Kirchenräume in Wien: Architektur in der Kulturanalyse [1 ed.] 9783205208334, 9783205207306


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Kirchenräume in Wien: Architektur in der Kulturanalyse [1 ed.]
 9783205208334, 9783205207306

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Kirchenräume in Wien Architektur in der Kulturanalyse

Jens Wietschorke

ETHNOGRAPHIE DES ALLTAGS, BAND 4

KIRCHENRÄUME IN WIEN ARCHITEKTUR IN DER KULTURANALYSE

Jens Wietschorke

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Wien, Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät, sowie der Kulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. 1. Auf lage 2019 © 2019 by Böhlau Verlag Gesellschaft m.b.H & Co. KG, Kölblgasse 8 – 10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Szene am Opferlichtstand in St. Stephan, Wien © Christof Krumpel, Wien Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-20833-4

INHALT

1. Einleitung

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Kirchenräume als Thema der Sozial- und Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion und Gesellschaft: Perspektiven der Religionssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Architektur und Gesellschaft: Perspektiven der Architekturund Raumsoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkenntnisinteresse, Methoden und Konzeption der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Katholische Kirchenräume in Wien Eine Skizze zur politischen Kulturgeschichte

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Kirchenraum und Stadtraum: Vorbemerkungen in systematischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenreformation und »Pietas Austriaca«: Habsburgische Staatsideologie in Mariahilf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Josephinismus zur politischen Romantik des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kaiser-Jubiläum und kommunale Moderne: Konstellationen der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Großstadtseelsorge« als soziale Mission: Notkirchen und Arbeiterkathedralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rot und Schwarz: Politischer Katholizismus und Kirchenbau in der Ersten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . Liturgische Bewegung und moderne Kirchenraumkonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadt und Kirchenbau nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Der Kirchenraum als Repräsentationsraum Symbolische Ordnungen des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Medienraum Kirche: Politische Kommunikation und die Legitimation von Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Architektur als Medium des Sozialen . . . . . . . . . . . . . Zur materiellen und symbolischen Konstitution des Kirchenraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hierarchien und Platzierungen: Machtverhältnisse und symbolische Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Heilig und Profan: Ordnungen des Kollektivs

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Das Zweite Vatikanum und die Konzilsgedächtniskirche in Lainz Umkämpfte Räume: Die Votivkirchenbesetzung 2012/13 . . . . .

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4. Der Kirchenraum als memorialer Raum Politische Mythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gedächtnistheorie und Kirchenraum . . . . . . . . . . . . . . . Die Struktur des politischen Mythos . . . . . . . . . . . . . . . Politische Mythen im Kirchenraum: Von der Karlskirche zur Votivkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geister des Raums: Die Politik der Toten . . . . . . . . . . . . Politischer Personenkult im Kirchenraum: Von Lueger bis Dollfuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Militärische Erinnerungszeichen und Opferdiskurs: Wiener Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sich in den Raum einschreiben: Medien und Praktiken der Promulgation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bürgerliche Memoria: Beispiele aus Mariahilf, Breitensee und Lainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Kirchenraum als affektiver Raum Architektur, Sinnlichkeit und Emotion

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Vermessungen einer »besonderen Atmosphäre« . . . . . . . . . . Emotionen im Kirchenraum: Umrisse einer Forschungsfrage Religion und emotionale Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinn und Sinnlichkeit: Visuelle Kultur im Kirchenraum . . . . Das Sichtbare und das Sagbare: Im Kirchenraum mit Foucault Ästhetik, Atmosphäre und Psychiatrie: Die Anstaltskirche am Steinhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Smellscapes« und »Soundscapes« im Kirchenraum . . . . . . . Musik als Sakralitätsmarker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Respirative Vergemeinschaftung und die soziale Produktion von Stille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christmette in St. Stephan: Ein Protokoll . . . . . . . . . . . . .

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6. Der Kirchenraum als materieller Raum Praxistheoretische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Materialität religiöser Praktiken: Zum Diskussionsstand . Körper im Kirchenraum: Haltungen und Performanzen . . . . . Zum Verhältnis »äußerer« und »innerer« Haltungen . . . . . . . Körper und Subjektivierungsweisen: Das Beispiel Beichtstuhl . Der Habitus macht das Habitat: Im Kirchenraum mit Bourdieu Artefakte im Kirchenraum: Dinge und Ding-Arrangements . .

6

Inhalt

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341 347 354 360 366 371

Akteur-Netzwerke? Im Kirchenraum mit Latour . . . . . . . . . . . Von den Handlungsprogrammen zum Handeln: Was tut man eigentlich in der Kirche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . St. Stephan heute: Ein komplexer Handlungsraum . . . . . . . . . 7. Schluss Wozu eine kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse?

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsnachweise

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Danksagung

Register der Kirchengebäude

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Inhalt

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1. EINLEITUNG Kirchenräume als Thema der Sozial- und Kulturwissenschaften Auf nahezu allen Ebenen des gesellschaftlichen Diskurses hat die Auseinandersetzung mit Religion heute Konjunktur. Konstatiert wurde ein langfristiger »religious turn« schon seit den 1970er Jahren; 1 der Theologe Friedrich Wilhelm Graf hat hier sogar von einer »Wiederkehr der Götter« gesprochen.2 Dahinter steckt eine Reihe von guten Gründen: Der Bedeutungsverlust der großen christlichen Konfessionen in der Spätmoderne provoziert neue, vielschichtigere Interpretationen der christlichen Tradition, die fortschreitende Pluralisierung und Ausdifferenzierung religiöser Phänomene verlangt nach ebenso differenzierten Erklärungen, Globalisierung und weltweite Migration haben zu neuen Konfrontationen und Gemengelagen zwischen Religionen und religiösen Weltbildern geführt, immer mehr esoterische und spirituelle Deutungsangebote werfen die Frage der Grenzziehung zwischen Religionen und »religioiden« Phänomenen auf.3 So lässt sich die politisch-religiöse Kultur der Moderne auch als Bewegung im Spannungsfeld von »Resakralisierung und Religiotainment« lesen,4 die prinzipiell offen ist für freier flottierende Formen des »Spirituellen«. Gleichzeitig haben sich die Religionswissenschaften im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Zugangsweise etabliert und kommunizieren mit theologischen Teildisziplinen, die sich ebenfalls zunehmend den Kulturwissenschaften öffnen. In der Stadt- und Raumsoziologie, der Ethnologie und den Kulturwissenschaften ist unter anderem ein starker Trend zur Diskussion von Religion im Kontext raumorientierter Zugangsweisen zu verzeichnen. So setzt sich eine kaum überschaubare Zahl neuerer Arbeiten mit der Rolle und Präsenz von Religion im städtischen Raum auseinander – und zwar in gegenwartsorientierter wie auch in historischer Perspektive.5 Dabei sind sehr verschiedene Orte und Räume re-

1 Yves Bizeul, Glaube und Politik, Wiesbaden 2009, S. 47 – 54. 2 Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004. 3 Zu dieser Diagnose vgl. z. B. Volkhard Krech, Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft, Bielefeld 2011, S. 13 – 14. 4 Thomas Meyer, Die Ironie Gottes. Die politische Kultur der Moderne zwischen Resakralisierung und Religiotainment, in: Tobias Mörschel (Hg.), Macht Glaube Politik? Religion und Politik in Europa und Amerika, Göttingen 2006, S. 61 – 83. 5 Vgl. – im Sinne einer knappen Auswahl – z. B. Robert A. Orsi (Hg.), Gods of the City: Religion and the American Urban Landscape, Bloomington 1999; Lowell Livezey (Hg.), Public Religion and Urban Transformation: Faith in the City, New York 2000; Etan Diamond, Souls of the City: Religion and the Search for Community in Postwar America, Bloomington 2003; Riem Spielhaus / Alexa Färber (Hg.),

ligiöser Praktiken beleuchtet worden – von islamischen Gemeindezentren bis hin zu öffentlichen Räumen als Schauplätzen christlicher Gottesdienste. Umso erstaunlicher ist es, dass bei aller Aufmerksamkeit für religiöse Bewegungen und ihre räumliche Dimension, für das Verhältnis von Stadt und Religion oder auch für Fragen konfessioneller Architektur bislang nur sehr wenige Arbeiten vorliegen, die systematisch und mit theoretischem Anspruch nach der gesellschaftlichen und politischen Dimension von christlichen Kirchenbauten und Kirchenräumen fragen und diese konsequent als soziale Handlungsräume und damit als Orte der Aushandlung und kulturellen Reproduktion des Sozialen untersuchen. In der vorliegenden Studie soll eine solche Forschungsperspektive systematisch entwickelt und am Beispiel katholischer Kirchenräume in Wien punktuell an empirischem Material vorgeführt werden. Ziel der Untersuchung ist es, das materielle Setting von Kirchenräumen in interdisziplinärer, historischer wie gegenwartsorientierter Perspektive praxistheoretisch zu reflektieren und so zu einer neuen Sicht auf religiöse und religioide Praktiken beizutragen. Gleichzeitig soll es um Verschränkungen von Religion und Politik im

Islamisches Gemeindeleben in Berlin, Berlin 2006; Anthony Steinhoff, The Gods of the City: Protestantism and Religious Culture in Strasbourg, 1870 – 1914, Leiden 2008; Carsten Burfeind / Hans-Günter Heimbrock / Anke Spory (Hg.), Religion und Urbanität: Herausforderungen für Kirche und Gesellschaft, Münster 2009; Sabine Haustein / Victoria Hegner (Hg.), Stadt – Religion – Geschlecht. Historischethnografische Erkundungen zu Judentum und neuen religiösen Bewegungen in Berlin, Berlin 2010; Nezar AlSayyad / Mejgan Massoumi (Hg.), The Fundamentalist City? Religiosity and the Remaking of the Urban Space, London / New York 2010; Arie Molendijk u. a. (Hg.), Exploring the Postsecular: The Religious, the Political, and the Urban, Leiden 2010; Bettina Hitzer / Joachim Schlör (Hg.), Gods in the City. Religious Topographies in the Age of Urbanization. Special Issue, Journal of Urban History 37,6 (2011); Herbert Glasauer u. a. (Hg.), Jahrbuch StadtRegion 2011/12: Stadt und Religion, Opladen 2012; Anna Marguerite Blattner u. a. (Hg.), Berlin. Stadt. Religion. Einblicke in experimentelle Untersuchungen von Stadträumen, Berlin 2012; Jane Garrett / Alana Harris (Hg.), Rescripting Religion in the City. Migration and Religious Identity in the Modern Metropolis, Farnham 2013; Irene Becci / Marian Burchardt / José Casanova (Hg.), Topographies of Faith: Religion in Urban Spaces, Leiden 2013; Jochen Becker u. a. (Hg.), Global Prayers. Manifestations of the Religious in the City, Berlin 2013; Paul D. Numrich / Elfriede Wedam, Religion & Community in the New Urban America, Oxford / New York 2015; Victoria Hegner / Peter Jan Margry (Hg.), Spiritualizing the City. Agency and Resilience of the Urban and Urbanesque Habitat, London / New York 2017. Als Zusammenschau aktueller Forschungsperspektiven vgl. Stephan Lanz, Stadt und Religion, in: Harald Mieg / Christoph Heyl (Hg.), Stadt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 299 – 317; für einen allgemeinen Überblick über religiöse Geographien in der Gegenwart vgl. die rund 4000 Seiten umfassende enzyklopädische Zusammenstellung von Stanley D. Brunn (Hg.), The Changing World Religion Map. Sacred Places, Identities, Practices and Politics, Volumes 1 – 5, Dordrecht 2015.

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Einleitung

Sinne einer politischen Kulturgeschichte gehen: So verstehe ich den Kirchenraum als einen Raum, in dem bestimmte Modelle von Gesellschaft und sozialer Kohäsion repräsentiert, mythisiert und über räumlich gebundene Praktiken stabilisiert werden. Kirchenräume – so die Hypothese – sind materielle und zugleich symbolische Arrangements, die über liturgische und andere routinisierte Handlungsprogramme, explizite Verhaltensregeln, implizites Wissen, erinnerungskulturelle Formationen sowie sinnliche und emotionale Erlebnismodelle bestimmte symbolische Ordnungen des Sozialen nahelegen und zugleich über den ihnen eigenen »Konsekrationseffekt« 6 autorisieren. Nicht nur in den offensichtlichen Kontaktzonen von Religion und Politik – etwa in der politischen Ikonographie der Kirchenausstattung oder den Kundgebungen des politischen Katholizismus –, sondern gerade auch in der »Mikrophysik« von Kirchenräumen finden sich überall solche symbolische Ordnungen, die deutlich machen, dass Kirchen bedeutende Orte der kulturellen Reproduktion von Gesellschaft – und damit wichtige Indikatoren und Katalysatoren makropolitischer Prozesse in Geschichte und Gegenwart – sind. Der alltägliche, aber auch der wissenschaftliche Blick auf Kirchenräume ist nach wie vor durch zwei ungeheuer dominante Themenkomplexe bestimmt. Einerseits gelten Kirchenräume als Orte religiöser Zeremonien und religiöser Offenbarung, andererseits sind sie als künstlerisch bedeutsame Ensembles von Interesse. Kirchen werden von praktizierenden ProtestantInnen oder KatholikInnen oder aber von TouristInnen mit vorwiegend kunst- und architekturhistorischem Fokus oder einem allgemeinen Interesse an »stimmungsvollen« Räumen besucht. Diese beiden Komplexe spiegeln sich in der vorliegenden wissenschaftlichen Literatur zum Thema, die zum überwiegenden Teil aus zwei Disziplinen stammt: Die Theologie – und hier insbesondere die praktische Theologie und Liturgiewissenschaft – befasst sich vor allem mit Sakralräumen, um deren theologischen Implikationen und ihrer Bedeutung für Gottesdienst und Gemeindeleben nachzugehen.7 Im theologischen Teilgebiet der Kirchen-

6 Pierre Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, in: Ders., Religion. Schriften zur Kultursoziologie Band 5, herausgegeben von Franz Schultheis und Stephan Egger, Berlin 2011, S. 30 – 90, hier S. 54. 7 Vgl. aus der umfangreichen theologischen Literatur u. a. folgende Sammelbände und Monographien: Rainer Bürgel (Hg.), Raum und Ritual. Kirchbau und Gottesdienst in theologischer und ästhetischer Sicht, Göttingen 1995; Werner Roemer, Kirchenarchitektur als Abbild des Himmels. Zur Theologie des Kirchengebäudes, Kevelaer 1997; Eckart Bieger / Norbert Blome / Heinz Heckwolf (Hg.), Schnittpunkt zwischen Himmel und Erde. Kirche als Erfahrungsraum des Glaubens, Kevelaer 1998; Albert Gerhards / Thomas Sternberg / Walter Zahner (Hg.), Communio-Räume. Auf der Suche nach der angemessenen Raumgestalt katholischer Liturgie, Regensburg 2003; Klaus Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber / Michael Meyer-Blanck / Karl-Heinrich Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik.

Einleitung

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pädagogik wird darüber hinaus der Blick auf Architektur und Symbolik von Kirchenräumen genutzt, um religiöses und theologisches Grundwissen zu vermitteln und Religion sinnlich erlebbar zu machen.8 Die Kunstgeschichte hingegen interessiert sich in ihrem traditionellen Fragehorizont für den Kirchenraum als architektonisches Kunstwerk sowie als künstlerisch ausgestatteter und ausgestalteter Raum.9 Beide klassisch disziplinären Perspektiven können für eine

Liturgiewissenschaft in Theorie und Praxis der Kirche, 3., vollständig neu bearbeitete und ergänzte Auflage Göttingen 2003, S. 391 – 412; Helmut Umbach, Heilige Räume – Pforten des Himmels: Vom Umgang der Protestanten mit ihren Kirchen, Göttingen 2005; Franz-Heinrich Beyer, Geheiligte Räume. Theologie, Geschichte und Symbolik des Kirchenraums, Darmstadt 2008; Tobias Woydack, Der räumliche Gott. Was sind Kirchengebäude theologisch? 2. Auflage Hamburg-Schenefeld 2009; Christoph Sigrist (Hg.), Kirchen Macht Raum. Beiträge zu einer kontroversen Debatte, Zürich 2010; Thomas Erne / Peter Schüz (Hg.), Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion, Göttingen 2010; Albert Gerhards, Wo Gott und Welt sich begegnen. Kirchenräume verstehen, Kevelaer 2011; Thomas Erne (Hg.), Kirchenbau, Göttingen 2012; Matthias D. Wüthrich, Raum Gottes. Ein systematischtheologischer Versuch, Raum zu denken, Göttingen 2015. 8 Vgl. z. B. Thomas Klie (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, Münster 1998; Roland Degen / Inge Hansen (Hg.), Lernort Kirchenraum. Erfahrungen – Einsichten – Anregungen, Münster u. a. 1998; Birgit Neumann / Antje Rösener, Kirchenpädagogik. Kirchen öffnen, entdecken und verstehen. Ein Arbeitsbuch, Gütersloh 2003; Richard Taylor, How to Read a Church. A Guide to Symbols and Images in Churches and Cathedrals, Mahwah 2005; Friedemann Fichtl, Der Teufel sitzt im Chorgestühl. Ein Begleitbuch zum Entdecken und Verstehen alter Kirchen und ihrer Bildwelt, 6. Aufl. Eschbach 2006; Alfred Rauhaus, Kleine Kirchenkunde. Reformierte Kirchen von innen und außen, Göttingen 2007; Margarete Luise Goecke-Seischab / Jörg Ohlemacher: Kirchenbaukunst. Ein pädagogisches Handbuch, Köln 2007; Margarete Luise Goecke-Seischab / Frieder Harz, Der Kirchenatlas. Räume entdecken, Stile erkennen, Symbole und Bilder verstehen, München 2008; Hartmut Rupp, Handbuch der Kirchenpädagogik: Kirchenräume wahrnehmen, deuten und erschließen, Stuttgart 2008; Katharina Förster, Auf Spurensuche. Grundschüler erkunden eine Kirche, Berlin 2009; Christoph Wetzel, Der kleine Kirchenführer. Bilder, Räume, Symbole, Augsburg 2009; Holger Dörnemann, Kirchenpädagogik – ein religionsdidaktisches Prinzip. Grundannahmen – Methoden – Zielsetzungen, Berlin 2011; Birgit Sendler-Koschel, In Kommunikation mit Wort und Raum: Bibelorientierte Kirchenpädagogik in einer pluralen Kirche und Gesellschaft, Göttingen 2016. Vgl. dazu auch die empirische Studie von Ulrich Riegel / Katharina Kindermann, Field Trips to the Church. Theoretical Framework, Empirical Findings, Didactic Perspectives, Münster 2017. 9 Hinweise zur unüberschaubaren kunsthistorischen Forschungsliteratur über Kirchenbauten sowie lokale und regionale Bautraditionen erübrigen sich an dieser Stelle. Zu Teilbereichen liegen hilfreiche Bibliographien vor; zur neueren Kirchenarchitektur vgl. etwa Rudolf Stegers, Bibliographie Sakrale Gebäude. Kirchen, Synagogen, Moscheen, Häuser der Stille, Friedhofsbauten 1970 – 2009, Berlin u. a. 2009.

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Einleitung

kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse wichtige Impulse und Informationen liefern; zu einer konsequenten praxistheoretischen Perspektive auf die soziale und politische Dimension von Kirchenräumen aber tragen sie nur wenig bei. Hier kommen in den meisten Fällen die entscheidenden Anregungen aus den Geschichts- und Sozialwissenschaften. So hat die Historikerin Renate Dürr 2006 eine umfangreiche und sehr instruktive Studie über Kirchenräume in Hildesheimer Stadt- und Landgemeinden in der Zeit zwischen 1550 und 1750 vorgelegt.10 Dürr liefert nach eigener Aussage eben »keine kirchen-, sozial- oder kunstgeschichtliche Arbeit über Kirchen«, sondern vielmehr »eine Studie über einen zentralen lokalpolitischen Raum frühneuzeitlicher Öffentlichkeit«.11 Durch diesen Fokus auf den Kirchenraum als einen öffentlichen Raum gelingt es ihr, Grundlinien politischer Kultur sichtbar zu machen sowie die entsprechenden Autoritäts- und Machtkonzeptionen herauszuarbeiten. Ausgehend vom »Handlungsraum« Kirche entschlüsselt sie lokale Konfliktgeschichten zwischen Geistlichkeit, Obrigkeit und Gemeinden, wobei die Akteurs- und Erfahrungsperspektive betont wird.12 Für die hier vorliegende Untersuchung bietet Dürrs Arbeit insofern einen wichtigen Bezugspunkt, als der Kirchenraum bei Dürr dezidiert als locus und focus einer politischen Kulturgeschichte genutzt wird. Damit wird die eminente Bedeutung des Kirchenraums als Aushandlungsort sozialer Konflikte und Leitbilder betont, gleichzeitig wird demonstriert, was eine eingehende Analyse der konkreten Räume und ihrer Arrangements und Ausstattungsgegenstände zum Verständnis politischer Semantiken, Prozesse und Konflikte beitragen kann.13 Auch in anderen – vor allem englischsprachigen – Forschungsarbeiten ist das Interesse an einer historisch-kulturwissenschaftlichen und machtanalytischen Perspektive auf Kirchenräume zuweilen betont worden. Einige von ihnen sollen hier exemplarisch genannt werden: Mit ihrem Buch »Sacred Power, Sacred Space« hat Jeanne Halgren Kilde eine nützliche, die soziale und politische Dimension miteinbeziehende Überblicksdarstellung zum Kirchenbau vom frühen Christentum bis heute vorlegt, und auch in weiteren Arbeiten befasst sie sich mit dem Verhältnis von Religion, Raum, Macht und Architektur.14 Sarah Hamilton und Andrew Spicer haben einen Sammelband ediert, dessen Beiträge der Frage nachgehen, wie Grenzziehungen zwischen dem Heiligen und dem 10 Renate Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit. Kirchenräume in Hildesheimer Stadt- und Landgemeinden 1550 – 1750, Gütersloh 2006. 11 Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit, S. 23. 12 Vgl. Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit, S. 21. 13 Für die Raumanalysen vgl. Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit, S. 62 – 118. 14 Jeanne Halgren Kilde, Sacred Power – Sacred Space: An Introduction to Christian Architecture and Worship, Oxford 2008; Dies., When Church Became Theatre. The Transformation of Evangelical Architecture and Worship in Nineteenth-Century America, Oxford 2002.

Einleitung

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Profanen in Kirchenräumen zwischen Frühmittelalter und Früher Neuzeit hergestellt wurden und wie man mit den Grenzen praktisch umging. Bei dieser Untersuchung von »practices with regard to defining the holy and demarcating sacred space« 15 sind komplexe Mischungs- und Überschneidungsverhältnisse zwischen sakralen und profanen Räumen und Raumnutzungen zutage getreten, die wichtige Hinweise für das Zusammendenken von Religion und Politik auch in der Moderne geben können.16 Darüber hinaus sind die Beiträge des Bandes von einer machtanalytischen Perspektive geleitet, welche die Definition des Sakralen als starkes Mittel in sozialen Positionskämpfen und politischideologischen Auseinandersetzungen sichtbar macht.17 Ähnlich angelegt ist ein weiterer Sammelband zum Thema von Will Coster und Andrew Spicer, der an einer Reihe von Fallbeispielen die Konstruktion und Rezeption sakraler Räume – und damit sind neben Gebäuden auch städtische Räume und »sakralisierte« Landschaften gemeint – in der Frühen Neuzeit nachzeichnet.18 Aus einer kirchen- und liturgiegeschichtlichen Perspektive verfasst ist schließlich die Studie von Nigel Yates, der die Entwicklung von Kirchenräumen, ihrer Grundrissen und Binnenstrukturen sowie ihrer Innenausstattung im Zeitraum zwischen 1500 und 2000 nachgeht, ebenso wie das – mit einem weiter gesteckten zeitlichen Bezugsrahmen – Richard Kieckhefer in seinem Buch »Theology in Stone« und Stefan Kopp in seiner deutschsprachigen Überblicksdarstellung tun.19 Ähnlich wie das erwähnte Buch Jeanne Halgren Kildes und weitere vergleichbare Darstellungen können diese Arbeiten als nützliche Leitfaden dienen, um längerfristige entwicklungsgeschichtliche Linien im gesellschafts-, kirchenund konfessionsgeschichtlichen Kontext zu verfolgen. Schließlich ist der relativ neue, im Umfeld der Zeitschrift »Material Religion« von ForscherInnen wie David Morgan und Birgit Meyer verfolgte Ansatz zu nennen, der mittlerweile – ebenso wie die Zeitschrift – unter dem Label Material Religion firmiert. Kirchenräume interessieren hier als ein Aspekt der Materialität und Medialität von Religion; sie stehen zwar in nur wenigen Arbeiten dieser Forschungsrichtung

15 Sarah Hamilton / Andrew Spicer, Defining the Holy: The Delineation of Sacred Space, in: Dies. (Hg.), Defining the Holy: Sacred Space in Medieval and Early Modern Europe, Aldershot 2005, S. 1 – 23, hier S. 22. 16 Vgl. den allgemeinen Hinweis dazu in der Einleitung: Hamilton / Spicer, Defining the Holy, S. 22. 17 Vgl. Hamilton / Spicer, Defining the Holy, S. 23. 18 Will Coster / Andrew Spicer (Hg.), Sacred Space in Early Modern Europe, Cambridge 2005. 19 Nigel Yates, Liturgical Space. Christian Worship and Church Buildings in Western Europe 1500 – 2000, Farnham 2008; Richard Kieckhefer, Theology in Stone. Church Architecture from Byzantium to Berkeley, Oxford 2004; Stefan Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition. Fragen und Standpunkte am Beginn des 21. Jahrhunderts, Berlin 2011.

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Einleitung

explizit im Fokus – dennoch bietet der Material Religion-Ansatz außerordentlich wichtige Impulse für eine praxistheoretische Annäherung an Kirchenräume mit ihren sinnlich-materiellen Arrangements, die zunehmend als konstitutiv für religiöse Praktiken verstanden werden.20 Ein bemerkenswerter Vorschlag zur historisch-kulturwissenschaftlichen Interpretation von Kirchenräumen stammt von dem Mediävisten Horst Wenzel, der in seiner Studie »Hören und Sehen, Schrift und Bild« unter anderem der sinnlichen Dimension des Kirchenraums nachgegangen ist.21 Vor allem aber hat Wenzel die Frage nach der Erziehungsfunktion des Kirchenraums im Mittelalter aufgeworfen – und damit eine Frage, die auf Vermittlungsprozesse zwischen Raum, Raumästhetik, religiösen Vorstellungen und mikropolitischen Praktiken zielt. Er kann zeigen, wie über das sinnlich erfahrbare Arrangement des Kirchenraums die Organisation religiöser Ordnungen stabilisiert und die »Sicherung des kulturellen Gedächtnisses« 22 garantiert wird. Untersuchungen wie diese tragen dazu bei, die Materialität des Kirchenraums, seine spezifische Sinnlichkeit und Atmosphäre und die in ihm lokalisierten rituellen Praktiken im Hinblick auf die Formierung von Subjektivitäten im Rahmen kultureller Ordnungen ernst zu nehmen. Übertragen wir die dahinter stehende Annahme auf die politische Kulturgeschichte der Moderne, so lässt sich als Arbeitshypothese festhalten, dass Kirchenräume mit ihren erzieherischen oder sogar missionarischen ideologischen Codes zur Herstellung politischer Subjekte und der sie konstituierenden Ordnungen beitragen – und zwar gerade auch, indem sie den gesamten Sinnesapparat ansprechen. Was Beiträge zur Analyse der sozialen und politischen Dimension einzelner Kirchenräume angeht, so finden sich in der Forschungsliteratur immerhin einige instruktive Beispiele. Schon vor vielen Jahren hat Gottfried Korff unter dem Titel »Maria in der technischen Welt« eine kompakte Raumanalyse der Pariser Arbeiterkirche Notre Dame du Travail geliefert, deren ikonographisches Programm er sorgfältig in die Bild- und Kultgeschichte der Zeit einbettet.23 In Will Costers Aufsatz über die Pfarrkirche zur Heiligen Dreifaltigkeit in Chester wird der Kirchenraum mit seinen Begräbnisorten als »microcosm of community« vorgestellt.24 Andreas Holzem setzt in seinem Beitrag »Die sieben Hauptkirchen Roms in Schwaben« die Ikonografie der Klosterkirche von 20 Vgl. dazu die in Kapitel 6 angegebene Literatur. 21 Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 95 – 127. 22 Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 127. 23 Gottfried Korff, Maria in der technischen Welt, in: Utz Jeggle u. a. (Hg.), Tübinger Beiträge zur Volkskultur, Tübingen 1986, S. 195 – 219. 24 Will Coster, A microcosm of community: burial, space and society in Chester, 1598 to 1633, in: Ders./Andrew Spicer (Hg.), Sacred Space in Early Modern Europe, Cambridge 2005, S. 124 – 143.

Einleitung

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St. Luzen mit Fragestellungen zur religiösen Kommunikation und zur Kirche als Handlungsraum in Verbindung.25 Markus Dauss und Karl-Siegbert Rehberg demonstrieren an einer Fallstudie zur Basilika Sacré-Coeur in Paris Zugänge der Institutionenanalyse.26 Thomas Schmidt-Lux schließlich zeigt in seiner Gebäudeinterpretation zum Leipziger Paulinum, wie sich religiöse und säkulare Raumintentionen konkret unterscheiden lassen.27 Diese und andere Beiträge bieten wichtige Modelle für eine kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse an, rücken allerdings nur ganz bestimmte Themen in den Fokus, die sich an dem einen jeweils thematisierten Kirchenbau gut exemplifizieren lassen. In einer kleinen Serie von drei Aufsätzen über Wiener Kirchenräume habe ich versucht, die Möglichkeiten einer verschiedene Aspekte von Religion und Politik integrierenden Kirchenraumanalyse zu erproben.28 An einige Ergebnisse dieser Beiträge knüpft diese Arbeit an – ebenso an meinen ersten Versuch einer kleinen systematischen Skizze zur Theorie und Methodik der Kirchenraumanalyse.29 Genuin ethnographische Untersuchungen zum Handeln in Kirchenräumen, speziell zum Kirchgang und Gottesdienst als religiöser Praxis, welche die genannten Analyseperspektiven erweitern und empirisch fortführen könnten, sind leider bisher eher Mangelware. Pioniercharakter hatte hier ein erstmals 1971 erschienener Aufsatz des Theologen Yorick Spiegel, der den Gottesdienst im Sinne des Symbolischen Interaktionismus gelesen hat – auch wenn die Er-

25 Andreas Holzem, Die sieben Hauptkirchen Roms in Schwaben. Bildprogramm und Handlungskonzepte eines konfessionalisierten Kirchenraums, in: Renate Dürr / Gerd Schwerhoff (Hg.), Kirchen, Märkte und Tavernen. Erfahrungs- und Handlungsräume in der Frühen Neuzeit (Zeitsprünge Band 9, Heft 3/4), Frankfurt am Main 2005, S. 459 – 496. 26 Markus Dauss / Karl-Siegbert Rehberg, Gebaute Raumsymbolik: Die »Architektur der Gesellschaft« aus Sicht der Institutionenanalyse, in: Joachim Fischer / Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 109 – 136. 27 Thomas Schmidt-Lux, Kirche und Aula zugleich? Eine Gebäudeinterpretation des Leipziger Paulinums, in: Uta Karstein / Thomas Schmidt-Lux (Hg.), Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen. Wiesbaden 2017, 121 – 144. 28 Vgl. Jens Wietschorke, Sakraler Raum, Politik und die Ordnung der Heiligen. Ein Rundgang durch die Wallfahrtskirche Mariahilf in Wien, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXIV (2010), S. 657 – 677; Ders., Nationale Selbstheiligung und politische Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Die Wiener Votivkirche, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXV (2011), S. 53 – 73; Ders., Apotheose des Kleinbürgertums: Die Versorgungsheimkirche in Lainz, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII (2013), S. 431 – 448. 29 Jens Wietschorke, Die symbolische Ordnung sakraler Räume. Eine Skizze zur visuellen und politischen Kulturgeschichte, in: Marion Meyer / Deborah Klimburg-Salter (Hg.), Visualisierungen von Kult, Wien / Köln / Weimar 2014, S. 294 – 318.

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gebnisse über geläufiges Alltagswissen hinaus eher dürftig geblieben sind.30 Empirisch-ethnographische Einblicke in den evangelischen Gottesdienst bietet die kulturwissenschaftliche Untersuchung von Alexandra Kaiser »In der Kirche im Dorf. Eine ethnographische Studie zur Sinnlichkeit des protestantischen Kirchgangs«.31 Kaiser setzt sich mit der Bedeutung des Kirchenraums für das soziale Gefüge in einem Hohenloher Dorf auseinander und verhandelt an ihrem Beispiel die elementare Bedeutung von Räumen und Dingen in ihrer Sinnlichkeit für die Religions- und Frömmigkeitsforschung. Sarah Kubin hat sich parallel dazu mit Praxis und Wandel des katholischen Gottesdienstes auseinandergesetzt und liefert einen der seltenen ethnographischen Einblicke in dieses Handlungsfeld.32 Einem anderen Ansatz folgte das an der Universität Basel angesiedelte, 2012 abgeschlossene Forschungsprojekt der Soziologin Stefanie Duttweiler zum »Gestaltwandel des Religiösen und seiner Räume«, das nicht nur nach der Konstitution des Religiösen in klassischen Kirchengebäuden fragt, sondern bei dieser Frage explizit auch architektonische Räume wie Stadionkapellen und interreligiöse Andachtsräume einbezieht, deren religiöse Relevanz »entkoppelt zu sein scheint von Kirchenbindung und institutionalisierten Formen christlicher Religiosität«.33 Eine umfassende und eingehende Studie zur empirischen Gottesdienstforschung liegt schließlich mit der 2016 erschienenen Monographie des Schweizer Theologen Christian Walti vor, die auf einem interaktions- und ritualtheoretischen Ansatz sowie Videoanalysen zum reformierten Gottesdienst basiert.34 In ihrem Ertrag zielt die Arbeit allerdings eher auf praktisch-theologische Fragestellungen wie die Entwicklung eines Modells agendenfreier Gottesdienste im reformierten Kontext ab. Im Hinblick auf

30 Yorick Spiegel, Symbolische Interaktion im Gottesdienst (1971), in: Wolfgang Herbst (Hg.), Evangelischer Gottesdienst, Göttingen 1992, S. 308 – 325. 31 Alexandra Kaiser, In der Kirche im Dorf. Eine ethnographische Studie zur Sinnlichkeit des protestantischen Kirchgangs, Saarbrücken 2008. 32 Sarah Kubin, Ritual der Individualisten. Eine ethnographische Studie zum Wandel des katholischen Gottesdienstes, Tübingen 2009. 33 Stefanie Duttweiler, Lay Summary des Projekts »Zum Gestaltwandel des Religiösen und seiner Räume. Untersuchung einer wechselseitigen Konstitution«, online unter http://p3 .snf .ch / Project - 120358 (Zugriff am 17. August 2014). Zwei publizierte Fallstudien aus diesem Kontext sind: Stefanie Duttweiler, Umnutzung von Kirchengebäuden – Räume zwischen Politik und Religion, in: Angelika Nollert u. a. (Hg.), Kirchenbauten in der Gegenwart. Architektur zwischen Sakralität und sozialer Wirklichkeit, Bielefeld 2011, S. 190 – 196; Dies., Sakrale Orte des Körperkults. Zwischen Kirchenreligion und Ersatzreligion, in: Robert Gugutzer / Moritz Böttcher (Hg.), Körper, Sport und Religion. Zur Soziologie religiöser Verkörperungen, Wiesbaden 2012, S. 193 – 217. 34 Walti, Christian, Gottesdienst als Interaktionsritual. Eine videobasierte Studie zum agendenfreien Gottesdienst im Gespräch mit der Mikrosoziologie und der Liturgischen Theologie, Göttingen 2016.

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diese insgesamt eher dünn gesäten Forschungsarbeiten zur sozialen Praxis in Kirchen- und Andachtsräumen ist Monique Scheers kürzlich formulierter Forderung voll zuzustimmen, mit ihrem »Interesse für die sozialen Beziehungen zwischen menschlichen, nicht-menschlichen und unsichtbaren Akteuren sollen volkskundliche Kulturwissenschaftler keineswegs vor der Tür zu Kirchen, Synagogen oder Moscheen stehen bleiben«.35 Insbesondere im Hinblick auf die verhältnismäßig reichhaltige geschichtswissenschaftliche Forschung zum Thema fallen zwei Tendenzen auf: Zum einen wurden Kirchenbauten und Kirchenräume vor allem im Zusammenhang der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung thematisiert, wohingegen Studien zum 19. oder 20. Jahrhundert deutlich in der Minderheit sind. Zum anderen zeichnet sich – für die Untersuchungszeiträume seit der Reformation – ein leichter Schwerpunkt auf der Forschung zu protestantischen Kirchenräumen ab. So stellt sich die vorliegende Untersuchung also in doppelter Hinsicht gegen den Trend, wenn sie in ihren empirischen Teilen katholische Kirchenräume nicht nur, aber vorzugsweise der Zeit ab etwa 1850 in den Blick nimmt. Sie beleuchtet damit die soziale Funktion und Bedeutung von Kirchenräumen seit einer Zeit, in der der Katholizismus aus der Defensive heraus zu neuen Formen der Bürokratisierung, Traditionalisierung und Charismatisierung überging.36 Zwischen den »romantischen« Kirchenbauten des 19. Jahrhunderts und den Kirchenbauten der Jahrtausendwende haben sich die Raumkonzeptionen und Nutzungsweisen katholischer Kirchenräume mehrfach – und im engen Konnex mit den politischen und gesellschaftsgeschichtlichen Rahmenbedingungen der Zeit – verändert und transformiert, so dass eine Geschichte katholischer Kirchenräume ohne die politische Kulturgeschichte der Moderne nicht zu schreiben wäre. Trotz des klaren Fokus auf der Moderne kann aber die lange Vorgeschichte des Katholizismus und seiner Kirchenräume nicht einfach ausgeklammert werden. Zum einen deshalb nicht, weil die Praktiken und Rituale, die Formen, Funktionen und Nutzungsweisen von Raum in einer so traditionsbewussten Institution wie der katholischen Kirche längere Herleitungslinien erforderlich machen, und zum anderen, weil die Mittelalter- und Frühneuzeitforschung viele zentrale Überlegungen und Theoreme für eine allgemeine kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse entwickelt hat und bereithält. Deshalb werden in den folgenden theoretischen Kapiteln auch zahl-

35 Monique Scheer, Von Herzen glauben: Performanzen der Aufrichtigkeit in protestantischen Gemeinden, in: Anja Schöne / Helmut Groschwitz (Hg.), Religiosität und Spiritualität. Fragen, Kompetenzen, Ergebnisse, Münster 2014, S. 111 – 130, hier S. 111. 36 Vgl. dazu Michael N. Ebertz, Herrschaft in der Kirche. Hierarchie, Tradition und Charisma im 19. Jahrhundert, in: Karl Gabriel / Franz-Xaver Kaufmann (Hg.), Zur Soziologie des Katholizismus, Mainz 1980, S. 89 – 111.

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Abb. 1: St. Josef in Floridsdorf, Innenansicht.

reiche Befunde und Beispiele aus der Forschungsliteratur zu mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirchenräumen einbezogen, ebenso wie konzeptionelle Überlegungen zur Kirchenraumanalyse, die aus dieser Literatur stammen. Gerade wenn es z. B. um die erinnerungskulturelle Dimension von Kirchenbauten geht, bildet die Kirchenraumnutzung, die Sepulkral- und Memorialkultur früherer Jahrhunderte einen unverzichtbaren Ausgangspunkt – und so wird es in dieser Studie auch immer wieder darum gehen, die Übertragbarkeit von Ergebnissen der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung auf die Kirchenbau- und Kirchennutzungsgeschichte der Moderne auszuloten. Darüber hinaus sind an einigen Stellen auch Seitenblicke auf die protestantische Entwicklung und die entsprechende Forschungsliteratur notwendig – ganz ohne den Anspruch einer vergleichenden Perspektive, aber doch mit der Idee, grundlegende Funktionsweisen christlicher Sakralräume punktuell auch konfessionsübergreifend in den Blick zu nehmen.

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Religion und Gesellschaft: Perspektiven der Religionssoziologie An dieser Stelle sind zunächst einige Vorbemerkungen zur generellen Perspektive auf das Verhältnis von Religion und Gesellschaft bzw. Religion und Politik notwendig, so wie es in den folgenden Kapiteln zur Kirchenraumanalyse mehr oder weniger systematisch entfaltet werden soll. Dabei geht es im wesentlichen darum, religiöse Praktiken im Kirchenraum konsequent als soziale Praktiken zu verstehen, die in spezifischer Weise auf politische Ideen und Leitvorstellungen bezogen sind. Eine solche Perspektive bedarf heute – wo in den Wissenschaften der »der Glaube nicht mehr als Grundlage für eine erfolgreiche und erhellende Erforschung der Religionsgeschichte gilt« – 37 kaum mehr der systematischen Begründung. Allerdings stellen sich mit der Verschränkung von religiösen und politischen Handlungsfeldern doch spezifische epistemologische Probleme, auf die hier in aller Kürze eingegangen werden soll. In der vorliegenden Studie verstehe ich Religionen mithilfe einer Definition von Friedrich Wilhelm Graf als »Deutungssysteme mit unüberbietbar hohem Allgemeinheitsanspruch«, die zugleich – »mit Blick auf ihre ordnungsstrukturierenden Leistungen [. . . ] auch als Systeme der Lebensführung« auffassen lassen, »die die Lebensvollzüge der in ihnen vergemeinschafteten Menschen tiefgreifend prägen«.38 In dieser Definition sind einige der wesentlichen Punkte benannt, welche die sozialen Funktionen von Religion ausmachen: erstens ihre Funktion als allgemeiner kultureller Deutungscode und als Ordnungssystem, das die gesamte Wirklichkeit strukturiert, zweitens ihre Funktion als moralische Begründung und Anleitung der individuellen Lebensführung und drittens ihre Funktion als Modell und Mittel der »Vergemeinschaftung« und damit der Herstellung von sozialer Kohäsion und sozialer Identität. Alle drei Punkte machen deutlich, weshalb religiöse Diskurse und Praktiken immer auch soziale Normen und politische Optionen implizieren, mehr noch: die soziale und politische Wirklichkeit mit hervorbringen.39 Thomas Luckmann geht sogar so weit zu

37 Miri Rubin, Religion, in: Ulinka Rublack (Hg.), Die neue Geschichte. Eine Einführung in 16 Kapiteln, Frankfurt am Main 2013, S. 405 – 420, hier S. 405. 38 Graf, Die Wiederkehr der Götter, S. 111 – 112. 39 Friedrich Wilhelm Graf formuliert diesen Sachverhalt folgendermaßen: »Die Ethiken der einzelnen Religionen und Konfessionen unterscheiden sich elementar darin, wie im Medium der religiösen Symbolsprache jeweils die Beziehung des Menschen zu Gott geordnet und seine Stellung im Kosmos, sein Verhältnis zur Welt bestimmt wird. Sie schließen notwendig auch Aussagen über das Verhältnis des Einzelnen zur politischen Obrigkeit und zu seiner Stellung im Gemeinwesen oder in der Gesellschaft ein. Selbst wenn religiöse Ethiken keine explizit auf das Politische bezogenen Aussagen enthalten, haben ihre Bilder der Ordnung des Kosmos, der Herrschaft Gottes über seine Schöpfung und der Wirkmächtigkeit des Bösen immer eine fundamentalpolitische Relevanz«. Graf, Die Wiederkehr der Götter, S. 113.

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konstatieren, eine der wichtigsten historischen Funktionen der Religion bestehe darin, »Mitglieder einer natürlichen Gattung in Handelnde innerhalb einer geschichtlich entstandenen gesellschaftlichen Ordnung zu verwandeln« – eine durchaus starke Formulierung der Rolle von Religion im Prozess der Vergesellschaftung.40 Und dennoch liegt eine Schwierigkeit der sozial- und kulturwissenschaftlichen Reflexion religiöser Phänomene in dem Grad von Autonomie, den dieses Feld gesellschaftlicher Wirklichkeit beansprucht. So muss Religion nach Martin Riesebrodt »analysiert werden als ein relativ autonomes System sinnhafter sozialer Handlungen und Interaktionen, das mit anderen Systemen sozialer Praktiken vernetzt ist, aber nicht einfach ihre Widerspiegelung oder Übersetzung in einen anderen Code darstellt«.41 Der Religionssoziologe Volkhard Krech hat im Hinblick auf dieses Problem einen etwas umständlichen Versuch vorgelegt, Religion von Praktiken »immanenter Sakralisierung« abzugrenzen, bei denen »eine nichtreligiöse Kommunikation von sich aus auf religiöse Sachverhalte zurückgreift oder sie erzeugt und dadurch ›profane‹ Sachverhalte mit einer religiösen Aura ausstattet«.42 Auf diese Weise soll die wechselseitige Durchdringung von Religion und Politik nachvollziehbar gemacht werden: »Im Unterschied zu religiöser Kommunikation, die auf der Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz basiert und mittels dieser Unterscheidung die gesamte Realität verdoppelt, ›auratisiert‹ und verfremdet die Sakralisierung etwas, was zugleich Gegenstand anderer Kommunikation bleibt«.43 Doch wie stichhaltig ist diese Trennung zwischen genuin religiöser und »sakralisierender« politischer Kommunikation? Gehen wir mit Durkheim und Parsons davon aus, dass in aller religiösen Kommunikation im Kern soziale Sachverhalte verhandelt werden, und gehen wir weiter mit Georg Simmel davon aus, dass der religiöse Glaube im Kern als ein »Verhältnis zwischen Menschen« aufgefasst werden muss,44 dann ist die religiöse Kommunikation nicht prinzipiell unterscheidbar von anderen Formen der Kommunikation – oder anders gesagt: Die Transzendenz fällt in aller Kommunikation zurück in Immanenz. Wenn – wie Benjamin Ziemann einmal die soziologische Diskussion um diese beiden Begriffe zusammengefasst hat – der Aufgabenbereich von Religion nicht in der Transzendenz, sondern in der »Kultivierung der Unterscheidung von Immanenz und Tran40 Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main 1991, S. 165. 41 Martin Riesebrodt, Die globale Rückkehr von Religionen, in: Karl Gabriel / HansRichard Reuter (Hg.), Religion und Gesellschaft. Texte zur Religionssoziologie, Paderborn 2004, S. 355 – 376, hier S. 358. Vgl. auch Ders., Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007. 42 Krech, Wo bleibt die Religion, S. 249. 43 Krech, Wo bleibt die Religion, S. 249 – 250. 44 Georg Simmel, Zur Soziologie der Religion, in: Karl Gabriel / Hans-Richard Reuter (Hg.), Religion und Gesellschaft. Texte zur Religionssoziologie, Paderborn 2004, S. 74 – 91, hier S. 81.

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szendenz« liegt,45 dann erscheint Transzendenz immer nur im Modus des sozial regulierten Diskurses über Transzendenz. In diesem Sinne ist dem Hinweis Simmels zu folgen: Für uns ist das Wichtige, daß es sich hier doch überall nur um Beziehungen zwischen Menschen handelt, und daß es nur eine Aenderung gleichsam des Aggregatzustandes dieser Beziehungen ist, wenn sie aus dem rein konventionellen in den religiösen, von dem religiösen in den rechtlichen, von dem rechtlichen in den Zustand freier Sittlichkeit übergehen.46

Pierre Bourdieus religionssoziologische Arbeiten bieten wichtige Hinweise darauf, wie das Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft grundsätzlich gedacht werden kann.47 Eines der gewichtigsten Forschungsprobleme liegt hier in der notwendigen »Vermeidung der vereinfachenden Alternative zwischen der absoluten Autonomie des mythischen oder religiösen Diskurses und der reduktionistischen Theorie, die daraus die direkte Widerspiegelung der sozialen Strukturen macht«.48 Bourdieu rückt hier die spezialisierten Produzenten religiöser Deutungsangebote in den Fokus der Aufmerksamkeit, die mittels eines bestimmten Typs von Praxis oder Diskurs auf eine besondere Kategorie von Bedürfnissen [. . . ] antworten, die bestimmten sozialen Gruppen eigen sind [. . . ] Dies führt zugleich mitten ins Produktionssystem der religiösen Ideologie, das heißt zum spezifischsten Prinzip der ideologischen Alchimie, über die sich die Verklärung der gesellschaftlichen Verhältnisse in übernatürliche, also in der Natur der Dinge verankerte und somit gerechtfertigte Verhältnisse vollzieht.49

Auf diese Weise reformuliert Bourdieu die Durkheimsche Annahme der gesamtgesellschaftlichen Funktion von Religion im Sinne der Marxschen Ideologiekritik und gewinnt daraus den Ausgangspunkt seiner religionssoziologischen Überlegungen:

45 Benjamin Ziemann, Codierung von Transzendenz im Zeitalter der Privatisierung. Die Suche nach Vergemeinschaftung in der katholischen Kirche, 1945 – 1980, in: Michael Geyer / Lucian Hölscher (Hg.), Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Religiöse Vergemeinschaftung und Transzendenz in Deutschland, Göttingen 2006, S. 380 – 403, hier S. 381. 46 Simmel, Zur Soziologie der Religion, S. 77 – 78. 47 Umfassende Hinweise zu einer auf Bourdieu aufbauenden Praxistheorie religiöser Praktiken geben Hanns Wienold / Franka Schäfer, Glauben-Machen. Elemente und Perspektiven einer soziologischen Analyse »religiöser« Praxis nach Pierre Bourdieu, in: Anna Daniel u. a. (Hg.), Doing Modernity – Doing Religion, Wiesbaden 2012, S. 61 – 112. 48 Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, S. 37. 49 Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, S. 37 – 38.

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Nimmt man nicht nur die Durkheimsche Vermutung eines gesellschaftlichen Ursprungs der Schemata des Denkens, Wahrnehmens, Beurteilens und Handelns ernst, sondern auch die Tatsache gesellschaftlicher Unterschiede, dann gelangt man zwangsläufig zu der Hypothese, dass es eine Entsprechung zwischen den sozialen Strukturen (oder streng genommen den Machtstrukturen) und den mentalen Strukturen geben muss, eine Entsprechung, die über die Struktur der symbolischen Systeme, Sprache, Religion, Kunst etc. vermittelt wird. Genauer gesagt trägt die Religion zur (verschleierten) Durchsetzung der Prinzipien der Strukturierung der Wahrnehmung des Denkens und der Welt, insbesondere der Sozialwelt in dem Maße bei, als sie ein System von Praktiken und Vorstellungen aufdrängt, dessen objektiv auf einem Prinzip der politischen Teilung beruhende Struktur als natürlich-übernatürliche Struktur des Kosmos daherkommt.50

Bourdieu liefert hier einen Leitfaden für die Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Sakralen und dem Profanen, das für die Kirchenraumanalyse ein zentrales Thema darstellt. Dabei führt er den Begriff der »Konsekrationswirkung« ein, mit dem er das Funktionieren religiöser Praktiken und Institutionen generell erklärt: Die Religion übt eine Konsekrationswirkung aus, insofern sie durch ihre heiligenden Sanktionen die faktischen politischen wie ökonomischen Grenzen und Barrieren in rechtliche Grenzen verwandelt [. . . ]. Und weiter übt sie ihre Konsekrationswirkung auch dadurch aus, dass sie ein System von konsekrierten Praktiken und Vorstellungen einprägt, dessen (strukturierte) Struktur in einer verklärten, also verkennbaren Form die Struktur der in einem bestimmten Gesellschaftsgebilde herrschenden ökonomischen und sozialen Verhältnisse reproduziert.51

Betrachten wir vor diesem theoretischen Hintergrund die Funktionsweise sakraler Räume, so ist leicht zu erkennen, dass diesen Räumen eine spezifische Konsekrationswirkung eingeschrieben ist, die auf die mit dem Raum verknüpften Vorstellungen und Praktiken übergeht. Nicht zuletzt über diese Konsekrationswirkung hat die Materialität von Kirchenräumen wesentlich zur Stabilisierung politischer Ordnungen beigetragen. Volkhard Krech ergänzt dazu, dass sich Kommunikationsbereiche immer dann mit religiösen Sinngehalten anreichern oder sie erzeugen, wenn sie ein gewisses Maß an Kontingenzzumutung nicht mehr verkraften können. Im Falle politischer Kommunikation kommt es zur

50 Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, S. 38. 51 Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, S. 54.

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Sakralisierung von politischen Überzeugungen und Positionen, wenn sie nicht zur Disposition stehen sollen und unbedingte Geltung beanspruchen.52

Anhand der politischen Kulturgeschichte katholischer Kirchenräume in Wien gilt es diese These zu überprüfen. Dabei wird es im Kern darum gehen, die von Bourdieu konstatierte »der religiösen Denkart innewohnende Verleugnung des Politischen« 53 dadurch zu durchkreuzen und zu revidieren, dass sowohl auf die politische Tiefenstruktur aller – notwendigerweise verräumlichten – religiösen Institutionen und Praktiken, als auch auf die religiöse Tiefenstruktur politischer Rituale hingewiesen wird. Nur so kommt das Verhältnis von Religion und Politik nicht als Wechselwirkung, sondern als integraler Zusammenhang in den Blick, der durch eine spezifische Zirkulation räumlicher Ordnungen, symbolischer Einschreibungen, emotionaler Praktiken sowie religiöser und politischer Ideen hergestellt wird. Nur so lässt sich die Durkheimsche »Juxtaposition« zwischen dem Sakralen und dem Profanen adäquat beschreiben.54 Und nur so lässt sich vollständig verstehen, wie die »religiöse Legitimation politischer Macht« funktioniert, die Religion als »Mobilisierungsressource« nutzt.55 Inwiefern ist zu einem solchen Forschungsprogramm der »methodologische Atheismus« oder »methodologische Agnostizismus« notwendig, wie er seitens der Religionssoziologie und Religionswissenschaft zuweilen gefordert wird? 56 Inwiefern stellen Religion und ihre sozial- und kulturwissenschaftliche Untersuchung »different and incommensurable language-games« dar, die nicht ineinander aufgelöst werden können? Der Religionswissenschaftler Tim Murphy hat hierzu eine radikale Position formuliert, die zugleich das Problem einer solchen Sichtweise deutlich macht: Contrary to what classical phenomenologists have claimed, the science of religion does not seek to speak the believers language. It seeks to understand that language

52 Krech, Wo bleibt die Religion, S. 252. Eine knappe Skizze zur Sakralisierung von Politik aus volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Perspektive bietet Kathrin Pallestrang, Vom Sakralen in der Politik. Überlegungen aus kulturwissenschaftlicher Sicht, in: Herbert Nikitsch u. a. (Red.), Heilige in Europa. Kult und Politik, Wien 2010, S. 29 – 45. 53 Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, S. 90. 54 Vgl. Hamilton / Spicer, Defining the Holy, S. 2. 55 Vgl. dazu die gute thematische Einführung in das Problemfeld von Religion und Politik bei Anna-Maria Schielicke, Rückkehr der Religion in den öffentlichen Raum? Kirche und Religion in der deutschen Tagespresse von 1993 bis 2009, Wiesbaden 2014, S. 27 – 46. 56 Vgl. z. B. Peter L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1973, S. 98, 170; Kurt Rudolph, Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft, Leiden 1992, S. 90; Hubert Knoblauch, Religionssoziologie, Berlin 1999, S. 14 – 16.

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in terms of its own language. What is spoken outside the language of science (or a science) is simply non-science. It is therefore logically impossible for the science of religion to re-present the religious believer in their own terms. Neither is it desirable, at least not for the science of religion.57

Nicht nur, dass hier eine überaus fragwürdige Opposition von »Wissenschaft« und »Nicht-Wissenschaft« konstruiert wird, es wird darüber hinaus auch der in der Ethnographie zentrale Anspruch eines Verstehens der AkteurInnen »in their own terms« preisgegeben, nur um die saubere Trennung zwischen Religion und Religionswissenschaft aufrechterhalten zu können. Demgegenüber ist – so eine Prämisse dieser Arbeit – eine Perspektive einzunehmen, die es erlaubt, religiöse Praktiken als soziale Praktiken zu verstehen, ohne dass dabei ihr religiöser Kern einfach negiert wird. In seiner kleinen Abhandlung »Soziologie des Glaubens und der Glaube des Soziologen« hat Bourdieu auch dazu erhellende Überlegungen geliefert und auf einen wichtigen Punkt hingewiesen. Er plädiert dafür, den Glauben im Sinne der grundlegenden illusio ernstzunehmen, die das religiöse Feld mit konstituiert. Illusio meint hier nicht den religiösen Glauben im herkömmlichen Sinn, sondern »die affektive und ökonomische Besetzung des Spiels, an die spezifische Interessen und Gewinne gebunden sind, die für dieses Feld und die von ihm angebotenen Einsätze charakteristisch sind«.58 Dieses »in der Zugehörigkeit zu einem Feld implizierte Interesse geht einher mit einer Form von interessegeleitetem praktischen Wissen, das dem fehlt, der nicht dazugehört«.59 Das bedeutet nun wohlgemerkt nicht, dass es einer religiösen Haltung bedarf, um Religionssoziologie sinnvoll betreiben zu können, es bedeutet aber, dass so weit wie möglich von dem grundlegenden Sachverhalt der religiösen illusio ausgegangen werden muss, wenn man das religiöse Feld und seine matereriellen Arrangements verstehen will. In diesem Sinne ist der »methodologische Atheismus« zwar wichtig, um nicht die normativen Gehalte von Religion mit zu übernehmen, andererseits aber sind es eben diese normativen Gehalte in ihrer Normativität, die das Religiöse ausmachen. Bourdieus theoretischer »Trick«, die religiöse Normativität in das spezifische Interesse der Akteure am Feld zu übersetzen, ermöglicht eine analytische Perspektive auf religiöse Praktiken, die den Kern des Religiösen gleichwohl ernst nimmt. Darüber

57 Tim Murphy, Speaking Different Languages: Religion and the Study of Religion, in: Tim Jensen / Mikael Rothstein (Hg.), Secular Theories of Religion. Current Perspectives, Copenhagen 2000, S. 183 – 192, hier S. 186. 58 Pierre Bourdieu, Soziologie des Glaubens und der Glaube des Soziologen, in: Ders., Religion. Schriften zur Kultursoziologie Band 5, herausgegeben von Franz Schultheis und Stephan Egger, Berlin 2011, S. 225 – 230, hier S. 225. 59 Bourdieu, Soziologie des Glaubens, S. 226.

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hinaus kann von diesem Konzept her auch das Interesse des Forschenden im und am religiösen Feld mit erfasst und reflektiert werden.60 Auf diese Weise wird es also möglich, einer »radically social theory of religion« 61 zu folgen, ohne die religiösen Akteursperspektiven restlos auf das Soziale zu reduzieren und damit ihren religiösen Charakter zu verkennen. Wissenschaftliche Ansätze, die von vornherein unter der Prämisse einer religiösen Grundhaltung stehen, stehen hier vor einem ganz anderen grundsätzlichen Problem. Dezidiert theologische Forschungsarbeiten – auch und gerade zum Thema sakraler Raum – sind von ihren epistemologischen Voraussetzungen her kaum in der Lage, die Aussagen religiöser Deutungsinstanzen sowie praktizierender Gläubiger im Sinne Bourdieus als interessengeleitete Positionierungen in einem Feld zu verstehen, ohne sie gleich als »wahr« oder »falsch« zu kennzeichnen. Dass sich Gott im Raum offenbart, ist ihnen nicht einfach nur ein Deutungsmuster bestimmter Akteure des religiösen Feldes, sondern zugleich normativer Rahmen ihrer eigenen Interpretation. So stoßen TheologInnen, die um eine soziologische und machtanalytische Perspektive bemüht sind, früher

60 Dabei ist natürlich vor allem zu bedenken, dass in den hier beschriebenen Praktiken immer auch eigene Praktiken und Erfahrungen explizit wie implizit mitbeschrieben werden – und zwar vor dem Hintergrund einer katholisch geprägten Sozialisation. In einer überwiegend protestantisch geprägten südwestdeutschen Mittelstadt und einer katholischen Familie aufgewachsen, war mir der sonntägliche Kirchgang mit Eltern, Großeltern und Verwandten bis in die Jugendzeit hinein eine selbstverständliche Routine. Später – nach einer deutlichen Distanzierung von Kirche und Religion – haben mich Kirchenräume als Orte interessiert, an denen sich gesellschafts- und kunstgeschichtliche Entwicklungen ablesen lassen. Die autobiographisch-selbstreflexive Frage, ob hier der Abschied von religiösen Praktiken im engeren Sinne mit der Hinwendung zu klassisch bildungsbürgerlichen »kunstreligiösen« Praktiken einherging, hat Problemstellungen dieser Arbeit mit beeinflusst. Im Laufe der Zeit, nach zahllosen Kirchenbesichtigungen auf Reisen, aber auch an den eigenen Wohnorten, hat sich dieses Thema dann als ein möglicher sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschungsgegenstand herauskristallisiert. Einen wesentlichen Anteil daran haben die Wiener Studierenden, die meine beiden Lehrveranstaltungen »Kirchen verstehen: Zur symbolischen Ordnung sakraler Räume« im Wintersemester 2010/11 und »Religion und Politik: Kirchenräume in Wien« im Wintersemester 2012/13 besucht haben. Dort haben wir das Programm, Kirchen als soziale und politische Handlungsräume zu »lesen«, gemeinsam und in vielen Exkursionen erprobt; das große Interesse, das beide Lehrveranstaltungen gefunden haben, war für mich ein wesentlicher Impuls zur Abfassung dieser Studie. Zur offenen Reflexion eigener Prägungen und Erfahrungen im ethnographischen Schreiben vgl. Michel Massmünster, Sich selbst in den Text schreiben, in: Christine Bischoff / Karoline Oehme-Jüngling / Walter Leimgruber (Hg.), Methoden der Kulturanthropologie, Bern 2014, S. 522 – 538. 61 Vgl. Burton L. Mack, A Radically Social Theory of Religion, in: Tim Jensen / Mikael Rothstein (Hg.), Secular Theories of Religion. Current Perspectives, Copenhagen 2000, S. 123 – 136.

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oder später unweigerlich auf das Problem, dass »Glaube« aus einer soziologischen Perspektive »auf eine sozial vermittelte kognitive Konstruktionsleistung reduziert« werden muss und diese Perspektive deshalb notwendigerweise unzugänglich bleibt »für ein diese Konstruktion noch einmal transzendierendes Wirken Gottes am Menschen.« Damit aber – so das bedauernde und etwas ratlose Resümee Matthias D. Wüthrichs zu Martina Löws raumsoziologischem Ansatz – »bleibt der Vertrauensaspekt des Glaubens ebenso auf der Strecke wie die Eigenräumlichkeit des leiblichen Glaubenssubjektes wie auch letztlich der Gottesgedanke selbst«.62 Auch Tobias Woydacks Untersuchung zum »räumlichen Gott«, die ebenfalls auf Löws machtanalytisch motivierten Raumbegriff rekurriert, wird notwendigerweise an der Stelle unscharf, an der die normative Grundidee des Glaubens und den Gottesgedankens ins Spiel kommt.63 Letztlich liegt das daran, dass das Sakrale hier nicht als Produkt sozialer Aushandlungsprozesse, sondern als eine dem Sozialen vorgeordnete Kategorie verstanden wird. Dagegen hat eine konsequent kultur- und sozialwissenschaftliche Analyse religiöser Räume und Praktiken darauf zu bestehen, dass die Unterscheidung zwischen Sakral und Profan keine ontologische Tatsache, sondern ausschließlich ein Effekt spezifischer Definitionsakte und damit sozialer Praktiken ist. In diesem Sinne wird in dieser Arbeit immer wieder auf die Grenzziehungen zwischen Sakral und Profan Bezug genommen, um die Konstitution religiöser Räume aus der Dynamik von Diskursen und Praktiken deutlich zu machen.64 Bei alledem darf allerdings nicht vergessen werden, dass die kulturanalytische Betrachtung von Kirchenräumen keineswegs in einer religiösen Dimension aufgeht. Denn selbstverständlich sind Kirchen nicht nur Orte spezifisch religiöser Praktiken; vielmehr sind sie für viele unterschiedliche Nutzungsweisen offen. Das betrifft gerade die fließenden Übergänge zwischen dem Religiösen, dem Religioiden und dem dezidiert Nicht-Religiösen, die aktuell immer mehr zu beobachten sind. Im Juni 2014 brachte der »Spiegel« eine Titelreportage über Religiosität abseits der offiziellen Lehrmeinungen.65 Darin beleuchten die AutorInnen Susanne Beyer und Romain Leick die nicht nur undogmatische, sondern teilweise auch von der Vorstellung eines personalen Gottes gelöste Re62 Matthias D. Wüthrich, Raumtheoretische Erwägungen zum Kirchenraum, in: Christoph Sigrist (Hg.), Kirchen Macht Raum. Beiträge zu einer kontroversen Debatte, Zürich 2010, S. 71 – 87, hier S. 87. 63 Woydack, Der räumliche Gott. 64 Für eine dezidiert kulturwissenschaftliche Perspektive auf Religion, die sich flexibler analytischer Konzepte bedient, um der Komplexität des Feldes Rechnung zu tragen, vgl. neuerdings Monique Scheer, Kultur und Religion. Eine Unschärferelation mit Folgen, in: Zeitschrift für Volkskunde 113 (2017), 179 – 200. 65 Susanne Beyer / Romain Leick, Das unsterbliche Gerücht, in: Der Spiegel Nr. 24, 7. Juni 2014, S. 59 – 65.

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ligiosität vieler protestantischer Kirchgänger in Hamburg-Harvestehude. Der Gang zur Kirche und sogar die Teilnahme an Gottesdiensten ist hier wie andernorts auch zuweilen mit einer reinen Wertethik verbunden, welche die traditionellen religiösen Formen frei nutzt, ohne sie im strikt theologischen Sinne ernst zu nehmen. Neben die Wertethik tritt auch eine ästhetische Weltauffassung, wie etwa in dem berühmten »religioiden« Bekenntnis Albert Einsteins: Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.66

Der Philosoph Ronald Dworkin hat 2013 ein viel beachtetes Buch mit dem Titel »Religion without God« publiziert,67 und ein Jahr zuvor erschien Alain de Bottons »Religion for Atheists« als – so der Untertitel – »a non-believer’s guide to the uses of religion«.68 Dieser feuilletonistisch und teilweise auch satirisch geschriebene Ratgeber ist für unser Thema nicht nur deshalb interessant, weil es religiöse Ausdrucks- und Praxisformen in einer ganz und gar säkularen Auslegung behandelt, sondern auch, weil es der Kirchenarchitektur in diesem Zusammenhang ein eigenes Kapitel widmet. De Botton setzt an der hier eher simpel formulierten Idee an, dass die katholische Kirche mit ihren Bauprogrammen der Gegenreformation der Art und Weise Rechnung getragen hätte, wie wir Menschen funktionieren. Sie ging davon aus, dass wir äußerst empfänglich für Dinge sind, die uns umgeben, und davon beeinflusst werden – ein Punkt, auf den der Protestantismus sehr häufig keine Rücksicht nimmt beziehungsweise dem gegenüber er sich blind oder gleichgültig zeigt. Der Katholizismus dagegen stellte die bemerkenswerte Behauptung auf, dass wir eine ansprechende Architektur um uns herum brauchen, um uns zu guten Menschen zu entwickeln und es auch zu bleiben.69

Dieser Grundidee möchte de Botton folgen, indem er die Idee zu säkularen »Tempeln« vorstellt – etwa einem »Tempel der Einkehr« oder einem »Tempel für den Genius Loci«.70 Kern all dieser – wie ernst auch immer gemeinten –

66 Zit. nach: Beyer / Leick, Das unsterbliche Gerücht, S. 63. 67 In deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen als: Ronald Dworkin, Religion ohne Gott, Berlin 2014. 68 Alain de Botton, Religion for Atheists. A non-believer’s guide to the uses of religion, London 2012, in deutscher Übersetzung erschienen als: Ders., Religion für Atheisten. Vom Nutzen der Religion für das Leben, Frankfurt am Main 2013. 69 De Botton, Religion für Atheisten, S. 245. 70 De Botton, Religion für Atheisten, S. 255 – 263.

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Konzepte ist die Erwartung des »Erhabenen«, die seit Kants »Kritik der Urteilskraft« eine zentrale Kategorie der Ästhetik bildet: Kirchen ermöglichen es, sich auf eine spezifische Weise »klein zu fühlen«; »es gibt Kirchen, in denen wir unseren Egoismus vergessen, ohne dass wir uns in irgend einer Weise gedemütigt fühlen würden. In ihrem Inneren können wir unsere üblichen Sorgen und Nöte vorübergehend abstreifen und zu unserer Nichtigkeit und Mittelmäßigkeit stehen«.71 Dieser Hinweis wird im Kapitel über affektive Räume und emotionale Praktiken aufzugreifen sein; an dieser Stelle ist lediglich wichtig, dass Praktiken der Kirchenraumnutzung zwar nicht prinzipiell unabhängig von Religion gedacht werden können, dass sie aber mit den religiösen Bezügen, die der Raum anbietet, zuweilen sehr frei spielen. Die kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse hat sich deshalb praxistheoretisch auf das konkrete Handeln und dessen materiale Bedingungen zu konzentrieren, anstatt »mentalistisch« nach den (religiösen) »Einstellungen« zu fragen, die »hinter« dem Handeln stehen. Nur so kann eine Perspektive entwickelt werden, die das räumliche Arrangement als Bestandteil von Praktiken wirklich ernst nimmt. Und nur so kann ein Verständnis von Religion im Sinne religiöser Praktiken vorangetrieben werden, das Religion nicht allein als »matter of belief« 72 – als Komplex von Glaubensüberzeugungen – auffasst, sondern immer auch als Komplex von Routinen und sinnlich-materiellen »doings«.73 Der Blick auf Kirchenräume und räumliche Strukturen religiöser Praktiken ist ein wichtiger Bestandteil dieser Forschungsperspektive; für die theoretische Annäherung an dieses Thema ist der Rückbezug auf die neuere raum- und architektursoziologische Forschung notwendig.

Architektur und Gesellschaft: Perspektiven der Architekturund Raumsoziologie In kultur- und sozialwissenschaftlichen Raumtheorien und zahlreichen empirischen Studien zur Raumanalyse ist immer wieder deutlich gemacht worden, dass über den räumlichen Aspekt des Sozialen ganz besonders Exklusionsund Inklusionsprozesse sowie Aspekte von Macht und Herrschaft beschreibbar werden. Wenn Räume mit Martina Löw als »relationale (An)ordnung von

71 De Botton, Religion für Atheisten, S. 252. 72 Vgl. David Morgan, Introduction. The matter of belief, in: Ders. (Hg.), Religion and Material Culture. The Matter of Belief, New York 2010, S. 1 – 17. 73 Zur Herleitung von Praktiken aus dem »nexus of sayings and doings« vgl. klassisch Theodore Schatzki, Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge / New York 1996, hier S. 89.

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Lebewesen und sozialen Gütern« verstanden werden,74 dann sind sie per se Produkte sozialer und kultureller Praktiken und Bedeutungszuschreibungen, die mit Hierarchisierungen, Platzierungen und Syntheseleistungen einhergehen. Raum ist stets »Medium der Differenzbildung, das mit hier / dort, dieses / jenes, nah / fern, oben / unten, vorn / hinten, links / rechts, beobachter- und dingrelationale, binäre Unterscheidungen bereitstellt, die sinngenerierend eingesetzt werden können [. . . ]«.75 In diesem Sinne sind räumliche Phänomene besonders geeignet, um die Wechselwirkung von Handeln und Strukturen zu untersuchen und aufzuzeigen.76 Der Vorteil einer räumlichen Betrachtung liegt zudem in einer besonderen Aufmerksamkeit für Konstellationen, in denen technische und soziale Prozesse sowie materielle und diskursive Dimensionen auf spezifische Weise ineinandergreifen.77 Im Hinblick auf die historische Kulturanalyse religiöser Praktiken bietet die Kategorie Raum damit die Chance eines umfassenden und integrierenden Zugangs, der nicht zuletzt auch Atmosphären und Affekte mit einbezieht, wie die Londoner Historikerin Miri Rubin schreibt: Als Religionshistoriker die Erfahrung des Rituals zu verstehen versuchten, die Rhythmen der Kontemplation, die Spannung der Pilgerfahrten, das Drama der Annäherung an das Heilige in einer profanen Welt, rückte auch der Raum ins Blickfeld der Forschung. Lange wurden Kirchen, Moscheen, Tempel und Synagogen als Manifestationen architektonischen Könnens und Stils gesehen – heute stellen Historiker andere Fragen zu den vom Raum geschaffenen Hierarchien, zu Gemütsverfassungen, die durch bestimmte Umgebungen hervorgerufen werden, etwa durch einen Kreuzgang oder eine Mönchszelle.78

Unverzichtbare Leitlinien für eine kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse bietet die neuere Raum- und Architektursoziologie mit ihrem Verständnis von gebautem Raum als Figuration oder Medium des Sozialen.79 Im Sinne einer

74 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 160; vgl. auch Dies., Raum – die topologischen Dimensionen der Kultur, in: Friedrich Jaeger / Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2011, S. 46 – 59, hier S. 58. 75 Rudolf Schlögl, Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014, S. 113. 76 Löw, Raumsoziologie, S. 158 – 179. 77 Stephan Günzel, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt am Main 2009, S. 7 – 13, hier S. 11 – 12. 78 Rubin, Religion, S. 414. 79 Für einen Forschungsüberblick und Strukturierungsversuch aus kulturwissenschaftlicher Sicht vgl. Jens Wietschorke, Architektur in der Kulturanalyse. Stand und Perspektiven der Forschung, in: Zeitschrift für Volkskunde 113 (2017), 241 – 267. Eine Skizze zur Architekturforschung mit Fokus auf sakralen Räumen bietet außerdem

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knappen Positionsbestimmung dieses Forschungsansatzes schreiben Joachim Fischer und Heike Delitz: Die Architektursoziologie analysiert konkrete architektonische Phänomene in Hinsicht auf die Gesellschaft. [. . . ] Mehrere Aspekte der Architektur und mehrere Ebenen des Sozialen wären dabei zu unterscheiden. Architekturen verschaffen auf einer mikrosoziologischen Ebene dem individuellen menschlichen Körper Bewegungsräume und Blickweisen und haben damit einen direkten Bezug zu den sozialen Interaktionen. [. . . ] Auf einer eher makrosoziologischen Ebene verschafft die Architektur der Gesellschaft – also dem Verhältnis der Generationen, Schichten und Funktionsysteme – erst ihre Expressivität; sie kommuniziert gesellschaftliche Differenzierungen und je spezifische Selbst-, Natur- und Sozialverhältnisse.80

In einer grundlegenden Monographie hat Heike Delitz zu einer so verstandenen Architektursoziologie ein anspruchsvolles Theorieprogramm entwickelt, auf das die vorliegende Studie immer wieder zurückgreift.81 Sie demonstriert, wie Architektur als »gebaute Gesellschaft« verstanden werden kann, die gesellschaftliche Strukturen nicht nur spiegelt, sondern mit hervorbringt. Dabei greift Delitz auf ein breites Arsenal von theoretischen Ansätzen zurück, um Architektur als Repräsentation und Funktionsmodus von Gesellschaft, als materielles Bedingungsgefüge sozialer Praktiken, als Komplexe des Sichtbaren und des Sagbaren im Sinne Foucaults und als Träger von Affektivitäten beschreibbar zu machen. Gerade an Kirchenräumen lässt sich die Plausibilität dieses Programms bestens aufzeigen. Umso mehr erstaunt es, dass gerade dieses Thema in der architektursoziologischen Forschung noch kaum berücksichtigt worden ist: Während mittlerweile Monographien und Sammelbände über Raumtypen wie Shopping Malls, Bahnhöfe, Parkhäuser ober Fußballstadien publiziert wurden,82 liegen nahezu keine dezidiert raumsoziologischen Studien über Kirchen-

Ders., Material Religion and Church Architecture in Cultural Analysis: A Theoretical Shortcut, in: Traditiones 47 (2018), Vol. 3, S. 51 – 61. 80 Joachim Fischer / Heike Delitz, Die »Architektur der Gesellschaft«. Einführung, in: Dies. (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 9 – 17, hier S. 12. 81 Heike Delitz, Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, Frankfurt am Main 2010. 82 Vgl. z. B. Jan Wehrheim (Hg.), Shopping Malls. Soziologische Betrachtungen zu einem neuen Raumtypus, Wiesbaden 2007; Lars Frers, Einhüllende Materialitäten. Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals, Bielefeld 2007; Sybille Frank / Silke Steets (Hg.), Stadium Worlds: Football, Space and the Built Environment, London / New York 2010; Jürgen Hasse, Übersehene Räume. Zur Kulturgeschichte und Heterotopie des Parkhauses, Bielefeld 2007.

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räume vor.83 Eine der wenigen Ausnahmen bildet die Dissertation von Anna Körs über die »gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen«, die 2012 im Druck erschienen ist.84 Allerdings rekonstruiert diese Arbeit vor allem die Besucherperspektive mit Fokus auf der Raumwahrnehmung und -deutung und verzichtet weitgehend auf eine eingehende architektursoziologisch informierte Analyse der symbolischen Ordnungen, die in Kirchenräume eingeschrieben sind und die sie mit herstellen. Wenn hier und im Folgenden insbesondere von »symbolischen Ordnungen« die Rede ist, dann folgt diese Formulierung einer grundlegenden sozialtheoretischen Annahme: nämlich einer besonderen Bedeutung symbolischen Handelns und symbolischer Ordnungen für die Konstitution von Gesellschaft.85 Heike Delitz nimmt in ihrem architektursoziologischen Grundlagenwerk auf die Idee der »imaginären Institution der Gesellschaft« des Philosophen Cornelius Castoriadis Bezug, die es erlaubt, »die Notwendigkeit des Symbolischen für die Vergesellschaftung zu denken«.86 So sind »Bilder, Figuren, Gestalten« 87 der Stoff, aus dem gesellschaftliche Bedeutungen generiert und durch den sie getragen und reproduziert werden. Architektur kann aus dieser Perspektive als die zeitweilig stabilisierte symbolische Gestalt der von Castoriadis thematisierten imaginären Gesellschaft verstanden werden; gleichzeitig sind Architekturen nach Castoriadis immer auch »Techniken« zur Herstellung gesellschaftlicher Individuen bzw. Subjekte.88 Im Hinblick auf Kirchenräume ist dieses Konzept von besonderer Relevanz, gibt es doch kaum architektonische Räume, die so sehr mit dem Anspruch verknüpft sind, Kollektive – die Gemeinde, eine Konfessionsgemeinschaft, eine Nation etc. – zu symbolisieren und die gleichzeitig in einer spezifischen Weise die in ihnen versammelten Individuen als religiöse 83 Recht enttäuschend ist leider Joachim Fischers Versuch ausgefallen, die neuere architektursoziologische Theoriebildung für die Analyse sakraler Räume produktiv zu machen. Der Aufsatz beschränkt sich auf die Diskussion der allgemeinen Theorie und bietet letztlich nur eininge wenige Bemerkungen zur religiösen Architektur: Joachim Fischer, Gebaute Welt als schweres Kommunikationsmedium der Gesellschaft. Architektur und Religion aus architektursoziologischer Perspektive, in: Uta Karstein / Thomas Schmidt-Lux (Hg.), Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen. Wiesbaden 2017, S. 49 – 69. 84 Anna Körs, Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen. Eine raumsoziologische Studie zur Besucherperspektive, Wiesbaden 2012. 85 Vgl. dazu auch meine Skizze: Jens Wietschorke, Architektur und symbolische Ordnung: Das Beispiel Kirchenraum, in: Ute Elisabeth Flieger / Barbara Krug-Richter / Lars Winterberg (Hg.), Ordnung als Kategorie der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Forschung, Münster 2017, 161 – 174. 86 Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 111. 87 Castoriadis, zit. nach Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 121. 88 Vgl. Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 121 – 122. Siehe dazu die ausführliche theoretische Diskussion in Kapitel 3.

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Akteure mit hervorbringen. Mit einigem Recht also kann davon ausgegangen werden, »dass Kirchenräume offenbar mehr sind als zweckgebundene Orte für bestimmte religiös eingestellte Gruppierungen, deren Bedeutung sich nicht in ihrer unmittelbaren Nutzung und Funktion erschöpft. Vielmehr ist anzunehmen, dass die eigentliche Kraft der Kirchengebäude etwas anderes ausmacht: das Symbolische«.89 Anders formuliert: Kirchen sind nicht nur Gehäuse für den Gottesdienst oder kunsthistorisch bedeutsame Attraktionen, sondern sie sind – vermittelt über ihre besondere Funktion und Bedeutung – auch formative Räume der symbolischen und imaginären Konstruktion von Gemeinschaft und Gesellschaft, Gedächtnisspeicher kollektiver Erinnerung und geschichtspolitischer Setzungen, Räume der Aushandlung von Sozialität und Gesellschaftsformationen sowie Orte, an denen imaginäre Identifikationsprozesse zwischen Individuen und Kollektiven stattfinden. Eben deshalb eignet sich das Thema besonders, um Relationen und Querverbindungen sichtbar zu machen: Beziehungen zwischen Religion und Gesellschaft, zwischen Architektur und sozialen Konfigurationen, zwischen materiellen und symbolischen Aspekten kultureller Praktiken. Mit diesen Fragen schließt die hier vorgelegte kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse auch an aktuelle Ansätze kulturanthropologischer Architekturforschung an, die den gebauten Raum als Feld komplexer Aushandlungsprozesse fassen.90 Dabei müssen die verschiedenen analytischen Zugänge zum gebauten Raum – symptomatologische, praxeologische und ethnographische – ineinandergreifen, um diese Komplexitäten angemessen in den Blick zu bekommen.91 Wie »Dinge, Räume und Handlungen« zusammenhängen und wie in Prozessen und Praktiken Sinn erzeugt wird, das gehört, so Manfred Omahna und Johanna Rolshoven, zu den zentralen Anforderungen und Herausforderungen einer Kulturanalyse des Raumes überhaupt.92

89 Körs, Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S. 21 – 22. 90 Vgl. für einen Einblick in laufende Diskussionen und Forschungen Johanna Rolshoven / Manfred Omahna (Hg.), Reziproke Räume. Texte zu Kulturanthropologie und Architektur (Cultural Anthropology meets Architecture Band 1), Marburg 2013. 91 Vgl. Wietschorke, Architektur in der Kulturanalyse. 92 Vgl. Manfred Omahna / Johanna Rolshoven, Einleitung: Für einen disziplinenübergreifenden Dialog zwischen Kulturanthropologie und Architektur, in: Dies. (Hg.), Reziproke Räume. Texte zu Kulturanthropologie und Architektur (Cultural Anthropology meets Architecture Band 1), Marburg 2013, S. 7 – 13, hier S. 8 – 10.

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Erkenntnisinteresse, Methoden und Konzeption der Untersuchung Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Beitrag zu einer kultur- und handlungstheoretisch fundierten, akteurs- und praxisorientiert argumentierenden und historisch perspektivierten Auseinandersetzung mit Kirchenräumen und Kirchenarchitektur, der über die Konzepte der symbolischen Ordnung und der politischen Kultur elementare Funktionsweisen des Religiösen und des Politischen zugleich erhellen soll. Sie versucht, ein theoretisches Modell für die kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse zu entwickeln. Und sie versucht, die Materialität religiöser Praktiken und Institutionen anhand von diversen Beispielen aus der politischen Kulturgeschichte des Katholizismus in Österreich und speziell in Wien in den Blick zu nehmen. Ihr theoretisches Interesse richtet sich auf Übersetzungsprozesse zwischen religiösen und politischen Ideen, räumlichem Handeln und räumlicher Repräsentation, performativen Praktiken, Diskursen und Sinnkonstruktionen. Damit dient das Thema auch dazu, zentrale sozial- und kulturtheoretische Probleme durchzudeklinieren. Denn hinter der Frage nach der komplexen Konstitution räumlichen Handelns und dem Verhältnis von materiellen und symbolischen Dimensionen sozialer Praktiken im Kirchenraum steckt letztlich eine grundsätzliche Theoriediskussion, die im Horizont der umfassenden »Materialisierung des Kulturellen« 93 in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit den 1970er Jahren gesehen werden muss: Gibt man bei der Nachzeichnung dieser Praktiken einer emergenztheoretischen Soziologie der Assoziationen den Vorzug, wie sie etwa Gilles Deleuze oder Bruno Latour im historischen Anschluss an Positionen von Gabriel Tarde entwickelt haben und wie sie in der aktuellen Raum- und Architektursoziologie zunehmend Verwendung findet? Welche Perspektiven bietet demgegenüber der Rekurs auf eine an Machtstrukturen interessierte relationale Raumsoziologie, die sich u. a. auf Ansätze von Lefebvre und Bourdieu stützt und wie sie Martina Löw exemplarisch ausgearbeitet hat? Inwiefern sind beide Optionen produktiv miteinander kombinierbar? Inwiefern können erinnerungs- und emotionentheoretische Interpretationsmuster sowie Ansätze zur Beschreibung von Atmosphären hier anschlussfähig gemacht werden? Und inwiefern sind klassisch hermeneutische, wissenssoziologische, diskurs- und / oder kulturanalytische Positionen unverzichtbar, um die Sinnkonstruktionen zu erfassen, die religiöse und nicht-religiöse Raumpraktiken mitbestimmen? In diesem Sinne

93 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Materialisierung der Kultur, in: Reinhard Johler u. a. (Hg.), Kultur_Kultur. Denken. Forschen. Darstellen. 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Tübingen vom 21.– 24. September 2011, Münster u. a. 2013, S. 28 – 37, hier S. 28; siehe auch Ders., Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten, in: Ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 131 – 156.

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läuft gleichsam unter der Oberfläche der hier angebotenen Kirchenraumanalysen eine kulturtheoretische Grundsatzdiskussion mit – eine Diskussion, in der es um nicht weniger als die Frage geht, wie Praktiken in materiellen Settings zu beschreiben sind. In ihrem historischen Erkenntnisinteresse zielt die Studie auf eine politische Kulturgeschichte katholischer Kirchenräume. Sie folgt damit einem Konzept, das politische Strukturen, Prozesse und Deutungsmuster aus einer akteursund praxiszentrierten Perspektive in den Blick nimmt. Der Berliner Sozialund Kulturhistoriker Wolfgang Hardtwig sieht im Fokus einer politisch-kulturgeschichtlichen Forschungsarbeit »affektive Haltungen, mehr oder weniger bewußte Einstellungen und auch die gedanklichen Konstrukte (›Ideen‹), die für die Weltwahrnehmung von einzelnen und von gesellschaftlichen Gruppen und ihre gesellschaftlich-politische und kulturelle Orientierung und deren Wandel wichtig waren, sowie die symbolischen Formen von Politik, die sich daraus ergaben«.94 Im Gegensatz zu älteren, engeren Versionen von »Politische-Kultur-Forschung« im Fahrwasser von Gabriel Almond und Sidney Verba bezieht Hardtwig in den von ihm skizzierten Ansatz ein weites Spektrum historischanthropologischer Fragestellungen ein und fragt auch nach der sinnlichen Dimension und Momenten der Inkorporierung politischer Kulturmuster.95 Eine politische Kultur, so auch der Althistoriker Karl-Joachim Hölkeskamp, hat also zeremonielle und rituelle, performative, symbolische und auch ästhetische Dimensionen, die für die permanente Reproduktion der Legitimität der Elite und des politischen Systems insgesamt konstitutiv sind; denn es ist vor allem diese »Ausdrucksseite«, die der Erzeugung von Zugehörigkeit und Zustimmung, der Stiftung von Sinn und Sinnhaftigkeit politischen Handelns und damit der Begründung einer kollektiven Identität [. . . ] dient.96

Wenn also hier von »politischer Kultur« und »politischer Kulturgeschichte« die Rede ist, dann ist dieser weite, kulturgeschichtliche Ansatz gemeint, der eine integrierte Sicht auf »die Konditionen und die Konditionierungen von Politik« 97 ermöglicht.98

94 Wolfgang Hardtwig, Einleitung: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit, in: Ders. (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918 – 1939, Göttingen 2005, S. 7 – 22, hier S. 9 – 10. 95 Vgl. Hardtwig, Einleitung, S. 13 – 15. 96 Karl-Joachim Hölkeskamp, Eine politische Kultur (in) der Krise? Gemäßigt radikale Vorbemerkungen zum kategorischen Imperativ der Konzepte, in: Ders. (Hg.), Eine politische Kultur (in) der Krise? (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 73), München 2009, S. 1 – 25, hier S. 20. 97 Hölkeskamp, Eine politische Kultur, S. 18. 98 Für eine breite programmatische Diskussion des Konzepts »politische Kultur« vgl.

