilleriekenntnissen“ gefürchteten Feldkaplan Wilhelm die Festungskanonen auf die Bewohner*innen hatte richten lassen. Pürstinger visitierte 1528 die Pinzgauer Pfarrer und stellte ihnen ein positives Zeugnis aus. Er verteidigte „die Rechte der Armen und Unterdrückten gegenüber den maßlosen Ansprüchen der Obrigkeiten“ (Plural): „‚Ecclesia non-

Herbert Klein, „Die älteren Hexenprozesse im Lande Salzburg“, MGSL 97 (1957), 17–50. Ein Pilger namens Koloman war 1012 unter dem Vorwurf, böhmischer Spion zu sein, in Stockerau im Osten der Kirchenprovinz erhängt worden. Er galt schnell als Heiliger. In Mittersill wurde 1575 nach einem schweren Gewitter der Köchin des Pfarrers als Wettermacherin und dem Pfarrer, der zu ihr stand, der Prozess gemacht; beide wurden verbrannt. Als nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges Armut und Landstreicherei massiv zunahmen, wurden 1675–1681 139 Angeklagte zum Tode verurteilt. Vgl. Fritz Byloff in: MGSL 79 (1939) und Heinz Nagl in: MGSL 112–114 (1972–1974). 29 Das Thema „Vaganten“ nahmen literarische Autoren auf und Sebastian Brant stellte in seinem Narrenschiff (1494) Fahrende voller Laster, Quacksalberei, Reliquienhändlerei und anderem dar. Das anonyme Liber Vagatorum (1510; 32 Auflagen bis 1530) listete 28 Bettler-Typen auf. In England folgten The Fraternity of Vagabonds (1561) und A Caveat or Warning for Common Cursitors, Vulgarly Called Vagabonds (1566). Mit Übergang zu munizipaler Armenfürsorge bestimmen Verwalter „legitime“ Arme. 30 Peter Putzer, Zigeunerverfolgung im Salzburgischen, Saalfelden 1996; Klaus-Michael Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin 2011, 9–154. 31 Karen L. Jolly, Popular Religion in Late Saxon England. Elf Charms in Context, Chapel Hill 1996, 71–95. 32 Lateinisch als Theologia germanica (gedr. Augsburg 1531); Onus ecclesiae, 68 S., wurde vielfach nachgedruckt. 28

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Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre

Abb. 11.3 Titelblatt von Onus ecclesiae: Gott und Dämonen

Abb. 11.4 „Triumph imperialen Ruhms“: ehern und gesichtslos, Hans Burgkmair, Stich aus der Genealogie des Kaisers Maximilian I., 1515–1519, die Familie Habsburg auf den Trojaner Hektor zurückführte

nisi post suam ruinam restaurari potest‘ – Die Kirche kann nur nach ihrem Zusammenbruch wiederhergestellt werden.“ 33 Augustiner, unter ihnen in Wittenberg Johann aus Staupitz/ze Stupic (1460–1524), dachten ebenfalls über Religion, Kirche und Gesellschaft nach. Staupitz war in der zweisprachigen sächsisch-böhmischen Kontaktzone von Prag bis Wittenberg aufgewachsen, wo reformatorisches Denken früh Ausdruck fand. Achteinhalb Jahrzehnte nach der Verbrennung von Jan Hus wurde er 1502 Professor an der neuen Universität Wittenberg und berief einen wachen jungen Mönch, Martin Luther. Dieser veröffentlichte 1517 Thesen zur Kritik der Romkirche, genau: Anregungen zur Disputation, die Gläubige dank der Drucktechnik einerseits und ihrer Aufnahmebereitschaft andererseits schnell und weit wahrnahmen. Augustiner-Klöster wurden „Relaisstationen“ der Kirchenkritik, in ihrer Münchener Terminei – Wirtschaftsort für Almosensammler – lebte Staupitz zeitweise. Er übernahm die Position

des Dompredigers in Salzburg, als der FEB den Vorgänger wegen „lutherischer“ Tendenzen auswies. Einer seiner einstigen Oberen trat zum Birgitta-Orden über, Staupitz in den Benediktiner-Orden. Er wurde 1522 Abt von St. Peter. Er predigte gern, forderte Seelsorge und Fürsorge durch gebildete Pfarrer und hob im Sinne des Humanismus und der Innerlichkeit Gottes Gnade und Liebe hervor. Die Petersfrauen waren, wie das Bürgertum, aus dem sie hervorgingen, dem neuen Denken gegenüber aufgeschlossen. Manche verließen das Kloster, andere waren von den Predigten in einem Ausmaß beeindruckt, dass eine von ihnen, die Petersfrau Eva Trost, nach Notizen oder aus dem Gedächtnis sechs Fastenpredigten vom April 1520 niederschrieb und eine Chorfrau des Erentrudis-Klosters sie 1548 abschrieb. Dann vergaßen Theologen diese einzigartige Quelle für Reform-Reformations-Denken in der Kirchenprovinz über Jahrhunderte. 34 Zu den kritischen Denkern zählte Stephan Kastenbauer (1491–1547). Er nannte sich Agricola, trat

Christian Greinz, „Berthold Pürstinger. Fürstbischof von Chiemsee (1465–1542)“, MGSL 44 (1904), 273–328, Zitat 301, Testament: 293–298, Deutsche Theologie: 306–320; Arthur Schwaiger, „Bischof Berthold Pürstinger (1465–1543)“, in: Alois Eder (Hg.), Chronik Saalfelden, Saalfelden 1992, 158–165. 34 Johann Sallaberger, „Johann von Staupitz, Luthers Vorgesetzter und Freund, und seine Beziehung zu Salzburg“, MGSL 117 (1977), 159–200; Maurus Schellhorn, „Die Petersfrauen. Geschichte des ehemaligen Frauenkonventes bei St. Peter in Salzburg (c. 1130–1583)“, MGSL 65 (1925), 113–208. Institutionskleriker setzten Staupitz’ Schriften auf den Index verbotener Bücher und erst in den 1990er Jahren edierten Lothar Graf zu Dohna und Richard Wetzel sie: Staupitz, theologischer Lehrer Luthers, Tübingen 2018, 1–18, Dokumente 21–122. 33

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Die „Last der Kirche“ und das „rechte“ Evangelium

Abb. 11.5 Überfall auf ein Dorf, Georg Pencz, 1531 (Ausschnitt aus dem Blatt „Mars“, Serie „Planetenbilder“, Holzschnitt)

den Augustinereremiten bei, studierte in Wien und verfasste ein umfangreiches Werk über die Heilstaten Jesu. In Wander- und Studienjahren bildete er sich in Italien und war 1519 bayerischer Delegierter der Ordensversammlung in Venedig. Als er anschließend in Regensburg öffentlich reformatorisch predigte, versetzte FEB Matthäus ihn nach Rattenberg (Tirol) nahe der Erzstadt Schwaz. Dort predigte er ebenfalls kritisch. 35 Die vielen Problem-

lagen – Papstkirche, menschliche Gelüste, Gewalttätigkeiten – nahmen Maler und Zeichner auf. Gebildeten waren die Schriften von Francesco Petrarca (Florenz und Avignon, 1304–1374) bekannt, die Bilder von Hieronymus Bosch (Niederlande, 1450– 1516) und des Augsburger Zeitgenossen von FEB Matthäus, Hans Burgkmair (d. Ä., 1473–1531). Letztere lebten zu der Zeit, als Maximilian I. die Niederlande erbte und in Augsburg Schulden

Als ihm und anderen Klerikalen der Prozess gemacht werden sollte, bat er um Pürstinger und Staupitz als Richter. Erzherzogin Anna setzte sich für ihn ein. Er wurde 1524 freigelassen. Ein Neuöttinger Gesellpriester, der den Druck seiner Schriften in Ulm arrangierte, musste fliehen. Heinz Dopsch, „Bauernkrieg und Glaubensspaltung“, in: Geschichte Salzburgs, 2.1:11–131, hier 24–25.

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Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre

Abb. 11.6 Pieter Bruegel d. Ä., „Triumph des Todes“, ein Jahrhundert nach der Pest und lange nach Beginn der Inquisition (1562, mehrere weitere Versionen)

machte. Künstler in der Salzburger und donauländischen Region sprachen mit vielen Maria-mitKind Darstellungen Menschen an (s. Kap. 10.4). Die niederländischen Künstler stellten Gewalt, Lüste und Höllenqualen dar. Bosch zeigte in seinem Weltgerichtstriptychon einen Krieg im Himmel: Unterhalb eines weit oben thronenden alten Mannes stoßen lichte, heldenhafte Engel dunkle, insektenartige in die Tiefe. Dies Bild erwarb die Familie Habsburg (verzeichnet 1659). Das Thema war Teil

des nach 1500 weit verbreiteten Weltbuches Lucidarius (Versionen seit ~1190). Pieter Bruegel (d. Ä., 1525–1569) verband Krieg, Hunger und Tod auf der Erde mit alltäglichen Freuden wie Eislaufen und Bauernhochzeiten. Groteske, scheinbar wenig religiöse Themen arbeiteten die Illuminatoren der Grillinger-Bibel (Salzburg, 1428) in ihr Meisterwerk ein, die des Schwazer Bergbuches sahen Krieg als Bedrohung für den Lebensunterhalt. Zwar galt Dämonenglaube als heidnisch oder

Abb. 11.7 Untier, Illustration im Perikopenbuch von St. Erentrud, um 1150 (Deckfarben/Pergament)

Abb. 11.8 Hieronymus Bosch, Kirche als scorpio-Fisch („Die Versuchung des Heiligen Antonius“, um 1500, linker Flügel, Detail)

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Kritisches Denken und Befreiungsversuche seit 1462

Abb. 11.9 Verbreitung der Befreiungskriege

als Aber-Glaube, super-stitio, doch waren Versucher*innen wie Teufel, Hexen und Geister in der christlichen Praxis sehr präsent. Buchmaler*innen hatten seit Jahrhunderten animalische Satiren auf das menschliche Verhalten in Stundenbücher, Psalter und Naturgeschichten eingefügt und Steinmetze dämonische Fratzen in sakrale Bauten gemeißelt: Schutzzauber, um dem Bösen das Gesicht zu bieten? Oder Porträts unerwünschter Zeitgenossen? Die bildliche Kritik erinnert an die dichterische der Goliarden und die verkehrte Welt der Domschüler.

Die Evangelien-Gläubigen in der Kirchenprovinz verwendeten die Gestalt des Teufels in ihren Anklagepunkten gegen FEB und Kirche 1525. Sie wollten die Last der verlogenen Kirche als Teil des Bösen abwerfen und nach freier Gewissensentscheidung und Erwachsenentaufe leben. Die „Wiedertäufer“, manchmal als radikaler Flügel „der Reformation“ (Singular) abgetan, knüpften an Tauf- statt Institutions-Traditionen an. Dies Fragen und Denken war schon lange vor dem Ereignis „Reformation“ präsent.

11.4 Kritisches Denken und Befreiungsversuche seit 1462 Die Ungleichheit, die nach dem Großen Sterben ein Jahrhundert lang geringer geworden war, nahm seit etwa 1450 wieder zu. 36 Nach ihrem Widerstand gegen die Forderung FEB Burkhards 1462 suchten Gläubige über drei Generationen ihre Lage zu verbessern: Im Protest versammelten sich Menschen in 36

der Steiermark 1469 und 1470; in Kärnten schlossen andere 1478 ihren Bund und richteten einen eigenen Rat und eigene Gerichte ein; im Ennstal gaben „Bauern“ sich Statuten. Die Kärntner*innen weigerten sich, Steuern an die Grundherren zu zahlen, die Ennstaler*innen wollten sich von den Ad-

Laufende Forschungen der Projekte „Economic Inequality across Italy and Europe 1300–1800“ und „Social Mobility and Inequality“ (Stand 2019).

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Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre

Abb. 11.10 Ausbreitung alternativer Glaubensüberzeugungen (römisch-katholisches Bekenntnis nicht dargestellt)

monter und St. Peter-Mönchen sowie den Domherren befreien. Doch vier Erzbischöfe, das heißt vier Weihsteuern in den acht Jahren von 1487 bis 1495, wandelten „unbekümmert um alte Privilegien und Freiheiten“ „Landeshoheit zu Landesherrlichkeit“. FEB Leonhard nahm Salzburger*innen die Rechte des kaiserlichen Ratsbriefs; Ramingsteiner Erzleuten, die eine gerechte Behandlung gemäß ihrer „Freyung“ von 1459 forderten, warf noch mehr als drei Jahrhunderte später kurz vor der französischen Revolution ein Verweser „republique mässigen“ Eigenwillen vor. 37 Grund- und Zehntherren, oft nicht identisch, suchten fallende Erlöse bei steigendem Geldbedarf durch Verpachtung zukünftiger Zinseinnahmen, neue Banne und Wiedereinführung von RobotLeistungen zu kompensieren. Herren, im Waldviertel zum Beispiel, hatten Zehnte zu einem Teil des

freien Handels gemacht: Die Berechtigten wechselten schnell, teilten Abgaben bis auf Dreißigstel„Zehnte“, die sie auf zwanzig, dreißig oder mehr Prozent der Ernten steigerten. Die Herren erhoben Weidegeld für die Grasung von Vieh, Mühlen- und Backhausgeld, Ungeld auf Getränke. Hinzu kamen Markt- und Abnahmezwänge. Manche Abgaben, seit dem Großen Sterben nicht eingehoben, waren aus der Erinnerung verschwunden, andere erfanden die Mächtigen und ihre Kämmerer neu. 38 Für Menschen von Wien und der Steiermark im Osten bis Freising, Innsbruck und Brixen im Westen waren „Maximilian“ und „Matthäus“ Kürzel für alte Schulden und neue Kriege. Sie wollten die Verwaltung zentralisieren, aber kein controlling ihrer Ausgaben dulden. Schulden-reiche Landesfürsten übergaben Gläubigern als Pfänder weiterhin Menschen-auf-Ländereien, der sogenannte Landes-

Karl Köchl, „Die Bauernkriege im Erzstift Salzburg in den Jahren 1525 und 1526“, MGSL 47 (1907), vi, 1–117, hier 5; Max von Wolfskron, „Zur Geschichte des Lungauer Bergbaus mit besonderer Berücksichtigung von Ramingstein und Schellgaden“, MGSL 24 (1884), 131–250, Freyung: 137–138. 38 Herbert Knittler, „Agrarraum und Stadtraum. Ländliches und städtisches Wirtschaften im Waldviertel vom 16. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert“, in: ders. (Hg.), Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels, Horn 2006, 77–194, hier 82–86. 37

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Kritisches Denken und Befreiungsversuche seit 1462

ausbau war oft Privatisierung. Den besonders gierigen Georg (Freiherr in Thurn) brachten die Leidtragenden der Pfandschaft Gottschee/Kočevje 1512 um und andere wehrten sich in den Pfandschaften Tolmein/Tolmin, Billichgratz/Polhov Gradec, Rann/ Brežice und Reifnitz/Ribnica in Unterkrain. Pfarrer predigten gegen die kaiserliche Urbarsteuer. Alle Beteiligten hatten – sicher nicht konfliktfreie – dörfliche Gmain-Erfahrung, einige sahen sich vermutlich unter Solidarisierungszwang. Bei Rann und im Sanntal bildeten im März 1515 etwa 20.000 Betroffene einen Bund. Sie re-appropriierten – herrschaftssprachlich: plünderten – den Besitz des Dominikanerinnenklosters Studenitz/Studenice. Zentrum des obersteirischen Widerstandes war die Pfandherrschaft Gonobitz/Slovenske Konjice zwischen Pettau/Ptuj und der Krainer Grenze. Die Tausende Zählenden formulierten ein Programm und bildeten einen Ausschuss von 300 Personen, der mit einer Kommission des Landhauptmanns Sigmund (Dietrichstein) verhandelte. Die Bewegung breitete sich vom Drau- ins Sulm- und Murtal aus. In Kärnten wählten 3000 Lavanttaler im Raum Pustritz/Rojach eine zehnköpfige Führung. Bewohner*innen benachbarter Täler und Orte bis Straßburg und Lienz sowie Hüttenberger Erzleute schlossen sich an, andere zeigten sich explizit bundfreundlich. In Krain und Untersteiermark plünderten die Ausgeplünderten Burgen, zerstörten Meierhöfe, ließen Fischteiche ab, trieben Vieh weg. Sie riefen nach stara pravda, alter Freiheit-WahrheitGewohnheit: „Hört wunder zu! Der baurn unrue Thet sich so ser auspraitten. Aus irer gemain thetn si schrein: Stara pravda!“ Der Chronist plante Erinnerung: „Der baurn list man nit vergist zu singen und zu schreiben“. 39 In Kärnten unterwarf der Landhauptmann mit 1300 Knechten und 350 Reitern die Kämpfer für alte und, vielleicht, neue Rechte; nach Unterkrain zogen habsburgische Truppen mit Befehl, die alte Ordnung „mit todslahen, prannt, spiessen und henkhen“ wiederherzustellen. Die Söldner „taten mit raub vnd brandt grossen schaden, hiengen und spiessten vill der bauern haubtleut und ihre räthe“,

zündeten deren Höfe an und köpften etwa 200 „Rädelsführer“. Die Bauern mussten im August 1515 „huldigen“, hohe Brandschatzungen zahlen und dem Bund abschwören. 40 Einigen gelang die Flucht ins Veneto und sie berichteten dort über ihre Leiden. In der Stadt Augsburg hatten sich besonders Weber-Familien, zuerst 1397 und dann 1466/67 zu Lebzeiten von FEB Matthäus’ Eltern, gewehrt. Wiener*innen wehrten sich 1462 gegen Ungeld-Forderungen von Maximilians Eltern und beschossen die Burg, in der der Dreijährige lebte. Sie kämpften 1519 erneut gegen das Regime der kaiserlichen, deutsch-sprachigen Beamtenschaft und der spanisch-sprachigen Räte. Sie hatten im Stephansdom dem (noch lateinkirchlichen) Prediger Paul Sprett/ Speratus (1484–1551) zugehört, der gegen romkirchliche Doppel- oder Vielfachmoral wetterte. Salzburger*innen hatten ihn 1514 in der Stadtpfarrkirche angehört. Die Wiener Reformer richteten eine neue Regierung ein. Ihr Bürgermeister Martin Siebenbürger war erfahren, denn in sequenzieller Wanderung war die Familie aus Hermannstadt gekommen. Doch Ehz Ferdinand, der samt Räten in die Wiener Neustadt geflohen war, ergriff die Macht erneut und nannte dies Wiederherstellung der Ordnung: Sein „Blutgericht“ ließ Bürgermeister und sechs Sprecher hinrichten, ihre Leichname zur Schau stellen, ihren Besitz an seine Berater verteilen. 1526 nahm er der Stadt alle Rechte und machte sich und seine Nachfolger zu absolutistischen Landesfürsten. Spanisch-kirchlich sozialisiert, ließ Ferdinand die Priester Jacob Peregrin und Johann Vaesel sowie den Tuchhändler und Laienprediger Caspar Tauber wegen protestantischer Sympathien verhaften. Peregrin musste wie einst Abelard seine Bücher öffentlich verbrennen und vor den Gelehrten der Universität abschwören; Vaesel kam ein Jahr in Klosterhaft und musste lebenslänglich schwarz gekleidet einhergehen; Tauber ließen die Kleriker enthaupten und seinen Leichnam verbrennen. 41 Offiziell blieb Wien lateinkirchlich, öffentlich strebten viele in die Kirchen protestantischer Adliger vor der Stadt. Die katholische Familie Habsburg-Österreich

Karl Brunner und Gerhard Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht: Der Bauer im Mittelalter: Klischee und Wirklichkeit, Wien 1985, 133–136. Ernst Bruckmüller, „Die Strafmaßnahmen nach den bäuerlichen Erhebungen des 15. bis 17. Jahrhunderts“, in: Erich Zöllner (Hg.), Wellen der Verfolgung in der österreichischen Geschichte, Wien 1986, 95–117, Zitat 97; Roland Schäffer, Der obersteirische Bauern- und Knappenaufstand und der Überfall auf Schladming 1525, Wien 1989, 4–7. Vgl. auch Wilhelm Zimmermann, Allgemeine Geschichte des großen Bauernkriegs, 3 Teile, Stuttgart 1848, 3:885–908. 41 „Brennen für den Glauben. Wien nach Luther“, Ausstellung Wien Museum, Februar–Mai 2017. 39

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war beschäftigt: „Der Türk ist der Lutherischen Glück“, hieß es. Die „Untertanen“ agierten als konservative Neuerer oder erneuernde Konservative. Sie begründeten ihre Gesellschaftssicht aus Jesu Armut und verlegten die Verbesserung menschlichen Lebens aus kirchlich-zukünftigem Jenseits in das gelebte Diesseits. Lasen sie die Bibel genauer als Kleriker? „Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines

hat; und wer zu essen hat tue ebenso“, sagte Johannes zu Menschen, die getauft werden wollten, und fügte an Zöllner gewandt hinzu, „Fordert nicht mehr als euch vorgeschrieben ist!“ Auf die Frage von Soldaten antwortete er, „Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und laßt euch genügen an eurem Sold!“ Die Theologie der Untertanen, „Vor Gott sind alle Menschen gleich“, wies den KirchenväterKonsens zurück.

11.5 Befreiungsforderungen: Von Beschwernissen zu Selbstbestimmung und gerechter Obrigkeit 42 In der Kirchenprovinz entschieden sich Zehntausende, im gesamten deutsch-sprachigen Raum Hunderttausende für aktiven Protest, Millionen für

protestantische Formen (Plural), das Christentum zu leben.

1476 Aufstand in Franken (Pfeifer von Niklashausen), 1493 Oberrhein („Bundschuh“), 1514 Schwaben („Armer Konrad“), 1514 Ungarn (György Dózsa), 1515–1523 friesischer Bauernaufstand (Pier Gerlofs Donia, Wijard Jelckama), 1515 Krain, 1519 Tirol, seit den 1520er Jahren Erhebungen im Süden Frankreichs gegen die verhasste Salzsteuer (gabelle), die angesichts ihres Salzbedarfs besonders körperlich Arbeitende traf, ab 1524 Bauernerhebungen und bünde in Schwaben, Franken, Thüringen, Elsass.

In den lateinkirchenweiten Bewegungen stellten ländliche Menschen die Mehrheit, doch war ihre Zusammensetzung sozial vielschichtig: Die Zehntverdrossenen suchten für Gegenwart und Zukunft alte, vielleicht vermeintliche, Rechte erneut zu erkämpfen. In den Herrschaften Süddeutschlands – im Schwarzwald, in Schwaben und den sogenannten vorder-habsburgischen Gebieten – verweigerte 1524/25 ein Großteil der Bewohner*innen Zehnte und Dienste. Chronisten bezeichneten sie als „tewscht“ oder „deutsch“. Dies wirft die Frage auf, ob die Herrscher, die die Bewegung niederschlugen, nicht deutsch waren? Gab es einen Raum- und Diskursteiler zwischen Deutschen und Herrschenden? In der Kirchenprovinz agierten 1525/26 frühkapitalistisch-wohlhabende Gewerken und Metallhändler, die sich von dem FEB-Monopol bedroht sahen, sowie Bergarbeiter-Familien, Markt- und Stadtbewohner*innen, Land- und Handwerkende, Sölhäusler*innen. 43 Die Vertreter von Salzburg-Stadt

hatten für den Landtag 1495 ihr Denken in grundsätzliche Forderungen konsolidiert und 1525 fügten Bewohner*innen der Gebirgsgaue die Ablehnung der Leibeigenschaft hinzu. Sie nannten in ihren Beschwerde- und Forderungsschriften – manche konnten lesen und schreiben – ökonomische, soziale und religiöse Gründe. Ihre Klerikerkritik glich der des EB Arn mehr als sieben Jahrhunderte vorher. In Süddeutschland Lebende stellten im Februar 1525 in der Stadt Augsburg ihre Forderungen in Zwölf Artikeln als Flugschrift zusammen: Wahl und Absetzung von Pfarrern durch die Gemeinden und Bezahlung aus dem Gemeindezehnt; Pfarrer sollten reines, clar, Evangelium predigen, statt „Fabelwerk“ von Mäusen, Meisen und Hasen; Überschüsse aus dem Gemeindezehnt sollten den Armen zugutekommen; Abschaffung der Leibeigenschaft insgesamt und, im Besonderen, der Todfallgebühren, des Weinzehnts, der Wild- und Fischbanne; freie Holznutzung; Dienste nach alt-

Dopsch, „Bauernkrieg“, 1.2:11–131, bes. 1.2:12–19; und Franz Ortner, „Reformation und Gegenreformation“, ebd., 1.2:133–166, bes. 1.2:133–139. Offizielle Erinnerer sprachen von „Bauernkrieg“. Der Kampf niederländischer „Aufständischer“ gegen die Familie Habsburg-Spanien gilt als „Befreiungskrieg“. Sie schrieben ihre eigene Geschichte, süddeutsche und salzburgische „Bauern“ durften dies nicht.

42 43

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Befreiungsforderungen: Von Beschwernissen zu Selbstbestimmung und gerechter Obrigkeit

Abb. 11.11 Titel der Memminger Bundesordnung der Bauern, 1525 Die Akteure blicken selbstbewusst-nüchtern, die Darstellung kontrastiert mit Karikaturen von Bauernhochzeiten durch regimetreue Künstler.

hergebrachtem Maß laut Gottes Wort; Neufestsetzung der Grundrenten (Gült); Fixierung der Gerichtsbußen; Rückgabe entfremdeten Grundes an die jeweilige Gemeinde. Die Bundleute waren bereit, sich auf Streitgespräch und Argumente einzulassen: Sollten sie aus der Heiligen Schrift widerlegt werden, würden sie die betreffenden Forderungen zurücknehmen. Die oberschwäbischen bildeten eine „Christliche Vereinigung“ und verfassten eine Landesordnung. Die Verbreitung der Zwölf Artikel verboten die Brüder Habsburg, aber reagierten darüber hinaus nicht, denn Karl lag mit dem König Frankreichs und Ferdinand mit dem osmanischen Sultan in Streit. Die südwestdeutschen Landesherren heuerten Söldner an, die die Freiheitskämpfer vernichteten, und ihre Administratoren stellten das Regime Kolonialherren-über-Einheimische wieder her. In Tirol erhoben sich 1525 die vom Kaiser an 44

Abb. 11.12 Herrschersicht: „Tu supplex ora – Tu protege – Tu labora“, Ende 15. Jh.

die Fugger-Bank verpfändeten Bergleute und wählten Michael Gaismair aus einer Gewerken-Familie als Hauptmann. Ihnen schlossen sich Menschen in Südtirol an und formulierten nach dem Vorbild der Zwölf Artikel in Meran 62 Artikel: Abschaffung der weltlichen Herrschaft der Kirche; Auflösung der Klöster; Übergabe klösterlichen Grundbesitzes und Rückgabe aller Pfandschaften an den Landesherrn; Aufhebung der kostenträchtigen Gerichtsherrschaften. Ehz Ferdinands Söldnertrupps waren in Wien, Steiermark und Krain beschäftigt, der FEB konnte die Befreiungskämpfer nicht niederwerfen. Auf die Forderungen wollten beide nicht eingehen. 44 Vielen stand Gott fern, Christus und Maria vermutlich näher, allen stand „Gevatter“ Tod als Gleichmacher nahe. Aber begann Gleichheit erst bei Tod? In einer später verschriftlichten Erzählung suchte ein armer Mann einen Gevatter für sein dreizehntes Kind – eines mehr als die magische Zahl „zwölf“. Gott bot sich an, der Mann wies ihn ab („du gibst dem Reichen und lässt den Armen hungern“) und ebenso den Teufel („du betrügst

Schäffer, Bauern- und Knappenaufstand, 9–11.

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Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre

Abb. 11.13 Frauen vertreiben Geistliche, Lucas Cranach d. Ä., um 1537 (eine von mehreren Fassungen)

und verführst die Menschen“); er akzeptierte den Tod, „du machst alle gleich“. In anderer Bildlichkeit schien Christus, auf einem Regenbogen sitzend, die Ständeordnung zu segnen: Zwölf Magnaten, je sechs geistliche und weltliche inklusive Papst und Kaiser ohne Handwerk, blickten die zwei hackenden Zehntverpflichteten nicht einmal an. Das Bild illustrierte die Prognosticatio des Johannes Lichtenberger (~1426–1503), der in seiner mehr als fünfzig Auflagen erreichenden Schrift soziale Unruhen und natürliche Unwetter voraussagte. Die Niedrigen würden sich gegen die Mächtigen zusammenschließen, die Armen aufsteigen und die Reichen herabstürzen. Segnete Christus in dem Bild die Ordnung oder dachte er an seine Vorstellung von Gemeinschaft? Die Menschen der Kirchenprovinz formulierten ihre Sorgen: „Artikel der Landschaft Gastein“, „Gemainer Stat Salzburg beswerung“ in 59 Klagepunkten – juristisch genau, „sambt anzaigung ordentlicher hinlegung derselben“ 45 – und in den 24 Artikeln der „armen und ersamen gemein“. 46 Sie formulierten biblisch-herrschaftlich-bildlich. Der Teufel, der wie die Großen mit Jagdhund agierte, hätte sich Beschwernisse ausgedacht: „Ehrung“ oder „Anlaite“ bei Besitzerwechsel, um arme Grundholde von ihrem Besitz zu vertreiben; Zinsen, Dienste und Aufschläge sowie Schreib-, Siegel- und Trinkgelder; Wald und Lüfte, das heißt Holz, Wild und Vögel, mit Bann belegt; Hausbau

mit Abgaben belastet; Ungeld. Das Gerichtswesen widerspreche der göttlichen Ordnung, denn gemeine Leute erhielten kein Recht und Scharfrichter nahmen Armen für Kleinigkeiten das Leben. Pfleger, Richter und Edelleute legten ihnen große Nachteile auf, Kleriker richteten sich nach Papst und Kurtisanen. Die Gesellschafts-Denker – angesichts der Zahl der Beteiligten und derer, die sich den Forderungen bewusst nicht anschlossen, mehrere Zehntausend – strukturierten ihre Konzeptpapiere für die Zukunft. Sie begannen mit dem EvangelienGlauben, forderten im zweiten Schritt wirtschaftlich-sozial die Abschaffung der Miss-Herrschaft und unrechtmäßig erhöhter Abgaben und, drittens, die Gleichheit aller vor den Gerichten. Sie konzipierten eine politische Gemeinschaft aller oder, vielleicht, aller Produzierenden ohne Welt- und Kirchenadel. Alltagsweltlich und politökonomisch – so lassen sich die Artikel zusammenfassen – war das gesamte System korrupt und der göttlichen Ordnung zuwider. „Gaistlich Obrigkeit hoher vnd nider ständt“ habe „gottes wort und evangelium“ verdunkelt und „ergetrückht und dem gemainen armen mann schlechtlich oder gar wenig geoffnwart und entdeckht“. Prediger sollten das Wort Gottes lauter und ohne Zusätze verkünden, Gemeinden sollten sie und Spitäler angemessen unterhalten. 47 Gottes Gerechtigkeit gelte all „seinen Geschöpfen“ und er litte Ungerechtigkeit nicht. In vernichtender Kritik

Die Stadtbürger*innen wollten den mühsam erhandelten Fortschritt des Kaiser-Briefs von 1481 wiederherstellen, zusätzliche Steuern (Ungeld) verhindern, Rückzahlung eines Darlehens durch den FEB erreichen und ihren Spitalmeister selbst bestellen. 46 Abgedruckt in Friedrich Leist, „Quellenbeiträge zur Geschichte des Bauern-Aufruhrs in Salzburg 1525 und 1526“, MGSL 27 (1887), 241–408; Albert Hollaender, „Die vierundzwanzig Artikel gemeiner Landschaft Salzburg, 1525. Ein Quellenbeitrag zur Geschichte des Bauernkriegs in Südostdeutschland“, MGSL 71 (1931), 65–88; „Gemainer stat Saltzburg beswerung“, in: Johann Widmann, „Zwei Beiträge zur Salzburgischen Geschichte 1897“, Digitale Edition Heino Speer 2012, http://repertorium.at/sl/widmann_1897.html (31. August 2020). 47 Leist, „Quellenbeiträge“, 246. 45

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Befreiungsforderungen: Von Beschwernissen zu Selbstbestimmung und gerechter Obrigkeit

formulierten die Gotteshausleute, dass Kleriker, Päpste eingeschlossen, die Menschen zum Teufel geführt, Geschichten erdichtet, sie in ihr Geldnetz gejagt und mit Simonie, Betrügerei sowie Wüterei unterdrückt hätten. Die Grundherren seien mehrheitlich geistlose, antichristliche Räuber; Pfründensuchende liefen nach Rom; der Papst habe solche Buben samt ihren Metzen und Kindern Pfarren verliehen: Tyrannische Obrigkeiten handelten nicht evangelisch. 48 Die hauswirtschaftenden Laien analysierten das herrschaftswirtschaftliche Finanzregime: Arglistig würden Menschen durch Ablassverkauf um ihr Geld betrogen. Dies Problem war Gemeinden oft nah, denn auch Kleriker einzelner Kirchen erhielten bei Finanzbedarf die Erlaubnis, Ablässe zu verkaufen und sie ordneten an, dass, wer nicht zahlen könne, die Summe abarbeiten müsse. Der Dominikaner Johann Tetzel, Großinquisitor des Deutschen Ritterordens in Litauen-Polen und Kommissär für Ablässe im gesamten ZWR, verteilte seine Einnahmen an Rom für den Bau des Petersdoms, an EB Albrecht Hohenzollern in Brandenburg zur Schuldentilgung und behielt den Rest für sich. Niedere und höhere Kleriker, so fuhren die Laien fort, verkauften Sakramente und Grabstätten, fluchten und rauften, misshandelten Pfarrmitglieder und betrieben Unzucht. Zur Institutionskritik fügten sie Systemkritik hinzu: Der Zehnt träfe Arme besonders hart. Rechtlich forderten sie – als Rückkehr zu den Evangelien oder als Neuerung – Gleichstellung: Geistliche und Weltliche, Edle oder Unedle sollten nur einem Gericht unterliegen; Adel, Pfaffen, EBHofgesinde und Inwohner sollten kommunale Verpflichtungen und Lasten mittragen. Dekret- und Herren-Recht waren un-recht; Bauleute wussten, dass spirituelle Bedeutung, Statik und Ästhetik recht sein mussten, und Landleute, dass Saat und Ernte recht sein mussten. Sie wussten, dass Leibeigenschaft unrecht und unchristlich war. Die Menschen in der Kirchenprovinz standen

nicht allein. Ein „Oberrheinischer Revolutionär“ klagte: Pfaffen und Mönche haben die Schafe geschoren und das Fleisch unter der Haut des armen Mannes sich zugeeignet. Und das hört nicht auf. Der Pfaffe verdient einen Gulden an dem toten Körper. Er sagt, er wolle ihn und alle seine Vorfahren dem Teufel entreißen, und verlangt vier oder acht Schillinge für die Seelenmesse nach dem dreißigsten Tag, ein Pfund für das Jahrgeld und 20 Gulden für ein Gedächtnisamt, dazu das beste Kleid, und der Vogt oder oberste Richter fordern das beste Stück Vieh. Wo das nicht bar vorhanden ist, wird all sein Eigentum gebannt und verpfändet. Und es findet sich kein Fürst oder Herr, der da spräche: das ist Unrecht.