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Renate Dürr hat an dieser Stelle eine zentrale Frage einer Untersuchung politischer Kultur im Kirchenraum als einem öffentlichen Raum der frühneuzeitlichen Gesellschaft aufgeworfen: die Frage nach der Herstellung von Autorität.99 Diese Frage drängt sich Dürr zufolge auf, »gibt es doch wohl wenig öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit, die so eindeutig hierarchisch strukturiert erscheinen wie der Kirchenraum«.100 Der Kirchenraum wird gerade dadurch zu einem Schlüssel für die politische Kultur einer Zeit, dass durch das – gottesdienstliche, seelsorgerische, kirchenpolitische oder gemeindliche – Handeln in diesem Raum stets »Autorität konstituiert, gestärkt, in Frage gestellt oder verworfen wird« 101 – kurzum: nahezu alle dort beobachtbaren oder durch Quellenmaterial greifbaren Handlungen implizieren ein bestimmtes Verhältnis zur Autorität, sind nur in ihrer Relation zu den Polen weltlicher und kirchlicher Macht zu begreifen. Diese autoritative Aufladung macht den Kirchenraum in besonderer Weise zum Forschungsfeld einer historisch-ethnographischen Machtanalyse. Sie macht ihn zum geeigneten Fokus einer politischen Kulturgeschichte, die den wechselseitigen Vermittlungsprozessen zwischen politischer Öffentlichkeit und der inneren Formierung ihrer Akteure nachgeht. Wie kann nun das methodische Instrumentarium einer solchen Arbeit aussehen? Zum einen stützt sich die Studie auf disparates schriftliches Material – von historischen und aktuellen Kirchenbeschreibungen und -analysen über Gemeindepublikationen bis hin zu liturgisch-praktischen Anleitungen zur Nutzung des Kirchenraums. Durch die Verknüpfung der so erhobenen punktuellen Befunde mit Darstellungen aus der Forschungsliteratur sowie theoretischen Modellen werden Interpretationen des Zusammenhangs von Kirchenraum, sozialem Handeln und symbolischer Ordnung erarbeitet. Zum anderen bilden Wahrnehmungsspaziergänge und teilnehmende Beobachtungen vor allem in Wiener Kirchen – aber ergänzend dazu auch in Rom – 102 einen wichtigen

99 100 101 102

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Carola Lipp, Politische Kultur oder das Politische und Gesellschaftliche in der Kultur, in: Wolfgang Hardtwig / Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte heute (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 16), Göttingen 1996, S. 78 – 110. Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit, S. 23 – 31. Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit, S. 24. Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit, S. 27. In Ergänzung und Erweiterung der Wiener Perspektive habe ich im Februar 2014 einen Forschungsaufenthalt in Rom absolviert. Hier sollte noch einmal die Probe aufs Exempel stattfinden: Mit welchen analytischen Instrumentarien lassen sich Kirchenräume »lesen«? Was lässt sich vor diesem Hintergrund in Kirchenräumen beobachten? Die Dichte katholischer Sakralräume in dieser Stadt ist kaum zu übertreffen; dem entspricht die Dichte, in der dort religiöse Alltagspraktiken in katholischen Sakralräumen beobachtet werden können. Gleichzeitig interessierten mich die Überschneidungen religiöser und touristischer Raumnutzungen, für die die Kapitale des Katholizismus ebenfalls ein idealer Schauplatz ist. Die römischen Notizen

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Ausgangspunkt für die praxeologische Reflexion sakraler Räume. An vielen verschiedenen Orten und in verschiedenen räumlichen Situationen wurden religiöse und nicht-religiöse Praktiken in Kirchenräumen beobachtet, die materiellen Bedingungen und Spuren dieser Praktiken möglichst genau registriert. Dabei handelt es sich hier nicht um eine Ethnographie der Kirchenraumnutzung: Weder wurden Interviews mit KirchenbesucherInnen noch Experteninterviews mit Priestern oder MinistrantInnen geführt, noch ging es darum, die konkreten Wahrnehmungen und Handlungen konkreter AkteurInnen zu beleuchten. Diesbezügliche Forschungsideen wurden schnell aufgegeben, als deutlich wurde, dass die individuellen Zugänge zum sakralen Raum in den Formen so verwirrend ähnlich, in den Beweggründen und Wahrnehmungsmustern so verwirrend vielfältig sind. Eine echte Ethnographie der Kirchenraumnutzung hätte sich zudem auf den Einzelfall einer Gemeinde, einer oder zwei bestimmter Gruppen von KirchenbesucherInnen konzentrieren müssen – um den Preis, dass wichtige grundsätzliche Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Kirchenraumanalyse von dort aus nicht hätten thematisiert werden können. So konnte etwa Anna Körs in ihrer soziologischen Studie zur Wahrnehmung und Nutzung von vier Kirchenbauten der norddeutschen Backsteingotik zwar auf einer relativ allgemeinen Ebene klären, welche Bedeutungen dem Kirchenraum von welchen Personen zugeschrieben werden, allerdings ging dabei vielfach – und notwendigerweise – der Blick für die konkreten Raumsituationen und Raumpraktiken verloren.103 Obwohl für die vorliegende Arbeit keine systematische Ethnographie im strikten methodologischen Sinne durchgeführt worden ist, liegt ihr dennoch eine ausdrücklich ethnographische Haltung zugrunde. Und das aus zweierlei Gründen: Zum einen spielen ethnographische Momentaufnahmen, d. h. im vorliegenden Fall qualitative Daten aus eigener Wahrnehmung und Erfahrung, aus Beobachtungen und einem breiten Quellenkorpus – von Bildern und Texten aller Art bis hin zu zufälligen Gesprächen – eine Rolle. Bei allen meinen Kirchenbesuchen habe ich ein Feldtagebuch geführt, »Atmosphärenprotokolle« ebenso angefertigt wie Notizen zum Verhalten von KirchenbesucherInnen gemacht. Zum anderen aber sind die hier angebotenen Raumanalysen und Textlektüren vom Standpunkt eines epistemologisch verstandenen Ethnographiebegriffs aus verfasst worden.104 Kern dieser ethnographischen Perspektive auf das

und Befunde sind an verschiedenen Stellen in diese Arbeit eingeflossen und illustrieren den Argumentationsgang. 103 Vgl.Körs, Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen. 104 Vgl. dazu den Vorschlag Brigitta Schmidt-Laubers, Ethnographie nicht nur als Methode, sondern weiter gefasst als Forschungsperspektive zu verstehen: Brigitta Schmidt-Lauber, Orte von Dauer. Der Feldforschungsbegriff in der Europäischen Ethnologie in der Kritik, in: Sonja Windmüller, Beate Binder, Thomas Hengartner

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disparate Material ist eine konsequente Akteurs- und Praxiszentrierung. Das bedeutet, dass alles, womit wir es als Material unserer kulturwissenschaftlichen Arbeit zu tun haben – materielle Kultur, Räume, Bilder, Texte, Atmosphären, Geräusche und Gerüche, Beobachtungen und Gespräche – im Hinblick auf soziale und kulturelle Praktiken verstanden und interpretiert wird. Damit werden freilich multiple Kontexte aufgespannt und miteinander verschaltet: Entstehungskontexte von Kirchenbauten und -ausstattungen, verschiedene Nutzungskontexte in Geschichte und Gegenwart, mögliche Wahrnehmungshorizonte unterschiedlicher Gruppen von KirchenbesucherInnen. Die vorliegende Studie zur kulturwissenschaftlichen Kirchenraumanalyse stellt sich die Aufgabe, diesen unterschiedlichen Kontexten sensibel nachzuspüren und ihnen Rechnung zu tragen, ohne sich in der Vielfalt der möglichen Fallbeispiele und Kontextualisierungen zu verlieren. Eben deshalb folgt die Arbeit einer theoretischen Gliederung und rückt ihre Fallbeispiele nur so weit in den Vordergrund, wie es die übergeordneten Leitlinien erfordern. Gleichzeitig aber werden die empirischen Befunde immer wieder auch als Ausgangspunkt der theoretischen Begriffsarbeit genutzt: Weite Teile der Darstellung sind in diesem Sinne aus dem Material heraus gearbeitet. Von hier aus erklärt sich auch die zwischen historischen und gegenwärtigen Kontexten oszillierende, Geschichte und Gegenwart immer wieder miteinander verknüpfende Darstellung. Zum einen ist das der methodischen Schwierigkeit geschuldet, dass sich die hier vorgelegten Raumanalysen auf architektonische Räume beziehen, die in einer anderen Zeit entstanden sind, aber nur in der Gegenwart empirisch untersucht werden können. Die hier thematisierten Entstehungs- und Nutzungskontexte der Kirchenbauten fallen zeitlich notwendigerweise auseinander; andere schriftliche Befunde zur Kirchenraumnutzung beziehen sich wiederum auf einen anderen Zeitpunkt. Zum anderen aber steht dahinter auch die Idee einer epistemologischen Verwandtschaft historischer und gegenwartsethnographischer Forschung. In mehreren Beiträgen zur Theorie und Methodologie kulturwissenschaftlichen Arbeitens habe ich zu zeigen versucht, welchen Nutzen eine Geschichte und Gegenwart integrierende Perspektive mit sich bringen kann, inwiefern sich auch die Probleme historischer und gegenwartsorientierter Forschung sehr ähnlich sind.105 In diesem Sinne

(Hg.), Kultur-Forschung. Zum Profil einer volkskundlichen Kulturwissenschaft, Berlin 2009, S. 237 – 259, hier S. 253 (Anm. 10). Siehe auch meine Skizze zur epistemologischen Begründung »historischer Ethnographie«: Jens Wietschorke, Historische Ethnografie. Möglichkeiten und Grenzen eines Konzepts, in: Zeitschrift für Volkskunde 106 (2010), S. 197 – 224, insbes. S. 221 – 223. 105 Vgl. v. a. Wietschorke, Historische Ethnografie; Ders., Geschichte der Gegenwart, Gegenwart der Geschichte: Historische Anthropologie und Europäische Ethnologie, in: Historische Anthropologie 20 (2012), S. 249 – 252; Ders., Bourdieu und der

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können sich historische und ethnographische Befunde zur politischen Kulturgeschichte katholischer Kirchenräume gegenseitig stützen – erst recht insofern, als hier keine Detailstudie, sondern ein theoretischer Forschungsaufriss geliefert werden soll. In den folgenden Kapiteln wird das theoretische Instrumentarium einer kulturwissenschaftlichen Kirchenraumanalyse entwickelt und an einer Reihe von Fallbeispielen aus der neueren katholischen Kirchenbau- und Kirchennutzungsgeschichte der Stadt Wien – mit deutlichem Schwerpunkt auf der Zeit seit Mitte des 19. Jahrhunderts – kursorisch vorgeführt. Dabei haben die Fallbeispiele keinen nur illustrativen Charakter, sondern der theoretische Rahmen und das raumanalytische Instrumentarium werden teilweise auch aus den Problemen der Empirie heraus entwickelt.106 In diesem Sinne ist also eine Mischform aus theoretischem Rahmen und punktuell einsetzender empirischer Darstellung – aus deduktiven und induktiven Argumentationssträngen – intendiert, welche Möglichkeiten und Grenzen der vorgeschlagenen Forschungsperspektive aufzeigen soll. Im Anschluss an diese Einleitung werden in einem ausführlichen Überblickskapitel die großen Linien der Wiener Kirchenbau- und Kirchennutzungsgeschichte nachgezeichnet, um die folgenden Fallbeispiele in ihrem weiteren historisch-politischen Kontext zu situieren. Damit soll schon zu Beginn demonstriert werden, dass eine kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse ohne die sorgfältige Einbettung in politikgeschichtliche Zusammenhänge nicht denkbar ist. Anders als in den folgenden Kapiteln wird hier chronologisch verfahren, so dass sich die Darstellung als fortlaufende Entwicklungsgeschichte lesen lässt. Zugleich wird hier systematisch danach gefragt, welche Rolle die Positionierung von Kirchenbauten im Stadtraum aus historisch-kulturanalytischer Perspektive spielt. Hier stehen Überlegungen zur Formierung »sakraler Topographien« im Stadtraum und zu den entsprechenden missionarischen Raumstrategien im Mittelpunkt. Im dritten, vierten und fünften Kapitel wird schließlich in einem Dreischritt der Versuch unternommen, das theoretische Programm und den analytischen Rahmen einer Kulturanalyse und politischen Kulturgeschichte von Kirchenräumen zu entwerfen. Die Argumentationen der Kapitel greifen eng ineinander und beleuchten sich gegenseitig; sie folgen in diesem Sinne also nicht stringent aufeinander, sondern setzen an unterschiedlichen Punkten an, um das thema-

Raum der Geschichte. Zur Historizität der Gegenwart in der kulturanthropologischen Forschung, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 109 (2013), S. 149 – 166. 106 Zum Anspruch einer »theoretischen Empirie« bzw. zur Frage, wie empirische Forschung theoretisiert werden kann, vgl. programmatisch Stefan Hirschauer / Herbert Kalthoff / Gesa Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt am Main 2008.

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tische Feld und die sich daraus ergebenden Probleme von unterschiedlichen Seiten anzugehen. Zunächst wird der Kirchenraum als Repräsentationsraum beleuchtet: Hier wird der Frage nachgegangen, inwieweit katholische Sakralräume als »politische Raumtypen« und als Repräsentationen gelesen werden können, die bestimmte Kollektivkonstruktionen (Kirchengemeinde, Stadtgemeinde, Nation, Konfessionsgemeinschaft usw.) implizieren. Kirchenräume, so die These, repräsentieren immer symbolische Ordnungen, die hierarchisierende und exkludierende Wirkungen haben; dabei sind sie immer als »Medien des Sozialen« zu lesen, die konstitutive Wirkung haben. Weiter wird der Kirchenraum als memorialer Raum untersucht: Im Rückgriff auf verschiedene Gedächtnisund Erinnerungskulturtheorien soll gezeigt werden, wie memoriale Medien und Praktiken (Epitaphien, Gefallenengedenktafeln, Votivtafeln, Gedenkmessen, kleinere Formen der Promulgation etc.) wesentlich zur Konstitution des Kirchenraums als eines öffentlichen und politischen Raums beitragen. Wer schreibt sich in diesen Raum ein – und mit welcher Intention? Wie werden über Ordnungen der Lebenden und der Toten politische Mythen generiert bzw. bedient und normative Leitbilder von Gesellschaftlichkeit hergestellt? Schließlich kommt der Kirchenraum als affektiver Raum in den Blick: Im kritischen Anschluss an aktuelle Atmosphären-Konzepte, vor allem aber an neuere Theoretisierungen »emotionaler Praktiken« und »affektiver Räume« soll die zentrale Rolle der emotionalen, affektiven und sinnlichen Dimension bei der Konstitution und Nutzung von Kirchenräumen beleuchtet werden. Dabei sind verschiedene visuelle, akustische und olfaktorische Strategien und Praktiken ebenso zu untersuchen wie die subtilen Verknüpfungen von emotionalen und politischen Regimes. Das Arrangement von Kirchenräumen erscheint so vielfach als eine raum- und zeitspezifische Anordnung abrufbarer Erlebnismodelle, die in übergreifende Dispositive der Macht eingebunden sind und über Habitualisierungen inkorporiert werden. All diese Überlegungen zu Repräsentationsräumen, memorialen und affektiven Räumen sind dadurch verbunden, dass ihnen eine konsequent praxeologische Perspektive auf den Kirchenraum zugrundeliegt. Das bedeutet, dass das konkrete und mögliche Handeln im Raum den Ausgangspunkt der Theoriearbeit bildet – und damit der oben skizzierte akteurs- und praxisorientierte Zugang zu räumlichen Phänomenen. Im sechsten Kapitel wird diese Perspektive noch einen Schritt weiter getrieben, indem der Kirchenraum nochmals dezidiert als materieller Raum im Sinne der neueren, auf Materialität ausgerichteten kulturtheoretischen Modelle in den Blick kommt. Darüber hinaus soll gezeigt werden, dass auch die bis dahin vorgestellten Analysedimensionen ihre Signifikanz vor allem dadurch gewinnen, dass Kirchenräume wesentlich materielle Handlungsräume sind. So werden Repräsentationen, Erinnerungen, MachtWissen-Komplexe und Emotionen in konkreten Situationen im Kirchenraum praktisch (und das bedeutet immer auch körperlich-materiell) angeeignet. Auf

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Grundlage der Praxistheorie Pierre Bourdieus wird hier ein Modell entwickelt, wie das materielle und symbolische Setting von Kirchenräumen durch wechselseitige Abstimmungen von »Habitus und Habitat« in Praktiken übersetzt und damit auch praxistheoretisch lesbar wird. Darüber hinaus soll kurz diskutiert werden, was die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) möglicherweise zu einer Geschichte religiöser Räume und Praktiken beitragen kann. Gefragt wird hier nach der Materialität und den materiellen Voraussetzungen religiösen Handelns im Raum; gleichzeitig wird hier aber auch deutlich, welche Aspekte räumlichen Handelns in den herangezogenen theoretischen Modellen nicht aufgehen und mit welchen Schwierigkeiten und Widersprüchen das Programm einer kulturwissenschaftlichen Raumanalyse generell konfrontiert ist. In einem knappen und konzentrierten Abschlusskapitel werden einige Hauptergebnisse der Arbeit nochmals gebündelt und Fragen nach dem Nutzen einer kulturwissenschaftlichen Kirchenraumanalyse beantwortet. Die Studie ist durchweg interdisziplinär angelegt: Sie führt Ansätze und Theoreme aus einem breiten Feld sozial- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen zusammen – namentlich aus Raum-, Architektur- und Stadtsoziologie, Religionswissenschaften und Religionssoziologie, Geschichts- und Medienwissenschaften, Theologie und Liturgiewissenschaft, Kunstgeschichte und visueller Kulturgeschichte, Musikwissenschaft und Hymnologie, Wissensgeschichte, visueller Kulturgeschichte und Cultural Studies sowie unterschiedlichen, mit der Analyse materieller Kultur befassten Wissenschaftszweigen und Forschungsrichtungen wie den oben genannten Material Culture Studies. Die übergreifende Perspektive auf Kirchenräume als Repräsentations- und Handlungsräume verdankt sich allerdings den epistemologischen Zugängen eines Faches, das ich als Schnittstellendisziplin und transdisziplinäres Fach par excellence verstehe: der Volkskunde / Empirischen Kulturwissenschaft / Europäischen Ethnologie. Die Europäische Ethnologie hat nicht nur eine bedeutende eigene Forschungstradition in der Auseinandersetzung mit popularer Religiosität und religiöser Sachkultur aufzuweisen, sondern steht vor allem für eine kulturanalytische Perspektive, die den Blick auf Mikroausschnitte gesellschaftlicher Wirklichkeit sowie das Wahrnehmen und Handeln spezifischer Akteure ins Zentrum stellt. Diese Perspektive wird hier durch eine konsequente Berücksichtigung der akteursbezogenen und praktischen Dimension aller kulturellen Artefakte und Repräsentationen einzulösen versucht, wie sie dem bei Heike Delitz entfalteten architektursoziologischen Programm sowie den neueren, auf Materialität ausgerichteten sozial- und kulturwissenschaftlichen Praxistheorien zugrundeliegt. Auf diese Weise sollen hier die Umrisse eines einschlägigen Forschungsprogramms zur Diskussion gestellt werden, was sowohl der Exposition kultur- und praxistheoretischer Konzepte als auch den historischen Schlaglichtern zur politischen Kulturgeschichte ausgewählter Wiener Kirchenräume notwendigerweise etwas Vorläufiges verleiht. Im Sinne eines Grundrisses sollen

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die Kapitel das Instrumentarium einer die Logik kultureller Repräsentationen in ihrem sozialen und politischen Kontext verfolgenden Kirchenraumanalyse vorstellen, das – so bleibt zu hoffen – auch für kommende, inter- und transdisziplinäre Untersuchungen zum Thema von Nutzen sein können.

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2. KATHOLISCHE KIRCHENRÄUME IN WIEN EINE SKIZZE ZUR POLITISCHEN KULTURGESCHICHTE Das vorliegende Kapitel vermittelt einen kursorischen und notwendigerweise lückenhaften Überblick über die Entwicklung der Kirchengeschichte, des Kirchenbaus und der Kirchenraumnutzung in Österreich und besonders in Wien seit dem 17. Jahrhundert.1 Dabei wird insbesondere das Verhältnis von Kirchenraum und Stadtraum reflektiert, so wie es sich an den Etappen dieser Geschichte aufzeigen lässt, ebenso wie die politische Geschichte, mit der die Entwicklung und Nutzung katholischer Sakralräume im Stadtgefüge zusammenhängt. Damit sollen einige wichtige Rahmenbedingungen nachgezeichnet werden, welche die in dieser Studie behandelten Kirchenräume prägen. Die Darstellung setzt ein mit allgemeinen Vorbemerkungen zur stadträumlichen Situierung von Kirchenbauten, dann werden in einem weiten zeitlichen Bogen Grundzüge der gegenreformatorischen wie der josephinischen Kirchenpolitik skizziert, um schließlich die Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts ausführlicher zu beleuchten. Dass dabei zahlreiche Einzelaspekte und Sonderentwicklungen unberücksichtigt bleiben müssen, versteht sich von selbst. Im Rahmen der Gesamtuntersuchung soll das Kapitel vor allem dazu dienen, einen chronologischen roten Faden auszuspannen, der das Verständnis der folgenden systematischen Kapitel und der dort eingestreuten Fallbeispiele erleichtert. Zudem soll an dieser Stelle – im Modus der historischen Überblicksdarstellung – das Verfahren eingeführt werden, das für den Ansatz der gesamten Studie von zentraler Bedeutung ist: Es soll gezeigt werden, wie die »Mikrogeschichte« der Räume und Raumnutzungspraktiken auf die »Makrogeschichte« der politischen Kultur bezogen werden kann und dass dabei die Felder von Architektur, Religion und Politik möglichst konsequent zusammengedacht werden müssen. Auch wenn die eigentliche praxeologische Perspektive auf Kirchenräume erst in den folgenden Kapiteln entfaltet wird, soll bereits hier deutlich werden, wie not-

1 An Überblicksdarstellungen und Architekturführern zum Wiener Kirchenbau seien – neben den einschlägigen Ausgaben des »Dehio« – genannt: Alfred Schnerich, Wiens Kirchen und Kapellen in kunst- und kulturgeschichtlicher Darstellung, Zürich u. a. 1921; Alfred Missong, Heiliges Wien. Ein Führer durch Wiens Kirchen und Kapellen, Wien 1948; Wolfgang J. Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens. Die heiligen Stätten der Stadt Wien, Wien 1989; Norbert Rodt, Kirchenbauten in Wien 1945 – 1975. Auftrag, Aufbau und Aufwand der Kirche von Wien, Wien 1976; Franz R. Vorderwinkler, Sakrale Kunst in Österreich. Kirchen der Stadt Wien, Steyr 2008; Thomas Winkler, Die schönsten Kirchen Wiens. Kunsthistorische Highlights, Routenplaner, Insider-Tipps, Wien 2012; Peter Scheuchel, Sakrale Stätten – Heilige und Orden. Die Wiener Vorstadtbezirke 2 bis 9, Innsbruck u. a. 2013.

wendig der genaue Blick auf historisch konkrete Räume und Raumsituationen für das Verständnis religiöser Praktiken als Moment politischer Kultur ist.

Kirchenraum und Stadtraum: Vorbemerkungen in systematischer Absicht Eine umfassende Analyse von politischer Kultur in städtischen Kirchenräumen kann sich nicht nur auf die reinen Innenräume beschränken, sie muss auch die Situierung im Stadtraum mit einbeziehen. Erstens sagt die externe Orientierung eines Kirchengebäudes, seine Situierung und Positionierung im unmittelbaren wie mittelbaren Umfeld etwas über die ihm zugrundeliegende Konzeption des Verhältnisses von Religion und Politik aus und dokumentiert die Bindung religiöser Sinnkonstruktionen an eine Idee des »Gemeinwesens«. Zweitens lassen sich die Aushandlungsprozesse zwischen dem Sakralen und dem Profanen, zwischen – im Sinne Mircea Eliades – »starken«, »bedeutungsvollen« und »amorphen« Räumen 2 nur dann vollständig in den Blick nehmen, wenn der topographische Zusammenhang thematisiert wird, in dem Sakralräume erst ihre Bedeutung erhalten. Und drittens artikulieren sich in diesem topographischen Zusammenhang Programme symbolischer Raumproduktion – von einem Kampf um öffentliche Sichtbarkeit von Religion über missionarische Raumstrategien bis hin zur systematischen Sakralisierung des Stadtraums.3 Nicht ohne Grund also ist der Konnex von Stadt und Religion in den Sozialund Kulturwissenschaften ein bestens untersuchtes Feld.4 Das gilt unter anderem für die geschichtswissenschaftliche Forschung – was nahe liegt, wenn man die »Einheit von Kirchen- und Bürgergemeinde« in Rechnung stellt, welche die vormoderne europäische Stadt kennzeichnet.5 Insbesondere im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung erreicht die gegenseitige Durchdringung von Stadt und Kirche ihren Höhepunkt.6 Für das 19. und 20. Jahrhundert sind dann im Rahmen stadt- und urbanisierungsgeschichtlicher Untersuchungen vor allem Prozesse der Säkularisierung sowie der Pluralisierung und Aus-

2 Vgl. dazu Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt am Main 1984, S. 23. 3 Eine Fallstudie, die Innenraum und Stadtraum aufeinander bezieht, bietet Jörg Stabenow, Verortungen, Spiegelungen. Der sakrale Innenraum als Element der städtischen Raumordnung, in: Cornelia Jöchner (Hg.), Räume der Stadt. Von der Antike bis heute, Berlin 2008, S. 101 – 126. 4 Siehe dazu die in Kapitel 1 (Anm. 5) genannte Literatur. 5 Vera Isaiasz / Matthias Pohlig, Soziale Ordnung und ihre Repräsentationen: Perspektiven der Forschungsrichtung »Stadt und Religion«, in: Vera Isaiasz u. a. (Hg.), Stadt und Religion in der frühen Neuzeit. Soziale Ordnungen und ihre Repräsentationen, Frankfurt am Main 2007, S. 9 – 32, hier S. 9. 6 Isaiasz / Pohlig, Soziale Ordnung und ihre Repräsentationen, S. 13.

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differenzierung religiöser Phänomene behandelt worden. Durchgehend kommt die Stadt hier nicht einfach als akzidentieller Schauplatz religiöser Praktiken in den Blick, sondern als genuines Moment ihrer Artikulation und Repräsentation: Die christlichen Konfessionen haben sich immer auch über ihr Verhältnis zur Stadt konstituiert, umgekehrt haben sie elementar mit den Modellen von sozialer Ordnung zu tun, für die die Stadt steht. In der historischen Explikation dieses Zusammenhangs können wir weit zurückgehen – und zwar bis in die christliche Stadtikonographie des Mittelalters. In der augustinischen Theologie stehen sich das himmlische Jerusalem und die »Hure Babylon« als diametral entgegengesetzte religiöse Stadtkonzepte gegenüber, und beide sind verbunden mit bestimmten Vorstellungen von civitas. 7 Von hier aus lässt sich das Verhältnis zwischen Stadt und religiösen Institutionen als Spannungsverhältnis verstehen; Kirchenbauten artikulieren aus dieser Perspektive immer auch eine spezifische Position in der Stadt und gegenüber der Stadt. In der historischen Forschung, aber auch in der interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Stadtforschung ist immer wieder herausgearbeitet worden, wie städtische Topographien mit religiösen Raumkonzeptionen überformt wurden und auf welche Weise in diesen »heiligen« Städten »das Städtische und das Religiöse eng ineinander verwoben sind«.8 Klassische Beispiele für diese ostentative Verbindung sind etwa Mekka, Varanasi, Jerusalem oder Nkamba.9 Für die katholische Welt stellt Rom sicherlich das bedeutendste Beispiel einer sakralisierten Stadttopographie dar – und damit eine Stadt, die immer wieder von den Päpsten als ihren prominentesten Bauherren nach theologischen Gesichtspunkten geplant, überformt und restrukturiert wurde. Seit der Frühen Neuzeit wurde immer wieder über sakrale Zeichen und »sakralisierende« Stadtplanung die religiöse Zentralität dieses Ortes behauptet. Ein erster Einsatzpunkt dieser Entwicklung waren die städtebaulichen Initiativen unter Martin V., der 1420 als erster Papst nach dem »avignonesischen Exil« wieder nach Rom zurückkehrte, der aber wenig mehr erreichte als die Renovierung einiger baufälliger Kirchenbauten.10 Weitaus entschiedener trieb Sixtus V. zusammen mit dem Architekten und Stadtplaner Domenico Fontana im ausgehenden 16. Jahrhundert die Sakralisierung der Stadttopographie voran. Durch eine Neuorganisation des nach dem verheerenden »sacco di Roma« 1525 devas-

7 Vgl. dazu Johannes van Oort, Jerusalem and Babylon. A Study into Augustine’s City of God and the Sources of his Doctrine of the Two Cities, Leiden 1991; des weiteren Peter S. Hawkins, Civitas. Religious Interpretations of the City, Atlanta 1986. 8 Lanz, Stadt und Religion, S. 299. 9 Vgl. Lanz, Stadt und Religion, S. 299 – 300. 10 Vgl. Italo Insolera, Roma. Immaggini e realtà dal X al XX secolo, 6. Auflage Roma / Bari 2002, S. 24 – 26; A. E. J. Morris, History of Urban Form before the Industrial Revolutions, 3. Aufl. New York 2013, S. 177.

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tierten Stadtraums, vor allem durch die Einbindung der weiten Brachflächen zwischen den ehemaligen antiken Zentren, wurde die Stadt für die Pilgerreise formatiert: The pope’s plans for the city reincorporated the spacious emptiness of the socalled disabitato by means not only of new streets, squares, refurbished churches and modern buildings which the pope had built or planned as conduits for pilgrims, but also through the revival of Lenten visits to the stational churches which effectively knitted together the city both within and without the walls.11

Auf diese Weise wurde – um das »Dreieck des Heils« 12 Lateran, Santa Maria Maggiore und Santa Croce in Gerusalemme herum – die Kette von sieben Patriarchalbasiliken als konstitutive Raumfigur der »heiligen Stadt« hervorgehoben. Das diese Kirchen verbindende und zueinander in Beziehung setzende System von Achsen und Plätzen machte die Stadt zu einem theatralischen Raum und konstituierte »the city as a place of theatre or setting for spectacle and procession«.13 Zugleich sollte dieser Raum über die Erinnerungsfunktion der in ihn eingebundenen heiligen Stätten eine emotionale Landschaft bilden. Einer der Hauptakteure der Gegenreformation in Rom und Mailand, Carlo Borromeo, schrieb in seinen Instruktionen zum Heiligen Jahr 1575: When visiting these holy places [. . . ] and in going from one church to another, from one altar to another, in order that you might feel greater charity and devotion, you should meditate on those journeys that Christ made in this world for us [. . . ]. Now remember with what fervour the Prince of the Apostles, St. Peter, suffered his chains, prison and finally the torments of the cross [. . . ]. Let yourselves be inflamed with the love of God; that fire of the Christian religion which burned in the heart of St. Lawrence, when you contemplate the memory of his martyrdom in the place where, on the gridiron, his body was roasted. With similar meditations, while you visit the holy places, you will have the occasion to remember the many saints, martyrs, confessors, pontiffs and virgins; considering their lives and some of their particular actions, good deeds and martyrdom about which you will know and which the same memories of those holy places will show you.14

Auf diese Weise wurde der römische Stadtraum im 16. Jahrhundert neu als christliche Erinnerungs- und Gefühlslandschaft inszeniert – mit dem Verweis

11 Simon Ditchfield, Reading Rome as a sacred landscape, c. 1586 – 1635, in: Will Coster / Andrew Spicer (Hg.), Sacred Space in Early Modern Europe, Cambridge 2005, S. 167 – 192, hier S. 169. 12 Walter Kasper, Rom, in: Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, S. 107 – 127, hier S. 115 – 117. 13 Ditchfield, Reading Rome, S. 169. 14 In dieser Übersetzung zit. nach: Ditchfield, Reading Rome, S. 192.

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auf die »authentischen« Orte der Heilsgeschichte und der Aufforderung, an diesen Orten das »religiöse Feuer« der Märtyrer nachzuempfinden, gibt Carlo Borromeo das Programm aus, dem die urbanen Raumpraktiken der Pilger in den kommenden Jahrhunderten folgen sollten. Die von Sixtus V. initiierte und dem Architekten Domenico Fontana durchgeführte Stadtplanung der Jahre 1585 bis 1590 richtete die Stadt ganz auf diesen Parcours aus: Als ein großzügiges »Verkehrsnetz der Heiligtümer« 15 wurden Verbindungsstraßen zwischen den sieben Hauptkirchen geplant, die zugleich einige der brachliegenden und kaum besiedelten Gebiete innerhalb der antiken Stadtmauern erschlossen.16 Schnittpunkte und Sichtachsen dieser neuen Straßen wurden mit ägyptischen Obelisken bestückt, die als »religionspädagogische Mark- und Merksteine der Heilsfindung« 17 fungierten. Die Stadt wurde so zum begehbaren »Heilsspiegel«,18 der die Pilgerpraxis mit einer bestimmten symbolischen Form des Urbanen verschaltete. Mit diesem »Meilenstein in der Geschichte der Stadtbaukunst« beginnt in gewisser Weise die (Vor-)Geschichte der barocken Stadtplanung,19 gleichzeitig ist damit ein neues Modell für die »christliche Stadt« gefunden, die ihre symbolischen Sequenzen von Kirchen, Katakomben, Brunnen, Obelisken und päpstlichen Herrschaftszeichen zu einer körperlich erfahrbaren und erlebbaren sakralen Topographie verdichtete. Gerade im Vergleich zwischen verschiedenen katholischen und protestantischen Städten wurde deutlich, dass vielfach über »konfessionelle Raummarkierungen« 20 versucht wurde, die angestrebte Dominanz von Glaubensrichtungen auch städtebaulich und architektonisch umzusetzen – Heinz Schilling hat dazu eine anregende Problemskizze vorgelegt.21 Allerdings geht es auch dabei nicht nur um »Einschreibungen« konfessioneller Identität in den Stadtraum, nicht nur um Repräsentationspolitiken. Vielmehr ist hier in Rechnung zu stellen, dass die religiösen Topographien immer auch eine körperlich-praktische Ver15 Sigfried Giedion, Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Zürich 1976, S. 81. 16 Zur sixtinischen Stadtplanung vgl. ausführlich und mit aufschlussreichem Kartenmaterial: Insolera, Roma, S. 177 – 195. 17 Volker Reinhardt, Rom. Ein illustrierter Führer durch die Geschichte, München 1999, S. 178. 18 Reinhardt, Rom, S. 179. 19 So Charles Delfante, Architekturgeschichte der Stadt. Von Babylon bis Brasilia, Darmstadt 1999, S. 109. 20 Anna Ohlidal, Kirchenbau in der multikonfessionellen Stadt: Zur konfessionellen Prägung und Besetzung des städtischen Raums in den Prager Städten um 1600, in: Vera Isaiasz u. a. (Hg.), Stadt und Religion in der frühen Neuzeit. Soziale Ordnungen und ihre Repräsentationen, Frankfurt am Main 2007, S. 67 – 81, hier S. 68. 21 Heinz Schilling, Die konfessionelle Stadt – eine Problemskizze, in: Peter Burschel u. a. (Hg.), Historische Anstöße. Eine Festschrift für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag am 10. April 2002, Berlin 2002, S. 60 – 83.

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Abb. 2: Der Obelisk als Pilgerzeichen: Piazza Giovanni Paolo II, Rom.

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ankerung von Religion in der Stadt erreichen, eine Materialisierung im Sinne produktiver Macht über die Körper und Bewegungen im Stadtraum. Es handelt sich um »Dispositive« und Regimes von Sichtbarkeiten im Sinne Foucaults, um die Produktion von Affekten, Körperlichkeiten und Subjektpositionen. Das im barocken Städtebau als Mittel der Raumorganisation durchgesetzte axiale Prinzip produziert Hierarchien und Hierarchiegefälle, die in der Bewegung – der Prozession, dem Pilgerzug, aber auch der »einfachen« Bewegung durch die Stadt – körperlich umgesetzt und bewusst-unbewusst bestätigt werden. Gebaute und organisierte »sakrale« Topographien arbeiten so mit dem grundlegenden »Körperschema von Oben-Unten, Rechts-Links und Vorne-Hinten«,22 um ihre symbolischen Ordnungen als körperliche Ordnungen durchzusetzen. Konfessionellen Raummarkierungen und Raumproduktionen zu folgen, bedeutet daher immer auch, sich als Element einer machtvollen Konfiguration und Figuration – durchaus im Sinne von Norbert Elias – zu positionieren.23 So stellte der im Zuge der Gegenreformation in Wien eingerichtete Kreuzweg mit sieben »Leidensstationen« von St. Stephan nach Hernals eine Raumfigur dar, die symbolpolitisch gegen die protestantische Enklave der Freiherren von Jörger gerichtet war. An der Prozession zur Einweihung des Kreuzweges und der zugehörigen Hernalser Grabkapelle nahm Kaiser Ferdinand III. teil und trug so dazu bei, diesen gegenreformatorischen Stadtparcours zu legitimieren und zu popularisieren.24 Und wenn der Theologe Heinrich Swoboda den Wiener Fronleichnamszug als »das imponierendste kirchliche Fest der ganzen Welt« bezeichnet, »das jedes Jahr in den Straßen Wiens seine ganz eigenartige moralische Wirkung übt«,25 dann verweist das auch für Wien auf den Zusammenhang von Stadt, Raum, Bewegung und religiösen Normen, die in spezifischen Aneignungspraktiken verhandelt und verfestigt werden. Wo der Katholizismus hingegen in der minoritären Position war, ging es eher darum, der Konfession über stadträumliche und architektonische Strategien Sichtbarkeit und Anerkennung zu verschaffen. Christoph Uehlinger behandelt in diesem Sinne die Planungs- und Baugeschichte der 1892 – 1894

22 Alban Janson / Florian Tigges, Grundbegriffe der Architektur. Das Vokabular räumlicher Situationen, Basel 2013, S. 14. 23 Klassisch ist in diesem Zusammenhang die Figurationsanalyse der höfischen Architektur in: Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Neuwied / Berlin 1969, S. 68 – 101. 24 Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 344; eine sehr aufschlussreiche Analyse findet sich bei Neta Bar-Yoseph, The Kreuzweg of Vienna: Local History and Universal Salvation, in: Marija Wakounig / Karlo Ruzizic-Kessler (Hg.), From the Industrial Revolution to World War II in East Central Europe, Wien 2011, S. 225 – 239. 25 Heinrich Swoboda, Großstadtseelsorge. Eine pastoraltheologische Studie, 2. Aufl. Regensburg u. a. 1911 (zuerst 1909), S. 143.

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errichteten Liebfrauenkirche in der reformierten Stadt Zürich und charakterisiert die »bauliche Repräsentation religiöser Identität« als »coming out« der bis dato nur wenig öffentlich sichtbaren katholischen Gemeinde.26 Im Anschluss an eine Studie Johanna Schaffers zum Konnex von Sichtbarkeit, Blickregimes und minoritären Repräsentationspraktiken 27 zeigt er, wie sich die Debatten über Positionierung und ästhetische Ausgestaltung der Liebfrauenkirche aus der spezifischen Position des Katholizismus im religiösen Feld und zugleich im sozialen Raum der Stadt Zürich heraus erklären lässt: Sowohl der exponierte Standort der Kirche hoch über der Limmat oberhalb der Weinberg- und der Leonhardstraße, als auch der Rückgriff auf die frühchristliche Formensprache unterstreichen den »typisch römisch-katholischen Präzendenzanspruch« 28 und inszenieren eine stadträumliche Gegenposition zur »Hauskirche« Ulrich Zwinglis, dem Zürcher Großmünster. Dabei positionierten sich die Katholiken dezidiert auch in einem sozial privilegierten Areal der Stadt, um deutlich zu machen, dass die katholische Kirche im Zürcher Kontext nicht nur »Armenkirche« war, wie es die Präsenz des katholischen Milieus in der Arbeitervorstadt Aussersihl nahelegte, sondern sich selbstbewusst als »die zweite Konfession Zürichs« verstand.29 Auf diese Weise erschließt sich der »programmatische Charakter des Gebäudes« aus der durch »konfessionelle Konkurrenz und Asymmetrie geprägten Gemengelage«.30 Der Stadtraum wird greifbar als Feld der Auseinandersetzung um konfessionelle Sichtbarkeiten und »Lokalisationsprofite« im Sinne Bourdieus. Kirchenbauten repräsentieren schon ihrem religiösen und theologischen Anspruch nach ein Moment von Ordnung inmitten der Unordnung. Damit wird auch ihr unmittelbares räumliches Umfeld in einer spezifischen Weise konzipiert. Sarah Hamilton und Andrew Spicer sehen mit Blick auf protestantische Kirchen in der Frühen Neuzeit vor allem eine zeitliche Ordnung, die hier implementiert wird: »Churches were however more than distinctive buildings in the landscape, they stood as beacons of order against the chaos of the world through determining human relations between the sacred and the profane. In practical terms, this ›cosmic order‹ was achieved through the regu-

26 Christoph Uehlinger, Coming out – zum Verhältnis von Sichtbarmachung und Anerkennung im Kontext religiöser Repräsentationspraktiken und Blickregimes, in: Dorothea Lüddeckens / Christoph Uehlinger / Rafael Walthert (Hg.), Die Sichtbarkeit religiöser Identität. Repräsentation – Differenz – Konflikt, Zürich 2013, S. 139 – 162, hier S. 146. 27 Johanna Schaffer, Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld 2008. 28 Uehlinger, Coming out, S. 153. 29 Uehlinger, Coming out, S. 151. 30 Uehlinger, Coming out, S. 154.

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lation of daily life through the measuring and ordering of time«.31 In diesem Sinn ist die Ordnung des heiligen Raums immer auch mit einer Ordnung der heiligen Zeit verbunden: »Church buildings thus encapsulated sacred time«.32 Der französische Kulturhistoriker Alain Corbin hat in einer originellen Studie die »Sprache der Glocken« im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts untersucht und dabei herausgearbeitet, wie Glocken nicht nur für die »zeitliche Architektur des Lebens«,33 sondern für die Organisation und sinnliche Repräsentation symbolischer Ordnungen überhaupt eine wichtige Rolle spielten. Glocken waren Identitätsmarker der Gemeinde,34 sie trugen bei zu einer territorialen Verortung und Orientierung der Dorfbewohnerinnen und -bewohner und bekräftigten die »Teilung in ein Drinnen und Draußen«.35 Damit konstituierte der Klang der Kirchenglocken auch die Gestalt des Kollektivs mit, wie Corbin argumentiert: Der Klangbereich der Glocke, eingebettet in ein klassisches Bild von Harmonie, markierte ein Territorium, das umgetrieben wurde vom Gedanken an seine Grenze und die Gefahr von deren Verletzung. Alarm und Schutz waren die zwei wesentlichen Funktionen des Glockenturms. So stellte sich ein Zusammenhang her zwischen Glocke und Grenze, zwischen Geläut und Prozession. Jene wie diese definierten einen Raum und machten dessen Grenze spürbar. Gleichzeitig entstand eine Äquivalenz zwischen der Reichweite der Glocke und der Erstreckung des Pfarr- oder Gemeindeterritoriums. Es galt zu verhindern, daß sich territoriale Waben abkapselten, in denen Glockensignale – Information, Alarm, Ruf – nicht zu vernehmen waren: isolierte Teilräume von verschwimmender Klangidentität, die Gefahr liefen, aus allen Mechanismen einer raschen Verständigung und Sammlung herauszufallen.36

Schon am Beispiel der »Sprache der Glocken« im 19. Jahrhundert wird deutlich, wie Kirchenbauten als organisierende Zentren temporaler, räumlicher und sozialer Ordnungen zugleich fungierten. Komplexere Geläute in der Stadt wie die Glocken von St. Stephan in Wien strukturierten den Tages- und Wochenrhythmus durch ihr genauestens geregeltes Läuteschema; sie markierten die Spezifik des Ortes, boten akustische Orientierung und stellten emotionale Erlebnismo-

31 Hamilton / Spicer, Defining the Holy, S. 9. 32 Hamilton / Spicer, Defining the Holy, S. 10. 33 Alain Corbin, Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1995, S. 158. 34 Corbin, Die Sprache der Glocken, S. 11 – 120. 35 Corbin, Die Sprache der Glocken, S. 139. 36 Corbin, Die Sprache der Glocken, S. 140 – 141.

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delle bereit.37 Im Hinblick auf die politische Kulturgeschichte von Kirchenräumen in der Stadt wäre danach zu fragen, inwiefern nicht nur der ländliche, sondern auch der urbane Raum von solchen Territorialisierungsprozessen und Raumdefinitionen erfasst wurde bzw. wird. Isaac Weiners Untersuchung »Religion out loud« setzt an diesem Punkt an: Weiner greift aktuelle Debatten um lautes Glockengeläut in der Stadt auf und zeigt daran auf, »how complaints about religion as noise [. . . ] have expressed underlying assumptions about what makes particular religious communities ›unwanted‹.« 38 Wieners Fallstudien »reveal the particular conditions of possibility that have governed how religions have been able to make themselves heard publicly in the United States, and they make audible how the varied responses to religion practiced out loud have been shaped by changing social and legal contexts and by broader assumptions about religion’s proper place in American life«.39 Am »Glockenlärm« ebenso wie an Klagen über den islamischen Gebetsruf lassen sich also interreligiöse Konflikte ablesen, verknüpft mit ethnischen und sozialen Konflikten in Stadt und »neighborhood«. Gleichzeitig wird darüber sichtbar, was im – akustischen – öffentlichen Raum toleriert wird, wie der Status von »expressiver« Religiosität in einer säkularen Gesellschaft bestimmt wird und welche politischen Bruchlinien hier im Spiel sind. Beispiele dafür lassen sich auch in Wien finden: Kurz nachdem die Christkönigskirche in Neu-Fünfhaus aus privaten Spendengeldern eine weitere Kirchenglocke erhalten hatte, vermerkt die Pfarrchronik im Dezember 1981: »Aus dem Gemeindebau neben der Kirche, Reuenthalgasse, erreicht uns über das Ordinariat eine Liste mit ca. 40 Unterschriften. Man protestiert gegen das Läuten mit drei Glocken am Sonntag Vormittag«.40 Hinter dem Konflikt um das Glockengeläut steht hier – weitgehend unausgesprochen – die lange Geschichte politischer Auseinandersetzungen zwischen »rotem« und »schwarzem« Milieu in den Wiener Vorstädten. So ist es kein Zufall, dass dieser Protest aus einem Gemeindebau des »Roten Wien« kam und sich gegen eine Kirche richtete, die Helmut Weihsmann als »Musterbeispiel eines reaktionären Gegendenkmals der konservativen Kräfte in ihrem kulturpolitischen Kampf gegen das Rote Wien« charakterisiert hat.41 Im Kapitel über die affektive und sinnliche Dimension von Kirchenräumen wird kurz auf die akustische Markierung von Raum durch Glockengeläut zurückzukommen sein. 37 Vgl. Peter Payer, Der Klang von Wien. Zur akustischen Neuordnung des öffentlichen Raumes, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 15 (2004), S. 105 – 125, hier S. 110 – 114. 38 Isaac Weiner, Religion out loud. Religious sound, public space, and American pluralism, New York / London 2014, S. 4. 39 Weiner, Religion out loud, S. 15. 40 Pfarrchronik Band I (1934 – 1988), S. 73. Archiv des Pfarramts Neufünfhaus. 41 Helmut Weihsmann, Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur- und Kommunalpolitik 1919 – 1934, 2. Auflage Wien 2002, S. 348.

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Eine wichtige Leitlinie des vorliegenden Kapitels ist es, katholische Kirchenräume im Stadtraum als missionarische Raumfiguren zu lesen.42 Diese Fragestellung greift die lange Geschichte kirchlicher Interventionen in der Stadt in ihrer ganzen Bandbreite auf – eine Geschichte, die mit den urbanen »Bettelorden« der Franziskaner und Dominikaner im Hochmittelalter beginnt und über die stadtmissionarischen Aktivitäten des 19. Jahrhunderts und die »Notkirchenprogramme« der Zwischenkriegszeit bis zur Einrichtung von »Räumen der Stille« an stark frequentierten Punkten der Stadt reicht. Hinter vielen dieser Interventionen steht implizit oder explizit eine ideologische Abwertung städtischen Lebens, die sich in Katholizismus wie Protestantismus bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gehalten hat. Die Stadt gilt aus dieser Perspektive als durch und durch säkularer Raum, den es mit religiösen Institutionen und Zeichen zu durchdringen gilt.43 Verfolgt man die sozialmissionarische Raumfigur von sakralen Orten und ihrer »sündhaften« weltlichen Umgebung historisch zurück, so stößt man auf den pointierten Gegensatz von Kirche und Taverne, den der Historiker Beat Kümin – ausgewiesener Experte für beide Sozialräume innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft – in einem instruktiven Aufsatz als »early modern divide« untersucht hat.44 Ähnlich hat Andreas Holzem die »Kirche als Ort der liturgischen Konzentration und Disziplinierung« dem »Gasthaus als unchristliche[r] Gegenwelt« gegenübergestellt.45 Das 19. Jahrhundert schließlich kann mit einigem Recht als die Hochphase dieser Denkfigur gelten; die industrialisierte und urbanisierte Stadt wurde zum genuinen Schauplatz der Gegenüberstellung von religiöser Ordnung und urbaner Un-Ordnung. Die Industrie- und Arbeiterquartiere, aber auch die Vergnügungsviertel der wachsen-

42 Einen guten Ausgangspunkt für eine grundlegende Interpretation des Christentums und der Kirche als »Missionsmacht« bietet Friedrich H. Tenbruck, Wahrheit und Mission, in: Horst Baier (Hg.), Freiheit und Sachzwang. Beiträge zu Ehren Helmut Schelskys, Opladen 1977, S. 49 – 86. 43 Zum Folgenden vgl. ausführlicher: Jens Wietschorke, Urbanität und Mission – Die evangelikale Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jörg Pohlan u. a. (Hg.), Jahrbuch StadtRegion 2011/2012. Schwerpunkt Stadt und Religion, Opladen, Berlin / Toronto 2012, S. 39 – 59; Ders., Die Stadt als Missionsraum. Zur kulturellen Logik sozialer Mission in der klassischen Moderne, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 24 (2013), Heft 2, S. 21 – 46. Der vorliegende Abschnitt schließt in einigen Teilen eng an den letztgenannten Beitrag an. 44 Beat Kümin, Sacred church and worldly tavern: reassessing an early modern divide, in: Will Coster / Andrew Spicer (Hg.), Sacred Space in Early Modern Europe, Cambridge 2005, S. 17 – 38. 45 Andreas Holzem, Kirche – Kirchhof – Gasthaus. Konflikte um öffentliche Kommunikationsräume in westfälischen Dörfern der Frühen Neuzeit, in: Susanne Rau / Gerd Schwerhoff (Hg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2008, S. 447 – 468, hier S. 451 und 453.

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den Großstädte wurden als eine »terra incognita« imaginiert, in die man christliche Rettungsanker werfen müsse.46 In diesem Raumbild liegt ein Ausgangspunkt der Inneren Mission und Stadtmission, die sich zur Aufgabe machte, das Licht des Christentums auch in die »dunklen Zonen« der eigenen Gesellschaft hineinzutragen. Nach Paul Wursters Missionslehre von 1895 verstand man unter Innerer Mission die »Ausdehnung der kirchlichen Wortverkündigung auf Gebiete, welche von dem geordneten Amt nicht erreicht werden«.47 Diese Gebiete erschienen aus dieser Perspektive als »blinde Flecken«, die zu erschließen und zu evangelisieren waren. Innere Mission aber war mehr als nur Wortverkündigung: Sie verfolgte, wie beispielsweise Jochen-Christoph Kaiser gezeigt hat, einen umfassenden »kulturellen Formierungsanspruch« und sah ihre eigene Arbeit immer »mit Bezug auf das ganze geistig-kulturelle und soziale Leben der Zeit«.48 Religiöse, soziale und explizit politische Motive waren hier also von Beginn an eng verbunden: Auf dem Wittenberger Kirchentag von 1848 thematisierte Johann Hinrich Wichern die sozialen Krisenherde, die zur Revolution beigetragen hatten, und leitete aus diesem Befund die Notwendigkeit der Inneren Mission als vorbeugende Strategie gegen revolutionäre Bewegungen ab.49 Diese religiös gefasste Wahrnehmung der sozialen Frage hatte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Konjunktur, als die öffentliche Aufmerksamkeit für religiöse Fragen in der Industriegesellschaft sprunghaft anstieg.50 Das Szenario einer allgemeinen Glaubenskrise erzeugte aus Sicht der Kirchen dringenden Handlungsbedarf. Konkret umgesetzt wurde die soziale Mission in der Stadt vielfach durch die Implementierung von Kirchenbauten, Gemeindezentren, »Rettungshäusern«, Siedlungen und Heimen – durch Einrichtung von spezifischen religiösen Räumen in der Stadt also, die der »unchristlichen« Umgebung entgegengesetzt wurden. Der erste Leiter der Berliner Stadtmission und 46 Zur missionarischen Funktion von Kirchenarchitektur speziell in diesem Zusammenhang vgl. auch Uta Karstein, Missionierung im Medium Architektur. Zur Rolle des Kirchenbaus bei der Reintegration der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert, in: Martina Löw (Hg.), Vielfalt und Zusammenhalt. Verhandlungen des 36. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bochum (CD-ROM), Frankfurt am Main / New York 2014. 47 Paul Wurster, Die Lehre von der Inneren Mission, Berlin 1895, S. 334. 48 Jochen-Christoph Kaiser, Volksmission als gesellschaftliche Sinnstiftung: Der kulturelle Formierungsanspruch der Inneren Mission, in: Ders., Evangelische Kirche und sozialer Staat. Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert, herausgegeben von Volker Herrmann, Stuttgart 2008, S. 31 – 43, hier S. 43. 49 Vgl. Helmut Talazko, Märzrevolution und Wittenberger Kirchentag, in: Ursula Röper / Carola Jüllig (Hg.), Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848 – 1998, Berlin 1998, S. 58 – 67, insbes. S. 65. 50 Vgl. Rebekka Habermas, Piety, Power, and Powerlessness: Religion and Religious Groups in Germany, 1870 – 1945, in: Helmut Walser Smith (Hg.), The Oxford Handbook of Modern German History, New York 2011, S. 453 – 480, hier S. 455.

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fanatische Antisemit Adolf Stoecker etwa organisierte – so Hans-Jürgen Teuteberg – fast generalstabsmäßig geplante »Angriffe« auf das entkirchlichte Berlin: Kindergottesdienste, Gefangenenfürsorge und Kleinkinderschulen entstanden, Nähstuben, Wärmehallen und »Feierabend-Häuser«, aber auch Männer-, Frauen-, Jünglings- und Jungfrauenvereine wurden gegründet und erstmals einfache Arbeiter, Handwerker und Angestellte als Laienhelfer gewonnen.51

Das von der Inneren Mission geknüpfte »Netz der Liebe« 52 überspannte bald die ganze Stadt und setzte der Topographie der Unsittlichkeit und des Massenvergnügens eine eigene »Topographie der Rettung« entgegen. Kaum ein Beispiel bildet diesen Prozess so anschaulich ab wie das der Einrichtung der ersten Zentralniederlassung der Berliner Stadtmission durch Stoecker.53 1884 nämlich bezogen die Missionare ein geräumiges Gebäude in Kreuzberg, in dem zuvor »Callenbachs Theater-Varieté« untergebracht war.54 Zu dieser Ortswahl dürfte nicht nur der Platzbedarf der Stadtmission bei größeren Missionspredigten beigetragen haben, sondern auch der symbolische Aspekt, dass man damit ein explizit »feindliches Territorium« besetzen konnte. Es versteht sich von selbst, dass sich der Status und auch der Charakter religiöser Topographien im Verlauf der westlichen Moderne gravierend gewandelt haben. Unabhängig von den Diskussionen um die Säkularisierungsthese hat die Verbindlichkeit von Einschreibungen des »Heiligen« in den Stadtraum, wie sie am Beispiel Roms in Renaissance und Barock deutlich geworden sind, stark nachgelassen; Jürgen Mohn hat in diesem Zusammenhang vor allem auf die Diversifikation des Religiösen hingewiesen, durch die die Möglichkeit einer hegemonialen religiösen Deutung der Stadt als Ganzes kaum noch gegeben ist.55 Längst sind die beiden großen christlichen Konfessionen mit ihren

51 Hans-Jürgen Teuteberg, Moderne Verstädterung und kirchliches Leben in Berlin. Forschungsergebnisse und Forschungsprobleme, in: Kaspar Elm / Hans-Dietrich Loock (Hg.), Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Berlin / New York, S. 161 – 200, hier S. 185. 52 Bettina Hitzer, Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849 – 1914), Köln 2006. 53 Zur Entwicklung der Berliner Stadtmission allgemein vgl. Martin Greschat, Die Berliner Stadtmission, in: Kaspar Elm / Hans-Dietrich Loock (Hg.), Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Berlin / New York 1990, S. 451 – 474. 54 Vgl. Marina Wesner, Kreuzberg und seine Gotteshäuser. Kirchen – Moscheen – Synagogen – Tempel, Berlin 2007, S. 87. 55 Jürgen Mohn, Die Auflösung religiöser Topographien der Stadt? Anmerkungen zur Diversifikation des Religiösen im Raum des Öffentlichen, in: Kunst und Kir-

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Kirchengebäuden und Gemeindezentren nicht mehr die allein dominierenden Repräsentanten von Religion in der Stadt. Vielmehr ist die Vielfalt religiöser Glaubensrichtungen und Praktiken im Stadtraum sichtbar geworden.56 In ihrer Publikation über Berlin-Kreuzberg hat Marina Wesner die religiöse Topographie dieses Stadtteils nachgezeichnet und deren ganzes Spektrum – von Stülers evangelischer Jacobi-Kirche über den Hindu-Tempel in der Urbanstraße bis hin zum Islamischen Kulturzentrum der Bosniaken in der Adalbertstraße – aufgefächert.57 Was hingegen fortzudauern scheint, ist die im Grundansatz missionarische (Selbst-)Wahrnehmung religiöser Institutionen in der Großstadt, die sich als Interventionen gegen die »Anonymität« oder »Beliebigkeit« der Stadt verstehen. Nicht selten tauchen hier die alten antiurbanen Deutungsmuster der Missions- und Seelsorgegeschichte wieder auf.58 So arbeiten sich theologische und populäre Publikationen bis heute immer noch an den reichlich anachronistischen Fragen ab, ob die Stadt wohl ein »Menschen- und Religionskiller« sei,59 ob »der Großstädter Gott und der Kirche den Rücken gekehrt« habe,60 ob die Stadt »a blessing or a curse« sei – oder sie fragen schlicht und einfach: »How Wicked are the Cities?«.61 Buchtitel wie »Menschlich leben in der verstädterten Gesellschaft« 62 dokumentieren schon im Aufriss des Themas einen antiurbanen Reflex. Die Stadt wird selbst in neuesten Stellungnahmen nach wie vor unter den Vorzeichen von »Hoffnung und Abgrund« behandelt,63 und heutige Wunschformeln wie die, dass »unsere Städte wieder zur Heimat zu werden vermögen«,64 lassen sich bis in den Wortlaut hinein schon in den antiurbanen

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che. Ökumenische Zeitschrift für zeitgenössische Kunst und Architektur 71 (2008), Heft 4, S. 24 – 28. Vgl. zum Folgenden etwas ausführlicher: Wietschorke, Urbanität und Mission, insbesondere S. 54 – 56. Siehe außerdem den Beitrag über Chicago von Lowell W. Livezey, The New Context of Urban Religion, in: Ders. (Hg.), Public Religion and Urban Transformation: Faith in the City, New York / London 2000, S. 3 – 25. Wesner, Kreuzberg und seine Gotteshäuser. Vgl. dazu z. B. die Fallstudie Matthew J. Price, Place, Race, and History. The Social Mission of Downtown Churches, in: Lowell Livezey (Hg.), Public Religion and Urban Transformation: Faith in the City, New York 2000, S. 57 – 82. Herman de Bruin / Walter Bröckers, Stadt-Seelsorge. Wege für die Praxis – Wege mit den Menschen, Frankfurt am Main 1991, S. 21. De Bruin / Bröckers, Stadt-Seelsorge, S. 62. Mark Hammond / Don Overstreet, God’s Call to the City, Bloomington 2011, S. 1, 75. Christof Bäumler, Menschlich leben in der verstädterten Gesellschaft. Kirchliche Praxis zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Gütersloh 1993. Eveline Valtink, Stadt als Hoffnung und Abgrund, in: Carsten Burfeind / Hans-Günter Heimbrock / Anke Spory (Hg.), Religion und Urbanität: Herausforderungen für Kirche und Gesellschaft, Münster 2009, S. 155 – 160. Valtink, Stadt als Hoffnung und Abgrund, S. 160.

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Pamphleten der Inneren Mission der vorletzten Jahrhundertwende finden. Die Großstadt »zwischen Babylon und Jerusalem«: 65 Für die Kirche und ihre Vertreter scheint im Hinblick auf die Großstadt also noch immer das alte Licht / Dunkel-Modell relevant zu sein, wie es die Bewertung der evangelikalen Stadt im 19. Jahrhundert prägte – auch dies ein Hinweis auf die ungeheure »Persistenz säkularer wie religiöser Deutungsmuster des 19. Jahrhunderts«.66

Gegenreformation und »Pietas Austriaca«: Habsburgische Staatsideologie in Mariahilf Nach Ernst Hanisch muss eine »historische Tiefenanalyse« der politischen Kultur in Österreich zumindest auf den Staatsbildungsprozeß des 17. Jahrhunderts zurückgehen, eine Schwellenzeit, die herrschaftsmäßig durch den Absolutismus und kulturell durch das Barock geprägt war. Österreich entstand in seiner damaligen Form als Kreuzzug-Empire – im Kampf gegen den äußeren Feind, die Türken, und gegen den inneren Feind, den Protestantismus. Diese Form der Staatsbildung brachte eine enge Koalition von absolutistischer Monarchie, Militär, Bürokratie und Kirche; als übernationales Reich jedoch bot die Monarchie Raum für viele Ethnien.67

Gleichzeitig sind mit den beiden Feindbildern auch die entscheidenden ideologischen Markierungen benannt, über die sich der nachtridentinische Katholizismus in Österreich – auch als Staatsdoktrin – konstituiert hat. Diese politisch aufgeladene »Pietas Austriaca« 68 manifestierte sich in vielfacher Weise in religiösen Bauten und Kirchenausstattungen. Zwischen der tridentinischen Zeit und der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde Wien durch den Neubau von Kirchen und Klöstern zu einer »einzigen Großbaustelle«.69 Exemplarisch zeigen die 1693 fertiggestellte Pestsäule am Graben und die 1716 – 1737 errichtete

65 Michael Theobald / Werner Simon (Hg.), Zwischen Babylon und Jerusalem. Beiträge zu einer Theologie der Stadt, Berlin 1988. 66 Rebekka Habermas, Mission im 19. Jahrhundert – Globale Netze des Religiösen, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 629 – 679, hier S. 632. 67 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, S. 25. 68 Vgl. Anna Coreth, Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock, 2. Aufl. Wien 1982; Renate Zedinger, Pietas Austriaca, in: Ernst Bruckmüller / Peter Urbanitsch (Hg.), Ostarrichi – Österreich. Menschen, Mythen, Meilensteine. Österreichische Länderausstellung 1996, Horn 1996, S. 303 – 305; Thomas Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter, Band 2, Wien 2003, S. 185 – 239. 69 Karl Vocelka, Kirchengeschichte, in: Peter Csendes / Ferdinand Opll (Hg.), Wien.

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Karlskirche, wie der imperiale Anspruch der Habsburgermonarchie durch den Rückgriff auf religiöse Deutungsmuster gestützt und legitimiert wurde. So integriert die Pestsäule den betenden Kaiser Leopold I. in das theologische Programm der Dreifaltigkeit und stellt über die Positionierung der Wappen der habsburgischen Kernlande sowie der ungarischen und böhmischen Kronländer eine sinnreiche Analogie her: Der dem Gottvater vorbehaltene westliche Flügel der Säule repräsentiert das Heilige Römische Reich und das Haus Habsburg, die Darstellungen des Gottessohnes und des Heiligen Geistes am östlichen und nördlichen Flügel werden mit den Länderwappen der Stephans- und der Wenzelskrone verbunden.70 Gesteigert wurde dieser imperiale Gedanke im Bau der Karlskirche auf dem Glacisbereich vor den Mauern der Stadt. Nicht nur, dass sich Kaiser Karl VI. durch die Wahl seines eigenen Namenspatrons Karl Borromäus ins symbolische Zentrum seiner »Gelöbniskirche« rückte, die Architektur des Kirchenbaus formuliert darüber hinaus – im Zeichen der soeben siegreich bestandenen Türkenkriege – einen nahezu weltumspannenden Herrschaftsanspruch. Die beiden freistehenden Säulen zitieren mit ihren Reliefbändern die römischen Triumphsäulen Marc Aurels und Trajans, erinnern aber auch an islamische Minarette.71 Die Säulenvorhalle übernimmt Bauformen des Pantheon und von St. Peter in Rom, die flankierenden Glockenpavillons sind als fernöstliche Pagoden gestaltet. Insgesamt ergibt sich daraus eine grandiose politische Herrschaftsgeste der Gegenreformation, welche die Vormachtstellung des katholischen Imperiums über den Protestantismus und die islamische Welt zum Ausdruck bringen sollte – überdeutlich übrigens auch auf Johann Michael Rottmayrs Kuppelfresko, auf dem Martin Luther mit einem Federkiel zu sehen ist, während ein Engel das zu Boden stürzende Manuskript seiner Bibelübersetzung mittels einer Fackel in Brand setzt. Im Innern der Habsburgermonarchie zielte diese Herrschaftsgeste auf die umfassende Rekatholisierung und Sozialdisziplinierung der Untertanen, deren Seelenheil an die Anerkennung der religiös überhöhten Staatsmacht gebunden wurde.72 Das tridentinische Konzil und die Gegenreformation brachten zwei Tendenzen mit sich, die im Hinblick auf eine politische Kulturgeschichte der sa-

Geschichte einer Stadt. Band 2: Die frühneuzeitliche Residenz (16.– 18. Jahrhundert), Wien / Köln / Weimar 2003, S. 311 – 363, hier S. 342. 70 Vgl. Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht, Band 2, S. 188 – 192; Christine M. Boeckl, Vienna’s Pestsäule: The Analysis of a Seicento Plague Monument, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 49 (1996), S. 41 – 56 und 295 – 302. 71 Zur Deutung der Schausäulen als Minarette vgl. z. B. Hans Sedlmayr, Die Schauseite der Karlskirche in Wien, in: Wolfgang Braunfels (Hg.), Kunstgeschichtliche Studien für Hans Kauffmann, Berlin 1956, S. 262 – 271. 72 Vgl. dazu den Sammelband von Rudolf Leeb / Susanne Claudine Pils / Thomas Winkelbauer (Hg.), Staatsmacht und Seelenheil. Gegenreformation und Geheimprotestantismus in der Habsburgermonarchie, Wien 2007.

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kralen Räume von zentraler Bedeutung sind. Zum einen wurde eine umfassende Resakralisierung des Kirchenraums in Gang gesetzt: Kirchenvisitatoren ordneten die Entfernung von Lebensmittelvorräten, Gerätschaften und Werkzeugen an, die bisher in Kirchenräumen gelagert wurden und auf die ehemalige kollektive und funktionale Nutzungsgeschichte dieser Räume hinweisen. Lettner und andere Einbauten wurden abgebrochen, um den Blick auf Altar und Tabernakel freizugeben und so den Altarraum als das liturgische Handlungszentrum des Kirchenraums in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken.73 Indem Sakrales und Profanes stärker voneinander getrennt wurden, versuchte man, die symbolische Kraft des »heiligen Raumes« zu verstärken. Gleichzeitig ist mit der barocken Kirchenkunst ab dem frühen 17. Jahrhundert eine neue, gleichsam populistische Medialisierung des Kirchenraums zu konstatieren: Im Gegensatz zu den »kühle[n], komplizierte[n], intellektualistische[n]« 74 Formen der Renaissance und des Manierismus war die barocke Theatralik durchaus auf die populäre Vermittlung von Glaubensinhalten und damit auch politischen Ideen ausgerichtet. »Es ist dies die Reaktion teils einer an und für sich populären, teils einer zwar von der herrschenden Bildungsschicht getragenen, auf die breiteren Massen jedoch mehr Rücksicht nehmenden Kunstauffassung gegen die geistesaristokratische Exklusivität der vorangegangenen Periode«.75 Zugleich entstand hier – ausgehend von Italien und der Malerfamilie Caracci – die einfache und feste Allegorik, von der die Entwicklung des modernen Devotionsbildes mit seinen stehenden Sinnbildern und Formeln, dem Kreuz, dem Glorienschein, der Lilie, dem Totenschädel, dem himmelnden Blick, den Ekstasen der Liebe und des Leidens, ihren Ausgang nimmt. Die geistliche Kunst differenziert sich von der profanen erst jetzt in endgültiger Weise.76

Interpretiert man die Resakralisierung der kirchlichen Räume und der kirchlichen Kunst in Österreich vor dem Hintergrund der politischen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts, so lässt sich konstatieren, dass mit der Sakralisierung zugleich eine starke Politisierung verbunden war. Das betrifft zunächst die ästhetischen Formen, in denen eine Annäherung zwischen höfischer und kirchlicher Repräsentationskunst zu konstatieren ist; das betrifft aber vor allem die Art und Wiese, wie christliche Ikonographie nun in den Dienst politischer Programme gestellt wurde. Zwar setzte sich diese Ikonographie als dezidiert

73 Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht, Band 2, S. 140 – 141. 74 Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1953, S. 466. 75 Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 466. Anregende Überlegungen zur Engführung von kirchlicher Propaganda und theatralischen Formen bietet Gerhardt Kapner, Barocker Heiligenkult in Wien und seine Träger, Wien 1978, S. 86 – 103. 76 Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 467.

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»sakral« von den »weltlichen« Lebensbereichen ab, gleichzeitig aber lag gerade darin ihre besondere Kraft zur Sakralisierung profaner und politischer Inhalte. Die forcierte Heiligenverehrung der nachtridentinischen Zeit diente nicht zuletzt als ideologischer Kitt der Verbindung zwischen Staat und römischer Kirche und kommunizierte zugleich diese Verbindung in die Gesellschaft hinein. So wurde die verordnete Heiligenverehrung zu einer Form von Staatsraison, »etwa den Ständen gegenüber, deren Unterwerfung unter die Prinzipien des werdenden fürstlichen Absolutismus an der Bereitwilligkeit gemessen werden konnte, dem Monarchen in dieser Kultform zu folgen«.77 Gerhardt Kapner spricht in seiner vorzüglichen Studie über den barocken Heiligenkult in Wien von einer auf Konformität zielenden »symbolischen Gewalt« des habsburgischen Staates, die über das Instrument der Heiligenverehrung ausgeübt wurde.78 Dabei erkannte man insbesondere die »Sinnlichkeit« der barocken Ästhetik als ein Mittel, »Wirkungen auf den Betrachter über alle fünf Sinne heranzuziehen«.79 In diesem Sinne können die im Zuge der gegenreformatorischen »Pietas Austriaca« als Teil der habsburgischen Staatsideologie im 17. und 18. Jahrhundert entwickelten Raum- und Bildkonzeptionen des Barock als Instrument einer gleichzeitigen Konfessionalisierung und Politisierung der breiten Bevölkerung im Sinne eines sich durch den doppelten Kampf gegen Protestantismus und Islam neu positionierenden militanten Katholizismus verstanden werden. Vermittelt über Kirchenräume und räumliche Codierungen, wurde katholische Religiosität als eine emotionale Praxis befördert, in welche die für die »christlich-abendländische« Gesellschaft konstitutiven Exklusionsgesten eingeschrieben sind und durch die sie alltäglich reproduziert und stabilisiert wurden.80 An der in drei Bauphasen zwischen 1686 und 1726 errichteten barocken Wallfahrtskirche im sechsten Wiener Gemeindebezirk Mariahilf kann die Symbolpolitik der »Pietas Austriaca« exemplarisch nachvollzogen und am konkreten Beispiel eines Kirchenraumes untersucht werden. Diese Kirche steht kaum im Fokus des touristischen Interesses, ist aber als Gravitationszentrum einer starken Wiener Wallfahrtsbewegung von historischer Bedeutung. Vor allem aber spiegelt die Kirche schon mit ihrer Baugeschichte den Kontext der Gegenreformation und des Barockkatholizismus in Österreich und dokumentiert in

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Kapner, Barocker Heiligenkult in Wien, S. 10. Kapner, Barocker Heiligenkult in Wien, S. 10. Kapner, Barocker Heiligenkult in Wien, S. 11. Zu Raumkonzeptionen in der Kirchenarchitektur der Gegenreformation vgl. auch die Fallstudie von Jörg Stabenow, Die Architektur der Barnabiten. Raumkonzept und Identität in den Kirchenbauten eines Ordens der Gegenreformation 1600 – 1630, Berlin / München 2011.

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verdichteter Form dessen konstitutives politisches Narrativ.81 In dessen Mittelpunkt steht die heilige Maria; nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 wurde die Muttergottes hier zu einer militärischen Symbolfigur, die vor allem von den Kaisern Ferdinand II., Ferdinand III. und Leopold I. propagiert wurde. Maria erschien als die »Generalissima« der Habsburgermonarchie, die als die entscheidende Helferin vor allem bei der Schlacht am Weißen Berg 1620 und schließlich während der Türkenkriege galt.82 Insbesondere Leopold I. forcierte den Ausbau marianischer Kultstätten in Wien und legte in den Vorstädten einen »cordon militaire« aus mit Gnadenbildern ausgestatteten »marianischen Vorwerken« an.83 Aus der Zeit der zweiten Türkenbelagerung stammt denn auch der mariologische Gründungsmythos der Kirche: Das Gnadenbild sei wie durch ein Wunder vom damaligen Mesner gerettet worden, und ein weiteres Votivbild habe man 1683 aus dem Schutt der zerstörten Kirche geborgen. »Man nahm den Fund als ein Zeichen des Himmels und überbot sich an Spenden für die neu zu erbauende Wallfahrtskirche«.84 Das Gnadenbild von Mariahilf – eine Kopie nach Lucas Cranach d. Ä. – wurde zur zentralen Attraktion der Kirche und des ganzen Bezirks. Übrigens lässt sich an der Geschichte des Maria-Hilf-Bildes die religionspolitische Dynamik von Profanisierung und Sakralisierung sehr schön nachvollziehen. Cranach, der einen byzantinischen Bildtyp adaptiert hatte, gab sein Werk als Andachtsbild in eine Kirche, von wo aus es in eine fürstliche Gemäldegalerie gelangte. Ein Passauer Domdekan ließ das Bild aus der Sammlung seines Fürstbischofs kopieren, um die Kopie wiederum als Andachtsbild zu verehren. »Dank Visionen und geschickter Kultpropaganda« erreichte das Bild eine enorme Popularität, was dazu führte, dass der Besitzer des Originals, Ferdinand II. dieses in die Innsbrucker Stadtpfarrkirche St. Georg brachte.85 Hier wird deutlich, dass es gesellschaftliche Konjunkturen der Frömmigkeit und Bil81 Die folgenden Überlegungen zur Wallfahrtskirche Mariahilf bieten eine leicht überarbeitete Fassung meiner Analyse in: Wietschorke, Die symbolische Ordnung sakraler Räume, S. 302 – 307. Für eine ausführlichere Kirchenraumanalyse vgl. Ders., Sakraler Raum, Politik und die Ordnung der Heiligen. 82 Vgl. Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht, Band 2, S. 194 – 201. 83 Vgl. Friedrich Polleroß, Renaissance und Barock, in: Peter Csendes / Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt. Band 2: Die frühneuzeitliche Residenz (16. bis 18. Jahrhundert), Wien / Köln / Weimar 2003, S. 453 – 500, S. 469. 84 Salvatorianerkolleg in Wien 6, Die Gnadenmutter zur »Mariahilf« in Wien 6. Dargestellt anläßlich der Feier des 275jährigen Bestandes der Wallfahrt zur Mariahilf im sechsten Wiener Gemeindebezirk, Wien 1935, S. 14. 85 Peter Bernhard Steiner, Mariahilf – Stationen eines Kults zwischen Passau, Arnberg, Innsbruck, München und Wien, in: Rupert Klieber / Hermann Hold (Hg.), Impulse für eine religiöse Alltagsgeschichte des Donau-Alpen-Adria-Raumes, Wien / Köln / Weimar 2005, S. 109 – 127, hier S. 117 – 119. Vgl. zum Kontext ausführlich Walter Hartinger, Mariahilf ob Passau. Volkskundliche Untersuchung der Passauer Wallfahrt und der Mariahilf-Verehrung im deutschsprachigen Raum, Passau 1985.

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dergläubigkeit waren, die den Statuswandel eines einzelnen Bildes zwischen Profanität und Sakralität, zwischen autonomem Kunstwerk und »heiligem« Gnadenbild – bestimmten: Die Nachfrage nach verehrenswürdigen Bildern regulierte deren situatives Angebot als sakrale Ware – und zwar in diesem Fall sogar »auf dem Umweg über die Kopien«.86 Überhaupt lässt sich der Umlauf sakraler Bildmedien in dieser Zeit nur von dem »System von Copien« 87 aus verstehen, über das religiöse Bedeutung reproduziert und von Ort zu Ort weitergereicht wurde. Im Innenraum der Mariahilfer Wallfahrtskirche in Wien fungiert die dortige sakralisierte Cranach-Kopie als das Zentrum, auf das die gesamte symbolische Organisation des Raumes zugeschnitten ist. Sie fordert devotio und setzt, wie David Morgan in seiner Studie »The Embodied Eye« gezeigt hat, nicht nur Blickregimes, sondern auch Körperpraktiken in Gang.88 Auf diese Weise bestimmt sie die Muster der »Frömmigkeitsübung«,89 die disziplinierende Wirkung haben und denen bestimmte Körperhaltungen und emotionale Dispositionen entsprechen. Diese werden – um mit Aby Warburg zu sprechen – als »Pathosformeln« tradiert und immer wieder aktualisiert: Vom Niederknien und Aufblicken bis zum leise gesprochenen Gebet konditioniert das Gnadenbild den einzelnen Gläubigen im Sinne einer Demutshaltung gegenüber der Materialität der Kirchenausstattung. Deren Gegenstände repräsentieren ein heilsgeschichtliches Wissen, das dem Glaubenden als ein machtvolles Dispositiv gegenübertritt. Umgekehrt verleiht erst die eingeübte Demutshaltung dem Bild wie der gesamten Kirchenausstattung ihre praktische sakrale Bedeutung. Diese Bedeutung resultiert damit aus einem dynamischen Spiel aus materiellen Trägern bestimmter Botschaften in einem konkreten räumlichen Arrangement und sozialen Akteuren vor dem Hintergrund spezifischer Sets von Dispositionen und implizitem Wissen. Ein wichtiger Aspekt dieses impliziten Wissens ist mit der Frage nach der politischen Ikonographie berührt. Dass in die Mariahilfer Kirchenausstattung vielfältige politische Botschaften eingeschrieben sind, macht etwa die Präsenz zweier der wichtigsten österreichischen »Reichsheiligen« der Gegenreformation deutlich. Neben der »Generalissima« Maria stiegen im 17. Jahrhundert nämlich insbesondere die männlichen Heiligen Joseph und Johannes Nepo-

86 Steiner, Mariahilf, S. 118. 87 Stefan Laube, Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum, Berlin 2011, S. 434. 88 Vgl. David Morgan, The Embodied Eye. Religious Visual Culture and the Social Life of Feeling, Berkeley / Los Angeles 2012. Zu Morgans Arbeiten zur religiösen visuellen Kultur vgl. meine ausführliche Darstellung in Kapitel 5. 89 Martin Scharfe, Über die Religion. Glaube und Zweifel in der Volkskultur, Köln 2004, S. 150.

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Abb. 3: Mariahilfer Kirche, Altarraum mit Gnadenbild.

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muk zu tragenden religiösen Symbolfiguren der Habsburgermonarchie auf, und beide erhielten in Mariahilf ihren Altar in den Seitenkapellen des zweiten Jochs. Thomas Winkelbauer hat gezeigt, dass die habsburgischen Kaiser sich seit Ferdinand II. bemühten, »die Integration ihres Länderkomplexes auch durch die Propagierung gemeinsamer Kultformen und gemeinsamer Schutzheiliger voranzutreiben«.90 Parallel zur seit 1620 forcierten Marienverehrung stieg auch Joseph von Nazareth in eine neue Hauptrolle auf. 1654 unterstellte Kaiser Ferdinand III. das Königreich Böhmen und die österreichischen Länder dem Schutz des heiligen Joseph, im darauf folgenden Jahr wurde dieser zum besonderen Patron Böhmens erhoben, und unter Leopold I. proklamierte man Joseph sogar zum Hauptpatron des gesamten Heiligen Römischen Reichs und des Kaiserhauses.91 Der zuvor eher zurückhaltende Begleiter Marias wurde so zum »Hausheiligen des Wiener Hofes«.92 In der zweiten Mariahilfer Seitenkapelle auf der rechten Seite laden ein Altar mit der Darstellung von Josephs Tod sowie eine kleine Plastik mit Lilie und Jesuskind zur Andacht ein. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich dann ein Altar des heiligen Johannes Nepomuk, dem nach seiner Heiligsprechung 1729 in besonderer Weise die integrationistischen Bemühungen des Kaiserhauses galten und der in der Folge den heiligen Joseph als diesbezügliche Leitfigur ablöste.93 Seine böhmische Herkunft und sein Martyrium in der Moldau prädestinierten ihn zu einem Patron Böhmens; seine Eingemeindung in die Reihe der österreichischen Hausund Hofheiligen ermöglichte die »Installierung eines allgemein akzeptierten und von allen Bevölkerungsschichten der Kronländer verehrten integrativen ›Staatsheiligen‹«.94 Unweigerlich war und ist der Kniefall vor seinem Altar in der Mariahilfer Kirche auch eine Reverenz an das machtpolitische Dispositiv, das Johannes Nepomuk zur Integrationsfigur erhoben hatte. Der Kirchenraum gibt damit Auskunft über die Formen und Formierungen einer gelebten »Pietas Austriaca«. Praxistheoretisch gefasst, macht er deutlich, dass politische Ikonographien nicht nur aus »Zeichen« bestehen, die textanalog »gelesen« werden

90 Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht, Band 2, S. 201. 91 Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht, Band 2, S. 202 – 205. 92 Vgl. Barbara Mikuda-Hüttel, Vom »Hausmann« zum Hausheiligen des Wiener Hofes. Zur Ikonographie des hl. Joseph im 17. und 18. Jahrhundert (Bau- und Kunstdenkmäler im östlichen Mitteleuropa 4), Marburg 1997; Marie Héyret, Der hl. Joseph als Patron des deutschen Reichs sowie der alten österreichischen Erblande. Ein Beitrag zur Geschichte des Josephskults, Altötting 1921. 93 Vgl. dazu die detaillierte Rekonstruktion des Wiener Nepomukkultes im 18. Jahrhundert und seines politischen Kontextes bei Kapner, Barocker Heiligenkult in Wien, S. 48 – 62. 94 Franz M. Eybl, Abraham a Sancta Clara. Vom Prediger zum Schriftsteller, Tübingen 1992, S. 48. Vgl. auch Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht, Teil 2, S. 208 – 210.

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können, sondern dass sie eingelassen sind in Handlungsprogramme, die sie explizit oder implizit bestätigen. Treten wir vom zweiten Joch des Kirchenschiffs ein paar Schritte zurück, so stehen wir im Eingangsbereich der Kirche – einem Raumsegment, das sowohl der Einstimmung auf den Kirchenbesuch, als auch der »schnellen« Frömmigkeitsübung im Vorübergehen dient. So sind die beiden Altäre in den ersten Seitenkapellen rechts und links mit Darstellungen der Heiligen Antonius und Judas Thaddäus besetzt – und damit zweier Heiliger, die in der alltäglichen popularen Frömmigkeit eine wichtige Rolle spielten und spielen. Als vielseitige Nothelfer sind sie zuständig für die »kleinen« und alltäglichen Probleme; so hilft der »Allround-Heilige« 95 Antonius beim Verlust von Gegenständen sowie als Schutzpatron der Liebenden und Eheleute, der Frauen und Kinder sowie der Haustiere,96 während Judas Thaddäus von ebenso universeller Zuständigkeit in allen Belangen bis hin zu den »schweren Anliegen« ist.97 Ihre Altäre und Darstellungen verweisen weniger auf das Numinose, sondern sorgen gleichsam für die Anschlussfähigkeit des sakralen Raums für den gelebten Alltag. Sie fungieren als Vermittler, Zwischenfiguren und Ansprechpartner; sie machen – zusammen mit den vor den Kapellen platzierten Opferstöcken (für Messintentionen, Blumenschmuck und »die Armen der Pfarre«) und Opferlichtständern – den Eingangsbereich der Kirche zu einem Raum, in dem ein Tausch der symbolischen Güter stattfindet: devotio und materieller Tribut gegen das Versprechen von Beistand und Hilfe.98 Gleichzeitig verknüpfen sie die in die konkrete Alltagsbewältigung integrierten Frömmigkeitsformen wie das schnelle Gebet in spezifischen Anliegen mit dem »großen« heilsgeschichtlich-politischen Programm, das der Kirchenraum als Ganzes präsentiert. Flankiert wird der Eingangsbereich der Kirche von zwei weiteren Opferstöcken, die sich unter Schmuckvitrinen mit Statuetten der die Institution Kirche repräsentierenden »Apostelfürsten« Petrus und Paulus befinden. Hier werden die Eintretenden gleichsam aufgefordert, ihren Beitrag zur Konsolidierung der ecclesia zu entrichten. Zwei Kapellen unter den beiden Türmen schließlich erinnern seit 1927

95 Gottfried Korff, Politischer »Heiligenkult« im 19. und 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Volkskunde 71 (1975), S. 202 – 220, hier S. 208. 96 Vgl. Sabine Poeschel, Handbuch der Ikonographie. Sakrale und profane Themen der bildenden Kunst, Darmstadt 2005, S. 217. 97 Vgl. dazu Herbert Nikitsch, ». . . den unsern Jammer, der anders brennt«. Verortungen der Judas-Thaddäus-Verehrung im Ersten Weltkrieg und in unserer Zeit, in: Gottfried Korff (Hg.), Alliierte im Himmel. Populare Religiosität und Kriegserfahrung, Tübingen 2006, S. 223 – 262. 98 Diese Situation findet sich in zahllosen Wiener Kirchenbauten – als ein besonders musterhaftes Beispiel sei hier der Eingangsbereich der Hietzinger Pfarrkirche Mariä Geburt genannt, in dem sich gleichfalls Statuen der Heiligen Antonius und Judas Thaddäus gegenüberstehen, davor zwei kleine Opferkassen.

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Abb. 4: Opferstock mit Darstellung des Hl. Paulus in der Mariahilfer Kirche.

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(Lourdes-Grotte) und 1956 (Hemma-von-Gurk-Kapelle) an das Thema Wallfahrt und damit an eine Branche religiöser Praxis, die populäre Frömmigkeit und amtskirchliche Vorgaben miteinander verband wie kaum eine zweite. Den Eingangsbereich der Mariahilfer Wallfahrtskirche können wir also als einen Raum verstehen, der ganz konkrete lebensweltliche Elemente und Kategorien miteinander verknüpft und damit die Frömmigkeitspraxis als Geschehen »aus dem Alltag heraus« definiert: Wallfahrt und Armenfürsorge werden ebenso thematisiert wie die Institution Kirche und die persönlichen Sorgen und Nöte der einzelnen Gläubigen. Von diesem verhältnismäßig »profanen« Raum aus werden die Gläubigen in einer theatralischen Steigerung der sakralen Inszenierung zum Gnadenbild im Sanktuarium hin geführt: Die Deckenfresken erzählen das Marienleben von Mariae Geburt bis hin zur Krönung der Himmelskönigin und markieren damit die heilsgeschichtliche Wegstrecke zwischen Eingangsbereich und Chor. Und auch der Anna-Altar mit einem Bild von Johann Michael Rottmayr und die Gestik des am vorderen rechten Vierungspfeiler angebrachten Engels weisen auf die Marienlegende und in Richtung Gnadenbild hin. Der Kirchenraum lässt sich damit als ein theologisch-didaktisches Arrangement lesen, das die Grundelemente der »Pietas Austriaca« nicht nur ikonographisch vorführt, sondern auch ganz praktisch in die alltäglichen Routinen der KirchenbesucherInnen einbettet. Damit übersetzt er die Theologie gleichsam in Alltagspraxis und trägt zur Habitualisierung ihrer Dogmen und sozialmoralischen Leitlinien bei.

Vom Josephinismus zur politischen Romantik des 19. Jahrhunderts Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die römisch-katholische Kirche eine »grundbesitzende Adelskirche«,99 die auf einem etablierten Pfründensystem basierte und ihre Funktionsträger vor allem aus den Kreisen des niederen Adels bezog. Insbesondere die höchsten Positionen wie »die Bischofsstühle im Reich waren fest in adeliger Hand, seit dem 17. Jahrhundert war es keinem Bürgersohn mehr gelungen, in der geistlichen Hierarchie so weit aufzusteigen«.100 Der Raum der Kirche fungierte somit nicht nur als Legitimationsinstanz der europäischen Monarchien, auf die »kein gekröntes Haupt Europas [. . . ] verzichten« 101 wollte, sondern auch als Stütze des Systems der Adelherrschaft auf allen Ebenen sozialer Reproduktion. In der Umbruchszeit zwischen 1750 und 1850, deren religionsgeschichtliche Konturen Rudolf Schlögl eingehend beschrieben

99 Rudolf Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750 – 1850, Frankfurt am Main 2013, S. 28. 100 Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt, S. 63. 101 Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt, S. 25.

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hat, wurden – insbesondere durch den Schock der Französischen Revolution – diese politischen Selbstverständlichkeiten immer stärker in Frage gestellt. Das religiöse Feld gewann an relativer Autonomie, die Kirche als Herrschaftsform und Heilsinstitution verlor dafür aber an allgemeiner Akzeptanz – ein Prozess, der das Verhältnis zwischen Kirche und bürgerlicher Gesellschaft im 19. Jahrhundert wesentlich bestimmen sollte: Der religiöse Raum, den die Kirche als verherrschaftete Institution umschrieb, und der Raum der weltlichen Herrschaft ließen sich für die Menschen seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts kaum mehr aufeinander abbilden. Sie traten auseinander mit der Folge, dass die sich konsolidierende Staatlichkeit keine Skrupel mehr empfand, den Raum der Kirche zu gestalten, bei Bedarf auch zu beschneiden. Umgekehrt hatte Religion sich in ihrer institutionellen und semantischen Erscheinung darauf einzustellen, dass sie inmitten einer Welt ohne Religion zu einer eigenen Lebensordnung und einem eigenständigen Sozialzusammenhang kondensierte, dessen Zwecke und Rationalitäten in der übrigen Gesellschaft nicht mehr mit Selbstverständlichkeit akzeptiert waren.102

Um die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in Wien und Österreich verstehen zu können, ist es zunächst notwendig, einen kurzen Blick auf die Zeit der Reformen Josephs II. zu werfen. Denn hier wurde das Verhältnis von Staat und Kirche vollkommen neu justiert; der Josephinismus kann als »die am weitesten durchgeführte Variante des Staatskirchentums der Neuzeit« angesehen werden.103 Die josephinische Variante des Staatskirchentums basierte aber gerade auf einer prinzipiellen Entkoppelung von Religion und Politik, die dazu diente, den Primat der Religion über die Politik zurückzuweisen. Recht und Staat wurden ihres übernatürlichen Ursprungs entkleidet, Ziel war der zentralistisch und absolutistisch verwaltete Wohlfahrtsstaat, dessen Nützlichkeitsstandpunkt sich alles zu unterwerfen hatte, auch die Kirche. Ihre Bedeutung wurde nicht so sehr im Transzendentalen gesehen, sondern in dem Bestreben, auf sittlicher Ebene die Glückseligkeit des Menschen zu fördern. Von da her leitete sich der Staat das Recht ab, alle Äußerungen des Religiösen zu überwachen.104

Mit dem Toleranzpatent von 1781 endete das Prinzip der bisherigen Religionspolitik, »Akatholiken als Kriminelle einzustufen«, zugleich wurde die seelsorge-

102 Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt, S. 27. 103 Klaus Fitschen, Der Katholizismus von 1648 bis 1870 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen Band III / 8), Leipzig 1997, S. 55. 104 Annemarie Fenzl, Vom Wollen zur Tat. Die große Pfarrregulierung im Rahmen der josephinischen Kirchenreformen, in: Josephinische Pfarrgründungen in Wien. 92. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Karlsplatz, 22. Februar bis 9. Juni 1985, Wien 1985, S. 11 – 20, hier S. 11.

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rische Betreuung der Bevölkerung durch Einrichtung zahlreicher neuer Pfarren intensiviert.105 Damit war eine klare Verschiebung der religiösen Unterweisung verbunden – hin zu einer neuen Entsakralisierung der kirchlichen Landschaft. Die Zurückdrängung traditioneller liturgischer Formen, die Restriktionen etwa auf dem Gebiet der Kirchenmusik 106 und vor allem die Aufhebung von 700 bis 800 Klöstern, deren Vermögen einem staatlichen »Religionsfonds« zuflossen, trugen zur Formierung eines neuen, nüchternen und an der Staatsraison orientierten Katholizismus bei.107 Die Einflussmöglichkeiten der Geistlichen auf die Bevölkerung im Sinne der Stabilisierung staatsbürgerlicher Ordnung wurden neu entdeckt, gerade auch im Hinblick auf traditionelle Techniken der Innerlichkeitskontrolle und Innerlichkeitsproduktion wie der Beichte. In einem zeitgenössischen Bericht heißt es dazu: Die Geistlichkeit hat das Hertz des gesamten Volkes (und hierunter gehören auch alle hohen Klaßen der Staatsglieder) in dem geheimen Gerichte des Beichtstuhls in seinen Händen; dort kann der Verstand und der Wille des Menschen in Bezug auf Pflichten noch weit dringender als auf der Kanzel geleitet werden, weil es in geheim und unter Umständen des demüthigen Anklägers seiner selbst geschieht, wo folglich der Eindruk stärker wirket. Hat man also rechtschaffen gebildete Priester, werden diese gewiß die ächte Moral und alle daher fließende Schuldigkeiten gegen den Fürsten, Staat und Nebenmenschen kräftig verbreiten.108

Zwischen 1740 und 1790 – also während der Regierungsperioden Maria Theresias und Josephs II. – entstand in den Vorstädten und teils auch außerhalb des Linienwalls ein weiteres Netz aus 15 Kirchenneubauten.109 Dieser Ausbau ist im erweiterten Kontext der »Verdichtung und Stabilisierung monarchischer 105 Peter G. Tropper, Von der katholischen Erneuerung bis zur Säkularisation – 1648 bis 1815, in: Rudolf Leeb u. a., Geschichte des Christentums in Österreich. Von der Spätantike bis zur Gegenwart, Wien 2003, S. 281 – 360, hier S. 296 – 297. 106 So war nach der Modifizierung der Gottesdienstordnung durch das Hofdekret vom 20. Juni 1786 in den gesamten habsburgischen Erblanden nur noch das Messlied »Wir werfen uns darnieder« aus dem Gesangbuch Maria Theresias als »Normalmessgesang« erlaubt. Vgl. Tropper, Von der katholischen Erneuerung bis zur Säkularisation, S. 297 – 298. 107 Vgl. die knappe Darstellung bei Tropper, Von der katholischen Erneuerung bis zur Säkularisation, S. 296 – 299. Für eine ausführlichere Darstellung des Josephinismus im geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext vgl. Harm Klueting, The Catholic Enlightenment in Austria or the Habsburg Lands, in: Ulrich L. Lehner / Michael Printy (Hg.), A Companion to the Catholic Enlightenment in Europe, Leiden 2010, S. 127 – 164. 108 Zit. nach Tropper, Von der katholischen Erneuerung bis zur Säkularisation, S. 299. 109 Vgl. Karl Vocelka, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat, Wien 2001, S. 207. Eine kartographische Darstellung der kirchlichen Bautätigkeit zwischen 1750 und 1830

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Herrschaft« durch Kirche und Religion zu sehen. Gerade im Habsburgerreich »stellte sich die Kirchenfrage [. . . ] vor allem als Problem der Vereinheitlichung von kirchlichen Organisationsstrukturen und ihrer Anpassung an die Verwaltungsintensivierung und Reformabsichten aufgeklärter Staatlichkeit«.110 Der neuen Idee von Kirche als staatsbürgerliche Erziehungsinstitution entsprachen überschaubare Innenräume, die nicht nur schlicht ausgestattet, sondern vor allem darauf ausgerichtet waren, dass der Altar gut eingesehen und das priesterliche Wort gut gehört werden konnte.111 Chor und Besucherraum rückten zusammen, wodurch die barocke Tendenz zur Hierarchisierung des Raums zurückgenommen wurde und seine Funktion als Versammlungssaal betont wurde.112 Zentrale Baurichtlinien sahen Saalkirchen mit Einturmfront vor; der präferierte Baustil unter Joseph II. war der Klassizismus Canevalescher Prägung.113 Ein paradigmatischer Bau des Josephinismus in Wien ist die Atzgersdorfer Pfarrkirche St. Katharina, ein Bau, der sich sogar »vom Formengut des kubisch orientierten Revolutionsklassizismus inspiriert« 114 zeigt und damit eine dezidiert antikirchliche architektonische Signatur auf den Kirchenbau überträgt. Vereinzelt wurden aber auch – wie im Fall der Augustinerkirche und der Minoritenkirche im Stadtzentrum – mittelalterliche Kirchenräume, die barockisiert worden waren, wieder regotisiert: auch dies ein deutliches Statement im Sinne einer stilistischen Distanzierung von Rom.115 Mit dem Einschnitt des Josephinismus endete die Praxis der Simultanmessen in den katholischen Kirchenräumen: In neugebauten Kirchen war einer Verordnung von 1785 zufolge nur mehr ein Altar erlaubt,116 was eine weitere Zentralisierung und Fokussierung des gottesdienstlichen Geschehens bedeutete. Seitenaltäre bestehender Kirchen durften nicht mehr beleuchtet, Kerzen und Rauchwerk nicht mehr im Kirchenraum verkauft werden. Die musikalische Begleitung der Gemeinde wurde auf die Orgel beschränkt. Zudem war nun die Ausstellung von Reli-

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findet sich bei Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 11. Zu den josephinischen Pfarrgründungen im engeren Sinn vgl. den Ausstellungskatalog Josephinische Pfarrgründungen in Wien. 92. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Karlsplatz, 22. Februar bis 9. Juni 1985, Wien 1985. Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt, S. 92 – 93. Vgl. Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 9. Vgl. Renate Kassal-Mikula, Der josephinische Kirchenbau in Wien, in: Josephinische Pfarrgründungen in Wien. 92. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Karlsplatz, 22. Februar bis 9. Juni 1985, Wien 1985, S. 51 – 53, hier S. 53. Vgl. Vocelka, Glanz und Untergang, S. 207. Kassal-Mikula, Der josephinische Kirchenbau in Wien, S. 52. Vgl. Kassal-Mikula, Der josephinische Kirchenbau in Wien, S. 52. Vgl. Vocelka, Glanz und Untergang, S. 207 – 208.

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quien verboten; Votivbilder mussten aus Kirchenräumen entfernt werden.117 Maßnahmen wie diese lassen sich als Versuch verstehen, den Raum zu pragmatisieren und ihm sinnliche, »atmosphärische« Anmutungsqualitäten zu nehmen, um die konzentrierte Aufmerksamkeit für das gesprochene Wort nicht zu zerstreuen. Karl Vocelka spricht denn auch zusammenfassend von »protestantisierenden Veränderungen im katholischen Bereich«.118 Das Staatskirchentum des Josephinismus provozierte im Laufe des 19. Jahrhunderts massive Gegenbewegungen. Zunächst hatte schon Leopold II. der Kirche vereinzelt wieder Zugeständnisse gemacht – nicht zuletzt auf Wunsch des Wiener Fürsterzbischofs Kardinal Christoph Anton von Migazzi, der zu Beginn seiner Amtszeit noch ein wesentlicher Unterstützer der Reformpolitik gewesen war.119 Bald nach dem Ende der Befreiungskriege machten sich Tendenzen zur Wiederherstellung einer stärker autonomen und im gegenreformatorischen Sinne »sakralisierten« Kirche bemerkbar. Die 1816 gegründete Bildungsanstalt für Weltpriester zum heiligen Augustin in den Räumen des aufgelösten Augustinerklosters in Wien »Frintaneum« wurde zur wichtigsten »Kaderschmiede« für katholische Geistliche im Habsburgerreich; seine Absolventen erlangten eine Reihe von Schlüsselpositionen bis hinauf zum Kardinalat.120 Ab 1808 traten zudem mit dem Redemptoristen Clemens Maria Hofbauer und seinem Kreis Akteure auf den Plan, die eine neue Generation von Klerikern prägten und einen »Frömmigkeitsumschwung« mit vorbereiteten. Im Gottesdienst strebte Hofbauer eine dezidiert sinnlich ausgestaltete Liturgie mit »äußerster Prachtentfaltung« an – nicht im Sinne einer Rückkehr zu barocken Formen, sondern eher als Versuch, den »rationalistischen und volksfernen Regelungen des Josephinismus« ein »volkstümliches« Schauspiel entgegenzusetzen,121 das eine neue Autonomie des kirchlichen Lebens gegenüber dem

117 Vgl. Vocelka, Glanz und Untergang, S. 375. 118 Vocelka, Glanz und Untergang, S. 374. 119 Vocelka, Glanz und Untergang, S. 387; Tropper, Von der katholischen Erneuerung bis zur Säkularisation, S. 333. Klueting nennt Migazzi einen »trailblazer of state-run church reform. But in 1767 he changed his mind to a strong conservative behavior in opposition to Josephinism«. Klueting, The Catholic Enlightenment, S. 134 – 135. 120 Maximilian Liebmann, Von der Dominanz der katholischen Kirche zu freien Kirchen im freien Staat – vom Wiener Kongreß 1815 bis zur Gegenwart, in: Rudolf Leeb u. a., Geschichte des Christentums in Österreich. Von der Spätantike bis zur Gegenwart, Wien 2003, S. 361 – 456, hier S. 362; zum »Frintaneum« vgl. auch Karl Heinz Frankl / Rupert Klieber (Hg.), Kirchliche Elite-Bildung für den Donau-Alpen-Adria-Raum. Das Priesterkolleg St. Augustin (»Frintaneum«) in Wien 1816 bis 1918, Wien 2007. 121 Rolf Decot, Klemens Maria Hofbauer – Konservativer Erneuerer der Kirche Österreichs, in: Helmut Rumpler (Hg.), Bernard Bolzano und die Politik. Staat, Nation und Religion als Herausforderung für die Philosophie im Kontext von Spätauf-

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Staat spiegeln sollte. Mit seiner Konzeption von Seelsorge agierte der führende Redemptorist Hofbauer »ganz gegen die staatskirchlich vorgeschriebene Gottesdienstordnung«.122 Er bekämpfte das reformerische Staatskirchentum ebenso wie die innerkatholische Aufklärung und vertrat einen »dogmatisch ausgerichtete[n] Katholizismus in engster Verbindung mit dem Papsttum in Rom und den Bischöfen«.123 Damit stand Hofbauer, der mit Wissenschaftlern und Schriftstellern wie Friedrich Schlegel, Clemens Brentano und Joseph von Eichendorff persönlich bekannt war, für eine »romantische« Auffassung von Kirche und Gottesdienst.124 Wenige Tage nach dem Tod Hofbauers im Jahr 1820 wurden die Redemptoristen in Wien offiziell anerkannt und bezogen die Kirche Maria Stiegen als neues Zentrum ihrer volksmissionarischen Aktivitäten. Von hier aus agierten einige Hofbauer-Schüler im Sinne einer Verbindung aus katholischer Restauration und politischem Katholizimus, so etwa der spätere Wiener Kardinal Joseph Othmar von Rauscher.125 Diese Bewegung ist im Kontext einer übergreifenden Entwicklung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu sehen: Seit den 1840er Jahren kam es im gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus zu einer signifikanten Aktualisierung alter Formen katholischer Frömmigkeitsübung im Kontext neuer Formationen von Kirche und Staat. Dahinter lässt sich eine neue kirchliche Strategie im Umgang mit der sozialen Frage erkennen. So dienten die Ausstellungen des »Heiligen Rockes« 1844 und 1891 in Trier dazu, eine »ältere Symbol- und Ausdrucksform« im Sinne katholischer Sozialpolitik zu nutzen, »um Einfluß insbesondere auf die unteren Volksschichten zu gewinnen«.126 Auch die Heiligenverehrung wurde in diesem Sinne neu funktionalisiert, wie Gottfried Korff gezeigt hat: »Ins vertraute Heiligenbild wird das ganze von der Kirche entworfene Sozialprogramm gefaßt – ein Sozialprogramm, das Arbeiterelend als Armutsphänomen interpretiert und nicht als ökonomisch bedingte Erscheinungsweise der frühproletarischen Soziallage«.127

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klärung, Frühnationalismus und Restauration, Wien / Köln / Graz 2000, S. 105 – 130, hier S. 127. Liebmann, Von der Dominanz der katholischen Kirche zu freien Kirchen im freien Staat, S. 363. Decot, Klemens Maria Hofbauer, S. 118. Scheidgen spricht hier von der »Wiener Romantik«, vgl. Hermann-Josef Scheidgen, Der deutsche Katholizismus in der Revolution von 1848/49: Episkopat – Klerus – Laien – Vereine, Köln / Weimar / Wien 2008, S. 12. Vgl. Decot, Klemens Maria Hofbauer, S. 119 – 121. Gottfried Korff, Formierung der Frömmigkeit. Zur sozialpolitischen Intention der Trierer Rockwallfahrten 1891, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (1977), S. 352 – 383, hier S. 382. Korff, Politischer »Heiligenkult« im 19. und 20. Jahrhundert, S. 208.

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Im Zuge der Restaurationspolitik nach der Märzrevolution 1848 erreichte die katholische Kirche in Österreich neue politische Freiheiten und Selbstbestimmungsrechte. Den Vertretern der ersten österreichischen Bischofskonferenz, die vom 29. April bis zum 17. Juni 1849 in Wien abgehalten wurde, ging es aber »nicht bloß um freies und unabhängiges pastorales Wirken und um das Recht auf Selbstbestimmung, sondern auch um die Umwandlung des josephinischen Staatskirchentums in ein hierokratisch-episkopales Kirchenstaatstum« 128 und damit um eine »dominierende Stellung im politischen System«.129 In zwei kaiserlichen Verordnungen vom 18. und 23. April 1850 wurden einige Wünsche der Bischofskonferenz erfüllt, darunter die Wiederherstellung der vollen episkopalen Gewalt über den Klerus.130 Mit diesen Weichenstellungen um 1850 endete – so Michael Maurer – der »Josephinismus im weiteren Sinne«.131 Nach langen Verhandlungen kam schließlich 1855 das Konkordat zwischen Kirche und Monarchie zustande, in dem eine hierokratische Position der Kirche mit weitreichenden Autonomierechten festgeschrieben wurde. Alle Befugnisse und Vorrechte, welche die Kirche nach dem Kirchengesetz beanspruchte, wurden gewährleistet; staatliche Eingriffe in die innerkirchliche Kommunikation zwischen Österreich und Rom waren nicht mehr vorgesehen. Festgehalten wurde auch der Primat der katholischen Lehre im Unterricht aller öffentlichen und nicht-öffentlichen Schulen des Landes, was nach Artikel 5 des Konkordats bedeutete, »daß bei keinem Lehrgegenstand etwas vorkomme, was dem katholischen Glauben und der sittlichen Reinheit zuwiderläuft«; mehr noch: der ganze Unterricht sollte »das Gesetz des christlichen Lebens dem Herzen einprägen«.132 Auch die weiteren Bestimmungen des Konkordats – darunter die Lokalimmunität der Kirche – zielten auf eine massive Stärkung der katholischen Kirche im öffentlichen Leben. Nachdem Kaiser Franz Joseph im »Silvesterpatent« von 1851 die Verfassung aufgehoben und die neoabsolutistische Reaktion durchgesetzt hatte, sollte damit nun die Beziehung zur Kirche als anachronistisches »Bündnis zwischen Thron und Altar« reorganisiert werden, um den Katholizismus als machtvolle Stütze der Monarchie zu positionieren; es sei – so Franz Joseph bei Vertragsabschluss – seine »heilige Pflicht«, die »sittlichen Grundlagen der geselligen Ordnung und des Glücks Unserer Völker zu 128 Liebmann, Von der Dominanz der katholischen Kirche zu freien Kirchen im freien Staat, S. 371. 129 Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997, S. 343. 130 Peter Leisching, Die römisch-katholische Kirche in Cisleithanien, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Band IV. Die Konfessionen, Wien 1985, S. 1 – 247, hier S. 24 – 25. 131 Michael Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte Band 51), München 1998, S. 40. 132 Zit. nach Leisching, Die römisch-katholische Kirche, S. 31.

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erneuern und zu befestigen«.133 Auch die »Akatholiken«, wie die evangelischen Christen noch im Vormärz von offizieller Seite bezeichnet wurden, beriefen sich im Zuge der Konkordatsverhandlungen auf die Verbindung mit der Monarchie und zeigten dies symbolisch durch die Datierung eines Grundsatzpapiers an: Das aus der Kirchenversammlung von 1849 hervorgehende »Gutachten über die Regelung des Verhältnisses der evangelischen Kirche zum Staate« wurde mit dem Datum des kaiserlichen Geburtstages versehen; es enthielt unter anderem die Forderung nach einem Ausbau des evangelischen Schulwesens und der Ergebung der protestantisch-theologischen Lehranstalt zu einer vollgültigen Fakultät an der Wiener Universität.134 Das »Protestantenpatent« von 1861 gestand auch den evangelischen Kirchen neue Autonomierechte zu; 135 unter anderem wurden »alle früheren Beschränkungen in der Errichtung von Kirchen mit oder ohne Turm und Glocken [. . . ] außer Kraft gesetzt und für null und nichtig erklärt«.136 Die Ende der 1840er Jahre – also noch unter der alten Toleranzregelung und ohne Turm – nach Plänen von Ludwig Förster und Theophil von Hansen errichtete Gustav-Adolf-Kirche in Gumpendorf wurde zum Zentrum der protestantischen Gemeindevertretung nach Augsburger Bekenntnis. Der Widerstand gegen das Konkordat setzte umgehend ein; schließlich wurden in den »Maigesetzen« von 1868 die meisten Bestimmungen von 1855 praktisch annulliert.137 Bis dahin aber konnte die Kirche zunächst mit neuem Selbstbewusstsein agieren. Fürsterzbischof Kardinal Othmar von Rauscher verfasste im März 1857 ein Memorandum zu »Kirchennot« und Kirchenbau in Wien, das auf die Gründung neuer Pfarren ebenso abzielte wie auf die Errichtung von Kirchengebäuden »mit überaus großem Fassungsraum«.138 Mit dieser Expansion der Baukörper war die Idee einer neuen »Volkskirche« verbunden, welche insbesondere die im Prozess der Urbanisierung nach Wien zuwandernden Massen parochial einbinden sollte. Stilistisch prägte den Wiener Kirchenbau um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein romantischer Historismus, der den geschichtstheologischen Rekurs der Geistlichen auf Frühchristentum und Mittelalter gestalterisch nachvollzog; ein Hauptbeispiel dieser Stilrichtung ist die im September 1861 eingeweihte Altlerchenfelder Pfarrkirche zu den Sieben

133 Zit. nach Leisching, Die römisch-katholische Kirche, S. 32. 134 Liebmann, Von der Dominanz der katholischen Kirche zu freien Kirchen im freien Staat, S. 374. 135 Liebmann, Von der Dominanz der katholischen Kirche zu freien Kirchen im freien Staat, S. 380. 136 Ernst C. Helbling, Staat und Kirche in Österreich aus evangelischer Sicht, in: Herbert Schambeck (Hg.), Kirche und Staat. Fritz Ecker zum 65. Geburtstag, Berlin 1976, S. 183 – 207, hier S. 187. 137 Vgl. Liebmann, Von der Dominanz der katholischen Kirche zu freien Kirchen im freien Staat, S. 382. 138 Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 13.

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Zufluchten im siebten Bezirk, die als Gesamtkunstwerk in neuer »Einheit von Architektur, Plastik und Malerei« von Georg Müller und Franz Sitte geplant und ausgeführt wurde; Eduard van der Nüll und Joseph von Führich wirkten federführend an der Innenraumgestaltung mit.139 Zunächst war vom Hofbaurat ein Neorenaissancebau bewilligt worden, der aber in der Folge stilistisch stark umgearbeitet wurde.140 Das Bildprogramm dieses Kirchenraums entwirft ein umfassendes, holistisches Szenario christlicher Mythologie – von den zwölf Tierkreiszeichen über Darstellungen der Schöpfungsgeschichte bis hin zur Erlösungsgeschichte, die in strahlenden Farben unter einem alles überspannenden Sternenhimmel ausgemalt ist. Kaiser und Papst, Heilige und Märtyrer, Engel und Apostel, Betlehem und Jerusalem sind in der Apsis festgehalten, daneben die »Zufluchten« von der Dreieinigkeit bis zu den armen Seelen im Fegefeuer.141 Umfassender könnte das heilsgeschichtliche Programm des sich erneuernden Katholizismus kaum vorgestellt werden; dabei war es von Beginn an der explizite Kunstanspruch, der den Bau mit einem romantisch erneuerten Katholizismus assoziierte: Der eintretende Besucher steht – so die Festpublikation zum 50. Einweihungsjubiläum der Kirche 1911 – im Banne gediegener Pracht, die ihn hier umfängt. Je länger er hier verweilt, desto mehr wird er gewahr, daß er einen Raum betrat, welcher die Weihe erhabenster, im Dienste der Religion betätigter Kunstleistungen empfangen hat. Er fühlt die Harmonie, die ihn hier allenthalben umgibt. Er wird gehoben und zur Andacht gestimmt.142

Hier zeigt sich nicht nur die neue romantische Überblendung von religiöser und künstlerischer Idee, sondern auch der Effekt einer zunehmend bewusst auf emotionale Stimmungsqualitäten angelegten Architektur. Verknüpft wurde diese Ästhetik mit einem »nationalen« Programm des Rückgriffs auf »mittelalterliche« Bauformen, wie es der Architekt Müller 1848 in seinem Vortrag »Der deutsche Kirchenbau und die neu zu erbauende Renaissance-Kirche für Altlerchenfeld« andeutete: Der Architekt, der heute noch nahezu an dreimalhunderttausend Gulden für eine Kirche im fremden Renaissance-Style verbauen kann, der erkennt nicht den Ruf der Zeit, noch die Ursache unserer nationalen Erhebung. Er erkennt nicht seine

139 Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 165 – 166. 140 Vgl. Peter Haiko / Hannes Stekl, Architektur in der industriellen Gesellschaft, in: Hannes Stekl (Hg.), Architektur und Gesellschaft von der Antike bis zur Gegenwart, Salzburg 1980, S. 251 – 341, hier S. 273. 141 Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 166. 142 Franz Rieger, Die Altlerchenfelder Kirche, ein Meisterwerk der bildenden Kunst, zur Feier des fünfzigsten Jahrestages ihrer Einweihung (29. September 1861-29. September 1911), Wien 1911, S. 27.

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Verantwortlichkeit vor der vaterländischen Kunst – noch seine Künstleraufgabe gegenüber dem Volke, dem heute mehr als je öffentliche Bauten noth thun, die den vielfach zerrütteten Sinn für einfach wahrhafte Sitte und Erscheinung wieder erwecken können.143

Im Zeitraum zwischen 1850 und 1880 sind in Wien verhältnismäßig wenige Kirchenneubauten entstanden; für fünf der insgesamt elf in diesem Zeitraum errichteten katholischen Kirchen zeichnete der Architekt Friedrich Schmidt verantwortlich, der auch die Pläne für das neogotische Rathaus anfertigte.144 Schmidt, von Haus aus württembergischer Protestant, war im Zuge seiner Berufung an die Mailänder Akademie zum Katholizismus konvertiert – eine Voraussetzung auch für seine Berufung an die Wiener Akademie der Bildenden Künste und seinen Aufstieg zum prominentesten Kirchenarchitekten der Stadt.145 Seine Neubauten nach gotischem Schnittmuster formierten in dieser Zeit einen »Wiener Typus« 146 und dienten für die weitere Entwicklung als »archetypische Vorläufermodelle«: Insbesondere die Fünfhauser Kirche Maria vom Siege, aber auch die Pfarrkirchen St. Othmar unter den Weißgerbern und St. Brigitta in der Brigittenau sowie die Lazaristenkirche in der Kaiserstraße stehen exemplarisch für dieses Programm.147 Im Hinblick auf den Kirchenbau der »politischen Romantik« ist aber neben den in erster Linie ein anderer Bau zu nennen; das im engeren Sinne politische Statement der Zeit stellt die Votivkirche zum Göttlichen Heiland nahe der damals entstehenden Ringstraße dar. Auf das ikonographische Programm dieser »Denkmalskirche« wird im vierten Kapitel zum Kirchenraum als memorialem Raum detailliert eingegangen werden. An dieser Stelle ist aber kurz vorzugreifen, denn die Votivkirche kann in ihrer geschichtspolitischen Botschaft als genuines Produkt der Reaktion gegen die Revolution von 1848 und des Konkordats von 1855 verstanden werden. Mit Bau und Ausstattung der Votivkirche wurde die Verbindung von »Thron und Altar« machtvoll inszeniert: Nachdem Kaiser Franz Joseph im Februar 1853 knapp einem Attentat entgangen war, wurde der Bau als Dankeskirche und »geistliches Reichsheiligtum« 148 der Doppelmonarchie beschlossen. Noch am Abend des Attentats hatte in St. Stephan ein Dankgottesdienst stattgefunden,

143 Zit. nach Haiko / Stekl, Architektur in der industriellen Gesellschaft, S. 275. 144 Vgl. Scheidl, Schöner Schein und Experiment. Katholischer Kirchenbau im Wien der Jahrhundertwende, Wien / Köln / Weimar 2003, S. 19. 145 Zur Biographie vgl. in aller Kürze Walther Killy / Rudolf Vierhaus (Hg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie, Band 9, München 1998, S. 6. 146 Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 19. 147 Vgl. dazu Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 58 – 67. 148 Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlichpolitische Prozesse. Wien / Köln / Graz 1996, S. 100.

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Abb. 5: Votivkirche, Blick in das Kirchenschiff.

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über den der Jurist Johann Ritter von Perthaler dichtete: »Und das Gebet erhebt sich zu den Sternen, / Es schwillt und strömt hinaus, ein mächtger Strom / Bis an des Reiches Grenzen, an die fernen, / Nur ein Gefühl – Das ganze Reich ein Dom!«.149 Am 24. April 1856, dem zweiten Hochzeitstag von Franz Joseph und Elisabeth, wurde der Grundstein zu diesem neuen »Dom« gelegt. Nach dem Vorbild der Westminster Abbey und des Pariser Panthéon sollte ursprünglich eine österreichische »Ruhmeshalle« in die Kirche integriert werden; an den Arkadenwänden des Langhauses finden sich die Wappen aller im »Großen Titel« des Kaisers genannten Reichsteile und Provinzen, bis hin zu phantastischen Herrschaftstiteln wie dem eines »Königs von Jerusalem«, dessen Wappen ganz vorn beim Querhaus zu besichtigen ist.150 Diese Wappenreihe belegt den umfassenden Herrschaftsanspruch des Kaiserhauses ebenso wie die Idee eines einmütig hinter dem Monarchen und seiner Denkmalkirche stehenden Reichsverbandes – ganz im Sinne des kaiserlichen Mottos »Viribus Unitis!«, das die Reihe an der südlichen Langhauswand eröffnet.151 Die in der Revolution, den Sezessionsbewegungen und letztlich wohl auch dem Attentat selbst zum Ausdruck gekommene Krise des Reiches bleibt hier freilich ausgeblendet. Stattdessen unterstreichen die auf den beiden Turmspitzen angebrachten Kaiserkronen den imperialen Herrschaftsanspruch, für den diese Kirche wie keine zweite

149 Zit. nach Werner Telesko, Kulturraum Österreich. Die Identität der Regionen in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts, Wien / Köln / Weimar 2008, S. 92. 150 Der »Große Titel« des Kaisers war bis 1918 in Gebrauch und lautet in seiner vollen Formulierung: »Franz Joseph I., von Gottes Gnaden Kaiser von Oesterreich; König von Ungarn und Böhmen, König der Lombardie und Venedigs, von Dalmatien und Croatien, Slavonien, Galizien, Lodomerien und Illyrien; König von Jerusalem etc.; Erzherzog von Oesterreich; Grossherzog von Toscana und Krakau; Herzog von Lothringen, von Salzburg, Steyer, Kärnthen, Krain und der Bukowina; Grossfürst von Siebenbürgen; Markgraf von Mähren; Herzog von Ober- und Nieder-Schlesien, von Modena, Parma, Piacenza und Guastalla, von Auschwitz und Zator, von Teschen, Friaul, Ragusa und Zara; gefürsteter Graf von Habsburg und Tirol, von Kyburg, Görz und Gradiska; Fürst von Trient und Brixen; Markgraf von Ober- und Nieder-Lausitz und in Istrien; Graf von Hohenembs, Feldkirch, Bregenz, Sonnenberg etc.; Herr von Triest, von Cattaro und auf der Windischen Mark; Grosswojwod der Wojwodschaft Serbien etc.«. Zit. nach dem Militär-Schematismus des Österreichischen Kaiserthumes für 1863, Wien 1863, S. 7. 151 Eine ähnliche Behauptung findet sich in der weithin sichtbaren Inschrift an der Burggartenfassade der Neuen Hofburg, wo es beschwörend heißt: »His Aedibus Adhaeret Concors Populorum Amor« – »An diesen Bauten haftet die einmütige Liebe der Völker«. Alfred Polgars treffende, »ganz freie« Übersetzung lautet dagegen: »Infolge ihrer Anhänglichkeit an die kaiserliche Burg mußten die Völker in Konkurs gehen«. Vgl. Alfred Polgar, Republikanischer Hofgarten, in: Ders., Kleine Schriften, Band 1: Musterung. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki unter Mitarbeit von Ulrich Weinzierl, Reinbek 1983, S. 284 – 286, hier S. 285.

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steht. Die Glasfenster der Votivkirche schließlich vermittelten bis zu ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg ein ausgefeiltes ikonographisches Programm, in dem sich »christliches Heilsgeschehen und Herrscherpropaganda unaufhörlich miteinander verschränkten«.152 Als leuchtendes »Bilderbuch« der Geschichte eines christlichen Österreich – einer »wahren Austria Sancta« 153 – erfüllten sie ersatzweise die Funktion der nie realisierten »Ruhmeshalle«. So verknüpfte etwa das sogenannte »Kronprinzenfenster« eine Darstellung des Kronprinzen Rudolf mit seinen drei Schwestern Gisela, Sophie und Marie Valerie mit einem Bild der Heiligen Familie mit Elisabeth, Zacharias und Johannes dem Täufer.154 Andere Fenster versinnbildlichten vor allem die angebliche Einheit und Geschlossenheit der Monarchie, wie beispielsweise das Ferdinand-Max-Fenster, das den Erzherzog und späteren Kaiser von Mexiko im Ornat des Heiligen Vlieses zeigte, umringt von den als Mädchen in wappengeschmückten Kleidern dargestellten Nationen des Reichs.155 Weitere Mitglieder der kaiserlichen Familie und anderer Stifterfamilien waren zusammen mit ihren heiligen Namenspatronen in den Glasfenstern zu sehen. In dieser Verflechtung von Heilsgeschichte, imperialer Einheitsbeschwörung und habsburgischem Familienmythos ist ein Prinzip zu erkennen, das Thomas Nipperdey als die »Säkularisierung christlicher, die Sakralisierung profaner Gehalte« bezeichnet hat.156 Wie kaum ein anderer Wiener Kirchenbau exemplifiziert gerade die Votivkirche diese für die politische Repräsentationskultur des 19. Jahrhunderts charakteristische visuelle Strategie. Zugleich steht die Votivkirche für eine ostentative und mythisch überhöhte Verbindung von autonomer Kirche und sakralisierter Monarchie, von Religion und Politik – eine Idee, die nach 1848 entstanden ist, im Konkordat 1855 ihren legislativen Ausdruck fand und bis zum Ende der Monarchie 1918 nachwirken sollte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete sich eine strikt konservative kirchenpolitische Haltung heraus, die mit dem Begriff des »Ultramontanismus« verbunden ist und die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine dogmatische Ablehnung der säkularen Moderne signalisierte. Insbesondere unter den beiden Päpsten Pius IX. (1846 – 1878) und Pius X. (1903 – 1914) zog sich die katholische Kirche auf eine überaus strenge Position gegenüber den Ansprüchen staatlicher Selbstbestimmung, gegenüber liberalen, demokratischen

152 Telesko, Kulturraum Österreich, S. 93. 153 Missong, Heiliges Wien, S. 196. 154 Vgl. Claudia Mallinger, Die Votivkirche. Diplomarbeit Universität Wien 2008, S. 71. 155 Mallinger, Die Votivkirche, S. 70. 156 Thomas Nipperdey, Kirchen als Nationaldenkmal. Die Pläne von 1815, in: Lucius Grisebach / Konrad Renger (Hg.), Festschrift für Otto von Simson zum 65. Geburtstag. Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1977, S. 412 – 431, hier S. 414.

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und insbesondere sozialdemokratischen Politikmodellen aller Couleur, gegenüber den Entwicklungen der empirischen Wissenschaften sowie gegenüber der modernen Massen- und Unterhaltungskultur zurück – ein später erbitterter Abwehrkampf gegen das Erbe der Aufklärung und der Französischen Revolution. Dabei wurde der Anspruch der Kirche auf absolute Deutungshoheit durch eine Reihe von Enzykliken und Dogmenverkündigungen unterstrichen – ein Prozess, der mit der Bulle »Ineffabilis Deus« und dem darin formulierten Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens 1854 beginnt, mit der die damals immer populärer werdende Marienfrömmigkeit aufgegriffen und politisch als Stütze der katholischen Amtskirche in Stellung gebracht wurde. Zehn Jahre später erschien die Enzyklika »Quanta Cura« mit dem berüchtigten Anhang »Syllabus Errorum«, der anhand von 80 Thesen – vom Rationalismus über den Sozialismus bis zum politischen Liberalismus – die »Irrtümer« der Zeit katalogisierte. 1870 schließlich wurde von Pius IX. im Rahmen des Ersten Vatikanischen Konzils das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit verkündet, mit dem sich in der Kirche ein »lehramtszentriertes, ja lehramtsmonopolistisches Traditionsverständnis« durchsetzte; 157 zugleich wurde weiter verfestigt, was Carl Schmitt in seiner Analyse zur »politischen Form« des römischen Katholizismus als die »strenge Durchführung des Prinzips der Repräsentation« bezeichnet hat: nämlich die repräsentationsidentische Logik der Hierarchie von Gott, Christus und Papsttum.158 Pius X. verankerte die von Pius IX. formulierten antimodernistischen Positionen dann noch stärker im Kirchenrecht, indem er 1907 die Grundlehren des »Modernismus« als »Häresien« kennzeichnete und 1910 – in der Enzyklika »Pascendi dominici gregis« – den sogenannten Antimodernisteneid erließ, der alle geistlichen Amtsträger auf die aktive Verwerfung der 1864 katalogisierten »Irrtümer« der Moderne verpflichtete.159 Trotz der ultramontanen Strenge und der strikten moralischen Haltung der Amtskirche kann für das ausgehende 19. Jahrhundert nur bedingt von einer Erosion der katholischen Massenbasis gesprochen werden.160 Mittlerweile ist deutlich geworden, dass die zeitgenössische Diagnose einer »Entkirchlichung« und »Glaubenskrise« eher als Selbstverständigungsdiskurs der Kirche zu lesen

157 Walter Kasper, zit. nach: Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014, S. 522. 158 Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form (1923/1925), Stuttgart 1984, S. 14. 159 Vgl. in aller Kürze Lauster, Die Verzauberung der Welt, S. 521 – 526; zu diesem Komplex allgemein die umfassende Studie und Dokumentation von Peter Neuner, Der Streit um den katholischen Modernismus, Frankfurt am Main / Leipzig 2009. 160 Für einen differenzierten Überblick über die Situation des – v. a. deutschen – Katholizismus im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. noch immer die Darstellung von Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Band I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 428 – 468.

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ist denn als Hinweis auf eine tatsächliche tiefgreifende Krise religiöser Weltbilder in der breiten Bevölkerung. So hat Ulrich Linse argumentiert, dass bei genauerer Betrachtung der Gesamtsituation auch von einer »kirchenüberschreitenden Durchchristlichung von Gesellschaft und Individuum« gesprochen werden könne.161 Hinsichtlich des neuen missionarischen Programms der Kirchen sowie der Wiederbelebung und Neuformierung expressiver Frömmigkeitsformen wurde für das 19. Jahrhundert sogar die These eines »zweiten konfessionellen Zeitalters« formuliert.162 Gegen das Paradigma der Modernisierungsund der Säkularisierungstheorie, das der Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts eine »Indifferenz gegenüber der Religion« beschert habe, betonte der Historiker Olaf Blaschke den Befund einer um 1820 einsetzenden und bis in die 1960er Jahre hinein anhaltenden »religiösen Renaissance«.163 Diese These ist nicht unwidersprochen geblieben.164 Insbesondere wurde festgehalten, dass von einer Zuspitzung und wachsenden Bedeutung des konfessionellen Gegensatzes nur bedingt die Rede sein kann. Kaum umstritten ist hingegen die verstärkte Relevanz religiöser Deutungsmuster insbesondere für die politische Kultur des 19. Jahrhunderts. So sieht Benjamin Ziemann in der »Fundamentalpolitisierung« der beiden großen christlichen Konfessionen einen grundlegenden Prozess, der das 19. Jahrhundert wesentlich geprägt hat: »Für die ›Konfessionskirche‹ der Frühen Neuzeit galt es ›unter allen Umständen Seelen zu retten‹. Für die im Konflikt miteinander befindlichen Kirchen des 19. Jahrhunderts galt es dagegen, in einer sich rapide wandelnden und politisierten Gesellschaft ihr Ter-

161 Ulrich Linse, Säkularisierung oder neue Religiosität? Zur religiösen Situation in Deutschland um 1900, in: Recherches Germaniques 27 (1997), 117 – 141, hier 119. Vgl. dazu auch Hugh McLeod, Piety and Poverty. Working-Class Religion in Berlin, London and New York 1870 – 1914, New York / London 1996. 162 Olaf Blaschke, Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter? In: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38 – 75. 163 Blaschke, Das 19. Jahrhundert, S. 44. 164 Vgl. beispielsweise die Diskussionsbeiträge von Carsten Kretschmann / Henning Pahl, Ein »Zweites konfessionelles Zeitalter«? Vom Nutzen und Nachteil einer neuen Epochensignatur, in: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 369 – 392; Anthony Steinhoff, Ein zweites konfessionelles Zeitalter? Nachdenken über die Religion im langen 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 549 – 570, sowie die kompakte Darstellung bei Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2009, S. 73 – 76. Für eine Bilanz des neueren Forschungsstandes und der aktuellen Diskussion vgl. Detlef Pollack, Historische Analyse statt Ideologiekritik: Eine historisch-kritische Diskussion über die Gültigkeit der Säkularisierungstheorie, in: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011), S. 482 – 522; Karl Gabriel / Christel Gärtner / Detlef Pollack (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012.

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rain zu behaupten«.165 Katholisch-konfessionelle Zeitungen und Zeitschriften, katholische Gruppen und Vereine und eine Generation von sich auf ihr »Amtscharisma« und ihre relative Lebensweltnähe stützenden Priestern ermöglichten die »enorme Mobilisierungs- und Inklusionsfähigkeit des ultramontanen Katholizismus seit den 1830er Jahren«.166 Auch aus einer globalgeschichtlichen Perspektive wird außerordentlich plausibel, weshalb von einem Bedeutungsverlust von Religion im Laufe des 19. Jahrhunderts keine Rede sein kann. Jürgen Osterhammel schreibt in seiner Gesamtdarstellung dieser Epoche: Religion war überall auf der Welt im 19. Jahrhundert eine Daseinsmacht ersten Ranges, ein Kristallisationspunkt für Gemeinschaftsbildungen und für die Formierung kollektiver Identitäten, ein Strukturprinzip gesellschaftlicher Hierarchisierung, eine Antriebskraft politischer Kämpfe, ein Feld, auf dem anspruchsvolle intellektuelle Debatten ausgetragen wurden. [. . . ] Noch im 19. Jahrhundert war Religion die für das Alltagsleben der Menschen wichtigste Form von Sinnbildung, also das Zentrum aller geistigen Kultur.167

Wenn also von »Säkularisierung« als einer Epochensignatur des 19. Jahrhunderts die Rede ist, dann lohnt der genaue Blick auf die verschiedenen Teilfelder religiöser Praxis und religiöser Institutionalisierung, um differenzieren zu können, in welchen Bereichen religiöse Deutungsangebote an Bedeutung verloren und in welchen sie dagegen sogar an Bedeutung hinzugewannen.168 Der Diagnose einer fortschreitenden »Entzauberung der Welt« stehen zahlreiche starke Phänomene einer religiösen »Wiederverzauberung« gegenüber; Säkularisierung ist vor allem als »Vervielfältigung religiöser Haltungen« zu interpretieren.169 Der Krisendiskurs der katholischen Kirche entfaltete dennoch eine ganz eigene Dynamik. Ein Ergebnis der Auseinandersetzungen der Amtskirche mit den rasanten politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der Moderne war – wie gezeigt – eine ausgeprägte »katholische Wagenburgmentalität«,170 die nahezu keine differenzierten Urteile zum aktuellen politischen und kulturellen Geschehen zuließ. Rund 100 Jahre lang, bis zum »aggiornamento« des Zweiten Vatikanischen Konzils, blieb die katholische Kirche auch in Österreich weitestgehend bei ihrer ultramontanistischen reaktionären Position, was unter

165 Ziemann, Sozialgeschichte der Religion, S. 75. 166 Ziemann, Sozialgeschichte der Religion, S. 106. 167 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1239. 168 Für eine solche differenzierte Diskussion des Themenkomplexes »Säkularisierung« vgl. Hugh McLeod, Secularization in Western Europe 1848 – 1914, New York 2000. 169 Vgl. Lauster, Die Verzauberung der Welt, S. 502 – 503. 170 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1274.

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anderem die Abspaltung der Altkatholischen Kirche zur Folge hatte.171 Nach dem Ende des »Kulturkampfes« zwischen Kirche und Staat, der in Österreich nicht zuletzt wegen der ausgleichenden Haltung des Kaisers – vergleichsweise milde ausgefallen war, fanden sich Monarchie und Kirche in einer gemeinsamen Defensivhaltung zusammen. Dabei bildeten sich die Konturen eines ausgeprägten politischen Katholizismus heraus, der wiederum zu neuen Popularisierungen katholischer Religiösität führte. Sichtbare Zeichen dieser »gefestigte[n] Harmonie zwischen dem Kaiser und der katholischen Kirche« fanden sich auch in der Kirchenarchitektur der Zeit; im Umfeld des 1898 begangenen 50. Regierungsjubiläums von Franz Joseph wurden in Österreich mehrere, diese politische Allianz inszenierende Kirchenbauten geplant und ausgeführt. Kurze Zeit später entstanden einige prominent platzierte Kirchenbauten, die das kommunale Wien unter dem christlichsozialen Bürgermeister Karl Lueger repräsentierten und zumindest teilweise einer ausgesprochen modernen Ästhetik folgten. Im folgenden Abschnitt soll diese spannungsreiche Konstellation im Kirchenbau der Jahrhundertwende genauer verfolgt werden.

Kaiser-Jubiläum und kommunale Moderne: Konstellationen der Jahrhundertwende In den vierzig Jahren zwischen 1870 und 1910 hat sich die Einwohnerzahl der Stadt Wien mehr als verdoppelt – lag sie 1870 noch bei 843 000, überschritt sie 1910 bereits die Zwei-Millionen-Grenze.172 Angesichts dieser rasanten Entwicklung wurde die Forderung Kardinal Rauschers nach einem Ausbau der parochialen Versorgung durch Kirchenbauten erneuert: In seinem 1893 publizierten »Aufruf an die Katholiken Wiens« schreibt der nunmehrige Wiener Fürsterzbischof und Kardinal Anton Gruscha: Ich fühle und beklage gleich meinen Vorgängern auf tiefste die schmerzliche Thatsache, daß Tausende der mir anvertrauten Seelen aus Mangel an genügenden Gotteshäusern der Segnungen unserer heiligen Religion beraubt sind. Ich halte es deswegen für meine heiligste Pflicht, Alles aufzubieten, um den Katholiken Wiens durch Vermehrung der Kirchen die Erfüllung der religiösen Pflichten möglich zu machen.173

171 Zur Entwicklung in Österreich vgl. Liebmann, Von der Dominanz der katholischen Kirche zu freien Kirchen im freien Staat, S. 391 – 393. 172 Vgl. Hans Bobek / Elisabeth Lichtenberger, Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Graz / Köln 1966, S. 31. 173 Zit. nach Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 21.

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Eine naheliegende Möglichkeit, den Kirchenneubau zu einer gesamtstaatlichen Angelegenheit zu erklären und damit politische Kräfte für ihn zu mobilisieren, bot das bevorstehende 50. Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs im Jahr 1898, in dessen Veranstaltungskalender und Dramaturgie die Kirchen überaus stark eingebunden waren.174 Auf diese Weise erhielten lokale Kirchenbauaktivitäten einzelner Pfarren den Status repräsentativer Projekte und die dementsprechende öffentliche Aufmerksamkeit, wie etwa das Beispiel der Breitenseer Pfarrkirche St. Laurentius zeigt: Am 4. Mai 1893 beschloss die achte ordentliche Generalversammlung des Breitenseer Kirchenbauvereins, »dass das Gotteshaus bis zum Jahre 1898 vollendet sein und ein Denkmal an das 50-jährige Regierungs-Jubiläum Sr. Majestät des Kaisers Franz Josef I. werden soll«.175 Mit diesem Plan sowie dem an Gruschas Aufruf anschließenden Argument eines notwendigen Ausbaus der Seelsorge in den Vororten – Breitensee wurde 1890/92 nach Wien eingemeindet – konnte die Finanzierung für einen großzügigen Neubau anstelle der alten Laurentiuskapelle eingeworben werden, »die begreiflicherweise die Kräfte der ortsansässigen Bevölkerung bei Weitem überstieg«.176 Die Breitenseer Pfarrkirche St. Laurentius beherbergt – passend zum KaiserJubiläum 1898 – ein ausgefeiltes ikonographisches Programm zur Geschichte des Hauses Habsburg und zur Mythologie der »Pietas Austriaca«. Pfarrer Ferdinand Ordelt zeichnete für dieses Programm verantwortlich; er hatte für die Glasfenster des Querhauses Szenen ausgewählt, welche die von den Habsburgern bediente »Kreuzesfrömmigkeit« erzählerisch ausdeuteten.177 Offenbar gehörten diese Szenen zum Kernbestand religiöser Didaktik – Ordelt »brauchte nur in den Fundus der Vorstellungen und Geschichten greifen, die er als katholischer Priester, als kaisertreuer Patriot und als Jugenderzieher im Lauf seines Lebens gelernt und weitererzählt hatte«.178 Dargestellt sind Szenen aus der Passionsgeschichte sowie mit dem Kreuz verbundene Episoden aus der christlichen politischen Mythologie: die Kreuztragung, die Beweinung Christi, die Kreuzauffindung durch Kaiserin Helena, die Kreuzvision Kaiser Konstantins sowie die Christianisierung Ungarns durch Stephan I. Weitere Szenen zeigen habsburgische Herrscher in ihrer Beziehung zum Kreuz und zur Kreuzesfrömmigkeit: König Rudolf von Habsburg vereidigt die Kurfürsten auf das Kreuz, 174 Vgl. dazu Andrea Blöchl, Die Kaisergedenktage, in: Emil Brix / Hannes Stekl (Hg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien / Köln / Weimar 1997, S. 117 – 144, insbesondere 121 – 123. 175 Zit. nach Stefan Malfèr, Kaiserjubiläum und Kreuzesfrömmigkeit. Habsburgische »Pietas Austriaca« in den Glasfenstern der Pfarrkirche zum heiligen Laurentius in Wien-Breitensee, Wien / Köln / Weimar 2011, S. 14. 176 Malfèr, Kaiserjubiläum und Kreuzesfrömmigkeit, S. 15. 177 Malfèr, Kaiserjubiläum und Kreuzesfrömmigkeit, S. 32. 178 Malfèr, Kaiserjubiläum und Kreuzesfrömmigkeit, S. 72.

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Abb. 6: Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläumskirche, Innenansicht.

Erzherzog Ferdinand III. betet »in höchster Not« zum Kreuz, Kaiser Karl V. befreit gefangene Christen in Tunis, Kaiser Leopold betet um Beistand während der osmanischen Belagerung der Stadt Wien, während der Kapuziner Marco d’Aviano am Kahlenberg die christlichen Heerführer vor der Entsatzschlacht segnet. Die Gegenreformation als »Verteidigung des Glaubens« kommt durch die Personen von Ignatius von Loyola und Petrus Canisius ins Bild; schließlich werden die Szenen durch eine Darstellung des siegreich auferstandenen Christus zu ihrem Höhepunkt geführt.179 Auch die zwischen 1896 und 1898 in Währing errichtete evangelische Lutherkirche im neugotischen Stil, die der Kirchenbauästhetik Friedrich Schmidts verpflichtet ist, entstand explizit als Beitrag zum kaiserlichen Jubiläumsjahr.180 Das zentrale repräsentative Bauvorhaben anlässlich des Regierungsjubiläums war aber die Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläumskirche am damaligen ErzherzogKarl-Platz am Donauufer. Zu diesem Bau wurde im Juli 1898 – also erst im Jubiläumsjahr selbst – ein allgemeiner Wettbewerb ausgeschrieben, an dem sich insgesamt 48 Architekten beteiligten. Die Wettbewerbsbeiträge sind insofern

179 Vgl. Malfèr, Kaiserjubiläum und Kreuzesfrömmigkeit, S. 35 – 36. 180 Vgl. in aller Kürze Renate Kassal-Mikula, Evangelische Kirchen in Wien, in: Evangelisch in Wien. 200 Jahre evangelische Gemeinden. 76. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Karlsplatz, 11. Februar bis 2. Mai 1982, Wien 1982, S. 22 – 23, hier S. 23.

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interessant, als sich an ihnen die gesamte stilistische Bandbreite des zeitgenössischen Kirchenbaus ablesen lässt – von ausladendem Neobarock wie bei Julius Deininger und Albert H. Pecha über Rückgriffe auf Gotik und Renaissance wie bei Karl Troll, Max Ferstel, Eugen Fassbender oder dem Karl Friedrich Schinkel folgenden Anton Schurda bis hin zu der »malerischen« Konzeption Camillo Sittes und den vorsichtig modernen Entwürfen von Leopold Bauer und Ferdinand Fellner von Feldegg. Inge Scheidl hat die »nobilitierenden Codes« dieser Entwürfe eingehend analysiert und auch die durchaus mehrdeutigen historisch-politischen Verweise herausgearbeitet, die in den genannten Entwürfen enthalten sind.181 In mehreren Planskizzen werden die Wiener Karlskirche sowie direkt oder indirekt auch St. Peter in Rom mit ihrer Kuppelarchitektur zitiert; dynastische Codes verweisen auf das Haus Habsburg, und andere Verweise zielen auf islamische oder ägyptische Herrschaftsarchitektur.182 Der letztlich ausgeführte neoromanische Kirchenbau geht auf Entwürfe von Viktor Luntz zurück und konnte 1913 geweiht werden. Er erscheint als Denkmal eines mehrfachen Scheiterns der »Kaiserdom«-Idee: Erstens endete die Monarchie wenige Jahre nach der Fertigstellung des Baus. Zweitens fiel das Ende der Monarchie zusammen mit dem Ende des historistischen Stilparadigmas, so dass die noch neue Kaiser-Jubiläumskirche gleich in doppelter Hinsicht zum anachronistischen Relikt wurde. Drittens waren die Spenden aus den Kronländern seit dem anfänglichen Boom von 1898 stark zurückgegegangen, und so reichten die finanziellen Mittel nicht mehr für eine angemessene Innenausstattung, so dass die Kirche 1913 in nahezu leerem Zustand geweiht wurde und erst 1964 einen Hochaltar aus Seckau erhielt. Und viertens erfüllte die Jubiläumskirche nie die vorgesehene Funktion als Schrittmacher der Stadtentwicklung jenseits der Donau. Im Hinblick auf die neoromanische Konzeption des Baus resümiert Inge Scheidl: So wirkt die Kirche, der drittgrößte Sakralbau Wiens, in ihrer hermetischen Abgeschlossenheit und düsteren Monumentalität wie ein Memento des Scheiterns einer Architekturepoche, die emphatisch darangegangen war, den stilistischen Reichtum der erloschenen historischen Epochen für die Moderne zu erretten.183

Gescheitert aber waren bereits die Pläne für das kaiserliche Regierungsjubiläum des Jahres 1898 – und zwar aus einem anderen Grund: Am 10. September 1898 wurde Kaiserin Elisabeth am Genfersee von dem italienischen Anarchisten Luigi Lucheni erstochen, was die Feierlichkeiten erheblich durchkreuzte.184 Die Wettbewerbsausschreibung für die Jubiläumskirche am Erzherzog-Karl-Platz 181 182 183 184

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Vgl. Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 279 – 341. Vgl. Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 329 – 335. Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 344. Vgl. Blöchl, Die Kaisergedenktage, S. 117.

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wurde dahingehend verändert, dass anstelle der ohnehin vorgesehenen Taufkapelle der Einbau einer Gedächtniskapelle für die Kaiserin gefordert wurde.185 Diese Kapelle konnte aufgrund der guten Spendensituation – im Gegensatz zum restlichen Kirchenraum – außerordentlich reich und luxuriös ausgestattet werden und folgt den Vorbildern der Aachener Pfalzkapelle und des Baptisteriums S. Giovanni in Fonte in Ravenna.186 So entstand hier ein oktogonaler Einbau mit Mosaik- und Marmorverkleidungen, der durch Sondersammlungen des Österreichischen Roten Kreuzes finanziert wurde und auch als private Andachtskapelle für den Kaiser dienen sollte.187 Knapp zwei Jahre nach dem Tod der Kaiserin wurde die Grundsteinlegung der Jubiläumskirche am 10. Juni 1900 zu einer rituellen Demonstration der Einheit von Kaisertum und Kirche sowie einer Selbstinszenierung des christlichsozialen katholischen Milieus: Knapp vor dem 70. Geburtstag des Kaisers und damit als Teil der Geburtstagsfeiern geplant, wird die Zeremonie der drei Hammerschläge, die Franz Joseph persönlich ausführt, zu einem riesigen Spektakel, an dem wohl über 100 000 Menschen teilnehmen. Der Weg von der Hofburg zum Festplatz wird von der Gemeinde Wien dekoriert und beflaggt und von 30 000 Schulkindern, von Veteranen und von mehr als siebzig Vereinen mit ihren Fahnen gesäumt. Allein die teilnehmenden Vereine, etwa katholische Arbeitervereine, katholische Studentenverbindungen, Schulvereine und Jungfrauen-Vereine, stellen 3805 Männer und 1350 Frauen.188

Ein ganz ähnliches Spektakel fand statt, als die Kirche schließlich 1913 geweiht wurde; 189 die Kaisergedenktage wurden also zu Ritualen einer sakralisierten Politik, deren symbolisches und sichtbares Zentrum der mit »nobilitierenden Codes« versehene Kirchenneubau war. Über die im Rahmen des Kaiser-Jubiläumsjahres 1898 errichteten Kirchen hinaus kam es in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zu zahlreichen weiteren Kirchenneubauten in Wien. Zahlreiche Kirchen entstanden im unmittelbaren Zusammenhang der Stadterweiterung des Jahres 1904, einige wenige – aber pointierte – Beispiele wurden sogar unter kommunaler oder Landesregie geplant. In diesem Sinne avancierte auch die Gemeinde Wien zu einem wichtigen Akteur im Bereich des Kirchenbaus. Als der neu gewählte christlichsoziale

185 Vgl. Liselotte Schwab, Hommage an eine ermordete Kaiserin. Die Elisabeth-Kapelle in der Kaiser-Franz-Josef-Jubiläumskirche in Wien II,. Mexikoplatz, Hamburg 2010, S. 9. 186 Vgl. Schwab, Hommage an eine ermordete Kaiserin, S. 21 – 25. 187 Vgl. Schwab, Hommage an eine ermordete Kaiserin, S. 18. 188 Blöchl, Die Kaisergedenktage, S. 124. 189 Vgl. dazu den bei Schwab abgedruckten Bericht aus der »Reichspost« vom 3. November 1913: Schwab, Hommage an eine ermordete Kaiserin, S. 169.

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Bürgermeister Karl Lueger 1897 seine Antrittsrede zu den »brennenden Problemen« der Stadt hielt, hob auch er – wie vier Jahre zuvor Kardinal Gruscha – die Notwendigkeit zur Errichtung von Sakralbauten hervor.190 So wurden nach der Eingemeindung der Vororte im Jahr 1904 die Grundsteine zu einer Reihe weiterer Sakralbauten gelegt: In dieser Zeit entstanden etwa die Donaufelder Kirche, die Laimgrubenkirche St. Josef, die Pfarrkirche St. Anna in Baumgarten, die Neusimmeringer Pfarrkirche, die Kirche zum Heiligen Karl Borromäus auf dem Zentralfriedhof und die Rosenkranzkirche in Hetzendorf, nebst zahlreichen kleineren Kirchenneubauten im gesamten Stadtgebiet.191 Vor dem Hintergrund der rasanten Stadtentwicklung und der Eingemeindung hatten die geplanten Kirchen eine wichtige städtebauliche und stadtpolitische Funktion: Sie sollten als strukturierende Zentren der neuen Stadtteile und gleichzeitig als symbolische Identitätsanker eines christlich durchformten Wien fungieren. In diesem Aspekt der Luegerschen Stadtpolitik spiegelte sich Luegers »Vorstellung Wiens als Inbegriff einer vorindustriell-bürgerlichen, ständisch-familiären und christlichen Stadt, beruhend auf Autorität, Paternalismus, Vätererbe und christlich-katholischem Wertgefüge«.192 Nicht zuletzt mit den neuen Kirchenbauten adressierte Lueger sein »christliches Volk« – »ein Ausdruck, den er in einem restriktiven, moralisch-politischen Sinn gebrauchte, um seine Wählerschaft zu bezeichnen«.193 Im Rahmen des christlichsozialen Bauprogramms entstanden insbesondere Infrastruktureinrichtungen wie das Versorgungsheim in Lainz oder der Wiener Zentralfriedhof, des weiteren – als Projekt des Landes Niederösterreich auf Wiener Stadtgebiet – die »niederösterreichische Landesheil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke« am Steinhof, in die repräsentative Kirchenbauten integriert wurden. In der für den Luegerschen Kommunalsozialismus charakteristischen Kombination aus technischer Modernität und kleinbürgerlichem Traditionalismus wurden diese Areale durchgestaltet, wobei die Kirchen das symbolische Zentrum der beiden Anlagen bildete. Während die von Otto Wagner konzipierte Kirche St. Leopold als Hauptwerk des österreichischen Jugendstils die

190 Vgl. Günther Berger, Bürgermeister Karl Lueger und seine Beziehungen zur Kunst, Frankfurt am Main u. a. 1998, S. 62 – 63. 191 Vgl. die Aufstellung in: Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 23 – 24. Einen knappen Abriss dazu liefert auch Martina Griesser-Stermscheg, Die Kunstgeschichte ergänzen: Buntmetall und elektrische Glühbirnen. Die Kirchenausstattung der Donaufelder Kirche im Zeichen des Wiener Sezessionismus, Wien / Köln / Weimar 2009, S. 22. 192 Wolfgang Maderthaner, Projektionen des Fremden. Wiener Vorstädte um 1900, in: Peter Johanek (Hg.), Die Stadt und ihr Rand, Köln / Weimar / Wien 2008, S. 235 – 248, hier S. 246. 193 John W. Boyer, Karl Lueger (1844 – 1910). Christlichsoziale Politik als Beruf. Eine Biografie, Wien / Köln / Weimar 2010, S. 192.

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Abb. 7: Die Kirche als Festung: Rosenkranzkirche in Hetzendorf.

Abkehr vom Historismus markiert, vermittelt die neoromanische Karl-Borromäus-Kirche des Versorgungsheims Reminiszenzen an eine idealisierte Bürgergemeinde vormoderner Prägung – mit 130 Handwerkswappen und zahlreichen Darstellungen zünftischer Patrone sowie einer gediegenen Ästhetik in dunklem Holz und mit »mittelalterlich« anmutenden Glasfenstern.194 Telefone und mittelalterliches Zunftwesen, elektrische Fahrstühle und Karl Lueger, der vor der Jungfrau Maria kniet: das Altersheim in Lainz bündelt wie ein Brennglas die disparate Allianz zwischen Archaismus und Moderne und zwischen Tradition und Fortschritt, welche die österreichischen Christlichsozialen vor 1918 so effektvoll zu gestalten wussten.195

194 Vgl. dazu Wietschorke, Apotheose des Kleinbürgertums, sowie die Raumanalysen in den Kapiteln 3 und 4 der vorliegenden Studie. 195 Boyer, Karl Lueger, S. 199 – 200.

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Die Wiener Kirchen der erweiterten Jahrhundertwende von 1890 bis 1910 spiegeln damit das Spektrum politischer Semantiken zwischen habsburgischem Repräsentationskatholizismus und christlichsozialer Neuausrichtung des bürgerlichen Gemeinwesens. Es ist für diese Konstellation charakteristisch, dass sich die Tendenzen der ästhetischen Moderne vor allem im Rahmen der Kirchenbauvorhaben durchsetzen ließen, die Teil städtischer Infrastruktureinrichtungen waren. »Das aber bedeutet«, so die Kunsthistorikerin Inge Scheidl, »dass sich der Jugendstil oder der ›moderne Stil‹ ab Beginn des 20. Jahrhunderts quasi als ›Kommunalstil‹ etablierte«.196 Otto Wagners Steinhofkirche ist dabei der einzige Bau, der dezidiert dem Jugendstil zugerechnet werden kann; Max Hegeles Kirchenbau St. Borromäus auf dem Zentralfriedhof zeigt dagegen die »Engführung von barocken und secessionistischen Elementen und stellt das Werk eines Übergangsstiles dar«.197 Gerade bei Hegeles Friedhofskirche wird aber auch deutlich, dass die politische Repräsentationsfunktion und damit der Denkmalscharakter bei den kommunalen Kirchenbauten letztlich kaum weniger ausgeprägt ist als etwa bei den offiziellen Bauten zum Kaiser-Jubiläum. In einem anderen ästhetischen Vokabular wird hier eine strukturell ganz ähnliche Botschaft vermittelt: Es geht um die Selbstdarstellung und – wenn auch modern gefasste – religiöse Überhöhung der christlichsozial regierten Gemeinde Wien und ihres sozialpolitischen Programms. Beinahe paradox zeigt sich damit, dass auch die demokratischen Repräsentanten der modernen Gesellschaft traditionelle Usancen weiterverfolgten, indem speziell herrscherliche, ja monarchische Codierungen umfunktioniert wurden. [. . . ] Ein traditioneller Code wird beibehalten, gleichzeitig jedoch mit einem neuen Inhalt ausgestattet, um eine Legitimationsbasis bzw. eine sinnstiftende Ordnungsstruktur innerhalb einer offenkundig als labil empfundenen gesellschaftlichen Gegenwart zu erhalten. Trotz allem Willen zur Innovation waren die Repräsentanten des modernen Wien damit offensichtlich nicht minder auf Selbstvergewisserung angewiesen als die Historisten, die über konnotative Verweise die Wahl des jeweiligen Stils legitimierten.198

Ein einziges Wiener Kirchengebäude der Zeit vor 1914 steht ganz außerhalb der hier skizzierten Konstellation von traditionellem Historismus einerseits und »kommunaler Moderne« andererseits: die zwischen 1911 und 1913 errichtete Heilig-Geist-Kirche des Wagner-Schülers Jože Pleˇcnik auf der Schmelz. Pleˇcnik, der 1905 in der Wiener Secession eine progressive Ausstellung für christliche Kunst organisiert hatte, brachte in seinen Plänen ein neues Verständnis von Konstruktion und Materialgerechtigkeit zum Ausdruck und kam damit nicht 196 Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 222. 197 Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 222. 198 Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 237.

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zuletzt der Forderung nach einem schlichten und kostengünstigen Bau nach.199 Pleˇcnik folgte dem Modell der frühchristlichen Basilika in Verbindung mit der Idee einr »Erneuerung der christlichen Glaubensgemeinschaft«.200 Damit entsprach seine Architektur bereits liturgiereformerischen Ideen: Der Einsatz von Eisenbeton ermöglichte etwa eine Überbrückung der Seitenschiffemporen, so dass keine die freie Sicht zum Altar behindernden Stützen notwendig wurden, was »zur Aufhebung der hierarchischen Trennung zwischen Priester und Gläubigen beitrug«.201 Gleichzeitig – und das löste eine kontroverse Diskussion aus – verwendete Pleˇcnik den Eisenbeton »in einer Art und Weise, die alle bis dahin in der Sakralarchitektur unternommenen Anwendungslösungen hinter sich ließ«,202 denn das rohe Material wurde vollkommen unverkleidet gezeigt und damit nicht nur zu einem konstruktiven, sondern auch zu einem zentralen gestalterischen Element. Pleˇcniks Kommentar, er habe die Kirche im »harten«, den »Wienern unangenehmen Geschmack des Karstes« erbaut, verweist auf die Idee, dezidiert eine »Arbeiterkirche« in der Vorstadt mit einer ganz eigenen, der Klientel an der Herbststraße auf der Schmelz angemessenen Ästhetik zu errichten.203 Abgesehen von den ästhetisch-konstruktiven Aspekten liegt in dieser sozialen Idee die auf die 1920er Jahre vorausweisende Modernität dieses Kirchenbaus, und dass der Thronfolger Franz Ferdinand in der Kirche einen »Mischmasch von Russischem Bad + Pferdestall + einem Venustempel« sah,204 darf in diesem Zusammenhang als Kompliment für Pleˇcniks »demokratischen« Stil gelesen werden.

»Großstadtseelsorge« als soziale Mission: Notkirchen und Arbeiterkathedralen In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wurden auch Begriff und Konzept der »Notkirche« geprägt, mit denen Kardinal Anton Gruscha und sein Weihbischof Godfried Marschall der fortschreitenden »Entkirchlichung« der wachsenden Stadt begegnen wollten – aus der von Kardinal Rauscher 1857

199 Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 335. 200 Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 216. 201 Ann Katrin Bäumler, Vom Historismus zur Moderne – Wiener Kirchenbau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Dies./Andreas Zeese (Hg.), Wiener Kirchenbau nach 1945. Von Rudolf Schwarz bis Heinz Tesar. Reader zur Ausstellung Heilige Zeiten. Wiener Kirchenbau nach 1945 – Von Rudolf Schwarz bis Heinz Tesar, 13. 12. 2007-14. 1. 2008, Wien 2007, S. 9 – 23, hier S. 13. 202 Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 231. 203 Zit. nach Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 238 – 239. 204 Zit. nach Antje Senarclens de Grancy, »Moderner Stil« und »Heimisches Bauen«. Architekturreform in Graz um 1900, Wien / Köln / Weimar 2001, S. 325.

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ausgerufenen »Kirchennot« wurde nun also das Programm der »Notkirche«. Die in diesem Zusammenhang erzählte Szene hat fast schon das Format eines sozialmissionarischen Gründungsmythos: Der unter Gruschas Archiepiskopat tätige Weihbischof Marschall sei 1905 zu ersten Beratungen über einen notwendigen Kirchenbau für Neumargareten – dem heutigen 12. Gemeindebezirk Meidling – in ein dortiges einfaches Wirtshaus gekommen und habe sich vor Ort dieser Frage angenommen: »In dem unscheinbaren Gasthaus des Johann Indra, V., Steinbauergasse Nr. 10 geschah das ganz Unerhörte: Der Weihbischof Dr. Godfried Marschall kam in dieses rauchige Lokal [. . . ] und hier hat er das Wort Notkirche geprägt«.205 Der kirchliche Würdenträger als heldenhafter Retter aus der »Kirchennot«, der sich aus freien Stücken in die Niederungen eines verrauchten Vorstadtwirtshauses begibt: Das lässt sich – ungeachtet des Wahrheitsgehaltes der Erzählung – auch als die mythische Urszene eines neuen stadtpolitischen Denkens der Kirche verstehen, als die »Geburtsstunde der Notkirche«.206 Tatsächlich entstanden bald darauf die ersten beiden provisorischen Kirchenbauten: In der Flurschützstraße in Neumargareten der zwischen Juli und November 1905 errichtete Bau »Zur Unbefleckten Empfängnis« sowie am Allerheiligenplatz in der Brigittenau die ebenfalls im November diesen Jahres fertiggestellte kleine Kirche »Zu Allen Heiligen«.207 Das theologische und kirchenpolitische Programm zum Bau von »Notkirchen« lieferte der Wiener Ordinarius für Pastoraltheologie und Katechetik Heinrich Swoboda mit seinem 1909 gehaltenen und umgehend publizierten Vortrag über »Notgottesdienst und Wiener Kirchennot«, vor allem aber mit seiner im gleichen Jahr erschienenen umfangreichen Darstellung zur »Großstadtseelsorge«.208 An Swobodas Schriften lässt sich für Wien exemplarisch nachvollziehen, was oben bereits für die gesamte Geschichte der Inneren Mission und der Stadtmission festgehalten wurde: nämlich der organisierte Kampf der Kirchen um die innere Ordnung des Stadtraums als Mittel zur Sicherstellung der religiösen Basis der Gesellschaft. In der Hochphase beschleunigter

205 Hans Kutschera, Weihbischof Dr. Godfried Marschall 1840 – 1911, Diss. Universität Wien 1957, S. 61. 206 Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 65. 207 Vgl. Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 176 – 183 und S. 287 – 295. 208 Heinrich Swoboda, Notgottesdienst und Wiener Kirchennot. Rede, gehalten am 25. März 1909 anläßlich der Generalversammlung des Vereins zur Erbauung einer Kirche bei der Schmelz in Ottakring-Wien, Wien 1909; Ders, Großstadtseelsorge. Eine pastoraltheologische Studie, 2. Aufl. Regensburg u. a. 1911 (zuerst 1909). Für einen Überblick über die Seelsorgegeschichte in Wien – auch mit Bezugnahmen auf Swoboda – vgl. Johann Weißensteiner, Großstadtseelsorge in Wien. Zur Pfarrentwicklung von der josephinischen Pfarrregulierung bis in das 20. Jahrhundert, in: Kaspar Elm / Hans-Dietrich Loock (Hg.), Seelsorge und Diakonie in Berlin, Berlin / New York 1990, S. 95 – 128, hier S. 97.

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Urbanisierung – die Bevölkerungszahl Wiens überschritt 1910 die 2-Millionen-Marke – 209 stellte sich die Wiener »Kirchennot« aus Sicht konservativer kirchlicher Kreise nicht nur als Problem der parochialen Organisation dar, sondern als eminente Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung überhaupt. Eine Besonderheit des großstadtseelsorgerischen Programms lag nun gerade in seinem sozialräumlichen Ansatz: So entwickelt Swoboda seine Idee von »Großstadtseelsorge« explizit vor dem Hintergrund zweier Entwicklungen: Erstens entfaltet er in aller Ausführlichkeit das Beispiel der Französischen Revolution. Swoboda skizziert die seelsorgerischen Zustände im Paris des 18. Jahrhunderts mit ihrem »schreiende[n] Mißverhältnis in der Pfarrverteilung« 210 und einer völlig unzureichenden seelsorgerischen Ausbildung der Priester, und er leitet den revolutionären Ausbruch von 1789 ausdrücklich aus diesen Defiziten der kirchlichen Versorgung her. Das Beispiel, das Swoboda hier anführt, ist die Gemeinde von Sainte-Marguerite im Faubourg St.-Antoine: Denn »aus dieser vernachlässigten Vorstadt von Paris zog die eigentliche Revolution bis in das königliche Palais hinein«.211 Selbst die Revolutionsregierung habe hier Handlungsbedarf gesehen: »Die Revolutionäre selber haben dann im Jahre 1791 an Stelle dieser einen Pfarre drei Pfarreien eingerichtet. Sie konnten ja die Erfahrung machen, daß es gut sei, auf die unsterblichen Seelen einzuwirken«.212 Und vielsagend fügt Swoboda hinzu: »Ich hoffe, nicht mißverstanden zu werden. Die Seelsorge hat keine Polizeidienste zu tun. Wenn sie diese tun wollte, so wäre sie verloren; aber ganz von selber wirkt die Seelsorge auf den Charakter der Menschen ein«.213 Der zweite Punkt, der bei Swoboda immer wieder – explizit wie implizit – durchscheint, ist der ebenfalls sozialräumlich aufgefasste Kampf gegen die Sozialdemokratie. Hier begegnet uns ein klassisches Motiv wieder, das auch die protestantische Innere Mission tief geprägt hat: So bezeichnet Swoboda die pfarrliche Seelsorge dezidiert als »Gegenorganisation« zur »internationale[n] Sozialdemokratie«, nicht ohne darauf hinzuweisen, die Arbeiterschaft sei keineswegs ein »Feind Gottes«, vielmehr gebe es »blühende Arbeiterpfarreien, und zwar nicht nur in England«.214 Als Wiener Beispiel führt der Autor die neue Gemeinde von St. Antonius in Favoriten an, wo es am ersten Karfreitag nach der Kirchweihe »unmöglich« gewesen sei, »durch die Menschenmenge, welche abends bei der Kreuzwegandacht die Kirche füllte, hindurch zu kommen«.215

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Vgl. Bobek / Lichtenberger, Wien, S. 31. Swoboda, Großstadtseelsorge, S. 47. Swoboda, Notgottesdienst und Kirchennot, S. 10. Swoboda, Notgottesdienst und Kirchennot, S. 10. Swoboda, Notgottesdienst und Kirchennot, S. 10. Swoboda, Großstadtseelsorge, S. 11. Swoboda, Großstadtseelsorge, S. 19. Swoboda nennt hier zwar nicht den Namen der

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In einem statistischen Teil gleicht Swoboda dann detailliert die Wahlergebnisse 1907 in den Wiener Vorstadtbezirken mit den Größen der Pfarreinheiten in diesen Bezirken und konstatiert einen »unleugbaren Zusammenhang des Anwachsens der sozialdemokratischen Stimmen und der völlig ungenügenden Pfarrorganisation«.216 Hier wird der sozialräumliche Ansatz der Stadtmission besonders deutlich: Kirche und Sozialdemokratie werden in scharfer Konkurrenz um bestimmte Stadtgebiete gesehen; Schauplatz dieser Auseinandersetzung sind die Vorstädte außerhalb des ehemaligen Linienwalls, also die relativ neu hinzugekommenen Gemeindebezirke X-XXI. Berechnet und abgeglichen werden Einflussradien und Wirkungskreise; die Pfarre erscheint als das »natürliche«, »gesunde« Zentrum eines Stadtteils, die Sozialdemokratie gleichsam als Moment seiner sozialen Zersetzung. Somit wird die Präsenz der Kirche – gerade auch im Sinne konkreter kirchlicher Bauten – im Stadtraum von Swoboda als die notwendige Bedingung für die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung gesehen. Als einen besonderen Brennpunkt hob er den 26. Wahlkreis um die Schmelz im heutigen 15. und 16. Bezirk hervor: 60 000 bis 70 000 Katholiken, die zwischen der Thaliastraße und der Schmelz vom Gürtel bis zur Thalheimergasse wohnen, sind nach städtischen Verhältnissen weit von einer Kirche entfernt, kommen sehr selten in eine Kirche, hören keine Glocke läuten, leben (mit wenigen Ausnahmen) in großer religiöser Unwissenheit und sind darum der Agitation der Kirchenfeinde leicht zugänglich.217

Interessant ist hier nebenbei die Betonung des Glockengeläuts, das – vielleicht ein Nachhall romantischer Vorstellungen von dörflicher Ordnung – als Indiz für den alltagsweltlichen Wirkungsradius der Kirche bestimmt wird: »Überall macht man die Erfahrung [. . . ], daß die Kirchen in jenem Umkreis wirken, soweit man ihre Glocken hört«.218 Wo feste Kirchenbauten und reguläre Pfarren fehlten, da sollten – so die Initiative Swobodas, Marschalls und des Vereins »Notgottesdienst in Wien« – provisorische »Notkirchen« errichtet oder zumindest verstärkt sogenannte »Notgottesdienste« abgehalten werden. In den – so der Chronist Norbert Rodt – »verlassensten Gebieten« sollten »passende Räume, Turnsäle der Schulen oder andere größere Räumlichkeiten« bereitgestellt werden, um dort die Heilige Messe feiern zu können.219 In einem zeitgenössischen Bericht aus dem

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Gemeinde, aus seinem 1909 auf der Schmelz gehaltenen Vortrag geht aber klar hervor, dass St. Antonius gemeint ist. Vgl. Swoboda, Notgottesdienst und Kirchennot, S. 26. Swoboda, Großstadtseelsorge, S. 129, vgl. die Statistiken ebd., S. 130 – 131. Swoboda, Großstadtseelsorge, S. 132. Swoboda, Notgottesdienst und Wiener Kirchennot, S. 16. Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 437.

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Jahr 1913 heißt es über die Diskussionen um die ersten Notgottesdienste im sozialdemokratisch dominierten zehnten Bezirk: »Es war fast wie ein Kampf, als ob der Gottesdienst etwas Staatsgefährliches wäre, so daß die Erlaubnis, an Sonn- und Feiertagen während einer halben Stunde in einem Turnsaal die hl. Messe zu feiern, zu gewagt erschien und mit den unglaublichsten Bedenken und Bedingungen unmöglich gemacht werden sollte«.220 Die Sprache der politischen Auseinandersetzung bestätigt hier Swobodas stadtpolitischen und sozialräumlichen Ansatz: Gerade die »verlassensten Gegenden« der Stadt sollten mit religiösen Einrichtungen durchzogen werden. Dabei ist Swobodas Argumentation und die gesamte großstadtseelsorgerische Initiative der ausgehenden Monarchie über die kirchlich-missionarische Stoßrichtung hinaus auch als sozialmissionarisch zu verstehen. Denn die Durchdringung der Stadt mit religiösen Institutionen und Angeboten wird nicht allein als religiöse Frage behandelt, sondern als Frage der Implementierung sozialer und kultureller Ordnungen überhaupt. »Religiöse Ziele« – so heißt es in der Einführung zu einem einschlägigen Themenheft der Zeitschrift »WerkstattGeschichte« – waren in der christlichen Mission »von politischen und sozialen nicht zu trennen«.221 Der Begriff der »sozialen Mission« kennzeichnet daher missionarische Handlungsmuster im erweiterten Sinne, die umfassend auf »Kolonisierung« von Lebenswelten,222 auf Kontrolle, Erziehung, Zivilisierung und Beherrschung ausgelegt sind und die in Praktiken der religiösen Durchdringung des Alltags ebenso zu finden sind wie in der ländlichen »Volksaufklärung« und »Volkserziehung«, in der städtischen Sozialarbeit und Sozialpädagogik, der organisierten Wohlfahrtspflege und Jugendfürsorge sowie im institutionalisierten Umgang mit Devianz und Delinquenz. Nicht wenige Formen sozialer Mission ziehen ihr spezifisches »empowerment« aber gerade daraus, dass »mittels religiöser Sprache Autorität und Legitimität erstellt wird«.223 Hier eröffnet sich ein weites Feld, das unter anderem im Hinblick auf die städtische Raumproduktion noch längst nicht ausreichend untersucht ist.224 Ein »sozialmissionarischer« Kirchenbau der Jahrhundertwende, der in seiner Dimensionierung über die Idee der Notkirche weit hinausging, soll hier noch kurz vorgestellt werden – es handelt sich dabei um die bei Swoboda erwähnte Kirche St. Antonius von Padua in Favoriten. Diese Kirche war ein 220 Zit. nach Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 437. 221 Richard Hölzl u. a., Editorial, in: Soziale Missionen. WerkstattGeschichte 57 (2011), S. 3 – 7. 222 Hartmut Dießenbacher, »Kolonisierung« fremder Lebenswelten. Über »Menschenfischer« im eigenen Land, in: Siegfried Müller / Hans-Uwe Otto (Hg.), Verstehen oder Kolonialisieren? Grundprobleme sozialpädagogischen Handelns und Forschens, Bielefeld 1986, S. 207 – 226. 223 Habermas, Mission im 19. Jahrhundert, S. 678. 224 Vgl. dazu meine Problemskizze: Wietschorke, Die Stadt als Missionsraum.

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besonderes Anliegen des Kardinals Anton Gruscha, der seit seinem »Aufruf an die Katholiken Wiens« von 1893 eine der treibenden Kräfte bei der Errichtung neuer Pfarreien und Kirchengebäude in den neu hinzugekommenen und erweiterten Stadtbezirken war. In der Fassung des von Gruscha betreuten Wiener Kirchenbauprogramms von 1897 stand die Fertigstellung des ein Jahr zuvor begonnenen Kirchenbaus von St. Antonius ganz oben auf der Agenda – zusammen mit sieben weiteren laufenden Kirchenbauten sowie weiteren »unaufschiebbaren« Bauvorhaben. Trotz erheblicher Finanzierungsprobleme und einer notgedrungenen »Ausdünnung« des Kirchenbauprogramms 225 konnte die Favoritener Antonskirche 1901 geweiht werden. Bereits zu Silvester war der Presbyteriumsteil der noch unfertigen Kirche als »erste Notgottesdienststätte« Wiens benediziert worden.226 Der monumentale, nach Plänen von Franz Neumann realisierte Bau lehnt sich in seiner Raumgliederung eng an die architektonischen Vorbilder S. Antonio in Padua und S. Marco in Venedig an und präsentierte – vor der starken Beschädigung der Kirche im Zweiten Weltkrieg – in seiner malerischen Ausstattung ikonographische Programme rund um alttestamentarische und christologische Themen. Einbezogen wurden aber auch dezidiert auf Wien und Österreich verweisende Heilige wie Petrus Canisius, Clemens Maria Hofbauer, St. Leopold, St. Severin oder St. Johannes Capistran. Seitenaltäre zu Ehren des Arbeiterpatrons Joseph und des »bodenständigen, volksnahen« 227 Franziskanerpredigers Antonius repräsentieren das klassische devotionelle Angebot für die »kleinen Leute«, die ihre Alltagssorgen hier deponieren konnten.228 Das Patrozinium der Antonskirche zeigt denn auch nicht nur eine mehr oder weniger versteckte »Selbstheiligung« des Bauherrn Anton Gruscha an, sondern verweist auch auf den Umwertungsprozess, den der heilige Antonius um die Jahrhundertwende durchlief: Nach Gottfried Korff wurde er damals dezidiert als »sozialer Heiliger aufgebaut und eine spezifisch karitative Devotionsform um ihn angesiedelt, die als ›Brot der Armen‹ bis heute in den katholischen Kirchen andere Antonius-Kult-Versionen dominiert«.229 In den Bestimmungen zur Errichtung der neuen Pfarre St. Anton artikulieren sich kirchliche Strategien zur Missionierung in einem dezidiert »proletarischen« und von Zuwanderung geprägten Stadtbezirk. So sollten von den sechs Priestern der Gemeinde »zwei perfekt Tschechisch können, um die aus Böhmen eingewanderten Gläubigen der damals 60 000 Seelen umfassenden neuen

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Vgl. dazu Weißensteiner, Großstadtseelsorge in Wien, S. 112 – 117. Vgl. Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 207. Poeschel, Handbuch der Ikonographie, S. 217. Zur Raumgestaltung und Kirchenausstattung der Erbauungszeit vgl. Missong, Heiliges Wien, S. 210 – 211, und Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 144 – 149. 229 Korff, Politischer »Heiligenkult« im 19. und 20. Jahrhundert, S. 208.

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Abb. 8: St. Antonius von Padua in Favoriten, Frontalansicht.

Pfarre betreuen zu können«.230 Alfred Missong skizziert die Sonderrolle von St. Anton als Experimentierort der Großstadtmission folgendermaßen: Wer die Seelsorgeprobleme einer großstädtischen Proletarierpfarre kennenlernen will, findet hier das denkbar beste Anschauungsmaterial. [. . . ] Weit stärker als in anderen Bezirken, selbst Ottakring nicht ausgenommen, tritt hier das Problem der Kirchenfremdheit an die Seelsorgegeistlichkeit heran. Es gilt, einerseits durch richtige Anordnung des sonntäglichen Gottesdienstes es so einzurichten, daß möglichst viele Pfarrkinder der Sonntagsmesse beizuwohnen vermögen, und andererseits den Gottesdienst und die ganze Seelsorgearbeit so zu gestalten, daß auch die große Schar der religiös gleichgültigen Proletarier wieder Beziehungen zu ihrem Pfarrheiligtum und ihren Seelenhirten findet.231

Dass man hier dennoch eine architektonische Lösung umsetzte, durch die der Altar – entgegen ersten Ansätzen zur Reform des Gottesdienstraums – in »deutliche Distanz zu den Gläubigen gerückt« wurde, dokumentiert den unveränderten Herrschaftsanspruch der katholischen Kirche, der auf die »strikte Trennung des Priesters von den Gläubigen« angewiesen war.232

230 Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 207. 231 Missong, Heiliges Wien, S. 211. 232 Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 148.

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Mit dem Kirchenbau St. Antonius von Padua wurde inmitten des Arbeiterviertels Favoriten eine ausladende Raumfigur installiert, die einen Gegenpol zu sozialdemokratischen und sozialistischen Institutionen wie dem repräsentativen, 1902 eröffneten Arbeiterheim Favoriten des Architekten Hubert Gessner bilden sollten.233 Der Vergleich zwischen diesen beiden konkurrierenden »Versammlungsorten« liegt nahe: Der Festsaal im »Saalgebäude« des Arbeiterheims in der Laxenburger Straße fasste rund 3 000 Personen; ähnliche und noch größere Kapazitäten bot nur die zur gleichen Zeit unweit des Arbeiterheims errichtete Antoniuskirche. In diesem Sinne stellt sie sozusagen das katholische Pendant zum sozialdemokratischen Raum- und Veranstaltungsangebot dar, was sich gerade auch in den spezifischen organisatorischen Formen der Mission und Seelsorge in St. Antonius zeigt: Gleichsam unter Vorwegnahme der Organisationsprinzipien der »Katholischen Aktion« wurde von Pfarrer Dr. Hinner schon frühzeitig die pfarrliche Zusammenfassung und Vereinheitlichung des Vereinswesens in Form der »Antoniusgemeinschaft«, die in fünf Sektionen (Männer, Frauen, Jungmänner, Mädchen, Kinder) gegliedert ist, vorgenommen. Die »Antoniusgemeinschaft« stellt die organisierte Pfarrgemeinde dar; sie hat ihr Zentrum in der Kirche und leistet Seelsorgehilfe.234

Mittels zweier Kartotheken wurden von der Pfarrcaritas Informationen über Familien und Einzelpersonen zusammengetragen und archiviert; als Grundsatz galt: »Der Pfarrer muß sich entweder persönlich oder vermittels seiner Laienhelfer um die Armen und Kranken, um die Abgefallenen und Gefährdeten kümmern. Die Zahl der Abgefallenen, die durchschnittlich während eines Jahres in den Schoß der Kirche zurückgeführt werden, beträgt 200 bis 300«.235 Die Struktur der Organisation mit ihren »Sektionen«, der Akzent auf Jugendarbeit, die statistische Erfassung von persönlichen Daten und »Rückführquoten« von »Abgefallenen« weisen die »Arbeiterkathedrale« St. Antonius als Schaltzentrale missionarischer Arbeit im »roten« Favoriten aus. Ganz offensichtlich wurden hier Techniken der ideologischen Rekrutierung angewandt, die den Anspruch der katholischen Kirche unterstreichen, eine veritable »Massenorganisation« neben den politischen Interessensvertretungen zu sein. Die praktische seelsorgerische Arbeit in St. Antonius folgte dabei dem Prinzip der Trennung und gegenseitigen Autonomie von kirchlichen und christlichsozialen Institutionen, wie Pfarrer Heinrich Hinner unterstrich: »Das Ideal richtiger

233 Zum Arbeiterheim vgl. Markus Kristan, Das Arbeiterheim Favoriten: Teil I – Der Wettbewerb, in: Wettbewerbe Nr. 119/120 ( Januar / Februar 1993), S. 126 – 130; Ders., Das Arbeiterheim Favoriten: Teil II – Das vollendete Bauwerk, in: Wettbewerbe Nr. 121/122 (April / Mai 1993), S. 109 – 112. 234 Missong, Heiliges Wien, S. 212. 235 Missong, Heiliges Wien, S. 212.