Ein Franziskaner erzählte von einem dörper, der mehrfach versuchte, sich bei einem Doktor der Rechte Gehör zu verschaffen. Dessen Knecht wies ihn ab, bis er mit einem blökenden Ochsen kam. Der Knecht hielt diesen für ein Geschenk und versprach Zutritt. Daraufhin fiel der Bauer „vor dem Ochsen auf die Knie und sprach: ‚Es ist billig, dass ich dich verehr, denn du verschafftest mir Gehör.‘“ 49 Viele nahmen wahr, wie Institutions-Kleriker speisten. Ein Kleriker aus Caorle (Friaul) reiste 1485 bis 1487 zu einer Visitation in Kärnten, Steiermark und Krain (Patriarchat Aquileia) und beschrieb mit genussvollem Detail die zum Beispiel in Hermagor (westlich Villachs) gereichten Speisen in zwölf (!) Gängen: junges Huhn und fetter Kapaun, frische Fische mit besonders schmackhafter Leber, Brathühner und Lammrücken, Eier mit süßem Apfelmus, gewürzt mit Safran 50 und ein wenig Essig, Fischsuppe, „Gefeffertes mit Gemsfleisch“, „zartestes Backwerk auf Schnee kaltgestellt oder besser gesagt mit bestem Zucker bedeckt, Kraut und Speck, süßes Mus, gebratene Kapaunen, Lammfleisch in eigenem Saft, als Nachtisch Käse und frisch gepflückte Früchte, dazu schneeweißes Brot, Weißwein und Rotwein.“ Die Delegation holte Opfergelder ein – man erwerbe sie nicht ohne Schweiß, klagte der Autor. Wandernde Scholaren, wie der Züricher Humanist Thomas Platter, muss-

Franz Martin, „Aus päpstlichen Supplikenregistern“, MGSL 54 (1914), 97–117. Kleriker beklagten die unkanonische Vergabe von Positionen durch den Papst (s. Kap. 9.8). Laien sahen Partnerinnen, die nicht – wie bei Handwerkern und Bauern üblich – auch Hauswirtin und Mitproduzierende waren, als ausgehaltene Frauen. 49 Siegfried Epperlein, Bäuerliches Leben im Mittelalter: Schriftquellen und Bildzeugnisse, Köln 2003, 142, 159 (Zitate). Ein Kitzinger Bürgersohn, Conrad Stürtzel, wird als Autor vermutet. 50 Im Safrananbau in der Lombardei und Südwestfrankreich ernteten Pflücker*innen höchstens 80 Gramm der roten Blütenfäden pro Tag, 120.000 bis 200.000 Fäden ergaben ein Kilo. Safran (pers. das Gelbe) war Färbemittel für Speisen, ihm wurde Heilwirkung zugeschrieben und er galt als Aphrodisiakum. Häberlein, Aufbruch, 79–80. 48

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Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre

Abb. 11.14 a) und b) Pieter Bruegel d. Ä. stellte die „Küche der Reichen“ der „der Armen“ gegenüber, 1563 (Kupferstiche), Nachzeichnung von Pieter van der Heyden

ten sich gelegentlich tagelang auf rohe Zwiebeln mit Salz, gebratene Eicheln, Holzäpfel und Birnen sowie Waldfrüchte beschränken; der Autor einer Flugschrift klagte: „Wen ich ein supen und eyn Brey oder ein Milch hab unnd eyn wasser krug, so hab

ich wol gelebt“; eine hungrige Magd konnte sich einen Pfannkuchen nur dank eines geschenkten Eis und eines Löffels Mehl zubereiten. 51 Sie alle wussten um Ungleichheit.

11.6 Der FEB und seine Räte: Was tun? Die Pflegrichter beklagten die Empörung der Untertanen. Diese besprachen sich vermutlich in Hufengemeinschaften bei ihren bescheidenen Abendessen und in Werkstätten oder bei Kundenkontakten über das – in den Worten der Pflegrichter – „ungeistliche Leben des Klerus“. Die Räte des FEB, unter ihnen Berthold Pürstinger, befassten sich als Erstes und intensiv mit den Dorf- und Stadtpfarrern und wiesen sie einmal mehr an, Gottesdienste zu halten, sich klerikal zu kleiden, Wirtshäuser nicht zu besuchen, nicht Handel und Schank zu betreiben, keusch zu leben, Sakramente ohne Gebühr zu erteilen, sich nicht durch Pfründe Weltlicher korrumpieren zu lassen. Eine Untersuchung des Archidiakonats 1523 bestätigte die „verfallene Zucht des Clerus“. 52 Der Passauer Mönch hatte

zweieinhalb Jahrhunderte früher gleiche Beschwerden gehört (s. Kap. 9.10), die Verantwortlichen hatten seither nichts getan oder nichts erreicht. Die Räte bezeichneten das kritische Denken als „lutherisch“ – die Personifizierung war falsch, das Reformdenken weit verbreitet. „Protest“ und „protestantisch“ sind neutrale Beschreibungen. 53 Luther ließ 1520 in Wittenberg, wo Drucker leben durften, seine Schrift Von der Freyheyt eynes Christenmenschen herstellen. Hätte er je Unfreien zugehört, hätte er gewusst, dass die Feststellung „jeder Christenmensch ist ein freier Herr“ das verbreitete Denken traf, nicht jedoch sein obrigkeitlicher Zusatz, jeder sei auch „dienstbarer Knecht … und jedermann untertan“. Wie wenig Luther das Leben und Handeln der ländlichen Gläubigen verstand, würde

Robert Jütte, „Schmalhans als Küchenmeister“, Damals 50.2 (2018), 46–47. Als Beispiel für klerikale Streitereien: Die Domkanoniker hatten sich „Ehrenvorrang“ gegenüber Abt und Mönchen von St. Peter „durch List und Trug erschleichen“ wollen und, als der FEB dies ablehnte, einen Beschwerdeführer zur Kurie gesandt. Dort behauptete ein Doktor der Rechte, Gundisalvo de las Casas, Rechte auf die Einnahmen des Klosters gemäß einer Verfügung des hl. Stuhls zu haben. St. Peter musste ihn mit „50 Goldstücken“ abfinden. Willibald Hauthaler, „Cardinal Matthäus Lang und die religiös-sociale Bewegung seiner Zeit, 1517–1540“, MGSL 35 (1895), 149– 201, hier 170, 179. 53 Nach der „Speyrer Protestation“ (Reichstag, 1529) gegen die Aufhebung der 1526 verabschiedeten Rechtssicherheit und Glaubensfreiheit für die Städte und Länder, die sich reformatorischem Denken und Liturgie angeschlossen hatten. Standessoziologisch einzuordnen sind die „Pfaffenkriege“ von Reichsrittern – einer „arbeitslosen Kriegerkaste“ – wie Ulrich (Hutten) und Franz (Sickingen). 51

52

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Der FEB und seine Räte: Was tun?

seine Polemik Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren (1525) zeigen. Er und seine Frau Katharina Bora hatten sich aus klösterlicher Unfreiheit befreit, 54 ländliche Menschen suchten ihrer Unfreiheit zu entkommen. Wittenberg war Salzburg nah: Die dort 1502 gegründete Universität wurde dank der offen denkenden Lehrenden schnell bekannt und Söhne aus Gewerken- und Bürger-Familien zogen zum Studium dorthin, unter ihnen Wolfgang Rosperger (Salzburg), Christoph Weitmoser (Gastein), Georg Brenner (Werfen), Siegmund und Rupert Matschauer (Salzburg), andere aus Hallein. Als ein päpstlicher Legat während des Reichstags im quasi-protestantischen Nürnberg gewahr wurde, dass viele dem Papst nicht mehr „treu“ waren, ließ er die süddeutschen Fürsten festlegen, dass ein Wittenberger Studienabschluss von kirchlichen Ämtern disqualifiziere. Der Salzburger FEB bestätigte das Berufsverbot. Andersdenkende, vielleicht an seinem Hof, schrieben ein „Pfaffenlied“ mit sexuellen Anspielungen; Pfullinger Klarissen (Schwaben) dichteten es um und zielten auf einen Mönch, der Gottes Huld verloren hatte. 55 Die FEB-Räte oder Kriegsräte traten häufiger zusammen, denn erstens sprachen auch Welt- und Kirchenadel sich ab, kirchliche Ungelder nicht zu zahlen, und zweitens überlegten die Nachbarherrscher Wittelsbach und Habsburg, „ihre“ Kirchen – räumlich identisch mit großen Teilen der Kirchenprovinz – durch Reform des Klerikerlebens zu festigen. FEB Matthäus lehnte dies als weltliche Eingriffe in „seine“ Kirche ab und die ratlosen Räte sprachen die „neuen Glaubenssätze“ nur beiläufig an. Stattdessen bezeichneten sie alternativ denkende Geistliche als „Winkelprediger“, wie englische einst über „Heckenprediger“ geschimpft hatten. Sie verboten das Lesen und Abschreiben sowie den Druck und Verkauf lutherischer Schriften und

sandten Mandate – Drucklegung in Augsburg, denn in Salzburg hatte sich kein Drucker niederlassen dürfen – an alle Amtleute, die die Aufforderung zu erhöhter Wachsamkeit zu kopieren und weiterzugeben hatten. Das Verbot hatte wenig Wirkung. In der Provinz handelten und nächtigten Kaufleute aus Nürnberg auf ihren Wegen nach Süden, Säumer verbreiteten Flugschriften, Messner und Organisten gaben Unterricht in Lesen und Schreiben deutscher Sprache. Um die „Verwirrung“ zu beenden und „andere Zuzügler“ abzuschrecken, ordneten Ministerialen Kerker-Strafen für wandernde „Buchführer“ an. Doch waren die Schrift-Händler*innen beweglich, hingegen benötigte der Bote des Mandats vier Tage für den kurzen Weg zum Kloster Chiemsee. Visitatoren, die wie weltliche Schergen agierten, durchsuchten Pfarreien nach „ketzerischen und verführerischen“ Büchern. Die Institutionskleriker begannen wie in Böhmen ein Jahrhundert früher eine „Gegenreformation“ zur Wiederherstellung des ancien régime, um Tocquevilles Analyse aus späterer Zeit zu verwenden. Der FEB entschied sich 1525 einen Landtag einzuberufen, zu dem Bauern und Bergleute – das heißt ihre Obrigkeiten – Vertreter entsenden sollten. Doch wie wäre vorzugehen? Sollten diese ihre Positionen darlegen dürfen oder ein FEB-Mandat anhören und ausführen müssen? Sollte glimpflich oder abschreckend vorgegangen werden? Energisches Vorgehen sei angesichts der Verbreitung der Pfaffenkritik, lutherischer Gedanken und Sittenlosigkeit des Klerus schwierig, „das Volk“ höre nicht. Auch müssten Strafgelder „bescheiden“ sein, damit die Visitatoren nicht „gewinn- oder selbstsüchtig“ erschienen. Kurz: Der Apparat war verunsichert, sah die Probleme der eigenen Seite, zeigte jedoch keine Vor-Sicht. Belastungen blieben unangetastet, „Rüstung und Gegenwehr“ wurden geplant. 56

Volker Reinhardt, Luther der Ketzer. Rom und die Reformation, München 2016; Volker Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016; Merry Wiesner-Hanks, „‚Der lüsterne Luther‘. Männliche Libido in den Schriften des Reformators“, in: Jens Flemming (Hg.), Lesarten der Geschichte: Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag, Kassel 2004, 179–195. 55 Felix Heinzer, Klosterreform und mittelalterliche Buchkultur im deutschen Südwesten, Leiden 2008, 519–522. 56 Zitate Hauthaler, „Matthäus Lang“. 54

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Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre

11.7 Befreiungskriege 1525/26 und ihre Niederschlagung 57 FEB Matthäus, der seine Gotteshausleute fürchtete, beriet mit dem „berühmtesten Artilleriegeneral“ (H. Dopsch), Michael Ott aus Württemberg, über die Wehranlagen der Burg. Ott empfahl, 44 Geschütze zu gießen und auf Holzlafetten fassen zu lassen, ein Zeughaus zu errichten sowie 10.000 Knechtspieße, 300 Hellebarden, 1000 Handbüchsen und 200 Hakenbüchsen zu beschaffen und eine Pulvermühle einzurichten. Matthäus warb 1523 mit Zustimmung des Hofes Habsburg-Innsbruck 1000 Landsknechte an und positionierte sie vor den Mauern der Residenzstadt. Die in Bologna-RomDekret-Recht gebildeten und Latein sprechenden Räte hatten den Feldzug gegen die Bayerisch sprechenden Bürger*innen empfohlen. Diese spotteten zwar über den „Lateinischen Krieg“, mussten jedoch kniend um Gnade bitten und den Aufmarsch bezahlen. Matthäus, Diplomat auf oberstem Parkett, war Gewaltmensch gegenüber seinen Untertanen. Nachdem er die Salzburger*innen, wörtlich, in die Knie gezwungen hatte, oktroyierte er ihnen „Ordnung und Pollizey“, ließ dabei jedoch im alltagspraktischen Teil Hergebrachtes verschriftlichten. 58 Wie in Kapitel 10 dargestellt, sahen Bauern-Familien durch die Waldordnung ihren Zugang zu Bauholz und Schweinemast gefährdet, Erz-Familien ihren Lebensunterhalt und Bergwerksbesitzer ihre Investitionen, denn Verhüttung erforderte gewaltige Holzmengen. Die neu eingesetzten Wald- und Holzmeister legten ein zentrales Register an, Besitztitel erforderten Brief und Siegel. Damit wurde die in dieser oralen Kultur übliche, nicht verschriftlichte Erinnerung wertlos – auch das ein Aspekt der Verwaltungsreform und Professionalisierung. Die

Stadtordnung folgte dem Modell fränkischer Bischofsstädte, eine Ratsverfassung wie in Reichsstädten akzeptierte der FEB nicht. Mobile Kaufleute informierten sich vergleichend und mobile Bergleute verglichen Arbeits- und Lebensbedingungen. Die Dekrete zielten auf einen zentralisierten Ordnungsund Kontrollstaat und, da in zeitgenössischem Denken einseitige Neuerung nicht statthaft war, berief Matthäus sich auf Rupert und Virgil. 59 Die Herrschenden wussten um soziale Schichtung und Spannungen. Matthäus misstraute nach eigenen Worten „den armen Handwerkern und anderen Inwohnern …, die nichts zu verlieren haben“ und „sich um des Gewinns willen leicht zur Aufruhr bewegen ließen.“ Der bayerische Kanzler, 1520 in der Stadt, analysierte: „Die Lutherischen so arm sind, geben den Bauern recht; die nicht lutherisch und die lutherisch aber reich sind, geben den Bauern unrecht.“ Rat Egidius Rem wütete, dass Bauern sich „ungestraft austobten“ und dass Bergleute, „ein freies Völkchen ohne festen Wohnsitz und meistens Fremde, heimatlos und kriegsgewohnt, bei jeder Gelegenheit raublustig“ seien. Rems Augsburger Familie war stimmberechtigte Teilhaberin an der Welser-Vöhlin Metallhandels-Gesellschaft und kaufte in Madeira Zucker, den Sklav*innen produziert hatten. Er forderte Maßnahmen, „daß diese Seuche sich jetzt nicht weiter verbreite“, der Münzmeister Hans Thenn lieh dem FEB 10.000 Gulden für die Aufrüstung. 60 In diesem spannungsgeladenen Moment provozierten Regimetreue: Sie nahmen den protestantischen Prediger Eustachius in Tirol fest und verurteilten ihn zu Kerkerhaft. Als zwei Bauernsöhne ihn im Juni 1524 befreiten, legte Matthäus den Zündfunken: Er ließ sie ergreifen

Die Forschung begann mit Friedrich Leist, MGSL 27 (1887), 241–408; Karl Köchl, MGSL 47 (1907), vi–117, und MGSL 48 (1908), 223–240; und Hauthaler, „Matthäus Lang“. Günther Franz (MGSL 68, 1928, 97–112) sah die Machtergreifung Hitlers 1933 als Vollendung der Ziele des Bauernkriegs und Salzburgs Nationalsozialisten benannten Straßen nach den Anführern. Wolfgang Behringer, „Bauern-Franz und Rassen-Günther. Die politische Geschichte des Agrarhistorikers Günther Franz (1902–1992)“, in: Winfried Schulze und Otto G. Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1999, 114–141. Es folgten Arbeiten besonders von Albert Hollaender, der 1938 mittellos nach England fliehen musste, und wirtschaftshistorisch von Herbert Klein sowie sozialhistorisch von Karl-Heinz Ludwig, „Ergebung und Widerstand im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg von 1525/26“, MGSL 116 (1975), 117–136; und Friederike Zaisberger, „Der Salzburger Bauer und die Reformation“, MGSL 124 (1984), 375–401. Von zentraler Bedeutung: Peter Blickle, Die Revolution von 1525, Berlin 1975, überarb. 2014; und ders., „Landschaft und Bauernkrieg im Erzstift Salzburg 1525/26“, in: Eberhard Zwink (Hg.), Salzburg Dokumentation, Salzburg 1977, 89–110. 58 Die Räte hatten u. a. in Perugia, Padua, Siena, Wien, Ingolstadt und Paris studiert, kamen aus Speyer, Augsburg, Passau und Tübingen. Die Ausbildung umgrenzter Territorialstaaten behinderte die Mobilität der Herrschenden und ihrer Berater nicht. Dopsch, „Bauernkrieg“, 1.2:14–17, 26–34. 59 Sonja Pallauf und Peter Putzer, Die Waldordnungen des Erzstiftes Salzburg, Wien 2001, 43–59. 60 Köchl, „Bauernkriege“, Zitat 1; Ernst Frisch, „Der ‚Salzburger Bauernkrieg‘ des Egidius Rem in seiner ursprünglichen Fassung von 1525“, MGSL 82/83 (1942/1943), 81–91; Häberlein, Aufbruch, 31, 108–116. 57

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Befreiungskriege 1525/26 und ihre Niederschlagung

und ohne Prozess auf der Abtwiese im Nonntal hinrichten. Im Silberrevier bei Schladming – Habsburger Teil der Kirchenprovinz – artikulierten etwa 1500 Erzleute und Gewerken, Hutleute und selbst FEBAmtleute, Bergrichter und Wechsler ihre Unzufriedenheit. Ungerührt ließen FEB-Salzburg und EhzWien den dortigen Prediger Franz vom Stadtrichter festsetzen. Die Anwesenden empfanden dies als Eingriff in ihre Berggericht-Freiung, sahen den FEB angesichts der vorangehenden Hinrichtungen als Schlächter und verhinderten, dass der Prediger ihm „auf die fleischbangkh“ geliefert würde. Um Zeit für die Truppenmobilisierung zu gewinnen, stimmten die Hofräte in Wien zu und ordneten an, dass erbländische Untertanen nicht außer Landes verbracht werden dürften. Am folgenden Osterfest nahm an Beichte und Kommunion nur wenig mehr als die Hälfte der etwa 4500 institutionell dazu verpflichteten Gotteshausleute teil. In der Gastein versammelten sich Gewerken und Erzleute am 24. Mai 1525. Sie wollten den Kampf aufnehmen, bevor eine coniuratio des FEB mit Standesgenossen aus dem Ausland zustande käme. 61 Die kapitalkräftigen Gewerken Weitmoser, Strasser, Zott, Schwär, Spach und Praßler bildeten einen Ausschuss und riefen die zum Teil zögernden Bauern energisch zum Widerstand auf. 62 Viele, darunter wohlhabende und selbstbewusste Bauern, beteiligten sich; ebenso Stadtbürger und steirische Hammerwerksbesitzer, Hutherren und Amtleute. Strategisch umfassend besetzten sie Pinzgau, Pongau und Lungau, nahmen Schlösser und Amtssitze ein und erreichten nur drei Tage später, am 27. Mai, Hallein. Andere Verbände besetzten die Grenzen gegen die habsburgische Steiermark und Kärnten. FEB-Amtleute leisteten ihnen den Gehorsamseid. In Mandling (FEB) und Ennstal (teils Habsburg) schlossen sich Menschen zusammen und zogen, geführt von dem Brixentaler Bergwerker Michael Gruber, Richtung Schladming. Bergbauunternehmer und wohlhabende Bauern mit Erfahrung in Großhandel und Logistik versorgten die Bewaffneten, die ihrerseits seit Generationen die Einhebungsverfahren ihrer Herrscher

kannten und von Klöstern und Landadligen Kontributionen einzogen. Die Vorräte der Oberen stammten, wie sie wussten, aus ihren Abgaben. Herrschafts-Geschichtsschreiber nannten sie „beutegierige Rotten“ (C. Greinz), aber sie betrieben gewissermaßen Rückverteilung. Ihnen öffnete am 6. Juni die Salzburger Gmain die Tore. Ob Patrizier oder der FEB-ernannte Innere Rat dies billigten, ist nicht bekannt. Fürst Matthäus, Räte und Gefolge schlossen sich auf der Burg ein. Sie waren Gefangene der im Regime der Lebensherrschaft Gefangenen. Herangezogene und Einheimische „plünderten“ die FEB-Residenz, die Stadt gab – freiwillig? – ein Darlehen über 12.500 Gulden, die Klöster St. Peter, Nonnberg und Mondsee mussten Kontributionen zahlen. Der Stadtpfarrer listete später Gold und Silber, Perlkreuze und Monstranzen, Messgewänder und Barschaften auf, die er hatte herausgeben müssen. Die Untertanen bezeichneten sich als Landschaft und, in bewusstem Gegensatz zu den „schwarzen Haufen“ der Söldner, als „heller Haufen“. Sie lagerten in einer schnell errichteten kleinen Befestigung auf dem Rainberg sowie in Mülln. Das Leben in der Stadt ging weiter, durchreisende Kaufleute zeigten ihre Waren, Einheimische kauften ihren täglichen Bedarf und Händler*innen trugen Nachrichten ins Land. Im Gebirge sicherten Zurückgebliebene die Pässe. Gewerken finanzierten den Kampf durch Einbehalten des Fronsilbers und verkauften es, wie vorher der FEB, über den Salzburger Metallhändler Virgil Fröschlmoser. Alltag, Handel und tägliche Messen funktionierten ohne Herrschaft. Erinnerten bibelfeste kleine Leute während der 14-wöchigen Belagerung der Burg, dass Jesus’ Begleiter zum Tempel hinaufgeschaut hatten und er ihnen sagte, „nicht ein Stein wird auf dem anderen bleiben“ (Markus 13,2)? Die Stadtbewohner*innen, die unter den strategisch auf sie und ihre Wohnhäuser gerichteten Geschützen lebten, nannten die Anlage, die die Bürger meistern sollte, „Bürgermeister“. Bergleute begannen sie zu unterminieren. Im Chiemseehof Bischof Pürstingers quartierten sich fünfzig ihm bisher Abgaben zahlende Saalfelder Bewaffnete ein. 63

Der FEB hatte 1523 Lungauer Kleingewerken, die um Wechselbefreiung ersucht hatten, beschieden, dass es ihm nicht um wenig „ersprießliche“ Einnahmen ginge, sondern um Anzeigung der fürstlichen Obrigkeit. Sie müssten zahlen. Fritz Gruber und Karl-Heinz Ludwig, Salzburger Bergbaugeschichte, Salzburg 1982, 23. 62 Heinrich Zimburg und Herbert Klein (Hg.), „Gasteinerische Chronik [1540]“, MSGL 81 (1941), 1–40. 63 Greinz, „Pürstinger“, 287, Pfarrkirchenliste ebd., 286. Pürstinger zog sich 1526 nach Niederschlagung des von ihm verurteilten Befreiungskampfes 61

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Auf der Seite Habsburgs sandten die Räte den steirischen Landhauptmann (Lh) Sigmund, bereits als „Bauernschinder“ bekannt, gegen die Schladminger Bergwerker. Die Räte wussten um die Niederschlagung des oberdeutschen Freiheitskampfes mit, laut Berichten, Zehntausenden getöteter Bauern sowie geschleiften und verbrannten Städten. Zu den Kapitaleignern hatte Kaiser Maximilian gezählt, zu den Widerständigen zählte der Bergrichter Konrad Ränstl. Hof- und Kriegsräte in Wien boten dem benachbarten FEB-Salzburg Hilfe an, zielten aber auf Übernahme von dessen befestigter Klause bei Mandling. Das Regime Ferdinand Habsburgs war unbeliebt (s. o.) und knappe Nahrung, schlechte Ernten und eine ungarische Exportsperre verschärften die Lage in einem Ausmaß, dass von Wien bis Wiener Neustadt angeblich Tausende Weinhauerknechte bereit waren, sich Gehör zu verschaffen. Die Wiener Hof- und Kriegsräte, denen die widerständigen Untertanen gefährlicher waren als osmanische Heere, zogen Truppen von der „Türkengrenze“ ab und kroatische Husaren und böhmische Söldner heran. 64 Die Regimegegner ob der Enns, besonders im Attergau; in Oberkärnten, besonders Gmünd; in Osttirol und obersteirischen Bergbauorten und Salinen im Salzkammergut waren Bauern, Erzleute, Holzknechte, Köhler und Schmelzer. Bürger*innen handelten gemeinsam mit ihnen. Habsburg ließ Schladming (Habsburg) mit Bollwerk sichern und die Klause Mandling (Salzburg) besetzen. Die Befreiungskämpfer besetzten die FEB-Hauptpfarre und Hofmark Haus, vernichteten die verhassten Stiftbriefe und Urbare und gingen gegen Kirchen und Schlösser vor. Unter ihren Anführern befanden sich unbezahlte Gläubiger des Erzherzogs, darunter ein Leineweber und ein ehemaliger Hofschneider. Sie sahen die Herrschenden als „Unchristen“, bemächtigten sich der Vorräte der reichen Benediktinerabtei Admont und besetzten die Stadt Murau sowie die Bergbauorte Eisenerz und Johnsbach. Bo-

ten hielten Kontakt zu Tirol und informierten über heranziehende Söldner. Zur Unterstützung eilten 2150 Fußknechte aus Pinzgau, Rauris und Pongau sowie 1200 weitere von dem Trupp in Salzburg heran. Lh Sigmund zog mit 3000 bis 4000 Bewaffneten – in Herrschersicht – durch Feindesland. Da „raub vnd prant“ ein „trefflicher anfang“ seien, sollten sie die Höfe aktiv beteiligter Bauern niederbrennen und der Lh ließ entlang seiner Route Rädelsführer spießen, schinden und vierteilen. Die Räte sandten eine zweite Streitmacht, geführt von Niklas (Salm, 1459–1530), und der Hz-Innsbruck sandte den Landknechtsführer Georg (Frundsberg). Niklas stammte aus einer lothringischen Magnatenfamilie und hatte für die Kaiserfamilie in Frankreich und in Flandern sowie in Istrien und in Pavia gekämpft. Georg würde 1527 mit etwa 20.000 Söldnern für Kaiser Karl V. gegen Rom-Stadt und Kirchenstaat ziehen, wo seine nicht bezahlten Söldner die Stadt plünderten und etwa 4000 der etwa 55.000 Bewohner*innen töteten. Niklas kommandierte 1529 die Verteidiger Wiens gegen die osmanische Belagerung. 65 Die Stadt Schladming nahmen die Söldner Sigmunds und Niklas Salms – unter ihnen 1000 Reiter mit schweren Geschützen – ein. 66 Die Ansässigen erinnerten die Übergriffe, besonders gegen Frauen und Kinder, als extrem grausam. Die Knechte hätten schwangere Frauen aufgeschnitten und ihnen die Kinder aus dem Leib gerissen. Salm forderte Unterwerfung und Brandschatz-Zahlung von den Menschen in Enns- und Nebentälern, Ausseern und Schladmingern und ließ deren Anführer „öffentlich spießen“, das heißt durch eine Gasse spießbewaffneter Landsknechte laufen. Lh Sigmund forderte die Auslieferung aller über die Salzburger Grenze geflohenen Habsburg-erbländischen Untertanen, die Befreiungskämpfer verweigerten dies. Er richtete sein Quartier in der Stadt ein und fühlte sich sicher. Doch ist Gebirge nicht unwegsam für

und, vermutlich, ob seiner Kirchenkritik zurück. Er richtete in Saalfelden eine Bruderschaft für Priester und Laien ein und gründete ein Spital für unversorgte ausgediente Priester, dem er testamentarisch seinen Besitz vermachte. 64 Franz Hutter, Geschichte Schladmings und des steirisch-salzburgischen Ennstales, Graz 1906, aus obrigkeitlicher Sicht, aber mit Verständnis für die Bauern, https://austria-forum.org/web-books/geschichteschla00de1906kfu (31. August 2020), 97–178, Zerstörungen 172–175, Wiedergabe des Bergrechts von 1408, 130–132. Schäffer, Bauern- und Knappenaufstand. 65 Nach Berichten war Frundsberg sich der Unterdrückung armer, unbeteiligter Menschen durch Kriegszüge und der Straftaten seiner „Gewalthaufen“ bewusst. 66 Die Söldner vertraten eigene Interessen. Sie behaupteten, die Gegner seien zu zahlreich, verlangten für einen Sondereinsatz einen Edelmann als Anführer, forderten und erhielten je Mann einen Gulden extra.