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Organisationstätigkeit wäre, daß drei getrennte, nämlich eine katholische, eine politische und eine gewerkschaftliche Zentrale nicht nur theoretisch bestehen, sondern auch praktisch sich betätigen und ihre eigenen schlagkräftigen Organisationen haben«.236 Bis in die Feinheiten der Formulierung hinein ist hier die Sprache des politischen Kampfes präsent: Die Seelsorgearbeit erscheint als »Organisationstätigkeit«, die drei Säulen der politisch-kirchlichen Tätigkeit werden als »Zentralen« bezeichnet, die »Schlagkraft« entfalten sollen. Hier finden wir also ein besonders endrucksvolles lokales Beispiel für die Anstrengungen insbesondere der städtischen kirchlichen Mission, »sich den Herausforderungen durch die moderne Großstadt zu stellen und die Gläubigen durch kirchliche Vereine und Massenbewegungen auch weiter an sich zu binden oder zumindest durch eine konfessionelle Presse zu beeinflussen«.237 Die Rolle der konfessionellen Presse nahm in diesem konkreten Fall das in Tausenderauflagen monatlich erscheinende Pfarrblatt »Antoniusbote« ein, das als »ein starkes Bindeglied zwischen dem Pfarrklerus und den Gläubigen« eingeführt wurde. Die »Pastorationsmethode der ›roten‹ Pfarre St Anton«, so Missong in seinem 1948 erschienenen Abriss zur dortigen Gemeindearbeit, »hat in manchen Wiener Vorstädten Schule gemacht und sich überall bewährt«.238 Auch im Hinblick auf die Situation in Wiener Arbeiterquartieren im frühen 20. Jahrhundert wird man also pauschalen Säkularisierungsdiagnosen nicht zustimmen können; vielfach zeigt sich sogar das gegenteilige Bild, wie es Friedrich Lenger zusammenfassend für die Rolle christlicher Konfessionen im Urbanisierungsprozess skizziert hat: »Von einer fortschreitenden Säkularisierung oder Dechristianisierung großstädtischer Gesellschaften während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kann kaum die Rede sein. Für englische Städte etwa wird bis in die 1880er Jahre hinein eher ein religiöser Aufschwung konstatiert, und selbst in Berlin, das dem Bild einer weitgehend entkirchlichten Stadtgesellschaft nahekam, stieg seit den späten 1870er Jahren die Abendmahlsbeteiligung gerade in den proletarischen Vorstädten des Nordens und des Ostens stark an«.239 Was Lenger hier am Beispiel protestantisch geprägter Städte festhält, lässt sich für den katholischen Bereich in ähnlicher Weise sagen. Für die starke Rolle des Katholizismus in Favoriten dürfte auch die innere Dynamik einer lokal konzentrierten Zuwanderungsgesellschaft mit verantwortlich gewesen sein: Ein spezifischer »Konstellationseffekt« führte hier wie andernorts dazu, dass religiös-konfessionelle Loyalitäten

236 Zit. nach Missong, Heiliges Wien, S. 213. 237 Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013, S. 233. 238 Missong, Heiliges Wien, S. 213 – 214. 239 Lenger, Metropolen der Moderne, S. 231.

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sich gerade dort verstärkten, wo die religiöse und konfessionelle Heterogenität besonders groß war.240

Rot und Schwarz: Politischer Katholizismus und Kirchenbau in der Ersten Republik Der Internationale Eucharistische Kongress des Jahres 1912 fand in Wien statt – für Kaiser und Kirche eine Gelegenheit, das wechselseitige Einvernehmen sowie die Kraft der alten »Pietas Austriaca« zu demonstrieren.241 »Noch einmal, in den Abendstunden des Reiches, leuchtete die alte, barocke, gegenreformatorische Einheit von Monarchie und katholischer Kirche auf«,242 so Ernst Hanisch in seiner gesellschaftsgeschichtlichen Darstellung zum 20. Jahrhundert in Österreich. Auf der zweiten Festversammlung am 13. Februar hielt der Jesuit Karl Graf Andlau eine Ansprache über »Die heilige Eucharistie und das Haus Habsburg«; nach einem Bericht in der »Reichspost« begleitete donnernde Zustimmung die tiefgreifende Danksagung an das Haus Habsburg für die Wahrung des eucharistischen Glaubens in Österreich. Die ganze Versammlung erhob sich wie ein Mann von den Sitzen und brach in jubelnden Beifall [aus], der sich zu einem alles verschlingenden, tobenden Orkan steigerte. In allen Sprachen der Monarchie huldigte die Menge minutenlang dem Volkskaiser. [. . . ] Plötzlich einstimmig wie ein feierlicher Kirchenchoral brauste die Volkshymne über die Versammlung hin aus 20 000 Kehlen [. . . ] und nicht nur den Thronfolger allein hat diese Kundgebung bis zu Tränen ergriffen.243

Ort dieser affirmativen Versammlung war kein sakraler Raum im engeren Sinne, sondern die Rotunde im Prater, die für die Wiener Weltausstellung 1873 sozusagen als Kathedrale des Fortschritts errichtet worden war und bei der Ausstellungseröffnung dem anwesenden Kaiser Franz Joseph als repräsentative Bühne gedient hatte. Einer Prozession über die Ringstraße folgte schließlich ein von Hunderttausenden besuchter Festgottesdienst auf dem Heldenplatz, der sich

240 Vgl. Lenger, Metropolen der Moderne, S. 233. 241 Vgl. Karl Kammel, Bericht über den XXIII. Internationalen Eucharistischen Kongress, Wien, 12. bis 15. September 1912, Wien 1913. 242 Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 214. 243 Zit. nach: Elisabeth Kovács, Die katholische Kirche im Spannungsfeld von Nationalismus und Patriotismus zwischen 1848 und 1918, in: Ferdinand Seibt (Hg.), Die Chance der Verständigung. Absichten und Ansätze zu übernationaler Zusammenarbeit in den böhmischen Ländern 1848 – 1918, München 1987, S. 49 – 62, hier S. 55.

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auch später, im Jahr 1938, als Schauplatz einer – wenn auch ganz anders gelagerten – politischen »Sakralhandlung« anbieten sollte.244 Diese Szene kennzeichnet die Situation des politischen Katholizismus in der ausgehenden Monarchie in plastischer Weise. Die katholische Kirche hatte eine veritable Massenbasis in Form der Katholikentage und der christlichsozialen Partei, in Form von Vereinen, Organisationen und Presseorganen, in Form ihrer karitativen Aktivitäten und insgesamt in Form einer katholisch durchdrungenen Alltagswelt. Das katholische Milieu wurde – so Ernst Hanisch – sogar »um die Jahrhundertwende dichter und dichter besetzt«.245 Erst recht sorgte der Beginn des Ersten Weltkriegs zunächst für eine religiöse Hausse, die in zahlreichen Arbeiten zur Kriegstheologie und zur Rolle der Kirchen und Theologen der beiden großen christlichen Konfessionen im Krieg umfassend belegt ist.246 Dabei wurden Erwartungen an religiöse Wirklichkeitsdeutungen in vielen Fällen ebenso bald enttäuscht wie die Erwartungen an den Weltkrieg

244 Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 214. 245 Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 217. 246 Vgl. aus der umfangreichen Forschungsliteratur z. B. Heinrich Missalla, »Gott mit uns«. Die deutsche katholische Kriegspredigt 1914 – 1918, München 1968; Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie 1870 – 1918, München 1971; Kurt Meier, Evangelische Kirche und Erster Weltkrieg, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 691 – 724; Heinz Hürten, Die katholische Kirche im Ersten Weltkrieg, in: ebd., S. 725 – 735; Gerd Krumeich / Hartmut Lehmann (Hg.), »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000; Martin Greschat, Begleitung und Deutung der beiden Weltkriege durch evangelische Theologen, in: Bruno Thoß/Hans-Erich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn 2002, S. 497 – 518; Gottfried Korff (Hg.), Alliierte im Himmel. Populare Religiosität und Kriegserfahrung, Tübingen 2006; Claudia Schlager, Kult und Krieg. Herz Jesu – Sacré Coeur – Christus Rex im deutsch-französischen Vergleich 1914 – 1925, Tübingen 2011; Martin Greschat, Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick, Stuttgart 2013; Martin Lätzel, Die Katholische Kirche im Ersten Weltkrieg. Zwischen Nationalismus und Friedenswillen, Regensburg 2014; Karl-Josef Hummel / Christoph Kösters (Hg.), Kirche, Krieg und Katholiken. Geschichte und Gedächtnis im 20. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 2014. Speziell zu Österreich: Wilhelm Achleitner, Gott im Krieg. Die Theologie der österreichischen Bischöfe in den Hirtenbriefen zum Ersten Weltkrieg, Wien / Köln / Weimar 1997; Matthias Rettenwander, Der Krieg als Seelsorge. Katholische Kirche und Volksfrömmigkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2005; Irmtraud Fischer / Livia Neureiter, Die biblische Rede vom Krieg und ihre Rezeption während des Ersten Weltkriegs, in: Siegfried Mattl u. a. (Hg.), Krieg – Erinnerung – Geschichtswissenschaft. Wien / Köln / Weimar 2009, S. 25 – 45.

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als »reinigendes Gewitter«.247 Nach der Revolution sah sich die katholische Kirche in Österreich daher nicht nur mit einer starken, antiklerikal auftretenden Sozialdemokratie konfrontiert, sondern auch mit einer durch den Krieg und die sozialen Verwerfungen der unmittelbaren Nachkriegszeit forcierten Religionsskepsis. Als der Moraltheologe, katholische Prälat und christlichsoziale Patriarch Ignaz Seipel nach dem Ende der Monarchie die politische Bühne betrat, formierte sich eine neue, dieser Situation angepasste kämpferische Variante des politischen Katholizismus. 1923 verfasste Seipel unter dem programmatischen Titel »Religion und Politik« einen Artikel, in dem es heißt: »Die Religion wird für den religiösen Menschen immer auch Gegenstand des politischen Ringens sein müssen, weil das Festhalten an ihr ein großes Gut des Volkes, ihr Verlust aber der Anfang zum Abstieg ist«.248 In diesen Formulierungen zeichnen sich nicht zuletzt die Konturen der Auseinandersetzung zwischen Sozialdemokratie und Kirche ab, wie sie – von klerikaler und christlichsozialer Seite als »Kulturkampf« verstanden – die gesamte Erste Republik hindurch prägend war.249 Konkret ging es insbesondere um die Schul- und Bildungspolitik, die Frage der staatlich garantierten Priesterbezüge (der »Kongrua«) sowie das Eherecht – es ging aber immer auch grundsätzlich um die innere Ordnung der Gesellschaft. Der christlichsoziale und der sozialdemokratische Lebensentwurf standen einander hier diametral gegenüber. Das betraf insbesondere das religiöse Feld im engeren Sinne, wo vollkommen konträre Auffassungen aufeinandertrafen: Für die Sozialdemokratie war Religion Privatsache, die im öffentlichen Feld der Politik nichts zu suchen habe, daher stellte sie die Forderung nach der strikten Trennung von Kirche und Staat. Anders hingegen die Christlichsozialen. Sie waren davon überzeugt, daß nur die Grundsätze des Christentums das gesellschaftlich-staatliche Leben gedeihlich leiten können, daß eine soziale Harmonie nur im Schoße der Kirche zu finden sei. So entartete der politische Konflikt in der Ersten Republik immer mehr zu einem weltanschaulichen Kampf, der emotional hoch besetzt war. Es ging immer um das Letzte, um den Glauben, hier wie dort.250

Zwar hat schon Erika Weinzierl darauf hingewiesen, dass der politische Katholizismus im Österreich des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, erst

247 Gerd Krumeich, »Gott mit uns«? Der Erste Weltkrieg als Religionskrieg, in: Ders./Hartmut Lehmann (Hg.), »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 273 – 283, hier S. 273. 248 Zit. nach: Erika Weinzierl, Kirche und Politik, in: Dies./Kurt Skalnik (Hg.), Österreich 1918 – 1938. Geschichte der Ersten Republik, Bd. 1, Graz / Wien / Köln 1983, S. 437 – 496, hier S. 437. 249 Vgl. dazu in aller Kürze Liebmann, Von der Dominanz der katholischen Kirche zu freien Kirchen im freien Staat, S. 397 – 406. 250 Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 292.

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recht aber in der Zwischenkriegszeit, alles andere als monolithisch und nicht auf das christlichsoziale Milieu beschränkt war – Weinzierl spricht von »mehrere[n] politische[n] Katholizismen«.251 In der grundlegenden Frage nach der Rolle der Kirche im Alltagsleben war man sich aber einig: »Der unbestreitbare Säkularisierungsprozeß sollte gezähmt, ja rückgängig gemacht werden«.252 Erst recht nach zwei Wellen massiver sozialdemokratischer Kirchenaustrittspropaganda in den Jahren 1923 und 1927 verfestigte sich das Bild von der Sozialdemokratie als dem »Antichrist«.253 In diesem starken politischen Spannungsfeld sind die – wenn auch spärlichen – Wiener Kirchenbauaktivitäten der 1920er und frühen 1930er Jahre zu verorten. Mehr denn je wurde die stadträumliche Positionierung und die ästhetische wie programmatische Ausstattung katholischer Kirchenräume zu einem Politikum: Jede neue Kirche war zugleich als ein Statement gegen die sozialdemokratische Stadtregierung zu lesen. Umgekehrt entzündete sich eine der heftigsten kommunalpolitischen Debatten der frühen 1920er Jahre an einem – im weiteren Sinne – sakralen Bauwerk der Gemeinde Wien aus dem Jahr 1922, dem von Clemens Holzmeister in expressionistischen Formen gestalteten Krematorium beim Wiener Zentralfriedhof. Die von der sozialdemokratischen Stadtregierung, insbesondere dem Stadtrat für Wohlfahrtspflege Julius Tandler, vertretene Feuerbestattung widersprach traditionellen Vorstellungen der katholischen Kirche über Tod und Auferstehung; »eine erzbischöfliche Note drohte jedem Gläubigen, der sich für diese Art der Bestattung entschied, die Exkommunikation an«.254 Der Krematoriumsstreit wurde auf diese Weise zur »religiös-weltanschauliche[n] Auseinandersetzung« und zeitgenössisch sogar als »Kulturkampf« eigener Ordnung verstanden; im Krematoriumsbau sahen Kritiker aus dem katholischen Lager eine »Trutzburg gegen die katholische Kirche«.255 Die wenigen sakralen Neubauten im engeren Sinne waren freilich keine Bauten der »roten« Gemeinde Wien, sondern entstanden im scharfen politischen Gegensatz zur sozialdemokratischen Stadtregierung. Dabei standen we-

251 Weinzierl, Kirche und Politik, S. 438. Vgl. dazu auch die umfassende Darstellung von Katharina Ebner, Politische Katholizismen in Österreich 1933 – 1938. Aspekte und Desiderate der Forschungslage, in: Florian Wenninger / Lucile Dreidemy (Hg.), Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933 – 1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien / Köln / Weimar 2013, S. 159 – 222. 252 Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 292 – 293. 253 Vgl. Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 294. 254 Wolfgang Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in: Peter Csendes / Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt. Band 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien / Köln / Weimar 2006, S. 175 – 544, hier S. 377. 255 Zit. nach Karl Sablik, Julius Tandler. Mediziner und Sozialreformer, Frankfurt am Main 2010, S. 273.

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nige Jahre nach Kriegsende kaum finanzielle Mittel bereit, um Kirchenbauten im größeren Stil zu ermöglichen. Den im Zusammenhang mit der »Kirchennot«-Diskussion teils vor dem Ersten Weltkrieg, teils während der Kriegsjahre eingerichteten »Gottesdienststätten« folgten in den 1920er Jahren deshalb zahlreiche weitere »Barackenkirchen«, schwerpunktmäßig in Favoriten, aber auch in anderen Arbeitergegenden in Simmering, Meidling oder Penzing.256 Einen Ausgangspunkt dieses Kirchenbauprogramms bildete die Tatsache, dass nicht nur die in der Gründerzeit entstandenen Arbeiterviertel, sondern insbesondere die im »Roten Wien« neu entstandenen und entstehenden Gemeindebaukomplexe aus katholischer Sicht parochial drastisch »unterversorgt« waren. Insofern wurden die von kirchlicher Seite geplanten provisorischen »Notkirchen« ganz bewusst dort platziert, wo seelsorgerischer Handlungsbedarf zu bestehen schien: in den proletarischen Vorstädten, insbesondere in der Nähe der Gemeindebauten. In diesem Sinne lässt sich die Geschichte des Kirchenbaus in Wien in der Zwischenkriegszeit als Geschichte eines Kampfes um den öffentlichen Raum verstehen. Mehr noch gilt das für die Geschichte der Fest- und Umzugskultur: So wurde das katholische Fronleichnamsfest zu einem Kulminationspunkt des christlichsozialen Zugriffs auf den öffentlichen Raum; »das katholische Österreich beherrschte an diesem Tag die Straßen, die für den Rest des Jahres von der Sozialdemokratie monopolisiert wurden«.257 Die »Arbeiter-Zeitung« schrieb dagegen 1922 über den Fronleichnamszug in Hernals, dieser sei eine »Heerschau der Klerikalen und Antirepublikaner«, ein von der Kirche inszenierter »Auftrieb der weißgekleideten Kinder, die für den Katholizismus Reklame machen und die Herzen der Menschen gewinnen sollten«. Dabei seien die Kinder, »wie alles andere, nur Werkzeuge« und »dienen als Staffage der kirchlichen Macht«.258 Auf der anderen Seite wetterte Ignaz Seipel 1927 gegen die Feiertagsgestaltung der Sozialdemokraten: »Es ist kein Feiertag vergangen, ab dem sie nicht das, was uns heilig ist, herabgesetzt hätten«; 259 Prälat Josef Gorbach sah bei den sozialdemokratischen »Kinderfreunden« sogar systematisch »Christenhaß ins junge Herz gesenkt«.260 Auf diese Weise war die gesamte Praxis der Feiern und Rituale, die gesamte Architekturproduktion und andere Formen kultureller Repräsentation in der Öffentlichkeit hineingezogen in den fundamentalen politischen Kampf zwischen »Rot« und »Schwarz«, der in Wien seine besondere Brisanz daraus bezog, dass sich hier über weiteste Strecken der Ersten

256 Vgl. Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 438 – 440. 257 Robert Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien / Köln / Weimar 2001, S. 48. 258 Zit. nach Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik, S. 48. 259 Zit. nach Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik, S. 48. 260 Zit. nach Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik, S. 50.

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Republik hinweg eine christlichsoziale Bundes- und eine sozialdemokratische Stadtregierung unmittelbar gegenüberstanden. Ein christlichsoziales Musterbauvorhaben stellte die Mitte der 1920er Jahre begonnene »Siedlung Starchant« am Gallitzinberg in Ottakring dar. Diese von der christlichen Baugenossenschaft »Heim« errichtete Siedlung galt als »Kronstück christlichsozialer Wohnungspolitik« und schloss auch einen kleinen Kirchenbau – die Wallfahrtskirche zur Heiligen Theresia vom Kinde Jesus – mit ein.261 Die erst kurz zuvor, im Jahr 1925, heiliggesprochene Therese von Lisieux steht für die seit dem 19. Jahrhundert greifbaren Tendenzen einer neuen spirituellen »Verinnerlichung« 262 und »Feminisierung« des Katholizismus.263 Der Rekurs auf die damals ungemein populäre Heilige sowie auf die Marienverehrung inklusive der Marienerscheinungen von Lourdes im Starchanter Kirchenraum 264 spiegelt die Situation einer katholischen Amtskirche, die sich – zumal im lokalen Rahmen des »Roten Wien« – in der Defensive befand und auf die spirituelle Intensivierung seiner Vermittlungstechniken zielte. Ein Glasfenster verweist zudem auf das »Andenken an Karl v. Österreich, den großen Herz-Jesu-Verehrer, gest. 1922 in der Verbannung«.265 Der Kirchenbau verweigert sich ostentativ der architektonischen Moderne, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg in den Kirchenbauten Wagners und Pleˇcniks umgesetzt worden war; in Dimensionierung und Raumzuschnitt erinnert er an eine Dorfkirche und lässt die Siedlung Starchant dadurch als dörflich-konservative Raumfigur in der Stadt erscheinen.266 Nach dem »kalten« Staatsstreich vom März 1933 und der Niederschlagung des Aufstandes vom März 1934 vollzog die nunmehr als »Vaterländische Front« firmierende christlichsoziale Partei unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß den »Schritt in die offene Diktatur«.267 Der politische Katholizismus bildete dabei

261 Vgl. dazu Erich Bernard / Barbara Feller, Siedlung Starchant. »Kronstück christlicher Wohnungspolitik«, in: Wiener Geschichtsblätter 50 (1995), S. 1 – 15. 262 Vgl. Oskar Köhler, Veräußerung und Verinnerlichung der Spiritualität im 19. Jahrhundert – Die Anfänge der Eucharistischen Kongreßbewegung – Die Verehrung der heiligen Therese von Lisieux, in: Hubert Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte Band 6.2, Freiburg / Basel / Wien 1973, S. 265 – 278. 263 Vgl. dazu Christine Bard, Die Frauen in der französischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien 2008, S. 120 – 121. 264 Zur Ikonographie der Starchanter Kirche vgl. Missong, Heiliges Wien, S. 278 – 279. 265 Missong, Heiliges Wien, S. 279. 266 Vgl. Barbara Feller, Kampf um die Seele. Sozialdemokratie und Kirche in der Zwischenkriegszeit, in: Wolfgang Kos (Hg.), Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930. 361. Sonderausstellung des Wien Museums, Wien 2010, S. 72 – 78, hier S. 74. 267 Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, S. 461.

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Abb. 9: Gottesdienst in der Kirche zur Hl. Theresia vom Kinde Jesus, Siedlung Starchant.

das ideologische Rückgrat des austrofaschistischen Ständestaates.268 Die »Gewaltherrschaft des österreichischen Marxismus«, so Kardinal Friedrich Gustav Piffl schon 1931, habe »den Katholiken die Augen geöffnet« für das Zerstörungswerk der Sozialdemokratie, durch das »die Grundsätze der katholischen Weltanschauung systematisch aus allen Gebieten des staatlichen und öffentlichen Lebens verdrängt wurden«.269 Aus dieser Haltung heraus leistete die katholische Kirche in Österreich »Flankenschutz beim Marsch in die Diktatur«, der »Zeitpunkt für eine neue Offensive, für einen neuen Kreuzzug, für eine neue Gegenreformation« schien gekommen.270 Unter dem völkisch-klerikalen Symbol des Kruckenkreuzes wurde das Programm einer Rekatholisierung des Staates schrittweise umgesetzt: Der Kirchenaustritt wurde gravierend erschwert und mit Auflagen versehen, das katholische Schulgebet an den Pflichtschulen wieder eingeführt, in den Klassenzimmern brachte man systematisch Kruzifixe an.271 Da dem austrofaschistischen Regime zumal in Wien eine eigene Massenbasis fehlte, hatte der permanente Rückgriff auf den Katholizismus immer

268 Vgl. Ernst Hanisch, Der Politische Katholizismus als ideologischer Träger des »Austrofaschismus«, in: Emmerich Tálos / Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933 – 1938, 5. Auflage Wien 2005, S. 68 – 86. 269 Zit. nach Hanisch, Der Politische Katholizismus, S. 71 – 72. 270 Hanisch, Der Politische Katholizismus, S. 73, 75. 271 Vgl. Feller, Kampf um die Seele, S. 74; Hanisch, Der Politische Katholizismus,

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auch den strategischen Sinn, die Ressourcen des katholischen Milieus für den neuen Staat zu mobilisieren und auf diesem Wege den Alltag der Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Auf dem Allgemeinen Deutschen Katholikentag 1933 in Wien entfaltete sich, in Anknüpfung an den Eucharistischen Kongress 1912 und zusätzlich symbolisch aufgeladen durch das 250. Jubiläum des Sieges über das Osmanische Reich 1683, nochmals »ein üppiger, barocker, imperialer Katholizismus«.272 Die neue Verfassung von 1934 deklarierte Österreich schließlich »im Namen Gottes« als einen »christlichen, deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage«.273 Mit einzelnen Kirchenbauten wie der von Hildegard Burjan initiierten und nach Plänen von Clemens Holzmeister ausgeführten Seipel-Gedächtniskirche auf der Schmelz wurde christlichsoziale Erinnerungspolitik im Stadtraum sichtbar gemacht; gegenüber Bauten wie der architektonisch konservativen Starchanter »Dorfkirche« zeigt sich insofern wieder ein gesteigertes Selbstbewusstsein des katholischen Milieus, als hier – trotz heftiger Kritik an Holzmeisters Entwurf – ein turmloser Bau und ein gemäßigt modernes Raumkonzept zugelassen wurde. Charakteristisch für die sozialmissionarische Linie des katholischen Kirchenbaus in Wien ist die stadträumlichen Positionierung der Kirche in einem ausgeprägten Arbeiterquartier und zwischen Gemeindebauten der sozialdemokratischen Stadtregierung. Dadurch wurde die Christkönigskirche, in dem ab 1934 nicht nur der Sarkophag Ignaz Seipels, sondern auch der des ermordeten Engelbert Dollfuß zur Verehrung präsentiert wurde, nicht nur zum viel frequentierten Erinnerungsort des politischen Katholizismus, sondern auch ein veritabler Vorposten der Katholisch-Konservativen in einem politischen Revier des »Roten Wien«.274 Eine ähnliche stadt- und raumpolitische Idee lag auch den von Robert Kramreiter konzipierten, modernen Kirchenneubauten zur Königin des Friedens in Favoriten und St. Josef in Floridsdorf zugrunde, die 1934 – 1935 und 1936 – 1938 ebenfalls »in sozial (und politisch) problematischen Gebieten« errichtet wurden.275 Zwei weitere ambitionierte Bauvorhaben des Architekten Rudolf Perco in Arbeitervierteln der Bezirke Meidling und Liesing waren in den 1930er Jahren in Planung, wurden aber – wie sämtliche Kirchenbauaktivitäten in Österreich – nach der Machtübernahme der Natio-

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S. 75 – 81; zur kulturellen Rekatholisierung im Ständestaat vgl. auch Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik, S. 59 – 66. Hanisch, Der Politische Katholizismus, S. 76. Zit. nach Hubert Stock, ». . . nach Vorschlägen der Vaterländischen Front«. Die Umsetzung des christlichen Ständestaates auf Landesebene, am Beispiel Salzburg, Wien / Köln / Weimar 2010, S. 27. Vgl. dazu die ausführliche Analyse dieses Kirchenbaus in Kapitel 4. Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, S. 476. Zu den beiden Kirchenbauten vgl. Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 210 – 214, 432 – 433.

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Abb. 10: St. Josef in Floridsdorf, Gesamtansicht.

nalsozialisten und dem »Anschluss« an das Deutsche Reich im März 1938 gestoppt.276 Besonders deutlich zeigte sich die sozialmissionarische Stadtpolitik im Ständestaat in den Wohnanlagen der Gemeinde Wien, die in den 1920er Jahren entstanden waren und die aus katholischer Sicht seelsorgerisch massiv unterversorgt waren. Viele Gemeindebauten des Roten Wien waren mit infrastrukturellen Einrichtungen wie Bade- und Waschräumen, medizinischen Versorgungsstationen, Kindergärten oder Mutterberatungsstellen ausgestattet worden und integrierten auch ein umfangreiches kulturelles Angebot – von Bibliotheken, Kinos und Theatersälen bis hin zu den Parteilokalen der sozialdemokratischen Partei, die als Stützpunkte des politischen Milieus dienten. Kirchen- und Kapellenräume gehörten zu diesem Programm selbstverständlich nicht dazu, und das blieb so bis zum Ende der sozialdemokratischen Stadtregierung.277 Im Februar 1934 endete die Ära des »Roten Wien«, und schon am 24. Februar dieses Jahres erließ das Wiener Ordinariat ein Rundschreiben an die Pfarrämter der Stadt, in dem die Einrichtung von »Gottesdienststätten« in Gemeindebauten gefordert wurde.278 Die »Kirchenbau-Nachrichten« annoncierten im März 1934:

276 Vgl. Ursula Prokop, Rudolf Perco 1884 – 1942. Von der Architektur des Roten Wien zur NS-Megalomanie, Wien / Köln / Weimar 2001, S. 292 – 296. 277 Vgl. Feller, Kampf um die Seele, S. 74. 278 Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 442.

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Helft uns weiter mit! [. . . ] An vielen Stellen Wiens ist jetzt leichter Gelegenheit, einen Baugrund zu erwerben, eine Gottesdienststätte einzurichten! [. . . ] Keiner stelle sich abseits, da es gilt bei den Stätten, wo bisher vielfach Haß und Kampf geherrscht hat, dem Heilande, dem Friedensfürsten, und seiner Liebe eine Wohnung zu bereiten! 279

Im Mai schließlich gründete sich im Rahmen einer Festveranstaltung des Wiener Kirchenbau-Vereins das sogenannte »Bruder-Konrad-Werk«, das für die Ausstattung von Seelsorgestationen in Gemeindebauten zuständig sein sollte. Dem Präsidium dieses Werks gehörten Kardinal Theodor Innitzer, Bürgermeister Richard Schmitz und der Prälat Jakob Fried an,280 der 1929 eine Broschüre zur »Seelsorgenot« verfasst hatte.281 In den Jahren 1934 und 1935 entstand eine ganze Reihe von »Notgottesdienststätten« – so auch in großen Gemeindebaukomplexen wie dem Goethe-Hof in Kaisermühlen, dem Fuchsenfeldhof in Meidling, dem Sandleitenhof in Ottakring sowie dem Karl-Marx-Hof in Heiligenstadt.282 Kleinere Seelsorgestationen und Kapellen wurden zusätzlich in Obdachlosenheimen, Krankenhäusern, Vereinshäusern oder »Kinderbewahranstalten« eingerichtet. In dem Vorarlberger Prälaten und Caritas-Direktor Josef Gorbach hatte das Notkirchenprogramm der 1930er Jahre in Wien einen seiner aktivsten Verfechter, der sich für einfache, provisorische Gottesdiensträume »an belebten und kirchenleeren Punkten« der Stadt einsetzte und den Bau von sieben Notkirchen im 2., 12., 16. und 21. Bezirk sowie an einem niederösterreichischen Standort finanziell und planerisch organisierte.283 Der in den Karl Marx-Hof integrierte Kapellenraum spiegelt den »Kulturkampf« der 1930er Jahre in Wien besonders eindrucksvoll wider: Eingerichtet in den Räumlichkeiten der Wohnberatungsstelle des Gemeindebaus – und damit in einem der Stützpunkte der sozialdemokratischen Wohnungspolitik –, wurde sie 1939 in ein nationalsozialistisches Parteilokal umgewandelt.284 Charakteristisch für den Gestus der Rekatholisierung im Arbeiterviertel war die Ansprache, die Kardinal Innitzer am Weihnachtstag 1934 zur Einweihung der »Gottessiedlung« im Karl-Marx-Hof hielt: Bei uns klopft Christus an und will Eingang finden. An die Bewohner des KarlMarx-Hofes richtet er heute seine Einladung. Wir wollen hier keine Eroberung machen. Der Bischof, der Bürgermeister und die christliche Bevölkerung wissen, daß

279 Zit. nach Feller, Kampf um die Seele, S. 76. 280 Vgl. Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 442. 281 Jakob Fried, Die Wiener Seelsorgenot. Anregungen zur Wiedergewinnung der religionslosen Massen, Wien 1929. 282 Vgl. die Aufstellung bei Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 442 – 443. 283 Zu Gorbach vgl. Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 443 – 449. 284 Vgl. Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 398.

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hier gute Menschen, arme Menschen schwer heimgesucht worden sind. Die christliche Nächstenliebe will ihnen gern zu Hilfe kommen. Aber nicht vom Brot allein lebt der Mensch, auch die Seele will Nahrung haben. Weihnachten ist die Zeit, wo es den, der eine Heimat hat, zu ihr hinzieht. Erschließen wir also dem Klopfen der heiligen Familie unser Herz, denn Frieden will sie uns bringen nach den vielen Kämpfen. Diese Gottesdienststätte sei eine Herberge für das Christkind und eine Wohnstätte für uns. Die Brüder von der unbefleckten Empfängnis Mariä haben sich an mich gewandt und um eine Wohnung in einem Arbeiterhause für den Herrn angesucht. Der Bischof hat ihnen diese hier angewiesen. Ich richte nun das Wort an die Bewohner des Karl-Marx-Hofes: Sie mögen die hingestreckte Hand zum Frieden ergreifen und sich als Brüder und Schwestern betreuen lassen. 285

Besonders prompt reagierten die Katholiken der »Vaterländischen Front« mit der Einrichtung der Kirche St. Josef in der Sandleitengasse: Unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkriegs vom 12.– 15. Februar 1934, dessen Bilanz »mit hunderten von Toten, mit der Vernichtung der Sozialdemokratie, mit über 10 000 Verhaftungen und neun vollstreckten Todesurteilen« 286 die Installation der ständestaatlichen Diktatur besiegelte, wurden am 15. Februar im Sandleitenhof Räumlichkeiten für eine »Gottesdienststätte« angemietet.287 In einer der Hochburgen des »Roten Wien«, in der kurz zuvor noch Kämpfe zwischen Heimwehr und Republikanischem Schutzbund stattfanden, wurde nun als Symbol der neuen politischen Machtverhältnisse die heilige Messe gefeiert. Ein erster Spatenstich zum Bau eines eigenen, von Josef Vytiska geplanten Kirchengebäudes im Sandleitenhof erfolgte am 19. September 1935; genau ein Jahr später wurde die Weihe vollzogen. Beim Bau hatte man insbesondere Arbeiter herangezogen, die im Sandleitenhof wohnten, um Schwellenängste abzubauen und die Rekatholisierung des Gemeindebaus bereits auf dieser Ebene voranzutreiben.288 Die neue Sandleitenkirche war – so Helmut Weihsmann – »ein besonderes propagandistisches Anliegen der christlichsozialen Gemeinderegierung unter Bürgermeister Schmitz«. Das Bauwerk »war – gelinde gesagt – eine Provokation für die Arbeiterklasse, die nach dem verlorenen Abwehrkampf von 1934 gegen den Klerikal-Faschismus mitten in ihrem ›roten‹ Quartier ein Monument des klerikalen und reaktionären Bürgertums vorgesetzt bekam«.289 Das Patrozinium »St. Josef der Arbeiter« verweist auf den ideologischen Kampf um die Leitsemantik der Arbeit. Der heilige Joseph war schon im 19. Jahrhundert eine Galionsfigur der katholischen Arbeitervereine gewesen; in der Enzyklika 285 286 287 288

Reichspost vom 25. Dezember 1934, zit. nach Feller, Kampf um die Seele, S. 75. Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 306. Vgl. Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 339. Ingrid Radauer-Helm, Die »Arbeiterkirche« St. Josef, 1935/36, S. 2, online unter: http://www .sandleiten .at / pfarre / chronik - geschichte (Zugriff am 17. März 2015). 289 Weihsmann, Das Rote Wien, S. 367.

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Abb. 11: Sandleitenkirche, Eingangsbereich.

»Divini Redemptoris« von 1937 sollte Papst Pius XI. »das Wirken der katholischen Kirche gegen den atheistischen Kommunismus unter den Schutz des heiligen Joseph« stellen.290 In der Sandleitenkirche findet sich Joseph auf einem monumentalen Fresko als »Schutzherr und Helfer der Bedrängten« von Hans Andre: Der Patron ist hier zu sehen, »wie er zu Füßen der Gottesmutter und ihrer sieben Freudenengel das Jesuskind dem Arbeitervolk zuführt«.291 Alfred Missong charakterisiert die Sandleitenkirche als »rechte Arbeiterkirche [. . . ] – ein Gotteshaus, das die proletarischen Großstadtmenschen von heute anzusprechen und an sich zu fesseln vermag«.292 Ein angeschlossener Festsaal, ein Pfarrhaus und ein Jugendheim sorgten für die infrastrukturelle Verankerung der neuen Pfarre im Gemeindebau.293 Die Sandleitenkirche beherbergt in der westseitig gelegenen Werk- oder Wochentagskapelle zwei von Albert Paris Gütersloh gestaltete Glasfenster, welche die »vier letzten Dinge des Menschen: Tod, Gericht, Himmel, Hölle«

290 Georg Schwaiger, Papsttum und Päpste im 20. Jahrhundert. Von Leo XIII. zu Johannes Paul II., München 1999, S. 262 – 263. Zur politischen Indienstnahme des heiligen Joseph vgl. Gottfried Korff, Heiligenverehrung und soziale Frage, in: Günter Wiegelmann (Hg.), Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert, Göttingen 1973, S. 102 – 111; Ders., Politischer »Heiligenkult« im 19. und 20. Jahrhundert, S. 209. 291 Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 339. 292 Missong, Heiliges Wien, S. 275. 293 Vgl. Feller, Kampf um die Seele, S. 76.

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zeigen. Das Fenster der Südwand ist im Hinblick auf die sozialmissionarische Figur des Kirchenraums in der Stadt besonders aufschlussreich, insofern es die »Teufelsstadt« und die »Himmelsstadt« antithetisch einander gegenüberstellt. Güterslohs hier angebrachte Verse zur »Teufelsstadt« aktualisieren die klassischen Muster religiöser Großstadtfeindschaft aus dem 19. Jahrhundert: »Die Teufelsstadt ist stets im Falle / Von Gott ins immer tiefre Nichts. / Es stürzt, wer in ihr wohnt, für alle / Aeonen fort vom Quell des Lichts«. Diese Formulierung weckt, so Ingrid Radauer-Helm in ihrer knappen Beschreibung von St. Josef, »Assoziationen mit der vor den Kirchentoren situierten Wohnhausanlage, welche aufgrund ihrer Größe und Infrastruktur als ›Stadt in der Stadt‹ bezeichnet wurde«.294 Auf diese Weise wurde der »Kulturkampf« zwischen Sozialdemokratie und Christlichsozialen, wie er die Zwischenkriegszeit bis 1934 beherrscht hatte, nochmals heilsgeschichtlich aufgeladen: Das »Rote Wien« erschien – wenig verklausuliert – als im »Fall« begriffene »Teufelsstadt«, die durch den Rekurs auf die fiktive »Himmelsstadt« überwunden werden sollte.

Liturgische Bewegung und moderne Kirchenraumkonzeptionen Die theologischen und liturgischen Ausgangspunkte der modernen Kirchenraumgestaltung sind im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu finden. Ausgehend von einem Vortrag des belgischen Benediktiners Dom Lambert Beauduin auf dem Katholikentag in Mecheln 1909 formierte sich in Belgien und den Niederlanden, ab 1913 in Deutschland und später auch in Österreich eine liturgische Bewegung, deren Ziel die verstärkte Einbindung der Gemeinde in das liturgische Geschehen der katholischen Messe war. Dabei wurde eine Reihe neuer Feierformen entwickelt: die teilweise dialogisch angelegte Gemeinschaftsmesse, die Singmesse und Betsingmesse sowie das Deutsche Hochamt.295 Aus den Reformüberlegungen der liturgischen Bewegung heraus wurden bald auch Kirchenraumkonzeptionen entwickelt, die für die katholische Sakralarchitektur des 20. Jahrhunderts sehr einflussreich werden sollten. 1922 publizierte Johannes van Acken sein Buch »Christozentrische Kirchenbaukunst«, in dem er die Forderung vertrat, »Hauptkultraum und Hauptlaienraum sollen zur Einheit der Meßopferkirche zusammengefaßt werden«.296

294 Radauer-Helm, Die »Arbeiterkirche« St. Josef, S. 3. 295 Vgl. Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik, Berlin 2004, S. 516 – 517. 296 Zit. nach Marian Zachow, »Gottes Volk im Aufbruch«: Friedrich Press und die Raumkonzepte der liturgischen Bewegung und des Zweiten Vatikanums, in: Detlef Karg (Hg.), Friedrich Press (1904 – 1990): Kirchenräume in Brandenburg, Berlin 2008, S. 39 – 53, hier S. 40. Vgl. dazu auch Barbara Kahle, Deutsche Kirchenbaukunst des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1990. S. 8 – 9.

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Nach wie vor sollte dabei im Raum »eine Steigerung in Richtung auf den Altar geschehen«. Allerdings sollte sich der Raum nun nicht mehr unilinear auf einen Chor- und Altarraum als Kulminationspunkt ausrichten, sondern sich vielmehr »in konzentrischen Kreisen« um den Altar als Symbol des »mystischen Christus« herum anordnen,297 wodurch die Rolle der Gemeinde klar aufgewertet wurde. Die Kunsthistorikerin Barbara Kahle sieht daher in der liturgischen Bewegung den »Wegbereiter des modernen Kirchenbaus« überhaupt.298 Das gilt insofern auch für die Fassadengestaltung und den Städtebau, als die freistehende Position von Kirchenbauten im Stadtraum zunehmend kritisiert wurde. Das »christliche Kunstblatt« warf 1915 etwa die Frage auf: »Wie lange wird man noch diese dünkelhaften Kirchtürme ertragen?«,299 in der sich eine neue Bescheidenheit im Hinblick auf die Repräsentationsästhetik der Kirche niederschlägt. Gleichzeitig aber waren die Ideen der Liturgischen Bewegung aber auch verbunden mit einem alles andere als progressiven Programm: Die Grundlinien der »akzeptierten Kirchenlehre hierarchischer Über- und Unterordnung« blieben unhinterfragt und artikulierten sich in einer Betonung der »MysterienTheologie« im Anschluss an romantische, das Mittelalter verklärende liturgische Formen.300 Die Betonung der gemeindlichen Kollektivität berührte immer wieder auch autoritäre und totalitäre Vorstellungen sozialer Organisation, etwa in Romano Guardinis Programmschrift zur Liturgischen Bewegung, in der es heißt: Das Einzelwesen muß darauf verzichten, seine eigenen Wege zu gehen. Es hat den Absichten und Wegen der Liturgie zu folgen. Es muß seine Selbstverfügung an sie abgeben; mitbeten, statt selbständig vorzugehen; gehorchen, statt frei über sich zu verfügen; in der Ordnung stehen, statt sich nach eigenem Willen bewegen.301

Beim Maria Laacher Abt Ildefons Herwegen mündete diese Auffassung schließlich sogar in die Feststellung: »Was auf religiösem Gebiet die Liturgische Bewegung ist, ist auf dem politischen Gebiet der Faschismus«.302 Der im »Motu Proprio« Pius’ X. von 1903 betonte Begriff der »participatio«, der einen

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Zit. nach Zachow, »Gottes Volk im Aufbruch«, S. 40. Kahle, Deutsche Kirchenbaukunst, S. 1 – 20. Vgl. dazu Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition, S. 115. Michael Klöcker, Erneuerungsbewegungen im römischen Katholizismus, in: Diethart Kerbs / Jürgen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal 1998, S. 565 – 580, hier S. 576. 301 Zit. nach Richard Faber, Politischer Katholizismus. Die Bewegung von Maria Laach, in: Hubert Cancik (Hg.), Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 136 – 158, hier S. 155. 302 Zit. nach Faber, Politischer Katholizismus, S. 138.

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Ausgangspunkt der Liturgiereformen des 20. Jahrhunderts darstellt,303 ist von hier aus als ambivalentes Motiv zu lesen: Einerseits eröffnete er Spielräume für die aktive Teilnahme der Gemeinde im Gottesdienst und steht durchaus für einen Prozess einer »Demokratisierung« der katholischen Kirche und ihrer zentralen Heilsgüter, zumal auch die Gemeindeverwaltung zunehmend an Laien übertragen wurde. In diesem Sinne ist die liturgische Bewegung – gerade insofern sie sich in ihren Grundzügen im Zweiten Vaticanum und in nachfolgenden Reformbestimmungen durchgesetzt hat – ein Moment des umfassenden aggiornamento der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert und damit eine Reaktion auf gesellschaftsgeschichtliche Prozesse, auf die soziale und kulturelle Öffnung von Institutionen und ganz allgemein die Realitäten einer modernen »Massengesellschaft«. Auf der anderen Seite ist die von der liturgischen Bewegung vertretene Gemeinschaftsidee auch im Kontext konservativer bis völkisch-nationaler Reformbewegungen zu verorten, die organizistischen Vorstellungen des Sozialen folgten. Sie war anschlussfähig an soziale Schließungen des Kollektivs, das seine »Selbstverfügung« an die mysterientheologisch gefasste Liturgie abgeben sollte. In dieser Ambivalenz wurde die Liturgische Bewegung vor allem im städtischen bildungsbürgerlichen Milieu rezipiert und unterhielt Querverbindungen zu verschiedenen katholischen Jugendbewegungen wie der von Romano Guardini angeführten »Quickborn«-Bewegung.304 In Österreich wurden die Ideen der liturgischen Bewegung vor allem von dem Klosterneuburger Augustiner-Chorherrn Pius Parsch vertreten. Gemeinsam mit dem Architekten Robert Kramreiter publizierte er 1939 das Buch »Neue Kirchenkunst im Zeichen der Liturgie«, dessen Essenz sich in drei Punkten zusammenfassen lässt. Parsch und Kramreiter forderten »erstens die zentrale Rolle des Altares, zweitens die architektonische Inszenierung des Gemeinschaftscharakters christlicher Versammlung auf Christus hin und drittens die Betonung der aktiven Teilnahme aller Gläubigen«.305 Die Kirche sollte als »Familienhaus« und »Gemeinschaftsstätte ersten Ranges« gedacht werden: »Die Kirche ist nicht dazu da, dass sie der Privatandacht des einzelnen diene, sie soll die Christen zur Gemeinschaft führen, sie soll die Christen zur Kirche machen«.306 Entscheidende Punkte des neuen liturgischen Kirchenraumverständ303 Vgl. dazu Marc Aillet, The Old Mass and the New. Explaining the Motu Proprio Summorum Pontificium of Pope Benedict XVI, San Francisco 2010, insbesondere S. 77. 304 Vgl. Klöcker, Erneuerungsbewegungen im römischen Katholizismus, S. 575. 305 Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition, S. 119. Zu Parschs liturgiereformerischen Ansätzen und ihrer Rezeptionsgeschichte vgl. auch Winfried Bachler / Rudolf Pacik / Andreas Redtenbacher (Hg.), Pius Parsch in der liturgiewissenschaftlichen Rezeption. Klosterneuburger Symposion 2004, Würzburg 2005. 306 Pius Parsch / Robert Kramreiter, Neue Kirchenkunst im Geist der Liturgie (1939), zit. nach Kopp, Der liturgische Raum, S. 120.

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nisses zielten denn auch auf diese symbolische Herstellung von »Gemeinschaft« und »Gemeinschaftlichkeit« – so die von einigen Vertretern der liturgischen Bewegung anvisierte celebratio versus populum, bei der der Priester die Messe nicht mehr mit dem Rücken zur Gemeinde, sondern ihr zugewandt feiert. Damit wird der Altar wiederum zum zentralen und signifikanten Einrichtungsgegenstand des Kirchenraums, der nun aber nicht mehr nur für die Weihe und Sakralität des Ortes, sondern insofern für »Gemeinschaft« steht, als sich Priester und Gemeinde nach frühchristlichem Vorbild als circumstantes (Umstehende) um ihn versammeln.307 Der Architekt, der die von der Liturgiereformbewegung inspirierte neue Konzeption des katholischen Kirchenraums in der Zwischenkriegszeit am entschiedensten und zugleich am spektakulärsten in die Praxis umgesetzt hat, ist Rudolf Schwarz. Der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt hat nachgezeichnet, dass Schwarz in seinen wegweisenden Ideen zum Kirchenbau nicht zuletzt von den expressionistischen Theaterbauten seines Lehrers Hans Poelzig beeinflusst wurde; 308 so folgen einige seiner sakralen Modellentwürfe der pathetischen Konzeption einer »Schwelle« zwischen Diesseits und Jenseits, bei der er »die Saugkraft der konzentrischen Kreise ein[setzt], um Zuschauer ins Jenseits der Bühnenwelt zu ziehen«.309 Entscheidend ist bei den von Schwarz vertretenen Kirchenraumkonzeptionen die neue Reflexion der Raumf igur an sich, der nun ein theologischer Sinn unterlegt wird. In seinen Erläuterungen zur 1930 eingeweihten Aachener Fronleichnamskirche, dem »Flaggschiff« seiner Kirchenarchitektur, schreibt Schwarz 1960: Hier ist nichts als stille Gegenwart der Gemeinde und Christi, das Ziel ist erreicht, und aller Weg ist in reines Dasein gestillt in einem gemeinsamen, hellen, hohen und ganz einfachen Raum, das Volk und der Herr sind beisammen, ein Leib geworden in einer festlichen Bauform, dem höheren Leib ihres heiligen Daseins.

Dieser »ganz einfache« Raum ist nicht mehr auf Bilder und Bildlichkeit angewiesen, denn:

307 Zur Diskussion um die Zelebrationsrichtung aus theologischer Sicht vgl. u. a. Albert Gerhards, Versus orientem – versus populum. Zum gegenwärtigen Diskussionsstand einer alten Streitfrage, in: Theologische Revue 98 Heft 1 (2002), S. 15 – 22. 308 Wolfgang Pehnt, »Umrisse gewaltiger Formen«. Schwarz, Poelzig und die Theaterarchitektur. Zu einem unpublizierten Blatt von Rudolf Schwarz, in: Jörg Sader / Anette Wörner (Hg.), Überschreitungen. Dialoge zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft, Architektur und Bildender Kunst. Festschrift für Leonhard M. Fiedler, Würzburg 2002, S. 185 – 195. 309 Pehnt, »Umrisse gewaltiger Formen«, S. 188.

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Die richtig geformte Leere von Raum und Fläche ist keine bloße Negation der Bildlichkeit, sondern deren Gegenpol. Sie verhält sich zu dieser wie das Schweigen zum Wort. Sobald der Mensch für sie offen wird, empfindet er in ihr eine geheimnisvolle Anwesenheit. Sie drückt vom Heiligen das aus, was über Gestalt und Begriff geht. Besucher der Hagia Sophia sprechen von dem gewaltigen religiösen Eindruck, den ihre Leere macht. In diesem Zusammenhang mag auch darauf hingewiesen werden, dass die neueste Architektur die gut geformte freie Fläche, den gut gemessenen und durchlichteten leeren Raum wieder als besonders starke Möglichkeit des religiösen Ausdrucks entdeckt hat.310

In diesen Formulierungen ist eine zentrale Leitlinie des von der Liturgiereform ausgehenden modernen Kirchenbaus festgehalten: die neue Orientierung am Raum und an den Raumqualitäten, die sich sowohl gegen die Opulenz der barocken und historistischen Kirchenausstattungen, als auch gegen die hierarchischen Gliederungsprinzipien des tradierten Kirchenbaus wendet. Die »festliche Bauform« des einfachen, kaum gegliederten Gemeinderaums sollte nun den Spielraum eröffnen für eine Erneuerung der liturgischen Formen und der individuellen Frömmigkeit. Wenn Schwarz, wie Thomas Haesler konstatiert, im Sakralbau »allgemeingültige Raumfragen in ihrer reinsten Form« untersuchte,311 dann erprobte er damit auch das zentrale Paradigma, das den Kirchenbau des 20. Jahrhunderts über weite Strecken bestimmte.312 »The modernist ideals of space, material and light« 313 setzten sich in der Folge in dem Maße durch, als man sich von dem historistischen Paradigma der Legitimation durch den Rückgriff auf Tradition verabschiedete. In Wien wird die Kirchenraumkonzeption des Architekten Schwarz durch die 1959 – 1963 errichtete Pfarrkirche St. Florian an der Wiedner Hauptstraße repräsentiert, die zugleich den Stand des Kirchenbaus kurz vor den neuen liturgischen Richtlinien des Zweiten Vatikanischen Konzils dokumentiert.314

310 Zit. nach Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition, S. 122. 311 Thomas Haesler, Architektur als Ausdruck – Rudolf Schwarz, Zürich 2000, S. 118. 312 Zum »Erbe von Rudolf Schwarz als Baumeister und Theoretiker des Kirchenbaus über die konfessionellen Grenzen hinweg für den Kirchenbau der Gegenwart« vgl. Thomas Erne, St. Fronleichnam in Aachen – Rudolf Schwarz und der moderne katholische Kirchenbau, in: Ders. (Hg.), Kirchenbau, Göttingen 2012, S. 245 – 263, hier S. 260 – 263. 313 Kilde, Sacred Power, Sacred Space, S. 177. 314 Zur Planungsgeschichte von St. Florian vgl. Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 108 – 115; für eine Baubeschreibung vgl. Bäumler / Zeese, Wiener Kirchenbau nach 1945, S. 48 – 51.

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Stadt und Kirchenbau nach 1945 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde der politische Katholizismus in Österreich massiv unterdrückt, das »alte Spiel der Gegenreformation, das Staat und Kirche zwischen 1933 und 1938 noch einmal spielten«,315 war an ein Ende gekommen. Bis in die unmittelbare Nachkriegszeit hinein wurden nun keine Kirchen – auch keine »Notkirchen« – mehr gebaut; das kirchliche Leben verschwand weitgehend aus dem öffentlichen Raum und fand im zurückgezogenen Raum sakramentaler Gemeinden statt.316 Erst in den letzten beiden Kriegsjahren artikulierte sich das religiöse Leben wieder auf breiterer Basis: Not lehrte tatsächlich beten. Viele Ortschroniken und Seelsorgeberichte belegen, daß sich die Menschen wieder in die Kirchen drängten. Die alte, barocke Einheit von Staat und Kirche hatte der Nationalsozialismus radikal durchschnitten, nun zeigte sich, daß eine neue Einheit von Gesellschaft und Kirche, von unten her, emporwuchs. Die österreichische Volkskultur blieb katholisch.317

Längerfristige Folgen hatte allerdings der von den Nationalsozialisten aufgezwungene Prozess der Entflechtung von Staat und Kirche. Zwar wurde das öffentliche kirchliche Leben durch diese Entflechtung hart getroffen, andererseits begann damit eine Entwicklung, die den Status von Religion nach 1945 wesentlich mitbestimmen sollte: »Religion verlor ihren staatlich verordneten Charakter, sie wurde mehr und mehr zur bewußten individuellen Entscheidung, sie konnte wieder zum geistigen Abenteuer, zur spirituellen Erfahrung werden; letztlich konnte so der Katholizismus ein Oppositionsrecht zurückgewinnen«.318 Die Situation in Österreich entspricht damit einer Tendenz, die für den Modernisierungs- und Säkularisierungsprozess in Europa insgesamt festzuhalten ist: nämlich der »Rückgewinnung einer Autonomie« der Kirche, die mit deren Entkoppelung von staatlichen Institutionen und klaren politischen Optionen sowie – umgekehrt – einer grundsätzlichen gesellschaftlichen und auch politischen Öffnung verbunden war.319 Für die politische Öffnung der katholischen Kirche in Wien und Österreich stand der liberale und zeitweise sogar sozialdemokratischen Positionen

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Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 318. Zur Situation des Kirchenbaus vgl. Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 26 – 31. Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 361. Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 362. René Rémond, Religion und Gesellschaft in Europa. Vom 1789 bis zur Gegenwart, München 2000, S. 239.

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nahestehende Wiener Erzbischof und Kardinal Franz König.320 Er war an der Konzeption und Durchführung des Zweiten Vatikanischen Konzils wesentlich beteiligt, leitete die Erzdiözese von 1956 bis 1985 und sorgte insbesondere im Zusammenspiel mit SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky dafür, dass Grundsatzdiskussionen zwischen Kirche und Staat auf konstruktive und entgegenkommende Weise geführt wurden.321 Ein neuer »Kulturkampf« stand in dieser Zeit kaum auf den Agenden der kirchlichen und poltischen Entscheidungsträger. In kontroversen Diskussionen um den alten Kampfbegriff des »politischen Katholizismus« kam »der tiefgreifende Wandel des gesellschaftlichen Standorts der Kirche in politischer Hinsicht zum Vorschein«.322 Die katholische Kirche positionierte sich in Österreich seit den 1960er Jahren weniger als politischer Akteur eigener Ordnung, sondern zunehmend als »Gewissen der Gesellschaft«, wie es König 1965 formulierte.323 Das bedeutete, »dass sich die kirchliche Hierarchie in erster Linie von der historischen Gegenüberstellung zum Staat trennen und sich nun als eine religiös-moralische und geistig-sittliche Instanz sehen wollte«.324 Über diese Positionierung konnten universalistische Deutungs- und Vertretungsansprüche der Kirche neu formuliert werden: »Die Kirche« – so König 1962 – »wird von niemandem mehr verdächtigt, nur Anwalt eines Teiles zu sein; sie kann heute ihre Aufgabe, das moralische Gewissen der Nation zu sein, ungehindert erfüllen. Ihre Stellung ist wieder geachtet und gefestigt«.325 Unverkennbar enthalten diese Formulierungen eine pointierte Stellungnahme zum politischen Katholizismus der Monarchie und der Zwischenkriegszeit und charakterisieren eine Kirche, die im Zeichen des Konzils ihren Ort in einer säkularisierten Gesellschaft und politischen Landschaft neu bestimmte. Inwiefern schlugen sich diese kirchen- und gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungen im Wiener Kirchenbau der Nachkriegszeit nieder? 1952 gründete Erzbischof-Koadjutor Franz Jachym gemeinsam mit dem niederländischen Geographen und Ökonomen George H. L. Zeegers ein kirchliches Sozialforschungsinstitut (ICARES), das die »pastoralen Prioritäten« im Bereich der Erz-

320 Für eine umfassende theologie- und politikgeschichtliche Darstellung zu Kardinal Franz König vgl. David Neuhold, Franz Kardinal König – Religion und Freiheit. Ein theologisches und politisches Profil, Fribourg / Stuttgart 2008. 321 Zur Kooperation zwischen König und Kreisky vgl. Paul M. Zulehner, Die Kirchen und die Politik, in: Reinhard Sieder / Heinz Steinert / Emmerich Tálos (Hg.), Österreich 1945 – 1995. Gesellschaft – Politik – Kultur, Wien 1995, S. 525 – 536, hier S. 527 – 528; Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 466 – 467. Zur politischen Ausrichtung Königs und zum zeitgeschichtlichen Kontext allgemein vgl. Neuhold, Franz Kardinal König, S. 190 – 287. 322 Zulehner, Die Kirchen und die Politik, S. 527. 323 Zit. nach Neuhold, Franz Kardinal König, S. 243. 324 Neuhold, Franz Kardinal König, S. 244. 325 Zit. nach Neuhold, Franz Kardinal König, S. 245.

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diözese Wien eruieren sollte. Einmal mehr wurde eine Wiener »Kirchennot« diagnostiziert; in die diesbezügliche Planungsarbeit band Jachym den Prälaten Josef Gorbach ein, der schon für mehrere vor dem Krieg errichtete »Notgottesdienststätten« in der Stadt gesorgt hatte.326 Von seiten des ICARES wurden erste Studien erstellt, die auf die Abstimmbarkeit kirchlicher Planungen mit der Wiener Stadtplanung zielten; 1962 wurde das Institut dann unter der Bezeichnung »Institut für kirchliche Sozialforschung« (IKS) als kirchliche Einrichtung nach kanonischem Recht auf eine neue Basis gestellt. Gegenstand der Forschungsarbeiten war der gesellschaftliche Wandel und dessen »Einfluß auf religiöse Praktiken und Verhaltensweisen«, die bei der kirchlichen Raumplanung zu berücksichtigen waren.327 Schon in diesem Einbezug sozialwissenschaftlicher Forschungen in die künftigen Kirchenbauprogramme artikuliert sich eine neue Haltung der katholischen Kirche in ihrer Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund kam es nach 1945 in der Stadt Wien zu einer »beispiellosen kirchlichen Bautätigkeit, durch die in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten mehr Kirchenbauten als jemals zuvor errichtet werden konnten«.328 Zunächst freilich stand der Kirchenbau »im Schatten der Herstellung von Wohnraum«: In den ersten Jahren nach dem Krieg bis 1949 entstanden sieben »Barackenkirchen« in den Außenbezirken.329 Auch abseits der ersten Barackenkirchen bewegte sich der katholische Wiener Kirchenbau der späten 1940er und frühen 1950er Jahre in den Bahnen der Vorkriegszeit. Mit Josef Vytiska und Robert Kramreiter prägten ihn zwei Architekten, die beide schon vor 1938 Kirchenbauten in Wien geplant und gestaltet hatten. So dominierten zunächst tendenziell hierarchische »Zweiraum-Lösungen«, bei denen dem Saalraum für die Gemeinde ein eingezogenes und erhöhtes Presbyterium gegenüberstand. Erst Mitte der 1950er Jahre entstanden erste Bauten, denen – wie Kramreiters Kirche »Maria, Mittlerin aller Gnaden« im 23. Bezirk – die Idee eines einheitlichen Raums zugrundelag, bei denen also der Altar in den Lai-

326 Vgl. Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 67. 327 Vgl. Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 45 – 46. Zu den kirchensoziographischen Arbeiten in den Niederlanden, die Modelle für das raumplanerische Denken des ICARES und IKS bereitstellten, vgl. Benjamin Ziemann, Die Katholische Kirche als religiöse Organisation. Deutschland und die Niederlande, 1950 – 1975, in: Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Große Kracht (Hg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln 2007, S. 329 – 351, insbesondere S. 338 – 340. 328 Andreas Zeese, Einheit in der Vielfalt – Wiener Kirchenbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Ann-Katrin Bäumler / Andreas Zeese (Hg.), Wiener Kirchenbau nach 1945. Von Rudolf Schwarz bis Heinz Tesar. Reader zur Ausstellung Heilige Zeiten. Wiener Kirchenbau nach 1945 – Von Rudolf Schwarz bis Heinz Tesar, 13. 12. 2007-14. 1. 2008, Wien 2007, S. 25 – 45, hier S. 25 – 26. 329 Zeese, Einheit in der Vielfalt, S. 26.

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enraum hineingerückt und eine räumliche Verbindung zwischen Priester und Gemeinde hergestellt wurde.330 Le Corbusiers 1955 fertiggstellte Wallfahrtskirche Ronchamp gab dann einen wichtigen Impuls zur »modernen sakralen Inszenierung« 331 im Kirchenbau, der bald auch in Österreich aufgenommen wurde und zu einer verstärkten Annäherung zwischen Kirche und bildender Kunst führte. Eine neue Generation von Kirchenarchitekten, die aus der Meisterklasse Clemens Holzmeisters hervorging, begann mit der Umsetzung eines konstruktiven Funktionalismus, der Gestaltungselemente moderner Kunst miteinbezog.332 Das wohl wichtigste theologische Ereignis im Neuorientierungsprozess der katholischen Kirche nach 1945 stellte das von Papst Johannes XXIII. initiierte und in den Jahren 1962 – 1965 durchgeführte Zweite Vatikanische Konzil dar. Mit seinem Begriff des Aggiornamento signalisierte Johannes XXIII. die grundsätzliche Bereitschaft zu einer programmatischen »Begegnung« mit der »Welt von heute«. In diesem Sinne war das Zweite Vaticanum ein »kompletter Gegenentwurf« zum Ersten Vaticanum von 1869 – 1870, das gerade die totale Abgrenzung zur Welt proklamiert hatte. Nun setzte man auf das Prinzip des Dialogs und eine Öffnung zur Moderne sowie zu partizipativen Diskussionsformen und Arbeitsweisen.333 Versteht man die Liturgie als ein Feld, auf dem nicht zuletzt das Verhältnis der Kirche zur Gesellschaft symbolisch repräsentiert wird, dann artikulieren sich gerade hier diese Öffnungsprozesse in anschaulicher Weise: Zentral ist hier die Auffassung der Liturgiekonstitution »Sacrosanctum Concilium« von 1963, »dass Christus nicht nur in den eucharistischen Gestalten und in der Person des Priesters, sondern auch in den Sakramenten, im Wort und im liturgischen Vollzug der Versammlung gegenwärtig ist«.334 Laut Artikel 48 der Liturgiekonstitution richtet die Kirche ihre ganze Sorge darauf, dass die Christen diesem Geheimnis des Glaubens nicht wie Außenstehende und stumme Zuschauer beiwohnen; sie sollen vielmehr durch die Riten und Gebete dieses Mysterium wohl verstehen lernen und so die heilige Handlung bewusst, fromm und tätig mitfeiern, sich durch das Wort Gottes formen lassen, am Tisch des Herrenleibes Stärkung finden.335

Diese Verschiebung hin zur Idee der »tätig mitfeiernden« Gemeindeversammlung als Kern des liturgischen Geschehens hatte – ohne dass hier konkrete

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Zeese, Einheit in der Vielfalt, S. 27. Zeese, Einheit in der Vielfalt, S. 28. Vgl. Zeese, Einheit in der Vielfalt, S. 29. Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013, S. 151. 334 Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition, S. 133. 335 Zit. nach Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition, S. 133.

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Vorgaben gemacht worden wären – Konsequenzen für die Gestaltung des Kirchenraums. Die aus den Bestimmungen des Konzils abgeleitete Vorstellung einer Zelebration »versus populum« führte sukzessive zu einer Neustrukturierung des sakralen Raums: »Hatte man vor dem Zweiten Vaticanum Longitudinalbauten (Rechteck, Trapez) präferiert, wurden diese nach 1965 vermehrt durch Zentralbauten (Quadrat, Achteck, Sechseck, Kreis), bei denen der Opfertisch mitunter in die Raummitte rückte, abgelöst«.336 Gleichzeitig wurde in vielen Kirchen durch die Verwendung neuer Konstruktionstechniken eine optimale Sicht auf den Altar sichergestellt. Für Wien kann die Lainzer »Konzilsgedächtniskirche« als exemplarisch für diese nachkonziliare Raumauffassung herausgegriffen werden: Dieser Bau verweigert sich der unilinearen Hierarchisierung der alten longitudinalen Modelle und setzt dagegen einen von allen Seiten gleichermaßen erschlossenen Zentralraum, der auf Partizipation ausgerichtet ist.337 In diesem Sinne transformierte das Zweite Vatikanische Konzil in seiner vollen Konsequenz das »house of god« in ein »house of god’s people«, wie es der Theologe James F. White pointiert formuliert hat.338 Auf diese Weise signalisierten die neuen Konzeptionen des katholischen Kirchenraums eine gewisse Umverteilung von Handlungsmacht auf symbolischer Ebene – freilich ohne von der kodifizierten Handlungs- und Deutungsmacht sowie den institutionellen Hierarchien der Amtskirche abzurücken. »Partizipation« wurde hier zu einem symbolischen Code, der zunächst kaum Auswirkungen auf die klare »Top-Down«-Struktur der Kirche hatte.339 Langfristig aber verblassten immerhin die traditionellen Begründungsstrukturen von normativen amtskirchlichen Konzepten: Seit dem 19. Jahrhundert und bis in die 1960er Jahre hatte die katholische Kirche sich dogmatisch und kirchenpolitisch mit durchaus modernen Mitteln gegen die Moderne positioniert. Der Anspruch auf Wahrheit und die damit verbundene Abwertung anderer Heilswege, die Tendenz zur Abkapselung gegen die Welt und die spezifischen Kontroll- und Machtstrukturen zur Aufrechterhaltung von Inklusion und Exklusivität – die »innere Eigenart der historisch so und nicht anders gewordenen katholischen Gnadenanstaltsidee« lag in einem spannungsreichen Wechselspiel zwischen sozialer Öffnung und Schließung. Im Zentrum der Kirche lag das klerikal verwaltete Monopol zur Deutung und Verwaltung des Weges zum Heil. »Extra Ecclesiam nulla salus« – außerhalb der Kirche ist kein Heil, so die unmissverständliche Botschaft nach innen und außen. Das Zweite Vatikanum stellte

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Zeese, Einheit in der Vielfalt, S. 32. Vgl. dazu die ausführliche Raumanalyse dieses Kirchenbaus in Kapitel 3. James F. White, Roman Catholic Worship. Trent to Today, Minnesota 2003, S. 125. Zur Frage nach den Machtstrukturen im nachkonziliaren Kirchenraum vgl. Kilde, Sacred Power, Sacred Space, S. 188 – 191.

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diesen absoluten Anspruch in Frage. Indem man davon abließ, die kirchliche Gestalt dogmatisch zu rechtfertigen und festzuschreiben, gab man auch theologisch den Weg frei für den Wandel der bereits erodierenden Sozialgestalt.340

Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre wurden »Gemeinde« und »Gemeinschaft« zu den wohl wichtigsten Stichworten der kirchlichen Arbeit; das alte Problem der »Vergemeinschaftung« stellte sich hier in einem erneuerten Kontext.341 Kirchliche Aktivitäten verlagerten sich zunehmend in das soziale Format der »kleinen Kreise« als einer Kirche en miniature, die dem lockeren und praxisorientierten Stil der Vergesellschaftung in den sozialen Bewegungen der 1970er Jahre entsprach und entgegenkam. Sie waren darüber hinaus ein Versuch, religiöse Vergemeinschaftung auf kleinerer Stufenleiter neu zu begründen [. . . ] Viele dieser Versuche bezogen sich auf humanwissenschaftliche Konzepte, welche zur Modellierung, Steuerung und Reflexion der Interaktion in kleinen Gruppen beitragen konnten, von der Gesprächstherapie über die Gruppendynamik in ihren verschiedenen Formen bis hin zur christlichen »Gemeinwesenarbeit«, also der kirchlichen Variante des in der Sozialarbeit angelsächsischer Länder eingeführten community work.342

Die diagnostizierte »Krise der Transzendenz« wurde in Versuchen bearbeitet, »diesen Code in überschaubaren Kontexten und in einer mehr partnerschaftlich angelegten Form zu rekonstruieren«,343 was Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche der kirchlichen Praxis hatte – von der Beichte bis zur Jugendarbeit. Zum Ideal wurde die »Gemeindekirche«, die »zugleich antihierarchische Kampfvokabel und integrative Sammelbezeichnung« war; zum zentralen Code dieser Gemeindekirchenarbeit avancierte die »Liebe«.344 Wenn der Historiker Thomas Großbölting die Entwicklung der Religiosität in Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren als eine Bewegung »vom ›Höllenfeuer‹ zur ›allumfassenden Liebe‹« kennzeichnet,345 dann trifft das recht genau den auf allen Ebenen der kirchlichen Arbeit beobachtbaren Wandel von der Dogmenkirche zum sozialintegrativen Wohlfühlangebot. Dass auf der Basis dieses Wandels auch wieder Kirchen in Gemeindebauten einbezogen wurden, zeigt das Beispiel der Pfarrkirche St. Markus in Großjedlersdorf, die zwischen 1979 und 1983 im Heinz-

340 Großbölting, Der verlorene Himmel, S. 155. 341 Zu diesem Wandel im übergreifenden Zusammenhang vgl. Claudia Lepp / Harry Oelke / Detlef Pollack (Hg.), Religion und Lebensführung im Umbruch der langen 1960er Jahre, Göttingen 2016. 342 Ziemann, Codierung von Transzendenz im Zeitalter der Privatisierung, S. 396 – 397. 343 Ziemann, Codierung von Transzendenz im Zeitalter der Privatisierung, S. 397. 344 Ziemann, Codierung von Transzendenz im Zeitalter der Privatisierung, S. 399 – 400. 345 Großbölting, Der verlorene Himmel, S. 148.

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Nittel-Hof entstand.346 An die Stelle des »Kulturkampfs« des politischen Katholizismus der Zwischenkriegszeit trat hier die Idee der Kirchengemeinde als Teil des »community work«. Dabei rückten die Kirchen, was ihre städtebauliche Position betrifft, zunehmend in die zweite Reihe. Während die repräsentativen Kirchenbauten vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein an zentralen Plätzen und neuralgischen Punkten der Stadt errichtet worden waren, folgen die Kirchen der Nachkriegsmoderne auch in der Wahl der Standorte dem Prinzip der »neuen Unauffälligkeit«. Das Leitmotiv der Gemeinschaft führte konsequenterweise dazu, dass die Bauten in Wohnviertel integriert wurden und in der bewusst unspektakulären Außengestaltung eine Konzentration auf das Geschehen im Inneren nahelegen.347 Je mehr »Gemeinschaft« zur Leitvorstellung und zum Organisationsprinzip der Gemeindearbeit avancierte, desto unverbindlicher wurde das Konzept der »Sakralität« im Kirchenbau. In beiden großen christlichen Konfessionen wurde ab Anfang der 1960er Jahre eine regelrechte »Entsakralisierungsdebatte« geführt, die sich um die Frage drehte, inwiefern sich Architektur und Ästhetik von Kirchenbauten überhaupt noch an diesem alten Konzept abarbeiten sollten.348 Dort, wo sich die Kirchenneubauten konsequent an der Idee der Gemeindekirche orientierten, fehlte nun vielfach die gewohnte sakrale Semantik der historisierenden Fassadengestaltungen, der prominent gesetzten Glockentürme und der »erhabenen« Innenräume. Dafür entstanden Gemeindezentren, die Nebengebäude wie Pfarrhaus, Pfarrsaal, Jugendheim, Kindergarten und weitere flexibel nutzbare Räumlichkeiten enthielten. Innenhöfe sollten die Kommunikation und Gemeindebildung fördern.349 In Österreich war es unter anderem der Architekt Ferdinand Schuster, der eine solche Konzeption von Kirche und Gemeindezentrum als integraler Versammlungsort vertrat.350 Die radikalsten Beispiele des nüchternen Funktionalismus der 1960er Jahre in Wien und Österreich stellen aber die Bauten des Architekten Ottokar Uhl dar: In der Wiener Tradition der Not- und Barackenkirchen entwarf Uhl »flexible und mobile Kirchenräume« im Sinne einer »Reduktion des Kirchenbaus auf eine neutrale, translozier- und erweiterbare Raumhülle«.351 Mit ihrem »Montagekirchenprogramm« nach Uhls Plänen reagierte die Erzdiözese Wien auf die zunehmende 346 Zur Vorgeschichte der Planung an diesem Standort vgl. Rodt, Kirchenbauten in Wien, S. 334 – 338. 347 Vgl. Marc Breuer, Religiöse Architektur im Säkularisierungsprozess. Katholische Kirchengebäude der Nachkriegsmoderne, in: Uta Karstein / Thomas Schmidt-Lux (Hg.), Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen. Wiesbaden 2017, S. 73 – 92, hier S. 79. 348 Zeese, Einheit in der Vielfalt, S. 32. 349 Breuer, Religiöse Architektur im Säkularisierungsprozess, 87. 350 Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition, S. 137. 351 Zeese, Einheit in der Vielfalt, S. 33.

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Mobilität der Gesellschaft: Einfach und kostengünstig zu errichtende »Interimskirchen« sollten erst dann in dauerhafte Kirchenbauten überführt werden, »wenn eine konsolidierte Gemeinde bei der Gestaltung ihres Gotteshauses mitentscheiden kann«.352 Inmitten einer Kleingartensiedlung des 21. Bezirks entstand so die 1964 geweihte Montagekirche St. Rafael, für die Ottokar Uhl den Österreichischen Staatspreis für Architektur erhielt. Zwei durch einen Vorplatz getrennte kubische Baukörper beherbergen einerseits den eigentlichen Kirchenraum sowie andererseits den Pfarrsaal und sanitäre Einrichtungen.353 Die multifunktionalen Kirchenräume der 1970er Jahre sind als Raumfiguren zu verstehen, die die Auffassung von den »kleinen Kreisen« als Ausgangspunkten kirchlicher Gemeindearbeit spiegeln. Ihre Entwicklung in Wien kulminiert in der »kirchlichen Mehrzweckhalle«, die von der Architektengruppe IGIRIEN Ende der 1970er Jahre an drei verschiedenen Standorten in identischer Bauausführung realisiert wurde.354 Sie setzt die »Wiener Zentralbautradition der 1960er Jahre« fort und erweitert sie um den Aspekt einer vollkommenen Flexibilität der Raumgestaltung: Faltwände ermöglichen Teilungen und Erweiterungen des Hauptraums; das Holzgestühl und die Prinzipalstücke – vom Altartisch

Abb. 12: St. Rafael in Floridsdorf, Eingangsbereich.

352 Bäumler / Zeese, Wiener Kirchenbau nach 1945, S. 72. 353 Bäumler / Zeese, Wiener Kirchenbau nach 1945, S. 70 – 73. 354 Vgl. Bäumler / Zeese, Wiener Kirchenbau nach 1945, S. 103.

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bis zum Ambo – wurden transportabel ausgeführt, die Innenraumgestaltung von Gemeindemitgliedern übernommen.355 Heftig kritisiert wird diese von Ottokar Uhl zur Gruppe IGIRIEN führende Linie von Vertreterinnen und Vertretern eines an der alten Liturgie orientierten Sakralbaus. So wendet sich die Künstlerin und Architekturkritikerin Heidemarie Seblatnig überaus scharf gegen Kirchenbauten der 1960er Jahre, die »von außen den Eindruck [erwecken], als wären sie Flugzeughangars, Bankgebäude, Supermärkte, Copyshops, Lagerhallen, Gartensalletel [sic] oder Betonbunker, wenn sie nicht verschämt an einer Stelle durch ein Kreuz, möglichst versteckt an einer Stelle des Bauwerks, als Sakralbau zu erkennen wären«.356 Ottokar Uhl ist für Seblatnig ein »Totengräber der katholischen Sakralarchitektur«, dessen »demontable« Kirchenbauten für »den verschwommenen Einheitsbrei verschiedener Religionen«, »falsche vordergründige Demokratisierung« und das »Zerreden der Liturgie« stehen.357 Mit dieser »Verfallstheorie« katholischer Prinzipien der symbolischen Organisation wenden sich AutorInnen wie Seblatnig und Martin Mosebach gegen den vom Zweiten Vaticanum angestoßenen Prozess der sozialen Öffnung der Kirche und rufen zu einer Re-Hierarchisierung der Kirche und des Kirchenbaus im Namen der alten Liturgie auf.358 Ob es zu einer zumindest punktuellen »Rückkehr zur nachtridentinischen Raumordnung« 359 kommen könnte, ist unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen ausgesprochen fraglich. Grundsätzlich aber zeichnet sich seit den 1970er Jahren eine behutsame Rückkehr zu »sakralen« Raumwirkungen ab. Die 1973 – 1976 nach Plänen des Bildhauers Fritz Wotruba in Mauer im 23. Bezirk errichtete Rektoratskirche zur Heiligsten Dreifaltigkeit stellt in mehrfacher Hinsicht ein »radikales Gegenmodell zu den rationalistischen Wiener Kirchenbauten der Sechziger Jahre« dar.360 Zwar ist der Raum überaus flexibel nutzbar, da keine feste Bestuhlung eingeplant wurde und sogar der Zelebrationsort variiert werden kann.361 Allerdings ist der Bau mit seiner Reminiszenz

355 Bäumler / Zeese, Wiener Kirchenbau nach 1945, S. 104. 356 Heidemarie Seblatnig, Profane Sakralarchitektur in Wien ab 1960. Einführung für Studenten der Lehrveranstaltung »Dynamische Simulation und Visualisierung« in SS 05 am Institut für Architekturwissenschaften der Technischen Universität Wien, in: Dies. (Hg.), Profane Sakralarchitektur in Wien ab 1960 / Profane Sacred Architecture in Vienna since 1960, Wien 2006, S. 13 – 16, hier S. 14. 357 Heidemarie Seblatnig, Ottokar Uhl – ein Totengräber der katholischen Sakralarchitektur, in: Dies. (Hg.), Profane Sakralarchitektur in Wien ab 1960 / Profane Sacred Architecture in Vienna since 1960, Wien 2006, S. 83 – 87, hier S. 83. 358 Zu dieser Diskussion vgl. Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition, S. 173 – 175. 359 Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition, S. 173. 360 Bäumler / Zeese, Kirchenbau nach 1945, S. 88. 361 Bäumler / Zeese, Kirchenbau nach 1945, S. 88.

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Abb. 13: Kirche zur Heiligsten Dreifaltigkeit in Mauer.

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an »archaische Kultstätten« 362 zugleich ein Beispiel für vorsichtige Resakralisierungstendenzen im Kirchenbau, wie sie dann die Entwicklung der 1980er und 1990er Jahre bestimmten. Hier entstanden verstärkt wieder Sakralbauten, »die auch von außen klar als Kirchen erkennbar sind«.363 So zeigt sich etwa in der 1994 – 1995 am Floridsdorfer Marchfeldkanal errichteten Pfarrkirche Cyrill & Method ein deutlicher »Rückgriff auf traditionelle Elemente des christlichen Sakralbaus«, in diesem Fall auf die Bauformen von Kirchturm, Tonnendach und Apsis sowie auf durch Rundpfeiler rhythmisierte Joche.364 Im Sinne eines postmodernen Architekturkonzeptes verbinden sich diese traditionellen Elemente hier mit »dekonstruktivistischen« Kunstgriffen wie der Offenlegung der Dachkonstruktion sowie einer Dezentralisierung der Altarposition. Dabei bietet der Komplex – stadträumlich gelegen zwischen Kindertagesstätte und Ganztagsschule – auch viel Raum für Gemeindearbeit; die Ideen von Multifunktionalität und Resakralisierung gehen hier in eine interessante Neukombination ein. Ausgesprochen »sakral« in seiner Anmutungsqualität ist auch der bekannte Bau Heinz Tesars »Christus, Hoffnung der Welt«, der von 1999 – 2000 in der Donaucity entstand und der einen nach außen abweisenden, kubisch geschlossenen Baukörper mit einem »feierlichen, sinnlichen Innenraum« verbindet.365 Und selbst in den funktional-flexiblen Gemeindezentren der 1960er und 1970er Jahre sind solche Resakralisierungstendenzen zu beobachten – viele dieser Räume wurden mittlerweile umgebaut, Teilräume als exklusivere Räume ein- und abgegrenzt, um wieder »heilige« Räume zu schaffen.366 Die Diskussion um die liturgische Raumform wurde in neuester Zeit um neue Ideen wie die »Communio«-Raumform 367 oder den Vorschlag Johannes Krämers erweitert, die Alternative zwischen zentrierter und ausgerichteter Anordnung in einem Modell der »orientierten Versammlung« aufzuheben.368 Die Reform geht also weiter; 369 Kirchenräume sind heute geprägt von der »Vielschichtigkeit liturgischer Kommunikationssituationen«,370 die sich in neuen architektonischen Konzeptionen sowie in Umnutzungen kirchlicher Räume niederschlägt und

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Bäumler / Zeese, Kirchenbau nach 1945, S. 88. Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition, S. 181. Bäumler / Zeese, Wiener Kirchenbau nach 1945, S. 110. Zeese, Einheit in der Vielfalt, S. 38. Vgl. Wüthrich, Raumtheoretische Erwägungen zum Kirchenraum, S. 74. Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition, S. 169 – 170. Vgl. dazu Albert Gerhards, »Blickt nach Osten!« Die Ausrichtung von Priester und Gemeinde bei der Eucharistie – eine kritische Reflexion nachkonziliarer Liturgiereform vor dem Hintergrund der Geschichte des Kirchenbaus, in: Martin Klöckener / Arnaud Join-Lambert (Hg.), Liturgia et Unitas. In honorem Bruno Bürki, Fribourg 2001, S. 197 – 217, hier S. 216 – 217. 369 Gerhards, »Blickt nach Osten!«, S. 216. 370 Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition, S. 181.

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die in Einzelfällen sogar Übergänge zu interkonfessionellen und interreligiösen Räumen ermöglicht.371 Nach wie vor aber ist es das Spannungsfeld von »Sakralität«, »Spiritualität« und »Profanität«, von hierarchischen und egalitären symbolischen Ordnungen, von Prozessen sozialer Schließung und sozialer Öffnung, in dem sich Kirchenbauten unweigerlich bewegen und das die Notwendigkeit kulturwissenschaftlicher Kirchenraumanalyse begründet. Einige Bausteine zum systematischen Verständnis sakraler Räume bieten die folgenden Kapitel dieser Studie, die – ebenso wie der vorliegende Durchgang durch die politische Kulturgeschichte Wiener Kirchenräume – belegen, dass die Gestaltung und Praxis dieser Räume stets intensiv mit Vorstellungen gesellschaftlicher Ordnung und daher auch mit politischen Optionen verknüpft ist.

371 Vgl. dazu als neue Bestandsaufnahme Bärbel Beinhauer-Köhler / Mirko Roth / Bernadette Schwarz-Boenneke (Hg.), Viele Religionen – ein Raum?! Analysen, Diskussionen und Konzepte, Berlin 2015. Die Frage nach den Grenzziehungen zwischen sakralen und profanen Räumen diskutieren in diesem Kontext auch Sonja Keller, Kirchengebäude in urbanen Gebieten. Wahrnehmung – Deutung – Umnutzung, Berlin / Boston 2016, und Stefanie Duttweiler, Grenzarbeit zwischen Sakralisierung und Profanität. Multireligiöse Räume in nicht-religiösen Kontexten, in: Uta Karstein / Thomas Schmidt-Lux (Hg.), Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen. Wiesbaden 2017, 193 – 211.

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3. DER KIRCHENRAUM ALS REPRÄSENTATIONSRAUM SYMBOLISCHE ORDNUNGEN DES SOZIALEN Das vorliegende Kapitel entfaltet systematisch die dieser Studie zugrundeliegende Idee vom Kirchenraum als einem Medium des Sozialen, wie sie in Grundzügen bereits in der Einleitung skizziert wurde. Dazu wird zunächst auf den »Medienraum Kirche« eingegangen, wie es einem klassischen Verständnis von »Medialität« entspricht – und damit auf die allgemeine Frage, wie in Kirchenräumen Informationen zirkulieren und wie der Kirchenraum selbst als Medium verstanden werden kann.1 In den Blick genommen wird insbesondere die Dimension politischen Handelns und politischer Kommunikation sowie die Frage nach der Legitimation von Herrschaft. Im Anschluss daran wird zu einem weiteren Verständnis von Kirchenräumen als Medien des Sozialen übergegangen. Hier kommen Überlegungen mit ins Spiel, wie sie von seiten der Raum- und Architektursoziologie entwickelt worden sind; ich folge dabei vor allem den unterschiedlich gelagerten Arbeiten von Heike Delitz und Martina Löw. Diskutiert wird unter anderem die wichtige Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Materiellen und dem Symbolischen, wie es sich aus Sicht der neueren sozialwissenschaftlichen Theoriebildung zu Raum und Architektur darstellt: Inwiefern entsprechen sich materielle und symbolische Strukturen, und wie produzieren sie wechselseitig eine praktische Bedeutung, die Kirchenräume zu Medien des Sozialen und Aushandlungsorten des Politischen macht? Letzteres wird besonders deutlich in der Art und Weise, wie Kirchenräume bestimmte Hierarchien produzieren und Platzierungen nahelegen; dadurch werden Ordnungen des Kollektivs nicht nur abgebildet, sondern aktiv hergestellt. Von der hier entwickelten Perspektive auf Kirchenräume als soziale und politische Repräsentationsräume aus stellt sich das Verhältnis von Religion und Politik nicht als akzidentielles, sondern als essentielles dar. Es geht vorrangig nicht um einen »Kampf zwischen Politik und Religion« oder die Rolle von Religion in der Gesellschaft, wie sie viele politik- und sozialgeschichtliche Überblicksdarstellungen thematisieren.2 Sondern Religion, religiöse Praktiken und religiöse Räume sind – das kann die Mikroperspektive auf Kirchenräume meines Erach1 Angesichts der enormen Bedeutung des Kirchenraums als Medienraum ist erstaunlich, dass Benjamin Ziemann in seiner »Sozialgeschichte der Religion« zwar ein eigenes Kapitel zu »Medien religiöser Kommunikation« anbietet, dabei aber an keiner Stelle die Architektur als Medium reflektiert. Vgl. Ziemann, Sozialgeschichte der Religion, S. 130 – 149. 2 So etwa – neben vielen anderen – die Überblicksdarstellungen von Michael Burleigh, Earthly Powers. The Clash of Religion and Politics in Europe from the French Revolution to the Great War, London 2005; Ders., Sacred Causes. Religion and Politics from the European Dictators to al Qaeda, London 2006 (in deutscher Übersetzung

tens überzeugend nachweisen – in sich politisch, insofern sie notwendigerweise Bedeutungen herstellen und in Umlauf bringen, die auf soziale und politische Ordnungsvorstellungen bezogen sind. So ist »institutionalisierte Religion am gesellschaftlichen Selbstbezug beteiligt, an der Art und Weise, wie sich Gesellschaften ordnen und wie sie diese Ordnungsleistungen reflektieren«.3 Umgekehrt artikulieren sich viele politische und soziale Ordnungsvorstellungen auch im politischen Feld in religiösen und religioiden Formen; zur Reflexion des gesellschaftlichen und politischen Aspekts von Kirchenräumen bedarf es daher eben einer solchen Mikroperspektive, die Gesellschaft, Politik und Religion nicht als »Verhältnis«, sondern als komplexes Ineinander versteht.

Medienraum Kirche: Politische Kommunikation und die Legitimation von Herrschaft Die im engeren Sinne politische Nutzungsgeschichte von christlichen Kirchengebäuden und Kirchenräumen reicht bis zu deren Anfängen zurück. Im Frühchristentum dienten Katakomben und Hauskirchen immer auch als Versammlungsorte politischer Dissidenten, nach der Installation des Christentums als römische Staatsreligion unter Kaiser Konstantin im Jahr 313 wurden die neuen Basiliken auch zu Repräsentationsräumen kaiserlicher Herrschaft, in denen unter dem Standbild des Kaisers in einer der Apsiden Recht gesprochen oder Geschäfte abgewickelt wurden.4 Im europäischen Mittelalter stellte die Hauptkirche der Stadt – bevor Rathäuser errichtet wurden – in der Regel »als ecclesia civitatis das politische Zentrum dar. Der Kirchenraum diente der Bürgerschaft als Festhalle, im Ratsgestühl versammelten sich die Ratsmitglieder«.5 Dokumente und Wertpapiere des Rats und der Gemeinde wurden vielfach hier aufbewahrt.6 In der Frühen Neuzeit war der Kirchenraum somit »ein Handlungsraum von enormer lokalpolitischer Relevanz«.7 Er war »der einzige öffentliche Raum, in dem sich wenigstens einmal in der Woche die gesamte Gemeinde versammelte, unabhängig von standes-, schicht- oder geschlechtss-

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zusammengefasst unter dem Titel Irdische Mächte, Göttliches Heil. Die Geschichte des Kampfes zwischen Politik und Religion von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart, München 2008), und Rémond, Religion und Gesellschaft in Europa. Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt, S. 14. Vgl. Kopp, Der liturgische Raum, S. 25. Laube, Von der Reliquie zum Ding, S. 42. Vgl. Gabriella Signori, Sakral oder profan? Der Kommunikationsraum Kirche, in: Paul Trio / Marjan de Smet (Hg.), The Use and Abuse of Sacred Places in Late Medieval Towns, Leuven 2006, S. 117 – 134, hier S. 122 – 123. Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit, S. 15.