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die Menschen, die es kennen. Sie koordinierten Nachtmärsche zweier Stöße über Steilhänge, durch Wälder und über Bäche. Diese erreichten mit genauem Zeitgefühl und exakten Absprachen Schladming im Morgengrauen des 3. Juli, vier Wochen nach Öffnung der Tore von Salzburg-Stadt. Sie fanden offene oder geöffnete Tore vor und verhafteten Sigmund im Bett. Seine Söldner flüchteten. Den Landhauptmann, der seine Gegner hatte spießen lassen, stellten die Freiheitskämpfer Ordnungs-gemäß vor Gericht, enthaupteten jedoch 32 (oder mehr) gefangene Böhmen und Husaren. Den militärisch wertvollsten Teil der erbeuteten Waffen schafften sie nach Radstadt und Salzburg: Geschütze, böhmische Handbüchsen, eine Unzahl von Spießen, Armbrüsten, Harnischen und anderen Waffen, Trosswagen samt Zugtieren, sonstige Ausrüstungen. Wie bei ihrem Eindringen in Klöster und Schlösser nahmen sie den Lebensstil Adliger wahr: Rösser, Wagen und Zelte, Gerät und Bargeld, kostbare Gewänder, Pelze, Barette mit Federbüschen, goldene Ringe mit Edelsteinen und Ketten, silbernes Tafelgeschirr und Küchengerät plus Dienstpersonal. So listeten es die Adligen später für ihre Schadenersatzforderungen an Ehz und FEB auf. 67 Erzherzog und Hofrat befahlen die Beschlagnahmung aller Güter sowie Berg- und Hüttenwerke der Schladminger Bürger, Inwohner und Bergleute. Jeder, der zu den „Rebellen“ Kontakt halte, solle „gebrandschatz werden an leib, hab und gut“. Niklas ließ den „aufrührerischen Flecken“ zerstören und am 6. Oktober 1525 existierte Schladming nicht mehr. Söldner hoben auch auf armen Keuschen und bei Knechten Brandschatzung ein, Wirte hatten Wanderhandwerkern ihre Waffen abzunehmen. Um die Produktion und eigene Einnahmen nicht zu beeinträchtigen, ließ der Hofrat die Salinenstädte im Gut der Salzkammer nicht plündern, aber alle Knappen- und Köhlerbruderschaften auflösen. 68 Im Salzachtal, in Oberösterreich und Tirol gingen die Söldnerführer ähnlich brutal vor: Brandschatzung nannten sie „Hausgulden“, montierten Gemeinden die Kirchenglocken ab, um Versammlungsrufe zu erschweren, folterten und töteten „Rädelsführer“. Die Inquisition gegen Waldenser hatte sich gegen Minderheiten gerichtet, 1525 wehrte

sich die Mehrheit. Ausrottung konnte nicht Ziel sein, vernichtet werden sollte das Freiheits- oder, vorsichtiger formuliert, das SelbstbestimmungsDenken. Auf seiner Burg sah sich der FEB gezwungen zu verhandeln: Die Belagerer forderten die Übergabe der Burg und Säkularisierung des Erzstifts, sie boten Matthäus eine jährliche Unterhaltszahlung für seine geistliche Funktion. Die „Landschaft“ – Vertreter der Städte, ländlicher Gerichtsgemeinden und der Bergwerke – sollte die Regierung übernehmen und Domkapitel, Klöster und Stifte verwalten. Landtage sollten gemäß den Artikeln die Beschwernisse abstellen. Matthäus, der bereit schien, als EB abzudanken, wollte jedoch als Fürst weiterherrschen und suchte Zeit zu gewinnen. In coniuratio, die er Untertanen strikt verboten hatte, ließ er seinen Kanzler Nikolaus Ribeisen am 20. Juni 1525 gegen die hohe Summe von 40.000 Gulden Elitenkooperation erkaufen, das heißt ein Heer von etwa 8000 Knechten und 600 Berittenen des Schwäbischen Bundes, angeführt von Hz Ludwig (X., Bayern-Landshut) und Söldnerführer Frundsberg. Ribeisen arbeitete eng mit dem bayerischen Kanzler Leonhard Eck zusammen und zahlte die erste Hälfte der Summe bereits am 26. Juni. Zusammenarbeit? Landeshistoriker interpretieren die Entsendung des Heeres als „schamloses Intrigenspiel“, denn Bayern-Hz und Österreich-Ehz zielten auf Eingliederung des Erzstifts in ihren Besitz. Die Kriegsräte der Familie Habsburg setzten auf Söldner, die der Familie Wittelsbach auf Wirtschaftskrieg durch Getreideausfuhr- und Salzeinfuhrsperre. Der Ehz forderte vom FEB-Salzburg Erstattung aller Auslagen, widrigenfalls würden seine Söldner dessen Herrschaft als Pfand besetzen. Die Nachbarherrscher berieten sowohl über die Wiedererrichtung des FEB-Regimes wie über Demontage seines territorialen Besitzes. Das Heer zur Re-etablierung der Machtverhältnisse, das die Residenzstadt am 16. August erreichte, konnte sie dank des militärischen Geschicks der Verteidiger nicht einnehmen. Die Beteiligten riefen ihre Schwazer Kollegen: „eilt, eilt, eilt als Christenmenschen“ zur Hilfe gegen die „tyrannischen und unchristlichen Wüteriche“, die Frauen und Kinder

Einzelne Adlige der Familien Salm und Dietrichstein mögen selbst evangelisch geworden sein, denn so sind Mitglieder während des Augsburger Reichstags, 1530, verzeichnet. 68 Schäffer, Bauern- und Knappenaufstand, 12–48. 67

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Abb. 11.15 Bestrafung der Bauern und Hauer nach den Bauernaufständen in Nieder- und Oberösterreich, 1595– 1597, Flugblatt 1597 (kolorierter Holzschnitt, Heimatmuseum Freistadt) Im Jar des Herrn als geschribn/ Unter der Enß in Osterreich In Vierteln zway/ die Bauern zugleich Ob Wienner Wald und Mänhartsperg/ Die Hauer auch unterm gebürg/ Auffruerig worden/ ungezäm. Kein glimpff war ihnen angenäm. Mit Kriegs gewalt man muste stillen Solch ihren unfueg und muettwillen. Wie all Exempl der geschichtt Warhafft erweisen zu bericht/ Das Gott nit ungestrafft hab tan Den Rebellischen underthan/ Zaigt dieser abriß wie’s ergieng/ Wie jeder seinen lohn empfieng. Wie auf vorgehend Urtl und Gehalten Recht der Bauernbund/ An denen orten wo sie sich Rottieret haben truzigklich/ Gestrafft sey worden uberall Dem nachkämling vor gleichen fall Zur Warnung und gedechtsnuß acht Ist die fürbildung billich gmacht.

bedrohten und Blut fließen lassen würden. 69 Bayern-Hz Ludwig und Bischof Pürstinger, der das Vertrauen der Veränderer hatte, handelten einen Waffenstillstand aus. Dabei machte Ludwig seinen Bruder Ernst, wie bereits mit Ribeisen ausgehandelt, zum unerwünschten Koadjutor von Matthäus. Angesichts der drohenden Wiederherstellung der Herrschermacht zogen sich die Großgewerken aus dem Kampf für Befreiung und Wirtschaftsliberalisierung zurück und suchten ihren von Gastein bis ins Drautal reichenden Besitz zu retten. 70 Der FEB zwang seine Untertanen, gleich ob an den Befreiungskämpfen beteiligt oder nicht, 14.000 Gulden für die Söldner des Schwäbischen Bundes

69 70

Abb. 11.16 Konzept zu einem Denkmal für den Widerstand der Bauern von Albrecht Dürer Nach W. Rösener scheinen die Schafe und Rinder am Sockel die Niedergeschlagenheit der Bauern zu teilen. Die bescheidenen Habseligkeiten – Holztruhe für die Kleidung, Milchkanne und Butterfass, eine Getreidegarbe und ein Korb mit einem Huhn – sind zu einem wackeligen Turm aufgeschichtet. Auf ihm sitzt ein Bauer, in Lumpen gekleidet, mit abgerissenen Schuhen und einem alten Schwert als Symbol seines erfolglosen Aufstandes.

zu zahlen und anschließend vier Gulden pro Haus für seine Söldner. Hz Ludwig forderte von ihm 54.000 Gulden, Ehz Ferdinand 235.700. Ländliche Menschen, Kleingewerken und städtische Familien verarmten. Den ausgeplünderten Schladminger Bürger-Familien fehlte das Kapital, um Erzabbau und Verhüttung wieder aufzunehmen und finanzstärkere setzten sich durch: Gewerken aus dem Gasteinertal wie Christoph Weitmoser, aus Tirol Investoren vom Jenbacher Berg- und Schmelzwerk,

Zitat Blickle, Revolution, 189. Blickle, „Landschaft“, 89–110, hier 89–74, Zitat 94; Dopsch, „Bauernkrieg“, 2.1:111–125.

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aus Augsburg Abraham Katzpeck (Katzenstein), aus Admont die Mönche. 71 Die Landbauleute mussten so schnell wie möglich für die Ernte zurückkehren, Erzbauleute ihre Lohnarbeit wieder aufnehmen. Ministerialen sahen nur ihr Erzstift als notleidend. Den „Aufständischen“ hatte der FEB Amnestie versprochen – wie oft Ver-sprecher. Er zwang sie zur Zahlung der gesamten Kriegskosten. Luthers Kollege Philipp Melanchthon befand, „es ist auch ein Frevel und Gewalt, dass sie nicht wollen leibeigen sein“, doch sollten Adel und Fürsten bei Niederwerfung Sorge tragen, „das den Unschuldigen nichts Unbillichs widderfar, auch Gnad erzeigen den armen Leuten, der etlich aus Forcht, etlich aus Torheit gesündigt haben.“ Doch die Herrscher bezeichneten das Abschlachten von Bauern im Elsass als Kreuzzug und am Jahresende 1525 zählten Chronisten 100.000 Tote, grausame Repressionen mit Brandschatzungen, Ungeldzahlungen und Schauprozessen. Den Salzburger*innen war die Doppelzüngigkeit des FEB bewusst: „der Cardinal hat sich gegen unns als gemainer Landschaft unnder Anndern mit den höchsten obligirt und verschriben und verpunden, uns […] zu schützen“, doch war er „gräßlich“ vorgegangen und hatte seinen Schwur gebrochen. 72 Aus Bern kommentierten Eidgenossen in Systemanalyse, dass „die beschwerte Bauernschaft aus den Karrenstricken ausgeschlüpft sei und nun mit Ketten wieder in den Wagen eingespannt würde“. Die Salzburger Freiheitskämpfer analysierten ebenfalls: Als die Prälaten, Weltadligen und Städte im Landtag ihre Forderungen nicht besprochen und Beschwernisse nicht abgestellt hatten, schickten sie als „Salzburger Landschaft“ Sendboten in andere Territorien, um Hilfe anzuwerben. „Wir sind die Gesellschaft“ würden spätere Revolutionäre rufen. 73 Die Salzburger Stände hatten einen Ausschuss mit neun bis zehn Vertretern einsetzen sollen, von

denen drei an der Regierung teilnehmen sollten, bis eine Landesordnung erstellt wäre. Der FEB verweigerte dies. Erneut formulierten Residenzstadt, Städte, Märkte, Bergwerke und Gerichte ihre Beschwerden. Aus ländlichen Gemeinden folgten 69 gesonderte Beschwerdeschriften, 74 doch ließen die Räte dem Landtag im Oktober 1525 nur eine Zusammenfassung zukommen und die Anwesenden verschoben die Abstellung von Beschwernissen ebenso wie grundsätzliche Reformen. FEB und Räte hatten ihr Ziel erreicht. 75 Ein weiterer Landtag im März 1526 verlief aus Sicht der Reform-Fordernden desaströs. Die Anwesenden bestätigten dem FEB devot, dass es keine Gründe für den Überdrang der „innlendischen Aufstenndigen“ gegeben habe und beklagten den Schaden, den sie verursacht hätten. Sie versprachen Hilfe bei deren Bestrafung und, zur Wiedereinlösung der an Bayern verpfändeten Herrschaften und Güter, 100.000 Gulden, die die FreiheitskämpferUntertanen-Lebenseigenen aufbringen sollten. 76 Gegen Gläubiger Ferdinand Habsburg, der unter dem Vorwand, seine Untertanen seien durch die des FEB verführt worden, seine Forderungen überzog, stützten die Gläubiger des Schwäbischen Bundes den FEB. Der FEB, der sich gegen seine Untertanen so schamlos verhielt wie die Nachbarherrscher gegen ihn, erklärte, er hätte die Beschwernisse abstellen wollen, nur der Aufstand hätte ihn gehindert. Ein Ausschuss aus Domdechant, Landhauptmann, Hofmarschall und einem Salzburger Bürger sollte unter Heranziehung alter Dokumente und verständiger alter Männer eine Landesordnung ausarbeiten, doch besprach er nur Kriegskosten und Sondersteuern. Ländliche Gerichte informierten sich über die (nieder-) bayerische (1516/20) und Tiroler Landesordnung (1525, gedr. 1526), die Artikel der süddeutschen Freiheitskämpfer zirkulierten als Flug-

Georg Grüll, „Bauernkriege, Aufstände und Revolten im Lande ob der Enns“, in: Alfred Hoffmann (Hg.), Bauernland Oberösterreich, Linz 1974, 76–94; Bruckmüller, „Strafmaßnahmen“, 105. „Bergbau in der Region“, „Bauern- und Knappenaufstand“, „Wirtschaftliche Folgen“ in: www.ennstalwiki.at und https://de.wikisource.org/wiki/ADB:Salm,_Niclas_I._Graf_zu (31. August 2020). 72 Zitiert bei Köchl, „Bauernkriege“, 6–7. 73 Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, Zitat 134; Blickle, „Landschaft“, Zitat 89. Werner Rösener, Bauern im Mittelalter, München 1985, 131. 74 Sie verfolgten oft Eigeninteressen, Berchtesgadener Schellenberg-Salzwerker gegen die Saline Hallein, Markt Ramingstein gegen Erzarbeiter beim Burgfried u.v. a. m. 75 Karl Köchl, „Auszug aus den Beschwerden der Salzburger Landschaft 1526. Ein Quellenbeitrag zur Geschichte der Bauernkriege“, MGSL 48 (1908), 223–240, Text der „Sumari“, 227 ff. 76 Der FEB verpfändete Burgen und Städte, Tittmoning und Laufen samt Ämtern und Mauten sowie die Herrschaft Mattsee. Sollte er die Pfänder nicht binnen vier Jahren auslösen, würden sie dauerhaft Bayern-Wittelsbach gehören. 71

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schrift und vielleicht traf die Nachricht ein, dass in der Region Bern-Solothurn-Basel Leibeigene Freibriefe erhalten hatten. Die Landtagenden überhörten Bergleute und Bauern. Die Wut der Gemeinen stieg und am 27. März 1526 begannen Enttäuschte in Saalfelden einen weiteren Befreiungsversuch, allerdings in anderer sozialer Zusammensetzung, denn viele konnten sich eine weitere Abwesenheit von Feldern und Erzstollen nicht leisten. Unter Leitung der Tiroler „Militärführer“ oder „Berufsrevolutionäre“ (so manche Beurteilungen) Christoph Ganner-Setzenwein, Peter Paßler und Michael Gaismair belagerten sie mit Söldnern Radstadt. Auch Frauen kämpften mit den Männern: Sie zahlten Abgaben gemeinsam und zogen ihre Kinder unter den Belastungen groß. Frauen, die zu Hause blieben, mussten die Männerarbeit zusätzlich erledigen. 77 Der FEB vergab Posten, um Anführer von 1525 auf seine Seite zu ziehen, und die Unterdrücker siegten. Gaismair und etwa 2000 der Geschlagenen flohen in venezianisches Gebiet. FEB-Ministerialen riefen „die Bauern“ für einen Treueid nach Radstadt, suchten unter den 10.000 – so Chronisten – die Anführer heraus und ließen 27 köpfen. Habsburgische Schergen ermordeten Gaismair 1532 in Padua. 78 Hatten die Freiheitskämpfer trotz ihrer unterschiedlichen Interessen ein Gesamtkonzept? Ihre Gesellschaftsanalysen und Forderungen sind „sozialrevolutionär“ genannt worden. Sie suchten Befreiung von den vielen Beschwerungen und formulierten dies in einer Phase dynamischer wirtschaftlicher Entwicklung bei wachsenden sozialen Gegensätzen. Sie setzten sich mit dem Machtstreben der Herrschaften auseinander, den Regale genannten Monopolen, den Gebühren auf jede Amtshandlung und jedes Sakrament. In marktwirtschaftlicher Analyse des Ämter- und Ablasshandels bezeichneten sie Ablasszettel als wertlos und forderten die Leistungen, die im kirchlichen Mitgliedsbeitrag enthalten waren. Sie wollten ein einheitliches Rechtswesen und einheitliche Maße und Gewichte. Gleichheit, nicht Zentralisierung, war Movens. Sie forderten die Neu-ordnung des Falschen, falsch Gesteuerten, un-recht Macht-vollen.

Die Freiheitskämpfer wollten Rückkehr zu einer Zeit ohne Leibeigenschaft. Erinnerten sie sie? Sie erinnerten die Jahrzehnte geringerer Abgaben und besserer Bedingungen. Dass die „gmain Leut“ Ähnliches sieben Jahrhunderte früher gegenüber karolingischen Boten formuliert hatten, erinnerten sie vermutlich nicht. Klassengesellschaft? Französische Konzepte, classes rurales, oder englische, peasant classes, würden Pluralität wiedergeben. Die ländliche Bevölkerung war weder „Stand“ noch einheitliche „Klasse“ noch vage „Schicht“. Ihre Feststellung, „Landschaft“ zu sein, wies über „die Zeit – Herrenzeit – hinaus“. 79 Die Menschen fühlten sich als „Traditionalisten“ – laut Bibel als vor Gott Gleiche – und zielten auf Verbesserung ihrer weltlich auferlegten Lage und der ihrer Kinder. Die Bessergestellten – wer stellte sie? – zielten darauf, nachbiblische Neuerungen als Zustand zu erhalten; kirchliche wie weltliche Unternehmer wollten ihren Anteil an der wirtschaftlichen Dynamik, das heißt an der Summe von individuellem und gruppenbezogenem ökonomischen Verhalten und Zielen, erweitern. Unternehmer dachten wirtschaftlich befreiend, Land- und Erzarbeitende sozial befreiend. Diesem Konzept setzte FEB Matthäus weitere Gewalt entgegen. Der Burgpfleger verstärkte die Burg und ließ Häuser und Zäune auf dem Mönchsberg für freies Schussfeld und Sicht „wegtun“. Er wusste um die Wut der Menschen und zahlte einem kooptierten „Bauernführer“ „Wartgeld“ für die Bereitschaft, jederzeit Aufstände zu verhindern. Er orderte schwere Mörser; große und kleine Geschütze samt Steinkugeln und Eisenschrapnell; Büchsen, Helme und Spieße; Kugeln, Pulver und Blei bei den Waffenschmieden der Wittelsbacher Hz (München) und des Habsburger Ehz (Innsbruck). Sie sollten das Metall der konfiszierten Kirchenglocken zu Kanonen gießen. Matthäus ließ „Vorrath auf Unterhaltung von 300 Personen im Sloß, darunter 100 Personen auf Wein und die 200 Personen auf Pier“ einlagern „samt etlichen Pferden zum Zug“. Unter den fast 100 Positionen orderte er 2 Zentner Zucker, 50 Pfund Pfeffer, 30 Pfund Imber (Ingwer?), 6 Pfund Zimt, 3 Pfund Muskaplie und Nuss, 10 Pfund Safran. Der FEB wollte mögliche weitere

Auch im süddeutschen „Bauernkrieg“ zogen Frauen mit; berühmt wurde Margarete Renner aus Heilbronn. Dopsch, „Bauernkrieg“, 2.1:63–74; Herbert Klein, „Die Kämpfe um Radstadt am 24. Juni 1526 und das Ende des Salzburger Bauernkrieges“, MGSL 92 (1952), 124–129, bes. 128; Ludwig, „Ergebung und Widerstand“, 125–136. 79 Leist, „Quellenbeiträge“, 241–408. 77

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Befreiungskriege seiner Untertanen gewinnen, wieviel Geld und Leben es auch kosten würde. Und er wollte dabei nicht schlecht leben: Produkte der auf anderen Kontinenten seit 1492 Unterworfenen waren ihm 1526 bekannt. 80 Die wirtschaftlichen Folgen der Niederschlagung der Untertanen waren dramatisch. Während Herrschafts-Historiker behaupteten, „die Bauern“ hätten gewaltigen finanziellen Schaden angerichtet, mussten diese in Wirklichkeit für ihre eigene Unterdrückung zahlen. Matthäus ließ in den Gerichten im Gebirge Kirchensilber einziehen und in Mülln die Messgeräte, da die Gemeinde die auf ihrem Grund lagernden Kämpfer nicht vertrieben hatte. Unter den beschlagnahmten Schätzen befand sich ein Geschenk des Goldschmieds Wolfgang Faust an die Stadtpfarrkirche: ein silbrein Maria pild auf einem silbrein stul unter ainem silbrein tabernackhel sitzend in ainem vergulten klaid daran vornen ein guldeins heftlein mit vier perlein und ainem rubindl, an irem darcken arm ein silbreins kindlein, das hat an seinem hals ein guldeins ketlein daran ein roslein mit rubindl, unttem an dem stul vier vergult engel und obenn in dem tabernackl ain silbreins parmhertzigkaith pildlein, wigt alles vyerzehen marck wiener gewicht.

Für den Goldschmied zählte das Kunstwerk und das edle Material, für den FEB, der es einschmelzen ließ, das Geld. Wen interessierte die Aussage „Maria mit Kind“ und wie dachten Gläubige über das Ein-

schmelzen Marias? Viele Menschen hatten dank Kirchenfürst nicht mehr genug zu essen und ihre Pfarrer verwendeten liturgische Ersatzgeräte. 81 Durch die Brandschatzungen mussten Sölhäusler- und Kleinhandwerker-Familien ihren geringen Besitz abgeben, marktferne Bauleute Land an wohlhabende Landbesitzer-Familien, Kleingewerken ihre Erzrechte an Großunternehmer. Letztere hatten sich mit dem Versprechen „besonderen Gehorsams“ arrangiert und versprachen, die „gots gab am perg“ intensiver abzubauen, um dem FEB höhere Abgaben zu zahlen. Dieser „begünstigte stärker als zuvor die Großunternehmer“. Die im Folgejahr erhobene „Türkensteuer“ auf Grubenanteile traf Kleingewerken, aber nicht die kapitalintensiven Verhüttungsbetriebe und die Großhändler, die die Bergwerker versorgten. Erzleute wanderten ab: 1538 waren Salzburger als technische Berater im Fichtelgebirge und Oberharz tätig, in den 1560er Jahren Tiroler und Salzburger im Kupferabbau im Lake District, England. 82 Andere politisch-gesellschaftlich-ökonomische Konzepte waren „auf dem Markt“, so Giovanni Boteros Della ragion di stato (1589), aber niemand der Macht-Haber kaufte. Botero befasste sich mit dem Verhältnis von Demografie, Wirtschaft und Politik; mit Städten und Bürgerbeteiligung; mit transkontinentalen Beziehungen bis nach China. Der deutsche Begriff „Staatsräson“ verformt den holistischen Ansatz ins Gegenteil.

11.8 Die Landesordnung von 1526: Weistum und Diktat Die Vertreter der Stände ver-sagten in Bezug auf die Erstellung einer Landesordnung (LO) vermutlich zielstrebig. Matthäus – in Selbstsicht „hochwürdigster und gnädigster Fürst“, der „Heiligen Römischen Kirche Cardinal“ und „von Gotts Gnaden“ – ließ neben Stadt- und Waldordnung die „Ordnung den

fridt im stifft und land Saltzburg zu handthaben und empörung und aufstandt zu fürkhomen“ (LO) verfassen (s. Kap. 10.3, 10.4, 10.6). Bergordnung, Fürkaufordnung sowie Polizei- und Gerichtsordnung folgten 1532/33, letztere gemäß Polizeiordnung des ZWR von 1530. 83 Die überregionale

Johann C. Pillwax, „Hohen-Salzburg. Seine Geschichte, Baulichkeiten und Ausrüstung“, MGSL 17 (1877), 1–88, darin Beschaffungslisten, 58–65, und Inventar bei Tod des FEB, 65–70. 81 Zitiert in Franz Wagner, „‚Spätgotik‘ in der Stadt Salzburg. Zu einigen Problemen der kunstgeschichtlichen Forschung“, Salzburg Archiv 32 (2007), 51–104, hier 59; Adolf Hahnl, „Ist der Verlust des mittelalterlichen Müllner Kirchenschatzes eine Folge des Bauernkrieges 1525/26?“, Salzburg Archiv 26 (1999), 47–52. 82 Gruber und Ludwig, Bergwerksgeschichte, 23–24, Zitat 28; Dopsch, „Bauernkrieg“, 2.1:83–85. 83 Texte in Franz V. Spechtler und Rudolf Uminsky, Die Salzburger Stadt- und Polizeiordnung von 1524, Göppingen 1978, darin Peter Putzer, „Rechtshistorische Einführung“, 27*–62*; und Franz V. Spechtler und Rudolf Uminsky (Hg.), Die Salzburger Landesordnung von 1526, Göppingen 1981, darin Heinz Dopsch, „Landesgeschichtliche Einführung: Bauernkrieg und Landesordnung“, 15+–85+, sowie Peter Putzer, „Rechtsgeschichtliche Einführung“, 87+–111+. 80

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Abb. 11.17 a) Bauer, Lucas Cranach d. Ä., ~1515, und b) Fürst Matthäus, Meister der Donauschule, 1529 (Ausschnitt)

Kanzleisprache der LO zeigte, dass, so wie Kaufleute zum Teil mundartfrei sprachen, Amtleute Regionalismen anglichen. Kanzleisprache war Untertan*innen nicht kulturell fremd wie das Lateinische, aber sozial fremd. 84 Der Autor Leonhard Auer, den „Aufständische“ 1526 kurz gefangen gesetzt hatten, war Jurist bürgerlicher Herkunft und Landrichter in Gastein. Kaum dass er den Entwurf vollendet hatte, setzte Matthäus ihn ab, um den Posten einem seiner Gläubiger, Neffe des FEB Leonhard, zu geben. 85 Die LO dekretierte die Entwaffnung der Untertanen und, zweitens, die Ausstattung der Pfleger und Landrichter mit zusätzlichen bewaffneten Knechten. Die Pfleger handelten auf Anweisung von oben, kommunale Entscheidungen verbot die LO, alte Taidingsrechte wurden Privilegien, schriftliche Taidingsbüchl nicht mehr geführt, jede lokale Genehmigung mit „Brief und Siegel“ zentral gebührenpflichtig: Disziplinierung durch Dekommunalisierung. 86 Damit kontrollierten Beamtenschaft und

bewaffnete Organe Leben, Mehrproduktion und Abschöpfung. Diese absolutistische, oft als modern-zentralisierend bezeichnete Herrschaft delokalisierte. Schmiede und andere Dörfler, zum Beispiel, unterlagen der fernen Forstverwaltung für ihren Holzbedarf. Der servile Landtag (November 1526) besprach den Entwurf unter Hinweis auf den Vorrang der „Türkengelder“ nicht. Er wurde in Abschriften verteilt und angewendet. 87 Auer, der die wichtigsten Beschwerden aufnahm und Texte aus den Artikeln der Gemeinen übernahm, zeichnete ein umfassendes Herrschaftsund Gesellschaftsbild: so wenig Einfluss für die Unteren wie möglich, so viel gemeinsame Regelung wie notwendig. Die Geistlichkeit (Teil 1, eine Folioseite, FS) wurde verpflichtet, Pfarrleuten nicht beschwerlich zu sein; die Theologie der Gotteshausleute – Vermittlung und Deutung der Evangelien – wurde nicht erwähnt. Die Landfriedensregelung (Teil 2, 16 FS) verbot die Herstellung jedweder Kriegswehr durch Untertanen und verbot Lohnstei-

Rudolf Uminsky, „Zur Sprache der Salzburger Stadt- und Polizeiordnung von 1524“, MGSL 118 (1978), 59–68. In den Kapiteln zum Handel im Gebirge verwendete Auer gelegentlich die „Ich“-Form und vermerkte, dass zu prüfen sei, wie es gehalten werde. Nach Absetzung erhielt er eine Pension von 100 Pfund Pfennigen. 86 Für Habsburg-Österreich die Stadtverfassung (1526) und Handwerksordnung (1527), die Ferdinand I. für Wien erließ. Seine Landesordnungen, darunter die Tiroler von 1526 und 1532, gelten als erste des Typs „Polizeiordnung“. 87 Bruckmüller, „Strafmaßnahmen“, 113 passim. 84 85

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gerungen. Die LO war Neuerung: unveränderte Lasten der Untertanen bei innovativer Macht- und Einkommensgestaltung des Kirchenfürsten. Alle Untertanen hatten gegenüber dem Herrscher einen Eid zu leisten (Teil 3, 14 FS). 88 Wer nicht in Dienst stand und keinen Bürgen hatte, sollte abgeschoben werden. Landsknechte, Spielleute und Landstörzer*innen (Nichtsesshafte) waren nicht geduldet, argwohn-erregende und unbekannte Leute hatten Torwachen und Herbergswirt*innen zu melden, letztere auch ehrliche Gäste. 89 Es folgten Absätze über fremde und inländische Bettler*innen, Zigeuner, Mörder und Totschläger. Die Maßnahmen richteten sich gegen fremde Bettler und Pilger, die umherzögen und Weib und Kind Hunger leiden ließen. Ihnen, „es seien Frauen“, wurde Betteln verboten, außer sie hätten „genügsam Ursach“: Verarmungsprozesse waren bekannt, im Land geborene Arme sollten nicht „weggeschafft“ werden. Kinder waren in Dienst zu geben, damit sie nicht zu Laster kämen. Die Regelung war ein erster Schritt zu generellem Arbeitszwang. Wer jung und von gesundem Leib war, hatte in der Sommerzeit Handoder Feldarbeit zu finden. Im Salzkammergut – Teil der Kirchenprovinz im Besitz der Familie Habsburg – hieß es später, Müßiggang und Betteln würden „die victualien der anderen arbeitern für dem maul abschneiden, verzehren und verteuern“. 90 Die folgenden, der Konfliktverringerung dienenden Teile waren überwiegend „Rechtsspiegel“ üblicher Bräuche mit Reaktion auf Veränderungen und auseinanderklaffende Interessen: Teil 4 (32 FS) bot Verfahrensregeln für Untertanen, die von Amtleuten beschwert worden seien; Strafrecht für Vergehen von Verwendung falscher Maße und Qualitäten bis zu Sexualverbrechen. Verboten wurden Tanz und der Auftritt von Spielleuten; verboten wurden Versammlung und „Rumoren“ zu Jahrmärkten und Kirchtagen; verboten wurde Friedensbruch während Freyungen (Märkten). Sehr ausführlich (Teile 5–7, 121 FS) regelte die Ordnung, wie in Kap. 10.4 behandelt, zivilrechtliche Fragen wie Schulden und Pfändung, Eheabreden, Heiraten, Scheidung, Testamente.