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pezifischen Grenzen«.8 In den Kirchen wurden Nachrichten und herrschaftliche Dekrete verlesen, Festtage des Landesherrn begangen, hier fanden Pfarrerwahlen und gegebenenfalls auch Pfarrerentlassungen statt.9 Hier bestand ein zentraler Kommunikationsraum der Gemeinde: So konnte man vor oder nach der Predigt Stimmung machen über bestimmte Ratsdekrete oder den Gemeindepfarrer, Informationen sammeln oder weitergeben, Konflikte mit den Nachbarn schlichten oder zuspitzen, alles das also tun, was auf lokaler Ebene wichtig erschien. [. . . ] Schließlich traf sich die Gemeinde nicht selten auch dann in der Kirche, wenn Widerspruch artikuliert oder Abwehrmaßnahmen besprochen werden sollten.10

Bei alledem überlagerten sich politische und religiöse Praktiken: Nicht nur aus rein praktischen Gründen, sondern gerade auch, weil die Menschen im Mittelalter die Nähe Gottes und der Heiligen suchten, vollzogen sie viele Tätigkeiten im Kirchenraum. Rechtsakte, Schwüre, politische Rituale, selbst ökonomische Transaktionen – all diese Interaktions- und Kommunikationsformen gewannen offiziell oder informell Autorität und Geltung durch ihren Vollzug im religiösen Raum. Insofern stellen sie ebenso sehr die Sakralisierung des Profanen wie die Profanisierung des Sakralen dar.11

Insbesondere im Protestantismus wurden Kirchenräume zu besonderen Anlässen als politische Versammlungsorte genutzt, wobei in den überlieferten Schilderungen deutlich wird, wie der Kirchenraum mit seiner in ihm angelegten Hierarchie sehr genau dazu diente, soziale Rangunterschiede und rituelle Funktionen der Akteure zu unterstreichen.12 Überhaupt war die Gebundenheit an abgeschlossene und konkrete Räume mit der ihnen eigenen symbolischen Ordnung ein entscheidender Faktor für die politische Kommunikation in der

8 Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit, S. 27. 9 Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit, S. 27 – 28. 10 Renate Dürr, Private Ohrenbeichte im öffentlichen Kirchenraum, in: Susanne Rau / Gerd Schwerhoff (Hg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2008, S. 383 – 411, hier S. 385. Zur Kirche als Kommunikationsraum vgl. auch Signori, Sakral oder profan. 11 Gerd Schwerhoff, Sakralitätsmanagement. Zur Analyse religiöser Räume im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit, in: Susanne Rau / Gerd Schwerhoff (Hg.), Topographie des Sakralen. Raum und Raumordnung in der Vormoderne, Hamburg 2008, S. 38 – 67, hier S. 54. 12 Vgl. dazu die Rekonstruktion dieser politischen Rituale bei Uwe Goppold, Politische Kommunikation in den Städten der Vormoderne. Zürich und Münster im Vergleich, Köln / Weimar / Wien 2007, S. 179 – 186.

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Frühen Neuzeit.13 Diese Räume bildeten nicht nur die Szenerie und Kulisse des politischen Geschehens, sondern sie verliehen diesem Geschehen Würde und Verbindlichkeit. Umgekehrt markierten die Choreographien, nach denen sich die Bewegungen im Raum vollzogen, die Bedeutung des Raums als politischen Ort: »Die spezifischen Personenanordnungen und Bewegungen der Anwesenden im Zürcher Münster am Schwörtag oder im Münsteraner Rathaus am Ratswahltag machten für alle Anwesenden sichtbar, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst oder eine Ratssitzung handelte«.14 Das materielle Setting und die normativen Vorgaben des Rituals trugen so dazu bei, »dass die Anwesenden zu einer gemeinsamen kollektiven Situationsdefinition fanden«.15 Im Hinblick auf Kirchenräume wird hier deren grundlegende Repräsentations- und Ordnungsfunktion deutlich; Kirchenräume gaben den politischen Aushandlungsprozessen nicht nur einen bestimmten, bedeutungsstarken Rahmen, sondern sie waren ein geradezu konstitutiver Bestandteil dieser Prozesse. Der Wiener Kunstverlag Artaria hat eine Reihe von Kupferstichen publiziert, die ein vor dem Hintergrund der josephinischen Kirchenpolitik besonders brisantes Ereignis ins Bild setzen: den Wien-Besuch von Papst Pius VI. im Jahr 1782.16 Insbesondere zwei Werke des Kupferstechers Carl Schütz, die noch im selben Jahr erschienen sind, verdienen im Rahmen einer politischen Kulturgeschichte des Kirchenraums Beachtung. Zum einen handelt es sich dabei um ein Bild, das das vom Papst zelebrierte österliche Hochamt in St. Stephan – die »Feyerliche Begehung des Oster Festes in der St. Stephans Dom Kirche zu Wien von PIUS dem VI. Röm. Papst« – zeigt.17 Dieser Stich zeigt überaus plastisch die nicht unkomplizierte Positionsverteilung zwischen »geistlichen« und »weltlichen« Akteuren im Kirchenraum während eines politischen Großereignisses. Das Textblatt des Artaria-Verlags hält dazu fest: Dieses Hochamt ward nicht nach der sonst gewöhnlichen Art, sondern ganz nach dem Römischen Rituale gehalten. Anstatt des Hochaltars sieht man hier einen

13 Vgl. etwa Goppold, Politische Kommunikation, S. 267 – 269, sowie Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155 – 224, insbesondere S. 183 – 191. 14 Goppold, Politische Kommunikation, S. 268. 15 Goppold, Politische Kommunikation, S. 269. 16 Zum Wienbesuch des Papstes 1782 vgl. Annemarie Fenzl, Die Reise Papst Pius’ VI. nach Wien, in: Josephinische Pfarrgründungen in Wien. 92. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Karlsplatz, 22. Februar bis 9. Juni 1985, Wien 1985, S. 25 – 26. 17 Vgl. die Abbildung mit Kommentar in: Wien Museum (Hg.), Schöne Aussichten. Die berühmten Wien-Bilder des Verlags Artaria, Wien 2007, S. 62 – 63.

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prächtigen Thron von Goldstoff und die Wände umher mit kostbaren Tapeten behangen. Der Papst ist eben in der Attitüde, wie er nach gelesenem Evangelium in Lateinischer Sprache eine dieser Feyerlichkeit angemessene Rede an die Versammlung hält. Zu seinen beyden Seiten sitzen die Cardinäle Bathyan und Herzan mit ihren weissdamastenen Infeln in der Hand. Links seitwärts sitzt der Cardinal Migazzi, als assistirender Priester seiner Heiligkeit und ihm gegenüber befinden sich auf der zweyten Stufe abwärts zwey bey diesem Hochamte dienende Priester, und endlich auf der untersten Stufe die sämmtlichen Domherren der Metropolitankirche ebenfalls in sitzender Stellung. [. . . ] An der Linken des Thrones stehen in weltlicher Kleidung die Fürsten Schwarzenberg und Auersberg, welche den Papst bey dem Händewaschen wechselweise bedienten. [. . . ] Rückwärts des Altares stehen die Deutsche, Ungarische und Polnische Leibgarden mit entblösstem Gewehre.18

Deutlich zu erkennen sind auf dem Bild die Exklusivität der Veranstaltung sowie die Hierarchien innerhalb der Menge der weltlichen Besucherinnen und Besucher: An rot bespannten Tischen an der Seite sind offensichtlich Angehörige des höheren Adels platziert, vor den Stufen des Sanktuariums Mitglieder der gehobenen Wiener Gesellschaft. Die Frauen verfolgen das Geschehen ausnahmslos von den Emporen aus. Im Kontrast dazu zeigt ein weiterer kolorierter Stich dieser Serie die Konfrontation und Verschränkung des politisch-religiösen Rituals mit dem öffentlichen Raum: In diesem Fall hat Carl Schütz die »Feyerliche Seegens Ertheilung am Ostertage auf dem Hofe zu Wien von PIUS dem VI. Römischen Papst« im Rahmen der gleichen Besuchsreise des Pontifex abgebildet.19 Nach dem Hochamt in St. Stephan war der Papst im offenen Wagen zur Kirche »Zu den neun Chören der Engel« gefahren, um sich vom dortigen, der Fassade vorgelagerten Balkon der Bevölkerung zu zeigen und den Segen sowie den vollkommenen Ablass zu erteilen. Das Bild inszeniert die Ergriffenheit einer dem Papst zugewandten Menschenmenge, legt aber auch hier nahe, dass der Zugang zum Platz wohl beschränkt war. Durchweg ist bürgerliche und adelige Mode des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu sehen, während auf dem Balkon darüber eine nicht näher zu bestimmende Auswahl von »Notabeln« und Funktionsträgern Platz genommen hat. Darstellungen wie die von Carl Schütz gefertigten Kupferstiche dokumentieren und inszenieren politische Gebrauchsweisen des sakralen Raums in seiner Innen- und Außenseite; sie zeigen, wie die traditionellen Raumelemente des Kirchengebäudes dem politisch-religiösen Ritual Form und Sichtbarkeit verleihen.20

18 Zit. nach: Wien Museum, Schöne Aussichten, S. 62. 19 Vgl. die Abbildung in: Wien Museum, Schöne Aussichten, S. 64 – 65. 20 Es ist hochinteressant, die Beschreibungen des Ostergottesdienstes 1782 in St. Stephan mit dem Bericht zu vergleichen, den der Liturgiewissenschaftler Basilius Groen

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Abb. 14: »Feyerliche Begehung des Oster Festes in der St Stephans Dom Kirche zu Wien von PIUS dem VI Röm. Papst«, 1782. Carl Schütz, Kupferstich und Radierung, koloriert. Verlag Artaria, Wien.

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Abb. 15: »Feyerliche Seegens Ertheilung am Ostertage auf den Hofe zu Wien von PIUS dem VI Röm. Papst«, 1782. Carl Schütz, Kupferstich und Radierung, koloriert.

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Im 19. Jahrhundert – im Zeichen dessen, was in Kapitel 2 unter dem Stichwort »politische Romantik« behandelt wurde – verschob sich die politische Bedeutung von Kirchenräumen noch mehr ins Monumentale: »Denkmalskirchen« wie Karl Friedrich Schinkels »Dom als Denkmal für die Freiheitskriege«, der Kölner Dom als Nationaldenkmal oder die Votivkirche als Ruhmeshalle des »katholischen Österreich« belegen eine neue Tendenz zum Kirchenbau im

über die Eucharistiefeier beim Mitteleuropäischen Katholikentag in Mariazell am 22. Mai 2004 verfasst hat. Hier finden sich ganz ähnliche Muster der Produktion von Hierarchie über räumliche Strukturen: »An dieser so genannten Wallfahrt der Völker nahmen in Regen und Schnee etwa 8000 Katholiken aus Slowenien, Kroatien, Bosnien, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Polen und Österreich teil. Der Gottesdienst war sehr bischofszentriert und klerusorientiert, nicht nur durch den rituellen Ablauf, sondern auch durch die Raumgestaltung. Auf einem hohen Podium mit dem Altarraum standen über hundert Bischöfe, nur Bischöfe einschließlich der Kardinäle, vor dem Podium befanden sich ausschließlich Priester, die politische Führung Österreichs und einiger anderen Ländern [sic], Führer und Vertreter anderer christlicher Kirchen und Journalisten. Dann kam eine räumliche Trennung mit einem Gitter und dahinter stand das Volk, das auf die Rolle von Zuhörern und Zuschauern reduziert wurde. Zehntausende des Volkes befanden sich so weit vom Altarraum entfernt, dass sie nichts mehr vom Geschehen, weder visuell noch auditiv, mitbekamen. Die von der Liturgiereform des Zweiten Vatikanums geförderte und geforderte volle und bewusste tätige Teilnahme des Volkes war sowohl aufgrund der Raumeinteilung als auch aufgrund der Struktur der Messe nur sehr eingeschränkt möglich. Alles war ja auf den weiten Altarraum und das dortige Geschehen hingerichtet. Ein wichtiges Problem in Mariazell war das der sieben unterschiedlichen Sprachen. Dieses Problem war so ›gelöst‹ worden, dass dem Latein eine vorherrschende Rolle in der Liturgie beigemessen wurde. Nicht nur viele Gesänge, sondern auch Teile, wo das Volk direkt angesprochen wurde, die liturgische Eröffnung, die Einladung zum Friedensgruß und zur Kommunion fanden lateinisch statt. Nachdem die erste und zweite Lesung Ungarisch beziehungsweise in einer modernen slawischen Sprache verlesen worden waren, wurde das Evangelium Lateinisch sowie Altkirchenslawisch gesungen. Auch das ganze Hochgebet und das Vater Unser waren in Lateinisch. Der überproportionierte Gebrauch dieser für die meisten Teilnehmenden unverständlichen Sakralsprache förderte die ›volle, bewusste und tätige Teilnahme‹ sicherlich nicht. [. . . ] Eine weitere Frage betraf den Hauptvorsteher. Das war Kurienkardinal Angelo Sodano, der den Papst vertrat. War es jedoch notwendig, dass er liturgisch die so prominente Rolle des Hauptvorstehers spielte? Ist die Kurie das verbindende Element zwischen den acht teilnehmenden Nationen? Weiters standen auf dem Podium nur Männer. Auch unter den Akolythen befanden sich keine Frauen. [. . . ] Es fällt auf, dass die kirchliche Hierarchie diesen Tag als sehr erfolgreich bewertete, als ein fast magisches Ritual, das die Kraft der katholischen Kirche im nun vereinten Mitteleuropa zeigte«. Basilius Groen, Die magische Kraft der Rituale und die lebendige Feier der Liturgie, in: Petrus Bsteh / Brigitte Proksch (Hg.), Spiritualität im Gespräch der Religionen II, Wien 2010, S. 113 – 125, hier S. 114 – 115.

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Sinne kollektiver Repräsentation.21 Die Idee etwa, den nach vielen Jahrhunderten vollendeten Kölner Dombau als Symbol für die nationale Selbstbesinnung zu inszenieren und – wie Kronprinz Ludwig von Bayern vorgeschlagen hatte – auch als Schauhalle für Statuen »berühmter Deutscher« zu nutzen,22 belegt neue Querverbindungen von Religion, Politik und Kunst, die der Formierung eines emphatisch an der Nationalstaatsbildung beteiligten Bürgertums dienen sollten. Wolfgang Hardtwig schreibt dazu: Der nach politischer Selbstbestimmung verlangende Untertan des absolutistischen Staates bedarf einer neuen Einheit von innerer Motivation, Handlungslegitimität und öffentlicher Macht, und der von oben reformierte Territorialstaat wie Preußen drängt selbst auf diese neue Einheit, wo sie der in der Tradition des absolutistischen Obrigkeitsstaates verharrende, neue »Staatsbürger« nicht haben will. [. . . ] Die Öffnung dieser Grenze zwischen Subjektivität und äußerer Ordnung ermöglicht die Vereinigung des »metaphysischen Bedürfnisses« (Burckhardt), das sich in Religion artikuliert, mit den Sinnentwürfen, die sich an die staatliche Ordnung knüpfen.23

Kirchenbauten als öffentlich sichtbare Architekturzeichen mit ihrer starken Tradition der Kollektivrepräsentation eigneten sich für diese »Grenzöffnung« wie kaum etwas anderes. Die Präferenz für den gotischen Baustil spielte dabei eine wichtige Rolle und diente als sozialpolitisches Signal mit einer ganz eigenen ästhetischen Dynamik: Just as the Romantic Movement in literature and aesthetics turned to an imagined preindustrial, pristine beauty and innocence to critique the growing inequities and privations of the industrial revolution, the Gothic Revival in church architecture was similarly a response more to social concerns than theological or creedal ones. Prominent among these social concerns was the desire to project a single, unified image of Christianity in a context of increasing secularization and denominational fragmentation.24

Diesem Programm entsprechend, boten sich Kirchenräume immer mehr als politische Versammlungsorte an, und es entsprach dieser Logik, dass die Nationalversammlung im Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche tagte, die sich

21 Werner Telesko, Das 19. Jahrhundert. Eine Epoche und ihre Medien, Wien / Köln / Weimar 2010, S. 146. 22 Telesko, Das 19. Jahrhundert, S. 87. Zum Kölner Dombau im Zeitkontext vgl. auch Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 133 – 173. 23 Wolfgang Hardtwig, Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters, Göttingen 2005, S. 233. 24 Kilde, Sacred Power, Sacred Space, S. 165.

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durch ihre auf das Wort zentrierte protestantische Saalarchitektur besonders gut für die temporäre Nutzung als Parlamentsraum eignete. An zahllosen historischen Beispielen politisch-religiöser Kommunikation wird deutlich, dass Kirchenräume immer auch Medienräume sind. Rudolf Schlögl hat in seinen Arbeiten zur »Vergesellschaftung unter Anwesenden« einen heuristischen Medienbegriff eingeführt, der nicht auf einen bestimmten Gegenstandsbereich zielt, sondern eine bestimmte Perspektive der Forschung meint. Die Medialität der sozialen Welt zu untersuchen, bedeutet nach Schlögl viererlei: Erstens ist den »materialen und technologischen Voraussetzungen« von Medialität nachzugehen, zweitens ist die »kommunikative Hervorbringung und (Re-)Produktion von sozialer Ordnung« in den Blick zu nehmen, drittens werden hier die »epistemischen Konstellationen«, also das Verhältnis von »Referenz, Evidenz und Subjektivität« thematisch, und viertens geht es um die allgemeine »Funktion von Medien in sozialer Kommunikation«.25 So betrachtet, ist die Geschichte von Kirchenräumen insofern zugleich Mediengeschichte, als in diesen Räumen soziale Aushandlungsprozesse stattfinden und medial zur Repräsentation kommen. Doch auch einem engeren Medienbegriff zufolge stellt sich der Kirchenraum als Medienraum par excellence dar. So ist einer religionssoziologischen Definition zufolge »ein Medium jede Form des Gebrauchs von Zeichen in kultischem Ritual, Sprache und Bild, das auf das Potenzial von Zeichen zurückgreift, Unterscheidungen wie Gott / Welt, Sünde / Erlösung etc. zu stabilisieren und damit Formen des Religiösen zu strukturieren«.26 Kirchenräume waren bis in die beginnende Moderne hinein die bevorzugten Orte dieser Semiotisierung der Welt; Wolfgang Brückner hat den Kirchenraum einmal als den »einzigen Medienort der Gesamtgesellschaft« im Mittelalter bezeichnet.27 So waren es seit der Gotik unter anderem die Glasfenster, die zu genuinen Medien der religiösen Unterweisung in der mittelalterlichen Gesellschaft wurden.28 Werner Faulstich hat den Kirchenfenstern denn auch in seiner Mediengeschichte der Zeit zwischen 800 und 1400 einen eigenen Abschnitt gewidmet und sie als »Informations- und Werbemedium des Kirchenraums par excellence« gewertet.29 Hans Ulrich Reck sieht im romanischen Kirchenportal und der gotischen Kathedrale ein »Massenmedium in einem strikten Sinne«, charakterisiert durch »visuelle Monopolmedialität im Dienste einer weltexpan25 Schlögl, Anwesende und Abwesende, S. 36 – 37. 26 Ziemann, Sozialgeschichte der Religion, S. 132. 27 Wolfgang Brückner, Berliner Chancen, in: Zeitschrift für Volkskunde 96 (2000), S. 70 – 73, hier S. 73. 28 Allgemein dazu vgl. Gerhard Walter, Der Kirchenbau des Mittelalters als Bedeutungsträger, in: Roland Degen / Inge Hansen (Hg.), Lernort Kirchenraum. Erfahrungen – Einsichten – Anregungen, Münster u. a. 1998, S. 181 – 199. 29 Werner Faulstich, Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter. 800 – 1400, Göttingen 1996, S. 169.

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siven, dennoch die Welt verneinenden Ideologie«.30 Solche Bilder und bildliche Darstellungen fanden sich nicht nur an Portalen und Fenstern, sondern auch an den Altären und auf Fresken an den Kirchenwänden. Vor der Verbreitung »beweglicher Bilder« in Form von Flugschriften, Einblattdrucken und Büchern seit dem ausgehenden Mittelalter war der Kirchenraum damit einer der wenigen Orte, an denen überhaupt Bilder zu sehen waren.31 Die in den Kirchen installierten Bildprogramme, insbesondere aber auch das Format der »Biblia Pauperum« waren dadurch gekennzeichnet, »daß zum Verständnis der Bilder ein großes Maß an bereits vorhandenem Wissen vorausgesetzt werden muß, nicht zuletzt weil viele der bildlichen Formen zusätzlich mit lateinischen Inschriften versehen« waren.32 Das verweist darauf, dass der Medienraum Kirche nicht nur ein Bildraum, sondern vor allem ein Resonanzraum des gesprochenen Worts war, das die zur Schau gestellten Bilder erläuterte. Die Homilie als die Auslegung der heiligen Texte im Gottesdienst, die Predigt als allgemeine, freier zu gestaltende Verkündigung und der Wortgottesdienst in verschiedenen Formen bilden – ohne dass hier auf die genauen Unterschiede und Schnittmengen eingegangen werden kann – in der katholischen Liturgie die Gegenstücke zum eigentlichen eucharistischen Geschehen der Messfeier.33 Das gesprochene Wort liefert dabei nicht zuletzt den Kommentar zum Kirchenraum und seinem visuellen Angebot: Gerhardt Kapner spricht von der barocken Predigt als einer »mündliche[n] Form emblematischer ›Inschrift‹«; 34 das Bild im Kirchenraum ist ein autoritativ erläutertes Bild, wobei es in Mittelalter und Früher Neuzeit nicht selten auch den Charakter einer Gedächtnisstütze für den Priester oder Prediger hatte.35 Wort und Bild greifen im Medienraum Kirche also ineinander, zugleich gingen hier sprachliche und visuelle Modi religiöser und politischer Kommunikation zuweilen bruchlos ineinander über, wie Miri Rubin betont hat. Fasst man das politische Feld – dem Konzept der politischen Kulturgeschichte entsprechend – sehr weit, dann umfasst es ein sehr breites Spektrum von Handlungen sowie Macht- und Autoritätsdemonstrationen [. . . ]: von Abhandlungen über das Regieren bis hin zu Krönungsritualen,

30 Hans Ulrich Reck, Kunst als Medientheorie. Vom Zeichen zur Handlung, München 2003, S. 323. 31 Vgl. Anke te Heesen, Der Weltkasten. Die Geschichte einer Bildenzyklopädie aus dem 18. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 73. 32 te Heesen, Der Weltkasten, S. 74. 33 Vgl. die Einträge »Homilie«, »Predigt« und »Wortgottesfeier (Wortgottesdienst)« in: Rupert Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon. Das Nachschlagewerk für alle Fragen zum Gottesdienst, völlig überarbeitete Neuausgabe Freiburg i. Br. 2013, S. 169 – 170, 340 – 341, 356 – 358. 34 Kapner, Barocker Heiligenkult in Wien, S. 117. 35 Vgl. den Hinweis bei te Heesen, Der Weltkasten, S. 73.

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von städtischen Prozessionen bis zur Durchführung von Wahlen. In vielen religiösen Traditionen und über lange Zeiträume hinweg war die vorherrschende Sprache, in der Politik diskutiert und ausgedrückt wurde, im Grunde der religiöse Sprachgebrauch. Vorstellungen von Gerechtigkeit und Wohltätigkeit, von Belohnung und Bestrafung – Handlungsfelder des Staates oder der politischen Eliten – wurden in der Sprache der Religion artikuliert.36

Manche Historiker kommen – so Rubin – sogar zu der weitreichenden Schlussfolgerung, die moderne Politik sei im Grunde »nichts anderes als ein neuer Ausdruck für das, was historisch als Religion betrachtet wurde«.37 Oder, anders gewendet: »Die Sprache der Macht hat von Anfang an einen religiösen Grund«.38 Während weltliche Herrschaft historisch immer schon als mit religiösen Semantiken aufgeladen erscheint, so tritt insbesondere die katholische Kirche ihrerseits als Institution mit eigenem Herrschaftsanspruch auf. Für das 19. Jahrhundert hat Michael N. Ebertz diesen Anspruch herrschaftssoziologisch nachgezeichnet; er argumentiert mit Max Weber, dass von »Herrschaft« dann gesprochen werden kann, wenn »für Anordnungen gleich welcher Art, auch für Sinnanordnungen, Gehorsam beansprucht und bis zu einem gewissen Grad auch gefunden wird«.39 Herrschaft in diesem Sinne bedarf der Legitimation im Sinne eines »Anerkennungsglauben[s]«, der »ständig produziert und kultiviert werden« muss.40 »Keine Herrschaft« – so schon Weber – »begnügt sich, nach aller Erfahrung, mit den nur materiellen oder affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chance ihres Fortbestandes. Jede versucht vielmehr den Glauben an ihre ›Legitimität‹ zu erwecken und zu pflegen«.41 Wenn nun »Kirche« nach Ebertz »alle Bedingungen und Merkmale einer herrschaftlichen Sozialbeziehung« zeigt,42 dann liegt es nahe, den Kirchenraum als starkes Medium kirchlicher Legitimierungspraktiken zu verstehen: Er ist zentraler Schauplatz der symbolischen Reproduktion der Institution Kirche und ihrer Konsolidierungstechniken, die Ebertz für das 19. Jahrhundert als Triade von Bürokratisierung / Hierarchisierung, Traditionalisierung und Charismatisierung fasst.43 Hier, im Kirchenraum, wurde ein beträchtlicher Teil der Legitimität und Autorität der Kirche hergestellt, in Szene gesetzt und im Alltag verankert. Mittels dieser Legitimität schließlich wurde ein Anspruch auf schlechthin umfassenden Zugriff

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Rubin, Religion, S. 419. Rubin, Religion, S. 419. Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt, S. 15. Ebertz, Herrschaft in der Kirche, S. 90. Ebertz, Herrschaft in der Kirche, S. 91. Zit. nach Ebertz, Herrschaft in der Kirche, S. 91. Ebertz, Herrschaft in der Kirche, S. 92. Vgl. Ebertz, Herrschaft in der Kirche.

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auf die Lebenswelten der Gläubigen erhoben; klassische »mission statements« der Kirche betonen Deutungsmacht und Herrschaftsanspruch der katholischen Kirche in unmissverständlicher Weise, so etwa die von Papst Leo XIII. 1891 verabschiedete Enzyklika »Rerum Novarum«. Ihr zufolge gehen die gesamten Aktivitäten der Kirche dahin, die Menschheit nach Maßgabe ihrer Lehre und ihres Geistes umzubilden und zu erziehen. Durch den Episkopat und den Klerus leitet sie den heiligen Strom ihres Unterrichts bis in die weitesten Kreise des Volkes hinab, soweit immer ihr Einfluß gelangen kann. Sie sucht in das Innerste der Menschen einzudringen und ihren Willen zu lenken, damit sich alle im Handeln nach Gottes Vorschriften richten.44

Techniken der Macht, die darauf ausgerichtet sind, »in das Innerste der Menschen einzudringen«, sind vor allem von Michel Foucault umfassend untersucht und theoretisiert worden. In seiner historischen Analyse der Machtformen hat er festgehalten, »daß das Christentum der gesamten antiken Welt neue Machtverhältnisse beschert hat«.45 Foucault spricht hier von der »Pastoralmacht«, die sich unter anderem durch einen neuen Zugriff auf den Einzelnen und sein »Inneres« auszeichnet: Sie ist eine Machtform, die sich nicht nur um die Gemeinde insgesamt, sondern um jedes einzelne Individuum während seines ganzen Lebens kümmert. [. . . ] Man kann diese Form von Macht nicht ausüben, ohne zu wissen, was in den Köpfen der Leute vor sich geht, ohne ihre Seelen zu erforschen, ohne sie zu veranlassen, ihre innersten Geheimnisse zu offenbaren. Sie impliziert eine Kenntnis des Gewissens und eine Fähigkeit, es zu steuern.46

Aus gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive ist hier die Kontinuität wichtig, die Foucault zwischen der kirchlichen Pastoralmacht und der »IndividualisierungsMatrix« des modernen Staates sieht. Vorbereitet durch die individualisierende Macht des Christentums, ist auch die moderne Gouvernementalität darauf ausgerichtet, Wissen über die Individuen zu generieren, zu sammeln und zur Grundlage ihrer Verwaltungstechniken und Staatsapparate zu machen.47 Sie basiert wesentlich darauf, dass die in die modernen Machtnetze eingespannten Individuen sich selbst als Subjekte begreifen, bei deren Konstitution Praktiken der Führung und Selbstführung ineinandergreifen. So ist die Pastoralmacht

44 Zit. Nach Ebertz, Herrschaft in der Kirche, S. 93. 45 Das Subjekt und die Macht, in: Hubert L. Dreyfus / Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1994, 243 – 261, hier S. 248. 46 Foucault, Das Subjekt und die Macht, S. 248. 47 Vgl. Foucault, Das Subjekt und die Macht, S. 249.

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stets »mit einer Produktion von Wahrheit verbunden, der Wahrheit des Individuums selbst«, ohne die der christliche Zugriff auf die »Seelen« nicht denkbar wäre. Die im Prozess der Säkularisierung im 19. Jahrhundert erkennbare Fokussierung der christlichen Kirchen auf die Felder der Familie und »einer für die moderne Gesellschaft tauglichen Individualität« 48 lassen sich von hier aus als Neujustierungen der christlichen Pastoralmacht unter dem Druck der gesellschaftlichen Modernisierung lesen. Während eine an Weber orientierte Herrschaftssoziologie der Kirche die Produktion und Reproduktion von Legitimität verfolgt, kann eine an Foucault orientierte Analyse parallel dazu die »Mikrophysik« kirchlicher Macht in ihren produktiven und subjektivierenden Aspekten herausarbeiten. Die hier skizzierte Perspektive auf Kirchenräume als politische Medienorte und Orte der Reproduktion von Herrschaft zeigt, dass hier veritable MachtWissen-Komplexe im Sinne Foucaults vorliegen – angefangen bei der eminenten Rolle von Kirchen als Kreuzungspunkte von Informationen seit dem Mittelalter über die verfeinerten politischen Ikonographien des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts bis hin zu den Subjektivierungseffekten von Praktiken wie Andacht, Gebet und Beichte. In Raumstrukturen, Artefakten und Bildern sind – vermittelt durch theologische »Übersetzungen« und Ikonographien – soziale Programme codiert, die durch die priesterliche Autorität und liturgische Tradition ihre machtvolle Deutung erfahren, aber doch aus unterschiedlichen Perspektiven decodierbar sind. In diesem Spannungsfeld von dominanten Erzählungen und heterotopischen »Gegen-Erzählungen« entfaltet sich die Dynamik des Raums als Wissens-Raum. Von hier aus ist es aber notwendig zu zeigen, dass Kirchenbauten nur in ihrem »dispositiven Kontext« 49 zu verstehen sind. Kurz: Es geht um die Lesbarkeit von Kirchenräumen als Teil von heterogenen Ensembles, in denen sich »Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze« miteinander verschränken.50 Durch den religiösen Anspruch und »Konsekrationseffekt« von Kirchenbauten erhalten diese Dispositive nicht nur ihre konkrete Evidenz und Selbstverständlichkeit, sondern auch viel von ihrer Stabilität. Indem Kirchenbauten bestimmte gesellschaftliche Dispositive in räumliche Arrangements übersetzen, machen sie sie für das Alltagshandeln anschlussfähig. Es erscheint plausibel, den Kirchenraum als »Medienraum« im konventionellen Sinne zu lesen: als kommunikativen Raum, als vielfältigen Zeichenträger, als Kulisse ikonographischer Programme, als Ort des gesprochenen Wortes in 48 Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt, S. 21. 49 Vgl. Hasse, Übersehene Räume, S. 85. 50 Michel Foucault, Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 119 – 120.

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Gottesdienst und Predigt. Darüber hinaus ist aber der gebaute Raum auch als Medium eigener Ordnung zu lesen. Denn Kirchenräume sind – so das Leitmotiv dieser Studie – immer auch Medien des Sozialen, die bei der Herstellung des Sozialen eine konstitutive Rolle spielen.51 Im Anschluss an Ernst Cassirer und Helmuth Plessner zeigt Heike Delitz, dass es bei der Medialität von architektonischen Räumen um weitaus mehr geht als um Informationsvermittlung. Vielmehr geht es um die Konstitution von Welt-, Selbst- und Gesellschaftsverhältnissen.52 In dieser Dimension von Medialität tragen Kirchenräume nicht nur dazu bei, binäre Unterscheidungen von gut / böse, richtig / falsch, oben / unten, männlich / weiblich usw. zu stabilisieren – und das weit über den genuin religiösen Bereich hinaus. Sondern bei alledem bilden sie immer auch materielle Arrangements, über die das Verhältnis Individuum / Gesellschaft oder auch Herrschaft / Bevölkerung mit organisiert und strukturiert wird. Auf diese Weise erfüllen Kirchenräume – so eine Ausgangsthese dieser Untersuchung – in den christlich geprägten europäischen Gesellschaften seit dem Mittelalter eine fundamentale politische Funktion: In Übereinstimmung mit der Theologie des »imago mundi« stellen sie hoch verdichtete und strukturierte symbolische Repräsentationen von Gesellschaft und deren Position in der kosmologischen Ordnung der Dinge dar. In ihrer räumlichen Organisation und ihrer ikonographischen Ausstattung artikulieren sie nicht nur religiöse »Höchstrelevanzansprüche«,53 sondern konstruieren sie immer auch Bilder konfessioneller, übernationaler, nationaler, kommunaler oder parochialer Kollektive samt ihrer sozialen Werte und Normen – und zwar sowohl der herrschenden Verhältnisse, wie sie sind, als auch der Verhältnisse, wie sie sein sollen. Denn wenn die Gemeinde theologisch als Abbild der realen wie idealen Gesamtgesellschaft verstanden wird, dann stellt der Kirchenraum als Raum der Gemeinde ebenfalls eine Repräsentation von Gesellschaft dar. Zugleich aber haben diese strukturierten Repräsentationen auch eine strukturierende Wirkung, insofern Kirchenräume nicht nur Repräsentations-, sondern immer auch Handlungsräume sind, in denen symbolische Ordnungen performativ angeeignet und in subjektiven Sinn übersetzt werden. Medienraum und Handlungsraum sind nicht voneinander zu trennen.

51 Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 27. 52 Vgl. Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 191. 53 Hartmann Tyrell, Religionssoziologie, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 428 – 457, hier S. 448.

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Architektur als Medium des Sozialen »Wenn die Religion alles, was in der Gesellschaft wesentlich ist, hervorgebracht hat, dann deshalb, weil die Idee der Gesellschaft die Seele der Religion ist«.54 Mit dieser überaus starken These begründete Emile Durkheim kurz vor dem Ersten Weltkrieg seine Konzeption von Religionssoziologie, die nach den gesellschaftlichen Funktionen religiöser Praktiken fragt. Aufgrund seines Verständnisses von Religion als einer »moralischen, verpflichtenden und daher kollektiven Angelegenheit« wird Religionssoziologie bei Durkheim »geradezu zur Gesellschaftstheorie«.55 Gott ist für ihn der »symbolische Ausdruck der Kollektivität« und die »transfigurierte und symbolisch gedachte Gesellschaft«.56 Daher ist für ihn die soziologische Untersuchung religiöser Phänomene zugleich eine Untersuchung über die Grundlagen sozialer Integration.57 Durkheims allgemeine Definition von Religion stellt diese Integrationsfunktion denn auch in den Mittelpunkt: »Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören«.58 Wenn es von Durkheims Religionssoziologie aus möglich sein soll, Religion als ein metaphorisches Spiegelbild von Gesellschaft zu verstehen,59 dann bietet diese sich als Ausgangspunkt an, um auch sakrale Räume in besonderer Weise als »Spiegelbilder« von Gesellschaft – also als Repräsentationen des Sozialen – zu lesen: Inwiefern stellen sich diese Räume als »symbolische[r] Ausdruck der Kollektivität« und als »transfigurierte und symbolisch gedachte Gesellschaft« dar? Inwieweit sind Kirchenräume das Produkt individueller oder kollektiver Akteure, die eben nicht zuletzt über Räume und Raumstrukturen – mit Roger Chartiers Konzept von Repräsentationen gesprochen – »die Gesellschaft beschreiben, so wie sie meinen, daß sie wäre oder sein sollte«? 60 Das »symptomatologisch« angelegte architektursoziologische Programm, gebaute und umbaute Räume als Repräsentationen von Gesellschaft zu lesen, kann an einen Gedanken anknüpfen, der 1938 von dem Durkheim-Schüler Maurice Halb-

54 Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1981, S. 561. 55 Volkhard Krech, Religionssoziologie, Bielefeld 1999, S. 8. 56 Krech, Religionssoziologie, S. 9. 57 Vgl. etwa Gert Pickel, Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, Wiesbaden 2011, S. 75 – 86. 58 Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 75. 59 So Knoblauch, Religionssoziologie, S. 65. 60 Roger Chartier, Kulturgeschichte zwischen Repräsentationen und Praktiken, in: Ders., Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Frankfurt am Main 1992, S. 7 – 23, hier S. 13.

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wachs formuliert worden ist. In seiner Monographie zur »Sozialen Morphologie« ist Halbwachs der materiellen und räumlichen Dimension von Gesellschaft nachgegangen und hat damit sozusagen Umrisse einer Raum- und Architektursoziologie avant la lettre entworfen.61 Das Programm der sozialen Morphologie zielt sehr grundsätzlich darauf, das »materielle Substrat der Gesellschaften« – so eine Formulierung von Marcel Mauss – auf seine konstitutive Funktion für die Formierung ebendieser Gesellschaften hin zu untersuchen.62 Am Schluss des einleitenden Abschnitts heißt es: Überall handelt aber die soziale Morphologie, wie die Soziologie überhaupt, von kollektiven Repräsentationen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit den materiellen Formen des gesellschaftlichen Lebens zuwenden, dann weil es darum geht, hinter ihnen einen ganzen Bereich der kollektiven Psychologie zu erschließen. Die Gesellschaft prägt sich immer in die materielle Welt ein, und das menschliche Denken findet hier, in solchen Vorstellungen, die ihm durch ihre räumliche Verfassung zufließen, Regelmäßigkeit und Standsicherheit – fast wie der einzelne Mensch seinen Körper im Raum wahrzunehmen lernt, um im Gleichgewicht zu bleiben.63

In Halbwachs’ Argumentation ist ein wesentliches Erkenntnisinteresse einer Kirchenraumanalyse im hier vorgeschlagenen Sinne formuliert: Wie nämlich – so die zentrale Frage – erhalten religiöse Praktiken und die mit religiösen Praktiken verbundenen symbolischen Ordnungen ihre Stabilität und Dauerhaftigkeit? Neben den Ritualen und den Normen, die hier wirken, sind es vor allem die Räume und Artefakte, also die materiellen Grundlagen dessen, was Halbwachs die »religiöse Morphologie« nennt, die für »Regelmäßigkeit und Standsicherheit« sorgen. Halbwachs hat hier von der »physischen Trägheit der Dinge«, der »Unempfindlichkeit der Steine« und der »Permananz des Raumes« gesprochen, um zu zeigen, wie der gebaute Raum als Faktor der Reproduktion des Sozialen wirkt.64 Eben deshalb ist der gebaute Raum aber auch nicht einfach als »Spiegel« gesellschaftlicher Verhältnisse zu lesen, wie es etwa Jörg Stabenow mit seiner merkwürdigen Behauptung, der protestantische Kirchenraum »repräsentiert die soziale Gegenwart im Maßstab 1:1«, nahelegt.65 Vielmehr bietet

61 Vgl. ausführlich dazu Markus Schroer, Materielle Formen des Sozialen. Die »Architektur der Gesellschaft« aus Sicht der sozialen Morphologie, in: Joachim Fischer / Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 19 – 48. 62 Vgl. Schroer, Materielle Formen des Sozialen, S. 21. 63 Maurice Halbwachs, Soziale Morphologie. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Stephan Egger, Konstanz 2002, S. 22. 64 Zit. nach Schroer, Materielle Formen des Sozialen, S. 26. 65 Stabenow, Verortungen, Spiegelungen, S. 116.

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der Kirchenraum spezifische Repräsentationen der sozialen Realität, die in ihrer Funktion untersucht werden müssen. Zudem ist der »Hysteresis-Effekt« mitzudenken, der aus der historischen Fortdauer des gebauten Raums resultiert: Die räumlichen Strukturen können mit dem Tempo der sozialen Veränderungen gewissermaßen nicht mithalten [. . . ]. Räumliche Strukturen haben gerade in ihrer Beharrungskraft ihre wichtigste Funktion, in ihrem Widerstand, den sie dem Wollen des Menschen entgegensetzen. Sie sind im Grunde der soziale Kitt, der die Mitglieder einer sozialen Gruppe miteinander verbindet.66

Von hier aus hat Halbwachs den Durkheimschen Grundgedanken weiterverfolgt, demzufolge allen religiösen Repräsentationen immer auch kollektive soziale Repräsentationen entsprechen: Ein Politiker, ein Priester, ein Unternehmer, sie wissen, zumindest im Großen und Ganzen, von den Menschen, die sie führen, deren materielle oder spirituelle Belange sie verwalten, auf die sich ihr Einfluß erstreckt. Sie stellen sich ihren Ort, ihre Verteilung vor, nehmen in Gestalt einer Hierarchie, einer festen Ordnung die Verbindungen und Beziehungen zwischen ihnen und zu jener Gesamtheit wahr, deren Teil sie sind.67

Inwiefern also stehen Kirchenräume symbolisch für Kollektive – für sich überlagernde imaginäre »Gemeinschaften« wie die Kirchengemeinde, die Stadtgemeinde, die Nation, die Konfession, das »christliche Abendland« etc.? Inwiefern tragen sie durch ihre räumliche Anordnung und ihre materielle wie symbolische Ausstattung wesentlich dazu bei, diese Kollektive zu formieren und ihnen Gestalt zu verleihen? Und inwiefern – so die daran anschließende Frage – waren und sind sie konkrete Aushandlungsorte für Politik im engeren Sinne? Der Kunsthistoriker Ernst Seidl hat vor einigen Jahren die Frage nach der politischen Bedeutung architektonischer Raumstrukturen aufgeworfen: Können bestimmte Grundformen des gebauten Raumes, so wie sie Blicke lenken, Eindruck machen, Freiräume schaffen oder Geborgenheit vermitteln, so wie sie Bewegung steuern oder verhindern, ins Zentrum rücken oder an die Peripherie verweisen, – können solche Grundformen des Raumes schon durch diese Fähigkeiten politische Bedeutung generieren? Und wenn ja, wie geschieht dies genau? 68

66 Schroer, Materielle Formen des Sozialen, S. 27. 67 Halbwachs, Soziale Morphologie, S. 23. 68 Ernst Seidl, »Politischer Raumtypus«. Einführung in eine vernachlässigte Kategorie, in: Ders. (Hg.), Politische Raumtypen. Zur Wirkungsmacht öffentlicher Bau- und Raumstrukturen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2009, S. 9 – 20, hier S. 9.

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Mit seiner Fragestellung geht es Seidl nicht um die politische Nutzung von Räumen oder die Art und Weise, wie Räume durch semantische Aufladung politische Bedeutung erhalten können, sondern es geht ihm darum, die reinen räumlichen Gefüge städtischer Räume als »Gedächtnisspeicher« sui generis kenntlich zu machen. In den Blick kommen »Markt-, Königs- oder Parkplätze, Atrien oder Hinterhöfe, Grünstreifen oder Verkehrsinseln, Parks oder Gartenstädte, Gassen, Wohn- oder Hauptstraßen, Boulevards, Avenuen oder Foren« 69 – und damit unterschiedliche Formationen öffentlicher und halböffentlicher Räume. Ausgeklammert bleiben dabei zunächst die gebauten Innenräume, was die Frage provoziert, ob nicht auch Rathäuser und Palais, Opernhäuser und Konzentrationslager, Ordensburgen und Pfarrhäuser, Hospitäler und Warenhäuser, Kinos und Sanatorien oder sogar die Anordnungen bürgerlicher Wohnund Schlafräume als politische Raumtypen betrachtet werden können.70 Inwiefern also ist die Binnenstruktur architektonischer Raumtypen ebenso politisch wie die repräsentativen und stadtpolitisch motivierten Anlagen des Berliner Forum Fridericianum oder der Essener Gartenstadt Mathildenhöhe? 71 Inwiefern spiegeln gerade Innenräume die spezifische Verteilung von sozialen Positionen und Funktionen im gelebten Alltag, wie das bereits Norbert Elias in seinen Untersuchungen zur höfischen Gesellschaft gezeigt hat? 72 Und inwiefern sind besonders Kirchenräume als starke politische Raumformen zu lesen – als zeitgebundene, aber aufgrund ihrer Struktur und Strukturiertheit fortdauernde symbolische Repräsentationen von Gesellschaft? Schon bei dieser knappen Exposition der Fragestellung wird deutlich, dass hinter ihr starke sozial- und kulturtheoretische Vorannahmen stehen.73 Favorisiert wird hier eine an Bourdieus kultursoziologisches Interesse anknüpfende Perspektive auf die Reproduktion und die Stabilität sozialer Strukturen und

69 Seidl, »Politischer Raumtypus«, S. 12. 70 Vgl. zur Typisierung architektonischer Räume das informative Nachschlagewerk Ernst Seidl (Hg.), Lexikon der Bautypen. Funktionen und Formen der Architektur, Stuttgart 2006. 71 Vgl. dazu die Beiträge von Martin Engel, Das »Forum Fridericianum« in Berlin. Ein kultureller und politischer Brennpunkt im 20. Jahrhundert, in: Ernst Seidl (Hg.), Politische Raumtypen. Zur Wirkungsmacht öffentlicher Bau- und Raumstrukturen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2009, S. 35 – 46, und Scott J. Budzynski, Projective Memory. The Mathildenhöhe as Cultural Space, in: ebd., S. 61 – 70. 72 Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 68 – 101. 73 Zur Diskussion dieser Vorannahmen vgl. ausführlich Wietschorke, Architektur in der Kulturanalyse. Dort ist auch ein Vorschlag formuliert, wie symptomatologische, praxeologische und ethnographische Architekturanalysen zusammenspielen und ineinandergreifen müssen, um der Komplexität ihres Gegenstands – nämlich von Architektur als Moment von Gesellschaft und sozialem Handeln – gerecht werden zu können.

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symbolischer Ordnungen. Damit wird eine kritische Sichtweise auf sich fortschreibende Machtverhältnisse und soziale Hierarchien, auf hegemoniale Geschlechterordnungen und Exklusionsmechanismen sowie allgemein auf Strukturen sozialer Ungleichheit entwickelt. Weniger kommen demgegenüber die Potentiale historischen Wandels und historischer Brüche in den Blick – eine Schieflage, die es im Verlauf dieser Untersuchung ihrerseits immer wieder kritisch zu reflektieren gilt. Gravierender ist allerdings ein anderes – eng damit zusammenhängendes – Problem einer an »Repräsentationen von Gesellschaft« interessierten Architektursoziologie: Wenn gesagt wird, dass sich gesellschaftliche und symbolische Ordnungen in Architektur »niederschlagen« oder in ihr »spiegeln«, wie kann diese dann als Moment und Medium sozialer Praktiken gedacht werden? Wie ist die soziale »Effektivität« von Architektur zu bestimmen? 74 Denn selbstverständlich schlägt sich in architektonischen Formen und Strukturen nicht nur eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung nieder, sondern es ist mehr: Die Architektur ist wesentlich an der Konstitution sozialer Praktiken und symbolischer Ordnungen beteiligt. »Symbolische Medien konstituieren allererst die soziale ›Wirklichkeit‹ – also die ›Gesellschaft‹ –, statt sie einfach auszudrücken. Und unter ihnen dürfte die Architektur nicht das Unwichtigste sein, in ihrer Präsenz, ihrer Unentrinnbarkeit, ihrer Materialität und nicht zuletzt in ihrer Affektivität«.75 So umreißt Heike Delitz in aller Kürze das Programm einer Soziologie und Kulturanalyse der Architektur als »Medium des Sozialen«, wie sie es vor einigen Jahren entwickelt hat. Ausführlicher wird dieses Programm zusammengefasst, wenn sie an anderer Stelle schreibt: Statt zu denken, dass es ein eigentliches »Soziales« gebe – die Interaktionen, die sozialen Strukturen –, für welches die Architektur und insgesamt das Symbolische nur noch die Kopie, die »Hülle« wäre [. . . ], hat man die Architektur vielleicht erst dann adäquat erfasst, wenn man sie als sozial konstitutiv versteht: erst in ihrer je bestimmten Architektur erschafft sich eine Gesellschaft als diese bestimmte Gesellschaft mit diesen sozialen Trennungen und Hierarchien, diesem Begehren der Subjekte, dieser Vorstellung des Guten. [. . . ] Natürlich sind auch alle anderen kulturellen Medien, vor allem die Sprache, an dieser symbolischen Konstitution der Gesellschaft beteiligt. Aber der Architektur kommt doch eine besondere Funktion zu. Sie separiert die sozialen Aktivitäten; sie weist ihnen einen Ort zu; sie schafft ihnen eine dauerhafte Sichtbarkeit. [. . . ] Kurz, die Architektur gibt den spezifischen sozialen Verhältnissen – darunter auch dem Politischen – erstens eine dauerhafte Gestalt und sie ist zweitens über ihren Einfluss auf den Körper mit beteiligt an der Schaffung der Subjekte einer Gesellschaft.76

74 Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 12. 75 Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 13. 76 Heike Delitz, Gesellschaften der Städte und Gesellschaften der Zelte. Zur politi-

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Mit ihrem architektursoziologischen Entwurf löst Heike Delitz eine Forderung ein, die bereits in den 1970er Jahren von Hans Linde in seiner Untersuchung über »Sachdominanz in Sozialstrukturen« erhoben wurde. Polemisch zugespitzt schrieb Linde, dass sich im Hinblick auf Fragen nach Raum und Raumplanung jede Soziologie als unzuständig erklären müssen [wird], die sich damit begnügt, Sachen als vergegenständlichtes, totes Substrat gesellschaftlicher Zusammenhänge hinzunehmen und bestenfalls als Umweltdaten ihrer interaktionistischen Systementwürfe in Ansatz zu bringen, es aber unterläßt, Sachen auf ihre systemimmanente, das heißt soziale Qualität hin zu analysieren, deren Strukturen zu entziffern und ihren spezifischen Stellenwert für den Bestand und die Veränderung gesellschaftlicher Zusammenhänge zu bestimmen.77

Zu eben diesem Problem bietet Delitz nun eine interessante Theoriekompilation aus Überlegungen von Bergson und Castoriadis, von Deleuze und Foucault, aber auch von anthropologischen Positionen Plessners und Gehlens an. Ihr grundlegendes Interesse geht dahin, die Funktion räumlich-architektonischer Symbolisierungen für das gesellschaftliche Leben zu untersuchen und dabei die materielle, körperliche und affektive Seite ernst zu nehmen. Der Begriff »Medium des Sozialen« zielt dabei auf den Prozess der »Herstellung der sozialen Realität in den verschiedenen Medien – die gebunden ist an die Sinneswahrnehmung, an je spezifische Materialitäten« 78 und impliziert damit die »Untrennbarkeit von Materialität und Bedeutung, Sinnlichkeit und Sinn«.79 Das Symbolische hat hier nicht einfach textuellen Status, geht nicht einfach auf in einem Spiel der Deutungen und Bedeutungen. Dazu greift Delitz auf die Theorie der »Gesellschaft als imaginäre Institution« des Philosophen Cornelius Castoriadis zurück. Diese erlaubt nach Delitz, »die konstitutive Kraft des Imaginären und Symbolischen zu verstehen« und zu erkennen, dass die »Imagination radikal bildend ist, nicht Einbildungskraft, sondern Bildungskraft«.80 Im Hinblick auf die Architektur bedeutet das nichts anderes, als dass die architektonisch entworfenen Gestalten und Bilder des Zusammenlebens formativen Charakter haben. Mit einem prägnanten Satz des Soziologen Michel Maffesoli: »form causes formation«.81 »Diese Soziologie«, so Delitz weiter,

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schen Effektivität der Architektur, in: Ernst Seidl (Hg.), Politische Raumtypen. Zur Wirkungsmacht öffentlicher Bau- und Raumstrukturen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2009, S. 21 – 33, hier S. 21. Hans Linde, Sachdominanz in Sozialstrukturen, Tübingen 1972, S. 19. Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 27. Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 193. Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 122. Zit. nach Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 125.

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fordert nicht zuletzt dazu auf, die klassische Trennung von Natur und Gesellschaft zu verlassen, um den Anteil der Materialität am Sozialen anzuerkennen. Und für diese Soziologie des Imaginären ist dann die Architektur in der Tat die »Basis« der Gesellschaft: ihre stabilisierende, »schweigende« Gestalt ermöglicht erst ein Andauern, Identität.82

Aus diesen Formulierungen geht hervor, dass Architektur vielleicht das soziale Medium par excellence ist, über das sich soziale Verhältnisse reproduzieren. Martina Löw hat in ihrem raumsoziologischen Aufriss gezeigt, dass die Repetitivität des Handelns im Alltag wesentlich mit der permanenten Wiederholung institutionalisierter räumlicher Anordnungen zu tun hat.83 Gesellschaft und Raum halten sich über repetitive Praktiken gegenseitig stabil: »Die in der Konstitution von Raum erzielte Reproduktion von Strukturen muß auch eine Reproduktion räumlicher Strukturen sein. [. . . ] Räumliche Strukturen sind, wie zeitliche Strukturen auch, Formen gesellschaftlicher Strukturen«.84 Umgekehrt aber werden eben auch die Praktiken über räumliche Anordnungen stabilisiert: Über räumlich-architektonische Formen und Strukturen schreiben sich Praxismuster fort, erhalten Vorstellungen, Bilder, Identitäten des Sozialen ihre Dauerhaftigkeit. Dem sozialen Wandel setzen sie an vielen Stellen den zähen Widerstand der Routinen, der performativen Wiederholung von Handlungen im Rahmen ästhetischer Inszenierungen und Settings entgegen. Dass sich die erstaunliche Stabilität von Institutionen wie der katholischen Kirche über diese materiellen architektonischen Strukturen mit erklären lässt, leuchtet ebenso unmittelbar ein wie es erstaunlich ist, dass dieser Zusammenhang bisher kaum systematisch entfaltet worden ist – weder theoretisch, noch in einer gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive. Im Sinne des hier skizzierten Programms wird im vorliegenden Kapitel nach sozialen Orten, Verteilungen, Hierarchien und symbolischen Ordnungen gefragt, die durch Kirchenräume und in Kirchenräumen als Medien des Sozialen hergestellt werden, die diese Räume als Handlungsräume bestimmen und seinerseits dem Handeln und den damit verbundenen Vorstellungen Stabilität verleihen.

Zur materiellen und symbolischen Konstitution des Kirchenraums Das eben genannte raumtheoretische Grundlagenwerk der Soziologin Martina Löw gehört seit einigen Jahren zu den »Zitierklassikern« aller raum- und architekturinteressierten Disziplinen. Löw fasst darin auf instruktive Weise den Stand der raumsoziologischen Diskussion zusammen und skizziert ein plausi-

82 Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 125. 83 Vgl. Löw, Raumsoziologie, S. 161 – 166. 84 Löw, Raumsoziologie, S. 167.

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bles Modell für eine handlungstheoretische Beschreibung und Untersuchung räumlich gebundener Phänomene. Sie versteht Raum zunächst als eine »relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert. Das bedeutet, Raum konstituiert sich auch in der Zeit. Raum kann demnach nicht der starre Behälter sein, der unabhängig von den sozialen und materiellen Verhältnissen existiert, sondern Raum und Körperwelt sind verwoben«.85 Das bedeutet auch, dass die handelnden Akteure in der Raumkonstitution eine zentrale Rolle spielen: Räume entstehen – so das entscheidende Argument – nur dadurch, »daß sie aktiv durch Menschen verknüpft werden«.86 Gleichzeitig macht Martina Löw auf einen Punkt aufmerksam, der für die Architektursoziologie wichtig ist: Sie zeigt nämlich auf, dass die unbewegten »Körper«, die im Zusammenspiel mit den sozialen Akteuren einen Raum konstituieren, als Produkte materiellen und symbolischen Handelns soziale Güter sind, in denen sich materielle und symbolische Dimensionen verschränken.87 Kurzum: Die Konstitution von Raum wird hier als ein Prozess beschrieben, der sich aus der relationalen Verknüpfung von Menschen und sozialen Gütern an Orten ergibt. Bei deren räumlichem Arrangement werden fortwährend symbolische Bedeutungen produziert und in Umlauf gebracht – gerade im Hinblick auf Kirchenräume eine überaus einleuchtende Konzeption der Konstitution von Raum, die gegenüber emergenztheoretischen Ansätzen, die den Aspekt des Symbolischen leicht vernachlässigen, überzeugt. Folgen wir dieser Grundannahme, so ergibt sich, dass eine Kirchenraumanalyse sowohl die Mauern, Pfeiler, Trennelemente, Kapellen, Altäre und liturgische Gebrauchsgegenstände einer Kirche als bedeutungsvolle soziale Güter zu verstehen hat, als auch in ihrer Herleitung der Raumkonstitution vom konkreten Handeln im Kirchenraum ausgehen muss, durch das Menschen und soziale Güter erst zu Räumen verknüpft werden, die den – um mit Castoriadis zu sprechen – »ungeheure[n] Plunder des Realen, Rationalen und Symbolischen« 88 zusammenhalten. Diese Argumentation räumt der Materialität und dem materiellen Handeln also von vornherein eine zentrale Rolle bei der Konstitution und Reproduktion symbolischer Ordnungen ein. Um die materiell-symbolische Konstitution von Raum in der Wechselwirkung von Handeln und Strukturen genauer zu fassen, unterscheidet Martina Löw in ihrem Vorschlag zur Raumtheorie zwei aufeinander bezogene Prozesse: das Spacing und die Syntheseleistung. Die Kategorie des Spacing bezieht sich auf Praktiken wie das »Errichten, Bauen und Positionieren« und damit auf das »Plazieren von sozialen Gütern und Men-

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Löw, Raumsoziologie, S. 131. Löw, Raumsoziologie, S. 158. Löw, Raumsoziologie, S. 153. Zit. nach Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 116.

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schen bzw. das Positionieren primär symbolischer Markierungen«,89 wie es von Planern, Architekten und Innenarchitekten vorgenommen, aber auch durch liturgische Modellabläufe festgelegt wird. Praktiken des Spacing sind in diesem Konzept weit gefasst, so dass auch »das Vernetzen von Computern zu Räumen« dazugehört; 90 übertragen auf das Thema Kirchenraum wäre hier etwa an die Herstellung von sakralen Raumnetzen in der Stadt oder entlang von Wallfahrtswegen zu denken, die durch Platzierungen und Positionierungen von Kirchen, Kapellen und Wegzeichen entstehen, aber auch durch Blick- und Prozessionsachsen, wie wir sie in der römischen Stadtplanung der Renaissance und des Barock finden. Nach Löw bedarf es zur Konstitution von Räumen aber auch einer Syntheseleistung, die darin besteht, dass über »Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse« Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst werden.91 Dieses Modell erinnert an Lefebvres Begriffe des espace perçu, espace conçu und espace vécu, des wahrgenommenen, konzipierten und gelebten Raums als der drei zentralen Aspekte der Produktion von Räumen.92 Spacing und Syntheseleistung machen in diesem Sinne plausibel, dass Räume außerhalb von raumkonstituierenden Praktiken nicht zu denken sind. So ist es der »repetitive Alltag«, der über sich wiederholende Praktiken und Praxismuster sicherstellt, dass Räume stabil bleiben und das Soziale mit strukturieren können.93 Nun gehören zur Konstitution von Räumen nicht nur die Momente von Platzierung, Positionierung und synthetisierender Wahrnehmung, sondern das gesamte Spiel und Zusammenspiel materieller und symbolischer Faktoren, welche die Dynamik des Sich-Bewegens und Handelns in Räumen ausmacht. Um die in architektonischen Räumen stattfindende soziale Raumkonstitution konzise zu beschreiben, bedient sich Heike Delitz unter anderem des von Gilles Deleuze und Félix Guattari vorgeschlagenen Begriffs des Gefüges (agencement). In den »Tausend Plateaus« wird das Gefüge als »Komplex von Besonderheiten und Merkmalen, die der Strömung – selektiert, organisiert und stratifiziert – entnommen werden«, bestimmt.94 Delitz hebt hervor, dass dieses Konzept – mehr als es die klassische Artefaktsoziologie tut – auch »die Affektivität und die Expressivität der Artefakte« einrechnet. »Es geht darum, eigengesetzliche, emergente Handlungsgefüge zu beobachten, die Aktivität der Gefüge zwischen menschlichen und nicht menschlichen, artifiziellen und organischen Elemen-

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Löw, Raumsoziologie, S. 158. Löw, Raumsoziologie, S. 158. Löw, Raumsoziologie, S. 159. Vgl. dazu Henri Lefebvre, La production de l’espace, 4. Auflage Paris 2001. Löw, Raumsoziologie, S. 161 – 166. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, Berlin 1992, S. 562.

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ten, Vorstellungen und Affekten, Subjektbildern und kategorischen Imperativen«.95 Damit scheint ein Konzept gefunden zu sein, über das die Komplexität von Raumsituationen beschreibbar wird und das die emergenztheoretisch verstandenen »Assoziationen« ebenso erfasst wie die »sich kreuzenden Aussagengefüge aus sozialen, ökonomischen, religiösen, politischen Strömen«.96 Der Gefügebegriff im Sinne von »Einrichtung, Anordnung, Aufstellung, Arrangement« erlaubt es so, »die spezifischen Möglichkeiten und Spielräume, Handlungs- und Bewegungsdispositionen, die Gebäude je nahelegen, zu berücksichtigen«,97 und ist prinzipiell anschlussfähig an die raumsoziologischen Überlegungen Martina Löws zur relationalen Anordnung von Körpern und sozialen Gütern an Orten und der Verschränkung materieller und symbolischer Dimensionen. Freilich erscheint er in seiner offenen Formulierung auch als ein Passepartout, das irgendwie die »Gemengelage verschiedenster gedanklicher und stofflicher Faktoren« thematisiert,98 dabei aber – notwendigerweise? – unscharf bleibt. Inwieweit dieses – bei Deleuze und Guattari selbst nur sehr dunkel anklingende – Konzept heuristisch nützlich ist, kann sich nur in der konkreten Analyse erweisen. Immerhin deutet Heike Delitz an einer Stelle die Relevanz des GefügeKonzepts für die Analyse religiöser Räume an, wobei sie einen Punkt berührt, der im Spektrum der poststrukturalistischen Kulturtheorien von zentraler Bedeutung ist: nämlich die Subjektkonstitution. »Ein Gefüge ergibt sich auch«, so Delitz, »in der Betrachtung der christlichen Religiosität, die offenbar ebenso wenig ohne die spezifische Idee des Glaubens wie ohne die sakrale Architektur funktioniert, mit ihren Dimensionen, ihrer Dunkelheit, den hohen, farbigen Fenstern, dem Kerzenlicht, Gerüchen und Geräuschen. Es ist ein Gefüge, das andere Bewegungen und Affektionen erzeugt als es im Alltagsgefüge geschieht, zu einem anderen Subjekt-Werden führt«.99 Und weiter, an anderer Stelle: Die imaginäre Institution der Gesellschaft konzentriert sich dabei um jeweils bestimmte Ideen: letztlich um ein »zentrales gesellschaftliches Imaginäres«: eine Bedeutung, die alle anderen wie ein schwarzes Loch krümmt und bestimmt, welche »Subjekte«, welche Weltanschauung, welches Sozialverhältnis eine Gesellschaft hat. Das zentrale Imaginäre kann zum Beispiel »Gott« sein: eine Bedeutung, die alles durchdringt, den Raum, die Zeit, das Soziale. Die Kathedralen mit ihren Lichtverhältnissen, ihren Dimensionen, dem Kontrast zu Architektur und

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Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 127. Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 127. Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 127 – 129. Stefan Höhne, Tokens, Suckers und der Great New York Token War, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1/2011. Schwerpunkt Offene Objekte, herausgegeben von Lorenz Engell und Bernhard Siegert, S. 143 – 157, hier S. 146. 99 Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 131.

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geographischem Milieu sind dann alles andere als bloße »Kopien« einer bereits vorhandenen Gesellschaftsstruktur. Sie erzeugen vielmehr deren Subjekte mit: eine Tatsache, die konkret historisch zu verfolgen wäre.100

Hier wird nochmals die These entfaltet, dass architektonische und insbesondere sakrale Räume nicht nur »Spiegelbilder« gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern elementar an der Konstitution des Sozialen – und damit der Subjektkonstitution – beteiligt sind. Dieser Prozess strukturiert das gesamte »Sozialverhältnis«: »Welche architektonische Form die Gesellschaft hat, hat einen Effekt auf die werdenden Subjekte; auf deren Selbsteinteilung und Zuordnung zu Milieus und Schichten, auf deren Zeitlichkeit, auf die Verortung in der Generationenfolge, im Verhältnis von Herkunft und Zukunft«.101 Die poststrukturalistische Denkfigur des Subjekt-Werdens bzw. der Subjektivation führt dann weiter zu einem Begriff, der von Jaques Lacan ausgearbeitet wurde und der hier bereits mehrfach gebraucht wurde: der symbolischen Ordnung. Lacans Konzept der symbolischen Ordnung bezieht sich – nach der instruktiven Darstellung von Brigitte Hipfl – »auf die strukturierende Dimension der Sprache und der sozialen Beziehungen und umfasst die Aspekte der Erfahrung, die durch die je historisch spezifischen Bedingungen in den Werten, Regeln und Normen zum Tragen kommen«.102 Das Subjekt konstituiert sich in Auseinandersetzung mit der symbolischen Ordnung und gewinnt daraus seine Identität, allerdings kann es nur als »gespaltenes Subjekt« existieren, denn mit der Sprache geht eine unüberwindbare Kluft zwischen unserem Sein und der Repräsentation dieses Seins in Worten und durch Worte einher. [. . . ] Die sprachlich-symbolische Identität, die sich mit der Positionierung in der Symbolischen Ordnung entwickelt, ist immer mit einem Verlust verbunden.103

Das Register des »Imaginären« dient weiter dazu, Prozesse der Identitätsbildung zu beschreiben, die auf einer grundlegenden Verkennung beruhen – es ist der »Ort der Illusionen«,104 der auf der Suche nach Bildern entsteht, »die Einheit, Stärke und Kohärenz repräsentieren und die über Identifikationsprozesse dazu beitragen, dass auch wir uns in stärkerem Maße einheitlich und kohärent fühlen«.105 Schließlich führt Lacan noch ein drittes Register an: das Register des »Realen«. Es »entspricht der existenziellen Erfahrung unseres Seins und

100 Heike Delitz, Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 94. 101 Delitz, Architektursoziologie, S. 92. 102 Brigitte Hipfl, Jaques Lacan: Subjekt, Sprache, Bilder, Begehren und Fantasien, in: Andreas Hepp / Friedrich Krotz / Tanja Thomas (Hg.), Schlüsselwerke der Cultural Studies, Wiesbaden 2009, S. 83 – 93, hier S. 86. 103 Hipfl, Jaques Lacan, S. 86. 104 Zit. nach Hipfl, Jaques Lacan, S. 88. 105 Hipfl, Jaques Lacan, S. 90.

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Werdens, die bestimmt ist von sinnlichen Erlebnissen und Stimmungen« und bleibt »als die für uns je spezifische Form des Genießens unser Leben lang die dritte Dimension unserer Identität«.106 Wenn der von Heike Delitz formulierte architektursoziologische Befund richtig ist, dass Architektur die Formen des »Subjekt-Werdens« beeinflusst, dann lassen sich mit den Begriffen Lacans die subjektivierenden Effekte etwa von Kirchenräumen in ihrer psychischen Dynamik in den Blick nehmen. Kulturell codierte räumliche Gefüge wie Kirchenräume funktionieren dabei zunächst im Sinne einer symbolischen Ordnung: »Es geht um mediale Repräsentationen, um Diskurse, die angeboten, gestützt oder infrage gestellt werden, um Subjektpositionen, die bereitgestellt und in unterschiedlicher Weise aufgegriffen werden bzw. um verschiedene Wissensformen«.107 Abseits dieser Ebene aber spricht der Kirchenraum auch die Ebene des Imaginären sowie die des Begehrens und Genießens an, das bei Deleuze und Guattari als das Moment der Expressivität und Affektivität gebauter Räume ins Spiel kommt. Der Anspruch von Religion, den ganzen Menschen zu adressieren, artikuliert sich in der Art und Weise, wie über das Spiel von symbolischer Ordnung, Imaginärem und Realem das religiöse Subjekt hervorgebracht wird – als Teil eines Kollektivs, das Werte und Normen teilt, ebenso wie als Individuum, das eine bestimmte Form von imaginärem Selbstverhältnis praktiziert und dessen in der symbolischen Ordnung nicht aufgehende Reste des Realen mehr oder weniger frei flottieren. Wie der Kirchenraum diese drei Momente miteinander verbindet – das herauszuarbeiten, wäre eine lohnende Aufgabe für eine psychoanalytisch orientierte Architektur- und Religionssoziologie. An dieser Stelle soll Lacans Terminologie lediglich dazu dienen, den Kirchenraum als spezifische Artikulation einer symbolischen Ordnung kenntlich zu machen. Wie diese Ordnung im Konkreten aussieht, welche sozialen und politischen Ordnungsvorstellungen mit ihr verknüpft sind, soll nun – im Sinne von Martina Löws Frage nach dem »Spacing« – anhand der Hierarchien und Platzierungen weiterverfolgt werden, die Kirchenräume produzieren. Die theoretischen Überlegungen zur Affektivität und Materialität von sakraler Architektur werden schließlich im fünften und sechsten Kapitel dieser Arbeit aufgegriffen und weitergeführt.

106 Hipfl, Jaques Lacan, S. 90. 107 Hipfl. Jaques Lacan, S. 92.

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Hierarchien und Platzierungen: Machtverhältnisse und symbolische Ordnungen In ihrer Studie zu Hildesheimer Kirchenräumen in der Frühen Neuzeit ist Renate Dürr vor allem der »Frage nach der Autorität im Kirchenraum« nachgegangen und hat aufgezeigt, inwiefern sich »mit den verschiedenen Räumen innerhalb des Kirchenraums unterschiedlich definierte Autoritätskonzeptionen verbanden, welche kirchliche wie gesellschaftliche Macht implizierten«.108 Das Thema ermöglicht Dürr zufolge »einen Blick auf die gesamte frühneuzeitliche Gesellschaft und ihre Autoritätskriterien, weil Religion und Kirche keine Teilbereiche der alteuropäischen Gesellschaft waren, sondern ein alle Schichten und Stände verbindendes Bezugssystem darstellten«.109 Im Folgenden möchte ich dieser These nachgehen und ein Konzept von räumlicher Ordnung als symbolischer Ordnung entwickeln, das als »Theorie mittlerer Reichweite« für die kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse dienen kann.110 Mein Ausgangspunkt ist – analog zu Renate Dürrs Diagnose – zunächst die Entwicklungsgeschichte des katholischen Kirchenraums bis in die Frühe Neuzeit hinein. Die räumliche Ordnung und Anordnung von Kirchenräumen hat sich im Verlauf von 2000 Jahren Christentumsgeschichte so tiefgreifend verändert, dass ein genereller Überblick auf wenigen Seiten nicht zu vermitteln ist. An dieser Stelle sollen nur einige historische Aspekte der Raumgliederung und Kirchenausstattung hervorgehoben werden, die besonders signifikant für die Gesamtentwicklung im Hinblick auf die symbolische Ordnung von Kirchenräumen sind.111 Zu nennen ist hier zunächst einmal die grundlegende Strukturierung des Raums in verschiedene Teilräume. Beim klassischen Kreuzgrundriss etwa handelt es sich vor allem um die Räume von Langhaus, Querhaus und Chor sowie den dazwischen gelagerten Bereich der Vierung als Schnittfeld beider Achsen. Das Langhaus ist in vielen Fällen seinerseits unterteilt in Mittelschiff und Seitenschiffe, die nochmals erweitert und differenziert sein können durch seitlich angeordnete Kapellen. Auch der Chorraum kann in sich differenziert sein, beispielsweise durch einen Umgangschor mit oder ohne Kapellenkranz. Der Kirche vorgelagerte Räume wie der Narthex oder 108 109 110 111

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Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit, S. 23. Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit, S. 23. Vgl. schon Wietschorke, Architektur und symbolische Ordnung. Umfassende Überblicksdarstellungen hierzu liefern v. a. Kieckhefer, Theology in Stone; Beyer, Geheiligte Räume; Kilde, Sacred Power, Sacred Space; Yates, Liturgical Space; Kopp, Der liturgische Raum. Einige analoge Überlegungen zu Tempelräumen der Freimaurer habe ich angestellt in: Jens Wietschorke, Raum und Ritual. Symbolische Ordnungen in der Freimaurerarchitektur, in: Christian Rapp / Nadia Rapp-Wimberger (Hg.), 300 Jahre Freimaurer. Das wahre Geheimnis. Ausstellungskatalog Österreichische Nationalbibiothek, Wien 2017, S. 60 – 69.

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spezielle Funktionsräume wie Sakristei, Krypta oder – bei Klosteranlagen – angeschlossene Wohn- und Gemeinschaftsräume sind bei der Bestimmung des Raumgefüges und der räumlichen Organisation einer Kirche ebenfalls mit zu reflektieren. An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, einen architekturund liturgiegeschichtlichen Überblick über Raumformen des Kirchenbaus europäischer Tradition mit all ihren Varianten zu geben; hierüber informieren die einschlägigen kunstwissenschaftlichen Handbücher in zuverlässiger Weise. Wichtig sind im vorliegenden Zusammenhang vor allem drei Fragen, denen im vorliegenden Abschnitt nachgegangen wird: 1. Welche symbolische Ordnung des Raums prägt die liturgische Konzeption katholischer Sakralräume grundlegend? 2. Welche Handlungsräume unterschiedlicher Akteure werden dabei abgesteckt? 3. Welche sozialen Grenzziehungen und Hierarchien werden durch die Raumaufteilung des sakralen Raums mit hergestellt, bestätigt oder stabilisiert? Zunächst ist festzuhalten, dass sich die räumlichen Hierarchien des Kirchenraums im Wesentlichen aus der hierarchischen Struktur der Liturgie ergeben. Basilius Groen hat die katholische Liturgie ganz allgemein als Technik der »Legitimierung bestehender Hierarchien« charakterisiert: »Die christliche Liturgie diente Jahrhunderte lang und auch heute als Bestätigung der Ordnung dieser Welt. Sie bestätigt und legitimiert häufig die existierenden gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kirchlichen Machtverhältnisse. So werden diese Verhältnisse sogar noch verstärkt«.112 Groen konstatiert daher eine grundsätzliche »ungebührliche Nahbeziehung zwischen Hierarchie und Liturgie«,113 die sich an der Struktur von Kirchenräumen und deren historischer Entwicklung ablesen lässt. Aus liturgischer und liturgiegeschichtlicher Sicht kann die Spezifik und der Wandel katholischer Kirchenräume zunächst anhand einer dreifachen Funktionsbestimmung des Raums beschrieben werden: als Ausgangspunkte der Analyse sind demnach der Ort der Wortverkündigung, der Ort der eucharistischen Feier und der Ort der Taufe zu verstehen.114 Wie diese drei Kerne zueinander angeordnet sind, ist nicht nur für die Frage nach der Herstellung von religiöser Autorität im Kirchenraum wichtig, sondern bestimmt auch die konkrete Choreographie des Gottesdienstes. Vor allem gilt das für die zentralen liturgischen Handlungselemente Wortverkündigung und Eucharistie. Denn eine der Grundproblemstellungen des Gottesdienstes besteht eben darin, »die örtlich voneinander entfernten Punkte der Wortverkündigung und der eucharistischen Feier entweder durch Bewegung der Gemeinde im Raum innerhalb des Gottesdienstes oder durch eine räumliche Annäherung

112 Groen, Die magische Kraft der Rituale, S. 113. 113 Groen, Die magische Kraft der Rituale, S. 115. 114 Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum, S. 392.

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der beiden Pole miteinander zu verbinden«.115 Die Positionierung von Kanzel und Altar ist damit ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der symbolischen Ordnung des Gottesdienstraums, weil sie Funktionen definiert, »Redeordnungen« 116 nahelegt und die »Zirkulation der Gnadenmittel« 117 im Raum mit koordiniert. Dabei eröffnen sich zwischen Kanzel, Altar und Gemeinderaum hierarchisierte Räume, die insbesondere im vergleichenden Blick auf konfessionelle Differenzen zwischen katholischen und evangelischen Kirchenraumarrangements aufschlussreich sind. Zur räumlichen Trennung zwischen Klerus und Laien dienten seit vorkonstantinischer Zeit Chorschranken, seit dem Mittelalter Lettner, die beide in sehr unterschiedlichen Formen anzutreffen waren. Chor- oder Altarschranken grenzten den Chor- bzw. Altarraum vom Kirchenschiff ab, konnten aber auch einen abgezirkelten, den Klerikern vorbehaltenen Raum im Schiff selbst gegen den umgebenden Raum absetzen.118 In dieser Funktion haben sie ihre Vorbilder im politischen Bereich, nämlich in den Schranken, »die im profanen Leben die Ratsherren vom Volke, die Beamten von den Bittstellern, die Bühne von den Zuschauern und den Kaiser von der Menge schieden«.119 Damit bilden sie ein Machtverhältnis ab und tragen mit dazu bei, dass um den Altar herum ein exklusiver, als auratisch begriffener Raum entsteht. Ausgehend von den frühchristlichen Formen des Bema und des Ambo als den architektonisch herausgehobenen Orten der Wortverkündigung,120 entwickelte sich im Mittelalter darüber hinaus der Lettner, der »in Domen, Stifts- oder Klosterkirchen den Chor als Bereich der Chorherren, der Stifts- oder Mönchskonvente vom Schiff als dem Raum der Laien« abgrenzte.121 Die Lettner hatten repräsentative Funktion und waren vielfach mit einem reichen ikonographischen Programm ausgestattet; zudem waren sie – schon der Bezeichnung von lectorium = Vorlesungsort nach – ein Ort der Wortverkündigung, von dem aus das Evangelium und die Epistel verlesen wurden.122 Tobias Schrörs, der eine Fallstudie zum

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Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum, S. 393. Schlögl, Anwesende und Abwesende, S. 45. Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt, S. 16. Vgl. Arbeitskreis für Inventarisation und Pflege des kirchlichen Kunstgutes (Hg.), Lexikon für kirchliches Kunstgut, Regensburg 2010, S. 53. Tobias Schrörs, Der Lettner im Dom zu Münster: Geschichte und liturgische Funktion (Forschungen zur Volkskunde 50), Norderstedt 2005, S. 15. Zu dieser Herleitung vgl. Schrörs, Der Lettner, S. 4 – 14. Lexikon für kirchliches Kunstgut, S. 144. Für eine kunsthistorische Überblicksdarstellung vgl. Monika Schmelzer, Der mittelalterliche Lettner im deutschsprachigen Raum. Typologie und Funktion (Studien zur internationalen Kunst- und Architekturgeschichte 33), Petersberg 2004. Die liturgischen Funktionen des Lettners diskutiert in komprimierter Darstellung Kopp, Der liturgische Raum, S. 85 – 87. Lexikon für kirchliches Kunstgut, S. 144 – 145.

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Lettner des Münsteraner Domes vorgelegt hat, benennt die liturgischen Funktionen dieses komplexen architektonischen Trennelements und resümiert, dass der Lettner, wie auch die Altarschranken früherer Zeiten, verdeutlichen [sollte], daß der Priester nicht Beauftragter der Gemeinde ist und von ihr Auftrag und Vollmacht empfängt, sondern unabhängig von ihr durch die Weihe allein als Mittler zwischen Gott und den Gläubigen bestellt und mit den entsprechenden sakramentalen Gewalten ausgestattet wurde. [. . . ] Das Verbot für Laien, den Chorraum zu betreten, und die Aufrichtung der Schranken waren somit eine sinnfällige Verkörperung der von Christus geschaffenen hierarchischen Ordnung, der für Christi Kirche demnach wesentlichen Scheidung ihrer Glieder in Priester und Laien und der alles Geistliche umfassenden Überordnung der ersteren über die letzteren.123

Der Lettner war als »Verknüpfungsstelle zwischen Presbyterium und Laienkirche« 124 ein Ort medialer Vermittlung über Musik, das gesungene und gesprochene Wort sowie bildliche Darstellungen, er sorgte aber auch für eine Distanzierung des Kirchenvolks vom heiligen Geschehen am Hochaltar. Auch wenn an den mittelalterlichen Lettnerarchitekturen nicht selten kleinere Altäre postiert waren, teilten sie doch den Kirchenraum in einen Laienraum sowie einen im engeren Sinne »heiligen Raum«. Gleichzeitig reichte die Funktion des mittelalterlichen Lettners über die Liturgie hinaus, indem er zuweilen auch als Ort der Rechtsprechung und öffentlicher Bekanntmachungen genutzt wurde.125 In diesem Sinne können wir den Lettner als Einrichtungselement verstehen, über das mehr oder weniger flexible Grenzen zwischen dem Heiligen und dem Profanen ausgehandelt wurden. Bei der historischen Reflexion der gesellschaftlichen Dimension von Kirchenräumen ist besonders der tiefgreifende Wandel hervorzuheben, den die Frömmigkeitspraktiken im Inneren der Kirche seit den ersten Basiliken und dann vor allem seit dem ausgehenden Mittelalter durchlaufen haben. Einen epochalen Bruch stellte hier die Reformation dar, die nicht nur für die reformierten Gemeinden und Territorien eine »kulturelle Umordnung von gewaltiger Größe« war,126 sondern auch erhebliche Rückwirkungen auf die Raumpraktiken in den katholischen Kirchen hatte. Die Ausgangssituation im ausgehenden Mittelalter ist von seiten der geschichtswissenschaftlichen und liturgiegeschichtlichen Forschung verschiedentlich rekonstruiert worden. Zusammen-

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Schrörs, Der Lettner, S. 69. Schmelzer, Der mittelalterliche Lettner, S. 164. Vgl. Schrörs, Der Lettner, S. 72 – 75. Bernhard Jussen / Craig Koslofsky, »Kulturelle Reformation« und der Blick auf die Sinnformationen: Einleitung, in: Dies. (Hg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400 – 1600, Göttingen 1999, S. 13 – 27, hier S. 18.

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Abb. 16: Lettner in St. Pantaleon, Köln.

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fassend schildert Klaus Raschzok die Nutzungsstruktur des mittelalterlichen Kirchenraums sehr plastisch: In der mittelalterlichen Pfarrkirche verteilt sich der Altardienst auf den Hochaltar im weitgehend nur den Klerikern vorbehaltenen Chor, auf den Kreuz- bzw. Volksaltar vor den Chorschranken bzw. vor dem Lettner für das Kirchenvolk und auf die zahlreicher werdenden Nebenaltäre in Seitenschiffen, Kapellenräumen oder auf Emporen. Die Gemeinde orientiert sich jeweils stehend diesen Orten zu. Der Ort der eucharistischen Feier differenziert sich in verschiedene Teilorte, während der Ort der Wortverkündigung konstant bleibt. Der steigende Bedarf an Nebenaltären entstammt der sich ausweitenden Reliquienverehrung wie den sich häufenden Privatmessen im Zusammenhang des Totengedenkens. Ort der Wortverkündigung ist nun die zunächst hölzerne, später meist steinerne Kanzel entweder an der Südwand des Schiffes oder an einem Pfeiler des Mittelschiffs. Die Gemeinde wechselt bei der Predigt ihren Standort und umsteht die Kanzel oder sitzt auf mitgebrachten beweglichen Klappsitzen oder Hockern. Der mittelalterliche Kirchenraum stellt damit keinen einheitlichen Handlungsraum mehr dar, er tendiert zu eigenständigen gottesdienstlichen Subräumen im Kirchenraum für die einzelnen soziologischen Gruppierungen wie den Klerus, die verschiedenen Laienbruderschaften, Zunft- und Ordensgemeinschaften.127

Vereinzelte frühe Darstellungen der religiösen Nutzung von Kirchenräumen vermitteln denn auch den Eindruck eines »casual gathering of people« 128 – eines scheinbar wenig geordneten, komplexen sozialen Geschehens. Allerdings darf die polyzentrische Struktur des spätmittelalterlichen und teilweise auch noch des frühneuzeitlichen Kirchenraums wohl nicht zu der Annahme verleiten, dass sich die Gläubigen während der Gottesdienste ständig hin- und herbewegt haben. Zwar führte die Gottesdienstteilnahme im Stehen zu einer grundsätzlichen Beweglichkeit im Raum,129 diese folgte aber durchaus klaren Ordnungsmustern. Nur zu Ostern und anderen hohen Festen, zu denen die Kirchen stark frequentiert waren, hat man sich »im Kircheninneren spontan und informell bewegt«, ansonsten hatten die meisten Kirchenbesucher ihre »gewohnheitsmäßigen Stehplätze«, die in der Regel nur dann aufgegeben wurden, wenn man sich im Moment der Transsubstantiation nach vorne drängte, um das

127 Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum, S. 393. 128 Kilde, Sacred Power, Sacred Space, S. 118. Kilde verweist hier auf eine Abbildung aus dem frühen 17. Jahrhundert mit dem Titel »True Image of an Apostolic Church«, auf der Kirchenbesucherinnen und Kirchenbesucher zu sehen sind, die in losen Gruppierungen einmal stehen, einmal knien, und die unterschiedlichen Altären mit eigenen dort stattfindenden Messfeiern zugewandt sind. Vgl. die Abbildung ebd., S. 119. 129 Vgl. Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum, S. 393.

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heilige Geschehen aus nächster Nähe mitzuverfolgen.130 Vor dem Hintergrund dieser mittelalterlichen Situation in den Kirchen stellte die Einrichtung eines festen Kirchengestühls einen überaus wichtigen Schritt dar. Diese Entwicklung hat ihren Ausgangspunkt in der Reformation mit ihrem gänzlich neuen Verständnis von liturgischer Praxis im Raum. Die Kirche wird nun dezidiert zum Versammlungsort der Gemeinde und zum Auditorium, in dem das Wort Gottes – und damit des Predigers – gehört wird.131 Die Einrichtung von Kirchenbänken sorgte hier für die nötige Ruhe im Kirchenraum; zudem betonte man damit »die Würde presbyterialer Funktionen aller Getauften«.132 Parallel dazu wird das feste Kirchengestühl auch in der gegenreformatorischen Kirche üblich: »Das Sitzen der Gemeinde im Gottesdienstraum auf festen Plätzen wird erst im ausgehenden 16. Jh. allgemeiner Brauch und in der Folge auch durch die Gegenreformation für den katholischen Kirchenraum übernommen«.133 Susan Karant-Nunn hat darauf hingewiesen, dass mit der Einrichtung fester, von Sitzplätzen umgebener Predigtstühle in den reformierten Gemeinden vor allem eine Fixierung der Aufmerksamkeitsrichtung verbunden war. In der Folge des reformatorischen Grundsatzes des sola scriptura wurde das Wort nicht zuletzt dadurch in den Fokus gerückt, dass die Gläubigen in eine bestimmte Sitzordnung gebracht wurden: »Niemand konnte das Wort ignorieren. Der festgehaltene und ausgerichtete menschliche Körper war gezwungen, die Aufmerksamkeit auf den im Zentrum befindlichen Menschen zu richten, oder korrekter: auf die Heilige Schrift, die der Prediger erklärte«.134 In den neuen wie in den altgläubigen Gemeinden sorgte die Installation eines Kirchengestühls somit für eine stärkere Akzentuierung und Autorisierung des Priesters oder Predigers. Nicht nur die reformatorische Theologie der Wortverkündigung, sondern auch die zunehmend fixierte Position der Gemeinde im Raum stellte das gesprochene Wort in den Mittelpunkt gottesdienstlichen Handelns.135 Zugleich

130 Susan C. Karant-Nunn, »Gedanken, Herz und Sinn«. Die Unterdrückung der religiösen Emotionen, in: Bernhard Jussen / Craig Koslofsky (Hg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400 – 1600, Göttingen 1999, S. 69 – 95, hier S. 79. 131 Anhand von Fallstudien aus Augsburg. Regensburg, Freudenstadt, Mannheim, Weilburg und Torgau wird die räumliche Ordnung in protestantischen Kirchen umfassend behandelt in: Reinhold Wex, Ordnung und Unfriede. Raumprobleme des protestantischen Kirchenbaus im 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland, Marburg 1984. 132 Rainer Volp, Kirchenbau und Kirchenraum, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber / Karl-Heinrich Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, 2. Auflage Göttingen 1995, S. 490 – 509, hier S. 494. 133 Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum, S. 393. 134 Karant-Nunn, »Gedanken, Herz und Sinn«, S. 79. 135 Vgl. dazu auch den Artikel »Sitzen« im »Pastoralliturgischen Handlexikon«, der das

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sorgte das Sitzen im Kirchengestühl für eine räumliche Stabilisierung sozialer Hierarchien, die nun auch über das fest eingerichtete Mobiliar sichtbar und greifbar wurden: »Die Gemeindemitglieder saßen in Reihen nach Rang und Geschlecht in einer hierarchisch geordneten Gesellschaft und sollten sich mit ihrem Verstand auf das göttliche Wort konzentrieren«. Aus der Bewegung im Raum wurde schrittweise eine Idee von »innerer Bewegung«, mit der die Gläubigen der Liturgie folgen sollten. »Viele körperliche Bewegungen, die mit der traditionellen Messe verbunden waren, waren jetzt verboten: Kniebeugung, das Kreuzzeichen, bei Männern das Abnehmen des Hutes beim Erscheinen der Hostie. Das Knien als Zeichen beruhigter Demut blieb. Die Teilnehmer am Gottesdienst sollten still und unbewegt sein. Sie hörten zu und reflektierten« – eine Haltung, die eng mit dem neuen Stellenwert der »Andacht« im reformatorischen Frömmigkeitsverständnis verknüpft war.136 Die Einrichtung fester Kirchengestühle kann in ihrer Bedeutung für die politische Kulturgeschichte des Kirchenraums kaum überschätzt werden. Das unbewegliche Gestühl trug wesentlich zur Formierung und symbolischen Verfestigung der modernen Idee von »Gemeinde« bei – zur Entstehung eines emotional lenkbaren, in seiner Aufmerksamkeit nach vorne ausgerichteten Kollektivs, das durch das zentralisierte Geschehen der Wortverkündigung und Eucharistie unterwiesen und zur Andacht angeleitet wurde. »In fact, the inclusion of benches, not only in protestant but in Catholic churches during the period, transformed groups of worshippers into ›congregations‹«.137 Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Installation fester Sitzgelegenheiten im Kirchenraum zeitlich nicht nur mit der Konfessionalisierung Europas, sondern auch mit dem Prozess der frühneuzeitlichen Staatsbildung zusammenfällt, dass also die Überwindung des polyzentrischen, flexiblen mittelalterlichen Kirchenraums durch das gemeinsame, gerichtete Sitzen implizit etwas zu tun hat mit der Ausbildung und Profilierung konfessionell-politischer Kollektive. Darüber hinaus aber ergab sich aus dem festen Gestühl auch ein neues Feld hierarchischer Platzierungspraktiken im Inneren der Gemeinden; hier begann sich weiter auszudifferenzieren, was Martin Scharfe einmal die »sakrale Feingeographie des Kirchenraums« genannt hat.138

Sitzen unter Bezugnahme auf eine Textstelle des Lukasevangeliums als »Haltung des aufnehmenden und betrachtenden Hörens« bestimmt. Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 389. Demzufolge würde sich in der Einrichtung fester Sitzbänke im Kirchenraum in der Tat eine Verschiebung von einer »anbetenden« zu einer »hörenden« Haltung niederschlagen. 136 Karant-Nunn, »Gedanken, Herz und Sinn«, S. 79 – 80. 137 Kilde, Sacred Power, Sacred Space, S. 118. 138 Scharfe, Über Religion, S. 99.