Herrschaftsrechtlich erweiterte die LO das Konzept coniuratio und verbot Untreue gegen den Landesherrn, Versammlung und Konspiration, Aufruhr und Verspottung des Fürsten. Sie fügte hinzu, dass Obrigkeit sich „gebührlich“ zu verhalten habe – Zeitgenoss*innen wussten, dass sie Gebühr zu zahlen hatten, damit Amtleute und Priester sich entsprechend verhielten. Die LO verbot die zahlreichen Missbräuche der „Amtleute und Officire“ und regelte Schreibpfennig und Trinkgelder mit Abschlägen für arme Sölhäusler genau. Unehrliche Gebühren waren und blieben ein wichtiger Grund für Widerstand und als Pfleger und Amtleute sie beschwerten, besprachen Menschen im Flachland und St. Gilgen bereits 1532 erneut Pläne für bewaffneten Widerstand. Der FEB reagierte mit der Hauptmannschafts-Ordnung von 1533 und verschärfte Strafen für das crimen majestatis, „Untreue“ gegen den Fürsten und „nachgesetzte ordentliche Obrigkeit“. 91 Energisch hielt die LO an Unfreiheit fest (Teil 8, 22 FS): Leibeigenschaft, Todfall und Groß- und Kleinzehnte wie „von alters her“. Nur „unbillige“ Neuerungen seien abzuschaffen und Unfreiheit dürfe nicht neu auferlegt werden. Willkürliches Abstiften von Hufen-Familien blieb möglich, Zinserhöhung und Überdienst sowie Vergabe freiwerdender Güter zu höherem Zins als „von alters her“ erlaubt. Die LO räumte Missbrauch ein: Im Fall durch Überzins erzwungener Verkäufe sollte den Betroffenen ihr Gut restituiert werden. 92 Gegen Ende folgten Standesfragen: Bei gemeinem Bauersmann samt Weib und Kindern sowie ledigen Knechten und Dirnen sei Überfluss an Kleidern eingerissen, daher wurde Samt auf Röcken, Gold an Kragen und Schlairleisen (Schleierleisten, Borten?), seidenes Wams, geteilte Hosen und Wämse und teures Tuch insgesamt verboten. Dies galt auch für Erzleute. Bei Hochzeiten dürften nicht mehr Gäste eingeladen werden, als an drei Tischen sitzen könnten und das Mahl dürfe nicht mehr als sechs Gerichte umfassen. Erst der letzte Teil befasste sich mit dem neuen religiösen Denken. Dieses hätte zur Schließung von Lateinschulen beigetragen und daher fehlten Kna-

Im Folgenden ergänzt durch die entsprechenden Regelungen der Stadtordnung. Eine einzige Klausel zum Schutz Reisender verbot Wirten, sie mit hohen Preisen zu beschweren und Essen anders als zu Standardmaßen und -mengen zu bieten. 90 Engelbert Koller, Forstgeschichte des Salzkammergutes, Wien 1970, 6, Quelle aus der Zeit 1605–1637. 91 Ludwig, „Ergebung und Widerstand“, 117–136. 92 Zu Dorf-, Markt- und Arbeitsrecht (Teile 8–15), vgl. Kap. 10. 88

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ben Gottesfurcht, Sitte, Tugenden und Künste; sie gäben sich Müßiggang, Laster und der Boshaftigkeit hin. Klöster und Stifte, Städte, Märkte und ansehnliche Flecken sollten Schulen zur Ausbildung für kirchliche und weltliche Ämter einrichten, arme Schüler dürften betteln. Erst der allerletzte Artikel erwähnte christliches Leben mit der Standardformel, Sünden und Laster seien zu vermeiden. Sie seien überall „eingerissen“, hätten den „allmächtigen Gott erzürnt“ und deshalb seien viele in Kriegen und durch „den grausamen Wüterich, den Türken“ gestorben. 93 Dies war wenig im Vergleich zur Kenntnis der Gemeinen über Evangelien, Christus, Apostel, „unsere liebe Frau“ und Heilige. Die Laien dachten über Kirche und Seelenheil nach und viele forderten energisch den Laienkelch in der Eucharistie, also Wein nicht nur für Kleriker, sondern auch für Gemeine. 94 Sie verbanden sich als Evangelien-Treue oder Evangelische, Lutheraner, Wiedertäufer, Flacianer, Utraquisten, Hutterer und andere.95 Der FEB verbot 1527 allen männlichen Untertanen „bei Straf des Lebens“, mit „Weib, Kind und Dienstleut“ über diese Praktiken zu sprechen oder sich ihnen gar anzuschließen, und ließ 1528 Generalvisitatoren Hausdurchsuchungen bei allen Pfarren vornehmen, um Schriften lutherischer Prägung zu beseitigen. Wiedertäufer, die widerriefen, ließ der FEB verbannen, solche, die sich weigerten, umbringen, im Fall von Frauen durch Ertränken, in einem Pferdebrunnen zum Beispiel die 16-jährige Tochter des verbannten Goldschmiedes Georg Steiner. Aus der Diözese flohen Menschen nach Bayern, unter ihnen Handwerker, ehemalige Priester, ein Mann, „dessen Weib zu Salzburg ertränkt wurde“, ein deutscher Schreiber samt Bruder und Schwester. Bekannten die Flüchtenden sich zu neuem Glauben oder wehrten sie sich nur gegen Rom- oder FEBKirche? 96 Gläubige gingen, wörtlich, eigene Wege: Sie legten die Osterbeichte „auswärts“ ab, wenn ihr Pries-

ter ihr Denken nicht akzeptierte; evangelische Familien in strikt katholischen Gemeinden wanderten in Kärntner, steirische und mährische Gemeinden. Später durften Familien gegen eine Abzugssteuer das Land verlassen, mussten aber beweisen, dass sie nicht Wiedertäufer waren, die ausgerottet werden sollten. Viele Laien waren erbittert über die kostenträchtige Verpachtung von Pfarren an wenig ausgebildete Vikare, gaben kaum noch Opfergelder und Devotionalienhändler klagten, dass niemand Heiligenbilder kaufe, die doch angesichts der „Türkenkriege“ wichtig seien. Da viele Weltgeistliche den Laienkelch boten und ihren Partnerinnen und Kindern verbunden blieben, berief FEB Matthäus für Mai 1537 eine Provinzialsynode. Anwesende habsburgische Räte überlegten, ob Priesterehe und Laienkelch akzeptiert werden sollten oder müssten. Der päpstliche Nuntius unterstellte ihnen und dem FEB Häresie und der Papst tadelte die Bemühung des FEB, geistliches Leben mit vorsichtigen Kompromissen wieder zu vereinen. Konservative verlangten, dass für Bürgerrecht und Meisterstatus, für Hofbeamte und Gewerken ein Eid auf den katholischen Glauben Zwang sein solle. 97 Frieden und Anerkennung der Protestanten sollten das „Augsburger Bekenntnis“, 1530, und der „Augsburger Religionsfriede“, 1555, bringen. Für Laien bedeutete dies nicht Religionsfreiheit, sondern Herrscherauflage, cuius regio, eius religio. Die Herrscher-Familie Habsburg würde das Abkommen nicht einhalten, sondern Prediger verhaften und fortschaffen lassen. Neue wanderten zu. Protestantische Adlige emigrierten. Institutionskirchenweit begann die – meist militärische – Gegenreformation mit dem Konzil von Trient, 1555 bis 1563, und im ZWR mit Amtsantritt Ferdinands als Kaiser, 1556 bis 1564. 98 In einem Flugblatt über den endlosen „Geistlichen Rauffhandel“ (1619) hieß es voller Spott „Deß Herren Wort bleibt in Ewigkeit“.

Alles Vorangehende nach Spechtler und Uminsky, Salzburger Landesordnung, 1–273. Aus Gastein schrieb der bäuerliche Kleingewerke Martin Lodinger an Luther wegen seiner Zweifel am katholischen Abendmahl. Luther riet ihm 1532 zur Auswanderung. Ortner, „Reformation“, 139. 95 Matthias Flacius verkündete Erlösung allein durch Gnade und musste Wittenberg 1549 verlassen. Er plante eine protestantische Universität in Regensburg mit Filiale in Klagenfurt. Anhänger verbreiteten sein Denken im Pongau. Utraquisten waren radikale mährisch-böhmische, anti-habsburgische Christen. Jacob Hutter stammte aus Prag und war Hutmacher, seine täuferischen Anhänger wurden zuerst im Pustertal verfolgt, er 1536 in Innsbruck verbrannt. 96 Johann Loserth, „Zur Geschichte der Wiedertäufer in Salzburg“, MGSL 52 (1912), 35–60. 97 Dopsch, „Bauernkrieg“, 1.2:99–104, 108–109; Zaisberger, „Bauer und Reformation“, 383–386. 98 Die katholischen Gebiete – Spanien und Kolonien – erhielt Philipp II. 93

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11.9 Bilder eigener und weiterer Welten Die Debatten und Kämpfe um regelnde Weistümer und rechtes Evangelium ermöglichen Rückschlüsse auf Denkrahmen, Mentalitäten und Interessen. Wie die Genres der einst offizialisierten oder apokryphisierten Texte und wie das Genre der kirchen-römischen – sogenannten goldenen – Legenden bieten die Erzähl-Genres einfacher Menschen und die Kunstwerke für Wohlhabende Einblicke in Vorstellungen zu übernatürlichen Wesen und Liturgisierung der Religion. Gläubige in der Kirchenprovinz erzählten sich, wie Maria mit Kind oder als Dreiheit Joseph-Mariaund-Baby in ihrer Nähe vorbeigezogen seien (s. Kap. 9.3). Dies erschien Oberen als simpel, wenn auch verständlich, „volksnah“, aber sie ließen gleichzeitig ihre Maler Maria als sozial (und geografisch) hochmobil darstellen: 99 In einem gut ausgestatteten Bürgerhaus geboren, lebte sie als Er-

Abb. 11.18 Geburt Marias, bürgerlich, ~1485, Laufen?

wachsene luxuriös gekleidet in reizvollen italienischen Landschaften. Bürger-, Kleriker- und Finanziers-Familien wandelten sie und Heilige in Kunstsubjekte und -objekte. Im späteren 15. Jahrhundert überwogen künstlerische Leistung und Preis den religiösen Inhalt; Künstler*innen in Siena, Venedig, Florenz, Mailand, Ferrara differenzierten Stile und Sammler*innen investierten viel Geld in die translatio aus dem Kontext der Bibel in ihr soziales und landschaftliches Umfeld. Maria erschien, zum Beispiel, in golddurchwirktem Gewand wie höchste Kleriker und auf einem Thron wie Papst und Kaiser. Kunstwerke, die datierbar und erhalten sind, gelten im Gegensatz zu schwer datierbaren und oral flexibel weitergegebenen Erzählungen als belegund zitierbare Quelle. Doch Hochstehende ließen je nach Bedarf Gemälde ergänzen, übermalen und umgestalten. Barocke Kleriker, die die Visualisierungs-Mode änderten, ließen geweihte Altäre entfernen, die Tafeln zersägen und verkaufen, um den Raum für Neues zu nutzen. Pachers Madonna der Liebfrauenkirche in Salzburg-Stadt ist ein Überrest des von Franziskanern zersägten und eingeschmol-

Abb. 11.19 Maria in italienischer Landschaft, Cherubim und heranfliegende Heuschrecke, Bernardino Fungai, zw. 1495 und 1510

Zum Folgenden Stefano Zuffi, Gospel Figures in Art, übers. von Thomas M. Hartmann, Los Angeles 2003 (ital. 2002); Erika Langmuir, A Closer Look: Saints, London rev. 2009; sowie Abteilung „13th–15th-Century Painting“, National Gallery, London (Stand 2014).

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Abb. 11.20 Maria und Josef gehen mit Kind an Wien vorbei, Schottenaltar, Wien

zenen Altars. Ausstellungs-Kurator*innen stellen den Kontext der Fragmente ebenso mühsam wieder her wie Ethnolog*innen Volksmärchen und ihre Veränderung durch Sammler wie die Brüder Grimm. 100 Dass Hochgestellte Märchen erzählten, haben Erinnerer oft nicht wahrgenommen. Laut einer Schriftquelle gab es in alten Zeiten einen mächtigen Herrscher. Er war sehr reich, lebte in einem Palast und wollte mehr. Er rief seine Geschichtenschreiber und sie erzählten aller Welt, dass in noch älteren Zeiten ein Kaiser ihrem Herrn viel fruchtbares Land mit vielen arbeitenden Menschen geschenkt hätte. Sie zeigten als Beleg ein leeres Pergament, das sie in eine schöne Urkunde verwandelt hatten. Ein Besucher aus dem fernen Frankenland, der ein so wundervolles Schriftzeugnis noch nie gesehen hatte, war tief beeindruckt – und er war klug: Er schenkte mit großer Geste alles gleich noch einmal und bekam dafür als Gegengabe, ebenfalls mit großer Geste, eine Ölsalbung und Königskrone. Ländliche Menschen kannten nicht den historischen Hintergrund, Konstantinische und Pippinische Schenkungen, aber den Topos: Sie wussten um Menschen, die von Reichtümern träumen.

In der Diözese Salzburg hatte EB Adalram, der seine Herrschaft durch Kleriker anderer Orthodoxie bedroht glaubte, die fiktive Conversio Bagoariorum et Carantanorum niedergeschrieben (~870), ein Kaiser glaubte die Geschichte. Die Habsburger Rudolfe verfassten als Urkunden-Schriftsteller Privilegien, Kaiser glaubten ihnen. Schon quellenkritische Zeitgenossen waren ungläubig. In offiziellen Erzählungen zogen Erzbischöfe Reichtum aus geschenktem Land, in Volksmärchen waren Edelsteine und Bergkristall im Land zu finden. Eine weitere – der Bibel entnommene – Bildlichkeit stellte Kleriker als Seelenhirten dar, sie predigten unter anderem zu Schweine-, Rinder- und Ziegenhirten. Diese wussten über ihre Herden genau Bescheid, Seelenhirten über die ihren nicht immer. Machten erstere Fehler, wurden sie bestraft. Aus Sicht der Gotteshausleute ließen Erzählungen der Seelenhirten vieles offen. In ihrer Welt gab es Donner und Blitz, doch hatten die Priester den Donnergott abgeschafft. Neu waren in der oberen Welt Herrscher und Kleriker, die Bannstrahle ausschicken konnten. Sie waren gefährlich, manche bannten sogar den Erzbischof in Salzburg. Ging dies mit rechten Dingen zu? Während der Messe am Sonntag verstanden die meisten Latein und Gestik nicht. Vielen schien die Kleriker-Welt als verkehrte Welt und in den Topoi ihrer eigenen Erzählungen suchten sie das rechte Maß oder eine umfassende Perspektive wiederherzustellen – das heißt ihre Identität als Gläubige. Die fachsprachlich „gut dokumentierten“ – korrekt und quellenkritisch „sich dokumentierenden“ – Seelenhirten, Genre Egodokumente, konnten ihre unfreien Untertanen, nach-unten-Getane, übersehen, diese die Mächtigen über sich nicht. Sie erzählten von Riesen, die prahlten, prügelten und sich gegenseitig umbrachten. 101 Einem Riesenmädchen, das kleine Mücken sammelte, sagte ihr Ohm, dass das Gewusel Menschen seien, die man zerdrücken könne. Schlimm waren Untiere, Drachen genannt, die Menschen terrorisierten und es besonders auf schöne junge Mädchen abgesehen hatten. Ähnlichkeiten mit saufenden Rittern, manche über und über behaart und mit ungekämmten wilden Haaren, mögen beabsichtigt gewesen sein. Drachen

Heinz Rölleke, Die Märchen der Brüder Grimm. Quellen und Studien, Trier 2000. Herrscher glaubten vermutlich an Riesen, denn Riesenknochen fanden sich gelegentlich in ihren Wunderkammern. Naturwissenschaftlich handelte es sich um Mammutknochen.

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mussten besiegt werden, sei es durch einen tapferen Ritter, gelegentlich gestützt durch die Liebe seiner Braut, sei es durch einen Trick-reichen Hörigen, sei es durch einen Zwerg. Erst dann konnte, wie nach Fehdezügen der Macht-Haber, Leben in die Gegend zurückkehren. So der generische Topos. Spezifisch konnten Herren aus guten Ernten durch Sonderabgaben und durchziehende Söldner, gewissermaßen wie Wettermacher, die es angeblich nicht gab, Hungerwinter machen. 102 Einen übermächtigen Riesen in Südtirol, Brixener Suffraganbistum, der alles zertrat, überlistete in biblischer Analogie zu David und Goliath ein Zwerg. Für die Zuschauenden war es sehr komisch zu verfolgen, wie der Mächtige den Kleinen in seinen Haaren nicht erwischen konnte. Anderswo kämpften zwei mächtige Männer auf Kosten ihrer Untertan*innen gegeneinander: Herzog FriedrichInnsbruck belagerte den Herren von Burg Hochgalsaun (Etschtal). Als dieser aufgeben musste, erhandelte seine Frau freien Abzug für sich mit allem, was sie tragen könne. Am nächsten Tag kam sie, ihre Schürze voll von Menschenbesitz sichernden Lehnsbriefen, auf dem Rücken ihren ritterlichen Mann tragend. Die Welt bietet, für am Straßenrand Zuschauende, interessante Spektakel. Das Thema der lokal spezifischen WatzmannSage 103 (s. Kap. 7.9, Abb. 7.24) war ebenfalls generisch und die folgende Variante bezog sich auf einen Vorfall nahe Verdun. Ein Herrscher – sei er König oder Vogt – mit stolzer Burg erfand, grausam und hartherzig, stets neue Qualen gegen seine Untertanen. Er ließ die armen Bauern vor den Pflug spannen und hetzte seine Hunde auf sie, damit sie umso rascher die Furchen zögen. Einer der Armen, Hois war sein Name, sah am Abend ein kaum zwei Zoll hohes Männchen von einer Erdscholle auf sich

zukommen und mit freundlichem Blick in seine Jackentasche springen. Zuhause stellte es sich als Heinzel, König der Erdmännchen, vor. 104 Heinzel war des nichtswürdigen und gotteslästerlichen Treibens des Herrschers müde. Er brauchte nicht Staatstheoretiker zu sein, um die Tötung des Tyrannen zu rechtfertigen. 105 Am nächsten Morgen schleuderten die Hörigen Steine, die sich im Flug zu Felsbrocken wandelten, auf Tyrann und Hunde, die Hundemeute floh jaulend und, wo noch eben der Herrscher stand, erhob sich ein steinerner oder versteinerter Bergriese. Vermutlich gab es keine Erdmännchen. In der Region hatte jedoch Mitte des 11. Jahrhunderts ein Untervogt Klosterhörige vor seinen Pflug gespannt (s. Kap. 7.3). 106 Die generische Märchen erzählenden dörper*innen wussten, dass ihre Gegner Städter waren, die – marktwirtschaftlich und diskursmonopolistisch – sie für dumm verkauften. Sie erzählten sich, dass einst Jesus und Petrus durch die benachbarte Stadt gegangen waren, um zu testen, wie die Menschen sich verhielten. An allen Türen, an denen sie um einen Schluck Wasser baten, wiesen die Städter*innen sie ab. Erst in einer kleinen Hütte am Rand nahmen die Bewohner*innen sie freundlich auf. Nachdem sie getrunken hatten, goss Jesus aus seinem Becher den Rest Wasser auf die Erde. Das Wasser hörte nicht auf zu fließen, wurde Wildbach und schwemmte die Stadt samt Bewohner*innen weg. Die Städter*innen hatten – typisch aus Sicht der Ländler – ohne Demut gehandelt, der ärmste dörper und seine Frau waren ehrsamer. Die Strafen schienen hart, aber weisen auf Handlungsmöglichkeiten: Die Hochmütigen hätten sich nicht eigennützig aus demütiger Gemeinschaft auszugliedern brauchen, hätten anders entscheiden können. Die einfachen Menschen, die auf Schutz durch „Her-

Der folgende Abschnitt beruht auf Rudolf von Freisauff (Hg.), Salzburger Volkssagen, Wien 1880; Wolfgang Morscher und Berit Mrugalska (Hg.), Die schönsten Sagen aus Salzburg, Innsbruck 2010; und dies., Die schönsten Sagen aus Südtirol, Innsbruck 2010; Maria Vinzenz Süß, Salzburger VolksLieder. Nachdruck der Ausgabe Salzburg 1865 = Salzburg Archiv 19 (1995); Michael Dengg (Hg.), Lungauer Volkssagen, 1922, Mauterndorf 51973; Guido Müller (Hg.), Die Salzburger sind ein munteres Volk, Salzburg 2013; umfassend zu Kontext und Überlieferungstradition annotiert Margareta Fuchs und Veronika Krapf (Hg.), Von wilden und weisen Frauen. 150 geheimnisvolle Frauen-Sagen aus Tirol, Innsbruck 2009; http://www.sagen.at/texte/sagen/ oesterreich/salzburg/lungau/sagen_lungau.htm (1. September 2020). Verschriftlichungen datieren meist aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. 103 Bauern, denen die Gegend verleidet war, zogen nach Tirol. Sie wussten um die günstigeren Bedingungen. 104 Heinzelmännchen waren auch in Köln aktiv, sei es, dass sie oder dass die Berichte gewandert waren. Werkbänke, die das Einklemmen von Werkstücken erlauben, heißen Heinzelbänke und Hebewerke für Wasser in Bergwerken Heinzenkünste. 105 Nach Erzählungen ließ der grausame FEB Michael (Kuenburg) einen Bauern, der einen angeschossenen und verendeten Hirsch ausgewaidet hatte, in ein Hirschfell einnähen und von Hunden zerfleischen. Am drauffolgenden Jagdtag „kam er nicht mehr lebend heim. Er stürzte vom Pferd und brach sich den Hals“. Realhistorisch starb der übergewichtige Fürst nach einer Eberjagd 1560 an einem Schlaganfall. Rudolf von Freisauff (Hg.), „Aus Salzburgs Sagenschatz“ [1880, Ausg. Salzburg 1914], Salzburg Archiv 15 (1993), 18. 106 Freisauff, Volkssagen, 142–144. 102

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renwort“ und „Kirchenworte“ nicht rechnen konnten, wussten, dass eigenes Handeln, zum Beispiel schlechtes Getreide als Zins, Selbst-Hilfe bot. Sie warteten nicht auf höhere Kräfte, sondern verweltlichten die Hoffnung auf ein besseres Leben, die Kleriker ins Jenseits ausgelagert hatten. 107 Die Erzählungen variierten gemäß Natur- und Sozial-Welt von Brixen bis Steiermark, vom Gebirge bis zur Donau. Geheimnisvolle Erzleute erschienen nur in Bergbaugebieten, Wassergeister nur bei Seen und Flüssen, Donauweibchen nur an der Donau. Für einige lässt sich ein auslösendes Ereignis datieren; andere über die Macht eines Ritters, eines harten Vaters oder Riesen waren nicht zeitlos, sondern zeitübergreifend, raumspezifisch und doch überräumlich. Da sie weit zirkulierten, entstanden wie bei Textabschriften zum Beispiel der Bibel viele Varianten. Die Bibel vereinheitlichten erst Hieronymus und später Alkuin aus Hunderten Fassungen und Kleriker veränderten hagiographische Texte je nach Publikum und Stilphase. Gebildete hörten – auch dies zeitübergreifend – nicht auf die Erzählungen von dörpern und dörperinnen. Hörfähigkeit ist eigenartig: Sie funktioniert meist gut nach oben und schlecht nach unten. Topoi wie helfende Kräfte und wildes Treiben, Übermaß und Macht erschienen meist personifiziert. Wie Kleriker den Himmelsraum, besiedelten Gotteshausleute den Lebens-Raum. Monotheismus und Dreigöttlichkeit – vier mit Maria, fünf mit der später hinzugefügten Anna – waren eng. Die Gläubigen wussten um viele unsichtbare, aber erfahrbare Personen-Kräfte (hidden people): in Höhlen lebende „Antrische“, wilde Männer und Frauen, Riesen und Riesenkinder, Kasermandln, weise Männer und Frauen. Diese und die christlichen Welten waren verwoben: Von Männern verfolgte Frauen stürzten sich in ihrer Verzweiflung von Burgtürmen, Engel trugen sie unverletzt herab; ein schöner Jägersmann warnte ein Bauernmädchen vor dem Dienst in einer Ritterburg – zwar war der Jägersmann der Teufel, aber der Ritter teuflischer. Ein machtvoller und her-

zensleerer Vater verbot seiner Tochter, den Geliebten zu heiraten, sie betete inbrünstig zu Maria. Diese schickte den Topf voll Gold, den der Alte wollte; er überließ die Jungen ihrem Glück. Volkserzählungen analysierten Problemlagen, verallgemeinerten sie und waren Lösungs-orientiert, die Gotteshauserzählungen schlugen meist nur Gaben und Buße vor. Diese Wesen-Kräfte, außerhalb der Macht der Herren, er-lebten Unfreie. Sie waren schlicht gekleidet: männliche Helfer meist grau oder „eisgrau“, weibliche hell oder gar weiß. Das einzige Wesen, dass sich gelegentlich besser kleidete, war der Teufel. Saliche waren jung und schön und, ebenso, Burgfräulein. Letztere hatten die Möglichkeit und Zeit, Salben und Öle zu verwenden. Andere Kräfte wie Kräuterweiber waren physiognomisch alt. Sie kannten Zwerge, meist männlich, in die Zukunft schauende Willeweis (weiblich), Wilde Frauen und, seltener, Wilde Männer. 108 Saliche, mit Augen hellblau wie Flachsblüten, lebten bescheiden und zurückgezogen und nahmen über Nacht Frauen Feldarbeit und Spinnen ab. Sie beschirmten das Wild vor Jägern. Auch Wilde Frauen waren oft hilfsbereit und stark – bis sie gerufen wurden, weil in ihrer Welt jemand gestorben war. Einzelne suchten Sex mit Landmännern oder auch nur ihre Zuneigung – sie schlugen sie in ihren Bann, aber aufmerksame Landfrauen konnten ihren Einfluss durch Abschneiden einer Locke beenden. Helfende Wesen waren in Ruhe zu lassen und man durfte ihnen nicht danken. Legte man ihnen eine Gabe hin, zum Beispiel einen Rock in kalter Jahreszeit, jammerten die Helfer*innen verzweifelt und mussten Ort und Familie verlassen. Welche Kraft zwang sie dazu? Buch-christlich durfte man Dank nicht annehmen, denn er mache hochmütig, so die Autoren. Waren die Erzählungen ein Plädoyer für stille und verlässliche Hilfe? Zwergen war ehrerbietig zu begegnen, sie wussten vieles und, anders als Priester, halfen sie oft. Doch schickten sie bei Verhöhnung harte Strafen. Im Leisnitztal im Lungau ärger-

Eigenes Handeln ist für die vielen „Aufstände“ von Handwerker*innen und Landleuten untersucht, für die französische und amerikanische Revolution und für die Abwanderung aus politökonomischen Desasterzonen. Dirk Hoerder, „From Dreams to Possibilities: The Secularization of Hope and the Quest for Independence“, in: ders. und Horst Rössler (Hg.), Distant Magnets: Expectations and Realities in the Immigrant Experience, New York 1993, 1–32. 108 Freisauff, Volkssagen, 145. Die Figur eines Wilden Mannes enthielt – neben Figuren von Christus und der hl. Katharina – der Stab des Abtes von St. Peter, Rupert Keutzl (1485). Heinz Dopsch und Roswitha Juffinger (Hg.), Das älteste Kloster im deutschen Sprachraum. St. Peter in Salzburg, Salzburg 1982, Kat. 435. 107

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Bilder eigener und weiterer Welten

ten zwei Buben einen Zwerg, obwohl doch jeder wusste, dass er hilf-reich war. Wenig später schwemmte ein Hochwasser das Dorf weg. 109 Böse und unnütze Wesen machten das Leben schwer: Kasermandln, die im Winter in den Almhütten der Sennerinnen und Senner hausten, und Nörggelen, die einst mit „dem Schwarzen“ vom Himmel gefallen waren. Schlimmer waren Hexen, meist Frauen, nur der Hexenmeister ein Mann. Nach einer Erzählung konnten sie eine der ihren essen, dann die Knochen wieder zusammensetzen und die Person wieder zum Leben erwecken: Nicht nur in Reliquienschreinen boten Knochen unerwartete Möglichkeiten. Das Kreuz, für Jesusdarstellung wie Teufelsaustreibung zentral, war ein Mehrzweckinstrument: Wer mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hatte, sollte ihn mit Kreuzern bezahlen, dann floh er. An einem Ort, wo sich die Friedhofswege zweier Gemeinden kreuzten, also Tote über Kreuz getragen wurden, gab es die einzige Schwarzkunstschule in der Kirchenprovinz, glaubten Menschen zu wissen. Erzählungen enthielten Vergangenheit und Zukunft, manches stammte aus Vor-zeit, vorchristlicher Zeit: „Heidenwege“ und, in Salzbergwerken, „Heidengänge“. Burgen einst stolzer Ritter erschienen als totes Gemäuer ruinierter Geschlechter. In deren Gänge einzudringen bot Möglichkeiten, aber nur vor-witzige Männer wagten dies. Einer fand im Keller einer Burgruine ein Fass edlen, teuren Weins, drei steinalte Männer erlaubten dem erschrockenen Eindringling, eine Kanne mitzunehmen. Dies war ein Volksmärchen. In einer anderen Burg, Hauenstein, hatte einst Oswald Wolkenstein gelebt, der, in die Welt gezogen, darüber Geschichten in Form von Gedichten aufgeschrieben hatte. Da er schrieb, gilt er nicht als Märchenerzähler, sondern als wichtiger Dichter. Die Zeittiefe der Umwelt-Bilder vieler „einfacher“ Menschen gleicht und unterscheidet sich von den Geschichten der Mächtigen. Bezahlte Genealogen suchten durch zeitlich tiefe Rückführung – bis zu Aeneas und König David – Herrschaft zu legitimieren, Hagiographen mittels Askese und

Wunder in alter Zeit Gegenbilder zur zeitnahen luxuriösen Lebensweise Mächtiger zu schaffen. Legendäre Ahnenreihen erstellten Gregors Dialogi, die Kirchenväter-Ernennung, das Magnum Legendarium Austriacum Regensburger oder Salzburger Kleriker, Jacob Voragines Legenda aurea oder sanctorum. Anders sozialisierte, einfache Geschichtenerzähler sahen Kontinuität: Vieles, das „in alten Zeiten“ geschah, war auch in ihrer Lebenswelt gegenwärtig. Zeittiefe suchten sie bei Gerichtstagen durch Rezitation des Gewohnheitsrechtes als Brauch der Ahnen. Dekret-Recht war schriftliche Innovation. 110 Wilde Männer hatten in manchen Erzählungen Ähnlichkeit mit Erzbischöfen und anderen Adligen: Sie frönten in wilder Lust der Jagd, folgten dem Schall der Hörner mit wilder Meute. Sie tobten durch Wälder und Felder zum Schrecken und Entsetzen der Untertanen, deren Saaten sie zertraten und so rechtes Zusammenleben übertraten. Die visuell-offizielle Erzählung zur Schaffung historischer Erinnerung zeigte die Erzbischöfe nie als wilde Jäger. Und doch war ihnen die Jagd so wichtig, dass sie das Schießen von Wild durch Untertanen unter harte Strafen stellten. Die Erzbischöfe lagerten in ihrer Hohensalzburg übermäßig viel Gutes ein. Die Weinkeller waren überfüllt, wie die Weinfuhrleute wussten. Trinkgesellen mit besonderen Fähigkeiten flogen der Sage nach dorthin und labten sich, bis sie der Kellermeister überraschte, der seinerseits einen unerlaubten Abendtrunk nehmen wollte. Die Gesellen nahmen noch einen Schluck, flogen samt Kellermeister davon und setzten ihn im Wipfel einer hohen Tanne ab. Als am nächsten Morgen zwei Bauern vorbeikamen, rief Hochwürden um Hilfe, doch die Nichtswürdigen wagten nicht, zu helfen. Sie benachrichtigten den Erzbischof. Anderswo ruhten vor einer Burgruine an einem lauen Sommerabend drei Hirten. Als sie ein Knarren vernahmen und hochschauten, saß in einer leeren Fensterhöhlung eine Frau, die ihr langes Haar kämmte. Ihr Kopf war ein Totenkopf. Einst hatte der Herr der Burg, bevor er als Kreuzfahrer ins Heilige Land zog, seine

Dengg, Volkssagen, 238. Zeittiefe kann Gesellschaftsformationen und Religionen überspannen. Sprichwörter, die ostmittelmeerische Menschen vor der arabischen Annexion unabhängig von ihrer Religion verwendeten, sind in modernen arabisch-muslimischen Gesellschaften weiterhin üblich. S. D. Goitein, „The Present-Day Arabic Proverb as a Testimony to the Social History of the Middle East“, in: ders., Studies in Islamic History and Institutions, Leiden 1968, 361–379.

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Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre

schöne junge – und schwangere – Frau mit ihrer Magd in den Wohnturm eingemauert. Er hatte Angst, dass sie einen anderen fände. Er füllte den Turm mit Lebensmitteln. Als er, viel zu spät, zurückkam, fand er drei Tote: Magd, Frau-Mutter, verhungertes Baby an der Brust. Der Ritter fiel tot um, die Frau fand keine Ruhe. Von der Magd wurde nichts erzählt. Viele Geschichten – darunter Chroniken von Klerikern – erzählten von Frauen, die ihr kreuzfahrender Ehemann zurückließ. Über- und Hoch-Mut war nicht nur Eigenschaft von Rittern und Mächtigen, sondern auch von Bergknappen, Großbauern und -bäuerinnen sowie Sennen und Sennerinnen auf besonders üppigen Almen. Die Bergsagen stammten aus Zeiten, als Prospektieren und, bei glücklichen Funden, Reichtum möglich waren. Die Knappen (späterer Terminus) wurden schnell reich, reicher als ackernde Menschen um sie herum. Sie prassten, ehrten Sonntag und Weih-Nacht nicht, belästigten Frauen, häuteten brutal einen Ochsen bei lebendigem Leibe – dokumentiert ist, dass Menschen durch brandschatzende Raubritter und inquisitorische Kleriker bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Gerechte Kräfte straften: Unwetter zogen mit Donnergrollen heran, nach einem Bergrutsch war kein Stollen wiederzufinden, an anderem Ort Hochflächen für immer vereist. Empörte Bauersfrauen wehrten sich: In der kleinen Schmiede des Hofes schmiedeten sie eine eiserne Henne und vergruben sie nahe dem Erzabbau. Fortan versiegten die Adern und die Knappen zerstreuten sich in alle Winde. Erst wenn die eiserne Henne Eier legen würde, hieß es, würde die Ader wieder erscheinen. 111 Dies setzte, dass auf Hufen Amboss, Hammer und Eisen vorhanden waren und dass Frauen schmieden konnten. Dass sie Hennen fütterten und den reichen Eiersegen sammelten, war bekannt. Viele Bergbewohner*innen kannten die Heilkraft spezifischer Pflanzen und wussten um die Orte, an denen sie zu finden waren. Sie wurden geschätzt. Allerdings war gegen Krankheiten wie Übermut „kein Kraut gewachsen“. Zu der Verbindung von Natur und menschlicher Heilung ent-

standen Wunschgeschichten: ein Kraut, das Eisen in Gold verwandelte; ein Haselwurm, der seinen Finder die Stimmen der Tiere und Pflanzen verstehen ließ. Paracelsus, der große Arzt und Forscher, besaß – so erzählten Gläubige, die an seine Wissenschaft nicht glaubten – einen Haselwurm. Heilkunst und „Schwarzkunst“ schienen ineinander überzugehen. Real gingen Kräuterkunde und Fernhandel ineinander über. Besonders in den Kärntner Nockbergen sammelten Kenner*innen seit keltischer Zeit Speik, auch Alpenbaldrian, Maria Magdalenen-Blume oder Valeriana celtica genannt. Daraus ließen sich Öle und Parfums herstellen, beide „im Orient“ begehrt, sowie Beruhigungsmittel. Das Monopol auf den Speikhandel erhielt 1460 der Markt Judinburch (Eppenstein, urk. 1074), Exportzentrum nach Venedig, von Kaiser Friedrich III. Habsburg = Hz Friedrich V. Steiermark. Die einstige Beteiligung von Kaufleuten jüdischer Religion endete mit ihrer Vertreibung oder Ermordung durch die Erzbischöfe. Für Juden waren Kleriker gefährlicher als böse Geister. Auch die Jagd warf Fragen auf: Lebende, anmutige Tiere wurden zu potenziellen Trophäen verdinglicht und getötet. Herrscher und ihre Apparate schränkten die Nutzung von Wald und Weide zugunsten ihrer wilden Jagd ein. Bauern mussten Zäune entfernen und für die Jäger Treiberdienste leisten. Der Wildschaden nahm Lebens-bedrohende Ausmaße an. Einst wollte ein Jäger mit seiner Armbrust Steinböcke und Gämsen jagen. Eine Frauengestalt in silberschimmerndem Kleid am Ufer eines stillen Alpensees – Nachkommin oder spirituelle Kontinuität einer römischen Nymphe? – verwehrte ihm dies. Sie war Beschützerin des Wildes und versprach dem Jäger Silbererz und Edelsteine, wenn er kein Tier mehr töten würde. Der Jäger schwor, wurde reich und lebte ohne Sorgen – bis er seinen Schwur brach. Er konnte seine Jagd-gier nicht beherrschen 112 und tötete, fachsprachlich „erlegte“, einen Steinbock mit gewaltigen Hörnern (Maskulinitätssymbol). Seither fanden die hart arbeitenden Erzleute nur noch Blendgestein. Real geschah dies am Schneeberg in Passeier, wo 1237 das höchste

Hahn, oft als Wetterhahn, galt als Symbol Christi. Sein Krähen am Morgen weckte die Menschheit. Hingegen ist die Symbolbedeutung von Hennen kaum untersucht. Nach einer Sage ließ Karl d. G. nach einem Sieg über Sachsen am Ort eines ihrer „heidnischen Tempel“ eine Kirche mit einer goldenen Henne auf der Spitze errichten. Sie sollte weitere Kirchen ausbrüten. Theodelinde (~570–627), Tochter von Garibald I. und Waldera, besaß eine goldene Henne mit Küken – Symbol oder Spielzeug? Sie wurde früh als Heilige verehrt. 112 In Kirchenerzählungen begleitet ein zahmer Löwe Hieronymus, in manchen Interpretationen Symbol dafür, dass Hieronymus das Wilde in sich gezähmt habe. 111

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Bilder eigener und weiterer Welten

Silberbergwerk Europas entstand und es 1360 plötzlich nur einfaches Erz gab. Selbst bei dessen Abbau störten Nörggelen. 113 In den Siedlungen der Hörigen, in denen sie ihre vielfältigen Umwelt-Bilder erzählten, lebten auch Priester, Vikare und Kapuziner. Sie traten kaum in den Erzählungen auf – waren sie randständig oder unwichtig? Gelegentlich wurde ein Franziskaner gerufen, um einen Teufel auszutreiben. Die Menschen, die um viele Wesen wussten, berichteten darüber nicht nach oben – wiederum eine Leerstelle in den Dokumenten. Wenn Hörige Kleriker um Hilfe fragten, hatten diese für böse Kräfte, oft Zauberei genannt, als Gegenzauber Weihwasser. Dass auch Kleriker „aber“-gläubisch waren, nutzte ein Tunichtgut, Sohn einer ehrlichen, armen Mutter. Er fing eines Abends eine Menge Krebse – korrekt, denn dies durften Hörige, um sich zu ernähren. Nachdem er ihnen kleine Kerzen auf den Rücken geklebt hatte, ließ er sie auf dem Friedhof frei und stellte sich mit einem großen Sack vor das Friedhofstor. Den wandernden Lichtern rief er zu, dass, wer in den Himmel wolle, in den Sack kriechen müsse. Dies hörte der Messner und weckte

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verschreckt den Priester: Arme Seelen wimmelten auf dem Friedhof und am Tor stünde ein Erzengel mit offenem Himmelssack. Hochwürden eilte herbei, wollte sich den Himmel nicht entgehen lassen und kroch auf allen Vieren in den Sack. Der Tunichtgut schnürte den Sack zu und trug ihn in den Keller der Pfarrei. Als am Morgen die Hauswirtin Speck holen wollte, erkannte sie die Stimme des eingesackten Pfarrers, befreite ihn und erläuterte ihm, dass dies kein Oberengel, sondern der Teufel gewesen sei. 114 Es gab, allein in dieser Mikroregion, viele Christentümer und vielseitige Weltsichten. Unter den guten Geistern traten nie Kleriker*innen auf, einige halfen jedoch und wurden als Heilige dargestellt und geschätzt. An den Befreiungsbemühungen im 15. Jahrhundert beteiligte sich, wenn zeitgenössische Schätzungen richtig waren, ein Viertel der Gesamtbevölkerung der Diözese. Die übrigen Dreiviertel stellten sich ihnen nicht entgegen. „Weltbilder“ oder Mentalitäten lassen sich sinnvoll nur analysieren, wenn Gesellschaften insgesamt behandelt werden.

Morscher und Mrugalska, Südtirol, 53–55. Morscher und Mrugalska, Südtirol, 44–51.

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Veränderte Welten, 15./16. Jahrhundert

12 Globale Perspektiven bis zum 16. Jahrhundert, regionaler Ausblick bis 1803/16 Durch neue welträumliche Vorstellungen und durch Entscheidungen von Teilen der Eliten verlor der Mittelmeer-Raum im 15. Jahrhundert an Bedeutung und Seeleute suchten Reichtümer eines fast mythischen „Indiens“ westwärts über den Atlantik. Es hieß, dass im Reich von Maximilians Enkel Karl V. (h. seit 1519) die Sonne nicht unterginge; für Menschen von den Sklaven-Jagdzonen in Westafrika bis zu den Sklavenarbeits-Regimes in der Karibik und Südamerika war die Herrschaft der Familien Habsburg und Avis in Spanien und Portugal todbringend (Kap. 12.2). Wie die Fürsterzbischöfe für Salz- und Erzbetriebe, verwendete die Familie Avis das Geschäftsmodell des outsourcing oder franchising an Privatunternehmer für den Atlantikhandel und diese lieferten Produkte der Kolonisierten und Versklavten. Die transeuropäischen Oberen kauften Zucker, Pfeffer, Ingwer, Zimt und vieles andere, einfache Menschen mit diesen Spezereien gewürzte Lebkuchen. Die Gewürze wurden in Haushalten Wohlhabender Teil europäischer Kochkunst; in kleinen Haushalten senkten Herrscher-Abgaben und „Türkensteuer“ die Kaufkraft. Als Konquistadoren, das heißt die Söhne machtvoller iberischer Familien, die Goldschätze der Azteken- und InkaHerrscher raubten, sanken die Weltmarktpreise für Edelmetalle und dies betraf Bergwerker-Familien in den Tauern (Kap. 12.1, 12.3). 1 Drei anfangs zusammenhanglose außer- und rand-europäische Entwicklungen veränderten das globale Gefüge: Die Eliten des chinesischen Großreichs, des winzigen Königreichs Portugal und des expandierenden Osmanen-Reichs ließen Militärs und Kaufleute terrestrische und maritime Makroregionen erschließen, beschießen und sich untertan

machen. Die Folgen betrafen alle sozialen Schichten in Lateineuropa. Das von den Song-Herrschern modernisierte Chinesische Imperium war inklusiver und administrativ effizienter als europäische Herrschaften. 2 Unter den Yongle-Herrschern (Ming-Dynastie) unternahm Admiral Zheng He (1371–1433/35) ab 1405 mit gewaltigen Schiffen und bis zu 28.000 Mann Besatzung – darunter Dienstleute, Dolmetscher und Gelehrte – diplomatische Missionen zu Gesellschaften Südostasiens, Indiens, Arabiens und Ostafrikas. Zheng He, dessen Vorfahren persischer Kultur und Sprache als hohe Beamte der Mongolenherrscher zugewandert waren, migrierte aus Yunnans Hui-Kultur zur kaiserlichen Verwaltung und wandte sich der Verehrung der Göttin Mazu der Seefahrer, Fischer und Bootsleute in den Küstenprovinzen Zhejiang und Guangdong zu. Die Mannschaften seiner Flotten ernährten sich durch Gemüseanbau und Schweinezucht an Bord ohne Notwendigkeit zu Reproviantierung und Gefährdung durch Skorbut. Da Seerouten und Küstengesellschaften bekannt waren und die Nautik hoch entwickelt, verliefen die insgesamt sieben Expeditionen zügig und konfliktfrei. Doch imperiale Bürokraten beendeten sie 1433, denn die fremden Einflüsse, die Fernsegelnde zurückbrachten, erschienen ihnen suspekt. Unternehmerisch denkende Händler im Süden, weit von den Bürokraten der Hauptstadt entfernt, segelten weiterhin zu den Philippinen und zur Malaiischen Halbinsel. Sie siedelten sich an und entwickelten eine Handelsdiaspora. 3 Zur gleichen Zeit begannen am entgegengesetzten Ende der trikontinentalen Welt Seefahrer der portugiesischen Herrschaftsregion, deren Topografie Landwirtschaftenden nur knappe Subsistenz bot,

Bartolomé Bennassar und Pierre Chaunu (Hg.), L’ouverture du monde, XIVe–XVIe siècles, Paris 1977; Wolfgang Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion, 2 Bde., Stuttgart 1983–1985; Philip D. Curtin, Cross-Cultural Trade in World History, Cambridge 1984; Eberhard Schmitt, Die Anfänge der europäischen Expansion, Idstein 1991. 2 Dieter Kuhn, Die Song-Dynastie (960 bis 1279). Eine neue Gesellschaft im Spiegel ihrer Kultur, Weinheim 1987; Lo Jung-Pang, „The Emergence of China as a Sea Power during the Late Sung and Early Yüan Periods“, Far Eastern Quarterly 14.4 (August 1955), 489–503. 3 Erst in der Phase des Übergangs zu nationalem Denken um 1900 wurde Zheng He in chinesischer Erinnerung zum Protagonisten. Louise Levathes, When China Ruled the Seas: The Treasure Fleet of the Dragon Throne, 1405–1433, Oxford 1994. 1

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Globale Perspektiven bis zum 16. Jahrhundert, regionaler Ausblick bis 1803/16

Routen entlang der Küsten des Maghreb bis nach Westafrika zu sondieren. Dies diente einerseits als Arbeitsbeschaffungsprogramm in Transport und Schifffahrt, denn viele junge Menschen hatten keinerlei Aussichten, und andererseits der Erschließung-Eroberung von Siedlungs- und Ausbeutungsgebieten. Die nautische Expertise brachten migrantische Seekaufleute Genuas ein. Sie hatten bereits um 1160 an Nordafrikas Atlantikküste Stützpunkte errichtet (s. Kap. 6.11) 4 und kastilisch-oberitalienische Seehändler hatten nach 1300 die einst Phöniziern bekannten und afrikanisch besiedelten Kanarischen Inseln erreicht. Beginnend mit der Eroberung Ceutas, 1415, bildeten Herrscher und Kauf-Seefahrer ein Kombinat. 5 Erforderte dies Vordringen eine Korrektur des Weltbildes? Das antike alexandrinische Mehrebenen-Wissen hatten manche Rom-Kurialen

auf eindimensionale Form reduziert. Seeleuten hingegen war sichtbar, dass der Horizont gekrümmt ist und Intellektuelle wie Albertus Magnus wussten über arabische Gelehrte von der Kugelform der Erde. Diese Denkfortschritte stellten Kirchen- und Hofmaler nicht dar, Erinnerer sprachen von „Entdeckungen“, die „der Krone“ zu Gute kamen. Die dritte Entwicklung war die bereits dargestellte arabische Handelsentwicklung und osmanische Staatsbildung in der Scharnierregion zwischen Ost und West – „Türkengefahr“ in den von den FEB angeordneten Gebeten der Gläubigen der Kirchenprovinz. Um die Monopolstellung der arabischen Händler, Venedigs Geschäftspartner für den Warenverkehr mit Indien, zu umgehen bzw. zu umfahren, umsegelten „die Portugiesen“ am Ende des 15. Jahrhunderts Afrika.

12.1 Weltbilder: Geografie, Renaissance, seelenlose, aber arbeitsfähige Wesen Menschen entwickeln im ersten Schritt Vorstellungen zu den eigenen Sozialisations- und Lebenswelten: Wege zu Markt-, Kirch- und Machtorten. Manche lebten bereits an Orten vielfältigen Austausches. Erfahrung des Anderen boten Ein- oder Ausheirat, Durchreisende, Handels- und BeuteGut, handwerkliche Nachbildung eingeführter Produkte. Ein aus Jerusalem zurückkehrender irischer Bischof ritt im 9. Jahrhundert durch die Kirchenprovinz, zahlungskräftige Ansässige ließen sich im 10. Jahrhundert Pilgerfahrten nach Jerusalem organisieren, in Zeiten befürchteten Weltuntergangs wie 1064/65 leiteten Bischöfe Massenpilgerfahrten. Um 1100 begannen Pfarrer für Kreuzzüge zu werben und zurückkehrende Kreuzfahrer zu erzählen. 6 Sie stellten den Selbstbildern Feindbilder gegenüber. Viele Menschen sahen Soldatenhaufen durchziehen, Boten reisen und Zehnteinheber herankommen. Wenn Karrner aus den Bergen Gold und Silber fortschafften, mögen Erzleute sich gefragt haben, wohin ihr Weg führte. Nach 1500, als sie tiefere Schächte abteuften, änderten von Zwangsarbeiter*innen produziertes Gold vom Senegal-

Fluss und Silber aus den Anden das globale Preisgefüge. Für Salzleute sanken Absatz und Einkommen mit den Kriegen in Böhmen nach der Verbrennung von Jan Hus. Säumer und Flussschiffer, die räumliche Entfernungen und Reisezeiten unterschiedlich wahrnahmen, tauschten sich an Schiffsländen aus. Seewege konnten Landbewohner*innen sich schwer vorstellen, denn sie selbst orientierten sich an Land-Marken, landmarks, Seeleute hingegen an Sternen wie die biblischen „drei Magi“ oder „Weisen“, die kirchliche Erzähler zu „Königen“ gewandelt hatten. Manche hatten Fernes in der Nähe: In großen Kirchen boten Reliquiare aus indischem oder afrikanischem Elfenbein Wundervolles. Pläne für oder Träume von einer Pilgerfahrt in erzählte oder imaginierte Ferne erforderten empirische Kenntnisse um ferne Geografie und Topografie. Sonntäglich sprachen Priester über heilige oder herrschaftliche Orte, allerdings in mythologischer Geografie, alltäglich hörten die Menschen Säumern und Händlern zu. Fragten sie Abgaben-Einzieher nach dem Weg zum EB-Sitz oder nach Rom? In großen Handelsstädten schrieben Gebildete Welt-

Zwei Galeeren der Brüder Vivado mit etwa 300 Ruderern, die 1291 transatlantisch Indien erreichen sollten, wurden nie wiedergesehen. Die genuesischen Stützpunkte übernahmen portugiesische Seefahrer Mitte des 15. Jahrhunderts für den Handel mit Sklav*innen, Gold und Elfenbein. 5 In den 1450er Jahren erreichten sie die afrikanischen Seefahrern bekannten, unbesiedelten Kapverdischen Inseln. 6 Peter Danner, „Kreuzritter und Abenteurer, Seelsorger und Pilger aus Salzburg im Heiligen Land“, MGSL 141 (2001), 183–224. 4

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Weltbilder: Geografie, Renaissance, seelenlose, aber arbeitsfähige Wesen

chroniken: Rudolf aus Ems (geb. nahe Bregenz, ~1200–~1254) begann mit der Erschaffung der Welt; Jans der Enikel in Wien (1230/40–nach 1302) beschrieb gemäß Zwölfermythologie je zwölf christliche Völker und mitteldialektdeutsche Gruppen; der Chorherr Christian Gold im Kloster Mattsee kompilierte die Annales Mattseenses als Weltgeschichte mit „antihabsburgischer Tendenz“. 7 Für Weltkarten, mappa mundi, verwendeten gelehrte Mönche und Kopisten das flache O-Modell mit Jerusalem als Drehpunkt oder, in T-O Version, mit den „T“-förmig durch Don, Nil und Mittelmeer getrennten Kontinenten Europa, Asien und Afrika. Chinesische und arabische Gelehrte verwendeten andere Perspektiven, radhanitische und gujaratische Seehändler hatten er-fahrungs-basierte Vorstellungen. Als lateineuropäische Gelehrte sich um 1150 das ptolemäische System wieder erschlossen, schufen Mönche und Nonnen, am bekanntesten in Hereford, Westengland (1260–70), und in Ebstorf, Lüneburger Heide (~1234), Karten so genau wie möglich. In dieser Perspektive war die Stadt Salzburg klein, aber 1493 widmete der Nürnberger Patrizier und Humanist Hartmann Schedel (1440– 1514) ihr eine Doppelseite in seiner Weltchronik (Abb. 10.5). Geografen begannen durch „Koordinaten“ genannte Längen- und Breitengrade Weltenraum messbar zu machen. Doch blieben metrischer Raum und lineare Zeit gegenüber Erfahrungen abstrakt. 8 Klerikale Weltbilder waren nicht horizontal und zentrifugal, sondern vertikal konstruiert mit Hölle (oft überfüllt) und Himmel (angestrebt) ohne irdisches Segment. Dies verhinderte eine Erweiterung des Horizontes. Empirisch vorgehende Kartografen siedelten sich in Antwerpen und Greenwich oder in Augsburg und Nürnberg an, um See- und Kauffahrerwissen aufzunehmen. Martin Behaim (= Böhmen?), geboren in Nürnberg und ausgebildet in Antwerpen, Frankfurt und Lissabon, schuf 1490 bis 1492 einen – noch nur dreikontinentalen – „Erdapfel“ oder Globus. Ein halbes Jahrhundert später rückte in Toruń und Krakau, an der

West ←→ Ost-Handelsroute, der Polymath Nicolaus Copernicus (Nikołaj Kopernik) die Sonne ins Zentrum. 9 Menschen in der Kirchenprovinz lebten Fern ←→ Nah-Kontakte durch Waldenser*innen, Schiffer, Säumer und viele andere. Fünf Jahrzehnte nach der Flucht des EB Thiemo (1101) hatte ein Kleriker eine dramatische Passio Thiemonis mit brutalen heidnischen Herrschern in Anatolien und mit Dämonen geschrieben. Kreuzzugsteuern betrafen Dorfgemeinden. Als Rückkehrende berichteten, dass christliche Pilger*innen die ihnen heiligen Stätten unter muslimischem Schutz besuchen könnten, nahmen die Reisen – von Venedigs Schiffseignern als Pauschaltourismus organisiert – deutlich zu. Der Salzburger Schmied Hanns Koppler, vielleicht begleitet von seinem Knecht Panndo, begann im Juni 1461 eine Wallfahrt über Venedig, Rhodos und Zypern und schrieb für seine Nachbar*innen einen Bericht. Ein Georg Schiffmann reiste 1494 bereits zum achten Mal nach Palästina, er hatte Sprachen gelernt und konnte dolmetschen. 10 Urbane Intellektuelle und Künstler, denen das Große Sterben Anstoß zu veränderter Weltsicht und Gesellschaftskunde gegeben hatte, brachen mit dem Negativbild Innozenz’ III. Sie suchten Menschliches sozial und mitfühlend zu verstehen und Einzelne wahrzunehmen. Gegen diese „Humanisten“ verteidigten Lateinkleriker ihre Position intellektuell durch Scholastik, dogmatisch durch Inquisition, frauenfeindlich durch „Hexen“-Verbrennung. Der humanistisch gesinnte Kanzler in Florenz lud Manuel Chrysoloras (1353–1415) als Dozent ein, als dieser 1393 für Kaiser Manuel II. Palaiologos Unterstützung gegen die vorrückenden Osmanen aushandeln sollte. Da die Lateinkirchler dem Rhomaioi-Reich nicht halfen und die osmanischen Sultane vordrangen, flohen Kleriker und Intellektuelle samt ihren griechischen und hebräischen Manuskripten, darunter solche, die nur in arabischer Übersetzung in muslimischen Archiven

Heinz Dopsch, „Klöster und Stifte“, in: ders. und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.2:1002–1053, hier 1016. 8 Ernst Bernleithner, „Salzburg im Kartenbild der Zeiten“, MGSL 105 (1965), 1–44. 9 John B. Harley und David Woodward, Cartography […], 3 Bde., Chicago 1987–1994; Trevor Cairns, Europe Finds the World, Cambridge 1973. Nicolas Oresme (~1320–1382) hatte bereits in Verbindung von Glauben und Wissenschaft einen heliozentrischen Ansatz vorgeschlagen. 10 Danner, „Kreuzritter“, 184–187; Michel Balard, „Les transports vers les colonies du Levant au Moyen Age“, und Jean Richard, „Le transport outremer des croisés et des pèlerins“, in: Klaus Friedland (Hg.), Maritime Aspects of Migration, Köln 1989, 3–44. 7

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Globale Perspektiven bis zum 16. Jahrhundert, regionaler Ausblick bis 1803/16

erhalten waren. 11 Die Gastgeber, stadtimperial sozialisiert und das entstehende Neuitalienisch sprechend, verstanden Ost-West-métissage nicht, sondern postulierten in „anachronistischer“ Positionierung rinascimento, 12 re-naissance einer griechischurban-demokratischen und römisch-imperialen „abendländischen“ Kultur: Keine Bezüge auf syrisch-christliches Denken, anatolische und persische Kultur, ägyptische und muslimisch-arabische Religion und Wissenschaft, auf Juda und Africa, Dacia und Gallia. In transalpinen Gesellschaften nahmen Mönche den Ansatz auf und im handelswelt-offenen Augsburg erfand der Humanist Hieronymus Wolf (1516–1580), Sekretär und Bibliothekar der Fugger, als neuen Namen für das östliche römische Reich „Byzanz“ – die Kleinstadt vor dem Bau Konstantinopels. Er löschte Erinnerung aus dem Sprachgebrauch. 13 Emplotment oder Erfin-

dung einer Leitkultur? Pointiert formulierte Felice Lifshitz, „If women didn’t have a Renaissance, perhaps no one did!“ Ländliche und städtische Menschen, die den Erwerb als „byzantinisch“ geltender Kostbarkeiten durch die Salzburger FEB finanzierten, erlebten nicht Renaissance sondern Repression. 14 Machtpolitisch suchten nach dem Sieg über das letzte iberisch-muslimische Reich, Granada, ideologisch reconquista genannt, die beteiligten Freibeuter neue Ziele: In den Blick und unter definitorische Macht gerieten ihnen Afrikaner*innen und Amerikaner*innen. Parallel zum Rom-Athen-Fokus vieler Intellektueller und des Gesellschaftsbilds der Baseler Konziliare zielten die iberischen Machthaber über den Atlantik auf Regionen, in denen sie investieren wollten und deren Ansässige, first peoples, die Investitionen amortisieren sollten. 15

12.2 Fernes Nahes: Globale Veränderungen im 15. und 16. Jahrhundert 16 Wie arabische und indische Seefahrer vor ihnen, zeichneten die iberischen sich Portulan-Karten von Ankerplätzen und Häfen und als sie entlang der Küsten des Maghreb ein Kap erreichten, um das sie nicht herumschauen konnten, entschieden sie undogmatisch-praktisch, die Grenzen ihrer Kenntnisse zu erweitern. Sie umschifften „Kap Bojador“ (arab. būjādūr) 1434, denn ihnen waren die Produkte des transsaharischen Handels bekannt und sie suchten direkten Zugang zu westafrikanischem Gold. Neu waren ihre Superioritätsideologie und die ihrer Hagiographen. De facto „entdeckten“ sie und andere Europäer nur eine Reihe unbesiedelter

Inseln, weltweit 0,14 Prozent der Landfläche. Alles andere war bekannt, allerdings nicht ihnen. Das Wagnis zahlte sich aus, die See- und Militär-Kaufleute erreichten – in ihren Worten – die Goldküste (heutiges Ghana). Dort gab es zudem arbeitskräftige Menschen und sie transportierten seit den 1440er Jahren Versklavte und „Paradies-Körner“ (Pfeffer) nach Iberien. Sie hätten die Eisennutzenden Künstler und Künstlerinnen wahrnehmen können, doch deren Leistungen erkannten erst um die Wende zum 20. Jahrhundert Pariser Kulturschaffende, unter ihnen Picasso. Wie einst Menschen aus der römischen Provinz Africa, zum Bei-

George Ostrogorsky, History of the Byzantine State, New Brunswick 1969; Jonathan Sheppard (Hg.), The Cambridge History of the Byzantine Empire c. 500–1492, Cambridge 2009. 12 Benennung durch den Maler und Kunsthistoriker Giorgio Vasari in Florenz (Lebensbeschreibungen, 1550). Seit Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) des Baseler Historikers Jacob Burckhardt übernahmen französische und deutsche Historiker die Bezeichnung. 13 Eine 34-bändige Quellenedition unter Ludwig XIV., König in Frankreich, ließ „Byzanz“ zum falschen Fachterminus werden. Die Art und Weise, in der ehrgeizige Humanisten anderes und andere schmähten, ist ein eigenes Forschungsgebiet. 14 Otto Gerhard Oexle, „Mittelalterforschung in der sich ständig verändernden Moderne“, in: Hans-Werner Goetz und Jörg Jarnut (Hg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, München 2003, 227–252, bes. 229; Felice Lifshitz, „Differences, (Dis)appearances and Disruption of Straight Telos: Medievalology („Mediävistik“) as a History of Gender“, ebd., 295–312, bes. 310–311; Alexander Nagel und Christopher S. Wood, „Interventions: Toward a New Model of Renaissance Anachronism“, Art Bulletin 87.3 (September 2005), 403–415; Robert D. Sack, Human Territoriality: Its Theory and History, Cambridge 1986, zu Wirtschafts- und Kirchendenken der Renaissance, 78– 126. 15 Tilgungsprozess – durch Arbeit anderer – im Rahmen der Praxis des Übergangs von Besitz-mit-Menschen an die „tote Hand“ genannte Kirche und Geistliche. 16 Fredi Chiappelli u. a. (Hg.), First Images of America: The Impact of the New World on the Old, 2 Bde., Berkeley 1976; Dirk Hoerder, Cultures in Contact: World Migrations in the Second Millennium, Durham, NC 2002, Kap. 2–9. 11

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Fernes Nahes: Globale Veränderungen im 15. und 16. Jahrhundert

spiel Mauritius und in Augsburg Afra, trugen die Versklavten ihren eigenen Glauben mit sich, Christen würden ihn in Gestalt „schwarzer Madonnen“ aufnehmen. 17 Europäische Magnaten hatten sich seit etwa 500 über Menschenbesitz finanziert, Krone-und-Kaufleute finanzierten sich seit etwa 1500 durch Menschenhandel. Auf das küstennahe portugiesische Vordringen folgte transozeanisch kastilisch-genuesisches zu einer Inselkette und einer reichen Küste, costa rica, die, wie sich später herausstellte, nicht Indien war. Doch heißen die Inseln bis in die Gegenwart West Indies. „Columbus 1492“ bedeutete die Ankunft ausgelaugter iberischer Männer in den Kulturen der Kariben, Taino und anderer und nachfolgende Militärunternehmer zerstörten die Hochkulturen der Azteken und der Inka. Unter Leitung des baskisch-adligen Franziskaners und Protector de los Indios Juan de Zumárraga (1468–1548) und des kastilisch-adligen Diego de Landa (1524–1579) vernichteten die – gemäß päpstlicher Bulle (1522) christianisierenden – Patres alle ihnen zugänglichen Schriften in Nahuatl- und Quechua-Sprache. Überlebende Söhne der einheimischen Eliten sollten, spanisch-christlich erzogen, als Mittelsleute dienen. Nur der Franziskaner Bernhardino de Sahagún (~1499–1590) lernte Nahuatl und verfasste die Historia general de las cosas de Nueva España. Doch konnte er die damnatio memoriae nicht mehr rückgängig machen. Drei Generationen nach Ankunft der Iberer waren mehr als neunzig Prozent der etwa 37 Millionen von Mexiko bis in die südlichen Anden Lebenden tot, 18 dahingerafft von europäischen Krankheiten, zu Tode gearbeitet von Kolonialinvestoren, selbst getötet, um nicht länger unter den Europäern zu leiden. Das „Amortisieren“ von Investitionen war tödlich, die erste Globalisierung begann mit Genozid. 19 Wie europäische Unfreie sollten die Annektierten Zwangsarbeitskräfte werden. Dies war zeitüblich zu begründen. Waren die fremden Wesen Menschen? Hatte es neben Adam und Abraham

noch andere Stammväter gegeben? Tomás de Torquemada (1420–1498), Dominikaner, Beichtvater der Königin Isabella und Großinquisitor in Spanien, dachte über Flugoptionen nach: Engel hätten Lebewesen über den Ozean getragen. So dachten auch Bergbauern an den Alpenpässen, als sie glaubten, Venediger könnten fliegen und ihre Stadt sei eine „neue Welt“ voller Reichtümer. Der Mönch und Theologe Bartolomé de las Casas (1484/85–1566), der als Konquistador die Einfuhr versklavter Afrikaner*innen für gut befunden und Indios und Afrikaner besessen hatte, änderte seine Weltsicht und beschrieb die Verwüstung der westindischen Länder (Brevisima Relacion de la Destruicion de las Indias, 1522): Die Bewohner*innen der Amerikas seien Menschen und bedürften kaiserlichen Schutzes. Die Frage, ob die Eingeborenen menschlich seien, eine andere Entstehungsgeschichte hätten oder einem anderen Schaffungsvorgang entstammten, stellte Karl V. Habsburg 1550 Klerikern. Afrikaner*innen schwarzer Hautfarbe – sie schien den Debattierenden europäischer Hautfarbe wichtig – waren Teil der bekannten (angeblich „alten“) Welt, die Gott geschaffen hatte. Den „neuen“ Wesen der Karibik und Mittelamerikas konnte, nach Ablehnung der Variante fliegender Engel, Gottes Wort nicht bekannt sein. Juan Ginés de Sepúlveda, Renaissance-Humanist, argumentierte mit Bezug auf Aristoteles’ Konzept „natürlicher Sklaven“: Die „Eingeborenen“ hätten keine Kleidung, um ihre Nacktheit zu verbergen, seien sexuell sündig, hätten weder Sitten noch Regierung noch Privatbesitz. Sie seien ohne Zivilisation. Dass seine Ko-Kleriker die Kulturen zerstört hatten, verschwieg er. Die Investoren und Apologeten argumentierten, dass Arbeit unter christlichen Aufsehern – „christliche“ Sklavenarbeit – die Eingeborenen zu Gott führen würde. Die „neuen“ Fremden lebten, von Europa her gesehen, hinter Ungeheuern. Denn mit (See-) Ungetier füllten viele Kartografen, die Küsten empirisch so genau wie möglich darstellten, die Weite-

Die Verehrung entstand über unterschiedliche Wege: Fruchtbarkeitsgöttinnen von Westafrika nach Iberien sowie Isis von Ägypten in den Donauraum. Dunkelhäutig wurden seit dem 15. Jahrhundert einer der drei Magi aus dem Morgenland und Sarah an der Küste der Provence dargestellt. Die Tradition verselbstständigte sich, manche Statuetten – bei Herstellung hellhäutig – schwärzte Kerzenruß über die Jahrhunderte. 18 Die Schätzungen der Gesamtbevölkerung gehen weit auseinander, die der Todesrate konvergieren. 19 Dirk Moses (Hg.), Empire, Colony, Genocide: Conquest, Occupation and Subaltern Resistance in World History, New York 2008. Für globalgeschichtliche Perspektiven Jerry H. Bentley (Hg.), The Oxford Handbook of World History, Oxford 2011; Akira Iriye und Jürgen Osterhammel (Hg.), Geschichte der Welt, 6 Bde., München seit 2012; Immanuel Ness (Hg.), Encyclopedia of Global Human Migration, 5 Bde., Oxford 2013; Merry E. Wiesner-Hanks (Hg.), The Cambridge World History, 7 Bde., Cambridge 2015; Hoerder, Cultures in Contact. 17