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In der sozialhistorischen wie der volkskundlichen Forschung ist die Sitzordnung der Gemeinde mit ihren sozialen und politischen Implikationen vereinzelt thematisiert worden. Margaret Aston hat bereits für das Spätmittelalter nachgezeichnet, wie die Nordseite des Kirchenraums als »Frauenseite« markiert wurde, in der auch vorzugsweise die Marienaltäre und Marienstatuen postiert waren.139 In dieser Trennung der Geschlechter im Kirchenraum und der »Festlegung der linken Seite, der nördlichen als Frauenseite, der rechten, der südlichen als Männerseite« manifestiert sich – so Edith Saurer in ihrem knappen Überblick zur Geschlechtergeschichte religiöser Mentalitäten – eine »Symbolsprache, die auf dem Vokabular des Reinen und des Unreinen aufbaut« und die »Ordnung und die Übertretung der Ordnung, Hierarchien und Sünde« versinnbildlichen.140 Jan Peters und Claudia Ulbrich haben des weiteren in kleinen Studien herausgearbeitet, wie in der Frühen Neuzeit über die Sitzordnung in der Kirche subtile Rangunterschiede öffentlich zur Schau gestellt wurden 141 und wie das »sozial richtige« Sitzen mit Vorstellungen von »richtiger« Frömmigkeit verknüpft war.142 Und Axel Lubinski hat anhand einer mecklenburgischen Dorfkirche gezeigt, wie Symbole geistlicher und weltlicher Herrschaft miteinander konkurrierten, mit welchen räumlichen Mitteln sich die Herrschaft vom »Kirchenvolk« abgrenzte und wie gerade in Sitzordnungen »soziale Hierarchien einer Gesellschaft abgebildet wurden [. . . ]. Besonders deutlich lassen sich solche Hierarchien an der Ausgestaltung, aber auch am Ort der Kirchenstühle, des Chorgestühls ablesen. Aufwendige Ausstattungen, oftmals Verzierungen durch Schnitzereien, ein besonderer Platz in unmittelbarer Nähe der Kanzel oder auch im Altarraum, mitunter auch über dem übrigen Kirchenvolk in Patronatslogen, sind Attribute von Herrschaft bzw. von Plätzen in sozialen Hierarchien, die sich in unterschiedlichen Variationen in zahlreichen Dorfkirchen Mecklen-

139 Vgl. Margaret Aston, Segregation in Church, in: William J. Sheils / Diana Wood (Hg.), Women in the Church. Papers Read at the 1989 Summer Meeting and the 1990 Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society, Oxford 1990, S. 237 – 294. 140 Edith Saurer, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Die Religion der Geschlechter. Historische Aspekte religiöser Mentalitäten, Wien / Köln / Weimar 1995, S. 7 – 14, hier S. 9. 141 Jan Peters, Der Platz in der Kirche. Über soziales Rangdenken im Spätfeudalismus, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 28 (1985), S. 77 – 106; Claudia Ulbrich, Zankapfel »Weiber-Gestühl«, in: Axel Lubinski u. a. (Hg.), Historie und Eigen-Sinn. Festschrift für Jan Peters zum 65. Geburtstag, Weimar 1997, S. 107 – 114. Vgl. dazu auch die älteren Beiträge von P. Iso Müller, Frauen rechts, Männer links. Historische Platzverteilung in der Kirche, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 57 (1961), S. 65 – 81, und Clemens Jöckle, Vom rechten Sitzen in der Kirche. Die Einrichtung der Gemeindegestühle reformierter und lutherischer Kirchen der Pfalz im 18. Jahrhundert, in: Der Turmhahn 26 (1982), Heft 2, S. 2 – 15. 142 Peters, Der Platz in der Kirche, S. 105.

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burgs, aber auch in städtischen Kirchen und natürlich auch jenseits Mecklenburgs oder der Gebiete der Gutsherrschaft überhaupt auffinden lassen«.143 Zu diesen hierarchisierenden Raumelementen gehörten auch »separate Zugänge in das Patronatsgestühl oder in spezielle Patronatslogen des Adels, die es ermöglichten, den direkten Kontakt zwischen adliger Familie und Dorfbevölkerung während des Kirchgangs weitgehend zu vermeiden«.144 Weitere Studien behandeln den in evangelischen Kirchen anzutreffenden Herrschaftsstand, in dem die fürstliche oder grundherrliche Familie den Gottesdienst ebenfalls abgesondert von den einfachen KirchenbesucherInnen verfolgen konnte.145 Ähnliche Platzierungs- und Abgrenzungspraktiken sind an der Anordnung und Nutzung von Emporen und Galerien nach der Reformationszeit festgestellt worden, wobei hochinteressante Parallelen etwa zur Theaterarchitektur sichtbar werden: Galleries became enmeshed in systems of delineation of social rank, with the different levels being reserved for different ranks, a practice that also grew common in the theaters of the period. The main floor of the castle church at Stettin, for instance, was occupied by servants and ordinary townsfolk [. . . ]. The first gallery level seated squires, nobles, magistrates, and other civic leaders; and the second or highest gallery housed royalty.146

Die Frage nach der Korrespondenz sozialer und räumlicher Distanzen, die für eine Kirchenraumanalyse in historischer und gegenwartsorientierter Perspektive essentiell erscheint, ist dabei nicht nur anhand der fundamentalen räumlichen Trennungen zu beantworten, wie sie in Sitzordnungen oder der Absonderung von Herrschaftsständen sichtbar wird, sondern sie muss immer auch aus der Mikroperspektive der konkreten Interaktionen untersucht werden. Wer sich wie platziert, welche Kontakte und Blickbeziehungen im Kirchenraum zu beobachten sind – diese Momente sind nur in ethnographischer Beobachtungsarbeit zu rekonstruieren, und hier können Beispielstudien zu ganz verschiedenen

143 Axel Lubinski, Der Kirchenraum als öffentlicher Raum in einer hierarchisch verfaßten Gesellschaft. Die Penzliner Pfarrkirche St. Marien (Mecklenburg-Schwerin) – Zeugen und Zeugnisse aus dem 18. und 19. Jahrhundert, in: Marion George / Andrea Rudolph (Hg.), Hexen. Historische Faktizität und fiktive Bildlichkeit / Sorcières. Faits historiques, imagerie et fiction, Dettelbach 2004, S. 465 – 491, hier S. 471. 144 Lubinski, Der Kirchenraum als öffentlicher Raum, S. 478. 145 Vgl. z. B. Gotthard Kießling, Der Herrschaftsstand. Aspekte repräsentativer Gestaltung im evangelischen Kirchenbau, München 1995; Ders., Die herrschaftliche Inanspruchnahme evangelischer Kirchen an Residenzorten, in: Die Künste und das Schloß in der Frühen Neuzeit, herausgegeben von Lutz Unbehauen unter Mitarbeit von Andrea Beyer und Ulrich Schütte (Rudolstädter Forschungen zur Residenzkultur Band 1), München / Berlin 1998, S. 83 – 93. 146 Kilde, Sacred Power, Sacred Space, S. 120.

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Raumsitationen wichtige Anregungen geben. So hat Stefan Hirschauer in einem praxistheoretischen Beitrag zu den »materiellen Partizipanden des Tuns« unter anderem den Fahrstuhl als Ort körperlicher Platzierungspraktiken und Blickordnungen untersucht. Hier ist der Körper als »Kommunikationsmedium [. . . ] etwa in seiner Stehordnung relevant, die Regeln der Distanzmaximierung und der Äquidistanz vorsieht. Begründet ist sie in den kommunikativen Effekten, die enge oder ungleiche Abstände haben würden: Schon die bloße Platzierung von Körpern ist kommunikativ, insofern sie Beziehungszeichen absondert«.147 Hirschauers ethnographische Mikroperspektive auf die Körperplatzierungen im Fahrstuhl kann für die Kirchenraumanalyse fruchtbar gemacht werden; hier wäre der Frage nachzugehen, inwiefern sich die religiöse Subjektivierung und die Konstitution der Gemeinde im Kontext ritualisierter Aktionen und Bewegungen im Kirchenraum gerade über die Regulierung von Distanzen vollzieht: Mit welchen Praktiken der Distanzierung von anderen ist die »Verinnerlichung« beim Gebet verbunden? In welchen Situationen – etwa beim heute üblichen Friedensgruß im Gottesdienst – ist die Distanz kurzfristig symbolisch und auch real aufgehoben? Die in christlichen Gemeinden beschworene »Gemeinschaft« – das »Miteinander« als Ziel der Gemeindearbeit – erweist sich von hier aus als ein komplexes Ineinander von Trennungen und Verbindungen, von Grenzziehungen und Kontaktzonen, von individuierenden und kollektivierenden Gesten und Blicken. Vielleicht macht gerade dieses Ineinander von Nähe und Distanz eine spezifische Leistung des Kirchenraums als Medium des Sozialen aus, der bei aller Ritualisierung der Abläufe die Spielräume frei lässt, sich von anderen zu trennen und sich mit ihnen verbunden zu fühlen. Was also lässt sich allgemein über die spezifische »Anordnung von Menschen und sozialen Gütern« in Kirchenräumen sagen? Und inwiefern sind darin stets symbolische Ordnungen präsent, die wir analytisch als vermittelnde Ebene zwischen geordneten Vorstellungen der sozialen Welt und materiellen An-Ordnungen verstehen können? Wenn wir mit Castoriadis und anderen davon ausgehen, dass sich das »fluide« Soziale über Symbolisierungen immer neu herstellt und in Bildern und Figuren stabilisiert, kann plausibel gemacht werden, wie räumlich-materielle Ordnungen, soziale Ordnungen und religiöse Weltbilder miteinander zusammenhängen. Mehr noch: Sie sind aufeinander angewiesen, um Evidenz zu erreichen. Wenn, wie Heike Delitz schreibt, das »zentrale Imaginäre, das für die Analyse einer bestimmten Gesellschaft entscheidend werden wird, das man herausbekommen muss, um eine Gesellschaft auf den Begriff zu bringen«, das Zusammenhaltende ist – also »die Imagination der Koexistenz der Einzelnen in räumlicher und in zeitlicher Hinsicht, und der Koexistenz 147 Stefan Hirschauer, Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns, in: Karl H. Hörning / Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 73 – 91, hier S. 80.

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der Dinge, Tier[e] und Pflanzen, von Himmel und Erde, Vergangenheit und Zukunft«,148 dann sind es Ordnungsvorstellungen, über die sich Architektur als Medium des Sozialen entschlüsseln lässt. Architektur stellt dann die materielle und symbolische Gestalt gesellschaftlicher Ordnungsmodelle dar; in jeder Architektur steckt demnach eine bestimmte Vorstellung des Zusammenhaltenden, die zugleich mehr als nur Vorstellung ist – nämlich eben eine Gestalt oder eine Figur, die soziale Effektivität besitzt. Wie Foucault an der Hospital- und Gefängnisarchitektur gezeigt hat, schlägt sich in den baulichen Arrangements nicht nur eine Vorstellung von Inklusion und Exklusion, von Devianz und Delinquenz, von der hegemonialen Ordnung der Gesellschaft nieder, sondern die Inklusion und Exklusion, die hegemoniale Ordnung wird durch die Architektur und in den Praktiken ihrer Nutzung mit hergestellt. Mehr noch: Es werden – auch das liegt in der Interpretationslinie von Foucault – damit auch die Subjekte mit hergestellt, die zu dieser Ordnung passen. Die Frage nach der Subjektivierung ist bei Foucault – und nicht nur bei ihm – eine Frage der Macht und ihrer produktiven Wirkungen, so dass das Problem der symbolischen Ordnungen von Architektur immer auch als machtanalytisches Problem verstanden werden muss. Gleichzeitig erweist sich dieser Ansatz insofern als eine Theorie »mittlerer Reichweite«, als sich die Macht- und Subjektivierungstechniken, die mit Hierarchien, Platzierungen und Positionierungen im Kirchenraum verbunden sind, nur von den konkreten räumlichen Situationen aus untersuchen lassen.

Zwischen Heilig und Profan: Ordnungen des Kollektivs Die Idee der Gesellschaft ist die Seele der Religion – diese pointierte These Emile Durkheims ist oben angeführt worden, um den Kirchenraum als Repräsentationsraum sozialer und symbolischer Ordnungen auszuweisen. Verstehen wir Kirchenräume als Medien des Sozialen, so können wir in der Tat sagen, dass die materielle und symbolische Konstitution des Kirchenraums mit seinen Hierarchien und Platzierungen immer gebunden ist an eine bestimmte Vorstellung des Sozialen und damit an spezifische Ideen des Kollektivs. Im Sinne einer konsequent verfolgten Architektursoziologie gilt das mehr oder weniger für alle gebauten Räume, mit denen soziale Anordnungsprozesse verbunden sind; es gilt aber insbesondere für religiöse Räume. Hier nämlich verschränken sich der sozialformative Charakter von Architektur mit der sozialformativen Funktion von Religion. Geertz hat festgehalten, dass alle Religionen und Konfessionen bestimmte Formen von »Ethos«, bestimmte »Weltauffassungen« und »Lebensformen« symbolisch zusammenfassen und definieren:

148 Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 115.

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Heilige Symbole haben die Funktion, das Ethos eines Volkes – Stil, Charakter und Beschaffenheit seines Lebens, seine Ethik, ästhetische Ausrichtung und Stimmung – mit seiner Weltauffassung – dem Bild, das es über die Dinge in ihrer reinen Vorfindlichkeit hat, seinen Ordnungsvorstellungen im weitesten Sinne – zu verknüpfen. Religiöse Vorstellungen und Praktiken machen das Ethos einer Gruppe zu etwas Glaubwürdigem, indem sie es als Ausdruck einer Lebensform darstellen.149

Im Zusammenhang seiner Gesellschaftsgeschichte der Religion in der Frühen Neuzeit konstatiert Rudolf Schlögl, dass Religion auch im 19. und 20. Jahrhundert »stets mit Prozessen der Gruppenbildung [. . . ] befasst blieb« und daher immer ein starkes »Medium sozialer Inklusion bzw. Exklusion« war.150 Und David Morgan hat in seinen Studien zur religiösen Bild- und Gefühlspraxis ebenso grundsätzlich darauf verwiesen, dass Glauben immer auch auf die Formierung von Gruppen zielt: »Belief, it is important to point out, is not simply assent to dogmatic principles or creedal positions, but also the embodies or material practices that enact belonging to the group«.151 Eben diese Verbindung zur Konstitution von Gruppen oder Kollektiven lässt sich am Kirchenraum in konzentrierter Form nachvollziehen und untersuchen. Hier nämlich, an einem genuinen Ort »heiliger Symbole«, wird ein Teil der Selbstverständlichkeit erzeugt, durch die »moralische und ästhetische Präferenzen objektiviert« werden,152 kurz: Im Kirchenraum und vermittelt über seine räumlichen und symbolischen Ordnungen wird das religiös gebundene Kollektiv – sei es das »Volk«, das »Imperium«, die »Nation«, die »Gemeinde«, eine religiöse Minderheit oder eine andere Kollektivvorstellung – auf Dauer gestellt und in die Form geglaubter Gemeinsamkeiten überführt. Für eine politische Kulturgeschichte katholischer Kirchenräume ist dabei entscheidend, dass sich die Vergesellschaftungsprozesse hier teilweise bis ins 19. Jahrhundert hinein noch im Modus einer »Vergesellschaftung unter Anwesenden« vollzogen. In zentralen gesellschaftlichen Feldern der Frühen Neuzeit funktionierte Kommunikation weitestgehend über direkte Interaktion und damit in einer konkreten Dynamik der Körper, Dinge und Räume.153 Soziale Strukturbildung resultierte hier – so Schlögls triadische Typologisierung – aus »Beobachtungsordnungen«, der »Ordnung der Körper und Dinge« sowie

149 Clifford Geertz, Religion als kulturelles System, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1983, S. 44 – 95, hier S. 47. 150 Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt, S. 15. 151 Morgan, The Embodied Eye, S. 147. 152 Geertz, Religion als kulturelles System, S. 47. 153 Schlögl, Anwesende und Abwesende, S. 39 – 47.

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»Sprechordnungen«.154 Allen drei Bereichen ist gemeinsam, »dass Anwesenheit sinnlich erlebbar gemacht wird« und die Sinnbildung »eine körperlich spürbare und dinglich fassbare Verankerung« erfährt.155 Des weiteren vollzieht sich soziale Strukturbildung in der Vergesellschaftung unter Anwesenden »in der Zuordnung von Menschen zu distinkten Gruppen« und damit in Prozessen der Inklusion und Exklusion.156 Stabilisiert werden solche Prozesse der Strukturbildung dann vor allem über »zeremoniale Performanzen«.157 Eine solche Perspektive auf die Medialität der sozialen Welt muss notwendigerweise den Raum ins Zentrum rücken, da sich Beobachtungs-, Körper-, Ding- und Sprechordnungen stets räumlich konstituieren. Insofern können wir mit dem Konzept der »Vergesellschaftung unter Anwesenden« den Kirchenraum der Frühen Neuzeit als einen Ort verstehen, an dem sich konkrete Kollektive in direkter körperlicher und kommunikativer Interaktion herausbilden und stabilisieren. Im Zusammenhang mit den sinnlichen und habituellen Aspekten des Kirchenraums wird diese Argumentation in den Kapiteln 5 und 6 nochmals aufzugreifen sein. Welche Kollektivkonstruktionen jeweils im Spiel sind, hängt von der stadträumlichen Position des Gottesdienstraums ebenso ab wie von den sehr unterschiedlich zugeschnittenen sozialen Netzen, die sich an einem bestimmten Ort überschneiden. Kommen in den meisten Pfarrkirchen auf dem Land und in der Stadt Kirchengemeinden in relativ stabiler Besetzung zusammen, so ist in den Hauptkirchen großer Städte eine stärker durchmischte BesucherInnenstruktur zu finden: St. Stephan im ersten Wiener Gemeindebezirk ist nicht nur Pfarrkirche einer vor Ort lokalisierten Gemeinde, sondern auch periodische Anlaufstelle für Publikum aus dem Außenbezirken, das nur zu bestimmten Feiertagen hierher in die Kirche kommt, sowie für eine zahlreiche »Laufkundschaft« aus PassantInnen und TouristInnen. Überhaupt ist die Anonymität des versammelten Kollektivs im Stadtzentrum wesentlich größer als in Kirchen, die Mittelpunkte relativ geschlossener Wohngebiete am Stadtrand oder erst recht in Kleinstädten und Dörfern bilden. Wer sich hier in welcher Weise als Kollektiv adressieren lässt, ist somit wesentlich von der geographischen und sozialen »Reichweite« einer Kirche und eines Kirchensprengels bestimmt. In berühmten Wallfahrtskirchen, in denen sich ein ständig wechselndes Publikum versammelt, nimmt dieses Kollektiv temporär und situativ eine ganz andere Form an als in Pfarrgemeinden, in denen man sich in aller Regel persönlich kennt. Bezüge dieser Art sind nur durch konkrete Netzwerkanalysen zu erhellen; im Hinblick auf die allgemeinen Koordinaten einer Untersuchung des

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Schlögl, Anwesende und Abwesende, S. 41. Schlögl, Anwesende und Abwesende, S. 41. Schlögl, Anwesende und Abwesende, S. 44. Schlögl, Anwesende und Abwesende, S. 147.

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Kirchenraums als sozialem Repräsentationsraum ist wichtig festzuhalten, dass hier überaus flexible und variable »Gemeinschaften« konstituiert, stabilisiert und religiös überformt werden. Der Anspruch des Kirchenraums, Kollektivität herzustellen, stellt sich vor diesem Hintergrund situativ sehr unterschiedlich dar. Bourdieu unterstreicht den Durkheimschen Gedanken der gesellschaftlichen Funktion von Religion im Hinblick auf die Konstitution und Repräsentation von Kollektiven, wenn er schreibt: Der Religion kommt die praktische und politische Funktion der Verabsolutierung des Relativen und der Legitimierung des Willkürlichen zu, die darin besteht, das Potential an materieller und symbolischer Kraft zu verstärken, das von einer Gruppe mobilisiert werden kann, um die Gruppe als solche zu konstituieren, sowie all das zu legitimieren, was sie gesellschaftlich definiert.158

Jeanne Halgren Kilde fasst die formative und konstitutive Funktion von Kirchenräumen im Hinblick auf das Soziale folgendermaßen zusammen: Church buildings influence worship practices, facilitating some activities and impeding others. They focus the attention of believers on the divine, and they frequently mediate the relationship between the individual and God. They change with religious activities over time. They contribute to the formation and maintenance of internal relationships within congregations. They designate hierarchy and they demarcate community, serving a multiplicity of users with a host of objectives. They teach insiders and outsiders about Christianity, and they convey messages about the religious group housed in the building to the community at large. Indeed, church buildings are dynamic agents in the construction, development, and persistence of Christianity itself.159

Diese grundlegende Passage aus Kildes Buch »Sacred Power, Sacred Space« macht nochmals deutlich, dass Kirchenräume immer Medien des Sozialen sind, die nicht nur das Verhältnis zwischen den Individuen und Gott als Bezugspunkt, sondern auch die Struktur der religiösen Gemeinschaft mit hervorbringen. Nicht von ungefähr sind sie zentraler Schauplatz religiös gerahmter biographischer »rites de passage«: von der Taufe über die Erstkommunion, die Trauung bis hin zur Beisetzung und Trauerfeier.160 Kritiker, die darauf hinwei-

158 Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, S. 53. 159 Kilde, Sacred Power, Sacred Space, S. 3. 160 Für eine ritualtheoretische Perspektive auf Kasualien wie Hochzeit und Beisetzung vgl. u. a. Karl-Fritz Daiber, Die Trauung als Ritual, in: Evangelische Theologie 93 (1973), S. 578 – 597; Simone Fopp, Trauung – Spannungsfelder und Segensräume. Empirisch-theologischer Entwurf eines Rituals im Übergang, Stuttgart 2007; Yorick Spiegel, Der Prozeß des Trauerns, 8. Auflage Gütersloh 1995.

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sen, dass der Kirchenraum vor allem bei Hochzeiten nur noch »Dekoration« oder »Kulisse« sei,161 stellen zu wenig in Rechnung, dass dieser »Kulisse« für das Ritual und die damit zusammenhängenden Erlebnismodelle sowie die emotionalen Routinen und Praktiken eine elementare Bedeutung zukommt. Hier verschränken sich Öffentlichkeit, Raum und ritualisierter Ablauf zu einem Dispositiv, das bestehende symbolische Ordnungen bestätigt und damit zur Reproduktion sozialer Verhältnisse beiträgt. Die Kirche war immer auch ein öffentlicher Raum und damit – wie Thomas Erne in Anlehnung an Georg Simmel schreibt, eine »Tatsache religiöser Kommunikation, die sich räumlich artikuliert«.162 Die Kasualien, wie die genannten »rites de passage« aus liturgischer Sicht bezeichnet werden, sind in diesem Sinne Akte formalisierter religiöser Kommunikation im öffentlichen Raum, in denen soziale Beziehungen und soziale Ordnungen in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen bestätigt, reproduziert und sichtbar gemacht werden. Kasualgottesdienste sind damit als Teil von Biographiearbeit zu verstehen, die dazu dient, wichtige biographische Stationen öffentlich zu akzentuieren und individuell wie kollektiv zu verarbeiten.163 Im Zentrum eines Kasualgottesdienstes im Kirchenraum steht immer der Segen; der Kasualgottesdienst lässt sich von hier aus als »in der Taufe begründete Segenshandlung angesichts biographischer Umbrüche« verstehen.164 Solche Benediktionshandlungen sind durch eine »große Bedeutung sinnlich wahrnehmbarer Zeichen« bestimmt und verschränken erinnerungskulturelle Aspekte mit spezifischen »functiones« bzw. »actiones sacrae« zur Heiligung sozialer Beziehungen.165 Segenshandlungen, so Thomas Erne, sind »an die Interaktionen leiblich anwesender Personen gebunden und daher immer auch räumlich verfasst«.166 Unter Rückgriff auf Arnold van Genneps Konzept der »rites de passage« zeigt Erne, wie die Grundfigur dieser Rituale – die Schwel-

161 Vgl. dazu Benedikt Kranemann / Joachim Hake, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Hochzeit – Rituale der Intimität, Stuttgart 2006, S. 7 – 12, hier S. 8 – 9. 162 Thomas Erne, Lebensraum Kirche, in: Thomas Klie / Martina Kumlehn / Ralph Kunz / Thomas Schlag (Hg.), Lebenswissenschaft Praktische Theologie?! Berlin / New York 2011, S. 325 – 337, hier S. 332. 163 Vgl. dazu in aller Kürze Christian Grethlein, Empirische Aspekte, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber / Michael Meyer-Blanck / Karl-Heinrich Bieritz, Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, 3. Auflage Göttingen 2003, S. 463 – 470. 164 Grethlein, Empirische Aspekte, S. 464. 165 Christian Grethlein, Benediktionen und Krankensalbung, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber / Michael Meyer-Blanck / Karl-Heinrich Bieritz, Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, 3. Auflage Göttingen 2003, S. 551 – 574, hier S. 551. 166 Erne, Lebensraum Kirche, S. 333.

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Abb. 17: Taufgottesdienst in St. Karl Borromäus am Karlsplatz.

lensituation – am Kirchenraum sinnfällig wird: Sich vom öffentlichen Raum um die Kirche herum dem Vorplatz und dem Portal zu nähern, die Kirchentür schließlich zu durchschreiten, um zur »Bühne« vorzudringen, welche der Altarraum darstellt, kann so als ein Weg beschrieben werden, auf dem die Schwellensituation körperlich erfahrbar gemacht wird.167 Am Altar schließlich wird der Segen gespendet, der die entsprechende neue biographische Station vor dem versammelten Kollektiv – Angehörige, Verwandte, Freunde, Gemeindemitglieder – bekräftigt und ihr den Status der Legitimität verleiht. Der Segen fungiert hier als eine soziale Bestätigung von Statusveränderungen und autorisiert zugleich die segenspendende Instanz als diejenige, die soziale Beziehungen stiftet und die Deutungsmacht über sie erhält. Vor dem Hintergrund der oben dargelegten religionssoziologischen Prämissen können wir zudem zeigen, dass Kirchenräume immer auch Entwürfe und Handlungszusammenhänge politischer Kultur darstellen – einer politischen Kultur, die weit über das religiöse Feld im engeren Sinne hinausreicht. Die Art und Weise, wie hier Prozesse der Hierarchisierung, der Platzzuweisung, der Inund Exklusion vonstatten gehen, lässt sich unmittelbar als politisch verstehen. Eine zentrale Unterscheidung, über die in Kirchenräumen solche Grenzziehungen vorgenommen und Bedeutungen produziert werden, ist die Dichotomie zwischen Sakral und Profan, wie Durkheim in seinem religionssoziologischen Klassiker über »Die elementaren Formen des religiösen Lebens« hervorgehoben

167 Erne, Lebensraum Kirche, S. 333 – 334.

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hat: »Alle bekannten religiösen Überzeugungen, wie einfach oder komplex sie auch seien, haben den gleichen Zug: sie setzen eine Klassifizierung der realen oder der idealen Dinge, die sich Menschen vorstellen, in zwei Klassen, in zwei unterschiedliche Gattungen, voraus, die man im allgemeinen durch zwei unterschiedliche Ausdrücke bezeichnet hat, nämlich durch profan und heilig«.168 Geht man nicht so weit wie etwa Michel Leiris, der das »Sakrale« sehr umfassend verstanden und auf die Wahrnehmung des Ungewöhnlichen und Geheimnisvollen im Alltag bezogen hat,169 sondern nimmt man amtskirchliche Definitionen zur Grundlage, dann ist das Sakrale von vornherein eine dezidiert räumliche Kategorie. Die Herleitung führt von Gott direkt in den Raum hinein: Heilig heißt zunächst Gott nach seiner Grundeigenschaft, dass er völlig anders ist als wir Menschen und die uns zugängliche Welt [. . . ]. Wegen dieser weltüberlegenen Heiligkeit hat Gott ein »Heiligtum«, einen ausschließlichen Vorbehaltsraum, den der Mensch nicht betreten (Ex 3,5) noch berühren (2 Sam 6,6 f.) darf: Gott »wohnt in unzugänglichem Licht, den kein Mensch gesehen hat noch je zu sehen vermag« (1 Tim 6,16). Der dem Menschen zugängliche Raum liegt »vor dem Heiligtum«, er ist profan. 170

Dieser biblisch gestützten Definition von Rupert Berger können wir die wesentlichen Eckpunkte der Unterscheidung zwischen Sakral und Profan entnehmen, die auch für die Kirchenraumanalyse von Bedeutung sind: Erstens handelt es sich dabei zunächst um eine prinzipielle Grenzziehung, die ihren Grund darin hat, dass Gott »völlig anders ist als wir Menschen«; zweitens schafft diese Grenzziehung Räume, die nicht betreten werden dürfen, die also mit einem Tabu belegt sind. Drittens aber gibt es Zonen im Sakralen, die den Menschen eben doch zugänglich sind: »Im Kult gewährt Gott dennoch seine Gegenwart in einer Epiphanie, gewährt er berufenen Mittlern [. . . ] Zugang zu seinem Heiligtum«, was christologisch begründet wird. Seit Christus »gibt es keinen sakralen Ort mehr im Sinne der alten Tempel, keine sakralen Personen mehr im Sinn der früheren Priester, denn Gott ist zugänglich geworden in Christi Leib [. . . ], in Christi Gemeinde, die er um sich gesammelt hat«.171 Die Feinheiten der theologischen Argumentation können hier nicht weiter verfolgt werden; wichtig bleibt aber der Befund, dass sich für die katholischen Christen die Grenzziehung zwischen Sakral und Profan tendenziell aufgelöst hat. Weder gibt es einen eindeutig sakralen noch einen eindeutig profanen

168 Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 62. 169 Michel Leiris, Das Sakrale im Alltag, in: Denis Hollier (Hg.), Das Collège de Sociologie (1937 – 39), Frankfurt am Main 2012, S. 98 – 109. 170 Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 158. 171 Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 158.

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Raum mehr – mit der Idee, dass »in Christi Menschwerdung [. . . ] die ganze Schöpfung bereits heimgeholt worden ist«, entfällt sowohl die Sakralisierung durch »Weihungen und Segnungen«, sondern mehr noch: Auch gottesdienstliche Formen solle man »nicht mehr ›sakral‹ nennen, sollte nicht sprechen von ›sakraler Musik‹ und dergleichen, weil Heiligkeit nicht mehr an Formgesetzen, sondern an der personalen Christusbeziehung hängt«.172 Damit ergeben sich in der realen Welt auch aus theologischer Sicht immer Überschneidungen von heiligen und profanen Situationen und Handlungen; in dem Gedanken einer die Welt durchdringenden »Heiligkeit« steckt umgekehrt auch der Gedanke einer Durchdringung des Heiligen mit »weltlichem Stoff« und damit mit sozialen Tatsachen. Auf die Grenzziehung zwischen Sakral und Profan trifft also in besonderem Maße zu, was Georg Simmel in seiner Abhandlung zur »Soziologie des Raumes« festgehalten hat: »Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt«.173 Die Frage nach dem »Heiligen« im Kirchenraum ist – abseits dieser theologischen Diskussion – also konsequent als Frage nach den »soziologischen Tatsachen« und damit den sozialen Funktionen bestimmter Raumsegmente und Raumelemente zu stellen. Gabriella Signori spricht von »Zonen unterschiedlicher Heiligkeitsdichte«, die sich im Verlauf der Jahrhunderte ausdifferenziert haben, und meint damit »Teilräume mit unterschiedlichem Öffentlichkeitsgrad und unterschiedlichen Funktionen für den Klerus und die Gemeinde«.174 Grenzziehungen zwischen »sakralen« und »profanen« Bereichen sind insbesondere im Hinblick auf historische Klosterarchitekturen und die monastische Klausur untersucht worden.175 Hier wurde etwa der Frage nachgegangen, inwieweit sich »die Produktion von Raum durch spezifische monastische Prakti172 Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 158. 173 Georg Simmel, Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft, in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Gesamtausgabe Band 11, herausgegeben von Otthein Rammstedt), Frankfurt am Main 1992, S. 687 – 790, hier S. 697. 174 Signori, Sakral oder profan, S. 118. 175 Vgl. – mit einem Fokus auf der Genderspezifik der monastischen Architektur – Roberta Gilchrist, Gender and Material Culture. The Archeology of Religious Women, London / New York 1994; vgl. des weiteren Heike Uffmann, Innen und Außen: Raum und Klausur in reformierten Nonnenklöstern des späten Mittelalters, in: Gabriela Signori (Hg.), Lesen, Schreiben, Sticken und Erinnern. Beiträge zur Kulturund Sozialgeschichte mittelalterlicher Frauenklöster, Bielefeld u. a. 2000, S. 185 – 212, und Christina Lutter, Klausur zwischen realen Begrenzungen und spirituellen Entwürfen. Handlungsspielräume und Identifikationsmodelle der Admonter Nonnen im 12. Jahrhundert, in: Elisabeth Vavra (Hg.), Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposions des Mediävistenverbandes. Krems 24.– 26. März 2003, Berlin 2005, S. 305 – 323.

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ken, das heißt die Verbindung von Gesten und architektonischer Materialität, als konstitutiv für die Gemeinschaft eines Konvents« erweist.176 Zu den architektonischen Elementen, die den Handlungsraum der geistlichen Gemeinschaft markieren und konstituieren, gehören das Sprechgitter und die Pforte – sie sind zugleich Grenzmarkierungen und Kontaktzonen, über die Beziehungen zwischen Innen und Außen reguliert und performativ eingespielt werden.177 Schon Halbwachs hat in seiner »Sozialen Morphologie« diesen Punkt angesprochen und in der Entwicklung von Schlafsälen zu einzelnen Zellen die »morphologische« Entsprechung zu neuen theologischen Leitideen gesehen.178 Und auch Henri Lefebvre hat sich in seiner Theorie der Raumproduktion auf das Beispiel der mittelalterlichen Mönchsklöster gestützt, um zu zeigen, wie körperliche Bewegungen und Gesten einerseits und die Architektur andererseits ineinandergreifen. »Diese Gesten« – so Babette Reicherdt im Anschluss an Lefebvre – »finden in einem architektonisch genau durchkomponierten Ort statt und ermöglichen es den Teilnehmenden, einen mentalen mit einem materiellen Raum zu verknüpfen und damit gemäß dem theologischen Programm des Ordenslebens eine Verbindung zwischen Begrenztheit des irdischen und Unendlichkeit des ewigen Lebens herzustellen«.179 Die Klosteranlage als Abbild einer spezifischen geistlichen Lebensordnung und Lebensführung wird erstmals greifbar im berühmten St. Galler Klosterplan, der um 830 auf der Insel Reichenau im Bodensee entstanden ist. Dieser Plan ist weder ein konkreter auszuführender Bauplan, noch das Abbild eines bereits existierenden Klosters, sondern er stellt eine räumliche Visualisierung der Benediktsregel in aktuellen theologischen Interpretationen der Zeit dar.180 Auch spätere Klosterpläne, -entwürfe und -anlagen lassen sich in diesem Sinne als strenge Repräsentationen einer sozialen Ordnung des monastischen geistlichen Lebens verstehen und machen deutlich, dass alle räumlichen Anordnungen explizit wie implizit mit Vorstellungen von sozialer Ordnung verbunden sind. So spiegelt sich etwa die Ordnung des monastischen Tagesablaufs – Gebet, Versammlung, Essen, Arbeit – Schlaf – in der An-Ordnung der funktional klar bestimmten Räume der

176 Babette Reicherdt, Zwischen Sprechgitter und Pforte. Räumliche Zuordnungen und die Produktion von Gemeinschaft in den Klausurbeschreibungen der Genfer Klarissenchronik (1534 – 46), in: Silke Förschler / Rebekka Habermas / Nikola Roßbach (Hg.), Verorten – Verhandeln – Verkörpern. Interdisziplinäre Analysen zu Raum und Geschlecht, Bielefeld 2014, S. 17 – 39, hier S. 21. 177 Reicherdt, Zwischen Sprechgitter und Pforte. 178 Vgl. Schröer, Materielle Formen des Sozialen, S. 27. 179 Reicherdt, Zwischen Sprechgitter und Pforte, S. 19. 180 Vgl. Matthias Untermann, Handbuch der mittelalterlichen Architektur, Darmstadt 2009, S. 112 – 113.

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Klausur.181 Extremen Formen monastischen Lebens entsprechen Architekturen, bei denen die gliedernde und separierende Funktion besonders akzentuiert ist. In Kartäuserklöstern des Mittelalters etwa wurde die Idee des asketischen Eremitentums architektonisch so umgesetzt, dass die einzelnen Mönche in abgesonderten hausförmigen Zellen mit eigenem kleinem Nutzgarten wohnten, wie man es nicht weit von Wien etwa in der Kartause Mauerbach noch klar erkennen kann. Die Laienbrüder wohnten dagegen in relativer Entfernung in den Wirtschaftsgebäuden und brachten die Mahlzeiten für die Geistlichen an speziell eingefügte Durchreichen in die Zellen.182 Auf diese Weise repräsentierte und formierte die gebaute Struktur die Trennung zwischen Laien und »weltfernem« Klerus und begrenzte die Bewegungen, Begegnungen und die Kommunikation innerhalb der Klosteranlage, erst recht zwischen Kloster und profaner Außenwelt. An den skizzierten Beispielen wird der allgemeine Befund Michael Mitterauers anschaulich, »daß Sakralität eines Raumes mit Abgrenzung zu tun hat«.183 Innerhalb des Kirchenraums selbst wurde »die Frage, was sakral und was profan ist, [. . . ] mit wachsender Differenzierung immer klarer zu einer Standortfrage mit zwei, manchmal auch drei Fixpunkten im Chor bzw. in der Apsis und im Langhaus der Kirche«.184 Einschlägige Handbücher zur Theorie des Kirchenraums diskutieren denn auch in erster Linie die Positionierung von Altar, Kanzel und Taufstein und ihre Beziehung zur Liturgie.185 Soziale Aushandlungsprozesse im Kirchenraum lassen sich nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage untersuchen, wem die räumliche Nähe zu diesen Fixpunkten zusteht, welche Praktiken im Umgang mit diesen Fixpunkten zu beobachten sind und – ganz allgemein – inwiefern die sakralisierten Raumteile und Gegenstände im Raum als soziale Güter funktionieren. Die Nähe zum Sanktuarium und dem Allerheiligsten spielt bei der Fixierung von Sitzordnungen ebenso eine Rolle wie bei der Demonstration von Hierarchien innerhalb des Klerus; die Nähe zu Reliquien und anderen Heilsgütern bestimmt die Dramaturgie nicht nur liturgischer Abläufe, sondern auch der individuellen Frömmigkeitsübung. Wallfahrten etwa sind in ihrer gesamten inneren wie äußeren Organisation darauf ausgerichtet, in die Nähe spezifisch lokalisierter Heilsgüter zu gelangen, was die sakrale Topo-

181 Vgl. Untermann, Handbuch der mittelalterlichen Architektur, S. 112. 182 Vgl. Untermann, Handbuch der mittelalterlichen Architektur, S. 154 – 155. 183 Michael Mitterauer, Heilige Orte. Impressionen einer Führung durch Kirche und Friedhof in einer bulgarischen Kleinstadt, in: Ders., Dimensionen des Heiligen. Annäherungen eines Historikers, Wien / Köln / Weimar 2000, S. 300 – 308, hier S. 302. 184 Signori, Sakral oder profan, S. 118. 185 Vgl. den Hinweis bei Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, München 2006, S. 141.

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graphie von Orten, Städten und Regionen bis hin zur religiösen Ordnung einer auf Rom oder Santiago de Compostela ausgerichteten Welt wesentlich prägt. Die Art und Weise, wie ein Kirchenraum die Beziehung zwischen seinen als »heilig« markierten symbolischen Zentren und Subzentren, dem Klerus und der Bevölkerung organisiert, ist im Hinblick auf die Frage nach der Kollektivkonstruktion und der politischen Kultur von entscheidender Bedeutung. Das Spiel von Nähe und Distanz zwischen Orten, Dingen und Akteuren des als dynamisch verstandenen Raums und die damit verbundenen Hierarchien und Platzierungen konstituieren die imaginäre Form des Sozialen, die der konzipierte, wahrgenommene und gelebte Raum repräsentiert. Ein berühmtes Beispiel aus der Architekturgeschichte, der Bau der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen, zeigt, dass dieses Spiel schon mit der Konzeption des Grundrisses beginnt: In einer Art von interkonfessionellem »Betriebsunfall« 186 wurde die ursprüngliche Planung des Katholiken Balthasar Neumann durch den protestantischen Architekten Gottfried Heinrich Krohne verändert, so dass die den Bau motivierende heilige Gnadenstätte nicht repräsentativ in der Mitte der Vierung, sondern im Langhaus zu liegen kam. Derart »zu einem Geniestreich herausgefordert«,187 integrierte Neumann seinerseits die Gnadenstätte und den Altar zu einer über den Vierungsbereich hinausreichenden ovalen Raumfigur. »Die traditionell selbständige ›Stellung‹ des zuerst – und zumeist – rechteckigsteifen Vierungsraums wurde dadurch aufgehoben, eine bis dahin unerhörte Verschmelzung des christlichen Chorbereichs, des Ortes spezifisch katholischer Heiligenverehrung und der Gemeinde in rhythmischer Einheit war erreicht«.188 Was Balthasar Neumann mit seiner Idee entwickelt hatte, war letztlich ganz im Sinne der gegenreformatorischen Kirche, die verstärkt um die Einbindung der Bevölkerung in rituelle, kollektive Frömmigkeitsformen wie das Wallfahrtswesen bemüht war: Der Raum erzielt mittels seiner Struktur die symbolische Integration der Gemeinde ins Heilsgeschehen und trägt so zur Formierung des Kollektivs bei. Überhaupt ist die Regulierung von Distanzen und Sichtbeziehungen zwischen Gemeinde und Altar eines der wichtigsten gestalterischen Mittel im Kirchenbau, über welches das Verhältnis zwischen Amtskirche und Bevölkerung ausgedrückt wird. Wurde von progressiven Theologen der Jahrhundertwende eine verstärkte Partizipation der Gläubigen am liturgischen Geschehen gefor-

186 Wolfgang Marx, Der sakrale Raum als öffentlicher. Elemente einer Ästhetik religiöser Raumgestaltung, in: Rainer Bürgel (Hg.), Raum und Ritual. Kirchbau und Gottesdienst in theologischer und ästhetischer Sicht, Göttingen 1995, S. 25 – 38, hier S. 31. 187 Marx, Der sakrale Raum als öffentlicher, S. 32. 188 Marx, Der sakrale Raum als öffentlicher, S. 33.

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dert, so bevorzugte damals beispielsweise der Architekt von St. Antonius in Favoriten und der Donaufelder Kirche, Franz Neumann, konservative Raumlösungen, bei denen – anders als bei den zeitgenössischen Zentralbauten Otto Wagners oder Max Hegeles – die Sichtbeziehung und Nähe der Gemeinde zum Altar eher wieder verloren ging. Inge Scheidl kommentiert diesen Punkt in ihrer Besprechung von St. Antonius: »Entgegen den kirchenreformatorischen Bemühungen, die die strikte Trennung des Priesters von den Gläubigen aufzuheben wünschten, hat Franz Neumann mit der Verlängerung des Chores die traditionelle Trennung denn auch im wahrsten Sinne des Wortes ›prolongiert‹: Der Altar ist in deutliche Distanz zu den Gläubigen gerückt, und wenig überraschend findet sich auch das Mittelschiff nur geringfügig verbreitert«.189 In diesem Sinne ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Sakralen und dem Profanen also konsequent raumsoziologisch zu wenden: Hinter den Markierungen des »Heiligen« im Raum, die mehr oder weniger zugänglich sind, den Blicken und dem religiösen Gebrauch ausgesetzt oder entzogen werden, stecken im Kern politische Imaginationen des Verhältnisses zwischen – geistlichen und weltlichen – Eliten und dem »Kirchenvolk«, mithin Leitvorstellungen politischer Kultur, die über regulierende räumliche Arrangements von Nähe und Distanz ausgedrückt werden. Die Frage nach der Partizipation der Gemeinde am »heiligen« Geschehen, welche die Liturgiereformen und den schleppenden Prozess einer gesellschaftlichen Öffnung der Amtskirche mitbestimmt hat, entpuppt sich hier als Kardinalfrage einer politisch-kulturgeschichtlichen Kirchenraumanalyse.

Das Zweite Vatikanum und die Konzilsgedächtniskirche in Lainz Richard Kieckhefer hat in seinen Kirchenraumanalysen drei Raummodelle unterschieden. Diese seien the most common ways the shape of a church can be linked to notions of spiritual process enacted specifically in liturgy: the longitudinal space of the classic sacramental church, meant for procession and return; the auditorium space of the classic evangelical church, built for reclamation and response; and a relatively new form of space in the modern communal church, designed for people to gather in community and proceed back out into the workaday world.190

Hier wird nicht nur deutlich, dass Raumkonzeptionen von Kirchenräumen abhängig sind von liturgischen Vorgaben, sondern zugleich, dass die Liturgie gesellschaftsgeschichtlichen Konjunkturen und sozialen Leitvorstellungen folgt: 189 Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 148. 190 Kieckhefer, Theology in Stone, S, 22.

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Die »autoritäre« Idee der für den klassischen katholischen Ritus konzipierten sakramentalen Kirche entspricht einer anderen politischen Kultur als die »dialogische« Idee des evangelischen Kirchenraums mit seiner Ermächtigung des gesprochenen Wortes, in der sich die Priesterschaft aller Gläubigen niederschlägt. Noch einmal anders stellt sich die politische Kultur des »gemeindegerechten« und gemeindezentrierten katholischen Sakralraums dar, wie er sich nach 1945, vor allem aber in der nachkonziliaren Zeit seit den 1960er Jahren etabliert hat. Nach Kieckhefer zeichnet sich dieses Raummodell dadurch aus, dass es sozial integrativ und in der Nutzung flexibel angelegt ist. Die räumlichen Hierarchien der älteren Kirchenarchitektur sind zugunsten eines Einheitsraums aufgelöst, »to create a sense of bonding among those gathered. [. . . ] The space is meant to encourage full participation by the entire assembly; not only is the entire space conceived as an integral whole but visual subdivision is reduced to a minimum«.191 Damit wird deutlich, dass hier neue symbolische Ordnungen des Sozialen repräsentiert werden, die sich wesentlich von den Ordnungen der extrem hierarchisierten Kirchenräume des Mittelalters, der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts unterscheiden. Das Zweite Vatikanische Konzil der Jahre 1962 – 1965 markiert die historische Schnittstelle der Durchsetzung eines neuen Verständnisses vom Kirchenraum. Zentrale Überlegungen des Konzils und ihre Auswirkungen auf den Kirchenbau sind hier bereits im zweiten Kapitel kurz vorgestellt worden; an dieser Stelle soll nun an einem konkreten Kirchenraumbeispiel gezeigt werden, wie die neuen Ideen von einer sozial effektiven »Gemeinschaftsarchitektur« konkret umgesetzt wurden. Als das aussagekräftigste Wiener Exempel der nachkonziliaren Kirchenraumkonzeption kann die im 13. Gemeindebezirk befindliche Konzilsgedächtniskirche in Lainz gelten.192 Dieser Bau entstand zwischen 1966 und 1968, so dass die neuen Richtlinien des Konzils schon bei der Planung voll berücksichtigt werden konnten. Nachdem die alte Lainzer Pfarrkirche Zur Allerheiligsten Dreifaltigkeit zu eng geworden war, erhielt die Gemeinde mit der Konzilsgedächtniskirche zum Heiligen Ignatius von Loyola einen überaus großzügigen Neubau und darüber hinaus ein Musterbeispiel für die ästhetischen und funktionalen Ideen der »Allgemeinen Einführung in das Römische Messbuch«, das die Bestimmungen und Empfehlungen des II. Vaticanums zusammenfasst. Die zentrale Position des Altars inmitten eines weiträumigen Altarbereichs, die Offenheit des Raums für gemeindliche Nutzung abseits der Gottesdienste, die »edle« und doch »einfache« künstlerische Gestaltung des

191 Kieckhefer, Theology in Stone, S. 53. 192 Für eine knappe Baubeschreibung vgl. Bäumler / Zeese, Wiener Kirchenbau nach 1945, S. 78 – 81.

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Innenraums – 193 alles das findet sich in Lainz exemplarisch umgesetzt. Statt »Prachtentfaltung« empfahl die »Allgemeine Einführung« »Echtheit« in Material und Ausführung, wobei explizit hervorgehoben wird, dass Kirchenraum und Nebenräume »den Erfordernissen« der Zeit entsprechen sollen. Das von Papst Johannes XXIII. beabsichtigte »aggiornamento« der Kirche wurde so im Kirchenbau besonders klar greifbar. Die Konzilsgedächtniskirche stellt sich von außen als schlichter, turmloser Betonbau dar, dem man seine Funktion nur bedingt ansieht. Lediglich das fast immer geschlossene Haupttor der Kirche zur Lainzer Straße hin zeigt ein leuchtendes Kreuzmosaik aus venezianischen Smalten, das den sakralen Raum anzeigt. Der Innenraum kann von allen vier Ecken des Gebäudes aus betreten werden und ist schon von dieser Grundstruktur der Zugänge her kaum hierarchisiert. In diesem Sinne gibt es hier – im Gegensatz zu nahezu allen älteren Kirchenbauten – keine klare Bewegungsrichtung, in der man vom »profanen« zum »sakralen« Bereich geführt würde. Schwere graue Vorhänge trennen die kleinen Windfänge vom Kirchenraum; der Eindruck beim Betreten teilt sich sofort mit: ein heller, weiter Raum mit umlaufendem Oberlichtband und sauberem Sichtbeton umfängt den Besucher. Goldgelber Teppichboden, der auch über die Bankreihen gespannt ist, dominiert des weiteren die Raumwirkung und verstärkt den freundlichen Eindruck. Hier ist die für den Kirchenbau der Moderne richtungsweisende Lichtmetaphorik umgesetzt worden, wie es der Kirchenführer der Gemeinde festhält: Man ist »überrascht von der Lichtfülle, die vom Lichtband in der Dachschräge und einem zusätzlichen Oberlicht über dem Altar in den Raum fällt und ihn in ein Meer von Licht taucht. Von oben, von Gott her, kommt uns das wahre Licht, erhellt unser Leben und leuchtet auch in die letzten Winkel hinein«.194 Im Wortsinne »niederschwellig« ist der mittig platzierte Altarraum gehalten: Nur zwei sehr flache Stufen heben diesen inselartigen Bereich leicht hervor, so dass man hier nicht mehr von einem »Presbyterium« oder gar einem »Sanktuarium« sprechen kann. Das Sanktuarium als Raumfigur ist hier insofern tatsächlich ganz aufgelöst, als sich der Tabernakel in einem als Andachtskapelle und zusätzlicher kleinerer Gottesdienstraum genutzten Bereich unterhalb der Orgelempore befindet. Die in barocken Kirchen zu beobachtende Scheu vor dem Betreten des Altarraums besteht hier offensichtlich kaum – immer wieder gehen während meiner Besuche in der Kirche auch Personen direkt am Altar vorbei in den Kapellenraum. Der Altar selbst sowie die Weihwassersäulen, die Einfassung der Stufen und der Taufstein sind aus hellem Margarethener

193 Vgl. dazu die übersichtliche Darstellung bei Kopp, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition, S. 133 – 136. 194 Pfarre Lainz-Speising (Hg.), Konzilsgedächtniskirche zu Ehren des Heiligen Ignatius von Loyola Wien, Lainz-Speising, Wien 2013, S. 15.

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Abb. 18: Konzilsgedächtniskirche in Lainz, Innenansicht.

Sandstein; auch hier folgte man den amtskirchlichen Bestimmungen zur Weihe eines Altars und schloss zur Kirchweihe 1968 Reliquien der Heiligen Theophilus und Justa ein. Um den Altarbereich herum sind die Sitzreihen angeordnet: Sechs mal sechs Bänke gruppieren sich U-förmig mit freier Sicht zum Altar und auf den hinter dem Altar angebrachten stark farbigen Wandteppich der Wiener Künstlerin Käthe Hermann-Bernhofer.195 Die elegante Konstruktion der Bänke und die integrierten Gebetbuchauflagen aus Birnenholz erzeugen den Eindruck einer sehr gediegenen und geschmackvollen Ausstattung.196 Die Funktion dieser Kirche als Versammlungsraum wurde bereits 1969 bei der Ersten Wiener Diözesansynode erprobt, als die Pastoraltheologen des deutschen Sprachraums hier zusammenkamen.197 In der gemeindlichen Nutzung soll die Kirche – dem Multifunktionsideal der 1960er Jahre folgend – für viele Nutzungen offen sein: »Dieser Kirchenraum« – so Pfarrer Wolfgang Dolzer im Vorwort zum Kirchenführer – atmet religiöse und spirituelle Vielfalt. Er bietet Raum für traditionelle Gottesdienste, Kinder- und Familienmessen, Gebete, Jugendmessen mit besonderer musikalischer Gestaltung, für Anbetung bis hin zu religiösem Tanz und Ausstel-

195 Vgl. Pfarre Lainz-Speising, Konzilsgedächtniskirche, S. 17. 196 Forschungsnotizen vom 19. Februar 2015. 197 Vgl. Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 273.

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lungen. Ganz in der Tradition des Jesuitenordens war unsere Kirche auch immer ein Raum für Kultur, Kunst und Theater.198

In diesem Zusammenhang fehlt auch nicht der Hinweis auf ein – wenn auch zeitlich sehr begrenztes und daher lediglich als symbolisch zu bezeichnendes – Kirchenasyl im Jahr 2003, als 75 Asylbewerber für eine Woche in der Kirche unterkamen. Eine Kinderecke passt hier – anders als in vielen Kirchen des 19. Jahrhunderts – ins Bild: Zwei kleine Holztische mit vielen Sesselchen, daneben eine Holzkiste mit Kinderbüchern. Am Aufgang zur Orgelempore ist ein großes Tuch mit Dankbezeugungen der Kinder aufgespannt, die Überschrift lautet: »Ich bin in Gottes Hand«. Bei einer anderen Gelegenheit ist es ein blaues Tuch, auf dem in gelben Buchstaben geschrieben steht: »Ich will Dich segnen und Du sollst ein Segen sein«. Das Tuch ist geschmückt mit aufgeklebten glitzernden Sternchen, darauf stehen teilweise Kindernamen, links daneben sind kleine Basteleien der Kinder aufgeklebt. Der goldgelbe Teppichboden lässt diesen Bereich fast aussehen wie einen Kindergarten.199 Für den provokanten Verteidiger der alten römischen Liturgie und ihrer Räume Martin Mosebach ist die architektonische Linie der »gemeindegerechten Kirche« mit einem starken Verlust an Sakralität verbunden: »Diese Betonhallen, diese Teppichböden, diese massiven Birkenholzmöbel, die Ledersessel am Altar, die Punktstrahler – diese ganze Innenarchitekten-Solidität einer neuen oder restaurierten Kirche weiß nichts davon, daß der heilige Raum, der heilige Ort terribilis, schaudererregend, ehrfurchtgebietend ist und auch so aussehen muß. Die erste religiöse Betätigung des Menschen bestand im Abstecken des heiligen Raums, und in den alten Kirchen geschieht das nicht nur durch die Mauern, die die Außenwelt abwehren, sondern im Innern zur sinnlichen Verdeutlichung gleich noch einmal: Chorschranken, Kommunionbänke, hohe Gitter, Lettner und Ikonostasen schaffen den Raum für das Allerheiligste. Das war gebauter Glaube an die körperliche Gegenwart Gottes«.200 Was Mosebach einfordert, ist zum einen das alte System aus Grenzziehungen und Hierarchien, welche die Struktur von Kirchenräumen bis zur Liturgiereformbewegung und weiter bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil geprägt hat, zum anderen die – seiner Auffassung nach mit dieser Raumstruktur zusammenhängende Atmosphäre eines »ehrfurchtgebietenden« und unnahbaren Bereichs. Ex negativo lässt sich hier auch ablesen, was mit der Öffnung der Binnenräume in neuen Kirchenbauten eigentlich geschehen ist: Betont wurden das Kollektiv und die Gemeinschaft auf Kosten der alten »sakralen« Raumqualitäten, betont wurde

198 Pfarre Lainz-Speising, Konzilsgedächtniskirche, S. 3 – 4. 199 Forschungsnotizen vom 15. Februar 2015. 200 Martin Mosebach, Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, München 2007, S. 117.

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Der Kirchenraum als Repräsentationsraum

Abb. 19: »Ich bin in Gottes Hand«, Kinderbereich in der Konzilsgedächtniskirche in Lainz.

der Aspekt des Zusammenkommens der Gemeinde auf Kosten der Konzentration auf das »Numinose«. Schon anhand des akustischen Effekts des in der Konzilsgedächtniskirche verlegten Teppichbodens lässt sich das nachvollziehen: Denn die Raumakustik wird durch den Teppichboden so gedämpft, dass der »sakrale« und im Sinne Mosebachs »schaudererregende« Nachhall nahezu verschwunden ist, der mit Kirchenbauten zu Recht assoziiert wird. Der Raum der Kirche St. Ignatius soll ein Raum des kommunikativen Austauschs sein, anstatt nur als autorisierender Resonanzraum des priesterlichen Wortes und der liturgischen Musik zu dienen.201 Ist also der nachkonziliare Kirchenbau ein Abbild der »offenen Gesellschaft«, der sich ostentativ von den autoritären Markierungen verabschiedet

201 Vgl. dazu die Überlegungen zu den »soundscapes« im Kirchenraum im fünften Kapitel.

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hat, die hier für den mittelalterlichen, frühneuzeitlichen und frühen modernen Kirchenbau herausgearbeitet worden sind? Und inwiefern artikulieren sich in ihm tatsächlich neue Repräsentationen des Sozialen? Fest steht wohl, dass sich die katholische Kirche in der Architektur und der Gemeindearbeit symbolisch geöffnet hat. Die Niederschwelligkeit der Raumangebote ist in der Lainzer Konzilsgedächtniskirche deutlich spürbar; die Freundlichkeit des Raums hat etwas Einladendes. Auch wenn hinter dieser neuen, betont einladenden Gestik die meisten traditionellen Strukturen der Institution Kirche intakt geblieben sind, ist hier doch ein spürbarer Schritt getan worden, um zumindest den Kirchenraum von seiner Funktion der Legitimation von Herrschaft zu entbinden. Dass kirchliche Neubauten nicht mehr auftrumpfen dürfen, ist freilich auch ein Ergebnis eines veränderten öffentlichen Diskurses: Die 2013/2014 erregt geführten Debatten in Deutschland um den unter Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst neu errichteten Limburger Bischofssitz 202 haben nochmals deutlich gemacht, dass – zumindest im deutschsprachigen Raum – die Zeiten einer glanzvollen Selbstrepräsentation der katholischen Kirche vorbei sind. Selbst ihre Traditionsbestände und Kunstschätze werden vielfach als Gemeingut wahrgenommen und bei denkmalpflegerischen Aufwendungen dementsprechend staatlich subventioniert.203 Dennoch steht auch hinter der neuen Bescheidenheit der Kirche nach wie vor eine starke ökonomische Potenz: Nach Angaben aus dem Jahr 2012 ist in Österreich das Vermögen der Mensalgüter der Bischöfe zur Zeit auf 417 Millionen Euro, das der Diözesen auf rund drei Milliarden Euro und das der Ordensgenossenschaften auf rund 1,1 Milliarden Euro zu beziffern.204

Umkämpfte Räume: Die Votivkirchenbesetzung 2012/13 Am Vormittag des 18. Dezember 2012 – dem Internationalen Tag der Rechte der Migranten – verlagerten rund 30 asylsuchende Flüchtlinge des Traiskirchener Flüchtlingslagers ihren öffentlichen Protest aus dem Wiener SigmundFreud-Park in die nahegelegene Votivkirche. »Wir haben keine Perspektive. Daher wollen wir die Votivkirche, diesen symbolträchtigen Ort, als Schutzraum nutzen« – so heißt es in einer der ersten Aussendungen der Flüchtlinge und ih-

202 Vgl. dazu Joachim Valentin (Hg.), Der »Fall« Tebartz-van Elst. Kirchenkrise unter dem Brennglas, Freiburg i. Br. 2014. 203 Vgl. dazu Carsten Frerk / Christoph Baumgarten, Gottes Werk und unser Beitrag. Kirchenfinanzierung in Österreich, Wien 2012, S. 171 – 192. 204 Vgl. Frerk / Baumgarten, Gottes Werk und unser Beitrag, S. 75.

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rer politischen UnterstützerInnen.205 Der zuständige Pfarrer der mit mehrsprachigen Gottesdiensten als »multikulturell« auftretenden Kirche Joseph Farrugia reagierte noch am gleichen Tag mit der Aufforderung, die Kirche zu räumen. Aus der vorübergehenden Reklamation eines kirchlichen »Schutzraums« wurde so eine regelrechte Besetzung, die bis in den März 2013 hinein andauerte. Die Votivkirche wurde in dieser Zeit nicht nur zum vorübergehenden Wohn- und Aufenthaltsraum einiger Dutzend Menschen, sondern auch zum umkämpften Ort und Kristallisationspunkt politischer Auseinandersetzungen: zwischen Asylsuchenden, politischen AktivistInnen und RepräsentantInnen, Kirche, Polizei und staatlichen Behörden. Die Ereignisse provozieren die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik, wie es im konkreten Raum der Votivkirche ausgehandelt wurde – nach rechtlichen und moralischen Grenzziehungen zwischen Kirche, Staat und Zivilgesellschaft, aber auch nach dem, was den in der zitierten Aussendung genannten »symbolträchtigen Ort« ausmacht. Welche Formen symbolischer Politik waren hier tatsächlich möglich? Und wie offen können kirchliche Räume in der Praxis sein? Damit werden noch einmal neue Aspekte des Kirchenraums als einem politischen Repräsentationsraum thematisiert, in dem symbolische Ordnungen des Sozialen auf dem Spiel stehen; einmal mehr wird deutlich, dass auch und gerade in Kirchenräumen die Frage ausgehandelt wird, wer zum Kollektiv dazugehört und wer nicht. Der Universalitätsanspruch der Kirche gerät hier in Konflikt mit hegemonialen politischen Ordnungsentwürfen und Grenzziehungen zwischen »uns« und »den anderen«. Friedrich Wilhelm Graf und Friedemann Voigt sprechen 2010 von der »konfliktreichen Rückkehr der Religionen in öffentliche Räume«.206 Mit Blick auf die Wiener Votivkirchenbesetzung ist aber auch von einer konfliktreichen Einkehr der Politik in kirchliche Räume zu sprechen. Nicht zuletzt dieses Beispiel macht die Notwendigkeit einer politischen Perspektive nicht nur auf Religion generell, sondern gerade auch auf sakrale Räume deutlich. Denn hier entscheidet sich, welchen Sonderstatus ein Kirchenraum beanspruchen und welches politische Potential er mobilisieren kann, wenn kirchliche Positionen im Widerspruch zu hegemonialen staatlichen Auffassungen stehen. Das Beispiel der Votivkirchenbesetzung des Winters 2012/13 verweist in diesem Sinne auf den gesamten, historisch bedeutsamen Themenkomplex des Kirchenasyls sowie der Kirche als Zufluchts- und Widerstandsort in demokratischen wie in totalitären Systemen. Im Zusammenhang dieser Untersuchung interessiert aber nicht die konkrete politische Geschichte des Kirchenasyls, sondern vielmehr die Frage,

205 www.erzdioezese-wien.at / site / nachrichtenmagazin / nachrichten / archiv / archive/30409.html (Zugriff am 25. Januar 2015). 206 Friedrich Wilhelm Graf / Friedemann Voigt, Transformationen der Religionsforschung. Zur Einleitung, in: Dies. (Hg.), Religion(en) deuten. Transformationen der Religionsforschung, Berlin / New York 2010, S. 1 – 8, hier S. 1.

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auf welcher Legitimitätsgrundlage es gerade kirchliche Räume sind, in denen zuweilen Flüchtlinge vor staatlichen Zugriffen geschützt werden und in denen auch Protest und politischer Widerstand artikuliert wird. Wie bestimmt sich also von hier aus das Verhältnis zwischen »sakralen« und »profanen« Zonen – und welche Vorstellung von Gemeinschaft und Kollektivität steht hinter der Idee des Kirchenasyls? In der »eigenartigen Institution des Kirchenasyls« sind nach Martin Scharfe »Reste alter Verflechtung von Kirche und öffentlichem Wesen [. . . ] zu erkennen«.207 Der Kirchenraum ist in diesem Fall kein funktional differenzierter Ort religiöser Praktiken, sondern er erhebt dezidiert den Anspruch darauf, ein öffentlicher und das »öffentliche Wesen« repräsentierender Raum zu sein. Dadurch, dass die Kirche in anderer und weiter reichender Weise persönlichen Schutz gewährt als der Staat, setzt sie eine von der staatlichen Praxis abweichende Idee von Gemeinschaft und Gesellschaft um: Die Proklamation des Kirchenraums als öffentlicher Raum, der auch Flüchtlingen und politisch Verfolgten offen steht, unterstreicht den universalistischen Anspruch der Kirche, die gesamte Menschheit zu adressieren und richtet sich auf der Basis dieses universalistischen Anspruchs ostentativ gegen die nationalstaatlichen Grenzziehungen der »profanen« Politik und Rechtsprechung. Ob und wie dieser Anspruch aber erhoben und durchgesetzt wird, ist eine Frage der konkreten Aushandlung vor Ort und der begleitenden Diskussionen in der medialen Öffentlichkeit. Der Fall der Votivkirchenbesetzung 2012/13 macht das exemplarisch deutlich; hier zeigt sich darüber hinaus, wie der Kirchenraum zum Brennpunkt politischer Debatten wird, die seine symbolische Funktion als religiöser Andachts- und Schutzraum mal mehr, mal weniger argumentativ ins Spiel bringen.208 In aller Kürze soll im Folgenden die Chronologie der Ereignisse nachgezeichnet werden: Ausgangspunkt der Votivkirchenbesetzung war ein Protestmarsch Asylsuchender aus Traiskirchen zum Wiener Asylgerichtshof; in der Folge wurde – noch am selben Tag – im Sigmund Freud-Park vor der Votivkirche das »Refugee Camp Vienna« eingerichtet. Flüchtlinge und andere ProtestteilnehmerInnen campierten hier für mehrere Wochen und formulierten Forderungen nach Verbesserung der Unterbringungsbedingungen und nach Durchsetzung der Menschenrechte in Österreich. Am 18. Dezember schließlich wechselten zahlreiche Flüchtlinge in das Innere der Votivkirche und forder-

207 Scharfe, Über die Religion, 135. 208 Wichtige Hinweise zu den folgenden Abschnitten verdanke ich einer im Rahmen der von mir geleiteten Lehrveranstaltung »Kirchen verstehen: Zur symbolischen Ordnung sakraler Räume« im Wintersemester 2012/13 am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien verfassten Seminararbeit von Toni Witzel unter dem Titel »Kirchenraum als Kirchenasyl – Asylgesuch in der Votivkirche in Wien«.

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ten von dort aus ein Gespräch mit Vertretern des Innenministeriums – eine Situation, die Pfarrer Farrugia seinerseits nicht im Sinne des Kirchenasyls, sondern als illegale Besetzung auffasste. Farrugia drohte mit polizeilicher Räumung der Kirche und forcierte die Trennung der Flüchtlinge von politischen AktivistInnen, die sie in die Kirche begleitet hatten. Mit seiner Reaktion berief sich Farrugia – wie es möglich gewesen wäre – nicht etwa auf ein kirchliches Recht im Gegensatz zum staatlichen, sondern handelte nach der Logik der herrschenden Politik und Jurisdiktion. Nachdem am 28. Dezember das Refugee Camp im Sigmund Freud-Park von der Polizei geräumt wurde, verlegten weitere Flüchtlinge ihren Protest in die Kirche: In den ersten drei Kapellennischen des linken Seitenschiffes wurde ein Matratzenlager eingerichtet; dort übernachteten in der Folgezeit 20 bis 25 Flüchtlinge – überwiegend junge Männer – und traten in den Hungerstreik. An den Säulen des Seitenschiffs wurden Transparente und handgeschriebene Plakate befestigt, mit Aufschriften wie »Refugees Welcome – No one is illegal«, »Are there any Human Rights« und »Jesus was an Asylumseeker too«.209 Insbesondere mit dem letztgenannten Satz wurde direkt Bezug genommen auf die biblische Weihnachtsgeschichte und die Herbergssuche in Betlehem sowie auf das christliche Motiv der »Barmherzigkeit« und »Nächstenliebe«. Bereits am Tag der Votivkirchenbesetzung postete das »Refugee Camp Vienna« in einer Presseaussendung: »Die Asylsuchenden, die eine Woche vor Weihnachten zu Herbergssuchenden werden, verstehen nicht, warum ihnen kein Schutz gewährt wird«. Pfarrer Gerald Gump, Leiter der Stadtpfarre Schwechat, ging auf dieses Motiv ein und wird in der Aussendung mit den Worten zitiert: Wir befinden uns in einer Zeit, in der die halbe Menschheit die Herbergssuche feiert und sie knüpfen dabei an eine gute, auch österreichische Tradition an. Es wäre höchst an der Zeit, dass sich Österreich selbst darin ernst nimmt und Menschen, die in großer Not sind, aufnimmt und Herberge gewährt. Doch ich fürchte, Jesus hätte bei uns heute auch keine Herberge gefunden.210

Der Politikwissenschaftler Matthias Morgenstern nimmt in seiner Untersuchung zum Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe sehr instruktiver Unterscheidungen vor, mit deren Hilfe auch der temporäre Aufenthalt der Flüchtlinge in der Votivkirche besser eingeordnet werden kann. Unter anderem betrachtet er die Funktion des Kirchenasyls in der politischen Ordnung und differenziert sie in drei Varianten: Kirchenasyl fungiere entweder als (1) Ausdruck gesellschaftlicher Aufgabenteilung, als (2) Zeichen religiöser Au-

209 Zu sehen etwa auf der Abbildung unter http://de.wikipedia.org/wiki/Refugee_Protest _ Camp _ Vienna (Zugriff am 25. Januar 2015). 210 http://www . ots . at / presseaussendung / OTS _ 20121218 _ OTS0256 / haette - jesus heute - herberge - bekommen - bild (Zugriff am 25. Januar 2015).

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tonomie oder (3) als Hilfs- und politische Protestaktion.211 Die letztere Form sei »charakteristisch für das 20. Jahrhundert« und vor allem in demokratischen Rechtsstaaten, »in der eingeschränkten Form der versteckten Hilfsaktion auch in nichtdemokratischen Systemen«.212 Weiter unterscheidet Morgenstern zwischen drei Formen der Durchsetzung des Asylanspruchs, was auf die Frage nach der Legitimität und Legitimierung der Asylvergabepraxis verweist: Erstens gebe es ein »transzendent begründetes religiöses Asyl, das von der Vorstellung ausgeht, dass es Orte mit einer spezifischen heiligen Sphäre gibt«. Zweitens verdanke sich das Kirchenasyl der »Stellung sakraler Institutionen gegenüber Staat und Gesellschaft. Die Kirche hat eine so starke Position gegenüber der politischen Ordnung, dass sie als autonomes Recht sakralen Schutz gewähren kann«. Und drittens »Für die Durchsetzung des Kirchenasyls ist dies insofern von Bedeutung, dass das Herausholen von Schutzsuchenden aus einem Kirchengebäude – auch heute noch – als eine in der Öffentlichkeit unpopuläre und schwer vermittelbare Maßnahme gilt, die insbesondere von gewählten Politikern gescheut wird. [. . . ] Grund dafür ist offensichtlich, dass sich Überreste antiker und mittelalterlicher Tabuvorstellungen weit über diese Epoche hinaus im Denken und der Vorstellung der Menschen bis in die Gegenwart erhalten haben. Durch die Funktion der öffentlichen Meinung in Kombination mit einer nach wie vor existierenden, kulturell geprägten Scheu vor der Anwendung von Gewalt in kirchlichen Gebäuden, ist sakraler Schutz auch ohne die Möglichkeit, bei seiner Missachtung Sanktionen zu verhängen, gegenüber behördlichem Eingreifen weitgehend sicher«.213 Deutlich wird dabei, dass die Funktion des Kirchenraums als Schutzraum nicht einfach gegeben ist, sondern durch verschiedene Strategien der Durchsetzung und Legitimierung erkämpft werden muss – ein Vorgang, der davon abhängig ist, inwieweit die konkreten Entscheidungsträger auf diese Strategien zurückgreifen. Pfarrer Joseph Farrugia hat in seiner Reaktion auf die Verlagerung des Flüchtlingsprotests darauf verzichtet, das symbolische Potential des Kirchenraums zu mobilisieren. Er hat weder die »religiöse Autonomie« in Anspruch genommen, noch die »Hilfs- und politische Protestaktion« unterstützt; weiter hat er weder das »transzendent begründete religiöse Asyl« eingeräumt, noch die »Stellung sakraler Institutionen gegenüber Staat und Gesellschaft« behauptet, die Matthias Morgenstern als mögliche Formen der Durchsetzung des Kirchenasylanspruchs nennt. Der bei Morgenstern behandelte dritte Punkt allerdings – die Dynamik der öffentlichen Meinung und der »kulturell geprägten

211 Matthias Morgenstern, Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung, aktuelle Situation, internationaler Vergleich, Wiesbaden 2003, S. 27 – 28. 212 Morgenstern, Kirchenasyl, S. 28. 213 Morgenstern, Kirchenasyl, S. 28 – 29.

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Scheu vor der Anwendung von Gewalt in kirchlichen Gebäuden« – scheint im Folgenden dazu beigetragen zu haben, dass das Kirchenasyl vorläufig nicht aufgehoben wurde. Hier wie andernorts war es »nicht eine irgendwie magische Wirkung des Kirchraums, die die Behörden vor dem Zugriff an diesem ›heiligen Ort‹ zurückschrecken« ließ, »sondern die Angst vor der gesellschaftlichen Wirkung eines solchen Vorgehens«.214 So blieben die meisten Flüchtlinge bis Anfang März in der Votivkirche – eine Geschichte mit drastischen Zwischenfällen: Anfang Januar werden vier Flüchtlinge, die sich kurzfristig außerhalb der Kirche aufhalten, von der Polizei aufgegriffen und in Schubhaft verbracht; Kardinal Schönborn, der die Flüchtlinge schon am Silvestertag in der Kirche besucht hatte, übt nun harte Kritik an den AktivistInnen, welche die »Not der Flüchtlinge in der Votivkirche für ihre Ideologie missbrauchen« würden.215 Anfang Februar halten sich etwa 60 Personen dauerhaft im Kirchenraum auf. Am 10. Februar »besetzt« eine Gruppe rechtsradikaler Aktivisten der »Identitären« für einige Stunden die Kirche, um gegen »Massenzuwanderung und Islamisierung« zu protestieren. Nach fortgesetzten Verhandlungen mit Erzdiözese und Caritas sowie der Festnahme weiterer Flüchtlinge übersiedeln die verbliebenen Flüchtlinge in das Servitenkloster im neunten Wiener Gemeindebezirk, das als Ausweichquartier zur Verfügung gestellt wird. In der Folge werden von der Wiener Polizei immer wieder Verhaftungen und auch Abschiebungen durchgeführt; am 31. Juli findet im Kloster eine Hausdurchsuchung statt. Am 22. September 2013 kommt es kurzfristig nochmals zu einer Besetzung der Votivkirche durch 25 Flüchtlinge aus dem Servitenkloster; diesmal bittet die Erzdiözese allerdings umgehend um polizeiliche Räumung. Von der Akademie der Bildenden Künste aus wird der Protest der Flüchtlinge Ende Oktober zeitweilig weiter fortgesetzt; mittlerweile sind die noch nicht abgeschobenen Flüchtlinge größtenteils in Privatquartieren untergekommen.216 Aus der Perspektive einer Untersuchung über sakrale Räume lässt sich festhalten, dass die Idee der »Sakralität« einer Kirche im Sinne eines unantastbaren Schutzraums hier einerseits insofern intakt blieb, als in der Kirche selbst tatsächlich kein polizeilicher Zugriff auf die Flüchtlinge erfolgte. Obwohl der Hausherr Farrugia diesen Zugriff zunächst gefordert hatte, konnte er sich gegen 214 David Geiss, Wenn die Kirche zum Wohnzimmer wird. Asyl in der Kirche, in: Arbeitsstelle Gottesdienst. Zeitschrift der Gemeinsamen Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen der Evangelischen Kirche in Deutschland 21 (2007), Heft 2, S. 87 – 89, hier S. 89. Der Autor verweist hier auch auf die bezeichnende Tatsache, dass in vielen Fällen »die Behörden lediglich vor dem Zugriff in christliche Kirchen zurückschreckten, nicht aber an ›heiligen Orten‹ anderer Religionen«. Ebd., S. 89. 215 http://religion .orf .at / stories / 2568987 (Zugriff am 15. Januar 2015). 216 Die Schilderung der Ereignisse und die wörtlichen Zitate folgen der ausführlichen bebilderten Chronik unter http://kurier.at/chronik/wien/asyl/besetzung-der-votivkirche - eine - chonologie / 27 .851 .430 / slideshow (Zugriff am 25. Januar 2015).

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Caritas und Erzdiözese nicht durchsetzen, die sich mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung für eine Duldung der Flüchtlinge in der Votivkirche einsetzten. So meinte der Wiener Bischofsvikar Dariusz Schutzki kurz nach der Räumung des »Vienna Refugee Camp« im Sigmund-Freud-Park: »Eine Räumung in der jetzigen Situation schließen wir aus«. Und der Direktor der Diakonie Österreich Michael Chalupka betonte: »Kirchen sind Zufluchtsorte und wir appellieren an die Politik, diese Schutzräume zu respektieren«.217 Damit beriefen sich Vertreter von Caritas, Diakonie und Kirche auf die universalistische Idee von Kirche als umfassende, auf Respektierung der Menschenrechte basierenden öffentlichen Institution – eine Reaktion, die notwendig schien, um die Glaubwürdigkeit dieser Institution zu behaupten. Außerhalb des Kirchenraums und nach der Übersiedlung in das Servitenkloster aber wurde der staatliche Zugriff sukzessive möglich: Die Flüchtlinge befanden sich nun nicht mehr im Kirchenraum selbst, sondern in lediglich der Kirche unterstellten Räumlichkeiten, in denen schließlich sogar eine Hausdurchsuchung möglich war. In einer schwer rekonstruierbaren Kette von Verhandlungen und Auseinandersetzungen wurde so letztlich ein Ergebnis erzielt, das mit der Abschiebung zahlreicher Flüchtlinge weitgehend der Durchsetzung der hegemonialen staatlichen Ordnung und der restriktiven Asylpolitik diente. Damit wurden in einer Art von praktisch wirksamer kirchlich-staatlicher Kompromisspolitik zwei unterschiedliche und im Grunde unvereinbare Konzeptionen von Kollektivität miteinander versöhnt: Die Idee des sakralen Raums als »Schutzraum« und der symbolisch auf die ganze Menschheit ausgerichtete Universalismus der Kirche blieben somit letztlich ebenso intakt wie die »öffentliche Ordnung« des nationalstaatlichen Partikularismus.

217 http://religion .orf .at / stories / 2564915 (Zugriff am 15. Januar 2015).

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4. DER KIRCHENRAUM ALS MEMORIALER RAUM POLITISCHE MYTHEN Gedächtnistheorie und Kirchenraum Das Christentum – so fassen es Christoph Markschies und Hubert Wolf in der Einleitung zum ihrem voluminösen Sammelband »Erinnerungsorte des Christentums« – ist »nicht anders denn als Erinnerungsreligion zu denken« und bildet insgesamt »nichts anderes als eine große Topographie von Erinnerungsorten«.1 Mit ihrer starken These erinnern Markschies und Wolf nicht nur daran, dass beispielsweise Jan Assmann sein Konzept des kollektiven Gedächtnisses anhand von antiken religionsgeschichtlichen Beispielen entwickelt hat, sondern sie zeigen vor allem, wie die christliche Religion in theologischer Theorie wie ritueller Praxis auf erinnerungskulturellen Vorgängen basiert: Gedächtnis ist ein theologischer Zentralbegriff [. . . ]. Erinnert werden in der Religion bestimmte Ereignisse einer als Heilsgeschichte gedeuteten Vergangenheit; Offenbarung besteht zunächst einmal in der Deutung bestimmter historischer Ereignisse als integralem Teil dieser Heilsgeschichte. Dabei werden historisch auf den ersten Blick beliebige und unter Umständen auch wenig bedeutsame Ereignisse der Vergangenheit als vermitteltes oder direktes Handeln Gottes interpretiert. Wer sich an diese Ereignisse erinnert, erfährt in der Erinnerung an das göttliche Handeln zugleich etwas über das Wesen Gottes.2

Abendmahl und Eucharistie bilden den fundamentalen liturgischen Erinnerungsakt des Gottesdienstes; in dieser Vergegenwärtigung der Leidens- und Erlösungsgeschichte hat dieser sein Zentrum.3 Aber auch der Wortgottesdienst ist genuine Erinnerungspraxis: Lesung und Auslegung der heiligen Geschichten und damit »rituelle Vergegenwärtigung von Wort, Werk und Person Jesu von Nazareth«.4 Fasst man die »Erinnerung an das göttliche Handeln« konsequent als soziales Geschehen, dann könnte man zugespitzt sagen, dass Erinnerungspolitik im Zentrum der christlichen rituellen Praxis steht. Das Christentum als »Gedächtnisgemeinschaft par excellence« 5 ist immer auch eine Agentur der Vergangen1 Christoph Markschies / Hubert Wolf, »Tut dies zu meinem Gedächtnis«. Das Christentum als Erinnerungsreligion, in: Dies. (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, S. 10 – 27, hier S. 11. 2 Markschies / Wolf, »Tut dies zu meinem Gedächtnis«, S. 15. 3 Etienne François, Kirchen, in: Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, S. 707 – 724, hier S. 707. 4 Markschies / Wolf, »Tut dies zu meinem Gedächtnis«, S. 17. 5 Markschies / Wolf, »Tut dies zu meinem Gedächtnis«, S. 15.

heitsdeutung und Ort der Produktion und Reproduktion von Geschichtsbildern. Kirchenbauten als die konkreten Räume dieser Gedächtnisgemeinschaft und als mediale »Erinnerungsorte« eigener Ordnung bieten sich in besonderer Weise an, um die erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Dimension religiöser Praktiken zu untersuchen. Etienne François hat in einem als Problemaufriss fungierenden Essay in diesem Sinne über Kirchen als Erinnerungsorte nachgedacht. Er trägt noch einmal die Elemente des Christentums als Erinnerungsreligion zusammen, so wie sie sich im Kirchenraum bündeln. So ist die Taufe im Baptisterium bzw. Taufbecken ebenso ein erinnerungskultureller Akt wie die Predigt von der Kanzel und das Wandlungsgeschehen am Altar.6 Über diese memoriale Funktion der Liturgie hinaus ist die Kirche aber auch, wie François hervorhebt, der Erinnerungsort einer Gemeinschaft. Ob es sich um eine einfache Dorfkirche handelt, in der sich an jedem Sonntag eine ganze Gemeinde zusammenfindet, um eine Kathedrale, die die Gläubigen einer ganzen Diözese um den Bischof versammelt, um eine Wallfahrtskirche, die Pilger aus weit entfernten Regionen zusammenführt, oder um eine Klosterkirche, in der Mönche und Nonnen mehrmals am Tag zusammenkommen – immer ist die Kirche mit einer spezifischen Gemeinschaft konstitutiv verbunden. Durch ihre Zentralität und Anziehungskraft trägt sie entscheidend dazu bei, diese Gemeinschaft als solche zu formieren, und gibt ihr Halt und Identität.7

Das Gleiche muss auch von den rites de passage gesagt werden, die im Kirchenraum stattfinden und die den Anspruch der christlichen Lebensführung »von der Wiege bis zur Bahre« abbilden: Taufe, Erstkommunion, Firmung, Trauung und Bestattung finden – als die konstitutiven Selbstverpflichtungsund Bestätigungsakte der Gemeindemitglieder – in aller Regel im Kirchenraum statt; sie stehen für die performative Repräsentation von Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und machen den sakralen Raum insofern auch zum zentralen Erinnerungsort der ebenso »privaten« wie kollektiven christlichen Biographie.8 Maurice Halbwachs ist der wohl wichtigste klassische Referenzautor für die Theorie des kollektiven Gedächtnisses.9 Mit seinen Untersuchungen hat Halbwachs gezeigt, dass Erinnerung wesentlich von Gruppen und »Erinnerungs-

6 François, Kirchen, S. 710 – 711. 7 François, Kirchen, S. 714. 8 Vgl. dazu aus vornehmlich theologischer Sicht Johannes Först / Joachim Kügler (Hg.), Die unbekannte Mehrheit. Mit Taufe, Trauung und Bestattung durchs Leben? Eine empirische Untersuchung zur »Kasualienfrömmigkeit« von KatholikInnen – Bericht und interdisziplinäre Auswertung (Werkstatt Theologie. Praxisorientierte Studien und Diskurse 6), 2. Auflage Berlin 2010. 9 Für einen Überblick über die Gedächtnis- und Erinnerungstheorie vgl. den Band

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gemeinschaften« getragen wird.10 Dabei betont er »besonders die Rolle der Familie, der Berufsgruppen und Konfessionen sowie die Funktion des intergenerationellen Gedächtnisses, den Austausch über Erinnerung, Vergangenheit und Tradition zwischen den Generationen. Dies verweist [. . . ] darauf, dass Erinnern an kommunikative Prozesse und Kontexte der Weitergabe [. . . ] gebunden ist«.11 Zugleich ist Maurice Halbwachs einer der Autoren, die mit Nachdruck gefordert haben, die materiellen und räumlichen Formen des gesellschaftlichen Lebens zu untersuchen, denn: »Keine Gesellschaft, die sich nicht auch in ihren räumlichen Umrissen zeigte, nicht eine Ausdehnung und materielle Unterlage hätte«.12 Halbwachs legt mit seinen Überlegungen eine erinnerungskulturelle Untersuchung von Räumen geradezu nahe: Wenn Erinnerung stets in »Erinnerungsgemeinschaften« eingelassen ist und wenn sich weiter soziale Kollektive anhand ihrer »räumlichen Umrisse« in den Blick nehmen lassen, dann sind auch Kirchenräume als Kristallisationskerne des Sozialen und als memoriale Räume zu lesen, in denen sich ein intergenerationelles Gedächtnis niederschlägt. Aleida Assmann weist in ihrer Untersuchung über »Erinnerungsräume« darauf hin, dass eine »unverbrüchliche Verbindung zwischen Gedächtnis und Raum« besteht, dass schon der Kern der antiken ars memorativa aus »›imagines‹, der Kodifizierung von Gedächtnisinhalten in prägnanten Bildformeln, und ›loci‹, der Zuordnung dieser Bilder zu spezifischen Orten eines strukturierten Raumes« bestand.13 Bilder, Orte und materielle Settings tragen also wesentlich dazu bei, Erinnerung zu formen und zu ordnen sowie soziale Identitäten zu befestigen: »Wie das Gedächtnis selbst betonen Orte und Dinge Kohärenz und Kontinuität im Wandel der Zeiten und liefern auf diese Weise gleichsam räumliche Abbilder derjenigen Integrationsleistungen, die für das Konzept personaler wie kollektiver Identität konstitutiv sind«.14 Auf die antike Erinnerungstheorie greifen auch Alban Janson und Florian Tigges in ihren »Grundbegriffen der Architektur« zurück, wenn sie die memoriale Funktion von Architektur beschreiben: »Da wir Handlungen und Geschehnisse an Orte und Räume knüpfen und im Gedächtnis verankern, etwa so wie die antike Mnemotechnik verfährt, können wir sie beim erneuten Durchlaufen zu späteren Zeiten wieder aus der Erinnerung abrufen und lebendig

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von Christian Gudehus / Ariane Eichenberg / Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010. Vgl. sein Hauptwerk Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985 (frz. Erstausgabe 1925). Stephan Moebius, Kultur. 2. Auflage Bielefeld 2010, S. 72. Halbwachs, Soziale Morphologie, S. 23. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 158. Steffen Diefenbach, Römische Erinnerungsräume. Heiligenmemoria und kollektive Identitäten im Rom des 3. bis 5. Jahrhunderts n. Chr., Berlin u. a. 2007, S. 20.

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werden lassen oder auch Veränderungen registrieren«. Biographische und historische Reminiszenzen und Relationierungen greifen daher insbesondere auf Architekturen zurück: »Architektur und Stadt als kollektives Gedächtnis unterstützen durch ihre Permanenz und Beständigkeit [. . . ] die Erinnerung, geben unserer Wahrnehmung zeitliche Tiefe und bieten damit Gelegenheit zum Dialog mit der Geschichte«.15 Wenn also Gebäude, städtebauliche Strukturen und Plätze als Medien von Erinnerung gelten,16 dann liegt das nicht nur an ihrer symbolischen Funktion als bewusst gesetzte Monumente, sondern auch an der räumlichen Faktur der ganz alltäglichen Erinnerungspraktiken. Der gebaute Raum ist insofern ein Erinnerungsmedium sui generis, als er nahezu immer aus einer anderen Zeit stammt und diese in der Gegenwart repräsentiert: Architektur stellt »Gleichzeitigkeiten von ungleichzeitigen Vergangenheiten« vor Augen und lässt so »Zeit gleichsam sichtbar werden«.17 Die Stabilität des gebauten und umbauten Raums konfrontiert uns mit vielschichtigen Stabilitäten der Geschichte und dient auch als Stoff autobiographischen und kollektiven Erinnerns; die konservierte Bausubstanz wird so vielfach – wenn auch unbewusst – zum »konservativen« Medium. Was es kontextabhängig bedeutet, dass wir uns in unserem täglichen Handeln in architektonischen und städtebaulichen Gehäusen bewegen, die aus anderen Zeiten stammen, diese Frage ist noch lange nicht ausreichend untersucht. Der gebaute Raum stabilisiert das Soziale auch deshalb, weil er eine fundamentale intersubjektive Erinnerungsfunktion erfüllt; Halbwachs versteht ihn als den »sozialen Kitt, der die Mitglieder einer sozialen Gruppe miteinander verbindet«, weil Räume soziale Beziehungen abbilden und selbst dann noch in der Erinnerung präsent bleiben, wenn diese Beziehungen nicht mehr unmittelbar bestehen: Denn selbst wenn diese [die Mitglieder einer sozialen Gruppe] in alle Richtungen versprengt sind und sich auf neue Umgebungen einstellen müssen, bleiben sie nach Halbwachs dennoch miteinander verbunden, weil sie an ihr spezielles Haus mit den verschiedenen Zimmern und der entsprechenden Möblierung denken, in dem sie einst gemeinsam wohnten.18

15 Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 86. 16 Vgl. dazu den anregenden Tagungsband Hans-Rudolf Meier / Marion Wohlleben / Brigitt Sigel (Red.), Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege (Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der ETH Zürich 21), Zürich 2000. 17 Harald Tausch, Architektur, in: Christian Gudehus / Ariane Eichenberg / Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 156 – 164, hier S. 156. 18 Schröer, Materielle Formen des Sozialen, S. 27.