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Leere der Ozeane und des fernen Kontinents. Die wenigen Einheimischen, die die Invasion der Europäer überlebten, mussten ihrerseits Bilder von den Wesen jenseits des Ozeans entwickeln, wie dies auch Lebenseigene in Lateineuropa gegenüber Herrschern taten. Manche töteten ihre Neugeborenen, damit sie nicht unter Christen-Investoren leiden müssten. Deren kirchliches Segment errichtete christliche Verehrungsstätten über traditionellen, wie einst über keltischen und römischen. Parallel zum Vordringen zur Costa Rica erreichten die Seefahrer des militärisch-kommerziellen Komplexes im Süden Afrikas das Kap der Stürme (Gegenwart) oder der guten Hoffnung (Zukunft). Als ihnen die Umschiffung 1487/88 gelang, fanden sie zu ihrem Erstaunen blühende Hafenstädte. Etwa zwei Jahrtausende früher hatten die Vorfahren indisch-ozeanischer Seefahrer die Sequenz der Monsunwinde entschlüsselt und entlang ostafrikanischer, indischer und südostasiatischer Küsten gehandelt. 20 Die europäischen Nach-Fahrenden besaßen weder Kenntnisse noch Handelsgüter für Austausch. Vasco da Gama, portugiesischer Graf mit Vorfahren, die über die Verbindungen europäischer Küstengesellschaften aus England gekommen waren, beschoss – nicht: erschloss – die Hafenstädte und heuerte in Quelimane (Mozambik) Ahmed ibn Madjid als Nautiker für die Querung des Indischen Ozeans an. An der Malibar-Küste nahe Calicut befahl er einem „neuen Christen“, das heißt einem (zwangs-) konvertierten Iberer vorher jüdischen Glaubens, die gefährliche Aufgabe des ersten Landgangs zu übernehmen. Ansässige erkannten dessen Sprache und führten ihn zu zwei „Mauren“ aus Tunis, von denen einer Kastilisch, der andere Genuesisch sprach, so der Chronist der Expedition Alvaro Velho. Da Gama, ohne Verständnis für Monsun, aber mit Überlegenheitsgefühl, segelte ohne Hilfe zurück: Die Hälfte seiner Leute starb, die übrigen litten an Skorbut, er verkaufte die akquirierten Gewürze mit Gewinn. Während der vierten Reise, 1502, mit zwanzig schwer bewaffneten Schiffen, ließ da Gama jedes Handelsschiff, dem er begegnete, kapern. Deren Seeleuten ließ er Hände, Nasen und

Ohren abschneiden und schickte sie an Land, um einheimische Kaufleute und Herrscher abzuschrecken. Das Schiff Miri mit mehr als 400 aus Mekka zurückkehrenden Pilger*innen, darunter etwa fünfzig Frauen und der Gesandte Ägyptens, ließ er auf offener See verbrennen. Die historische Erinnerung der Menschen in Asien enthält die Gräueltaten. Die Erinnerung der Nachkommen der Opfer ist, bis in Schulbücher der Gegenwart, anders als die Erinnerung der Nachkommen von Gewalttätern. Christliche Krone-und-Kaufleute, die die traditionellen Seehandels-Protokolle brachen und ihre Macht mit Kanonen durchsetzten, erreichten Mozambique und Mombasa 1498, Hormus 1510, Goa 1515. Auf machtvolle Abwehr trafen sie nicht, da einerseits die Hofbürokraten Chinas den Rückzug aus den Meeren verfügt hatten und andererseits Diaspora-chinesische Handelsleute ihre sehr leicht konstruierten Dschunken nicht mit Kanonen bestücken konnten. In der Konkurrenz der europäischen Herrscher-Apparate um die „Reichtümer des Ostens“ war der Vorsprung oft knapp. Etwa zu der Zeit, als portugiesische Schiffe die Straße von Malacca passierten, das Zentrum des Sultanats von Malaya zerstörten und die Molukken-samt-Menschen als „Gewürzinseln“ in Besitz nahmen, ließ eine spanische, von dem Portugiesen Ferdinand Magellan geleitete Flotte ihre Anker vor den Philippinen nieder und annektierte Manila. 21 Magellan fühlte sich während seiner Weiterfahrt Einheimischen dermaßen überlegen, dass er – trotz seines versklavten Dolmetschers Enrique aus Malacca – diese nicht ansprach, sondern an-griff. Er kam um. Da angesichts der Silberwährung Chinas für das Edelmetall hohe Nachfrage bestand, bot das spanische Kaufleute-Krone-Kombinat in Manila von Sklaven in Potosí (Anden) abgebautes Silber an. Die christlichen Iberer nutzten die andersgläubigen südchinesisch-diasporischen Händler als Mittelsleute. Mit den Herrschern Chinas und Japans mussten sie verhandeln, um ab 1535 Macao (Südchina) und ab 1543 Nagasaki (Südjapan) nutzen zu dürfen. In anderer Zeitperspektive geschah dies wenige Jahre vor bzw. nach Tod des FEB Matthäus, der über die südostasiatischen Entwicklungen informiert

C. G. F. Simkin, The Traditional Trade of Asia, Oxford 1968; Kirti N. Chaudhuri, Asia Before Europe. Economy and Civilization of the Indian Ocean from the Rise of Islam to 1750, Cambridge 1990. 21 Im Gegensatz zu polynesischen Seeleuten oder Seefamilien, die 500 Jahre früher die Inselgruppe Hawai’i erreicht hatten, übersah Magellan alle Inseln, bis seine Schiffe Guam erreichten. 20

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war. Maximilianus Transylvanus, Sekretär Kaiser Karls V., widmete ihm die Schrift De Moluccis Insulis (gedr. Augsburg 1523). Maximilianus hatte in Spanien die Überlebenden von Magellans Weltumseglung befragt und beschrieb detailliert die Gewürzkulturen in Fern-Südost. Er war, so scheint es, ein Sohn von Matthäus. Die kastilische Hofstaats- und Verwaltungselite plante, in der ihnen neuen Welt Herrschaft als NeuSpanien zu replizieren. Später dachten andere ähnlich: Neu-Frankreich, Neu-England, Neu-Amsterdam als tragbares, über-tragbares Europa mit Lebenseigenen. Sie verteilten Ländereien-mit-Menschen wie einst die fränkischen Eroberer in Bayern-Karantanien: Magnaten erhielten alle indigenas als Hörige und, als sie diese im encomiendaRegime durch Arbeit vernichtet hatten, führten sie in Westafrika versklavte Menschen ein. Finanz-Investoren errichteten das Plantagen-Regime Exportorientierter Massenproduktion durch Zwangsarbeit. Gold aus Afrika und Silber aus Peru brachten Elitensegmenten Lateineuropas anfangs Reichtum. Doch folgten Silberinflation und Finanzkrise. Krisen betreffen meist alle, Booms eher Wenige. „Zheng He“ und „Columbus“ sind Kürzel für funds of knowledge und Risikobereitschaft der beteiligten Seeleute. Chinesische Seeleute ernährten sich mit Frischfleisch, europäische hingegen von gepökeltem Fleisch, also von der Arbeit landsässiger Bauern und Salzwerker. Die Namen sind Kürzel auch für das jeweilige Finanzwesen. Herrscher verkauften Territorien und Menschen wie „zuhause“, König Afonso V. Avis mit den Häfen Lissabon und Porto zum Beispiel 1469 den Familienanteil am Afrika-Unternehmen. Die übrigen iberischen Ankunftshäfen für Gewürze und Zucker waren Besitz des Herrscher-Ehepaares Kastilien ○○ Aragón und ab 1496 – Philipp und Juana – erheirateter Besitz der Familie Habsburg (s. Kap. 11.1). Die Herrscher-

familien erkannten Konkurrenz als kostentreibend und ersuchten, politökonomisch klug, den Papst um Aufteilung der Welt. In seiner Sommerresidenz Tordesillas teilte der CEO der Lateinkirche 1494 die Ansprüche entlang einer imaginierten Nord-SüdLinie durch den Atlantik. Die Beteiligten kannten die Welt nicht, aber das hinderte sie nicht. Später merkten sie, dass Brasilien, Habsburg-Spanien zugedacht, der Königs-Familie in Portugal gehörte. Zeitlich trafen diese Entwicklungen mit der osmanischen Expansion in die arabischen urbanen Marktzentren von Kairo bis zur Straße von Hormus und von Isfahan bis Palmyra zusammen. Die Macht-und-Medien-Strategen Lateineuropas verbreiteten, dass Araber und Türken abendländische Christen von morgenländischen Gütern abschnitten. Allerdings hatten die Kauffamilien Venedigs mit ihren arabischen Kollegen gehandelt und als Monopolisten Europa sowohl über transalpine Saumwege wie über Seerouten nach London und Brügge versorgt. Historisch präziser blockierten „die Portugiesen“ die Einfahrt zur Straße von Hormus und schnitten so „den Venezianern“ die Zulieferung ab. Dies betraf die Lebensgrundlagen der Händler*innen und Transportarbeiter*innen zwischen Shiraz und Alexandria ebenso wie Gewürzund Orientwaren tragende Tauern-Säumer. Ihr Geschäft ging an finanzstärkere Fern-Transportunternehmer über. 22 „Gewürz“ wurde Kürzel für Reichtum – ohne die Konnotation „Sklave/Sklavin“; „Spanien“ und „Brabant“ verschleierten Familien-Kontexte. Steuern und Zölle aus zirkum-afrikanischem Handel brachten Familie Habsburg, die ab 1580 auch die Krone der Familie Avis besaß, das Siebenfache des Gewinns aus den legendären Silberflotten. Doch für die Abzahlung ihrer Schulden wirtschafteten unverändert ihre lateineuropäischen Lebenseigenen.

12.3 Europas weltweite „Vororte“ … und Küchen und Wohnzimmer im Ostalpenund Donauraum Die weltweiten Veränderungen betrafen viele. Der neue Pelztier-Jagdgürtel von Sibirien über Alaska und Yukon bis zum Hudson-Bay mit Finanzzentren

in Paris, Amsterdam und Moskau veränderte für Kürschner*innen in Salzburg-Stadt und Wien den Rohstoff-Markt. Die spanisch-koloniale Silberinfla-

Zum Gewürzhandel, besonders der Welser-Familie in Augsburg und der Kaufleute von Venedig, vgl. Mark Häberlein, Aufbruch ins globale Zeitalter. Die Handelswelt der Fugger und Welser, Stuttgart 2016, 79–106.

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tion und die Einfuhr „orientalischer“ Mehrfarbigkeit, Gewebevielfalt und Webtechnik betraf Tuchweber*innen in der Salzach-Inn-Region, Krain und Oberitalien. 23 Noch in der Zukunft lag der Verkauf von Tee, den iberische Kaufleute und die „Niederländische Ostindien-Kompanie“, beliefert durch indische, armenische, chinesische und arabische Kollegen, zu hohen Preisen heranführen würden. Etwas später vermarkteten sie ein weiteres „anregendes Getränk“, arab. qahva oder türk. kahve, aus Äthiopien und Arabien und wie immer schalteten sich Ursprungslegenden-Schaffende ein. Christliche Mönche in Abessinien seien an der „Entdeckung“ der stimulierenden Wirkung des Kaffees beteiligt gewesen. Diese Geschichte „näherte“ oder annektierte ein Wiener Piaristen-Mönch: Während der Zweiten Belagerung Wiens hätte ein polnischer Geschäftsmann und Dolmetscher „den Türken“ 500 Sack Kaffee abgenommen und damit – in Wien natürlich – das erste Kaffeehaus Europas gegründet. Zahlungskräftige erreichten levantinisch-arabische Genüsse über das Al-Andalus der NasridenHerrscher; Kartoffeln und vieles andere aus Südamerika wenig später über das Andalusien der Habsburg-Herrscher. Blumen, besonders Tulpen, aus dem Osmanischen Reich brachten Habsburger Gesandte aus Istanbul. Wo kauften kirchliche Institutionen Devotionalien? Sie erwarben Elfenbeinkästchen für Reliquien und Seide sowie vieles andere aus arabischen Ländern. Später lagerten Jesuiten, aktiv an der Expansion beteiligt, Teile der Produktion nach Goa (Portugal-Indien) aus. Auf lateinkirchlichen Objekten lassen sich muslimische und, selten, indische Formensprachen identifizieren. Die FEB und andere Herrscher bezahlten das „Exotische“ mit lokalen Abgaben. 24 Es war klug, dass sich die Menschen dem transozeanisch herangeführten Fremden nicht verweigerten. So müssen ihre Nachfahren im 21. Jahrhundert nicht „echt“ österreichisch, Phase 15./16. Jahrhundert, essen. Doch akzeptierten sie die Leistungen und die Emotionalität der fernen Produzent*innen nicht: Über die Zeit riefen sie Missliebigen zu, „geh doch hin, wo der Pfeffer wächst“.

Sie wussten um Profitmargen und nannten reich gewordene Händler pauschal „Pfeffersäcke“, Fachleute wussten um Qualität und differenzierten zwischen Pfeffer (Plural) von Guinea, der MalabarKüste, Java, Sunda, Sumatra und Madagaskar. Die dort versklavten Menschen mussten schnell arbeiten: Gewürzimporteure steigerten die Einfuhr von 1500 bis 1620 um 500 Prozent, Pfefferimporte von der Malabar-Küste erreichten um 1620 jährlich 6,7 Millionen Pfund. Mit Hilfe starker Gewürze wurde überlang gelagertes Fleisch wieder ess- oder gar genießbar. Arabisch-muslimische Gartenbauspezialisten in al-Andalus entwickelten, zum Teil mit erhaltenen römischen Anlagen, intensive Bewässerungstechniken und produzierten und verarbeiteten Zuckerrohr, Reis und Baumwolle. Sie akklimatisierten Zitrusfrüchte, Gemüse wie Aubergine und Spinat, Gewürze wie Kümmel und Koriander, Zimt und Muskat. Getrocknet bedurften Gewürze – wie mineralische Farbgrundstoffe – keiner Akklimatisation und konnten lange gelagert werden. Nach der Conquista der Amerikas transportierten Botaniker und Agrounternehmer potenzielle Nahrungspflanzen heran und nutzten die muslimischen Gärten, um vermarktungsfähige Lebensmittel zu züchten. Jede Migration von Pflanzen initiierten mobile Menschen, jede Züchtung Fachleute, die um kontinuierliche und beeinflussbare Evolution wussten und nicht an Erschaffung oder Fixismus glaubten. Für viele Lateineuropäer lagen ihre „Vorgärten“ in al-Andalus/Andalusien. Die Mehrheit ernährte sich weiterhin aus Krautgärten. 25 Als Beispiel für zielstrebige Innovation seien die Zitrusfrüchte Südostasiens und Indiens genannt. Ländliche Familien und Gärtner der Herrschenden kreuzten über Jahrhunderte wilde Mandarinenund Pampelmusen-Pflanzen zu Bitterorangenbäumen und züchteten aus ihnen Süßorange, Mandarine und Zitrone. Samen oder Setzlinge exportierten Fernhändler nach Südchina und Arabisch-Iberien. Sanskrit nāranga wurde über Persisch, Arabisch, Provenzalisch und Spanisch „Orange“ oder, apfelrund, auf dem Weg über China „Apfelsine“. Weiter-

Herbert Klein, „Die Tuchweberei am unteren Inn und der unteren Salzach im 15. und 16. Jahrhundert nach Salzburger Quellen“, MGSL 106 (1966), 115–139, hier 126. 24 „Archivalien“, MGSL 17 (1877), 58–77, hier 61–64. Wohnräume der Hohensalzburg waren mit „türkischen“ Teppichen ausgestattet. 25 Jean Sermet, „Acclimatation: les jardins botaniques espagnols au XVIIIe siècle et la tropicalisation de l’Andalousie“, in: Mélanges en l’honneur de Fernand Braudel, Bd. 1, Toulouse 1973, 555–582. 23

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züchtungen in Portugal und Re-export nach Arabien ließ den Namen dort zu burtuqāl (Portugal) werden. Produkt- und Werkgenealogien vermitteln Entwicklungen und Leistungen. 26 Die Männer in den Gewaltapparaten der Kolonialmächte unterdrückten Einheimische und führten weltweit Kriege um sie und ihre Ressourcen, wie „zu Hause“ Vögte und raubende Ritter Einheimische ausbeuteten. Als Investoren in den 1440er Jahren erkannten, dass sich die Atlantikinsel Madeira – wie bereits die mittelmeerischen Balearen – für den Zuckerrohranbau eignete, versklavten sie Guanches auf den Kanarischen Inseln, Berber im Atlasgebirge und konvertierte Juden, Conversos, in Iberien. Seit den 1550er Jahren verlagerten Investoren und Regierende die Produktion in die Karibik und nach Brasilien und kauften dafür Menschen in Westafrika. Nicht-erbende Söhne ländlicher Herren-Familien in Iberien und Abenteurer aus deutsch-sprachigen Gebieten wanderten zu Jobs im expandierenden Kolonialsektor. Im Rahmen des Austausches und des ökologischen Imperialismus lernten die Neuen aus Europa Medizinalpflanzen wie Chinin aus den Hochwäldern der Anden kennen und dies änderte die Bedeutung arabischer und jüdischer Medizin. 27 Sie importierten milde Stimulantien wie Kakao (chocolatl) und berauschende wie Tabak und Koka. Den Konsum der Droge Koka förderten sie, um ihre Zwangsarbeiter*innen in den Anden von Hunger und Elend abzulenken. Tabak aus der Karibik wurde in Süditalien und Anatolien akklimatisiert. Semitropische Früchte, Gewürze, Nüsse und Gemüse wie Avocado und Paprika ließen aztekische Essgewohnheiten (foodways) mit europäischen verkochen. Chili (Nahuatl) würde, über Goa gehandelt, ein wichtiges Gewürz für indische Geschmäcker werden. Für mangelernährte Familien in Europa würden später Mais, Süßkartoffeln, Kartoffeln (Erdäpfel), Tomaten (Paradiesäpfel, Paradeiser), Kürbis und Maniok bedeutsam werden; Mais und Maniok

(Cassava) würde, in die westafrikanischen Sklavenfanggebiete importiert, dort adaptiert werden. 28 Legendenschaffende aller Kulturen verlegten métissage weiterhin an die Höfe. Nach Erzählungen der Olmeken, Maya und Azteken hatte ihr Gott Quetzalcoatl den Kakaobaum auf die Erde gebracht. Unter Europäern, deren Märchen mit „es war einmal“ begannen, waren einmal der Bischof Zumárraga und Nonnen in Oaxaca. Letztere „trafen auf“ das Rezept von Kakao, gemischt mit Zucker, und kredenzten dem Bischof das Getränk, er machte es in Europa „populär“ (unter den Eliten). Soweit das Ideologisch-Märchenhafte, „Indios“ kannten das Praktische. Sie ernteten die Schoten zum richtigen Zeitpunkt, öffneten sie und fermentieren die Bohnen für zwei bis drei Tage; danach trockneten sie sie über zwei Wochen in der Sonne, schälten und rösteten sie und separierten anschließend die Kakaomasse in Puder und Butter. In Europa ließen sich Klöster beliefern und Anne – Tochter von Philipp III. Habsburg-Spanien und Margarete Habsburg-Österreich – brachte bei Ankunft am Hof der Familie Bourbon eine Expertin für Kakao-Zubereitung mit. Hofmaler zeigten, dass schwarzer Kakao von schwarzen afrikanischen Diener*innen oft weiß gekleideten Adlig*innen serviert wurde. Die dritte Weltregion mit unvorhergesehenem Einfluss auf den nordwest- und mitteleuropäischen ästhetischen „Geschmack“ sowie auf Hof- und Finanzwirtschaft war das Osmanische Reich. Die Sultanat-Habsburg-Kriege behinderten nicht den Austausch von Wertgeschätztem zwischen Wohlhabenden, sondern förderten ihn. Diplomaten lernten ihnen fremde Garten- und Zimmerblumen kennen. Besonders berühmt wurden Tulpen. Persische Herrscher hatten die aus den Hügeln Zentralasiens stammenden Zwiebeln in Isfahan und Bagdad kultivieren lassen und in Istanbul ließ Sultan Suleyman/Solomon sie züchten. Weit entfernt, in Habsburg-Flandern-Burgund, wurde 1522 Ghislain de Busbecq als Sohn eines Seigneurs und einer Magd geboren. Er studierte in Leuven, Paris, Venedig, Bo-

Aurélie Ruiz (Hg.), Jardins d’orient. Katalog zur Ausstellung des Institut du Monde Arabe, Paris 2016; „Aventures botaniques en Orient“, Ausstellung im Cabinet d’histoire du Jardin des Plantes, Paris 2016. 27 Alfred W. Crosby, The Columbian Exchange: Biological and Cultural Consequences of 1492, Westport, CT 1972 (rev. 2003); und ders., Ecological Imperialism: The Biological Expansion of Europe, 900–1900, Cambridge 1986. 28 Erzählungen in Europa verlagern die Herkunft der Geschlechtskrankheit Syphilis nach Südamerika. Sie sei dort, gemäß „den Wilden“ unterstellter Sexualität, verbreitet gewesen. Diagnostiziert wurde die erste Epidemie in Süditalien 1494/95, als ein Invasionsheer der Familien Valois��Bourbon Neapel eroberte. Möglicherweise waren die Erreger in Europa vorhanden und wurden zeitgleich mit der Rückkehr von Columbus und seinen Mannschaften virulent. Transatlantische Händler profitierten, denn das subtropische Guajak-Holz brachte angeblich Heilung. 26

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logna und Padua und konnte sich in sieben Sprachen verständigen. Als Diplomat in Wien-habsburgischem Dienst 29 lernte er bei Verhandlungen in Istanbul 1554 Tulpen kennen. Fünf Jahre später waren sie in Bayern bekannt und der ebenfalls aus Flandern stammende Charles de l’Écluse, lat. Carolus Clusius (geb. 1526), kultivierte sie für Kaiser Maximilian II. in Wien in einer Art botanischem Garten. In Istanbul handelten professionelle Floristen mit den Zwiebeln, in den Niederlanden unprofessionelle Spekulanten. Ihre „Tulpomanie“ endete 1637 in einem großen Wirtschaftskrach. 30 Mittler, Reisende und Migrant*innen trugen aus der reichen Flora des Kaukasus Narzissen, Hyazinthen, Flieder und Rosskastanien nach Lateineuropa. Es folgten Kultureinrichtungen wie Diwan und Kaffeehaus. Busbecq schilderte in einem Reisebericht (lat., Paris 1589) das Alltagsleben und politische System des Sultanats, der osmanische Reiseschriftsteller Evliyā („Gottesfeund“, Ehrentitel Çelebi) später Habsburg-Österreich und besonders das Ziel osmanischer Expansionswünsche, den „Goldenen Apfel“ Wien. Er berichtete Kleines wie die üblichen Protokollstreitigkeiten und vergrößerte anderes: In Wien gäbe es 470 Türme und Tausende Mönche. Ihn erstaunte die Position der Frauen im Giauren-/Ungläubigen-Reich, sie würden um der Gottesmutter Maria willen geehrt. 31 Nach der zweiten, dank des polnischen Königs Johann III. Sobrieski wiederum erfolglosen, knapp neun-wöchigen Belagerung Wiens, 1683, entstand dort ein Koch Puech (1696), dessen Rezept für „Strudelteig“ dem hauchdünnen Mehl-Öl-Wasserteig für Baklava und Börek täuschend ähnlich war. In ihr LegendenRepertoire nahmen die beinahe-besiegten Wiener auf, dass ihre Teighörnchen Halbmond-förmig gebogen seien, um das osmanische Nationalsymbol zu verhöhnen. Spöttisch schrieb ein nachgeborener Kommentator in Zeiten erneuten Kampfes um österreichische Identität, dass dem „austriakischen

Wesen“ „die Lust an der Befruchtung durch fremde Einflüsse und Kulturen, das gierige Aufsaugen guter Ideen und ihre prompte Verwurstung als genuin österreichische Wesensform“ über die Jahrhunderte eigen gewesen seien. Vielseitigkeit, frz.-wien. mélange, ist als Milchkaffee Teil von „Austria First“. 32 Christen und Muslime würden sich, so behaupteten – und behaupten – Ideologen, nie verstehen können. Doch waren sie in Wiener, Salzburger und anderen Küchen längst vereint. Viele Menschen kannten Spezereien. Dienstbot*innen und Köch*innen in den Küchen Hochgestellter wussten um deren Ingredienzien und Land- und Erzleute nahmen deren Vorräte in Augenschein, als sie 1462 und besonders 1525 Schloss- und Klostervorräte beschlagnahmten. Im Vergleich zu Wien, seit 1469 (Habsburg-) eigenes Bistum, war die FEB-Residenzstadt Salzburg randständig geworden. Und doch „findet sich“ dort bis in die Gegenwart „Fremdes“. Aus Andalusien stammt vermutlich ein Spolien-Grabstein im Arkadenhof des Bürgerspitals mit der arabischen Aufschrift, „wer in das Paradies geführt wird, kann dort glückselig sein“. FEB Matthäus hatte das Bistum Cartagena als Pfründe genutzt. Zwei siculoarabische (sizilianische) Elfenbeingefäße, deren Material aus Afrika oder Indien kam (12. und 13. Jh.), sind erhalten. Ritter Georg aus Ramseiden (nahe Saalfelden) reiste 1454 an den Hof in Innsbruck, weiter nach Iberien, kämpfte in Portugals Kolonie Ceuta und erhielt Wertvolles. Ein Kaufmann brachte angeblich einen Knaben dunkler Hautfarbe nach Salzburg-Stadt, das Gasthaus „Mohrenwirt“ sei nach ihm benannt. 33 Belegbar sind Kostbarkeiten, die die Familie Habsburg erhielt oder sich nahm: eine Achatschale oströmischer Steinschleifer (4. Jh.); in Palermo hergestellte königlich-kaiserliche Kleidungsstücke (12. Jh.); eine Adlerdalmatika (1330/40) aus chinesischem Stoff; „aus Byzanz übermittelte“, vielleicht 1204 dort ge-

Busbecqs reichhaltige Dokumentensammlung für die kaiserlichen Archive wurde Anlass für die Entwicklung der „Byzantinistik“ an der Universität Wien. 30 Clusius benannte türkisch-persisch lale in tulipa um, da wohlhabende Osmanen tülbent, Turban, trugen. Anna Pavord, The Tulip, New York 1999; Yves-Marie Allain und Catherine Garnier, l’ABCdaire des tulipes, Paris 1996. Ogier Ghiselin von Busbeck, Vier Briefe aus der Türkei, übers. von Wolfram von den Steinen, Erlangen 1926. 31 Alle Reisen umfassend, 10 Bände, übersetzt 1834 von dem Wiener Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall. Im Reiche des Goldenen Apfels. Des türkischen Weltenbummlers Evliyā Çelebi denkwürdige Reise in das Giaurenland und in die Stadt und Festung Wien anno 1665, übers. von Richard F. Kreutel, Erich Prokosch und Karl Teply, Graz 1987. 32 Severin Corti, „Wenn nationale Identität ins Strudeln kommt“, Standard, 18.–20. Mai 2013, 48. 33 Walter Sauer, Expeditionen ins afrikanische Österreich. Ein Reisekaleidoskop, Wien 2014, 299, 302, 305, 322; Franz Pfeiffer (Hg.), Des schwaebischen Ritters Georg von Ehingen Reisen, Stuttgart 1842; Dauerausstellung, Kaiserliche Schatzkammer, Wien (Stand 2017). 29

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Ausblick: Vom Ende bürgerlicher Freiheiten bis zum Herrschaftsende, 1803/16

raubte Pretiosen; je ein Bild von Maria und Christus aus Kolibri- und Papageienfedern (Mexiko, 1550–1580). In Sachsen richtete der Apotheker Joachim Kreich 1543 einen Kräutergarten zur Zucht von Pflanzen aus der Ferne ein und beschaffte sich Paradeiser-Pflanzen (Tomaten); in Salzburg-Residenz ließ FEB Michael (h. 1554–1560) von einem

„welschen“ Gärtner aus Passau einen schönen Garten mit südlichen Kräutern und Früchten einrichten. Bauern nahe der Stadt kauften zur Pflege und zum Erhalt ihrer Perchtenmasken von Säumern herangetragene arabische Öle. Ein späterer FEB investierte mit Blick auf Profite und Edelsteine in den niederländischen Ostindien-Handel. 34

12.4 Ausblick: Vom Ende bürgerlicher Freiheiten bis zum Herrschaftsende, 1803/16 Die FEB-Landesordnung von 1526 blieb über fast drei Jahrhunderte bis zu Salzburgs Aufhebung durch Napoleon, 1803, in Kraft. Allerdings hatten die FEB bereits 1535 im „Rezess von Wien“ die Rechtsstellung von Teilterritorien unter HabsburgNiederösterreich und damit die Steuerpflicht und das Erscheinen auf Landschrannen akzeptieren müssen. Sie verpfändeten Bewohner*innen an habsburgische Kaiser (Pettau und Rann), kauften sie zurück (Friesach und Leibnitz) oder verkauften sie hin und her (Mondseer Land). Diese verbesserten ihre Märkte, Brunnen, Wasserleitungen, legten Wege an, versuchten die Salzach zu regulieren und errichteten Triftnetze für Holz. In der FEB-Residenzstadt Salzburg lebten um 1500 etwa 7000 Menschen, in der Habsburg-Residenzstadt Wien etwa 20.000. Da das Salzburger Bürgerspital weiterhin nur Bürger*innen aufnahm, stiftete die Patrizier- und Edelmetallhändler-Familie Fröschlmoser 1496 das Bruderhaus St. Sebastian für Dienstleute und Inwohner*innen. Das Domkapitel unterstützte das Sundersiechen-Haus in Mülln (Regelung von 1531) und ließ zweimal wöchentlich im Domkreuzgang Almosen an Bedürftige – Schüler von St. Peter, Handwerker und Inwohner, Knaben und Mädchen – verteilen. Als der Kastner überlegte, angesichts der vielen Armen den Bettelrichter eingreifen zu lassen, fürchteten die Herren üble Nachrede und erhöhten die Zuweisung. Die Menschen der Kirchenprovinz durchlebten ein europaweites Kältejahrzehnt mit Pest 1485 und einem extrem schneereichen Winter 1490. Die Mehrzahl der Stadt-Salzburger*innen überlebte

zwischen 1553 und 1572 zwei Epidemien und ein Hochwasser, das Brücke und Häuser wegriss. 35 Gelehrte, Musiker und Künstler besuchten die Region: Agricola informierte sich über Bergbau; Hans Sachs, Schuster und Dichter, schrieb über Salzburg-Stadt 1549 einen „Lobspruch“; der Bildhauer Hans Valkenauer arbeitete dort; der Musiker und Organist Paul Hofhaymer spielte in der Hofkapelle. Den Gelehrten und Arzt Theophrastus Paracelsus (geb. 1493 in Einsiedeln, Schweiz) förderten Kleriker in Lavant und Seckau. Er hielt sich 1524 kurz in Salzburg-Stadt auf und analysierte in Gastein das Quellwasser. Er unterstützte den Freiheitskampf und wanderte anschließend als Wundarzt weit. Als er 1541 in Salzburg starb, vermachte er seinen geringen Besitz den Armen. Doch war der kritische Intellektuelle als Sohn einer unfreien Magd und eines unehelich geborenen Arztes lebenslang Unfreier des Klosters Einsiedeln. Dessen Abt – Nachrichten wurden schnell und weit getragen – sandte trotz der Entfernung einen Mönch, der als Beststück einen silbernen Kelch einzog. Da den FEB die Verbreitung von Wissen durch Buchdruck unerwünscht war, arbeitete ein erster Drucker, Hans Paumann aus Rothenburg ob der Tauber, erst ein Jahrhundert nach Erfindung des Setzens mit beweglichen Lettern in der Stadt (1548– 1557), ein nachfolgender ab 1592. Hatte die Witwe von Hans Paumann die Werkstatt weitergeführt? Zwei Jahre später eröffnete in der Salzburger Altstadt die im gesamten Habsburg-Österreich erste Buchhandlung, Höllrigl, die bis ins 21. Jahrhundert besteht. 36 Die Klosterfrauen der Stadt mussten sich mit

Johann C. Pillwax, „‚Hohen-Salzburg‘. Seine Geschichte, Baulichkeiten und Ausrüstung“, MGSL 17 (1877), 1–88, hier 17; Benedikt Pillwein, Das Herzogthum Salzburg oder der Salzburger Kreis: Ein Originalwerk, Linz 1839; „Masken. Mythen. Illusionen. Eine Salzburger Maskenreise“, Ausstellung Hundsmarktmühle (bei Thalgau), Juni–Oktober 2010. 35 Heinz Dopsch und Robert Hoffmann, Salzburg. Die Geschichte einer Stadt, 11996, Salzburg 2008, 194–227; „Miscelle“, MGSL 37 (1897), 34. 36 Über Paracelsus’ übernatürliches Wissen und seine Zauberkraft erzählten Menschen sich Geschichten. Rudolf von Freisauff (Hg.), Salzburger 34