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Halbwachs selbst hat diese Überlegung am Beispiel der monastischen Gemeinschaft von Port Royal erläutert: »Als man die Herren und Nonnen von Port Royal zerstreute, war damit nichts getan, solange man nicht die Gebäude der Abtei dem Erdboden gleichgemacht hatte und nicht diejenigen dahingeschieden waren, die sie in Erinnerung behielten«.19 Der Soziologe Hans-Georg Soeffner hat in diesem Sinne in seinem Buch »Gesellschaft ohne Baldachin« eine gedächtnistheoretische Annäherung an den Kirchenraum versucht. Für Soeffner sind Kirchen zentrale Momente des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft, sie sind »steinerne Statthalter des Außeralltäglichen«, in denen sich »die darin symbolisierten Geschichte(n) und Erfahrungsgeschichte(n) häuslich gemacht« haben.20 Die in der Erinnerungskulturtheorie geläufigen Unterscheidungen von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis einerseits und Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis andererseits sind zunächst durchaus hilfreich, um die mit Kirchenräumen verbundenen Erinnerungspraktiken idealtypisch zu sortieren. Dabei zeigt sich aber schnell, dass diese Sortierung in einem allgemeinen Themenaufriss nur bedingt möglich ist, denn welche Modi von Erinnerung hier vorliegen, hängt von den konkreten historischen Kontexten und den konkreten Praktiken ab, die in den Blick kommen. So lassen sich etwa die oben genannten religiös gerahmten rites de passage oder auch Gedenkfeiern im Kirchenraum als Beispiele für das »Funktionsgedächtnis« verstehen, dessen Merkmale »Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung« 21 sind und deren unterschiedliche Gebrauchsformen der »Legitimation, Delegitimation und Distinktion« 22 hier – je nach Kontext – mit im Spiel sind. Grablegen mittelalterlicher Bischöfe im Kirchenraum hingegen gehören eher dem »Speichergedächtnis« an, »das in sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat«.23 Aber auch hier differiert die Gedächtnisform je nach dem sozialen Gebrauch der Erinnerungszeichen: So kann eine mittelalterliche Grablege durchaus zum Teil eines wertgebundenen und zukunftsorientierten Identitätsnarrativs werden, wenn sie dementsprechend im Diskurs thematisiert wird. In diesem Sinne hat schon Halbwachs die »Umwandlung in Sinn« beschrieben, die mit dem Eingang von Personen und Ereignissen ins Speichermedium des kollektiven Gedächtnisses einhergeht: »Jede Persönlichkeit und jedes historische Faktum wird schon bei seinem Eintritt in dieses

19 Zit. nach Schröer, Materielle Formen des Sozialen, S. 27. 20 Hans-Georg Soeffner, Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Weilerswist 2000, S. 143. 21 Assmann, Erinnerungsräume, S. 134. 22 Vgl. dazu Assmann, Erinnerungsräume, S. 23 Assmann, Erinnerungsräume, S. 134.

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Gedächtnis in eine Lehre, einen Begriff, ein Symbol transponiert; es erhält einen Sinn, es wird zu einem Element des Ideensystems einer Gesellschaft«.24 In dieser Problematik zeigt sich auch die Unschärfe der Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis: Während die Kategorie des kommunikativen Gedächtnisses darauf verweist, dass Erinnerungen »temporäre Konstruktionen« sind, »die erheblich vom Kontext ihres Abrufs geprägt sind« und deshalb »in Kommunikation ge- und verformt, geprägt und verändert werden«,25 ist das kulturelle Gedächtnis »als intentionale, äußerst organisierte und größtenteils institutionalisierte mnemonische Manifestation« definiert.26 Im rituell und alltagspraktisch genutzten Kirchenraum kommt beides zusammen, insofern die institutionalisierte mnemonische Manifestation immer kommunikativ verhandelt wird. In diesem Sinne sind Kirchenräume als verdichtete Orte von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis, sie sind Speicher- und Funktionsmedien, über die ausgehandelt wird, was in einer Gesellschaft und in spezifischen sozialen Gruppen für wichtig erachtet wird. Somit stabilisieren Kirchenräume kulturelle Ordnungen, indem sie sie nicht nur – wie alle architektonischen Strukturen das tendenziell tun – materiell auf Dauer stellen, sondern indem sie auch den entsprechenden Gedächtnisspeicher und memorialen Handlungsraum bilden, in dem bestimmte Glaubens- und Wissensbestände rituell immer wieder reproduziert werden.

Die Struktur des politischen Mythos Die erinnerungskulturellen Zeichen des Kirchenraums und die an diesen Raum gebundenen »Erinnerungsorte« des Christentums lassen sich aus der Perspektive einer politischen Kulturgeschichte als Elemente politischer Mythen par excellence lesen. Diese Interpretation wird in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels durchdekliniert werden, weshalb zunächst einige theoretische Präliminarien zum Konzept des politischen Mythos notwendig sind. Dabei sollen nicht nur die Grundbausteine und die Struktur politischer Mythen erläutert werden, sondern es wird auch der Frage nachgegangen, inwiefern alle politischen Mythen einen religiösen oder religioiden Kern besitzen. Umgekehrt stellt sich hier, im Sinne der einleitend skizzierten Engführungen zwischen Religion

24 Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 389 – 390. 25 Gerald Echterhoff, Das kommunikative Gedächtnis, in: Christian Gudehus / Ariane Eichenberg / Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 102 – 108, hier S. 102. 26 Daniel Levy, Das kulturelle Gedächtnis, in: Christian Gudehus / Ariane Eichenberg / Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 93 – 101, hier S. 93.

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und Politik, auch die Frage nach dem politischen Kern aller religiös formulierten Mythen – wobei immer zu berücksichtigen ist, dass »das Wort politisch [. . . ] natürlich in einem tieferen Sinne als Ensemble der menschlichen Verhältnisse in ihrer realen gesellschaftlichen Struktur zu verstehen« ist,27 wie es Roland Barthes einmal formuliert hat. In diesem Sinne verstanden, stellt die Analyse politischer Mythen einen zentralen Beitrag zum Verständnis des »Produktionssystem[s] der religiösen Ideologie« dar – nämlich zu der »ideologischen Alchimie« dar, über die sich nach Bourdieu »die Verklärung der gesellschaftlichen Verhältnisse in übernatürliche, also in der Natur der Dinge verankerte und somit gerechtfertigte Verhältnisse vollzieht«.28 Wichtige Beiträge zur Theorie der politischen Mythen hat in den letzten Jahren insbesondere der Politikwissenschaftler Yves Bizeul vorgelegt.29 Bezeichnenderweise greift Bizeul in seinen definitorischen Eingrenzungen zunächst auf klassische Arbeiten zur religiösen Mythologie von Ernst Cassirer und Mircea Eliade zurück, um dann die in den politischen Mythos eingelassene Ursprungsidee zu charakterisieren: Der politische Mythos unterscheidet sich insofern von den archaischen Schöpfungsmythen, als er nicht vom Ursprung allen Seins kündet. Er zeugt aber vom Ursprung einer politischen Ära und / oder eines abgegrenzten politischen Raums [. . . ]. Oft werden herausragende einzelne Persönlichkeiten und Heroen mit dieser creatio ex nihilo, die zugleich auch eine creatio continua ist, in Verbindung gesetzt. [. . . ] Auch numinose Kräfte sind im politischen Mythos meistens mit im Spiel. Es wird gern von schicksalhaften Momenten, Herausforderungen, Fügungen, Zufällen bzw. Dezisionen berichtet, die zu einem bestimmten Kairos, zu einem bestimmten fruchtbaren Augenblick, geschahen oder getroffen wurden.30

In diesem Sinne weisen politische Mythen für Bizeul »eine klare sakrale Dimension« auf: »Sie sind von einer Mystik getragen und erzeugen so die für das Sakrale typischen, sich gegenseitig ergänzenden Gefühle des ehrfürchtigen Erschauerns (mysterium tremendum) und des seligen Schauderns (mysterium

27 Roland Barthes, Der Mythos heute, in: Ders., Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe, Berlin 2010, S. 249 – 316, hier S. 295. 28 Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, S. 37 – 38. 29 Vgl. u. a. Yves Bizeul, Theorie der politischen Mythen und Rituale, in: Ders. (Hg.), Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen, Berlin 2000, S. 15 – 39; Ders., Politische Mythen, in: Heidi Hein-Kircher / Hans-Hanning Hahn (Hg.), Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa, Marburg 2006, S. 3 – 14; Ders., Politische Mythen, Ideologien und Utopien: Ein Definitionsversuch, in: Peter Tepe u. a. (Hg.), Mythos No. 2. Politische Mythen, Würzburg 2006, S. 10 – 29. 30 Bizeul, Politische Mythen, S. 4.

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fascinosum)«.31 Politische Mythen sind damit Paradebeispiele für eine »sakralisierte Politik«, die über rational nachvollziehbare Argumente hinaus auf den »diffuse support« setzen, der nach David Easton – im Unterschied zum »specific support« des rationalen Diskurses – auf politischem Glauben basiert. Für die Stabilität politischer Systeme ist gerade dieser »diffuse support« durch Vorstellungen, Ideologien, Utopien, Mythen, Inszenierungen und Rituale von besonderer Bedeutung.32 Denn hier, in der Transformation politischer Ideen in symbolische Formen, entscheidet sich ein wesentlicher Teil der sozialen Effektivität von Politik. Wie lässt sich – über den Verweis auf die »numinose« und »sakrale« Dimension hinaus – die Struktur des politischen Mythos bestimmen? Heidi HeinKircher hat in ihrem instruktiven Typologisierungsversuch den politischen Mythos als eine »emotional aufgeladene Narration« definiert, die bestimmte historische Sachverhalte »mythisch liest«, also die Wirklichkeit nicht den Tatsachen gemäß, sondern in einer selektiven und stereotypisierenden Weise interpretiert und ihr auf diese Weise einen Schein von Historizität gibt. [. . . ] Damit werden diese Sachverhalte so interpretiert, dass andere von der mythischen Narration vernachlässigt oder »übersehen« werden. Dies führt zur Glorifizierung dieses Ereignisses oder dieser Leistung, so dass man einen Mythos als eine Leistungsschau bzw. als Erzählung über eine Meisterleistung verstehen kann.33

Zentral für die Struktur des Mythos ist mithin der Umgang der mythischen Narration mit Geschichte, was schon Claude Lévi-Strauss deutlich macht, wenn er dem Mythos in seiner »Strukturalen Anthropologie« eine »doppelte Struktur, historisch und ahistorisch zugleich«,34 zuschreibt. Der politische Mythos verweist also einerseits auf mehr oder weniger konkrete Geschehnisse in der Vergangenheit und bezieht sich somit auf Geschichte, andererseits wird diese Geschichte eben nicht als eine konkrete, dynamische und komplexe Folge von Ereignissen repräsentiert, sondern auf ein »mythisches« Geschehen von schicksalhafter Notwendigkeit reduziert. In diesem Geschehen bildet sich der »ewige Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen« ab; 35 die mythische Erzählung ist dementsprechend strukuriert nach dem Schema von Sieg und Nie-

31 Bizeul, Politische Mythen, S. 5. 32 Vgl. die Argumentation in Bizeul, Politische Mythen, Ideologien und Utopien, S. 10. 33 Heidi Hein-Kircher, Überlegungen zu einer Typologisierung von politischen Mythen aus historiographischer Sicht – ein Versuch, in: Dies./Hans-Henning Hahn (Hg.), Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa, Marburg 2006, S. 407 – 424, hier S. 408. 34 Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt am Main 1967, S. 230. 35 Bizeul, Theorie der politischen Mythen und Rituale, S. 17.

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derlage. Dem liegt nicht nur eine Operation der Vereinfachung zugrunde, sondern vor allem wird der Geschichte ihre Kontingenz genommen – die Idee, dass alles auch ganz anders hätte kommen können. Nach der Logik des politischen Mythos hätte es eben nicht auch anders kommen können: Diese Verschiebung konstituiert den apodiktischen und statuarischen Charakter der Erzählung. Im mythischen Denken verschwindet das Bewusstsein dafür, dass die politischen Verhältnisse das Produkt ständiger Aushandlungsprozesse sind – in eben diesem Sinne ist die mythische Berufung auf Geschichte zugleich fundamental ahistorisch. Der von Roland Barthes erstmals 1957 vorgelegte Versuch einer Strukturanalyse des Mythos ist immer noch nützlich, um diese Doppelfigur der Historisierung / Enthistorisierung zu verstehen.36 Barthes zufolge ist der Mythos ein »semiologisches System«, in dem die mythische Bedeutung durch eine spezifische »Entwendung« der Sprache konstituiert wird. Wenn in der einfachen Objektsprache ein Signifikant und ein Signifikat zu einem Zeichen zusammengebunden werden, dann fungiert im Mythos dieses Zeichen wiederum als ein Signifikant, der auf ein Signifikat verweist.37 Es entsteht auf diese Weise ein metasprachliches Zeichen, das die Kontingenz der Bedeutungsproduktion auf der Ebene der Objektsprache verschleiert. Barthes erläutert diesen Mechanismus unter anderem am Beispiel einer Abbildung aus der Zeitschrift »ParisMatch«, auf der ein Soldat schwarzer Hautfarbe in französischer Uniform den militärischen Gruß ausführt. Dieser »objektsprachliche« Sinn des Bildes wird dadurch »entwendet«, dass sich die mythische Bedeutung in den Vordergrund schiebt: »Ob naiv oder nicht, ich sehe wohl, was es mir bedeutet: daß Frankreich ein großes Imperium ist, daß seine Söhne, ungeachtet der Hautfarbe, treu unter seiner Fahne dienen und daß es keine bessere Antwort auf die Gegner eines angeblichen Kolonialismus gibt als den Eifer, mit dem dieser Schwarze seinen angeblichen Unterdrückern dient«.38 Dieses »bewußt hergestellte Gemisch aus Franzosentum und Soldatentum« bildet die ideologische Botschaft des Bildes, die durch die »Präsenz des Signifikats durch den Signifikanten« in ihrer Wirkung enorm verstärkt wird.39 Im Bild wird die französische Kolonialgeschichte mit ihren Auseinandersetzungen und Konfliktlinien ebenso zum Verschwinden gebracht wie die konkrete Geschichte der abgebildeten Person, die in der mythischen Formulierung der Abbildung zum schlagenden »Beweis« einer harmonischen Beziehung zwischen Kolonialmacht und Kolonie wird und die nichts anderes mehr verkörpert als diesen Beweis. Sie wirkt nun wie »ein magisches Objekt, das vor mir auftaucht ohne irgendeine Spur der Geschichte, die

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Barthes, Der Mythos heute. Vgl. das Schema in Barthes, Der Mythos heute, S. 259. Barthes, Der Mythos heute, S. 260 – 261. Barthes, Der Mythos heute, S. 261.

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es hervorgebracht hat«.40 Der Mythos ist daher nicht nur »entwendete Sprache«, sondern auch »entpolitisierte Rede«,41 die Geschichte gleichsam in Natur verwandelt: »Ein Zaubertrick hat das Reale umgestülpt, hat es von Geschichte entleert und mit Natur gefüllt«.42 Im Hinblick auf die kulturwissenschaftliche Untersuchung katholischer Kirchenräume ist bisher hinlänglich deutlich geworden, dass in diese Räume überaus zahlreiche politische Mythen eingeschrieben sind. In einem gewissen Sinne könnte sogar gesagt werden, dass in einer katholischen – wie auch einer protestantischen – Kirche kaum ein Ausstattungsgegenstand und kaum eine Bildfläche frei bleibt von politischen Mythen im Sinne einer glorifizierenden »Leistungsschau« der Kirche und einer historisierenden »Meistererzählung«. In Raumgrundrissen und Bauformen, an Fassaden und plastischem Schmuck, auf Kirchenfenstern und Altarbildern, auf Gedenktafeln und Inschriften finden sich bedeutungsvolle Verknüpfungen von Heilsgeschichte und profaner Geschichte, von »geistlichen« und »weltlichen« Angelegenheiten. Die von Barthes formulierte semiologische Theorie des Mythos – gerade im Sinne von »Mythen des Alltags« – kann dabei helfen, die »ideologische Alchimie« religiöser Darstellungen und Wirklichkeitsdeutungen ganz generell zu untersuchen. Denn die religiöse Interpretation der sozialen Welt arbeitet quasi unablässig mit dem von Barthes genannten »Zaubertrick«, der das (politische) Reale »umstülpt«, in eine apolitische heilsgeschichtliche »Natur der Dinge« verwandelt und mit der Illusion von Präsenz ausstattet. Dass Barthes bei seinem semiologischen Ansatz nicht nur im engeren Sinne sprachliche Aussagen in den Blick nimmt, sondern damit auch ein instruktives Konzept zur Bildanalyse vorlegt, unterstreicht die Relevanz einer Perspektive auf politische Mythen im architektur- und bildrhetorischen Kirchenraum zusätzlich. Bei alledem kann schon die bloße Verknüpfung oder Überblendung von Heilsgeschichte und politischer Geschichte strukturell als »Mythomoteur« verstanden werden, insofern sie handlungsleitende Bedeutungen in Gang setzt.43 Diese Bedeutungen können – darauf hat auch Bizeul hingewiesen – durchaus ambivalent sein, »denn der Mythos trägt nicht nur zur Bewahrung einer gesellschaftlichen Ordnung bei, sondern kann auch emanzipatorische Kräfte mobilisieren und Orientierung für die Gegenwart stiften«. Der Mythos »kristallisiert in sich die bedeutendsten Werte, Normen und Glaubensinhalte einer Gruppe und verankert sie bei den Angehörigen einer Gemeinschaft. Außerdem strukturiert er die Wirklichkeit, indem er sie vereinfacht und ein kollektives Ko-

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Barthes, Der Mythos heute, S. 272. Barthes, Der Mythos heute, S. 294. Barthes, Der Mythos heute, S. 295. Zur »Mythomotorik« vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 78 – 86.

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ordinatensystem erzeugt«.44 Gleichzeitig aber hat er in bestimmten Situationen und Konstellationen das Potential, auch revolutionäre Bedeutungen zu generieren, was Jan Assmann mit seiner Gegenüberstellung von »kalter« und »heißer« Erinnerung bzw. »fundierender« und »kontrapräsentischer« Funktion von Erinnerungskultur deutlich macht.45 So kann etwa Lucas Cranachs d.J. Darstellung der Reformatoren im »Weinberg des Herrn« von 1569 in der Wittenberger Stadtkirche – je nach konfessionellem Standpunkt – einerseits als fundierender Mythos im Sinne eines Verweises auf die »gottgefällige« soziale Ordnung gelesen werden, andererseits als kontrapräsentischer Mythos, der sich polemisch und »revolutionär« gegen die Misswirtschaft der katholischen Kirche und ihrer Vertreter richtet.46 Die Ambivalenz politischer Mythen ist damit abhängig von den politischen Kontexten, in denen sie in Umlauf gebracht werden, und von den Praktiken des Kodierens und Dekodierens,47 die ohne historisch-ethnographische Untersuchungen nicht oder nur schemenhaft erschlossen werden können.

Politische Mythen im Kirchenraum: Von der Karlskirche zur Votivkirche Es gibt in Wien und Österreich keine zweite Kirchenfassade, welche die habsburgische politische Mythologie des 18. Jahrhunderts so eindrucksvoll und apodiktisch ins Bild setzt wie die Karlskirche Johann Bernhard Fischer von Erlachs. Die Grundzüge ihres im Sinne der »Pietas Austriaca« formulierten Bild- und Architekturprogramms sind hier bereits im zweiten Kapitel kurz skizziert worden: Die Kuppel enthält explizite wie implizite Verweise auf St. Peter in Rom und die Hagia Sophia in Konstantinopel, die Säulen zitieren und assoziieren die römischen Kaisersäulen ebenso wie die Säulen des Herakles bei Gibraltar und osmanische Minarette. Hans Sedlmayr hat diese Verweise in seinen kunsthistorischen Arbeiten zur Karlskirche schon in den 1950er Jahren detailliert aufgeschlüsselt und gezeigt, wie das vom Hofhistoriographen des Kaisers Carl Gustav Heraeus – unter Beteiligung von Gottfried Wilhelm Leibniz – erstellte ikonographische Programm der Fassade die habsburgische Reichsidee und den damit verbundenen Herrschaftsanspruch formuliert und in Szene setzt.48 Dabei sind es gerade die Überblendungen von Religion und Politik, die die Fassade 44 Bizeul, Politische Mythen, S. 7. 45 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 78 – 86. 46 Vgl. Albrecht Steinwachs, Der Weinberg des Herrn. Epitaph für Paul Eber von Lucas Cranach d.J., Spröda 2001. 47 Vgl. dazu noch immer Stuart Hall, Encoding / Decoding, in: Ders. u. a. (Hg.), Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies 1972 – 79, London u. a. 1980, S. 128 – 138. 48 Sedlmayr, Die Schauseite der Karlskirche in Wien.

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auszeichnen und ihre »politische Ikonologie« ausmachen.49 Im Anschluss an Sedlmayr fasst Friedrich Achleitner zusammen: Es ging um die symbolische Verschmelzung der Reichsidee mit der katholischen Kirche, wobei Karl der Große den politisch-historischen Bezugspunkt und der Heilige Karl Borromäus den kirchlich-religiösen bildete. Nach dem Fall von Byzanz und den Türkenkriegen begann sich Wien als Nachfolgerin der oströmischen Metropole zu verstehen. Die Ikonographie entwickelt sich also im Bezugsfeld von Rom, Byzanz, Karl dem Großen, Karl V. (in dessen Reich die Sonne nicht unterging) und dem Heiligen Karl Borromäus, die hier um die Figur des Bauherren, also Karl VI. auratisch versammelt werden.50

Inszeniert die Ikonographie der Karlskirchenfassade die religiöse – und durch das Aufgreifen der Ikonographie der »Türkenkriege« auch die militärische – Basis der Herrschaft, so ist die Funktion des gesamten Kirchenbaus als Votivkirche für die Logik sakralisierter Politik noch entscheidender: Denn die Kirche entstand als Gelöbniskirche – aufgrund eines Gelübdes nach dem Ende der Pestepidemie des Jahres 1713. Damit erheben das Kaiserhaus und allen voran Karl VI. persönlich den Anspruch, unter göttlichem Schutz zu stehen. Funktionieren Votivgaben allgemein nach dem Muster des Gabentauschs, eines »Do-ut-des« in der Beziehung zwischen Gott und den Menschen,51 so haben sie doch stets auch eine öffentliche Komponente: Sie bezeugen öffentlich einen Akt der »Anheimstellung« 52 und proklamieren so einen imaginären Verpflichtungszusammenhang: Die Monarchie steht unter göttlichem Schutz und hat daher ihrerseits die katholische Kirche als die Vertreterin der Schutzmacht ins symbolische Zentrum ihres politischen Handelns zu stellen. Auf diese Weise erscheint die Allianz zwischen Staatswesen und Kirche nicht als beliebige politische Option, sondern als notwendiger und »schicksalhaft« beglaubigter Zusammenhang. Während die Karlskirche als Brennspiegel der habsburgischen politischen Mythologie des frühen 18. Jahrhunderts gelesen werden kann, ist die Votivkirche – schon von ihrer Funktion als »Denkmalskirche« her – als ein Raum zu verstehen, in dem sich das Selbstverständnis des staatsnahen politischen Katholizismus in Österreich im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des

49 Zu den Verfahrensweisen einer politischen Ikonologie der Architektur vgl. Klaus von Beyme, Politische Ikonologie der modernen Architektur, in: Hermann Hipp / Ernst Seidl (Hg.), Architektur als politische Kultur, Berlin 1996, S. 19 – 34. 50 Friedrich Achleitner, Wien und die Postmoderne, in: Jürgen Nautz / Richard Vahrenkamp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Wien / Köln / Graz 1993, S. 578 – 587, hier S. 578. 51 Scharfe, Über die Religion, S. 151. 52 Scharfe, Über die Religion, S. 152.

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Abb. 20: St. Karl Borromäus am Karlsplatz, Fassade.

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20. Jahrhunderts verdichtet. Im kirchen- und politikgeschichtlichen Überblick des zweiten Kapitels ist hier bereits kurz auf den historischen Kontext des Baus und seine Rolle als »geistliches Reichsheiligtum« eingegangen worden; im Folgenden soll anhand des nach der Zerstörung 1945 erneuerten Bildprogramms der Glasfenster der Kirche gezeigt werden, inwiefern hier zentrale politische Mythen eines »katholischen Österreich« nach 1945 präsentiert werden.53 Dabei fällt auf, dass das Bildprogramm dieser Fenster weniger auf die klassischen Szenen der Heilsgeschichte rekurriert, sondern vielmehr in erstaunlicher Offenheit konkrete historische und sogar zeitgeschichtliche Themen aufgreift. Die meisten Motive, welche die Glasfenster der 1870er Jahre gezeigt hatten, sind nach 1945 nicht rekonstruiert worden; die Fenster zeigen heute – mit Ausnahme des sogenannten »Kaiserfensters«, von dem gleich die Rede sein wird – neue Szenen, nehmen aber mit Nachdruck das alte Programm einer Apotheose des österreichischen Katholizismus auf. Beim Gang durch das nördliche Seitenschiff passiert man zunächst drei Kapellen, deren Fenster die Geschichte dreier marianischer Gnadenbilder und der zugehörigen österreichischen Wallfahrtsorte Absam, Maria Pötsch und Mariazell erzählen. Daran anschließend erinnert ein Guadelupe-Altar an die äußerst unglückliche Karriere Ferdinand Maximilians als Kaiser von Mexiko, auf einer Inschrift wird der 1867 ermordete Erzherzog »der Fürsprache Mariens von der Pfarrgemeinde ganz innig empfohlen«. Es folgt das Querhaus mit der Bischofskapelle, in welcher der erste Propst der Kirche, Godfried Marschall, bestattet ist. Die Fenster zeigen vier Bischöfe in ihrer Beziehung zu Österreich: den heiligen Ambrosius von Mailand, den heiligen Altmann, Enea Silvio Piccolomini und den heiligen Klemens Maria Hofbauer als Stadtpatron von Wien.54 Die nördliche Querschiffkapelle wird aber beherrscht vom Kaiserfenster, das – wie gesagt – als einziges der alten Fenster nach den Originalzeichnungen wiederhergestellt worden ist. Es nimmt direkt Bezug auf das Attentat vom 18. Februar 1853 und formuliert eine zentrale Aussage des Kirchenbaus als »Dankeskirche«: Kaiser Franz Joseph wird von einem feuerspeienden Ungeheuer angegriffen, das von den Heiligen Michael und Joseph abgewehrt wird. Neben dem in Dankeshaltung vor einer Mariengruppe knienden Kaiser Franz Joseph steht der heilige Franz von Assisi, womit hier beide Namenspatrone des Kaisers – Franz und Joseph – versammelt sind. Im Maßwerk ist mehrfach das Wappen der Stadt Wien zu erkennen – das Kaiserfenster war eine Stiftung der Stadt und wurde 1964 auch auf Kosten der Stadt wiederhergestellt. Geradezu erstaunlich ist hier die drastische heilsgeschichtliche Deutung des Ereignisses von 1853, die den Attentäter Libényi implizit zu einem Komplizen des Teufels erklärt. Die doppelte Attacke auf die 53 Die folgende Analyse folgt in Teilen einer bereits publizierten Studie: vgl. Wietschorke, Nationale Selbstheiligung und politische Kultur, S. 64 – 67. 54 Vgl. Joseph Farrugia, Votivkirche in Wien, Ried im Innkreis 1990, S. 28 – 29.

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Abb. 21: »Kaiserfenster« im nördlichen Querschiff der Votivkirche.

habsburgische Politik – im erweiterten Sinne lässt sich die Darstellung auch als Kommentar zur Revolution von 1848 lesen – wird entpolitisiert und in die Sphäre des absolut Bösen gerückt. Was Werner Telesko über den politischen Einsatz des damals äußerst beliebten Bildgenres der »Beweinung Christi« schreibt, gilt daher besonders für das Kaiserfenster: »Das ursprünglich heilsgeschichtliche Motiv erfuhr [. . . ] eine radikale Verzeitlichung«.55 Mehr noch: Gerade die Doppelstruktur von Historisierung der Heilsgeschichte und Enthistorisierung der Revolution konstituiert den ideologischen Sinngehalt dieser Darstellung und ihren Bezug zur politischen Mythologie der Monarchie. Während das Kaiserfenster sozusagen das habsburgisch-monarchistische Programm des Kirchenbaus von 1879 repräsentiert, finden wir auf der gegenüberliegenden Seite – am südlichen Querschiffenster – neuere Darstellungen, die das karitative Sozialprogramm der Kirche und das christlichsoziale Weltbild glorifizieren. Im Mittelpunkt des Fensters stehen zwei Heilige – Severin und Martin –, die in ihren guten Werken (Gefangene befreien, Nackte bekleiden) auf die christliche Caritas verweisen. Darunter findet sich eine Darstellung mit mehreren zentralen Figuren des Sozialkatholizismus in Österreich: Rechter Hand ist Kaiser Karl I. zu sehen, wie er Ignaz Seipel zum Sozialminister ernennt. Links davon berät der Österreicher P. Albert Maria Weiß Papst Leo XIII. bei der Abfassung seiner Enzyklika »Rerum Novarum« 1891 und damit der großen programmatischen Auseinandersetzung der Amtskirche mit der sozialen Frage. Die Nationalratsabgeordnete Hildegard Burjan – erste Abgeordnete der Ersten Republik – ist in einer Gruppe zusammen mit den Arbeiterseelsorgern P. Anton Maria Schwartz und Rudolf Eichhorn zu sehen, in ihrer Mitte

55 Telesko, Das 19. Jahrhundert, S. 79.

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der als »Gesellenvater« ikonisierte Kardinal Anton Gruscha.56 Dieses Figurenprogramm an dieser Stelle verherrlicht geradezu die katholische Sozialreform und damit das politische Programm der christlichsozialen Partei.57 Neu sind die Abkehr von monarchistischen Motiven und die Bezugnahme auf die parlamentarische Demokratie, das alte nationale Narrativ der »Austria Sancta« wird aber in modernisierter und angepasster Form fortgeschrieben. Als Bezugspunkt dient die katholische Soziallehre und deren Adaption durch Christlichsoziale wie Karl von Vogelsang, der die Lösung der sozialen Frage in der (Neu-)Konzeption einer ständischen Ordnung sah,58 oder später Ignaz Seipel, der Politik immer auch als »Nachfolge Christi« verstanden wissen wollte.59 Die vier Fenster der östlich anschließenden Taufkapelle nehmen ebenfalls Bezug auf die Idee der christlichen Caritas und erzählen die Geschichte österreichischer Missionare, die während ihrer Missionstätigkeit in Indien, China, Afrika und Amerika ums Leben kamen.60 Herausgegriffen sei das sogenannte Amerikafenster, das vier Szenen aus der Arbeit des steirischen Paters Johannes Ruthay und des Tiroler Jesuiten Anton Sepp von Rechegg zeigt: Oben eine Darstellung, wie Ruthay einem amerikanischen Einheimischen die Branntweinflasche vom Mund nimmt, unten bringt Sepp den »Indianern« das Schmieden bei. Die zweite Szene von unten zeigt Anton Sepp mit der Geige in der Hand – ins Bild gesetzt wird hier die »Kulturnation Österreich«, kombiniert mit der Idee einer Zivilisierungsmission durch Kunst und Musik.61 Abschließend wird auch auf den gewaltsamen Tod des Missionars Ruthay angespielt: Ein »Indianer« ist dabei zu sehen, wie er das Gift einer Schlange in einen Becher gibt, um Ruthay den tödlichen Trank zu verabreichen. Jutta Toelle hat in einer neuen soundgeschichtlichen Studie das Narrativ »Mission durch Musik« untersucht, das hier mit Anton Sepps Geigenspiel zitiert wird. Sie identifiziert in Darstellungen und Erzählungen dieser Art ein autonomes, frühneuzeitlich gebundenes, bis heute beliebtes, eurozentrisches Narrativ von Klanggeschichte. Grundsätzlich verwebt das Narrativ »Mission

56 Vgl. Doris Fahrngruber, Die Votivkirche als Gedächtnisort, Diplomarbeit Universität Wien 2012, S. 110 – 112; Farrugia, Votivkirche in Wien, S. 32. 57 Zur politischen Hagiographie allgemein vgl. Korff, Politischer »Heiligenkult« im 19. und 20. Jahrhundert. 58 Vgl. Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik, S. 303. 59 Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik, S. 315. 60 Fahrngruber, Die Votivkirche als Gedächtnisort, S. 106 – 109; Farrugia, Votivkirche in Wien, S. 26 – 27. 61 Erich Thanner charakterisiert die Szene zurückhaltend als »Betreuung«: »Pater Anton Sepp von Rechegg betreut, geigenspielend, Indianer«. Erich Thanner, Heiligtum der Völker des Donauraums, in: Ein Jahrhundert Votivkirche 1879 – 1979, Wien 1979, S. 13 – 17, hier S. 17.

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durch Musik« Musik und Klänge mit historischen Sachverhalten, Missions- und Kolonialgeschichte sowie Ethnographie, Exotismuskonstruktionen, einer Diskussion um Zivilisation und Barbarei sowie zeitgenössischen Ideen der Wirkmächtigkeit von Musik.62

Nicht von ungefähr ist es hier die Violine als Symbol österreichischer Musikkultur, die zugleich als zivilisatorisches Emblem in Stellung gebracht wird. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war dieser Rekurs auf die »Kulturnation« besonders ausgeprägt und diente auch als Mittel der Distanzierung vom Nationalsozialismus, wie es der Autor, Kritiker und Dozent an der Wiener Katholischen Akademie Viktor Suchy in einer Vorankündigung des Konzerts der Wiener Philharmoniker am 27. April 1945 vorführte: Aus tausend Wunden blutet diese Stadt. Aus Millionen Augen fließen Tränen des Leids und der Bitterkeit über unsere von der braunen Pest bis zuletzt noch so schwer heimgesuchte Stadt. [. . . ] Sie konnten uns auch in siebenjähriger Unterdrückung eines nicht rauben, die österreichische Seele, die in unserer geliebten Musik Gestalt geworden ist.63

Gleichsam en passant erscheint also auch im geschichtstheologischen Setting der Votivkirche das Narrativ von der nicht zuletzt durch die musikalische Tradition konstituierten »Kulturnation«. Die Deutung des Todes der dargestellten Missionare als christliches Martyrium für den Glauben wird von vier weiteren plastischen Darstellungen in der Taufkapelle gestützt: nämlich Figuren der heiligen Märtyrer Katharina, Barbara, Laurentius und Stephanus – auch hier also wird – wie schon im »Kaiserfenster« – die biblische und hagiographische Überlieferung herangezogen, um historische Personen im Bild zu sakralisieren. Protagonisten der österreichischen Geschichte werden in die »Visualisierung der gesamten Heilsgeschichte« 64 eingebunden, wie sie das Bildprogramm der Kirche zeigt. Im Zusammenhang mit diesem Märtyrer-Narrativ ist das 1968 von der ÖVP gestiftete Mauthausen-Fenster am südlichen Seitenschiff von besonderem Interesse. Das Fenster zeigt die »Todesstiege« des Konzentrationslagers Mauthausen, einige Häftlinge und einen prügelnden SS-Aufseher. Oben ist der kreuztragende Christus zu sehen, links unten ein Mann mit segnender Geste, der als der 62 Jutta Toelle, »Da indessen die Mohren den Psalm Lobet den Herrn alle Heiden! abgesungen«. Musik und Klang im Kontext der Mission im México der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie 22 (2014), S. 334 – 349. 63 Zit. nach Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2010, Neuausgabe Innsbruck / Wien 2011, S. 244. Zum speziellen Narrativ der »Musikstadt Wien« vgl. außerdem Martina Nußbaumer, Musikstadt Wien. Die Konstruktion eines Images, Freiburg i. Br. 2007. 64 Telesko, Kulturraum Österreich, S. 93.

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Wiener Kaplan Heinrich Maier identifiziert worden ist.65 Maier, der 1945 im Wiener Landesgericht enthauptet wurde und dabei ausgerufen haben soll: »Es lebe Christus, der König! Es lebe Österreich!«,66 erscheint hier als Seelsorger und nimmt damit das Caritasmotiv der oben besprochenen Fenster auf. Die Gestaltung dieses Fensters steht möglicherweise im direkten Zusammenhang der Einrichtung der Gedenkstätte in Mauthausen, das 1970 eröffnet wurde.67 Nach Propst Pichler, der das Mauthausen-Thema in das überarbeitete Konzept einer österreichischen »Ehrenhalle« einfügen wollte, dokumentiert es den »Kampf gegen die Treue zu Österreich«, der auch ein »Kampf gegen die katholische Kirche« gewesen sei.68 Gerade im Rahmen einer österreichischen »Ruhmeshalle« oder »Ehrenhalle« ist die Darstellung doppelt problematisch: Zum einen stützt sie – vermittelt über das Passsionsmotiv – die Opferthese eines vom deutschen Nationalsozialismus unterworfenen Staats Österreich, wozu auch die Darstellung des die Hakenkreuzfahne zerreißenden Kriegsdienstverweigerers Franz Jägerstätter im rechten Fenster der Kreuzkapelle beiträgt. Mauthausen erschien entsprechend dieser Opferthese als ein reines Produkt der deutschen »Fremdherrschaft« und damit als »unösterreichisch« und »landfremd«, wie es in zeitgenössischen Medienberichten hieß.69 Damit wurde die Beteiligung von ÖsterreicherInnen an den Verbrechen in Mauthausen pauschal und systematisch ausgeblendet. Zum anderen drückt sich darin eine einseitige Christianisierung und Katholisierung des Mauthausen-Gedenkens aus: Erinnert wird nur an die katholischen Inhaftierten und die »unter schwierigsten Umständen geübte Seelsorge im KZ«,70 ausgeschlossen bleiben die im Lager ermordeten Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Euthanasieopfer sowie die Widerständler aus dem linken Lager. Auf der Grundlage des christlichen Märtyrergedankens wird eine einseitige Geschichte Mauthausens geschrieben, in der die Opfer der rassistisch und antisemitisch begründeten NS-Vernichtungspolitik keinen Platz haben. Die Deutung Mauthausens als »Kalvarienberg Europas« wird als genui-

65 Vgl. Karl Klambauer, Jesus im KZ. Das »Mauthausen-Fenster« in der Wiener Votivkirche: Von der Opferthese der Zweiten Republik zur Katholisierung des KZ-Gedenkens, in: Die Presse, 26. April 2008, online verfügbar unter: http://diepresse.com/ home / spectrum / zeichenderzeit / 379761 / Jesus - im - KZ (Zugriff am 5. Februar 2015). 66 Klambauer, Jesus im KZ. 67 Fahrngruber, Die Votivkirche als Gedächtnisort, S. 115. 68 Zit. nach Fahrngruber, Die Votivkirche als Gedächtnisort, S. 115. 69 Zit. nach Bertrand Perz / Heidemarie Uhl, Gedächtnis-Orte im »Kampf um die Erinnerung«. Gedenkstätten für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges und für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, in: Emil Brix / Ernst Bruckmüller / Hannes Stekl (Hg.), Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten, Wien 2004, S. 545 – 579, hier S. 570. 70 So Propst Pichler in seinem Kommentar zu den neuen »Figural-Fenstern«, zit. nach Fahrngruber, S. 116.

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nes Produkt eines »katholisch-konservativen Geschichtsnarrativs nach 1945« 71 kenntlich und stützt so einen der zentralen politischen Mythen des konservativen Spektrums in Österreich.

Geister des Raums: Die Politik der Toten In seinem 1997 in der Zeitschrift »Theory and Society« erschienenen Beitrag »The ghosts of place« hat der US-amerikanische Soziologe Michael Mayerfeld Bell eine originelle Perspektive auf die Präsenz der Vergangenheit im Raum entwickelt. Ausgehend von Erving Goffmans Beobachtung »that Westerners regard the individual as sacred«, schreibt Mayerfeld Bell: We approach particular spaces with the ritual distance of a shrine because we treat them as we do persons. We sense in both spirits – ghosts, within. The experience of place is the experience of people, and for us, nothing could be more holy. [. . . ] We do so because we experience objects and places socially; we experience them as we do people. Through ghosts, we re-encounter the aura of social life in the aura of place.72

So merkwürdig diese These – als soziologische Generalthese – zunächst klingt, so sehr liefert sie doch einen Schlüssel zum Prozess der Sakralisierung von Kirchenräumen.73 Denn hier sind es insbesondere »Geister des Raums«, welche die Heiligkeit oder – allgemeiner gesprochen – die Spezifik des Raums ausmachen und welche das räumliche Handeln mitbestimmen. Reliquien und Bilder sind hier als Erinnerungsstücke konzipiert und positioniert, welche die Gegenwart der Toten und damit der Heilsgeschichte plausibel machen sollen; Epitaphien und Gedenktafeln nehmen verstorbene Gemeindemitglieder in diesen sakralen Erinnerungsraum mit hinein. Im Folgenden soll in Umrissen nachgezeichnet werden, was man als die »Politik der Toten« in Kirchenräumen bezeichnen könnte: Wie wird religiöse Gemeinschaft als sozialer und politische Zusammenhang stark gemacht? Welche politischen Mythen artikulieren sich hier? Und was bedeutet das Totengedenken im Kirchenraum, aber auch außerhalb, auf den kirchennah eingerichteten Friedhöfen, für die religiöse Praxis? Ein zentraler Ausgangspunkt der »Politik der Toten« im katholischen Kirchenraum liegt im Umgang mit Heiligenreliquien. Zunächst war die Reliquienverehrung strikt an die Existenz eines Grabes gebunden: Über den Grabstätten

71 Klambauer, Jesus im KZ. 72 Michael Mayerfeld Bell, The ghosts of place, in: Theory and Society 26 (1997), S. 813 – 836, hier S. 821. 73 Für eine raumsoziologische Umsetzung der Argumentation von Mayerfeld Bell vgl. Löw, Raum – Die topologischen Dimensionen von Kultur, S. 53 – 55.

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der frühchristlichen Märtyrer entstanden Kirchen, denen die Verstorbenen als Patrone zugeordnet wurden; das Heilige Abendmahl als die »zentrale kultische Handlung einer jeden Gemeinde« wurde seit Anfang des 3. Jahrhunderts über den Gräbern der Heiligen gefeiert.74 Nach Arnold Angenendt war Bischof Ambrosius von Mailand im 4. Jahrhundert der erste, der ein Märtyrergrab öffnen ließ und die Gebeine des Heiligen in eine städtische Kirche übertrug. Dieser Vorgang war alles andere als gewöhnlich: »Er mußte dabei gleich zwei Sakralschranken durchbrechen: die in der römischen Welt immer gebotene Unverletzlichkeit des Grabes wie zugleich das Verbot einer Bestattung innerhalb der Stadt«.75 Damit aber war erstmals eine religionshistorisch äußerst bedeutsame Verbindung zwischen Reliquien und Kirchenraum hergestellt: Die Überreste der Heiligen wurden in Form von Reliquiengräbern zum festen Bestandteil des Altars. Die Reliquien wurden also seit dem frühen Mittelalter mobil: Man begann, Reliquien im Rahmen feierlicher Prozessionen in die Stadtkirchen zu übertragen und unter dem Altar beizusetzen; nach den Bestimmungen des Konzils von Nicäa 787 wurde es dann sogar obligatorisch, dass jeder Altar ein solches Reliquiengrab enthalten muss.76 Die Suche nach bedeutenden Reliquien und ihre Authentifizierung wurden in der Folge zu einem Politikum, über das sich Gemeinden, Bischofssitze und Wallfahrtsorte in Konkurrenz zueinander auszuzeichnen versuchten. Reliquien wurden zum symbolischen Kapital von Orten und Räumen sowie zum Zentrum zahlreicher privater und öffentlicher Frömmigkeitspraktiken.77 Nach hochmittelalterlichem Verständnis bedeuteten die sterblichen Überreste eines Heiligen die Person des Heiligen selber, und »wer dem Heiligen begegnen wollte, mußte [. . . ] zu seinem Leib gehen, zum Grab. [. . . ] Der Heilige wirkte hier mit seiner ganzen Persönlichkeit. Seinen Reliquien, die ihn verkörperten, gebührte darum auch eine persönliche Verehrung«.78 Von den Gebeinen eines Heiligen – aber auch von Tüchern, die auf seinem Grab gelegen hatten oder die ihn sogar selbst berührt hatten – ging

74 Karl-Heinz Kohl, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003, S. 46. 75 Arnold Angenendt, Der Kult der Reliquien, in: Anton Legner (Hg.), Reliquien. Verehrung und Verklärung. Skizzen und Noten zur Thematik und Katalog zur Ausstellung der Kölner Sammlung Louis Peters im Schnütgen-Museum, Köln 1989, S. 9 – 24, hier S. 10. 76 Vgl. Kohl, Die Macht der Dinge, S. 46 – 47; Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 366. Ausführlicher dazu: Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 167 – 182. 77 Vgl. dazu die detaillierte Studie von Gedefridus J.C. Snoek, Medieval Piety from Relics to the Eucharist: A Process of Mutual Interaction, Leiden 1995. 78 Angenendt, Der Kult der Reliquien, S. 16.

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ein »himmlisches Heilsangebot« 79 aus; die Nähe zu den Reliquien bedeutete daher eine unmittelbare Heilsmöglichkeit. In diesem Zusammenhang entstand auch die Idee des Patronats im Sinne einer »geographischen« Zuständigkeit bestimmter Heiliger. »Um eine Kurzformel zu gebrauchen: Gott beherrscht die Welt, und Christus ist der ›salvator mundi‹; die Heiligen aber wachen über die einzelnen Orte, wo sie jeweils als ›patrones loci‹ fungieren«.80 Ebenso erhielten sukzessive auch einzelne Kirchen ihren eigenen Patron; über Reliquien wurden Patrozinien übertragen und begründet.81 Auf diese Weise bestimmten die Reliquien und die im Zusammenhang mit ihnen tradierten Heiligenviten die Geographie der sakralen Orte ebenso mit wie sie im Kircheninneren für die autoritative sakrale Aufladung bestimmter Raumteile – vor allem des Altars – sorgten. Thomas Erne hat anhand der Marburger Elisabethkirche gezeigt, wie sich in der Art und Weise, Heiligenreliquien und Bilder im Kirchenraum zu positionieren, machtpolitische Interessen spiegeln können. So wurde der Elisabethschrein im Mittelalter nicht etwa im repräsentativen Zentrum des Sakralraums, sondern in der Sakristei postiert, um schließlich 1539 im Auftrag des protestantischen Landgrafen Philipp von Hessen entfernt zu werden. Ohne die Gebeine kam der Schrein kurze Zeit später wieder zurück. Der die Kirche betreuende Deutsche Orden hatte über 250 Jahre hinweg daran gearbeitet, die Überreste der heiligen Elisabeth dem Zugriff der Gläubigen zu entziehen – ein Prozess der »Hermetisierung der materiellen Heilsgüter und deren Substitution durch visuelle Repräsentationen« mit dem Ziel einer zunehmenden »Kontrolle der individuellen ›Gebrauchsmöglichkeiten‹ der Heiligen durch den Deutschen Orden«.82 Im Spannungsfeld der politischen Interessen zwischen Deutschem Orden und den Landgrafen, deren Grablege sich in der Elisabethkirche befindet, dann zwischen Katholizismus und Protestantismus, wurde die Heilige mit ihren Reliquien zum Regulativ, über das die Nutzung des Kirchenraums und – vermittelt darüber – die politischen Repräsentationen der Zeit beeinflusst wurden. Thomas Erne vermutet hier, dass »die Armutsheilige mit ihrer geradezu exzessiven Barmherzigkeit nicht ins Profil eines an Macht und der ›Ausbildung eines souveränen Territoriums‹ interessierten Ritterordens passen« dürfte. »Und die

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Angenendt, Der Kult der Reliquien, S. 16. Angenendt, Heilige und Reliquien, S. 128. Vgl. Angenendt, Heilige und Reliquien, S. 203 – 206. Thomas Erne, Die Elisabethkirche in Marburg – Gotik religionspraktisch, in: Ders. (Hg.), Kirchenbau (Grundwissen Christentum Band 4), Göttingen 2012, S. 136 – 149, hier S. 142 – 144. Ernes Darstellung stützt sich an dieser Stelle wesentlich auf Andreas Köstler, Die Ausstattung der Marburger Elisabethkirche. Zur Ästhetisierung des Kultraums im Mittelalter, Berlin 1995.

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Heilige war die Ahnfrau und heilige Mutter der hessischen Landgrafen, mit denen der Orden um Macht und Einfluss in der Region konkurrierte«.83 Solche Prozesse belegen, wie in Mittelalter und Früher Neuzeit symbolische Politik betrieben wurde, indem bestimmte Heiligenreliquien im Kirchenraum platziert und präsentiert, zur Verehrung bereitgehalten oder der Verehrung entzogen wurden. Reliquien waren indessen nicht nur Vehikel zur Heiligung von Räumen und zur Steuerung und Regulierung von Zugänglichkeiten und religiösen Praktiken allgemein, sondern dienten in Mittelalter und Früher Neuzeit auch als eine zwischen den europäischen Herrscherhäusern flottierende »Währung politischer Geltung«.84 Schon für Karl IV. war eine repräsentative Heiligenreliquiensammlung – neben den Reichskleinodien – eine »vorrangige Legitimationsinstanz seines theokratischen Herrschaftsverständnisses«, und zahlreiche Herrscher folgten ihm in dieser Praxis symbolischer Machtpolitik.85 Der Erwerb von Reliquien wurde vielfach als »Staatsaktion« inszeniert und setzten vielerorts einen »politischen Kult« in Gang.86 Patrick Geary hat schon vor geraumer Zeit Aspekte der Zirkulation von Reliquien im mittelalterlichen Europa nachgezeichnet und die sakralen Heilsgüter als spezifische »Waren« interpretiert, die nach der Logik von Gabe und Gegengabe, aber auch nach der Logik käuflicher Statussymbole im Umlauf waren.87 Hier lösten sich die Reliquien aus ihrer Bindung an den Kirchenraum und wurden zu Insignien sakralisierter weltlicher Herrschaft. Diese untrennbare Doppelfunktion als sakrales und weltliches Repräsentationsobjekt macht deutlich, dass nicht nur die »Grenze zwischen der theologisch erlaubten Verehrung (veneratio) der Heiligen und der Anbetung (adoratio) und magischen Instrumentalisierung ihrer Reliquien und Bilder stets fließend« war,88 sondern sich auch die Grenze zwischen religiöser Verehrung und Herrscherverehrung, zwischen religiösen und politischen Ritualen im Medium der sakralisierten Objekte fließend gestaltete. Beispiele wie die dem heiligen Stephanus zugeschriebene Stephanskrone, die zugleich Kontak-

83 Erne, Die Elisabethkirche in Marburg, S. 140. Eine ebenfalls auf Marburg bezogene Fallstudie zum politischen Konfliktpotential von Kirchenarchitektur bietet: Matthias Müller, Die Marburger Pfarrkirche St. Marien. Eine Stadtkirche und ihre Architektur als Ort politischer Auseinandersetzungen, Marburg 1993. 84 Laube, Von der Reliquie zum Ding, S. 145. 85 Laube, Von der Reliquie zum Ding, S. 145 – 146. 86 Laube, Von der Reliquie zum Ding, S. 147. 87 Vgl. Patrick Geary, Sacred Commodities: The circulation of medieval relics, in: Arjun Appadurai (Hg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, S. 169 – 191. 88 Barbara Stollberg-Rilinger, Macht und Dinge, in: Stefanie Samida / Manfred K.H. Eggert / Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch materielle Kultur. Bedeutungen, Kontexte, Disziplinen, Stuttgart 2014, S. 85 – 88, hier S. 87.

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treliquie und zentrales Symbol der ungarischen Königsmacht war,89 sind hier besonders einleuchtend; im Grunde aber gilt von allen Dingen: »Vom Repräsentationsobjekt zum sakralen Objekt ist es nur ein kleiner Schritt«.90 Neben dem Komplex der Reliqiuenaufbewahrung und -verehrung bildet die Totenmemoria den zweiten wichtigen Aspekt der »Politik der Toten« im Kirchenraum. Für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit ist das fürstliche, adlige und bürgerliche Totengedenken ein gut untersuchtes Forschungsfeld.91 Otto Gerhard Oexle ist in seiner einschlägigen Studie »Memoria als Kultur« auf die spezifische, aktive Rolle eingegangen, die den Toten nach christlicher Praxis im gesellschaftlichen Gefüge zugewiesen wurde. Oexle spricht von einer »Gegenwart der Toten«,92 die zusammenhängt mit einer Vorstellung »vom Toten als einer Person mit rechtlichem und sozialem Status, die in vertraglichen Bindungen mit dem Leben steht«.93 Der Tod galt als ein Zwischenzustand, der bis zum Tag des Jüngsten Gerichts andauerte. Bis dahin war es möglich, durch Spenden, Stiftungen, Gebete und Fürbitten für die Verstorbenen einzutreten. Dieser »Glaube an die Wirksamkeit einer Fürsprache für die Verstorbenen« förderte die »Produktion von Gedächtnismedien: Von den schriftlichen Aufzeichnungen der geistlichen Gemeinschaften, die die Namen derjenigen enthielten, für deren Seelenheil sie beten sollten, über Bildnisse der Stifter, Grabdenkmäler und verschiedene Formen sakraler Kunst bis hin zu ganzen Kirchenbauten«.94 89 Stollberg-Rilinger, Macht und Dinge, S. 86. 90 Stollberg-Rilinger, Macht und Dinge, S. 87. Zu den sakralen Dingen allgemein vgl. das Standardwerk von Kohl, Die Macht der Dinge. 91 Vgl. aus der Fülle der Spezialuntersuchungen folgende Monographien und Sammelbände: Karl Schmid / Joachim Wollasch (Hg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter (Münstersche Mittelalter-Schriften 48), München 1984; Otto Gerhard Oexle (Hg.), Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max Planck-Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1995; Werner Rösener (Hg.), Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Formen der Erinnerung 8), Göttingen 2000; Mark Hengerer (Hg.), Macht und Memoria. Begräbniskultur europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit, Köln 2005; Carolin Behrmann / Arne Karsten / Philipp Zitzlsperger (Hg.), Grab Kultur Memoria. Studien zur gesellschaftlichen Funktion von Erinnerung, Köln / Weimar / Wien 2007; Patrick Schmidt, Wandelbare Traditionen – tradierter Wandel. Zünftische Erinnerungskulturen in der Frühen Neuzeit (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 36), Köln / Weimar / Wien 2009; Michael Borgolte, Stiftung und Memoria, herausgegeben von Tilmann Lohse, Berlin 2012. 92 Otto Gerhard Oexle, Die Gegenwart der Toten, in: Herman Braet / Werner Verbeke (Hg.), Death in the Middle Ages, Leuwen 1983, S. 19 – 77. 93 Otto Gerhard Oexle, Memoria als Kultur, in: Ders. (Hg.), Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max Planck-Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1995, S. 9 – 78, hier S. 55. 94 Schmidt, Wandelbare Traditionen – tradierter Wandel, S. 75.

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Dabei war es ein zentraler Aspekt der »sakrale[n] Feingeographie des Kirchenraums«,95 wer an welcher Stelle und in welcher Nähe zum Altar und den Heilsgütern bestattet werden durfte. Will Coster hat an einem Fallbeispiel aus Chester nicht nur gezeigt, wie über diese »geography of church burial« 96 soziale Beziehungen und auch Geschlechterbeziehungen über den Tod hinaus verhandelt, sondern auch, wie in solchen Raumpraktiken auch in den protestantischen Kirchen ältere Vorstellungen vom »heiligen« Raum und der Heiligung durch den Raum aufrechterhalten wurden.97 Fragen von sozialem Prestige und Kostenfragen griffen hier ineinander: »Burials cost money and the place of burial played a large part in determining this cost«.98 Patrick Geary hat die mittelalterliche Idee einer integralen Gemeinschaft der Lebenden und der Toten in die prägnante Formel eines »Living with the Dead« gefasst.99 Und Mireille Othenin-Girard hat in einer Studie zum Motiv der Toten als »Helfer« und »Gespenster« gezeigt, dass es sogar recht konkrete Ideen von einem »Tauschhandel mit den Lebenden« gegeben hat.100 Die Dankbarkeit der Toten für die Fürbitten und »geistlichen Wohltaten« bestand gewissen mittelalterlichen Vorstellungen zufolge in Gegenleistungen bis hin zu »tatkräftige[r] Waffenhilfe für ihre bedrängten Wohltäter«.101 Dieses »Konzept solidarischer Heilserwirkung« hatte »gravierende Konsequenzen für den Kreislauf materieller Güter«; 102 die Ökonomie der Mess- und Seelgerätstiftungen erhielt von solchen – freilich eher seltenen – Vorstellungen ihre Notwendigkeit im Sinne eines intergenerationellen »Gabentauschs« über den Tod hinaus. Die weitaus bekannteste Begräbnisstätte in einem Wiener Kirchenbau ist die sogenannte Kaiser- oder Kapuzinergruft in der Kapuzinerkirche zur Hl. Maria von den Engeln am Neuen Markt.103 Die 1618 von Kaiserin Anna gestiftete Kirche war von Beginn an als Begräbnisort der Habsburger bestimmt – dass ein einfaches Kloster als Platz für die kaiserliche Familiengruft bestimmt wurde, lässt sich im Sinne einer Strategie der Selbstnobilitierung durch religiöse

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Scharfe, Über Religion, S. 99. Coster, A microcosm of community, S. 133. Coster, A microcosm of Community, S. 127. Coster, A microcosm of community, S. 130. Patrick J. Geary, Living with the Dead in the Middle Ages, Ithaca 1994. Mireille Othenin-Girard, »Helfer« und »Gespenster«. Die Toten und der Tauschhandel mit den Lebenden, in: Bernhard Jussen / Craig Koslofsky (Hg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400 – 1600. Göttingen 1999, S. 159 – 191. 101 Othenin-Girard, »Helfer« und »Gespenster«, S. 160. 102 Othenin-Girard, »Helfer« und »Gespenster«, S. 176. 103 Vgl. dazu Wolfgang J. Bandion, Die Kaisergruft. Triumph der Vergänglichkeit, Wien 1990; Magdalena Hawlik-van de Water, Die Kapuzinergruft. Begräbnisstätte der Habsburger in Wien, Wien 1993.

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humilitas – also ostentative Demut – lesen. Dabei war für die Kapuzinerkirche mit ihrer überaus reich ausgestatteten Gnadenkapelle eine päpstliche Sondererlaubnis bemüht worden, da die Bestimmungen für Kirchenbauten dieses Ordens nur schlichte einschiffige Bauten mit angebauter Beichtkapelle vorsahen.104 Kaiserin Anna hatte der Kapuzinerkirche bei deren Gründung eine Reihe herausragender Reliquien in kostbaren Behältnissen überlassen, die dort als »Glaubensvehikel wie als Unterpfand für ein besseres Jenseits« fungierten.105 Das Muster der »Bestattung bei den Heiligen« wurde hier also – in Umgehung der allgemeinen Bestimmungen für die den Franziskanern zugehörigen Kapuzinerklöster – für die Grablege der kaiserlichen Familie genutzt, um deren heilsgeschichtliches Selbstverständnis zu unterstreichen. Bei seinem WienBesuch 1782 zelebrierte Papst Pius VI. in der Gnaden- oder Kaiserkapelle, in der sich auch Holzstatuen diverser habsburgischer Kaiser befinden. In der Gruft selbst »fanden über 140 Mitglieder aus dem Hause Österreich ihre letzte Ruhe. Darunter 12 Kaiser und 16 Kaiserinnen«.106 Als 1989 die letzte österreichische Kaiserin Zita in der Kapuzinergruft bestattet wurde, wählte man einen rituellen Ablauf, der den Gedanken der humilitas zum Ausdruck bringen sollte: die sogenannte »Klopfzeremonie«. Der den Trauerzug mit dem Sarg vor der Kirche anführende Zeremonienmeister klopft Abb. 22: Kapuzinergruft, Detail am Sarkophag Kaiser Karls VI.

104 Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 68. 105 Vgl. die Notiz in der Museumspublikation: Kunsthistorisches Museum Wien. Weltliche und geistliche Schatzkammer, London 1998, S. 70. 106 Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 71.

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dreimal am verschlossenen Tor der Kirche an; der Kustos der Kaisergruft fragt von innen: »Wer begehrt Einlass?« Daraufhin werden vom Zeremonienmeister sämtliche Herrschaftstitel der Kaiserin verlesen, der Mönch antwortet: »Kenne ich nicht«. Ein zweites Mal wird gefragt, ein zweites Mal wird Zita als Kaiserin von Österreich angekündigt, und wieder wird sie abgewiesen: »Wir kennen sie nicht«. Erst beim dritten Mal, wenn der Zeremonienmeister spricht: »Zita, ein sterblicher, sündiger Mensch«, antwortet der Mönch: »So komme sie herein«.107 Die Tore öffnen sich, und die Mönche in einfachen franziskanischen Kutten, mit Kerzen in der Hand, geben den Weg für den Sarg frei. Im Hinblick auf die religiöse Bestätigung von Herrschaft und sozialem Status ist das Ritual überaus aufschlussreich: Es inszeniert zunächst die Grenzziehung zwischen »profaner« und »sakraler« Sphäre als Schwelle, die nur unter bestimmten Voraussetzungen überwunden werden kann: Erst wenn die Insignien weltlicher Macht abgelegt werden, ist der Eintritt in den sakralen Bereich möglich. Damit ist zunächst der Primat der geistlichen Sphäre angedeutet, in der es nicht um weltliche Positionen, sondern um die eigentlichen Dinge geht. Im Tod, so die Botschaft, sind wir alle gleich. Tatsächlich aber wird, in einer scheinbar paradoxen Wendung, der weltliche Status der ehemaligen Kaiserin durch die Zeremonie in überaus wirkungsvoller Weise bestätigt: Denn ihre Herrschaftstitel werden nicht einfach verschwiegen, sondern in den ersten beiden Anläufen ausführlich öffentlich vorgetragen und damit zur Geltung gebracht, um erst dann symbolisch zurückgenommen zu werden. Der scheinbare Grund für die Aufnahme in die Kapuzinergruft und damit den sakralen Raum des Klosters – nämlich Zitas Rolle als »sterblicher, sündiger Mensch« – erweist sich schließlich schlichtweg als falsch: De facto ist es ausschließlich Zitas Zugehörigkeit zum Haus Habsburg, die ihr den posthumen Eintritt in die privilegierte Grablege des Klosters ermöglicht – und damit eine Beisetzung, die allen anderen »sterblichen, sündigen Menschen« selbstverständlich verwehrt bleibt. Auf diese Weise wird Zita sowohl ihr tatsächlicher sozialer Status als auch der Verallgemeinerungsprofit des religiös motivierten »freiwilligen Verzichts« auf diesen Status gutgeschrieben. In seinen Analysen zur Ökonomie der symbolischen Güter hat Bourdieu immer wieder das kirchliche Handeln als Musterbeispiel dieser Ökonomie beschrieben. Was er an einer Stelle festhält, kann auf die gesamte Logik des politisch-religiösen Komplexes der Monarchie und der sakralisierten Politik übertragen werden: »Die Wahrheit des religiösen Unternehmens ist, dass es zwei Wahrheiten besitzt: die ökonomische Wahrheit und die religiöse Wahrheit, die jene verneint«.108 Die ökonomische Wahrheit der realen Herrschaftsverhältnisse wird dabei durch die religiöse Wahrheit verdeckt und damit

107 Die Szene kann online als Video abgerufen werden: https://www .youtube .com / watch ? v = l6fxpufnoeg (Zugriff am 3. Februar 2015). 108 Pierre Bourdieu, Das Lachen der Bischöfe, in: Ders., Religion. Schriften zur Kultur-

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bestärkt: Während die politisch-ökonomischen Verhältnisse intakt bleiben, verleiht die religiöse Rahmung ihnen den Anschein, es gehe in Wirklichkeit um die »allgemeinen Werte«. Auf diese Weise lässt sich die »Klopfzeremonie« als exemplarische Figur einer wechselseitigen Bestätigung der weltlichen und der geistlichen Gewalt lesen – auch wenn sie in dieser Form eine »invention of tradition« der 1980er Jahre ist: Vor Zitas Beisetzung hatte es sie nicht gegeben, und mit der Beisetzung Otto Habsburgs im Jahr 2011 dürfte sie nicht nur zum zweiten, sondern auch zum letzten Mal überhaupt zu sehen gewesen sein.109 Die Perspektive auf die »Politik der Toten« im Kirchenraum lässt sich ergänzen durch einen Seitenblick auf die Sozialgeschichte der Friedhöfe, die zunächst als spezifische Erweiterungen des Sakralraums verstanden werden können. In der sozialen Ordnung der Toten innerhalb des Kirchenraums und dann weiter zwischen Kirchenraum und Kirchhof zeigen sich die dominanten Muster von sozialer Hierarchie, von Inklusion und Exklusion, besonders deutlich. Schon aus Platzgründen blieb die Kirchenbestattung in Mittelalter und Früher Neuzeit »Standespersonen« vorbehalten; die Beisetzung in größtmöglicher Nähe zu den Reliquien wurde zu einem »teilweise käuflichen Privileg«.110 Wer – auch aufgrund kirchlicher Verbote der Laienbestattung – nicht im Kirchenraum bestattet werden konnte, dem blieb die Bestattung auf dem umliegenden Kirchhof. Es kennzeichnet die Funktion und die soziale Gravitationskraft christlicher Sakralräume, dass die Begräbnisstätten – im Gegensatz zur römischen Antike, in der sie außerhalb der Städte angesiedelt waren – im Mittelalter üblicherweise in den Zentren der Städte, unmittelbar in der Nähe der Kirchen, angelegt wurden oder sogar die späteren Siedlungskerne angezogen haben.111 »Vom 9. Jahrhundert an gab es im kanonischen Recht die Tendenz, den christlichen Begräbnisplatz mit dem Ort der Kirche zwingend zu verbinden«.112 Bestimmte Personen und soziale Gruppen blieben aber auch von der Bestattung auf dem Kirchhof ausgeschlossen: »Selbstmördern, Hingerichteten,

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soziologie Band 5, herausgegeben von Franz Schultheis und Stephan Egger, Berlin 2011, S. 231 – 242, hier S. 232. Vgl. http://kurier .at / thema / habsburger / anklopf - zeremonie - war - frueher - unbekannt / 716 .250 (Zugriff am 3. Februar 2015). Auch die Klopfzeremonie zum Tod Otto Habsburgs steht online als Video zur Verfügung: https://www .youtube .com / watch ? v = 9 - BBgc _ uBZQ (Zugriff am 3. Februar 2015). Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland, Köln / Weimar / Wien 1996, S. 9. Vgl. Reiner Sörries, Der mittelalterliche Friedhof. Das Monopol der Kirche im Bestattungswesen und der so genannte Kirchhof, in: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal / Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur Kassel (Hg.), Raum für Tote. Die Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen der Römerzeit bis zur anonymen Bestattung, Braunschweig 2003, S. 27 – 52, hier S. 27. Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium, S. 9.

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Angehörigen ›unehrlicher‹ Berufe, Andersgläubigen und Ehebrechern wurde dieses Recht verweigert. Sie wurden beispielsweise auf den [. . . ] zu Seuchenzeiten außerhalb der Orte angelegten sogenannten Pestfriedhöfen bestattet«.113 Auf diese Weise spiegelten auch die mittelalterlichen Kirchhöfe mit ihrer inneren sozialen Ordnung die Idee eines integralen »christlichen Gemeinwesens« der Lebenden und der Toten. Die »Erinnerungsreligion« Christentum bezog die Toten in ihre Konzeption von Gemeinschaft mit ein und propagierte ihr System eines »Tauschhandels« zwischen den Lebenden und den Toten auch über das Medium des kirchennahen Friedhofs, der ein wichtiger Schauplatz von Prozessionen, Messen und Praktiken der Totenmemoria war. Im ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert kam Bewegung in diese traditionsgebundene Bestattungspraxis in nächster Nähe zu den Kirchen und den in ihnen aufbewahrten Reliquien. Das bisher so »feste Band zwischen der innerstädtischen Kirche und dem sie umgebenden Begräbnisplatz« begann sich zu lösen; es »lockerte sich die enge räumliche und theologische Verbindung der Lebenden und der Toten, die im Kirchhof ihren sinnfälligen architektonischen Ausdruck gefunden hatte und damit eine ständige, materielle Präsenz der Toten unter den Lebenden bewirkt hatte«.114 Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung in den Städten wurden die alten innerstädtischen Friedhöfe zu eng; zunehmend erkannte man auch die Wichtigkeit einer Auslagerung der Begräbnisplätze aus den Städten aus Gründen der Seuchenprävention. Auf breiter Basis setzten sich solche Ideen aber erst im Zuge der Reformation durch, als in evangelischen Gemeinden »religiöse Belange die hygienischen Forderungen nicht mehr desavouierten«.115 Frühe Debatten um die Positionierung der Friedhöfe im Stadtraum legen offen, dass mit dieser Frage auch eine Auseinandersetzung um soziale Ordnungsvorstellungen verbunden war. So kam es 1536 in Leipzig zu einer erbittert geführten »Begräbniskontroverse«: Nach einer 1535 ausgebrochenen Epidemie untersagte eine Verordnung Herzog Georgs von Sachsen, die Toten innerhalb der Stadtmauern zu begraben; stattdessen sollte der bei der Johanniskirche vor der Stadt gelegene Friedhof zum Hauptfriedhof Leipzigs werden.116 Sowohl die »altgläubigen« Verteidiger der alten Bestattungspraxis

113 Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium, S. 9. 114 Barbara Happe, Die Trennung von Kirche und Grab. Außerstädtische Begräbnisplätze im 16. und 17. Jahrhundert, in: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal / Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur Kassel (Hg.), Raum für Tote. Die Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen der Römerzeit bis zur anonymen Bestattung, Braunschweig 2003, S. 63 – 82, hier S. 63. 115 Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium, S. 10. 116 Vgl. die Studie von Craig Koslofsky, »Pest« – »Gift« – »Ketzerei«. Konkurrierende Konzepte von Gemeinschaft und die Verlegung der Friedhöfe (Leipzig 1536), in: Bernhard Jussen / Craig Koslofsky (Hg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400 – 1600. Göttingen 1999, S. 193 – 208.

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als auch die »Neuerer« »definierten und beschrieben das Leipziger Gemeinwesen in Begriffen seiner Bedrohung«, folgten dabei aber sehr unterschiedlichen Ideen, wie dieses Gemeinwesen beschaffen sein sollte. Denn die Verlegung der Friedhöfe und damit die räumliche Trennung von Kirchengebäude und Bestattungsort stellte aus Sicht der konservativen Kirchenmänner einen Angriff auf die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten dar, die sie als die Basis des christlichen Gemeinwesens ansahen: Und anfenglich ist sich höchlich zu besorgen, das durch diese weyß alle vigilien, seelmeß, Begengnus, jerliche memory mortuorum, Item die vierzeitiges begengknus, und Bruderschafft der Zunfften ader Innung (welcher lade alsdan yn eynen gemeynen kasten wurde gestarkt) ganz und gar fallen, nachbleiben, und zergehen werden.117

So heißt es in einem Protestschreiben von Theologen der Universität Leipzig an den Herzog. Befürchtet wurde weiter, dass »die handtwergks leuth furth hin aus beschwerniss eynes so weyten wegs . . . so fhern nicht ghen werden, sunderlich wans böss wetter ist«.118 Die Argumente der Verlegungsgegner zielten somit auf die Rolle des Kirchhofs als Ort symbolischer Kommunikation und zahlreicher Praktiken, welche die Welt der Lebenden mit der der Toten verschränkten,119 während sich die Verlegungsbefürworter auf die Notwendigkeit hygienischer Maßnahmen beriefen. Mit diesem »modernen« Argument konnten diese sich schließlich durchsetzen, was hier wie auch in anderen Städten des 16. Jahrhunderts zeigt, dass die Obrigkeit »die städtische Gemeinschaft neu definierte als

117 Zit. nach Koslofsky, »Pest« – »Gift« – »Ketzerei«, S. 197 – 198. Zum besseren Verständnis bietet Koslofsky eine modernisierte Transkription an: »Zuallererst haben wir die große Befürchtung, daß durch diese [Begräbnisverordnung] alle Vigilien, Messen und Prozessionen für die Toten, jährliche memoria der Toten, ebenso wie die . . . Bruderschaften der Zünfte . . . ganz und gar wegfallen, zu Grunde gehen und verschwinden würden«. Ebd., S. 197. 118 Koslofsky, »Pest« – »Gift« – »Ketzerei«, S. 198. »Die Handwerker . . . werden den langen Weg nicht auf sich nehmen, besonders wenn das Wetter schlecht ist«. Ebd. 119 Vgl. dazu Jan Brademann / Werner Freitag, Heilig und Profan. Der Kirchhof als Ort symbolischer Kommunikation – eine Forschungsskizze, in: Dies. (Hg.), Leben bei den Toten. Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne, Münster 2007, S. 391 – 411; Holzem, Kirche – Kirchhof – Gasthaus. Einige konkrete Aspekte der Nutzung von Friedhöfen als Schauplatz popularer Frömmigkeit beleuchtet auch Werner Freitag, Devotionsorte außerhalb der Kirche: Kirchhof, Kapellen und Bildstöcke, in: Christoph Müller / Thomas Sternberg (Hg.), Plätze zum Beten: Devotionsorte im Kirchenraum. Internationale Theologisch-Kunsthistorische Studienwoche »Liturgie X«. Dokumentation einer Kooperationstagung der Akademie FRANZ HINTZE HAUS mit dem Deutschen Liturgischen Institut, Trier und den Seminaren für Liturgiewissenschaft der Universitäten Erfurt und Münster, Münster 2007, S. 105 – 122.

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ein durch öffentliche Gesundheit bestimmtes Gemeinwesen, das der Gesundheitspolitik des Rats unterstand«.120 Zunehmend verlor eine Konzeption von Gemeinschaft an Verbindlichkeit, welche die »Geister des Raums« als Bezugspunkt sozialer Ordnung stark gemacht und über diese »Geister« die ständischen Hierarchien der Vergangenheit stabil zu halten versucht hatte; eine bedeutende Rolle scheint überdies die Tatsache gespielt zu haben, dass mit dem Friedhof ein zentraler Schauplatz kirchlicher Ritualpraxis aus den Städten verschwand. Insofern sind die Friedhofsreformen ein genuines Produkt der Reformation, haben diese aber auch vorangetrieben: »Die parallel verlaufende Distanzierung der Welt der Lebenden von den Seelen und den Körpern der Toten war sowohl eine wesentliche Vorbedingung der kirchlichen Umwälzungen im 16. Jahrhundert als auch eine ihrer tiefgreifendsten Folgen«.121 Einen gravierenden Schritt in der Geschichte der modernen Totenbestattung stellen die Begräbnisreformen Josephs II. in Österreich dar. Hier kulminierten die pragmatisch-hygienischen Vorstellungen der Aufklärungszeit in einem radikalen Konzept, das ein ausnahmsloses Verbot von Bestattungen in Kirchen und auf Kirchhöfen sowie die gemeinsame Bestattung von Katholiken und Nicht-Katholiken vorsah, ebenso die Bestattung ohne eigenen Sarg.122 Die josephinischen Reformen »stießen [. . . ] in einen traditionell-kirchlichen Machtbereich vor« 123 und unterwarfen die Bestattungspraxis klaren staatlichen und kommunalen Regelungen. Die »Randwanderung« der Friedhöfe setzte sich auch im 18. und 19. Jahrhundert weiter fort; die Anlage des Wiener Zentralfriedhofs 1874 beendete die Bestattungspraxis auf vielen innerstädtischen Friedhöfen. Spätestens damit löste sich die Geschichte der Bestattung und der Friedhöfe endgültig von der Geschichte des Kirchenraums, wenn man von den eigens errichteten Friedhofskirchen, Friedhofskapellen und Einsegnungshallen absieht, in denen immer wieder Erinnerungszeichen zu finden sind, die auf ältere Vorstellungen von einer »Gemeinschaft der Lebenden und der Toten« verweisen. Soziale Differenzierung drückt sich nach wie vor in der Positionierung herausgehobener Gräber in bestimmten Bereichen des Friedhofsareals aus, vor allem aber in der bürgerlichen Grabmalkultur mit ihrer »Ornamentierung des Raumes und ausladenden Einzel- und Familiengräbern in repräsentativer Gestaltung«.124 Mittlerweile gibt es neben der breit entwickelten Kirchen- oder

120 Koslofsky, »Pest« – »Gift« – »Ketzerei«, S. 205. 121 Koslofsky, »Pest« – »Gift« – »Ketzerei«, S. 207. Zur Geschichte und Typologie der Friedhöfe seit der Reformation bis ins 19. Jahrhundert vgl. auch die Studie von Barbara Happe, Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870, Tübingen 1991. 122 Vgl. Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium, S, 15 – 16. 123 Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium, S. 16. 124 Vgl. Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium, S. 60 – 74.

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Kirchenraumpädagogik auch erste Ansätze einer »Friedhofspädagogik«, die sich allgemein mit dem Themenkomplex von Tod und Trauer, insbesondere aber mit der sakralen und sakralisierten Erinnerungskultur auf Friedhöfen auseinandersetzt.125 Die hier in aller Kürze angeführten Beispiele zur Praxis des Totengedenkens im Kirchenraum – und bis ins 17./18. Jahrhundert hinein auch auf den Kirchhöfen – zeigen historische Variationen einer integralen Ordnung der Lebenden und der Toten. Das Christentum als Erinnerungsreligion basiert wesentlich auf der symbolischen Hereinnahme der Verstorbenen in die gesellschaftliche Ordnung, die erst dadurch zu einem Abbild der kosmischen, transzendentalen Ordnung wird. Durch diese Integration der Toten wird nicht nur die diachrone Einheit der christlichen Heilsgeschichte gewährleistet, sondern auch die christliche Einheit des Kollektivs – als Erinnerungsgemeinschaft – in der Gegenwart. Kirchenräume zielen, wie Joachim Fischer vermerkt hat, also in besonderer Weise auf die »Generationenkette« einer Gesellschaft, indem sie die stabile Tradierung von Werten über lange Zeiträume hinweg repräsentieren: »Vermutlich jeder Sakralbau ordnet die Gesellschaft immer auch entlang der Kommunikation mit den Vorfahren, den Ahnen, ihren Seelen, jede umbaute Sakralstätte ist

Abb. 23: Kerzengeschäft, Zentralfriedhof.

125 Vgl. dazu Michael Wolf, Friedhofspädagogik. Eine Untersuchung im Kontext der Fragen nach erfülltem Leben, Tod und Ewigkeit (Schulfach Religion Jg. 30), Wien / Berlin 2011; Thomas Klie / Sieglinde Sparre (Hg.), Erinnerungslandschaften. Friedhöfe als kulturelles Gedächtnis, Stuttgart 2017.

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auch eine Einbeziehung der Toten in die Gegenwart der Lebenden, die sich selbst zugleich in irgendeiner Weise um ihren Verbleib in der Zukunft sorgen«.126 Auch wenn sich die katholische Memorialpraxis seit dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit gravierend gewandelt hat, lassen sich die Motive der Kommunikation mit den Vorfahren und der imaginären Einheit der Lebenden und der Toten auch in der Kirchenraumgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts weiter verfolgen. Auch hier werden dauerhaft »Geister des Raums« aufgerufen, um dem repräsentierten Kollektiv seine Kontur zu verleihen, vor allem aber, um den Raum mit spezifischen Bedeutungsüberschüssen auszustatten. Der eigenartigen These von Mayerfeld Bell – »through ghosts, we re-encounter the aura of social life in the aura of place« – ist somit im Folgenden weiter nachzugehen. Dazu möchte ich zunächst einige Wiener Beispiele für politischen Personenkult im Kirchenraum vorstellen, dann die Engführung von katholischer Religiosität und militärischer Erinnerungspolitik beleuchten, um schließlich auf die verschiedenen Praktiken der memorialen Selbst-Einschreibung in den Kirchenraum einzugehen, die mit Formen der Promulgation verbunden sind.

Politischer Personenkult im Kirchenraum: Von Lueger bis Dollfuß Der von 1897 bis 1910 als Wiener Bürgermeister amtierende Karl Lueger verstand sich nicht nur als Vorsteher einer Stadtregierung, sondern als regelrechter Patriarch seiner Stadt. Bekannt ebenso durch sein »munizipalsozialistisches« Programm der Stadtmodernisierung und seinen populistischen Stil wie seine antisemitischen Invektiven, war er der Repräsentant des christlichsozialen Milieus in der ausgehenden Monarchie.127 Für Luegers Selbstverständnis und seinen politischen Stil ist charakteristisch, dass bereits zu Lebzeiten ein ausgeprägter Personenkult um ihn lanciert und betrieben wurde, in dem zugleich die Selbstmythisierung der christlichsozialen Partei greifbar wird. Felix Salten schreibt in seiner Essaysammlung »Das österreichische Antlitz« über die öffentliche Selbstrepräsentation Luegers: »Er arbeitet denn auch mit einer vollkommen monarchischen Technik. Sein Bild ist überall. In den Amtslokalen, in den Schulzimmern, in den Wirtshäusern, in den Theaterfoyers, in den Schau-

126 Fischer, Gebaute Welt als schweres Kommunikationsmedium, S. 66. 127 Unter den Lueger-Gesamtdarstellungen sind hervorzuheben: Richard S. Geehr, Karl Lueger: Mayor of Fin de Siècle Vienna, Detroit 1990, sowie vor allem Boyer, Karl Lueger. Vgl. auch den anregenden Aufsatz von Wolfgang Maderthaner, Dem Volke, was des Volkes ist. Das Stadtimago und die Stadtpolitik des Karl Lueger, in: Wolfgang Kos / Christian Rapp (Hg.), Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war. 2. Auflage Wien 2005, S. 98 – 108.

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fenstern«. Der paternalistisch auftretende Bürgermeister, der – so Salten – über »die Straßenbahnen, die Gaswerke, das elektrische Licht, die Leichenbestattung, die Spitäler, Wasser und Feuer, Leben und Tod« herrschte und »aus all diesen Besitztümern neue Werkzeuge seiner Macht« generierte,128 bediente sich auch der sakralen Architektur, um sich als Repräsentant des katholischen Wien feiern zu lassen. Bereits zu Luegers Lebzeiten wurde die – in diesem Kapitel später ausführlich vorgestellte – Lainzer Versorgungsheimkirche nicht nur mit einer Büste Luegers sowie anderer Gemeindefunktionäre ausgestattet, sondern auch das Hochaltarbild zeigt Lueger persönlich in Lebensgröße. In der von Jakob Dont verfassten Festschrift zur Eröffnung des Versorgungsheims im Jahr 1904 findet sich eine Beschreibung der Darstellung: Den Hochaltar schmückt ein dreiteiliges Bild, vom akademischen Maler Hans Zatzka gemalt und gespendet. Im Mittelbilde steht zu Füßen der heiligen Maria mit dem Jesuskinde der heilige Karl Borromäus, der Schutzpatron der Kirche. Das Seitenbild rechts stellt die Vindobona als Beschützerin der Bedrängten dar; sie reicht einem alten Arbeiter, seine Arbeitunfähigkeit [sic] ist durch einen zerbrochenen Hammer angedeutet, ein Stück Brot. Vor ihr kniet Bürgermeister Dr. Lueger in altdeutscher Kleidung und blickt zur heiligen Maria auf; mit der Linken weist er auf den offenen Plan des Versorgungsheimes. Das Seitenbild rechts stellt einen alten Wiener und eine alte Wienerin, andächtig zur heiligen Maria aufblickend, dar.129

Dieser »Selbstheiligung« Luegers am Hochaltar entspricht das für den Kirchenbau gewählte Patrozinium des heiligen Karl Borromäus: Wie sich Karl VI. mit der Karlskirche ein Denkmal gesetzt hat, so wurde auch Karl Lueger mit der Kirche St. Karl Borromäus ganz bewusst ein Denkmal gesetzt. Dieses Motiv wiederholte sich wenige Jahre später, als auf dem Wiener Zentralfriedhof nach dem Tod Karl Luegers ein exklusiver Gedächtnisort für ihn entstand. Auch der Zentralfriedhof war ein Areal, das dem munizipalsozialistischen Gedanken der christlichsozialen Stadtregierung entsprach. Zwar war dieser Friedhof bereits 1874 und damit lange vor Luegers Amtszeit eröffnet worden, allerdings sollte er um die Jahrhundertwende einen nobilitierenden Kirchenneubau erhalten, der die katholische Moderne à la Lueger ins Bild setzte. Den Architektenwettbewerb gewann der erst 27 Jahre alte Max Hegele, nach dessen Plänen bis 1911 die Friedhofskirche zum Hl. Karl Borromäus entstand. Die Grundsteinlegung im Mai 1908 konnte Lueger noch vornehmen, aber die Fertigstellung des Baus erlebte er nicht mehr: Er starb am 10. März 1910. In der Folge wurde die Kirche

128 Felix Salten, Das österreichische Antlitz. 2. Auflage Berlin 1910, S. 138. 129 Jakob Dont, Das Wiener Versorgungsheim. Eine Gedenkschrift zur Eröffnung, Wien 1904, S. 36.

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von der Gemeinde zur »Dr. Karl-Lueger-Gedächtniskirche« deklariert, Lueger selbst in der unter dem Hochaltar befindlichen Gruft beigesetzt. Wappen und Zeichen der Gemeinde sind an prominenten Stellen des Kirchenbaus, an den Pfeilern der Vierung und in Glasfenstern angebracht. Vor allem aber finden sich auch hier zwei Darstellungen Luegers unmittelbar im Altarraum: Das rechte Bild des Triptychons über dem Hochaltar zeigt ihn – ähnlich wie in Lainz – neben der allegorischen Figur der Vindobona im festlichen Ornat, die ihm ein Modell der Friedhofskirche überreicht. Zudem ist er in die unterhalb des Deckengewölbes im Chorraum eingelassene Darstellung des Jüngsten Gerichtes von Hans Zatzka integriert, die ihn am linken Rand im Totenhemd und von Engeln geleitet zeigt.130 Links daneben ist Josef Neumayer, sein Nachfolger als Wiener Bürgermeister, im schwarzen Ornat und mit Amtskette, zu sehen.131 In der Kapelle des Krankenhauses Hietzing schließlich ist Lueger – sehr wahrscheinlich – weitere Male am Altar zu sehen: Ein von Christus getrösteter Kranker ist dort mit den Gesichtszügen Luegers dargestellt, auch ein Medaillon zeigt sein Profil. Und schließlich wurde sogar die Kapelle des »Seehospizes« San Pelagio bei Triest an der Adria mit einem Altarbild ausgestattet, das Karl Lueger zeigt.132 Die Konsequenz, mit der die Usancen der christlichen Herrscher- und Stifterdarstellung und sogar der privilegierten Beisetzung unter dem Altar auf den Gemeindefunktionär Karl Lueger übertragen wurden, ist erstaunlich und spiegelt das religiöse Selbstverständnis der christlichsozialen Stadtregierung. Hegeles Kirchenbau auf dem Zentralfriedhof sakralisiert deren Politik, indem er historistisch-beglaubigende Rückgriffe mit modernen Konnotationen zu vereinen vermag und damit zum einen der urbanen Prosperität der Stadt Wien ein monumentales Denkmal setzt, zum anderen jedoch eine Legitimationsbasis liefert für den an dynastische Gepflogenheiten anknüpfenden Repräsentationsanspruch des Auftraggebers. Dieser Repräsentationsanspruch aber erklärt dann auch das ikonologische Programm der Kirche, das Karl Lueger als den eigentlichen Namensgeber auratisiert: Weniger religiöse Bedürfnisse, sondern das Ziel der feierlichen Selbst-

130 Nach Wolfgang Brückner berechnete Zatzka, enger Vertrauter Karl Luegers, für die Anfertigung des Wandgemäldes kein Honorar, erhielt aber von der Gemeinde Wien eine Schatulle mit 100 neu geprägten 10-Kronen-Stücken in Gold. Vgl. Wolfgang Brückner, Der Wiener Mädel-Maler Hans Zatzka und die Kunst für das Volk, in: Herbert Nikitsch / Bernhard Tschofen (Hg.), Volkskunst. Referate der Österreichischen Volkskundetagung in Wien 1995, Wien 1997, S. 201 – 234, hier S. 216. 131 Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 231 – 233; Missong, Heiliges Wien, S. 226 – 228. 132 Vgl. Brückner, Der Wiener Mädel-Maler Hans Zatzka, S. 213.

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Abb. 24: St. Karl Borromäus am Zentralfriedhof, Altarraum.