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Unruhe auseinandersetzen. Neben dem ErentrudisKloster am Nonnberg legten die FEB ihre Großbaustelle Hohensalzburg an: Bauhandwerker aller Berufe kamen; „allerlei einheimisches und fremdes Kriegsvolk“ (Rickhofen) der FEB zog heran; auch lag neben dem Kloster die „Güldene Stube“ für Besucher von Rang, eine Herberge für Pilger, Reisende und arme Ritter sowie eine Dienstbot*innen-Unterkunft. 17 Kleriker und etwa 120 Laien gründeten 1497 die „Nonnberger Bruderschaft“, deren erstunterzeichnende Hausfrauen (38), „Töchter“ (2), „Kinder“ (5), eine Dienstfrau und eine Schusterin einschlossen. Wollten sie den Ruf des Frauenstiftes schützen? Die Reform-denkenden Petersfrauen, nur noch acht an der Zahl, mussten 1573 um Visitation ansuchen: Die grobe und hoffärtige Priorin habe mehr als hundert Bücher heimlich verbrannt und verweigere Novizinnen die Profess; die Schwester Scholastika sei unrühmlich; der Beichtvater hätte erst den Schlüssel missbraucht und sei dann davongelaufen. Abt Andreas Glaser (h. 1577–1584), der ein „Ärgernis erregendes Leben“ führte, schloss das Frauenkloster 1583: Um seine Schulden zu decken, verkaufte er die goldene Amtskette der Priorin und schickte das Klostersilber gegen 270 fl. an die Münze. Ein Jahr später wurde er abgesetzt und zeitweise eingekerkert. Die Nonnen erhielten im NonntalKloster Unterkunft. Domherren und FEB hatten das Domizil der Frauen frei bekommen wollen, erstere für ein Priesterseminar, letzterer für Franziskaner, denen schließlich im Stil einer ImmobilienHolding Vertreter von FEB und Papst das Gebäude übergaben. Die dislozierten Petersfrauen mussten den vier Patres und zwei Laienbrüdern Gewänder, Hausrat, Zinn- und Kochgeschirr überlassen. Zur Abgeltung der Jahrtage, die die Frauen geleistet hatten, handelten die Neuen sich bedeutende Mengen von Wein aus sowie Butter, Öl, Wachs und Unschlitt, 20 Fuhren Holz, 300 Eier und 20 Hennen, ein „gutes“ Schwein, eine gegerbte Kuhhaut sowie wöchentlich 1 ½ rh. fl. und täglich 1 ½ Maß Milch. In der Terminologie der Grundherrschaft waren die Nonnen wie Hörige abgestiftet worden. 37

Auf FEB Matthäus folgte 1540, durchgesetzt von seinen Brüdern, Ernst Wittelsbach. Er ließ sich von ihnen für den Verzicht auf sein Erbe eine Ablöse von 275.000 Gulden zahlen. Ernst nannte sich „Confirmierter zu Erzbischofen“, weigerte sich jedoch, Priester- und höhere Weihen anzunehmen und blieb „Erwählter“ und „Administrator“, bis er 1554 resignierte. Als Koadjutor in der Diözese Passau hatte er diesen Knotenpunkt von Wasserwegen und Straßen durch gewinnbringende Verbindungen nach Wien, Prag, Leipzig, Braunschweig und Antwerpen besser vernetzt. In Salzburg forderte er von allen Offizialen Fähigkeiten und Bewährung. Sie sollten die Vernachlässigung des Ackerbaus beenden, die zu Unterversorgung und sinkenden Abgaben führte. Einen Preisanstieg verhinderte er durch Ausfuhrverbote und da in die Kirchenprovinz Nahrungsmittel eingeführt werden mussten, übernahm er als markt- und preiskundiger Unternehmer die Einfuhr für Hof und Bergwerke. Er war ein guter Haushalter und ein Spekulant. Die zwischen 1554 und 1587 nachfolgenden FEB leisteten sich ein Hirsch- und Steinbockgehege in Hellbrunn, die Herrscherlinie Habsburg-Österreich eine Menagerie mit exotischen Tieren in Schönbrunn. 38 Unter FEB Michael erreichte der Goldbergbau in den späten 1550er Jahren mit bis zu 830 kg jährlich seinen Höhepunkt. 39 Seit dem Befreiungskrieg hatte FEB Matthäus Kundschafter durch die Provinz gesandt. Ernst Wittelsbach suchte, um Dissens und Abfall entgegenzuwirken, innerkirchliche Verbesserungen. Er ersuchte den Papst um Genehmigung, Priester, die im Verdacht lutherischer Gesinnung standen und abschworen, vom Vorwurf des „Ketzertums“ lossprechen zu dürfen. Sein Nachfolger FEB Michael hingegen verschärfte das Kontrollnetz und ließ bei einer Generalvisitation in den Gebirgsgauen alle Schulmeister untersuchen, da viele Nähe zu dem neuen Christentum zeigten. 1564/65 wehrten sich Bauern im Pongau gegen die klerikale Macht, der

Volkssagen, Wien 1880, 80–116. Hans Glaser, Sen., „Salzburgs Buchdrucker“, MGSL 98 (1958), 149–198, erwähnte ein Bänkelsängerlied (1573) über den Aufstand südsteirischer, slowenisch-sprachiger Bauern gegen deutsch-sprachigen Adel und Regenten. 37 Maurus Schellhorn, „Die Petersfrauen. Geschichte des ehemaligen Frauenkonventes bei St. Peter in Salzburg (c. 1130–1583)“, MGSL 65 (1925), 113– 208, hier 160–208; M. E. von Rickhofen, „Die Nonnberger Bruderschaft 1496–1515“, MGSL 56 (1916), 28–41. 38 Vgl. auch Peter F. Kramml, „Der erste Elefant in Österreich (1552) […]“, Salzburg Archiv 4 (1987), 49–70. 39 Felix F. Strauß, „Herzog Ernst von Bayern (1500–1560), ein süddeutscher fürstlicher Unternehmer des 16. Jahrhunderts“, MGSL 101 (1961), 269–284.

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FEB ließ die Anführer Hans Stainer und Wilhelm Egger hinrichten. Ihre Nachkommen durften die Höfe weiter bewirtschaften, mussten aber auf ewig dem Landesfürsten zur Sühne und Erinnerung jährlich einen Widder, bedeckt mit blutrotgefärbtem Tuch, abliefern. Der „Blutwidderdienst“ endete 1811, mehr als zwei Jahrzehnte nach der Revolution in Frankreich. 40 Die Bauern und andere Untertanen erhoben sich im habsburgischen Oberösterreich 1594–1597, in Niederösterreich 1596/97 und protestantische Bergleute im Salzkammergut 1601/02. Grundherren in Kroatien, die durch Gesetz die Bewegungsfreiheit von Bauern einschränkten und Wanderschaft verboten, schlugen deren von Matija Gubec geleiteten Widerstand 1572/73 blutig nieder. Von den Kriegshandlungen des 30-jährigen Macht- und Religionskrieges, 1618 bis 1648, blieb Salzburg-Diözese dank FEB Paris Lodron (h. 1619–1653) verschont. Doch die (Zwangs-) Arbeit für den Befestigungsbau um Salzburg-Stadt schwächte die herangezogenen Arbeiter*innen und während einer Pestepidemie 1635 starb etwa ein Drittel der Bewohner*innen. Mit FEB Wolf-Dietrich (Raitenau, 1550–1617, h. 1587–1612) 41 begann eine neue Phase der absolutistischen Herrschaft. Er entmachtete die Landstände endgültig, reformierte die Verwaltung und verbesserte das Schulwesen. Er hatte in Rom den barocken Überschwang des dortigen Bauwesens kennengelernt und ließ im Zentrum seiner Residenzstadt vieles Gewachsene und Bewohnte abreißen, um es nach seinem Geschmack neu zu gestalten. Bürger*innen und Inwohner*innen sahen Bauleute die Türme des Doms samt Glocken niederreißen: „In solchem Abbrechen und Herunterwerfen seind die schönen Bilder, so Anno Christ 1461 der hochwürdigist Fürst [Burkhard], ob dem Portal von guetem Stainwerch kinstlich machen lassen, alle zerschmettert, verwuest und zerbrochen

worden“, darunter Maria und Johannes, Kaiserpaar Heinrich II. und Kunigunde, St. Peter und St. Jacob, Adam und Eva, St. Rupert und St. Virgil, „Haubtherrn und Patronen“, sowie „andere schöne alte Zier“. So notierte es mit deutlicher Unzufriedenheit Johann Stainhauser in seiner „Salzburger Kirchenbeschreibung“ von 1593. Als 1598 in dem FEBBetstüblein durch eine flackernde Kerze ein Dombrand ausbrach, behaupteten Lästermäuler – oder waren es Machtanalytiker? –, dies wäre die Absicht des bauwütigen Wolf-Dietrich gewesen. Bürgerfamilien, deren Häuser zerstört wurden, durchlebten dies mit Ärger. Wie dachten Menschen in den Außenbezirken der Stadt? 42 Stadthistoriker nannten den FEB einen Abbruchunternehmer. Doch waren Zerstörungen, wenn auch in geringerem Ausmaß, üblich: Jeder neue Top-Mann ließ Kunstwerke des Vorgängers – gebräuchliche ebenso wie geweihte – einschmelzen, um sie nach eigenem Geschmack und auf anderer Kosten neu gestalten zu lassen. Ein Schmähgedicht, „Clage eines erwirdigen Capitels des Thuembstift zu Salzburg“, kritisierte Wolf-Dietrichs Prunksucht und Verachtung für die Sparsamkeit der Vorgänger. Ihm seien „Spott und Schand“ sicher, seine Steuererhöhungen seien Unrecht gegen Gott, belasteten dem gemeinen Mann die Nahrung und brächten „Hertzenlaid“. 43 Manche Städter*innen schätzten den FEB, denn er bekannte sich zu seiner Lebenspartnerin Salome (1558–1633) aus der angesehenen, die Erentrudis-Frauen unterstützenden Bürgerfamilie Alt. Auf Intervention Wolf-Dietrichs erhob Kaiser Rudolf II. sie und die fünfzehn gemeinsamen Kinder in den Adelsstand. Wie viele seiner Vorgänger geriet er über den Salzhandel in Streit mit Bayern. Als er 1611 die Propstei Berchtesgaden besetzen ließ, rückte der Herzog mit Truppen an. Wolf-Dietrich floh, wurde gefangen genommen und Salome Alt mit den Kindern ebenfalls. Er erhielt in Gefangenschaft „Mittags wie Abends außer

Karl Köchl, „Bauernunruhen und Gegenreformation im Salzburgischen Gebirge, 1564/65“, MGSL 50 (1910), 107–156, Zitate 107. Sohn aus kleinadliger habsburgischer Obristen-Familie mit Besitz im Bodenseeraum, mütterlicherseits verwandt mit der Medici-Familie und deren Familienmitglied Papst Pius IV. 42 1592–1595 Beginn des Baus der heutigen Residenz. Franz Wagner, „‚Spätgotik‘ in der Stadt Salzburg. Zu einigen Problemen der kunstgeschichtlichen Forschung“, Salzburg Archiv 32 (2007), 51–104, Zitat 66–67. Das von zugewanderten italienischen Architekten, Baumeistern und Handwerkern gestaltete Domquartier zog seit Mitte des 19. Jahrhunderts italienreisende Dichter und Maler an. 43 „Zwei salzburgische Schmähgedichte“, MGSL 52 (1912), 65–72. Die Schrift wurde bei Stadtschreiber Dr. Sixtus Hatzler gefunden; nach Bestrafung und bei schlechter Gesundheit beklagte er sich 1591 über die „Verkleinerung und Verachtung, in welche er geraten, also dass er vasst mitten im Leben todt ist und dafür gehalten werde“ (69). Der Autor wurde in München vermutet, ein Schiffsmann als Überbringer genannt. Hatzler nannte das Gedicht einen „Pasquill“, vermutlich nach einem Schneider Pasquino, der im 16. Jahrhundert in der Stadt Rom satirische Gedichte öffentlich aushängte. 40 41

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dem Confekt 19 bis 21 warme Speisen sammt den nöthigen Weinen (weißem, rothem und spanischem) auf silbernen Geräten“. Lokale und koloniale Welt auf des Fürsterzbischofs Tisch. 44 Das Gegenreformations-Projekt, verabschiedet von Papst und Konziliaren in Trient (1555–1563), betrieben die 1583 herbeigerufenen Franziskaner. Wolf-Dietrich wollte, vielleicht in der Hoffnung, durch rigorose Papsttreue die Kardinalswürde zu erreichen, 1588 protestantische Familien ausweisen. Manche wirtschaftlich besonders aktive zogen nach Regensburg, Augsburg, Nördlingen und Heidelberg und trugen ihr Human- und Sozialkapital fort. Die Einnahmen des FEB sanken und er verzichtete auf Ausweisungen. Die gegenreformatorischen Kapuziner berief er 1594 in die Residenzstadt, nach Werfen, Radstadt und Tamsweg, und er ließ auf dem Dürrnberg eine aufwändige Wallfahrtskirche errichten, um protestantisch gesinnte Bergleute zu beeindrucken und zur Rück-konversion zu bewegen. Das Abwägen zwischen Glaubensversionen von katholisch bis wiedertäuferisch und zwischen den Bildlichkeiten von Engeln, Teufeln und Gott-JesusMaria erforderte Nachdenken. Ohnehin waren der Himmel und die Schaffung der Welt nicht einfach vorzustellen. Inquisitoren zwangen der Häresie Beschuldigte, ihre Überzeugungen darzulegen (s. Kap. 9.10). In Friaul-Julisch Venetien, wo Säumer ihre Waren tauschten, verhafteten sie 1583 Domenico Scandella, genannt Menocchio (1532–1599) – der fragende Müller versetzte die Institution in Angst. Seiner Bildlichkeit zufolge hatte eine Kraft aus einem Chaos von Erde und Luft, Feuer und Wasser einen Klumpen geformt, wie Käse aus Milch. Darin seien Würmer gewesen und die Kraft habe aus ihnen Gott und Engel geschaffen. Luzifer hätte gottgleich sein wollen und wäre aus dem Himmel vertrieben worden; Gott hätte dann die Menschen geschaffen, um die vertriebenen Engel zu ersetzen; da diese ebenfalls nicht gehorchten, hätte Gott seinen Sohn senden müssen; diesen hatten aber die Juden ergriffen. Soweit Kosmologie und Schöpfung. Im Alltag gab es für Menocchio nur eine Sünde – Nachbarn Schaden anzutun, das

heißt, ungerecht zu leben. Er war sich sicher, dass Maria ihr Kind nicht als Jungfrau geboren hatte und dass der Papst, statt von Gott mit Macht ausgestattet zu sein, ein vorbildhafter guter Mann sei. Er schwor seinen Gedanken ab, blieb jedoch erst im Gefängnis, dann unter Hausarrest und hatte, persecuting society, das Ketzerkreuz auf seiner Kleidung zu tragen. Sechzehn Jahre nach seiner ersten Verhaftung ließen die Inquisitoren ihn verbrennen. 45 FEB Wolf-Dietrich war zu dieser Zeit in seinen Ansichten milder geworden, inquisitorisch Denkende beschuldigten ihn, mit Protestanten zu sympathisieren. Der nachfolgende FEB Markus Sittikus (Hohenems, Steiermark, h. 1612–1619), der seinen Onkel Wolf-Dietrich getrennt von Salome und den Kindern bis ans Lebensende gefangen hielt, teilte dessen Freude am italienischen Barock und berief den Architekten und Baumeister Santino Solari (1576–1646) aus einer Comasken-Familie – Nachkommen der langobardischen Steinmetze des 6. Jahrhunderts am Comer See. Er ließ sie den Landsitz Schloss Hellbrunn erbauen und mit komplexen Wasserspielen ausstatten. Zeitgenoss*innen werden über das Kostspielige geklagt haben. „Solari“ gehört zu den Topoi, die Touristen in der Gegenwart vermittelt werden. FEB Paris Lodron gründete – etwa 400 Jahre nach Beginn universitären Lehrens und Lernens in Lateineuropa und etwa 250 Jahre nach der Universität in Wien – die erste Universität Salzburgs mit Benediktiner-Mönchen als Lehrenden. 46 Die intellektuelle Entwicklung in Diözese und Stadt endete, als 1727 Firmian, Leopold Anton Freiherr von, FEB wurde. Er war Fundamentalist, forderte Jesuiten an und ließ sie – Teilnahme für alle Laien verpflichtend – in Märkten und Dörfern predigen. Wenige scheinen zugehört zu haben, denn er ließ 1731/32 etwa 22.000 Menschen, ein Fünftel der Gesamtbevölkerung, wegen ihres protestantischen Glaubens vertreiben. Familien der „Großen Emigration“ wanderten in Reichsstädte, nach Holland, Georgia (brit. Nordamerika) und nach Ostpreußen, wohin der preußische König sie angesichts ihrer funds of knowledge anwarb.47 Aus dem Dorf Filz-

Pillwax, „Hohen-Salzburg“, 19. Carlo Ginzburg, The Cheese and the Worms: The Cosmos of a Sixteenth-Century Miller, Baltimore 1980 (ital. 1976). 46 Machthabende schlossen sie 1810, sie wurde 1962 neu gegründet. 47 Charlotte E. Haver, Von Salzburg nach Amerika. Mobilität und Kultur einer Gruppe religiöser Emigranten im 18. Jahrhundert, Paderborn 2011; Mack Walker, The Salzburg Transaction. Expulsion and Redemption in Eighteenth-Century Germany, Ithaca 1992; Reformation, Emigration: Protestanten in 44 45

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moos im Fritztal, in dem Erzbischöfe und Grundherren Menschen an- und abgesiedelt hatten, musste mehr als die Hälfte der Bewohner*innen zwangsabwandern, darunter Teile der Familie Hofer, die den Oberhof seit 1648 bewirtschaftete. Einheimische erzählen davon bis in die Gegenwart. 48 Schon im 16. Jahrhundert hatten FEB aus Saalfelden und Umgebung Personen reformatorischer Konfession vertreiben lassen. Da etwa 2000 Höfe leer standen und Bergleute fehlten, warben Amtleute um katholisch-gläubige Arbeitskräfte aus Schwaben, Bayern und Tirol. Im gesamten deutschsprachigen und lateinkirchlichen Raum dachten Menschen über Zukunft und Vertreibungen nach: Des „sel. Joh. Siegelers Wittwe“ in Magdeburg druckte 1732 „Die seufftzende Saltzburger“ mit Untertitel „Besondere Unterredung im Reiche der Lebendigen / zwischen einem der Religion halben aus dem Lande emigrirenden Saltzburger Und einem gleichfalls wegen des Glaubens aus dem Italiänischen und Frantzösischen Gräntzen vertriebenen Waldenser / Darinnen beider Schicksale und Verfolgungen, insonderheit aber die Historie der emigrirenden Saltzburger vollständig beschrieben wird“. 49 In der Kirchenprovinz verstanden viele hohe Kleriker nicht, dass eine homogene Kirchengemeinschaft den heterogenen Transformationsgesellschaften, in denen sie lebten, widersprach.

Viele Kirchenschätze, die Auskunft über Handwerk und Liturgie geben könnten, sind in Land und Stadt nicht erhalten, denn während der imperialdynastischen Neuordnung Napoleons schleppten temporär Machthabende Schätze und Archivalien weg. 1800 floh der letzte amtierende FEB Hieronymus Colloredo (h. seit 1772), der einen – mittelalterlich ausgedrückt: geharnischten – Hirtenbrief über kirchliche Missstände und falschen Glauben veröffentlicht hatte. Als Napoleon 1803 mit Hilfe deutschsprachiger Neuordner Kleinstaaten aufhob, gab er Salzburg-samt-Menschen an Ferdinand III. (Habsburg, Zweig Lothringen) als Entschädigung für das Großherzogtum Toskana, das er ihm weggenommen hatte. 1805 marschierten französische Truppen unter Marschall Bernadotte ein und Ferdinand floh samt Wagen voller Kunst-, numismatischer und naturhistorischer Schätze. Die Bevölkerung musste „den Franzosen“ Kontributionen zahlen, wurde 1810 als „Salzachkreis“ in das Königreich Wittelsbach-Bayern eingegliedert und 1816 – mit reduzierter Fläche und Bevölkerung – Habsburg-Österreich zugeteilt. 50 Die Menschen hatten, geschuldet der Wirtschaftspolitik der FEB, nur begrenzte Optionen und viele wanderten ab. Ihre Vorfahren hatten die Kulturlandschaften, die Märkte und Städte geschaffen.

Salzburg, Ausstellungskatalog, Salzburg 1981; Raymond Dittrich, Die Lieder der Salzburger Emigranten von 1731/1732 nach zeitgenössischen Textdrucken, Tübingen 2008; Wilfried Keplinger, „Die Emigration der Dürrnberger Bergknappen 1732“, MGSL 100 (1960), 171–208. 48 Unter den Vertriebenen waren die Vorfahren der Dichterin Agnes Miegel, geboren 1879 in Königsberg. Christian Salchegger, Filzmoos: Überliefertes und Erlebtes, Filzmoos [1996], 281. 49 Digitale Bibliothek der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, http://digitale. bibliothek.uni-halle.de/vd18/content/pageview/4727373 (2. September 2020). 50 1918 würde ihre Herrschaft in sich zusammenstürzen und Millionen in den Tod reißen. In Die Habsburger. Aufstieg und Glanz einer europäischen Dynastie (Lothar Höbelt, Stuttgart 2009, 10) heißt es: „In der Zeit der Prüfungen nach dem Ersten Weltkrieg kehrte die Dynastie zu den Ursprüngen zurück. Das Herz Karls I. wurde in der Loreto-Kapelle in Muri beigesetzt.“

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Knappe Hinweise zu Literatur und Abbildungsnachweisen

Die Studie beruht auf Fragestellungen und Forschungsansätzen, die interdisziplinär für viele Regionen und Gesellschaften sowie globale Perspektiven entwickelt worden sind. Anregungen habe ich besonders aus den Rezensionsteilen der American Historical Review (seit etwa 2000) und comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung (seit etwa 2010) und dem hnet bezogen. Meinen Ansatz „Transkulturelle Gesellschaftsstudien“ habe ich zusammengefasst in Sozial.Geschichte: „‚Nützliche Subjekte‘ – Fremde – Mittler zwischen Kulturen: Migration und Transkulturalität in Europa, 1600–1914“, 18.3 (2003), 7– 34; „Transkulturelle Lebensformen: Menschen in lokalen – (post-) nationalen – globalen Welten“, 20.1 (2005), 11–29; und „Transkulturelle Gesellschaftsstudien – Transcultural Societal Studies“, 21.1 (2006), 68–78. Ergebnisse von nach 2017 erschienenen Publikationen habe ich nur in Ausnahmefällen eingearbeitet. Ohne intensive Nutzung von „Tertiärliteratur“ hätte ich die wissenschaftlich abgesicherte Breite nicht erreicht. Der Public History entnehme ich umfassendere Ansätze, als Spezialwerke von und für Fachkolleg*innen sie leisten können: Museen, einst säkulare Reliquienschreine, und historischthematische Ausstellungen, deren Kurator*innen Themen auf neuestem wissenschaftlichen Stand allgemeinverständlich darstellen; den Synopsen der Reihe „Beck Wissen“ und „Découvertes Gallimard“. Letztere und Ausstellungskataloge verbinden Wort und Bild zu einer Einheit. Unabdingbar für Detailinformationen waren

Nachschlagewerke vieler Art. Zur oft vorgebrachten Kritik an wikipedia sei angemerkt, dass „renommierte“ Nachschlagewerke viele der mir wichtigen Menschen und Themen eines Eintrags nicht für würdig erachtet haben und dass sie, laut Analyse einer französischen Kollegin (2013/14), nur in fünf Prozent aller Personeneinträge Frauen behandeln. Die Autor*innen des Lexikons des Mittelalters, 9 Bde., Stuttgart 1999, verwenden für Herrschaftsbereiche, ethnische Askriptionen und Zugehörigkeiten das rückprojizierte Konzept von „Nationen“ und „internationalem“ Handeln. Ohne open-source- Internet-Ressourcen wären viele Fragen offen geblieben und viele Abbildungen nicht möglich gewesen. Ich habe seit Beginn meiner Forschung 2012 Dateien heruntergeladen. Da Websites auch renommierter und langfristig existierender Fachinstitutionen ohne „Auflagen“-Angabe und ohne die Möglichkeit, benutzte Versionen nachträglich erneut einzusehen, geändert werden, ist ihre Überprüfung für die Endredaktion 2020 gelegentlich schwierig gewesen. Darstellungen zu speziellen Themen sind in den Anmerkungen genannt. Ich habe mehr verwendet und – wie beratende Kolleg*innen immer wieder betont haben – es gibt noch viele weitere. Für fast jeden Absatz hätte ich zahlreiche, manchmal zahllose weitere Werke heranziehen können. Dies Buch wäre eine reichhaltigere, aber auch endlose Geschichte geworden. Dankbar bin ich den Bibliothekar*innen der Universitäten Salzburg und Wien sowie der Bodleian Library, Oxford.

Literatur zur Ostalpen- und Donauregion und, herrschaftlich, zur Salzburger Kirchenprovinz Ich verlasse mich auf vorhandene Quelleneditionen und Überblicksdarstellungen. Bayerische Historiker erwähnen die frühe Salzburger, später nicht mehr bayerische Geschichte kaum, österreichische die unabhängige Diözese oft nur wenig intensiv. Die Autoren des Handbuchs der bayerischen Geschichte, hg. von Alois Schmid, Bd. 1.1: „Das alte Bayern.

Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter“, München 2017, konzentrieren sich auf politische Entwicklungen. Historiker zu Salzburg-Stadt/Stift/ Diözese/Kirchenprovinz im Mittelalter betonen einerseits Erzbischöfe, Kirche und Landesgeschichte (Heinz Dopsch) und andererseits Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Herbert Klein, Heinrich Koller) 517

Knappe Hinweise zu Literatur und Abbildungsnachweisen

oder Kunstgeschichte (Franz Wagner). Hinzu kommen Spezialartikel in den Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburgische Landeskunde (MGSL, 1, 1861–fortlaufend), im Salzburg Archiv (Hg. Freunde der Salzburger Geschichte, 1, 1986–fortlaufend) und Publikationen für einen breiteren Interessentenkreis mit anschaulichen Details aus alltäglichen Praktiken. Wichtig waren die Publikationen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit in Krems (IMAREAL), für Landwirtschaft besonders die Forschungen von Gerhard Jaritz. Für Dokumente, beginnend mit dem 6. Jahrhundert: http://www.monasterium.net/ http://monasterium.net/mom/AT-AES/Urkunden/fond http://www.mom-ca.uni-koeln.de/mom/OOEUB/ collection Hauthaler, Willibald, und Franz Martin, Hg., Salzburger Urkundenbuch, 4 Bde., Salzburg: Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, 1910–1933. Spechtler, Franz V., und Rudolf Uminsky, Hg., Die Salzburger Stadt- und Polizeiordnung von 1524, Göppingen 1978. Spechtler, Franz V., und Rudolf Uminsky, Hg., Die Salzburger Landesordnung von 1526, Göppingen 1981.

Zu „Salzburg“ im engeren Sinn Neben dem Archiv der Stadt Salzburg/Haus der Stadtgeschichte, der „Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg“ sowie zahlreichen weiteren Publikationen der Mitarbeiter*innen: Altmann, Adolf, Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg. Von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart, 2 Bde., 1913 und 1930, Neuausgabe von Günter Fellner und Helga Embacher ergänzt bis 1988, Salzburg 1990. Dopsch, Heinz, und Hans Spatzenegger, Hg., Geschichte Salzburgs: Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981– 1991; vgl. zu Detailstudien „Werkverzeichnis“ in: Festschrift für Heinz Dopsch, München 2001, 489–506. Historischer Atlas der Stadt Salzburg, hg. von Peter F. Kramml, Erich Marx und Thomas Weidenholzer, Salzburg 1999. Klein, Herbert, Beiträge zur Siedlungs-, Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte von Salzburg. Gesammelte Aufsätze. Festschrift, Salzburg 1965. Salzburg-Atlas. Bundesland Salzburg in 66 Kartenblättern, hg. von Egon Lendl mit Walter Pfitzner und Kurt Willvonseder, Salzburg 1955.

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Ältere Werke (hier chronologisch) bieten Einblicke in andere sinnvolle Ansätze: Zauner, Judas T., und Corbinian Gärtner, [Neue] Chronik von Salzburg, 11 Teile, Salzburg ab 1796. Pillwein, Benedikt, Das Herzogthum Salzburg oder der Salzburger Kreis: Ein Originalwerk, Linz 1839. Zillner, F. V., Geschichte der Stadt Salzburg, 2 Bde., Salzburg 1885. Widmann, Hans, Geschichte Salzburgs [bis 1805], 3 Bde., Gotha 1907–1914.

Teilregionen Österreichs, Österreich-Ungarn, Habsburger Vielvölkerstaat und Vorläufer Bruckmüller, Ernst, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 2001. Hahn, Sylvia, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2008. Knittler, Herbert, Hg., Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels, Horn 2006. Sandgruber, Roman, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995. Scheuch, Manfred, Historischer Atlas Österreich, 11994, Wien 62008. Vocelka, Karl, Österreichische Geschichte, München 32010. Wolfram, Herwig, Hg., Österreichische Geschichte, 10 Bde., Wien 1994–2003, Bde. 1–5, von Herwig Wolfram, Karl Brunner, Heinz Dopsch, Alois Niederstätter.

Benachbarte und entfernte Kontaktregionen und jüdische Diaspora Agnew, Hugh L., The Czechs and the Lands of the Bohemian Crown, Stanford, CA 2004. Curta, Florin, Southeastern Europe in the Middle Ages, 500–1250, Cambridge 2006. Gross, Raphael, u. a., Hg., Im Licht der Menora: Jüdisches Leben in der römischen Provinz, Frankfurt/M. 2014. Kontler, László, A History of Hungary. Millennium in Central Europe, New York 2003. Patai, Raphael, Jews of Hungary: History, Culture, Psychology, Detroit 1996. Štih, Peter, Vasko Simoniti und Peter Vodopivec, Slowenische Geschichte: Gesellschaft, Politik, Kultur, Graz 2008. Wolfram, Herwig, und Andreas Schwarcz, Hg., Die Bayern und ihre Nachbarn, Wien 1989.

Literatur zur Ostalpen- und Donauregion und, herrschaftlich, zur Salzburger Kirchenprovinz

Entfernte Kontaktregionen Faroqhi, Suraiya, Geschichte des Osmanischen Reiches, München 52010. Höllmann, Thomas O., Die Seidenstrasse, München 32011. Kappeler, Andreas, Russische Geschichte, München 52008. Kuhn, Dieter, Die Song-Dynastie (960 bis 1279). Eine neue Gesellschaft im Spiegel ihrer [materiellen] Kultur, Weinheim 1987.

Europäische Geschichte Brunner, Karl, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters, München 2012. „Handbuch der Geschichte Europas“, hg. von Peter Blickle: – Goetz, Hans-Werner, Europa im frühen Mittelalter 500–1050, Stuttgart 2003. – Borgolte, Michael, Europa entdeckt seine Vielfalt: 1050–1250, Stuttgart 2002. – North, Michael, Europa expandiert, 1250–1500, Stuttgart 2007. – Mitterauer, Michael, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003, rev. 2009. Rosenwein, Barbara H., A Short History of the Middle Ages, 12002, Toronto 2018.

Weltgeschichte Bentley, Jerry H., Old World Encounters. Cross-Cultural Contacts and Exchanges in Pre-Modern Times, New York 1993. „Cambridge World History“, hg. von Merry E. WiesnerHanks, Bd. 4–6, Cambridge 2015: – Benjamin, Craig, Hg., A World with States, Empires, and Networks, 1200 BCE–900 CE. – Kedar, Benjamin Z., und Merry E. Wiesner-Hanks, Hg., Expanding Webs of Exchange and Conflict, 500 CE–1500 CE. – Bentley, Jerry H., Sanjay Subrahmanyam und Merry E. Wiesner-Hanks, Hg., The Construction of a Global World, 1400–1800 CE, 2 Bde. Frankopan, Peter, The Silk Roads. A New History of the World, London 2015. „Geschichte der Welt“, hg. von Akira Iriye und Jürgen Osterhammel, München seit 2012, Bd. 3: 1350–1750: Weltreiche und Weltmeere, hg. von Wolfgang Reinhard, München 2014. „Globalgeschichte: Die Welt 1000–2000“, hg. von Peter Feldbauer, Bernd Hausberger und Jean-Paul Lehners, Bd. 2–3: Ertl, Thomas, und Michael Limberger, Hg., Die Welt 1250–1500, Wien 2009.

Feldbauer, Peter, und Jean-Paul Lehners, Hg., Die Welt im 16. Jahrhundert, Wien 2008. Hoerder, Dirk, Cultures in Contact: World Migrations in the Second Millennium, Durham, NC 2002.

* * * Für die Auswahl der Abbildungen habe ich den Fundus der herangezogenen Literatur verwendet, ohne in Bildarchiven und kunstgeschichtlichen Sammlungen zu recherchieren. Viele der von mir ausgewählten Holzschnitte und Bildnisse – weitgehend aus der Zeit vor 1600 – sind gemeinfrei. Für Illustrationen aus anderen, vor dem neuen Urheberrecht publizierten Werken sind Informationen zu Quellen und besonders zu Fotograf*innen dreidimensionaler Objekte gelegentlich nicht verfügbar. Ich habe mich bemüht alle Rechte zu recherchieren. Viele Vorlagen, Verwendungsrechte und Dateien habe ich kostenlos erhalten, dafür danke ich Karina Grömer, Miriam M. Haidle, Clemens M. Hutter, Miha Kosi, Peter Kramml, Erich Pucher, Thomas Stöllner, Johannes M. Tuzar, Michael Veits, Sabine Veits-Falk neben vielen anderen. Dennoch hat der hohe finanzielle Aufwand die Zahl der Illustrationen beschränkt. Abbildungen hat, soweit zweckmäßig, Damianos Kasotakis bearbeitet. Die Karten hat Peter Hinterndorfer gezeichnet. Die Basis für die mit Relief unterlegten Karten Europas ist die DEM-Version aus dem Open Data-Portal der Europäischen Union (EU). Sonstige Quellen sind angegeben. Alle mit „Bearbeitung/Entwurf D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer“ gekennzeichneten Karten und Grafiken dürfen mit genauer Quellenangabe für nichtkommerzielle Bildungs- und Wissenschaftszwecke verwendet werden. Soweit verfügbar, habe ich für Creative Commons CC, gemeinfrei (public domain) bzw. die entsprechenden BY-, NC- und PD-Lizenzen angegeben. Copyright-Angaben fehlen auf vielen Webseiten, bei manchen habe ich nur bei Nachfrage erfahren, dass dort verwendete Materialien nicht frei sind.

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Knappe Hinweise zu Literatur und Abbildungsnachweisen

Angaben zu Quellen und Copyright 1.1 Entwurf D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 2.1 http://www.mineralienatlas.de/lexikon/index.php/Kontinentaldrift; gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. 2.2 © Geologische Bundesanstalt. Bearb. P. Hinterndorfer. 2.3 Schautafel an der Klamm. Foto D. Hoerder. 2.4, 2.8, 2.12, 2.14, 2.19 Entwurf D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 2.5 Autor Pannonian, CC; gemeinfrei. Bearb. P. Hinterndorfer. 2.6 Mit freundlicher Genehmigung aus Miriam N. Haidle, „Homo migrans: Spuren menschlicher Expansionen von 7 Millionen bis 5000 v. Chr.“, in: Robert Rollinger und Harald Stadler (Hg.), 7 Millionen Jahre Migrationsgeschichte. Annäherungen zwischen Archäologie, Geschichte und Philologie, Innsbruck 2019, 66. 2.7 © Landessammlungen NÖ, UF-19734. Foto Ernst Lauermann. 2.9 a) Naturhistorisches Museum, Wien. CC 4.0. Bearb. D. Kasotakis. 2.9 b), 2.13 a), 2.16, 2.17, 2.18 a) und b), 2.24 a) und b) Krahuletz-Museum (Eggenburg) mit Dank an Johannes M. Tuzar. Fotos D. Hoerder, Bearb. D. Kasotakis. 2.10 Grafik Römisch-Germanisches Zentralmuseum (RGZM) und CC (Joe Roe). Umsetzung P. Hinterndorfer. 2.11 Gronenborn/Horejs/Börner/Ober 2019 (RGZM/OREA). 2.13 b) © Bisserka Gaydarska und John Chapman, „Spondylus gaederopus/Glycymeris Exchange Networks in the European Neolithic and Chalcolithic“, The Oxford Handbook of Neolithic Europe, hg. von Chris Fowler, Jan Harding und Daniela Hofma, Online, Oxford 2014, S. 4; mit freundlicher Genehmigung durch Oxford University Press. Die einzelnen Zeichnungen dürfen nicht separat weiterverwendet werden. 2.13c Vesna Dimitrijević und Boban Tripkovic, „Spondylus and Glycymeris Bracelets: Trade Reflections at Neolithic Vinča-Belo Brdo“, Documenta Praehistorica (11. Dezember 2006), Abb. 2, DOI: 10.4312/dp.33.21 (14. Februar 2020); CC-BY-SA 4.0. 2.15 Museum Viminacium. Foto D. Hoerder. 2.20 Nach http://commons.wikimedia.org/wiki/File:European_Middle_Neolithic.gif. Umsetzung P. Hinterndorfer. 2.21 Nach http://www.donau-archaeologie.de/doku.php/kulturen/theiss. Bearb. P. Hinterndorfer. 2.22 Johannes-Wolfgang Neugebauer, Österreichs Urzeit. Bärenjäger, Bauern, Bergleute, erw. Aufl. Wien 1990, 113. 2.23 Nach Hans Braxmeier; Ergänzung D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 2.25 Thilo Park, CC. 3.1 Heide W. Nørgaard, Ernst Pernicka, Helle Vandkilde, On the Trail of Scandinavia’s Early Metallurgy: Provenance, Transfer and Mixing, PloS ONE 14(12): e0227504 (publ. 24. Juli 2019); https://doi.org/10.1371/journal.pone. 0219574 (2. August 2019). 3.2 Nach: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hg.), Die Welt der Kelten. Zentren der Macht – Kostbarkeiten der Kunst, Stuttgart 2012, 91, und Putzger. Historischer Weltatlas, Berlin 2011, 35. Entwurf D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 3.3 Nach Putzger 2011, 48 oben. Umsetzung P. Hinterndorfer. 3.4 a), 3.15, 3.21 Krahuletz-Museum (Eggenburg). Foto D. Hoerder. 3.4 b), 3.8, 3.9, 3.10 Mit freundlicher Genehmigung aus Andreas Lippert, Wirtschaft und Handel in den Alpen: Von Ötzi bis zu den Kelten, Stuttgart 2012, 66 (E. Urbanek), 68 (K. Kromer), 73 (Keltenmuseum Hallein). 3.5 Nach Vorlagen des Keltenmuseums Hallein (Stand 2013). Umsetzung P. Hinterndorfer. 3.6 Zeichnung des Bergwerksbeamten und Ausgräbers Johann Georg Ramsauer; https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/8/86/Hallstatt_culture_ramsauer.jpg (14. Januar 2020); CC-PD 1.0. 3.7 Datenquellen: CC-BY-4.0, Land Steiermark – data.steiermark.gv.at, Land Oberösterreich – data.ooe.gv.at, Land Salzburg – data.salzburg.gv.at, Umweltbundesamt – data.umweltbundesamt.at. Nach Erich Pucher u. a., Bronzezeitliche Fleischverarbeitung im Salzbergtal bei Hallstatt, Wien 2013, 37, Abb. 13. Umsetzung P. Hinterndorfer. 3.11 Aus Peter Bichler, Hallstatt Textiles: Technical Analysis, Scientific Investigation and Experiment on Iron Age Textiles (2005), Abb. 15 d, Corpus ID: 128838689; https://www.semanticscholar.org/paper/Hallstatt-textiles%3Atechnical-analysis%2C-scientific-Bichler/5d88fc3edbaa06a4956e30f115d9cc133bb6fa44. 3.12, 3.17, 3.18, 3.19, 3.20 Mit freundlicher Genehmigung aus Karina Grömer, Prähistorische Textilkunst in Mitteleuropa. Geschichte des Handwerks und der Kleidung vor den Römern, Wien 2010, Abb. 118, 63, 87, und dies., „Discovering the People behind the Textiles: Iron Age Textile Producers and Their Products in Austria“, in: M. Gleba und J. Pásztókai-Szeöke (Hg.), Making Textiles in Pre-Roman and Roman Times. People, Places, Identities, Oxford 2013, 30–59; https://www.researchgate.net/publication/327069925. 3.13 Courtesy of Museo Civico Archeologico, Bologna, MCABo Inv. 25676.

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Angaben zu Quellen und Copyright

3.14 © Salzburg Museum, Inv.Nr. ARCH 6629_02. 3.16 Nach Thomas Stöllner, „Bergbau und Gewerbe am Dürrnberg bei Hallein – Ein Beitrag zur Siedlungs- und Bergbauarchäologie auf dem eisenzeitlichen Dürrnberg“, in: Erzsébet Jerem u. a. (Hg.), Die Kelten in den Alpen und an der Donau, Budapest 1996, 242. Bearb. D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 3.22 Nach Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen der frühgeschichtlichen Archäologie, Berlin 2004, 583, Abb. 88. Ergänzung Wasserweg D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 4.1, 4.3, 4.4 Umsetzung P. Hinterndorfer. 4.2 Foto Matthias Kabel; CC-BY-SA-2.5. 4.5 Nach Norbert Heger, Salzburg in römischer Zeit, Salzburg 1974, 99. Bearb. D. Kasotakis. 4.8, 4.9, 4.10, 4.11Mit freundlicher Genehmigung aus Clemens M. Hutter, Iuvavum. Alltag im römischen Salzburg, Salzburg 2012, 29, 32, 12, 96, 56. Bearb. D. Kasotakis. 4.6, 4.7 Archiv des Landesmuseums für Kärnten, F. Glaser. Bearb. D. Kasotakis. 4.12 Nach Daniel Castella und Timothy J. Anderson, „Les meules du Musée romain d’Avenches“, Bulletin de l’Association Pro Aventico 46 (2004), 120; gemeinfrei. Umsetzung P. Hinterndorfer. 4.13 © Salzburg Museum, Inv.Nr. ARCH 3952. Bearb. D. Kasotakis. 4.14 Nach einer Vorlage des RGZM; http://www2.rgzm.de/Transformation/Noricum/Villae_Noricum/Villen_ Noricum.html (14. Januar 2020). 4.15 Antikensammlung, Altes Museum, Berlin; https://www.ancient.eu/image/11366/family-of-septimius-severus; Foto Osama Shukir Muhammed Amin (25. November 2020); CC-NC-SA. 4.16 Nach Gérard Chaliand, Michel Jan und Jean-Pierre Rageau, Atlas Historique des Migrations, Paris 1994, 30. Umsetzung P. Hinterndorfer. 4.17 Entwurf D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 4.18 Mit freundlicher Genehmigung aus France M. Dolinar u. a., Slovenski zgodovinski atlas [Slovenian historical atlas], Ljubljana 2011, 50. Legende übersetzt und geändert D. Hoerder mit M. Kosi, Umsetzung P. Hinterndorfer. 4.19 Mit freundlicher Genehmigung aus H.D. Pohl, „Slawische und slowenische (alpenslawische) Ortsnamen in Österreich“; http://wwwg.uni-klu.ac.at/spw/oenf/name1.htm; Karte von Otto Kronsteiner, Umsetzung P. Hinterndorfer. 5.1 Mit freundlicher Genehmigung der Autorin Eva Leinneis, Univ. Wien. 5.2 Autor Warinhari; CC-BY-SA. Bearb. D. Kasotakis. 5.3 Dänisches Nationalmuseum, Kopenhagen; http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/67/Solvognen_ DO-6865_2000.jpg (25. November 2020); CC-BY-SA. 5.4 Steiermärkisches Landesmuseum Joanneum, Graz; Stand nach der Restaurierung durch das RGZM; Foto D. Hoerder. 5.5 Mit freundlicher Genehmigung aus Otto H. Urban, Wegweiser in die Urgeschichte Österreichs. Archäologie sehen, erkennen, verstehen, Wien 1989, 185. 5.6 © Keltenmuseum Hallein, Inv.Nr. AR 1959 0213; Foto R. Poschacher. 5.7 Dänisches Nationalmuseum, Kopenhagen; https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Malene; CC-BY-SA (26. November 2020). 5.8–5.10, 5.12, 5.13 © Salzburg Museum, Inv.Nr. ARCH 240-69, 6629_09, 1486_z1, 2950. Bearb. D. Kasotakis. 5.11, 5.16 Nach Norbert Heger, Salzburg in römischer Zeit, Salzburg 1974, Abb. 4, 42. Bearb. D. Kasotakis. 5.14 Museen der Stadt Regensburg, Historisches Museum, Inv.Nr. A 2143; Foto P. Ferstl. 5.15 Autor Xuan Che (15. Januar 2020); CC BY 2.0. Bearb. P. Hinterndorfer. 5.17 Nach Richard Pittioni, Urzeit von etwa 80 000 bis 15 v. Chr. Geb., 2 Bde., Wien 1980, 1:157. Foto Czaba Tarcsay, Bearbeitung D. Kasotakis. 5.18. Universitätsbibliothek in Heidelberg. Bearb. D. Kasotakis. 5.19 Weltmuseum, Wien. Foto D. Hoerder. 5.20 Dept. of Near Eastern Antiquities, Louvre; Foto Rama; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dea_gravidaAM_206-IMG_7822-gradient.jpg (9. Mai 2020). Bearb. D. Kasotakis. 5.21 Foto Courtauld Institute of Art, University of London (26. November 2020); gemeinfrei. 5.22 Vatikanische Nekropole. FWF Wien, Forschungsschwerpunkt „Der apokryphe Sonntag in der Spätantike und im frühen Mittelalter“ (26. November 2020); gemeinfrei. 5.23, 5.24 Nach F. van der Meer und Christine Mohrmann, Atlas of the Early Christian World, Amsterdam 1958, Karte 2, und Raphael Gross u. a. (Hg.), Im Licht der Menora: Jüdisches Leben in der römischen Provinz, Frankfurt/M. 2014, 45. Bearb. D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 5.25 Archäologie online; Foto Landesmuseum Kärnten. 5.26 Entwurf D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer.

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Knappe Hinweise zu Literatur und Abbildungsnachweisen

5.27 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0f/Ankunft_des_Heiligen_Rupertus.jpeg. Bearb. D. Kasotakis. 5.28 https://de.wikipedia.org/https://austria-forum.org/ (16. Januar 2020); CC PD. 5.29 org/wiki/Rupertus-Kreuz#/media/Datei:Pfarrkirche_Bischofshofen_-_Rupertuskreuz.jpghttps://de.wikipedia. org/wiki/Rupertus-Kreuz - /media/Datei:Pfarrkirche_Bischofshofen_-_Rupertuskreuz.jpg; Foto Luckyprof; CCBY-SA 4.0. Bearb. D. Kasotakis. 5.30 akg-images / Erich Lessing. 6.1, 6.9, 6.14, 6.16, 6.18, 6.19, 6.20 Entwurf D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 6.2 a) http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/ambrosius-von-mailand/DE-2086/lido/ 57a9e401693e63.12814344; https://orthodoxwiki.org/Ambrose_of_Milan (26. November 2020); gemeinfrei. b) Metropolitan Museum of Art. (26. November 2020); https://www.wikidata.org/wiki/Q20187999; gemeinfrei. 6.3 Nach Atlas of the Early Christian World, 32, und anderen Quellen. Umsetzung P. Hinterndorfer. 6.4 http://german.lss.wisc.edu/~smoedersheim/gr601/geschichte/frma/karolinger/karl.htm (11. Mai 2020); gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. 6.5 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 22 f. 141; https://www.e-codices.unifr.ch/fr/csg/0022/141; CC-NC. Bearb. D. Kasotakis. 6.6 Entwurf nach Heinz Dopsch, Peter Štih u. a. durch D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 6.7 Nach Putzger 2011, S. 68 unten, und National Museum Budapest, Archäol. Ausst., und László Kontler, A History of Hungary. Millennium in Central Europe, New York 2003, 35. Umsetzung P. Hinterndorfer. 6.8 Thomas A. Lessman; http://www.ThomasLessman.com/History/images/East-Hem_565ad.jpg, bearb. von Johannes Preiser-Kapeller, 2018. 6.10 © Museo Internazionale delle Ceramiche in Faenza: Gabriella Manna, Umberto Bongianino, Agnese Fusaro (Hg.), Guida alla sezione islamica, Faenza 2014, 11. 6.11 Nachdruck aus Johannes Preiser-Kapeller; https://www.academia.edu/37090935/The_marriage_network_of_ high_medieval_Europe_1000-1200_AD_. 6.12 Nederlands Instituut voor Kunstgeschiedenis, RKDimages 677ea0ea-35e6-3d0f-b0d7-bdd62511b379; gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. 6.13 Musée de Cluny, Paris, Cl 292; Foto Clio 20; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Otton_II_et_Th%C3% A9ophano.JPG; GNU Free Documentation Licence. Bearb. D. Kasotakis. 6.15 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/7d/Freising_manuscript.jpg; Foto Marjan Smerke; gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. 6.17 C.E. Rhode, Historischer Schulatlas, 12. Aufl., Glogau [um 1880], Karten 46–49; gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. 6.21 Conrad Grünenberg, Beschreibung der Reise von Konstanz nach Jerusalem, um 1487. Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. St. Peter, pap. 32; http://digital.blb-karlsruhe.de/id/7061; CC, gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis 6.22 https://www.flickr.com/photos/bibliodyssey/3992476913/sizes/m/; CC-BY 2.0. Bearb. D. Kasotakis. 7.1 Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 387, f. 90v. 7.2 Stuttgarter Psalter, Karolingische Handschrift, St. Germain-des-Prés, 1. Hälfte 9. Jh., f. 124v; https://de.m. wikipedia.org/wiki/Datei:Stuttgarter_Psalter_Fol._256.jpg; gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. 7.3 Heidelberger Bilderhandschrift, Cod. Pal. Germ. 164, f. 26v; gemeinfrei. 7.4 Nach Josef Brettenthaler, Salzburgs SynChronik, Salzburg 1987, 80–81. Umsetzung P. Hinterndorfer. 7.5, 7.6 akg-images. 7.7, 7.9 Aus Kloster Weyarn, Amtsbücher und Akten 1, Bayerisches Hauptstaatsarchiv. 7.8 Utrecht, Universitätsbibliothek, Cod. 32, f. 84r; nach Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 46. 7.10 http://de.wikipedia.org/wiki/Petrus_de_Crescentiis#/media/File:Crescenzi_calendar.jpg (10. Mai 2020); gemeinfrei. 7.11, 7.12 Mit freundlicher Genehmigung aus Klaus Arnold, Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance, Paderborn 1980, 30, Abb. 2 (Foto R. Löber), und 83, Abb. 8 (Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 102 b, f. 46r, 48r, 50r). Bearb. D. Kasotakis. 7.13 Cicero, Officia, Augsburg 1532; aus Theodor Hampe, Die fahrenden Leute in der deutschen Vergangenheit, Leipzig 1902; gemeinfrei. 7.14 Nach Michael Becker und Monika Brunner-Gaurek, Führer durch das Salzburger Freilichtmuseum, Großgmain 2011, und Paul B. Newman, Daily Life in the Middle Ages, London 2001, 41, Abb. 2. Entwurf D. Hoerder, Umsetzung AH-S. 7.15 Nach Ulrich Bentzien, Bauernarbeit im Feudalismus. Landwirtschaftliche Arbeitsgeräte und -verfahren …, Berlin 1980, 40, 77. Bearb. P. Hinterndorfer. 7.16 © Victoria & Albert Museum, London, Inv.Nr. 6-1867. Bearb. D. Kasotakis.

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Angaben zu Quellen und Copyright

7.17 Entwurf D. Hoerder unter Verwendung von Elementen aus Hajo Hayen, „Handwerklich-technische Lösungen im vor- und frühgeschichtlichen Wagenbau“, in: Herbert Jankuhn u. a. (Hg.), Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, 2 Bde., Göttingen 1983, 2:422, 433, 453, 456. Umsetzung AH-S. 7.18 Foto Johann Jaritz; Wikipedia-Datei Noetsch_Saak_Kirche_Heiliger_Kanzian_20052007_31 (10. Mai 2020); CC-BY-SA 4.0. 7.19 Sebastian Brant (Hg.), Publij Virgilij Maronis Opera, Straßburg 1502; http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ vergil1502/00http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/vergil1502/00 (10. Mai 2020); gemeinfrei. 7.20 Nachzeichnung aus Siegfried Epperlein, Bäuerliches Leben im Mittelalter: Schriftquellen und Bildzeugnisse, Köln 2003, 98, Abb. 39. 7.21 © MAD, Paris, Museé des Arts Décoratifs, Inv. 11072, tapisserie „Les bucherons“. Bearb. D. Kasotakis. 7.22, 7.23 akg-images. 7.24 Goethezeitportal; http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=1656. 7.25 Chronicon, f. 12v, Bibliothèque royale de Belgique: gemeinfrei. 8.1 Kunsthistorisches Museum Wien, Ägypt. Abt. Foto D. Hoerder, Bearb. D. Kasotakis. 8.2 Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inv. ZV44; Foto Elke Estel, Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin; https://blogs.kent.ac.uk/lucius-romans/files/2017/12/Image-3.jpg; gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. 8.3 Xinjiang Uyghur Autonomous Region Museum; https://www.penn.museum/silkroad/exhibit_daily_life.php; gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. 8.4 Nach Herbert Klein, „Der Saumhandel über die Tauern“, MGSL 90 (1950), 102–103, und Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs: Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.1:357. Ergänzungen D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 8.5 Planarchiv, Bundesdenkmalamt Wien; mit Dank an Ing. Christoph Zauchinger. Bearb. D. Hoerder, Umsetzung AH-S. 8.6 Nach Polona Vidmar und Boris Haidinjak, Lords of Ptuj: Medieval Knights, Founders and Patrons of the Arts, Ptuj 2008, Karten 9, 10, 13. Entwurf D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 8.7 Aus Historischer Atlas der Stadt Salzburg, hg. von Peter F. Kramml, Erich Marx, Thomas Weidenholzer, Salzburg 1999. Bearb. P. Hinterndorfer. 8.8 Nach François Souchal, Das Hohe Mittelalter, Baden-Baden 1968. Bearb. D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 8.9 Nach Salz. Katalog der Salzburger Landesausstellung 1994, Salzburg 1994. Ergänzung D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 8.10 a) Salzburger Freilichtmuseum, Großgmain. Foto D. Hoerder. 8.10 b) Vormals St. Peter, Salzburg; jetzt New York. 8.11, 8.12, 8.15 b), 8.27 Mit freundlicher Genehmigung aus Günther Binding mit Gabriele Annas, Bettina Jost und Anne Schunicht, Baubetrieb im Mittelalter, Darmstadt 1993, 3, 179, 180, 319, 335, 343. 8.13, 8.19 Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung, Bd. I, f. 18v, 10r; http://www.nuernberger-hausbuecher. de; gemeinfrei. 8.14 Koninklijke Bibliotheek van België, Brüssel, Hs. 9242, f. 232; gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. 8.15 a) Ebo-Evangeliar, Épernay, Stadtbibliothek, MS 1, f. 13; www.enluminures.culture.fr/documentation/enlumine/ fr/BM/epernay_001-01.htm. Bearb. D. Kasotakis. 8.16, 8.18 a), b) Bayerische Staatsbibliothek, Clm 17011, f. 36v; Clm 15903, f 10v.; Decretum Gratiani, f. 309. 8.17 Egerton 1139, f. 3, British Library; http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=egerton_ms_1139_fs03r. Bearb. D. Kasotakis. 8.20 a) Herrad von Landsberg, Hortus, 1175/91, f. 27; gemeinfrei; b) Cod.Guelf.1.6.3_Aug.2º_082v; https://wiktenauer.com/wiki/Burgkmair_Turnierbuch; c) Tournament am Hof Camelot, Lancelot du lac, ~1480, BNF fr. 111, f. 91; gemeinfrei für wiss. Werke. Bearb. D. Kasotakis. 8.21 a) und 8.22 Harry Kühnel, Hg., Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung. Vom Alten Orient bis zum ausgehenden Mittelalter, Stuttgart 1992, Schaubild VIII, XIV. Mit freundlicher Genehmigung des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart. b) Cod.Guelf.1.6.3_Aug.2º_062v; https://wiktenauer.com/wiki/Burgkmair_Turnierbuch; gemeinfrei. 8.23 Museum für Angewandte Kunst (MAK), Wien, T 6902 / 1908. Bearb. D. Kasotakis. 8.24 a), b) © Lyon, Musée des Tissus, MT 25434. Foto Pierre Verrier. 8.25 British Library, London, Ms Royal 2 B VII, f. 37v., BM G70036-24a; https://www.bl.uk/catalogues/ illuminatedmanuscripts/ILLUMIN.ASP?IllID=53931.

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Knappe Hinweise zu Literatur und Abbildungsnachweisen

8.26 Rudolf von Ems, Weltchronik, Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Rh. 15, f. 6v; https://www.e-codices.ch/en/list/one/ zbz/Ms-Rh-0015; gemeinfrei. 8.28 Wilhelm Lübke und Max Semrau, Grundriß der Kunstgeschichte, Esslingen 141908; https://de.wikipedia.org/wiki/ Datei:Aeussere-Fiale_Kathedrale-von-Rheims.png; gemeinfrei. 8.29 Stadtarchiv Salzburg. Bearb. D. Kasotakis. 8.30 https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Cannaregio_-_Palazzo_Mastelli_del_Cammello_(Venice)_-_Il_camello.jpg; Foto Didier Descouens; gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. 9.1 a) Mit freundlicher Genehmigung Bergbau- und Gotikmuseum Leogang, Hermann Mayrhofer. b) http://www.os-strozanac-podstrana.skole.hr/razmjena?news_id=1155; gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. c) Musée d’Aquitaine, Bordeaux, Inv. 60.2.2; Foto Mairie de Bordeaux; http://www.musee-aquitaine-bordeaux.fr/fr/ article/loeuvre-du-mois-juin-2013 (23. Januar 2020). 9.2 https://www.sn.at/wiki/images/5/57/Die_ber%C3%BChmten_Kirchent%C3%BCren_von_Irrsdorf.jpg; Foto Franz Fuchs; CC-BY-NC-SA. Bearb. D. Kasotakis. 9.3 © Bibliothek St. Peter, BSP_Cod._a_I_0_Psalterium, f. 4v–5r, „Beatus vir“. 9.4 St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung, Ms. 343d; https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/vad/ 0343d (10. Mai 2020); CC-BY-NC. 9.5 a) Bayerisches Nationalmuseum; https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Maria_im_%C3%84hrenkleid_Salzburg_ um_1490_BNM.jpg (15. Mai 2020); gemeinfrei. b) ©ZRC SAZU, UIFS; Foto Andrej Furlan. c) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/38/41Sch%C3%B6ne_Madonna_von_Regensburg.jpg (24. Januar 2020); gemeinfrei. 9.6 Foto Father Justin Sinaites, Katherinenkloster, Sinai. 9.7 British Library, Add. Ms 47682, f. 2r; http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=add_ms_47682_fs001r. 9.8 Original: Alte Galerie/Universalmuseum Joanneum GmbH, Graz. Bearb. D. Kasotakis. 9.9 Metropolitan Museum of Art, New York; gemeinfrei. 9.10 Nach Fritz Koller, „Die Grundherrschaft der Abtei St. Peter“, in: Das älteste Kloster im deutschen Sprachraum. St. Peter in Salzburg, 3. Landesausstellung, Salzburg 1982, 112. Grafik Werner Hölzl, Bearb. P. Hinterndorfer. 9.11 https://en.wikipedia.org/wiki/Hemma_of_Gurk (27. November 2020); gemeinfrei. 9.12 a) Zairon; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gurk_Dom_Maria_Himmelfahrt_Innen_Paradies_ Fresko_2.JPG; b) Johann Jaritz; c) Wolfgang Sauber; CC-BY-SA 3.0. 9.13 http://www.christianiconography.info/Wikimedia%20Commons/ecclesiaXThroneUntergreutschach.html (7. September 2015); gemeinfrei. 9.14 und 9.15 Wikimedia Commons; gemeinfrei. 9.16 Foto D. Hoerder. 9.17 Codex_Donaueschingen_113; gemeinfrei. 9.18 Heritage Images / Fine Art Images / akg-images. 9.19 T.E. Ryan; https://de.wikipedia.org/wiki/Hortus_Deliciarum; CC-BY-NC-SA. 9.20 Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4660, f. 1r; https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Carmina_Burana.pdf. 9.21 https://archive.org/details/arsnotorianotory00turn/mode/2up (25. Januar 2020); gemeinfrei. 9.22 Stadtarchiv Salzburg. Das Original ist seit 1945 verschwunden. 9.23 Mit freundlicher Genehmigung aus Werner Maleczek, „Die Ketzerverfolgung im österreichischen Hoch- und Spätmittelalter“, in: Erich Zöllner (Hg.), Wellen der Verfolgung in der österreichischen Geschichte, Wien 1986, 18– 39, Abb. S. 39. Bearb. P. Hinterndorfer. 10.1 Stadtarchiv Salzburg. 10.2 Schiffleutzechbuch-II-A-25-c-Stadtarchiv-Passau. Mit Dank an Stadtarchivar Richard Schaffer. 10.3 Stadtarchiv Salzburg, aus MGSL (1978); Foto Hans Roth. 10.4 Schedelsche Weltchronik; gemeinfrei. 10.5 © Kunstsammlungen der Erzabtei St. Peter, Salzburg, G 411. 10.6 © Salzburg Museum; Modellentwurf Gerhard Plasser, Ausführung Holztechnikum Kuchl. Bearb. D. Kasotakis. 10.7 © Walter Schlegel; Foto Stadtarchiv Salzburg. 10.8 Gerhard Ammerer, Thomas Weidenholzer u. a., Rathaus – Kirche – Wirt. Öffentliche Räume in der Stadt Salzburg (2009); Franz Fuhrmann, „Der Chor der Franziskanerkirche in Salzburg und sein ‚Massgrund‘. Eine Nachlese“, in: Beiträge zur Mittelalterlichen Kunst, 2 Bde., Wien 1993, 195–209. Bearb. AH-S. 10.9 Foto D. Hoerder. 10.10 Foto Michael Veits.

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Angaben zu Quellen und Copyright

10.11 https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Matth%C3%A4us_Roritzer#/media/File:Matth%C3%A4us_ Roritzer.jpg; gemeinfrei. 10.12, 10.13 Mit freundlicher Genehmigung aus Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 81, 119. 10.14, 10.15 Bayerische Staatsbibliothek. 10.16 Wikisource; gemeinfrei. 10.17–10.20 Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 10852, f. 62r, 87v, 96v, 121, 126v, 154r, 159v. 10.21 Mittelalterliches Hausbuch von Schloss Wolfegg, f. 35v; https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/ 9e/Hausbuch_Wolfegg_35v_H%C3%BCttenwerk.jpg; gemeinfrei. 10.22 https://www.biodiversitylibrary.org/pageimage/41454987; gemeinfrei. 10.23 Wikisource; gemeinfrei. 10.24 a) und b) © Salzburger Burgen & Schlösser. Bearb. D. Kasotakis. 11.1 Foto Salzburg Stadtarchiv. 11.2 Entwurf D. Hoerder, Umsetzung P. Hinterndorfer. 11.3 Bayerische Staatsbibliothek, Onus Ecclesiae _ Pürstinger, Berthold; gemeinfrei. 11.4 https://www.albertina.at/Sammlungenonline (12. Mai 2020). 11.5 Aus Christian Rohr, Ursula Bieber und Katharina Zeppezauer-Wachauer (Hg.), Krisen, Kriege, Katastrophen. Zum Umgang mit Angst und Bedrohung im Mittelalter, Heidelberg 2018, 150; gemeinfrei. 11.6 Museo del Prado, Madrid; https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Triumph_des_Todes_(Bruegel); gemeinfrei. 11.7 Bayerische Staatsbibliothek, Clm 15903. Bearbeitung D. Kasotakis. 11.8 Gemeinfrei. 11.9, 11.10 Hermann Kindler und Werner Hilgemann, dtv-Atlas zur Weltgeschichte, München 2000. Umsetzung P. Hinterndorfer. 11.11, 11.12 Mit freundlicher Genehmigung aus Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 59, 135. 11.13 © Germanisches Nationalmuseum, Graphische Sammlung, Inv. Hz4; Foto Monika Runge; CC-BY-NC-ND. Bearb. D. Kasotakis. 11.14 a) und b) akg-images. 11.15 Aus Otto Kainz, Das Kriegsgerichtsprotokoll im niederösterreichischen Bauernaufstand aus dem Jahre 1597, Diss. Universität Wien, 2008, 452–453. Das Flugblatt wurde in verschiedenen Auflagen gedruckt. Bearb. D. Kasotakis. 11.16 akg-images. 11.17 a) http://www.bauernkriege.de/cranach2.html; gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. 11.17 b) http://www.hohensalzburg.com/geschichte04.htm; gemeinfrei. Bearb. D. Kasotakis. 11.18 Mit freundlicher Genehmigung Bergbau- und Gotikmuseum Leogang, Hermann Mayrhofer. 11.19 National Gallery London N-1331-00-000031-wpu; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Virgin_and_ child_with_cherubim_london_ng.jpg; gemeinfrei. 11.20 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/12/23Schottenaltar-Wien.jpg; gemeinfrei.

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Dirk Hoerder hat in Deutschland, Kanada, den USA, Frankreich und Österreich gelebt und gelehrt. Seine zahlreichen Publikationen umfassen globale, regionale und lokale ­Migrationen und deren Auswirkung auf Alltagskulturen.

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