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darstellung gaben den Ausschlag dafür, an dieser Stelle ein solch monumentales Werk zu errichten.133

Dass dieses Beispiel »feierlicher Selbstdarstellung« über einen ausdrücklichen Personenkult im Kirchenraum in der christlichsozialen politischen Kultur kein Einzelfall war, belegt die Geschichte eines anderen Kirchenbaus: Der Christkönigskirche in Neu-Fünfhaus, auch bekannt unter ihrer alten Bezeichnung »Seipel-Dollfuß-Gedächtniskirche«. Hier setzte sich das politisch-mythologische Muster fort, das zu Luegers Lebzeiten begründet wurde, dann aber im Kontext der politischen Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit eminent an Schärfe gewann. Im Herbst 1932, nach dem Tod des christlichsozialen Bundeskanzlers der Jahre 1922 – 1924 und 1927 – 1929, des Theologen und Prälaten Ignaz Seipel, begann Hildegard Burjan – ihrerseits christlichsoziale Politikerin der unmittelbaren Nachkriegszeit und Gründerin der »Caritas Socialis« – mit Planungen zum Bau einer Seipel-Gedächtniskirche. Schon zuvor hatte sich Burjan intensiv für Seipel eingesetzt: Nach einem Pistolenattentat auf den Kanzler im Jahr 1924 hatte sie einen »Gebetssturm« in der Kirche Am Hof initiiert, des weiteren eine Spendenaktion als »Dr. Seipel-Sühnegabe« sowie einen Anbetungstag und eine Dankwallfahrt.134 Analog zur religiösen Mobilmachung nach dem misslungenen Attentat auf Kaiser Franz Joseph 1853 entwickelte sich auch hier ein ausgeprägter katholischer Personenkult, der in den Plänen zu einer Gedächtniskirche kulminierte. Burjan fand einen Bauplatz in der Arbeitervorstadt Fünfhaus – einem »not- und elendvollen Bezirk«, wie es in Protokollen der Caritas Socialis heißt –,135 stellte die Finanzierung sicher und erreichte die kirchliche Genehmigung zur Errichtung einer neuen Pfarre und die Zustimmung des Vatikans zum Entwurf des Architekten Clemens Holzmeister, der einen ausgesprochen schlichten und nüchternen Kirchenbau vorsah.136 Zum Zeitpunkt der Grundsteinlegung im Juli 1933 allerdings war Burjan bereits verstorben, der neue, autoritär regierende christlichsoziale Kanzler Engelbert Dollfuß übernahm gemeinsam mit seiner Frau Alwine die Leitung des Bauko-

133 Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 207. 134 Vgl. Verena Pawlowsky, Staatsmonument von kurzer Dauer: Zu den Bedeutungszusammenhängen einer Wiener Vorstadtkirche der 1930er Jahre, in: zeitgeschichte 29 (2002), S. 3 – 24, hier S. 3 – 4. 135 Zit. nach Pawlowsky, S. 4. 136 Vgl. Pawlowsky, Staatsmonument von kurzer Dauer, S. 4. In der zeitgenössischen Architekturkritik wurde der Holzmeister-Bau als »Lagerhaus«, »Paternoster-Garage« und »Aufenthaltsraum für Kirchenbesucher« abqualifiziert, obwohl er in seiner Anlage und durch das monumentale, auf byzantinische Machtsymboliken zurückgreifende Christkönigsmosaik durchaus auch »Hierarchie und Herrschaft« signalisierte. Pawloksky, Staatsmonument von kurzer Dauer, S. 8 – 9.

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mitees. Nachdem Dollfuß im Zuge des nationalsozialistischen Putschversuchs vom Juli 1934 ermordet worden war, änderten sich die Pläne dahingehend, dass die Kirche als Gedenkstätte für Seipel und Dollfuß dienen sollte. Am 29. September 1934 wurde der neue Kirchenbau geweiht, die Sarkophage der ehemaligen Kanzler Seipel und Dollfuß wurden umgehend in die Krypta übertragen, die nun als »Kanzlergruft« zu einem christlichsozialen Erinnerungsort wurde.137 In den folgenden Tagen, Wochen und Monaten wurden Seipel-Dollfuß-Gedächtniskirche und »Kanzlergruft« zu einer bevorzugten Bühne politischer Repräsentation der neuen Regierung und des sie stützenden katholischen Milieus: Die Konsekration der Kirche am Morgen des 29. September fand laut Pfarrchronik »unter großer Beteiligung des Volkes« statt,138 die Übertragung der Sarkophage am Abend desselben Tages wurde als feierliche Gedenkfeier inszeniert: Gegen 8 Uhr abends kam der Leichenzug von St. Stefan an, der die beiden Toten Dr. Seipel und Dr. Dollfuß zu ihrer letzten Ruhestätte brachte. Es war ein unvergeßlicher Anblick! In allen Fenstern am Weg Kerzen, eine nach Hunderttausenden zählende Volksmenge! Am Gruftplatz hatte sich Herr Bundespräsident Miklas mit der Regierung mit Herrn Bundeskanzler Dr. Schuschnigg an der Spitze eingefunden, vom österr. Episkopat die Bischöfe Waiz, Gföllner, Memellauer [sic] und der apostl. Nuntius Erzbischof Sibilia. Ferner die Gemahlin des toten Heldenkanzlers Frau Alwine Dollfuß und die Eltern Dollfuß! Nach Ankunft der Särge nahm Seine Eminenz der Herr Kardinal unter großer Assistenz [. . . ] die Einsegnung vor! Es wurden keine Reden gehalten, nur das Gebet der Tausende [sic] klang in die Stille der Nacht! 139

Am folgenden Tag fand die Kirchweihfeier statt; die Pfarrchronik berichtet von einem »gewaltige[n] Polizeiaufgebot« und »hunderttausende[n] Menschen«, die das Pontifikalamt um 10 Uhr erwarteten. »Alles ist in der Kirche versammelt was Rang und Namen hat«. Wieder erschienen der Bundespräsident, der Bundeskanzler sowie alle Mitglieder der Regierung, der Wiener Bürgermeister Schmitz mit den drei Vizebürgermeistern sowie zahlreichen Geistlichen und dem gesamten Diplomatischen Korps. Die Wiener Sängerknaben und die Wiener Hofkapelle unter Leitung von Clemens Krauss führten Mozarts »Krönungsmesse« auf. Über Lautsprecheranlagen wurden das Pontifikalamt und alle Ansprachen nach draußen übertragen; »dann wurde Kirche und Gruft für die Allgemeinheit geöffnet. – Am Nachmittage waren nach polizeilicher Schätzung gegen 40 000 Menschen in der Gruft«.140 Im gesamten Oktober hielt der Besuch der »Kanzlergruft« unter der Kirche »in unverminderter Stärke an, be137 138 139 140

Vgl. Pawlowsky, S. 4 – 5. Pfarrchronik Band I (1934 – 1988), S. 1. Archiv der Pfarre Neufünfhaus. Pfarrchronik Band I (1934 – 1988), S. 1. Archiv der Pfarre Neufünfhaus. Pfarrchronik Band I (1934 – 1988), S. 2 – 3. Archiv der Pfarre Neufünfhaus.

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sonders am Sonntag erreicht die Zahl noch immer 20 000-25 000 Personen«.141 Auch zu anderen, nicht unmittelbar auf das Dollfuß-Gedenken bezogenen Anlässen erschienen im Folgenden die Spitzen des Staates und der Regierung in der Kirche: Zum Kirchenkonzert des Wiener Schubertbundes am 4. Dezember vermerkt die Pfarrchronik: Es war eine ganz große Sache und ein gesellschaftliches Ereignis. Der Bundespräsident Miklas mit Frau, Herr Bundeskanzler Dr. Schuschnigg, alle Minister mit Gemahlinnen, die Spitzen der Beamtenschaft, die akkr. Gesandten der Mächte und die erste Gesellschaft war zugegen. – Das Konzert stand auf hoher künstlerischer Stufe und hinterließ einen gewaltigen Eindruck.142

Am 8. Dezember 1934 wurde von Pfarrer Egger eine »Dollfuß-Gedächtniskerze« geweiht, eine Spende der »Ostmärkischen Sturmscharen«.143 In der Karwoche des Jahres 1935 berichtet die Pfarrchronik wiederum von einem enormen Andrang auf die Krypta: »Das hl. Grab wird in der Kanzlergruft aufgestellt. Der Gräberbesuch ist überwältigend. Bei uns waren gegen 80 000 Menschen«.144 Zum Jahrestag der Ermordung von Engelbert Dollfuß am 25. Juli 1935 schließlich findet sich der Vermerk: »Wir gedenken heute des verewigten Kanzlers Dollfuß. Die Krypta ist mit Kränzen überhäuft; sie kommen aus aller Welt und von allen Organisation[en]. Auch von Mussolini ist ein Kranz da. In diesen Tagen waren gegen 100 000 Menschen in der Gruft«.145 Die laufenden Ereignisse rund um die »Kanzlergruft« belegen eine sich zunehmend intensivierende Dollfuß-Verehrung im christlichsozialen Ständestaat und eine überaus enge Verschränkung der Repräsentationspolitiken von katholischer Kirche und austrofaschistischem Regime.146 Die neu gegründete Pfarrkirche in Neufünfhaus avancierte zu einer regelrechten politischen »Wallfahrtskirche«, in der am Werktagen drei, an Sonntagen sechs Messen gelesen

141 142 143 144 145 146

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Pfarrchronik Band I (1934 – 1988), S. 3. Archiv der Pfarre Neufünfhaus. Pfarrchronik Band I (1934 – 1988), S. 4. Archiv der Pfarre Neufünfhaus. Pfarrchronik Band I (1934 – 1988), S. 4. Archiv der Pfarre Neufünfhaus. Pfarrchronik Band I (1934 – 1988), S. 6. Archiv der Pfarre Neufünfhaus. Pfarrchronik Band I (1934 – 1988), S. 8. Archiv der Pfarre Neufünfhaus. Zum Personenkult um Dollfuß vgl. u. a. Karin Liebhart, Österreichischer Patriot und »wahrer deutscher Mann« – Zur Mythisierung des Politikers Engelbert Dollfuß, in: Michael Achenbach / Karin Moser (Hg.), Österreich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austrofaschistischen Ständestaates, Wien 2002, S. 237 – 258; Robert Kriechbaumer, Ein Vaterländisches Bilderbuch. Propaganda, Selbstinszenierung und Ästhetik der Vaterländischen Front 1933 – 1938, Wien / Köln / Weimar 2002, insbesondere S. 173 – 198; Lucile Dreidemy, Der Dollfuß-Mythos. Eine Biographie des Posthumen, Wien / Köln / Weimar 2014.

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wurden.147 Im angrenzenden Gemeindegebäude war überdies ein kleines Museum mit Burjan, Seipel und Dollfuß gewidmeten Gedenkräumen eingerichtet.148 Überhaupt diente die Schmelz im Umkreis von Kirche und »Kanzlergruft« als ein bevorzugter Schauplatz von Kundgebungen und Machtdemonstrationen der Vaterländischen Front, der 1933 gegründeten Einheitspartei des autrofaschistischen Ständestaates.149 Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich allerdings wurde die Kirche als »Propagandazentrum des vergangenen Systems« 150 abgewertet; die Sarkophage von Seipel und Dollfuß wurden wieder aus der Kirche entfernt und am 24. Januar 1939 um halb ein Uhr nachts auf den Hietzinger Friedhof versetzt. »Die Beerdigung war um ½ 4 Uhr zu Ende«, heißt es lapidar in der Chronik.151 Sozusagen in einer Inversion der feierlichen Beisetzung der beiden Kanzler in der Kirche fand die »Rückführung« in aller Heimlichkeit mitten in der Nacht statt, begleitet nur von einem Geistlichen der Pfarre. Umgestaltungen der ehemaligen »Kanzlergruft« zu einem Gebetsraum wurden allerdings erst nach dem Wechsel des zuständigen Pfarrers im Jahr 1974 und dann nochmals 2003 unternommen.152 Im Kirchenraum finden sich heute kaum Spuren der ehemaligen Funktion als »politische Wallfahrtskirche«; insofern ist es bei der 1939 von den Nationalsozialisten »bereinigten« Raumsituation geblieben.153 Die als kirchliche Machtdemonstration angelegte starke Hierarchisierung des Raumes durch die erhöhte Position des Presbyteriums und der beiden steinernen Kanzeln sowie durch das autoritär wirkende Christkönigsmosaik stellte bei der Reform der Liturgie nach dem Zweiten Vaticanum ein gewisses Hindernis dar und wird auch heute noch als Problem wahrgenommen.154 Unkommentiert bleibt allerdings bis heute das nach wie vor prominent platzierte steinerne Denkmal für Seipel und Dollfuß in der Vorhalle des Kirchenbaus. Das Denkmal zeigt eine Caritas-Figur mit Kleinkind, darunter findet sich die Widmung der Kirche: »Dieses Haus Gottes ist dem Gedächtnisse der beiden Kanzler den Erneuerern des österreichischen Vaterlandes Dr. Ignaz Seipel und Dr. Engelbert Dollfuss

147 Vgl. Martin Rupprecht (Hg.), 75 Jahre Christ-Königskirche Pfarre Neufünfhaus 1934 – 2009, Wien 2009, S. 6. 148 Rupprecht, 75 Jahre Christ-Königskirche, S. 6. 149 Vgl. etwa die aussagekräftige Fotografie einer Großkundgebung der Vaterländischen Front auf der Schmelz vom 18. Oktober 1937, im Hintergrund das überdimensionierte Kruckenkreuz. Abbildung in: Emmerich Tálos / Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933 – 1938, 5. Auflage Wien 2005, S. 87. 150 Zit. nach Pawlowsky, Staatsmonument von kurzer Dauer, S. 12. 151 Pfarrchronik Band I (1934 – 1988), S. 23. Archiv der Pfarre Neufünfhaus. 152 Rupprecht, 75 Jahre Christ-Königskirche, S. 7, 17. 153 Pawlowsky, Staatsmonument von kurzer Dauer, S. 18. 154 Vgl. Rupprecht, 75 Jahre Christ-Königskirche, S. 17 – 18.

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Abb. 25: Christkönigskirche Neu-Fünfhaus, Innenraum.

aus Liebesgaben des dankbaren Volkes erstanden«. Der in Stein geschnittene Text verweist auf den Opfer- und Märtyrergedanken und verknüpft so katholische und politische Mythologien des Ständestaates: Dollfuß »besiegelte« demnach »mit dem Opfertod seine Treue zu Gott, Volk und Vaterland«. Seipel und Dollfuß »legten kostbare Saat in die geliebte Heimaterde, sie opferten all ihre hohen Gottesgaben und endlich ihr Leben dem Ringen um Freiheit, Frieden und Glück ihres Volkes«. Die Historikerin Lucile Dreidemy ist in einer neu erschienenen Studie dem Dollfuß-Mythos nachgegangen und hat gezeigt, wie die Genealogie von Seipel bis Dollfuß als nationale Traditionslinie inszeniert wurde und den konservativen österreichischen Selbstbehauptungsdiskurs nach dem Ersten Weltkrieg stützte. Im Sinne dieser Logik spielte der sakralisierende Führerkult um Dollfuß auch »eine zentrale Rolle für die propagandistische Legitimierung der Politik des Schuschnigg-Regimes«, das sich auf diese Weise als »legitimer Erbe des altösterreichischen katholischen Reichs und darüber hinaus

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als Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Deutschland« positionierte.155 Im Dollfuß-Mythos können wir somit eine Verschränkung unterschiedlicher politischer Motive und Mythologien erkennen: Er verbindet den Rekurs auf »Altösterreich« und den Katholizismus als Basis des Staatswesens, das Narrativ der christlichsozialen Sozialpolitik und die Abgrenzungsgeste gegenüber dem Nationalsozialismus mit einem auf die Person Dollfuß ebenso wie den Staat Österreich beziehbaren Opfergedanken. Dieses Konglomerat von Ideen wurde weit über das Ende des Schuschnigg-Regimes hinaus auch noch in der Nachkriegszeit aufgerufen, um die Sonderrolle Österreichs in der Geschichte – und auch der Erinnerungsgeschichte an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg – zu betonen.156 Der Neufünfhauser Kirchenbau war keineswegs der einzige sakrale Gedächtnisort, der in den 1930er Jahren eigens für Engelbert Dollfuß eingerichtet wurde. Allein in Wien gab es mit der Währinger Pfarrkirche St. Gertrud noch eine weitere Kirche, die nach dem Umbau durch den Architekten Karl Holey 1934 als Dollfuß-Gedächtniskirche fungierte. Für diese Kirche importierte man sogar Reliquien des heiligen Engelbert aus dem Kölner Dom – eines Heiligen, der aus Wiener Perspektive eine sehr entlegene Figur war, der nun aber als Namenspatron des Kanzlers Dollfuß herangezogen wurde, um diesen als Märtyrer zu qualifizieren.157 Der Kölner Erzbischof Engelbert war der Heiligenvita zufolge im 13. Jahrhundert im Streit um Besitzrechte von einem Verwandten erschlagen worden; eine Parallele, die sich für die politische Dollfuß-Mythologie geradezu aufdrängte, in der die »hinterhältige« Ermordung durch einen »deutschen Bruder« ein wichtiges Versatzstück bildete.158 Ein 1934 angefertigtes Kirchenfenster der Währinger Gertrudskirche zeigt den heiligen Engelbert mit dem Spruchband »Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« – einem Zitat, das auf diese Weise auch dem sterbenden austrofaschistischen

155 Dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, S. 89. Zur austrofaschistischen »Reichsidee« und Österreich-Ideologie vgl. auch Anton Staudinger, Austrofaschistische »Österreich«-Ideologie, in: Emmerich Tálos / Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933 – 1938, 5. Auflage Wien 2005, S. 28 – 52. 156 Vgl. dazu und insbesondere zur österreichischen »Externalisierung« des Nationalsozialismus Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese. 157 Vgl. zur Figur des Heiligen Engelbert im Kontext der austrofaschistischen politischen Mythologie Herbert Nikitsch, Bemerkungen zu St. Engelbert, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXIII (2009), S. 73 – 85, zu St. Gertrud in Währing S. 80 – 81. 158 Vgl. Lucile Dreidemy, Totenkult für einen Diktator. Eine verschworene Gemeinschaft huldigt weiterhin ihrem »Heldenkanzler« Engelbert Dollfuß, in: Die Zeit Nr. 30 (2011), online unter: http://www .zeit .de / 2011 / 30 / A - Engelbert - Dollfuss / komplettansicht (Zugriff am 16. Februar 2015).

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Abb. 26: Denkmal für Ignaz Seipel und Engelbert Dollfuß, Christkönigskirche Neu-Fünfhaus.

Führer in den Mund gelegt wurde.159 Ein weiteres Fenster greift mit der Darstellung des Heiligen Theodor auch den Vornamen des damaligen Kardinals Theodor Innitzer auf.160 Auch die kleine barocke Kapelle im Bundeskanzleramt am Ballhausplatz wurde zum Todestag des ebendort ermordeten Kanzlers für Gedenkgottesdienste genutzt und war bis zur Einstellung dieser Veranstaltungen im Jahr 2009 durch Werner Faymann ein informeller Erinnerungsort.161 Auf der Hohen Wand im südlichen Niederösterreich schließlich entstand ab 1935 ein »religiöses Nationaldenkmal« der Vaterländischen Front, die von Robert Kramreiter entworfene Kirche St. Engelbert.162 Eine Wandmalerei in der dortigen Unterkirche zeigt Dollfuß zusammen mit Jesus und Märtyrern; in der klassizistischen Pfarrkirche St. Jakob im Osttiroler Defereggental ist Dollfuß 159 Vgl. die Hinweise bei Dreidemy, Totenkult für einen Diktator, und Nikitsch, Bemerkungen zu St. Engelbert, S. 81, Anm. 44. 160 Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 357. 161 Vgl. Dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, S. 248 – 250. 162 Zum Bauprozess vgl. Dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, S. 72 – 74.

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sogar – gemeinsam mit Kaiser Karl I. und vermutlich den Heimwehrführern Ernst Rüdiger Starhemberg und Emil Fey unter dem Kreuz Christi stehend – auf dem Kuppelfresko Johann Baptist Oberkoflers zu sehen.163 Auf diese Weise wurde Dollfuß »nicht nur in den Symbolhaushalt der Katholischen Kirche eingebunden, sondern selbst zum Heiligen erklärt«.164 Auch wenn der tatsächlich für Dollfuß initiierte Seligsprechungsprozess letztlich gescheitert ist,165 kennzeichnet den politischen Dollfuß-Mythos die überaus starke Rückbindung an Formen des katholischen Kults – bis hin zu regelrechten Reliquiaren: Als Anerkennung für ihre Regimetreue bekamen Funktionäre des austrofaschistischen Systems kleine, mit einem Kruckenkreuz versehene Holzschatullen, gefüllt mit Erde vom Hietzinger Grab des »verewigten Heldenkanzlers«, wie eine immer wiederkehrende Formulierung lautete.166 Im Dollfuß-Diskurs kulminiert somit die Tradition des politischen Katholizismus in Österreich im Sinne einer überaus starken Engführung von Religion und Politik, wie sie sich nicht zuletzt in zahlreichen sakralen Raumarrangements artikuliert.

Militärische Erinnerungszeichen und Opferdiskurs: Wiener Fallbeispiele Der Liturgiewissenschaftler Basilius Groen hat auf die Überblendung katholischer Liturgie mit militärischen Logiken in Kriegszeiten hingewiesen. Zum vorkonziliaren Pontificale Romanum gehörte die »Benedictio Armorum«, die Waffensegnung, ebenso wie die »Benedictio Vexilli Bellici«, die Segnung der Kriegsfahne.167 Im tridentinischen Messbuch, das bis 1970 in der katholischen Kirche verwendet wurde, finden sich darüber hinaus Formulare für die »Missa in Tempore Belli«, die Messe in Kriegszeiten, sowie die »Missa pro Pace«, die Friedensmesse. »In beiden Formularen wird um die Niederlage der Feinde und die Wiederherstellung des Friedens gebetet. Das Hauptanliegen dieser Messformulare ist zwar die Bitte um Frieden, sie setzen jedoch die eigenen Interessen und die Hoffnung auf einen Militärsieg der eigenen Seite voraus«.168 Der altchristliche Hymnus »Te Deum Laudamus« wurde »nicht nur in Bezug auf die Erhaltung der politischen Machtverhältnisse – vor allem im Bezug auf die Monarchie – sondern auch im militärischen Kontext – als Dankeslied nach

163 164 165 166

Vgl. dazu Dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, S. 297 – 298. Dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, S. 74. Dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, S. 74 – 77. Dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, S. 76. Vgl. auch die Notizen von Herbert Nikitsch im Katalogteil des Bandes Herbert Nikitsch / Kathrin Pallestrang (Hg.), Heilige in Europa. Kult und Politik, Wien 2010, S. 86. 167 Groen, Die magische Kraft der Rituale, S. 119. 168 Groen, Die magische Kraft der Rituale, S. 120.

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einem Sieg, als Verherrlichung der Schlacht – verwendet«.169 Ein weiterer enger Konnex zwischen Militär und Religion ergibt sich durch ein Thema, das sozusagen von sich aus einen Konvergenzpunkt zwischen militärischer Praxis und kirchlichen Institutionen bildet: den Tod und das Totengedenken. Während Militär und Kriegswesen in der Geschichte für die massenhafte Produktion »unnatürlicher« Todesfälle verantwortlich sind, sind die Kirchen über Jahrhunderte hinweg und bis heute die Institutionen, die für den kulturellen Umgang mit diesen Todesfällen stehen. Vor diesem simplen Hintergrund ist die enge Verklammerung von Militär und Religion zu verstehen, die sich in einer Vielzahl ausdifferenzierter Totenfeiern, Erinnerungsrituale und Erinnerungszeichen im Kirchenraum manifestiert. Dieser spezifische soziale Gebrauch des Kirchenraums dient dazu, den »schmerzlichen Verlust von Angehörigen und Mitbürgern« zu verarbeiten und »einen Ort für die Rituale der Trauer und des Gedenkens zu finden«.170 Damit sind sie immer auch »Identitätsstiftungen der Überlebenden«, wie Reinhart Koselleck es formuliert hat.171 Auch wenn sich Kriegerdenkmäler zumeist im öffentlichen Raum finden, ist ihre Positionierung im Umkreis von Kirchengebäuden oder im Inneren von Kirchenräumen ebenso üblich. Anhand von militärischen Erinnerungszeichen im Kirchenraum soll im Folgenden gezeigt werden, wie sich im Medium des Totengedenkens militärische und religiöse Codes und Logiken überlagern. Das expliziteste Wiener Beispiel militärischer Repräsentation im Kirchenraum findet sich im 13. Bezirk unterhalb des Küniglbergs: die Militärpfarre St. Johann Nepomuk am Fasangarten. 1910 im Beisein von Kaiser Franz Joseph eingeweiht, war das Gebäude zunächst Teil des Invalidenhauses der k. u. k. Armee und auch des Bundesheers der Ersten Republik. Nach einer Nutzungsperiode als Pfarrkirche St. Johann am Fasangarten wurde der Invalidenhauskomplex samt Kirche 1987 zum Sitz der Militärpfarre Wien.172 Die militärische Nutzung der Kirche hatte Folgen für die Raumgliederung: So befand sich im Kirchenraum weder ein Kommunionsgitter noch eine sonstige Abschrankung zum Altar hin, da die hohen militärischen Funktionäre an Feier- und Gedenktagen im Presbyterium Platz nahmen.173 Die überaus

169 170 171 172

Groen, Die magische Kraft der Rituale, S. 120. Perz / Uhl, Gedächtnis-Orte, S. 546. Perz / Uhl, Gedächtnis-Orte, S. 547. Vgl. Rolf M. Urrisk, Die Militärpfarrkirche St. Johann Nepomuk, in: Harald Tripp (Hg.), 1910 – 2010 St. Johann Nepomuk am Fasangarten. Vom Invalidenhaus zur Militärpfarre in Wien. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen, Wien 2010, S. 45 – 53. 173 Vgl. Wolfgang J. Bandion, Die k. u. k. Invalidenhauskirche St. Johann Nepomuk. Miscellanea zur heutigen Militärpfarre, in: Harald Tripp (Hg.), 1910 – 2010 St. Johann Nepomuk am Fasangarten. Vom Invalidenhaus zur Militärpfarre in Wien. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen, Wien 2010, S. 113 – 161, hier S. 128.

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Abb. 27: Militärpfarre St. Nepomuk am Fasangarten.

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schwach ausgeprägte Grenzziehung zwischen Altar- und BesucherInnenraum dokumentiert in diesem Fall also ein soziales Privileg, das den Militärs erlaubte, symbolisch in die Nähe des Klerus zu rücken. Auch die übrige Sitzordnung unterlag in der Monarchie »einem strengen Reglement. [. . . ] Die ersten zwei Bänke waren für Offiziere und deren Damen reserviert, die weiteren Bänke für auswärtige Besucher und die letzte Bank sowie die freien Plätze für die übrigen Anwesenden. Im Mittelgang stand die Offiziersdienerschaft«.174 Hinter einem mit roten Vorhängen verkleideten Durchgang befindet sich heute der »Ehrensaal der österreichischen Streitkräfte«.175 Ein »Höhepunkt militärischer Erinnerungskultur und [. . . ] kulturprägendes Symbol der Armee« 176 – so Wolfgang Bandion –, diente der Raum als »Ruhmeshalle« 177 und Veranstaltungssaal. Er bestand bereits lange vor dem anschließenden Kirchenbau als Teil des alten Invalidenhauses und versammelt Porträts und Büsten prominenter österreichischer Feldherren und Militärs von Raimund Graf Montecuccoli bis Franz Moritz Graf Lacy. Zwei großformatige Malereien von Johann Peter Krafft, die 1828 – 1832 in »enkaustischer Wachsmalerei« direkt an den Wänden angebracht wurden, zeigen die Szenen »Siegesmeldung des Fürsten Schwarzenberg an die verbündeten Monarchen nach der Völkerschlacht bei Leipzig« sowie »Erzherzog Karl mit seinem Stab in der Schlacht bei Aspern« – und damit zwei erfolgreiche Episoden aus der ansonsten wenig erfolgreichen österreichischen Militärgeschichte. Das letztgenannte Bild befindet sich heute nur noch als Kopie im »Ehrensaal«, die Völkerschlacht-Darstellung wurde durch ein Reiterbild des Feldmarschalls Radetzky ersetzt.178 Des weiteren befanden sich im Saal Memorabilien Radetzkys »wie seine Totenmaske und der Sessel, auf dem er halb sitzend verschieden war«.179 Repräsentiert die Invalidenhauskirche mit dem angeschlossenen »Ehrensaal der österreichischen Streitkräfte« – analog zum monströsen »Heldenberg« im Bezirk Hollabrunn und dem »Ehrensaal« des »Heldendenkmals« im Äuße-

174 Bandion, Die k. u. k. Invalidenhauskirche, S. 128. In der 2010 erschienen Jubiläumsschrift zur Militärpfarre findet sich eine Abbildung, die den Kirchenraum in aktuellem »festlichem Gebrauch« zeigt und an der sich seine besondere räumliche Ordnung ablesen lässt. Vgl. Harald Tripp (Hg.), 1910 – 2010 St. Johann Nepomuk am Fasangarten. Vom Invalidenhaus zur Militärpfarre in Wien. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen, Wien 2010, S. 10. 175 So bezeichnet in Mechthild Eschhaus u. a. (Red.), »Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis«. Lange Nacht der Kirchen 2012, Wien 2012, S. 134. 176 Bandion, Die k. u. k. Invalidenhauskirche, S. 130. 177 Bandion, Die k. u. k. Invalidenhauskirche, S. 132. 178 Vgl. dazu Bandion, Die k. u. k. Invalidenhauskirche, S. 130 – 159. 179 Bandion, Die k. u. k. Invalidenhauskirche, S. 138.

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ren Burgtor der Wiener Hofburg – 180 das umfassende »master narrative« der österreichischen Militärgeschichte, so fungiert die hier schon mehrfach thematisierte Votivkirche als Museum und Gedenkstätte partikularer militärischer Gruppierungen zwischen ausgehender Monarchie und Zweiter Republik. Sie ist damit – entsprechend ihrer Funktion als »Nationaldenkmal« und »geistliches Reichsheiligtum« der Donaumonarchie – ein Brennpunkt religiös-militärischen Totengedenkens, was vor allem auf ihre bis 1918 intakte Funktion als Garnisonkirche zurückgeht. In seinem Beitrag zur 1979 publizierten Jubiläumsschrift der Kirche gibt Erich Thanner einen kleinen Überblick über die im Kirchenraum positionierten Erinnerungszeichen und damit über die »Erinnerungslandschaft« Votivkirche: Man nehme sich einmal die Mühe, all die Gedenktafeln zu suchen und zu entziffern, die sich in Seitenkapellen und unbeachteten Wänden verstecken, man lese die Glasfenster, man nehme sich Zeit und sinne nach. Da gedenken im Querschiff die Kaiserschützen-Regimenter ihrer Toten aus dem Ersten Weltkrieg, zugleich aber zählt, nicht weit davon, der Wiener Heimatschutz seine Gefallenen aus dem Jahre 1934 auf und widerspricht damit einer zum Staatsmythos erhobenen offiziellen Version. Die Beter des täglichen Familien-Rosenkranzes verewigen sich ebenso, wie das k. u. k. Feldhaubitzen-Regiment und das Wiener Leichte Artillerieregiment der Jahre 1914 bis 1918. Neben der Zweiten Panzerdivision der Jahre 1939 bis 1945 gedenkt die K. a. V. Danubia ihrer auf dem Schlachtfeld Gebliebenen. Der Artilleristenbund Wien stiftete 1930 die enorme Barbara-Kerze, gedachte aber später auch seiner Opfer im Zweiten Weltkrieg. Eine Nische für sich haben die Angehörigen der Exekutive: Gendarmerie, Zoll, Justiz, Sicherheitswache, Kriminalpolizei und Polizeiverwaltung. Sie alle wissen um ihre Toten. Die Kameradschaft »Grün-Weiß« zählt nicht nur jene Kameraden aus den Reihen der einstigen Heimwehr auf, die gegen ihren Willen Hitlers Uniform tragen mußten und im Zweiten Weltkrieg fielen, sondern auch jene, die als aktive Widerstandskämpfer (wer gedenkt ihrer noch?) in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches zu Tode gequält wurden. Da ist die Kaisertreue Volkspartei des Obersten Wolff, die 1930 an den hundertsten Geburtstag Kaiser Franz Josephs erinnert, da ist das Schützenregiment 21 und das Niederösterreichische Infanterieregiment 1, da sind die Tapferkeitsmedaillenbesitzer, da ist die Kameradschaft »Feldlazarett 44« mit einer Tafel aus dem Jahre 1963, da gedenkt das Infanterieregiment

180 Vgl. dazu den Hinweis bei Stefan Riesenfellner, Steinernes Bewußtsein I. Der »Heldenberg« – die militärische und dynastische »Walhalla« Österreichs, in: Ders. (Hg.), Steinernes Bewußtsein I. Die öffentliche Repräsentation staatlicher und nationaler Identität Österreichs in seinen Denkmälern, Wien / Köln / Weimar 1998, S. 13 – 30, hier S. 25.

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99 seines Oberstinhabers, des Königs Georg I. der Hellenen und der in Sarajewo ermordeten Herzogin von Hohenberg.181

Die genannten Gedenktafeln an militärische, paramilitärische und polizeiliche Verbände und Vereinigungen waren nicht nur als Erinnerungszeichen im Kirchenraum präsent, sondern wurden auch in Gedenkrituale der entsprechenden Vereinigungen eingebunden; so fand jedes Jahr Mitte Dezember ein Gedächtnisgottesdienst des Kameradschaftsbundes des k. u. k. Infanterieregimentes Nr. 99 statt, der 1956 unterhalb der Erinnerungstafel an Kaiser Franz Joseph mit seinem Wahlspruch »Viribus Unitis« ein Denkmal installiert hatte.182 Bei diesem Denkmal wurde im Rahmen des Gottesdienstes eine feierliche Kranzniederlegung durchgeführt – und damit eines der stärksten symbolisch aufgeladenen Rituale der Totengedenkens überhaupt. Alexandra Kaiser hat die Symbolgeschichte des Kranzes und der Kranzniederlegung untersucht und dabei herausgearbeitet, dass dem Kranz durch seine doppelte Herkunftslinie als Siegerzeichen und Totengabe »die Bedeutungen von Ehre und Unschuld eingeschrieben« sind. »Damit materialisiert sich im Kranz sozusagen die Mehrdeutigkeit des Opferbegriffs; er symbolisiert die Pole von victima und sacrif icium«.183 Ein weiteres Ritual ist mit der bei Thanner genannten »Barbarakerze« verbunden, die 1930 vom »Österreichischen Artilleristenbund« gestiftet wurde. Zwei Kanonen tragen den Altartisch, auf dem die 264 Kilogramm schwere Kerze steht, deren Brenndauer angeblich 100 Jahre beträgt. An Allerseelen, am Barbaratag und im Rahmen von Gedenkfeiern der Artilleristen wurde und wird diese Kerze entzündet, die – so der unbescheidene Kommentar in der Einladung des Artilleristenbundes zur Barbarafeier 1931 – »in ihrer Schlichtheit und weihevollen Wirkung alle bisherigen Kriegerdenkmäler der Welt« übertrifft.184 Nicht nur im Zusammenhang mit dem militärischen Totengedenken stellt der Opferdiskurs die hegemoniale Form der Erinnerung an den Ersten wie den Zweiten Weltkrieg dar. Dabei ist das eben angesprochene Spannungsfeld von victima und sacrificium entscheidend: Diese Bedeutungsebenen des Opferbegriffs »markieren die Gegensätze vom aktiven, freiwilligen Opfer, das heißt vom Opferhelden, und vom passiven, wehrlosen, unschuldigen Opfer. In der Erinnerung verknüpfen sich die beiden Bedeutungspole mit einem ›heroischen Opfergedächtnis‹ einerseits und mit einem ›traumatischen‹ Opfergedächtnis andererseits«.185 Kaiser hat gezeigt, wie das Opfernarrativ zur zentralen Denk-

181 Thanner, Heiligtum der Völker, S. 14 – 15. Vgl. dazu auch die Beschreibungen und Analysen in: Fahrngruber, Die Votivkirche als Gedächtnisort, S. 122 – 128. 182 Vgl. Fahrngruber, Die Votivkirche als Gedächtnisort, S. 123. 183 Alexandra Kaiser, Von Helden und Opfern. Eine Geschichte des Volkstrauertags, Frankfurt am Main 2010, S. 157. 184 Vgl. Fahrngruber, Die Votivkirche als Gedächtnisort, S. 126 – 127, Zitat S. 127. 185 Kaiser, Von Helden und Opfern, S. 288 – 289.

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figur der deutschen Erinnerungskultur nach 1945 geworden ist, indem es zwei unterschiedliche Prozesse der »Entdifferenzierung« ermöglicht habe: zum einen zwischen den Polen von »Schuld« und »Unschuld«, und zum anderen zwischen den Polen von »Ehre« und »Unehre«. Indem die deutschen Gefallenen und Kriegstoten in der öffentlichen Darstellung nach 1945 in Opfer im Sinne von unschuldigen victima verwandelt wurden, wurde eine große »all-victims-together«-Gemeinschaft (Bill Niven) etabliert, denn nur unter dem Deckmantel des Opferbegriffs mit seiner impliziten »Unschuldsanmutung« war ein Gedenken an die gefallenen Soldaten beispielsweise im Volkstrauertag nach 1945 noch möglich. Allerdings – und hier kommt die zweite Ebene der Entdifferenzierung ins Spiel – repräsentiert die Nivellierungsformel von den »Opfern der Kriege und der Gewaltherrschaft« nicht nur ein »all-victims-together«-Modell – und diente als solches einer Vernebelung der Schuld der Täter. Vielmehr verkörpert die Formel zugleich ein »all-sacrifices-together«-Modell, da das Deutungsschema Opfer ja immer zumindest eine Spur des heroischen sacrif icium enthält, das dem Tod einen Sinn unterstellt, indem es die Bedeutung des »Sterbens für etwas« impliziert. Die Gleichstellung von Kriegstoten und im Dritten Reich Ermordeten unter dem Begriff des Opfers lässt sich also nicht nur als Viktimisierung der (deutschen) Kriegstoten lesen, sondern parallel auch als eine Form der Sakrifizierung der NS-Verfolgten: Denn allein schon durch die Deklarierung als Opfer wird noch der Tod derer, die in den Konzentrationslagern umgebracht wurden, nachträglich in gewisser Weise »sinnvoll gemacht«.186

Diese instruktive Analyse der »Sinngebung des Sinnlosen« 187 durch den Opferdiskurs in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft lässt sich auf den in der Votivkirche repräsentierten österreichischen Opfermythos nach 1945 übertragen. Dabei reichte diese österreichische Variante des Opfernarrativs aber noch wesentlich weiter: Denn ihr zufolge waren Österreich und die ÖsterreicherInnen insgesamt und in pauschaler Weise die Opfer einer nationalsozialistischen »Fremdherrschaft«.188 Bereits in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 wurde dieses Geschichtsbild proklamiert, und zwar in Form der »Tatsache, daß die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers [. . . ] das

186 Kaiser, Von Helden und Opfern, S. 290. 187 Kaiser, Von Helden und Opfern, S. 291. Vgl. dazu im Kontext der Analyse politischer Mythen auch Dies., »Sie wollen gar nicht, dass wir mit lauten Worten sie Helden nennen«. Der Volkstrauertag und der Mythos vom Sinn des Sterbens im Krieg, in: Heidi Hein-Kircher / Hans-Henning Hahn (Hg.), Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa, Marburg 2006, S. 63 – 80. 188 Heidemarie Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese: Die Transformationen des österreichischen Gedächtnisses, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Band 2, Mainz 2004, S. 481 – 502.

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macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat«.189 Der oben zitierte Text Erich Thanners bezieht sich affirmativ auf dieses Geschichtsbild, das in der Votivkirche in extenso vorgeführt wird, und gibt die heroische Opferrolle als gleichsam natürliches Produkt des »österreichischen Erbes« aus. Dabei geht Thanner auch auf das bereits beschriebene »Mauthausen-Fenster« ein: Zum Hohen Lied des Standhaltens im schweren, manchmal allzu schweren österreichischen Erbe, im abendländischen Geiste, im Glauben an Gott als der Quelle aller Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit, wird das Programm der Votivkirche, wenn ein Fenster Christus auf der Todesstiege von Mauthausen zeigt, Granitbrocken schleppend inmitten der anderen Opfer, der Österreicher, Deutschen, Juden, Europäer, der katholischen Polen nicht zuletzt. Und wenn Franz Jägerstätter, bereit, für die Heimat zu kämpfen, aber niemals für den Antichrist, die Hakenkreuzfahne symbolisch zerreißt. Freiwillig wie die frühen Christen, bewies er einer konformistischen Welt, daß der Mensch freien Willens ist und nein sagen kann, seinen Weg gehen kann, und sei es der Weg bis unter das Fallbeil.190

In der Kirche der Minoriten in der Alser Vorstadt findet sich ein weiteres Beispiel für das pauschalisierende Narrativ der »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« – und zwar mit einem hochproblematischen Akzent im Hinblick auf das historische Verhältnis von Christentum und Judentum: In den Betonboden und die Wand der dortigen Maximilian-Kolbe-Kapelle sind fünf Schwellennägel der Eisenbahnschienen eingesetzt, die zum Konzentrationslager Auschwitz führten; nach Wolfgang Bandion symbolisieren sie die fünf Wundmale Christi. Zudem ist – »symbolhaft für alle unter dem Regime der Nationalsozialisten ums Leben gebrachten Märtyrer« – Asche aus dem Krematorium von Auschwitz dort eingelassen.191 Diese Symbolpolitik zielt nicht nur, wie das »MauthausenFenster« der Votivkirche, auf die christliche Vereinnahmung des Gedenkens an den nationalsozialistischen Massenmord, der – obwohl der Holocaust an den europäischen Juden sein Zentrum bildete – mit der Passionsgeschichte verknüpft wird, sondern sie macht den Holocaust implizit sogar zu einem Refe-

189 Zit. nach Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese, S. 482. 190 Thanner, Heiligtum der Völker, S. 17. 191 Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 179 – 180. Auch in der Barbarakapelle in St. Stephan ist Asche aus Auschwitz in ein gotisches Kreuz eingelassen; die Asche wurde anlässlich des Katholikentages 1983 von Kardinal Frantisek Macharski an die Kirche übergeben. Vgl. Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 34.

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Abb. 28: Minoritenkirche in der Alser Vorstadt, Maximilian-Kolbe-Kapelle.

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renzpunkt der christlichen »Erlösungslehre«.192 Dabei folgt sie den Formen der katholischen Reliquienverehrung und des Märtyrergedenkens: Die Asche und die Eisenbahnnägel aus Auschwitz werden auf eine geradezu makabre Weise zu sakralen Objekten, die zur »Sinngebung des Sinnlosen« beitragen sollen. Die Überblendung zeitgeschichtlicher Ereignisse von »Krieg und Gewaltherrschaft« mit religiösen Logiken führt geradezu zwingend zu einer Überführung von Geschichte in schicksalhafte und heilsgeschichtliche Notwendigkeiten und damit in politische Mythologie.

Sich in den Raum einschreiben: Medien und Praktiken der Promulgation Der folgende Abschnitt vermittelt einen Überblick über weitere Erinnerungszeichen und Praktiken im Kirchenraum, die sich unter dem Begriff der »Promulgation« zusammenfassen lassen. Dabei geht es nun nicht mehr um nationale oder gruppenspezifische Erinnerungspolitiken, sondern um dezidiert individuelle memoriale Akte von geringer Reichweite, über die Einzelpersonen und fallweise auch deren Familien ihre Gedanken, Bitten und ihren Dank an Gott artikulieren. Der Volkskundler Lenz Kriss-Rettenbeck hat in seinen Arbeiten zur Geschichte und Typologie des Votivbildes den Begriff der Promulgation aus der Rechtssprache in die Frömmigkeitsforschung übertragen. Was zunächst die »öffentliche Bekanntmachung« eines Gesetzes bezeichnete, wird bei KrissRettenbeck auch für seine Untersuchungen zum Votivbild produktiv gemacht, um zu zeigen, dass »die Votivtafel weniger als materielle Dankgabe, sondern weitaus mehr als ein Mittel aufgefaßt wurde, um einen erhaltenen Gnadenbeistand vor der Gemeinschaft der Gläubigen kundzutun«.193 Es geht hier also um den öffentlichen Charakter der entsprechenden Äußerung, um die »religiös intendierte Kundgabe«, wie Herbert Nikitsch den Begriff der Promulgation

192 Für eine Analyse dieses im Kern antijudaistischen Erlösungsnarrativs vgl. die Bemerkungen bei Richard Faber, Libertäre Katholizität statt traditioneller Katholizismus, in: Ders. (Hg.), Katholizismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2005, S. 9 – 28, hier S. 21. 193 Lenz Kriss-Rettenbeck, Das Votivbild, München 1961, S. 98. Zum Votivbild vgl. außerdem Ders., Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens, 2. Auflage München 1971; Ders., Ex Voto. Zeichen, Bild und Abbild im christlichen Votivbrauchtum, Zürich / Freiburg 1972; Klaus Beitl, Votivbilder. Zeugnisse einer alten Volkskunst, Salzburg 1973; Inge Praxmarer / Hermann Drexel, »Als ich in shwerer angst gestanden. . . « Votivbilder aus Tirol, Innsbruck 1998; Wolfgang Brückner, Votive, Votivbilder, Votivtafeln, in: Walter Kasper u. a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Zehnter Band, Freiburg i. Br. u. a. 2001, Sp. 907 – 909.

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definiert.194 Solche Kundgaben finden sich nicht nur in den klassischen Votivbildern und Votivtafeln, wie sie in vielen Wiener Kirchen zu finden sind. In seinem instruktiven kleinen Beitrag zum Thema hat Nikitsch schon auf die Breite der »Promulgationsmedien« 195 hingewiesen, die sich inner- und auch außerhalb von Kirchenräumen finden lassen: Neben emblematisch aus Bildern und Texten oder auch nur aus Texten bestehenden »Exvotos« nennt er auch Eintragungen in Anliegenbüchern und gedruckte Dankeszeilen in Kongregationsbroschüren – und er verfolgt das Thema sogar bis hin zu Graffittis im Stadtraum, um auch dort nach Techniken der »Selbstdeklaration und Selbstthematisierung« zu fragen.196 Im Zusammenhang der vorliegenden Überlegungen zum Kirchenraum als memorialem Raum beschränke ich mich auf Formen der Promulgation, die tatsächlich im Kirchenraum zu finden sind, folge aber Nikitschs produktiver weiter Perspektive auf sehr unterschiedliche Promulgationsmedien, mittels derer sich Akteurinnen und Akteure mehr oder weniger dauerhaft in den Raum einschreiben. In Form von Stiftersignaturen, Votivund Gedenktafeln, aber auch an Pinnwänden, in Besucher- und Anliegenbüchern oder auch durch das Niederlegen von Blumen und Kränzen schreiben sich Privatpersonen in den Raum ein und erhoffen sich durch diese »zeitlichen Inskriptionen« 197 überzeitliche Wirkungen. Im Folgenden sollen anhand konkreter Wiener Raumbeispiele einige dieser erinnerungskulturellen Praktiken beleuchtet werden, um den Kirchenraum als Ort eines sozialen Gedächtnisses besser verstehen zu können. Das Minoritenkloster in der Alserstraße beherbergt über 4000 Votivtafeln, die Praktiken der Promulgation sichtbar werden lassen.198 Ursprünglich eine Kirche der Trinitarier, wurde die Pfarrkirche zur Allerheiligsten Dreifaltigkeit 1784 unter Joseph II. an die Minoriten übergeben, um von dort 194 Herbert Nikitsch, Promulgation – vom Votivbild zum Graffitti. Beobachtungen zur »popularen Religiosität«? In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXII (2008), S. 265 – 276, hier S. 265. 195 Nikitsch, Promulgation, S. 272. 196 Nikitsch, Promulgation, S. 272. 197 So eine Formulierung von Charles Péguy, der sich schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mit Kirchenbauten als Einschreibungen aus »Schrift und Körper, Gebet und Stein« auseinandergesetzt hat; vgl. Henning Schmidgen, Die Materialität der Dinge? Bruno Latour und die Wissenschaftsgeschichte, in: Georg Kneer / Markus Schroer / Erhard Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt am Main 2008, S. 15 – 46, hier S. 24. 198 Weitere schöne Beispiele finden sich im Eingangsbereich der Kirche am Hof »zu den Neun Chören der Engel« im ersten Bezirk. Nach Angaben von Wolfgang Brückner muss sich außerdem in Maria Enzersdorf bis zum »Ausräumen der dortigen ›Kitsch‹-Bilder als Weihegaben« eine beeindruckende Sammlung von Votivbildern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befunden haben. Brückner, Der Wiener Mädel-Maler Hans Zatzka, S. 202.

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Abb. 29: Minoritenkirche in der Alser Vorstadt, Opferlichtstand und Votivtafeln.

aus die Seelsorge im nahegelegenen Allgemeinen Krankenhaus zu übernehmen.199 Zwei Tafeln an der Fassade erinnern an Ludwig van Beethoven, dessen »Leichenfeier« hier am 29. März 1827 stattfand, und an Franz Schubert, der zur Glockenweihe der Kirche einen Hymnus komponiert hatte. Erinnerungskulturell interessant sind aber besonders der an die Kirche anschließende Kreuzgang des Konvents sowie die Antoniuskapelle. Die dort befindlichen Votivtafeln stammen vor allem aus der Zeit des Ersten und des Zweiten Weltkriegs und dokumentieren eine Intensivierung der Votivpraxis in Kriegszeiten: In standardisiertem Format und in knappen Formulierungen wird um Beistand für im Kriegseinsatz befindliche Soldaten der Familie gebeten und für die »glückliche Heimkehr« gedankt. Dieses kombinierte Grundmuster von

199 Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 178.

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»Dank und Bitte«,200 das die meisten Votivtafeln auszeichnet, lässt sich hier in extenso studieren. Von besonderem Interesse sind dabei die Tafeln, auf denen der eingravierte Tafeltext von handschriftlichen Zusätzen begleitet wird. So trägt eine Tafel mit der Inschrift »E.F. L.F. 1940 Dank für glückliche Heimkehr« die handschriftliche Aktualisierung »Dank 3. 6. 67«. Eine andere Tafel mit dem knappen Text »Dank und Bitte. 1942 M.D.« wurde ergänzt durch den Zusatz: »Hl. Antonius bitte hilf mir weiter so wie bis her. Danke«. Und auch neue Themen treten hinzu, wie bei einer Tafel »Dank. 1941 M. u. F.T.«, auf der handschriftlich vermerkt wurde: »Bitte das mein Sohn die Prüfungen besteht«.201 Die Votivtafeln werden auf diese Weise zu Palimpsesten, auf denen zumindest potentiell Ereignisse der weiteren Familiengeschichte notiert und erweiterte Bitten formuliert werden können. Dabei fällt auf, dass nur in seltenen Fällen ganze Namen genannt werden; die standardisierte Form enthält lediglich Initialen sowie Jahreszahlen. In diesem Sinne ist die öffentliche Kundgabe von »Dank und Bitte« hier nur bedingt öffentlich: Sie richtet sich an Gott, der sie selbstverständlich ein- und zuordnen kann, aber sie lässt gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit im Dunkeln, wer hier spricht. Die in vielen Wiener Kirchen platzierten Anliegenbücher reproduzieren das Muster von »Dank und Bitte« auf einem wesentlich flüchtigeren Medium – und

Abb. 30: Votivtafeln im Kreuzgang der Minoritenkirche, Alser Vorstadt.

200 Nikitsch, Promulgation, S. 271. 201 Forschungsnotizen vom 23. Mai 2014.

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diese Flüchtigkeit des Mediums bestimmt die Bandbreite der dort veröffentlichten Texte mit.202 Anliegenbücher bieten eine Gelegenheit zur »schriftlichen Devotion« und zum »Schriftverkehr mit dem Himmel«; sie liegen auf, damit KirchenbesucherInnen dort »ihre Sorgen, Nöte und Anliegen eintragen und so der Berücksichtigung im gottesdienstlichen ›Allgemeinen Gebet‹ und damit einer numinosen Hilfsmacht anheimstellen mögen«.203 Solche Anliegenbücher entstanden nicht selten, »um die Sitte der Wandkritzeleien zu kanalisieren«,204 was einen ersten Hinweis auf den allgemeinen Charakter dieser Inskriptionen bietet: Sowohl die »Wandkritzeleien« mit Kugelschreiber oder Bleistift, als auch die Einträge in Anliegen- oder Besucherbüchern stellen Praktiken dar, sich selbst als Person mehr oder weniger dauerhaft in den Raum einzuschreiben. Martin Scharfe hat die Promulgation generell als sinnliche Praxis und als Versuch der »sinnliche[n] Übereignung« gedeutet, »die wenigstens im Bestreben des Gläubigen besteht, eine Spur von sich am heiligen Ort zu hinterlassen«.205 Die Praxis des Eintragens in Anliegenbücher gehört dazu: »Der Kern dieses Musters ist« – so Martin Scharfe – »mit eigener Hand ein inneres Anliegen (ein Bitt- oder Dankgebet, ein Beziehungsgefühl) niederzuschreiben und dieses Anliegen, wenn es als schriftlicher Eintrag im Buch (oder auch auf einem Zettel) sozusagen Ding geworden ist, dort auf Dauer zu hinterlassen«.206 Wenn aber die Dauerhaftigkeit ein wichtiges Kriterium dieser Praxis ist, dann

202 Zu Anliegenbüchern und verwandten Promulgationsmedien als Phänomenen popularer Religiosität liegen bereits diverse Monographien vor: Vgl. Geneviève Herberich-Marx, Evolution d’une sensibilité religieuse. Témoignages scriptuaires et iconographiques de pèlerinages alsaciens, Strasbourg 1991; Hardy Kromer, Adressat: Gott. Das Anliegenbuch von St. Martin in Tauberbischofsheim. Eine Fallstudie zur schriftlichen Devotion, Tübingen 1996; Gabriele Ponisch, »Danke! Thank You! Merci!« Die Pilgerbücher der Wallfahrtskapelle Mariatrost bei Graz, Frankfurt am Main 2001; Daniela Berger Künzli, »Lieber Gott, bitte hilf mir. Ich sterbe dir sonst weg.« Analyse spätmoderner Religiosität am Beispiel von frei formulierten Gebetsanliegen und Fürbitten, Bern 2006. 203 Herbert Nikitsch, Schreiben und Glauben. Anliegenbücher als Beispiel moderner Volksreligiosität, in: Helmut Eberhart / Edith Hörandner / Burkhard Pöttler (Hg.), Volksfrömmigkeit. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1989 in Graz, Wien 1990, S. 191 – 201, hier S. 191 – 192. 204 Nikitsch, Schreiben und Glauben, S. 192. Gabriele Ponisch berichtet über entsprechende Hinweistafeln in der Basilika von Mariazell: »Erhalte die Schönheit des Gotteshauses! Schreibe Deinen Namen und Deine Bitte nicht auf die Wände sondern in die Gedenkbücher!« Gabriele Ponisch, »Bitte um weiteres Glück!« Anliegenbücher als Möglichkeit zeitgenössischer Devotion, in: Helmut Eberhart / Heidelinde Fell (Hg.), Mariazell. Schatz und Schicksal. Steirische Landesausstellung 1996, Graz 1996, S. 261 – 272, hier S. 262. 205 Scharfe, Über die Religion, S. 139. 206 Scharfe, Über die Religion, S. 140.

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stellen die Einschreibungen an Kirchenwänden die wirkungsvollere Form der Promulgation dar – solche Graffitti sind vereinzelt sogar aus römischer Zeit erhalten.207 Ob nun »Sitte oder Unsitte«: 208 In Wandbeschriftungen artikuliert sich ein Motiv der Selbstverewigung, das von einem unbekannten Schreiber / einer Schreiberin ganz offen ausgedrückt wird: »Ist mein Leib schon ganz verwesen, ist meine Handschrift hier noch zu lesen«.209 Gleichzeitig macht dieser Satz deutlich, welche Rolle der konkrete Ort der Selbstverewigung und Bittartikulation spielt; die im sakralen Raum hinterlassene Spur verspricht eine besondere Nähe zur rettenden Heilsgeschichte. Und auch dort, wo religiöse Motive im engeren Sinn zurücktreten, wie es Herbert Nikitsch anhand eines Anliegenbuchs in St. Ägyd im sechsten Wiener Gemeindebezirk konstatiert hat,210 bietet der Kirchenraum doch zumindest die Vorstellung eines irgendwie geschützten Raums an, in dem sich bestimmte Anliegen besser deponieren lassen als anderswo. Gleichzeitig zeigt sich am Beispiel des Anliegenbuchs ein spannungsreiches Paradox: Obwohl hier in vielen Fällen dezidiert persönliche und nicht anonymisierte Botschaften hinterlassen werden, scheint der konkrete Akt des Sich-Einschreibens vorzugsweise anonym vollzogen zu werden: Die Botschaft soll als persönliche Botschaft gelesen werden; beim Schreiben aber soll die Person eher nicht zu sehen sein. Die Theologin Elke Langhammer ist in einer kleinen »Feldbeobachtung« den »flüchtige[n] Gesten, schriftliche[n] Spuren, Gaben und Hinterlassenschaften« in Kirchenräumen nachgegangen, über die sich – so ihre These – die Aneignung des Kirchenraums als »Lebensraum« vollzieht, und sie hat nebenbei auch dieses Paradox festgehalten. Über den im Freiburger Münster postierten Tisch mit dem Anliegen- oder Fürbittenbuch schreibt sie: Obgleich sich an diesem Spätnachmittag viele Menschen im Münster aufhalten, wird dieser Ort – anders als die Marienstatue mit den Opferkerzen – nur von Einzelnen besucht. Mir scheint, dass sich viele Menschen diesem Ort nur diskret, fast verstohlen nähern. Eine Frau wartet länger in einer Bank, bevor sie ans Fürbittenbuch tritt, als es gerade verlassen ist. So kostet es auch mich Überwindung, einige Minuten dort im Buch zu blättern und Einträge zu studieren. Ich lese eben (auch) Intimes. Von elementaren Lebensbedürfnissen, von der Sorge um Gesundheit und den Lebensunterhalt. Von Familiärem. Relativ häufig finden sich Einträge von Kindern. »Für Gott«. Mit Herzchen und einem vielfach wiederholten »bitte, bitte«. Auch ein Dank an den Heiligen Nikolaus für seinen Segen ist am 207 Vgl. Ponisch, »Danke! Thank You! Merci!«, S. 47 – 48. 208 Hans Koren, Sitte oder Unsitte? Bemerkungen zu Inschriften auf Kapellenwänden, in: Blätter für Heimatkunde 24 (1950), S. 21 – 29. 209 Ponisch, »Bitte um weiteres Glück!«, S. 267. 210 Nikitsch spricht von »in den religiösen Raum echappierende[n] Übersprungshandlung[en]«, vgl. Nikitsch, Schreiben und Glauben, S. 200.

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Gedenktag des Heiligen eingetragen: Für eine Eheschließung, die die Kirche verweigert. Mit den vollständigen Unterschriften des Paares und der Trauzeugen.211

Schließlich lassen sich – neben den Votivtafeln, Inskriptionen und Anliegenbüchern – auch die in den meisten Wiener Kirchen vorhandenen Opferlichtstände als Medien der Promulgation verstehen: Gegen ein kleines Entgelt kann vor einem Altar oder einem Andachtsbild eine »Opferkerze« entnommen und angezündet werden; in der Regel wird dabei einer bestimmten Person gedacht oder ein bestimmtes Anliegen damit verbunden. Beim Entzünden von Opferkerzen ist die Promulgation im Sinne einer »religiös intendierten Kundgabe« einerseits reduziert auf die nonverbale und daher deutungsoffene Botschaft einer brennenden Kerze, andererseits ist diese Botschaft sehr flüchtig – sie ist zeitlich begrenzt auf die Brenndauer der Kerze – und daüber hinaus weitestgehend anonym. In verdichteter Form zeigt sich hier der theologische Sinn des Opfers, die »zeichenhafter Ausdruck der Hingabe an die Gottheit« ist, »von der der Mensch sich abhängig weiß und die den Menschen gnädig annimmt«.212 Das Opfer ist in diesem Sinn eine Verbindlichkeitsgeste, die auf der einen Ebene Abhängigkeit, Dankbarkeit oder Sühne gegenüber Gott und auf der zweiten Ebene soziale Verbindlichkeiten indiziert. Gerade die Deutungsoffenheit der Geste des Kerzenanzündens macht dessen große Popularität aus. Elke Langhammers Skizze aus dem Freiburger Münster bietet auch hierzu einige Beobachtungen: Mein Blick fällt – wie so oft – auf die Muttergottesstatue mit Kind und dem Kerzenlichtermeer davor. Es ist ein gut frequentierter Ort. Auch jetzt in der Mittagszeit. Manche Menschen kommen ganz zielstrebig an diesen Ort, entzünden eine Kerze, gehen zügig weiter. Andere sitzen vor oder nach dem Anzünden der Kerzen lange in einer der naheliegenden Bänke. Häufig treten sie nach dem Anzünden einen Schritt zurück, richten sich auf, wenden den Blick nach oben zur Statue und verweilen einen Moment. Menschen jeden Alters entzünden Kerzen. Heute sind es mehr Frauen als Männer. Ein Mann um die 50, mit schulterlangen grauen Haaren, entzündet eine Kerze. Wäre ich ihm in einem anderen Kontext begegnet, hätte ich dies nicht für möglich gehalten. Länger verweilt mein Blick auf einem älteren Paar mit einem kleinen Kind. Es ist ein Enkelkind, vermute ich. Sie lassen sich Zeit beim Kerzenanzünden, sprechen mit dem Kind. Später verweilen sie lange in einer Bank in der Nähe. Das Kind birgt sich ruhig bei der älteren

211 Elke Langhammer, »Weil man nur an heimgesuchten Orten wohnen kann. . . « Religiöse Handlungspraktiken in Kirchenräumen, in: Anna Findl-Ludescher / Elke Langhammer / Johannes Panhofer (Hg.), Gutes Leben – für alle? Theologisch-kritische Perspektiven auf einen aktuellen Sehnsuchtsbegriff, Münster u. a. 2012, S. 113 – 124, hier S. 122. 212 Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 306.

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Frau. – Welche vielstimmigen und mannigfaltigen Geschichten, welche Sorgen und Nöte und welche Freuden verbergen sich in diesen vielen, vielen Kerzen? 213

Deutlich wird hier auch: Der erinnerungskulturelle Wert der brennenden Kerze liegt weniger im kulturellen Gedächtnis oder im Speichergedächtnis, sondern in erster Linie im sozialen und kommunikativen Gedächtnis – in der Art und Weise, wie sich durch das Kerzenanzünden soziale Beziehungen herstellen und verfestigen. Darauf weist auch der evangelische Pastor und populäre Ratgeberautor Werner »Tiki« Küstenmacher hin. Er geht zunächst – nicht ohne die »longue durée« dieser Tradition aufzurufen – auf die eigentliche religiöse Funktion der Opferkerze ein: »Der Brauch, einem hilfsbedürftigen Menschen mit dem Symbol des Lichts Kraft zu senden, ist älter als alle christlichen Traditionen. Mit der Platzierung des Lichts in einem heiligen Raum gibt man die Sorge um den kranken oder unglücklichen Mitmenschen weiter an eine größere Kraft«. Weiter heißt es dann: »Nutzen Sie den Brauch mit der Opferkerze auch, um dem Betroffenen das mitzuteilen. ›Ich habe eine Kerze für dich angezündet‹, ist ein wundervoll tröstlicher Satz, über den sich auch die freuen, die mit Glauben und Kirche wenig anfangen können«.214 Hier zeigt sich, dass die memoriale Funktion dieser Praxis nicht primär darin besteht, mehr oder weniger nachhaltige Spuren im sakralen Raum zu hinterlassen, sondern vielmehr darin, soziale Beziehungen rituell zu bestärken und wiederum in Kommunikation umzusetzen. Die symbolische Bedeutung der Geste teilt sich nicht im Moment selbst mit, sondern wird zu einer Art »Erinnerungsanker«, über den dann – im Nachhinein – gesprochen wird. Gleichzeitig ist die Geste des Kerzenanzündens eben so bedeutungsoffen und flexibel, dass sie auch dann eingesetzt werden kann, wenn es gar nicht um religiöse Wirklichkeitsdeutungen im strengen Sinn geht; sie ist auch dann leicht zugänglich, wenn man »mit Glauben und Kirche wenig anfangen« kann. Ein – relativ beliebig herausgegriffener – sakraler Raum, an dem sich verschiedene Praktiken der Promulgation konzentriert ablesen lassen, ist die kleine Anbetungskapelle in der Kirche Zur Heiligen Theresia von Kinde Jesus in der Siedlung Starchant am Wiener Gallitzinberg. Der Kapellenraum ist sehr klein und eher schlicht ausgestattet: An Sitzgelegenheiten gbt es zwei Stühle sowie eine kurze Bank, vor dem Altartisch steht eine schmale Kniebank. Auf dem Altar befindet sich ein verschließbarer Glaskasten mit dem ausgesetzten Allerheiligsten, einer Hostie in einer einfachen Halterung, darüber ein großformatiges Gemälde, das die heilige Therese von Lisieux in Anwesenheit zweier

213 Langhammer, »Weil man nur an heimgesuchten Orten wohnen kann. . . «, S. 121 – 122. 214 Werner Tiki Küstenmacher, Eine Handvoll Glück. 50 einfache Rituale, die das Leben erleichtern, München 2013, S. 122 – 123.

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Abb. 31: Szene am Opferlichtstand in St. Stephan.

weiterer Unbeschuhter Karmelitinnen auf dem Sterbebett zeigt. Die – im Gegensatz zur »großen« heiligen Therese von Avila – »kleine« heilige Therese wurde als Patronin der 1929 geweihten Starchanter Kirche gewählt, lediglich vier Jahre nach ihrer Heiligsprechung durch Pius XI. Der Raum wird nach oben durch eine flache Holzbalkendecke abgeschlossen und von zwei einfachen Lichtquellen erhellt: einem sechsfachen Wandstrahler sowie einer IKEATischleuchte auf dem Altar. Dass die Strahler an einen Bewegungsmelder gekoppelt sind, verweist wohl auf die spärliche oder zumindest unregelmäßige Nutzung der Anbetungskapelle.215 Die seitliche Wand unter dem kleinen spitzbogigen Fenster wird von zwei großen Gedenktafeln aus Marmor beherrscht: Oben platzierte der Wiener »Freiheitsbund«, eine 1927 gegründete paramilitärische Organisation der christlichsozialen Gewerkschaften, eine Inschrift, die lautet: »Ich hatt’ einen Kameraden. . . Herrgott! Sei ihm gnädig! Den im Kriege gefallenen und allen verstorbenen Arbeitern gewidmet vom Freiheitsbund Wien«. Darunter ein Beispiel eines dezidiert militärischen Totengedenkens: »Söhne vom Donaustrand schützten ihr Vaterland. Den Soldaten aller Zeiten zum Gedenken für heldenhafte Pflichterfüllung. Kameradschaft ehem. Heeresangehöriger Österreichs«.216 Beide Inschriften zielen – mit »allen verstorbenen Arbeitern« und

215 Forschungsnotizen vom 3. Februar 2015. 216 Forschungsnotizen vom 3. Februar 2015.

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»den Soldaten aller Zeiten« – auf eine denkbar große Zahl von Adressaten und spiegeln damit die Tendenz religiöser Erinnerungspraktiken zur Universalisierung partikularer Interessenslagen im Modus eines universalisierten Vertretungsanspruchs. Indem etwa der »Freiheitsbund« vorgibt, hier für alle Arbeiter zu sprechen, richtet er sich implizit gegen den politischen und sozialen Vertretungsanspruch der Sozialdemokratie. Dieses Verallgemeinerungsmotiv lässt sich nicht nur hier, sondern bei den meisten christlichen Erinnerungspraktiken wiederfinden, insbesondere in Verbindung mit dem oben beschriebenen Opfermotiv. In dieser räumlichen Konstellation erhält auch ein weiteres Promulgationsmedium in der Anbetungskapelle seine schillernde Bedeutung: An der Eingangswand befindet sich eine bemalte Leinwand mit einer einfachen Darstellung einer Wiese mit sich darüber erstreckendem blauem Himmel, im Zentrum eine Sonnenblume. Unten rechts an der Leinwand ist ein kleiner Plastikbeutel befestigt, versehen mit der handschriftlichen Notiz: »Ein Blütenblatt für Ihr verstorbenes Kind«. Aus Papier ausgeschnittene kleine Laubblätter können hier entnommen, mit dem Namen und Sterbedatum eines Kindes beschrieben und auf die Leinwand geklebt werden. Im Februar 2015 ist diese Leinwand voll beklebt, von der Sonnenblume nur noch die braune Mitte zu sehen. Auf manchen Blättern sind neben Namen und Geburts- sowie Sterbedatum kurze Notizen festgehalten – »Wir haben Dich lieb« oder Grüße der Geschwister. Diese Form der Promulgation im Kircheninneren ermöglicht fallweise entlastenden Trost, aber auch moralisierende Bemerkungen: »Brankas Kinder – 1. Abtreibung 11/09-2. Abtreibung 05/10 – 1. Abgang 09/10 – Wieviele ??? weitere«. Das Gegenüber von militärischer Totenehrung und dieser emotionalen Anklage erzeugt – zumindest bei mir während meines Besuchs der Anbetungskapelle – eine beklemmende Wirkung.217 Welche Funktion hat die »religiös intendierte Kundgabe« im einen wie im anderen Fall? Und welche Bedeutungsschichten sind geradezu notwendigerweise im Spiel, wenn Todesfälle sehr unterschiedlicher Art im Kontext eines sakralen Raums verhandelt werden? Des weiteren liegt in der Starchanter Anbetungskapelle auch ein Anliegenbuch auf, platziert auf einer kleinen Kommode an der dem Altar abgewandten Seite des Raums. Es weist kaum Besonderheiten auf, soll hier aber als ein Beispiel herangezogen werden, um zu zeigen, welche »promulgativen« und narrativen Strukturen sich hier – auch im Gegensatz zu den weitaus dauerhafteren Votivtafeln – finden lassen. Das Muster von »Dank und Bitte« zeigt sich auch hier überdeutlich und bestimmt die Logik vieler Einträge, in denen etwa anlässlich des Jahreswechsels für das vergangene Jahr gedankt und für das kommende Jahr um Beistand und Schutz gebeten wird. Auch hier kommt die Bitte speziell für Verstorbene vor, wobei auffällig ist, dass in dieser »flüchtigeren« Form häufig 217 Forschungsnotizen vom 3. Februar 2015.

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gerade nicht nur die Namensinitialen, sondern die ganzen Namen festgehalten werden. Ein Eintrag vom 3. Januar 2015 etwa verzeichnet genauestens nicht nur den vollen Namen und das Sterbedatum des Angehörigen, sondern, nach dem Muster einer Todesanzeige in der Tagespresse, auch die Verwandtschaftsverhältnisse sowie den Wohnort mit Postleitzahl. Wohnorte und Postleitzahlen sowie die kompletten Namen sind auch bei den Unterzeichneten angegeben. Das Anliegenbuch gibt aber nicht nur Raum für solche – eher nüchternen – Vermerke, sondern auch für weitschweifigere Praktiken der »Selbstdeklaration und Selbstthematisierung«. Ein Starchanter Eintrag von »Eva-Maria« vom 6. Januar 2015 kommt beispielsweise geradezu im Plauderton daher und verbindet in sehr loser Folge Wünsche und Alltagsmeinungen: »Das ich im Job alles richtig mache, freue mich auch sehr, das Sissi und ich wieder Kontakt haben und wieder gut sind. Spreche gerne mit allen Mitmenschen, nur wenn jemand unfreundlich ist, wünsche ich alles gute dann! Lieber Jesus, lasse es Dir über ob ich einen Partner fürs Leben finde, es ist auch sehr schwierig jemanden zu finden! Freue mich auch sehr wenn ich so nette Bekanntschaften mache, Leute, die auch gerne wandern u. schwimmen auch vieles gerne unternehmen. Habe Dir immer viel zu sagen! Hilf auch Menschen in schwerer Stund und in einer schwierigen Situation!« Hier fungiert das Anliegenbuch fast schon als Gesprächsersatz oder als Anregung zum inneren Monolog – gleichzeitig werden hier doch auch Lebenserfahrungen und grundlegende moralische Positionen so festgehalten, dass sie als Nachweis einer »christlichen« Lebenseinstellung lesbar sind. Ein Eintrag vom 13. Januar wiederum formuliert seine eindringliche Bitte in einer Sprache, die im Gegensatz zum eben zitierten Text (»Hilf auch Menschen in schwerer Stund«) weniger konventionell an »christliche Werte« angelehnt ist: Bitte lass mich wieder FREUDE & LIEBE spühren am ganzen Körper. . . Zeige mir meine POSITIVE KRAFT UND ENERGIE und lass sie mich einsetzen – BRINGE MICH BITTE WIEDER AUF MEINEN WEG ZU DIR / ZU MIR! Lass mich BITTE WIEDER STRAHLEN!

Und ein weiterer Eintrag enthält sich zwar der Bitten für die Zukunft, stattet dafür aber überschwenglichen Dank in einer im Hinblick auf die Geschlechterpolitik der katholischen Kirche – wahrscheinlich unfreiwillig – brisanten Formulierung ab: »Liebe Gott, Ich danke Ihnen vielmals für alles und Du bist die Beste!« 218

218 Alle Zitate nach den Forschungsnotizen vom 3. Februar 2015.

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Bürgerliche Memoria: Beispiele aus Mariahilf, Breitensee und Lainz Der für ein weites Verständnis von Promulgation zentrale Komplex des religiösen Stiftungswesens ist hier bereits an mehreren Stellen gestreift worden. Im Folgenden soll dieses Thema nicht an den naheliegenden und bestens erforschten Beispielen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, sondern an weniger traktierten Wiener Beispielen aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert illustriert werden. Dabei geht es um die Einschreibung von Privatpersonen im Kirchenraum, die mit der materiellen Spende von Teilen der Kirchenausstattung verbunden sind. Diese Praxis der Einschreibung findet sich in überaus zahlreichen Wiener Kirchenräumen; drei exemplarische Raumsituationen sollen herausgegriffen werden. Von der barocken Wallfahrtskirche im sechsten Wiener Gemeindebezirk Mariahilf war bereits im Zusammenhang mit der durch hagiographische Programme gestützten habsburgischen Staatsideologie des 17. und 18. Jahrhunderts die Rede. Sie ist aber ebenso ein Ort bürgerlicher Memorialpraxis der Jahrhundertwende.219 Denn die Glasfenster der Mariahilfer Kirche sind allesamt in den 1890er Jahren erneuert und damals von bürgerlichen Gemeindemitgliedern gestiftet worden. Auf den einzelnen Fenstern sind die Stifter namentlich genannt und erhielten damit ihren Platz im Kirchenraum – eine starke Form bürgerlicher Selbstrepräsentation im halböffentlichen Raum des Kirchengebäudes. An dieser Stelle seien nur zwei Stifter hervorgehoben: Therese Auer von Welsbach – höchstwahrscheinlich die Mutter des Chemikers und Glühstrumpffabrikanten Carl Auer von Welsbach – finanzierte ein Fenster, das Christus im Strahlenkranz zeigt. Die Strahlenkranz-Darstellung lässt sich möglicherweise auf die Hoffnungen beziehen, welche die Familie in die Entwicklung neuer Patente auf dem Gebiet der Beleuchtungstechnik setzte: Zur Entstehungszeit der historistischen Glasfenster in der Wallfahrtskirche Mariahilf erzielte nämlich Carl Auer von Welsbach – nach dem vorläufigen Scheitern seiner ersten Glühstrumpffabrik in Atzgersdorf – seinen wirtschaftlichen Durchbruch. Der Strahlenkranz erinnert stark an zeitgenössische Allegorien der Elektrizität,220 zumal im oberen Segment des Fensters zusätzlich ein lichtstrahlendes Herz Jesu abgebildet ist. Wir hätten damit ein Paradebei219 Vgl. zum Folgenden meinen Aufsatz zur Mariahilfer Kirche, dem die folgenden Überlegungen entnommen sind: Wietschorke, Sakraler Raum, Politik und die Ordnung der Heiligen. 220 So zeichnet sich die Ikonographie der Elektrizität seit deren Entdeckung durch einen Rückgriff auf theologische Deutungsmuster aus: Das Licht erscheint in Form göttlicher Blitze und »Erleuchtungen«, die Elektrizität selber wurde als Wirkung einer übersinnlichen göttlichen Kraft gedeutet. Beispiele dafür finden wir etwa im 18. Jahrhundert bei dem Geistlichen und Experimentalphysiker Jean-Antoine Nollet, über dessen Theologie Ralf Bohn schreibt: »Die Elektrizität ist das göttliche Medium der göttlichen Wahrheit – verlustlose Übertragung des Göttlichen an den

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spiel für die Sakralisierung einer durchaus profanen Ökonomie vor uns, die sich bis in die Ikonographie hinein verfolgen lässt. Im linken Chorfenster finden wir weiterhin eine Darstellung des heiligen Augustinus, die der Gründer des berühmten Mariahilfer Warenhauses Herzmansky in der Stiftgasse, einem der Aushängeschilder des österreichischen Textil- und Konfektionshandels, gestiftet hat. Mit diesem Fenster hat sich August von Herzmansky – nicht zuletzt über die Herleitung seines Vornamens vom heiligen Augustinus – im sakralen Raum verewigt und somit selbst »geheiligt«. Das rechte Chorfenster schließlich zeigt den heiligen Leopold. Anstelle des Stifternamens erscheint im unteren Feld der österreichische Bindenschild, so dass wohl von einer staatlichen Finanzierung auszugehen ist. Die Fenster zeigen eindrucksvoll, dass die Mariahilfer Kirche nicht nur einen Raum darstellt, in dem sich die ecclesia als anerkannte Sachwalterin des Heiligen inszeniert, sondern auch einen bürgerlichen Repräsentationsraum, der soziale Hierarchien innerhalb der Gemeinde und der Stadt spiegelt. Herzmansky erhielt einen begehrten Platz innerhalb des Sanktuariums – und damit die Gelegenheit, sich mitsamt seinem Unternehmen wirkungsvoll in das symbolische Arrangement des Kirchenraums einzuschreiben. Solche erinnerungskulturellen Einschreibungen lokaler Prominenz finden sich auch in der Pfarrkirche St. Laurentius in Breitensee. Auch auf das ikonographische Programm der Glasfenster dieser Penzinger »Kaiser-Jubiläumskirche« ist hier bereits in der historischen Überblicksdarstellung zur Entwicklung des katholischen Kirchenbaus in Wien kurz eingegangen worden. Dabei stellt diese Kirche nicht nur einen Erinnerungsraum der habsburgischen Geschichte, sondern auch der bürgerlichen Pfarrgemeinde und ihrer Akteure dar. 1896 begonnen und im Oktober 1898 eingeweiht, entstand mit St. Laurentius ein repräsentativer neogotischer Kirchenbau mit 62 Meter hohem Turm nach Plänen des Architekten Ludwig Zatzka. Obwohl bei einer früheren Parzellierung ein anderer Platz als Kirchenplatz vorgesehen war, bestand die Gemeinde auf einem Bauplatz im Zentrum der alten Breitenseer Dorfanlage, erwarb eigens dafür das Gasthaus »Zur Riesin« und ließ es abtragen.221 Mit der kanonischen Errichtung der Pfarre Breitensee durch Kardinal Gruscha am 11. Februar 1899 – »in steMenschen als das Göttliche im Menschen«. Ralf Bohn, Technikträume und Traumtechniken. Die Kultur der Übertragung und die Konjunktur des elektrischen Mediums, Würzburg 2004, S. 73. Vgl. zur »Theologie der Elektrizität« im 18. Jahrhundert auch Ernst Benz, Theologie der Elektrizität. Zur Begegnung und Auseinandersetzung zwischen Theologie und Naturwissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert, Wiesbaden 1971; Martin Scharfe, Menschenwerk. Erkundungen über Kultur, Köln 2002, S. 72 – 81. 221 Markus Baier, 100 Jahre Pfarre Breitensee. Versuch eines historischen Rückblicks, in: Festschrift 100 Jahre Pfarrgemeinde Breitensee 1898/99 – 1998/99, Wien 1998, S. 33 – 59, hier S. 35.

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ter Erwägung dessen, was die Gefahren für die Seelen abhalten und dem uns anvertrauten Volk zur Erleichterung gereichen möge« 222 – ging dann »ein alter Breitenseer Wunschtraum [. . . ] in Erfüllung«.223 Als exemplarisch für das bürgerliche Kirchenstiftungs- und Spendenwesen des ausgehenden 19. Jahrhundert kann die Übernahme spezifischer finanzieller Posten durch prominente Mitglieder der Gemeinde gelten. Die in Breitensee ansässige Familie des Architekten Ludwig Zatzka spielt dabei eine hervorgehobene Rolle: Zatzka selbst – enger Freund und Berater Karl Luegers sowie Stadtbaumeister unter der christlichsozialen Stadtregierung – 224 spendete Ziegel im Wert von 500 Gulden, seine Eltern finanzierten Glockenstuhl und Geläute und sein Bruder, der bekannte Kirchenmaler und ebenfalls Freund Karl Luegers, Hans Zatzka, führte unentgeltlich das Hochaltarbild aus. Ludwig Zatzka ist nach dem Vorbild des Anton-Pilgram-Reliefs in St. Stephan mit einer Büste an der Chorempore dargestellt und erscheint in einer Inschrift auch als derjenige, der – zusammen mit seiner »Gattin Maria geb. Mary« – das Gebäude dem Kaiser Franz Joseph »widmet«.225 Weitere bürgerliche und adelige Spender – darunter auch Fürst Liechtenstein und Kardinal Ganglbauer – trugen zu dem Bau bei; der Kaiser gab aus seiner Privatschatulle 300 Gulden dazu.226 An den acht Fenstern der Seitenschiffe finden sich die Namen der Gemeindemitglieder Anton Nürnberger, Friedrich Schmid, Josef Friedreich, Vincenz Wessely, Franz und Josefa Kaurek, Alexander Moering Ritter von Moeringen, Henriette Nürnberger sowie »Josef u. Frau Eug. Klose«. Ihre Stiftervermerke nach dem Muster »gewidmet von [. . . ] im Jubiläumsjahre 1898« finden sich auf Fenstern, die – nach Möglichkeit – Namenspatrone der entsprechenden Personen zeigen.227 Und auch die deutlich aufwendiger gestalteten Fenster zur habsburgischen Geschichte sind teilweise von Privatpersonen gestiftet. Durch diese Teilfinanzierung aus privaten Mitteln wurde der Bau symbolisch zu einem »Gemeinschaftswerk«, das den Zusammenhalt der Gemeinde spiegeln sollte – eine erinnerungskulturelle Inszenierung, wie sie bis heute bei Kirchenbauiniativen oder der Finanzierung neuer Ausstattungsstücke wie Kirchenorgeln zu beobachten ist.

222 Zit. nach: Festschrift 100 Jahre Pfarrgemeinde Breitensee 1898/99 – 1998/99, Wien 1998, S. 61. 223 Baier, 100 Jahre Pfarre Breitensee, S. 33. Vgl. zur Gründung der Pfarre Breitensee auch Malfèr, Kaiserjubiläum und Kreuzesfrömmigkeit, S. 14 – 22. 224 Vgl. Brückner, Der Wiener Mädel-Maler Hans Zatzka, S. 213. 225 Der Widmungstext ist abgedruckt in: Malfèr, Kaiserjubiläum und Kreuzesfrömmigkeit, S. 20. 226 Vgl. Brigitte Schütz / Stefan Malfèr, Unsere Pfarrkirche kunsthistorisch betrachtet, in: Festschrift 100 Jahre Pfarrgemeinde Breitensee 1898/99 – 1998/99, Wien 1998, S. 63 – 73, hier S. 64 – 65. 227 Forschungsnotizen vom 7. Februar 2015.

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Während die Mariahilfer Kirchenfenster und die Breitenseer Kirchenausstattung vor allem die »Memoria« von Privatpersonen dokumentieren, stellt sich die 1903 fertiggestellte und geweihte Kirche des Versorgungsheim-Komplexes in Lainz als ein Erinnerungs- und Repräsentationsraum bürgerlicher Kommunalpolitik par excellence dar.228 Ablesen lässt sich das an nahezu allen Bauteilen: In Form stilisierter Bezirkswappen aller 20 Wiener Gemeindebezirke ist die Gemeinde Wien schon an den Türmen der Lainzer Versorgungsheimkirche repräsentiert. Aus Platzgründen hatte man den ursprünglichen Plan verwerfen müssen, alle ehemals selbständigen Gemeinden, Vorstädte und Gründe in ihren historischen Wappenschildern abzubilden, so dass nur die eigentlichen Mittelschilde der zusammengesetzten Bezirke zu sehen sind.229 Die gestalterische Strategie der Lokalisierung wird hier überdeutlich: Der Kirchenneubau auf dem Gelände des kommunal geführten Versorgungsheims sollte dezidiert eine Wiener Kirche sein, eine Repräsentation der Gemeinde und ihres sozialpolitischen Engagements. An der Vorhalle sind neun Porträtbüsten angebracht, die den Bürgermeister Karl Lueger, die beiden Vizebürgermeister Josef Strobach und Josef Neumayer, die beiden Stadtreferenten Roderich Krenn und Ludwig Zatzka, den Magistratsdirektor Richard Weiskirchner, den Magistratsreferenten Jakob Dont, den Bauvizedirektor Rudolf Helmreich und den städtischen Architekten Johann Scheiringer zeigen.230 Die damalige Stadtregierung erhielt hier also schon an der Kirchenfassade einen prominenten Platz – und damit nicht genug. Der Glockenstuhl trägt sechs auf den cis-moll-Akkord gestimmte Glocken; auf jeder dieser Glocken befindet sich das Bild eines Heiligen, das Wappen der Stadt Wien und das Bild eines Gemeindefunktionärs (Lueger, Strobach, Neumayer, Krenn, Zatzka und Weiskirchner) – und zwar so, dass alle Funktionäre zusammen mit ihren Namenspatronen abgebildet sind. Die Glocken sind ein bevorzugter Ort für erinnerungspolitische Selbsteinschreibungen der Gemeindeführung. Auch in den von Alain Corbin untersuchten französischen Landgemeinden des 19. Jahrhunderts wurde die Symbolkraft der Glocken im Hinblick auf die kommunale Ordnung genutzt: »Die Harmonie der Glocken erschien als Garant für die Harmonie in der Gemeinde«.231 Auch hier wurden Stifter und Funktionäre auf der Glockenbronze verewigt – ein Prinzip, das bei einem Neuguss der Glocken beibehalten wurde:

228 Die folgende Analyse stellt eine gekürzte und überarbeitete Fassung meines Beitrags zur Versorgungsheimkirche dar: Wietschorke, Apotheose des Kleinbürgertums. 229 Vgl. Dont, Das Wiener Versorgungsheim, S. 44 – 53, sowie ausführlicher Ders. (Hg.), Der heraldische Schmuck der Kirche des Wiener Versorgungsheims, Wien 1910. 230 Vgl. Dont, Das Wiener Versorgungsheim, S. 34. 231 Corbin, Die Sprache der Glocken, S. 118.

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In der Stadt wie auf dem Dorf kam es [. . . ] vor, daß man auf der neuen Glocke die Inschrift der alten reproduzierte. Der Neuguß eines oder mehrerer Elemente des Geläutes erlaubte es, den Namen der herrschenden Souveräne, der Obrigkeiten, der derzeitigen Magistratsbeamten mit auf die Liste derjenigen zu setzen, die ihnen vorangegangen waren; zumindest bot er Gelegenheit, sie auf die dieselbe Bronze zu schreiben.232

Gerade in erinnerungskultureller Hinsicht waren die Glocken – so Corbin – ein wichtiger Identitätsanker: Die Glocke wurde im Zeichen der Romantik im 19. Jahrhundert »als kollektive Gedächtnisstütze verstanden. [. . . ] Man sagt, daß alte Leute sich nicht nur an entschwundene Klänge, sondern auch an Glockengüsse und – gießer, an Glockenweihen, Taufpatenschaften und auch an die gelegentliche Entführung einer Glocke erinnern können. Auffällig ist hier [. . . ] das Vorhandensein eines langen Gedächtnisses, das besonders lange anhält beim Schweigen der Glocken, das mit Niederlage, Demütigung, Gotteslästerung, Geißel und Interdikt in Zusammenhang gebracht wird«.233 Das 1904 eröffnete Lainzer Versorgungsheim, dessen »symbolische[s] Zentrum« 234 die Kirche bildet, war eines der Vorzeigeunternehmen des »munizipalen Populismus« 235 unter Bürgermeister Karl Lueger und stand damit repräsentativ für das sozialpolitische Profil und den karitativen Anspruch der christlichsozialen Stadtregierung. Diese kommunale Einrichtung bot ein »ästhetisches Betätigungsfeld für eine Partei, die auf der Suche nach gesellschaftlicher Wertschätzung und materieller Sicherheit war«,236 gleichzeitig aber ist das Versorgungsheim ein »hervorragendes Beispiel für den Fiskalismus der Christlichsozialen«, denn durch seine Installation konnten die bisherigen direkten Zahlungen der Stadt an in Not geratene Individuen reduziert werden.237 Die Doppelstrategie aus moderner kommunaler Organisation und romantischer Geschichtsverklärung kennzeichnet die Linie der christlichsozialen Partei unter Lueger: Sie verdankt ihren Erfolg ganz wesentlich dieser Kombination aus hygienisch-technischer Modernisierung und einer mit Beschwörungen des »Urwienertums« angereicherten ständisch-konservativen Familienideologie. Wolfgang Maderthaner spricht hier von einem »dialektische[n] Ineinanderlaufen von Tradition und Modernität« und von »Prinzipien der symbolischen Repräsentation«, in denen effizientes Stadtmanagement zusammengeht mit einer »Berufung auf eine imaginierte gemeinsame historische Tradition des christli-

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Corbin, Die Sprache der Glocken, S. 120. Corbin, Die Sprache der Glocken, S. 393. Boyer, Karl Lueger, S. 199. Siegfried Mattl, Wien im 20. Jahrhundert (Geschichte Wiens Band VI), Wien 2000, S. 25. 236 Boyer, Karl Lueger, S. 198. 237 Boyer, Karl Lueger, S. 199.

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chen, ebenso selbstbewussten wie gottesfürchtigen und obrigkeitsfixierten niederen und mittleren Stadtbürgertums«.238 Mittels des letztgenannten Motivs lancierte Lueger – so Maderthaner und Musner in ihrer Studie über das »andere Wien um 1900« – eine Stadtimago, die die verschiedenen kleinbürgerlichen und mittelständischen Segmente der Wiener Gesellschaft einte. Er schuf Wien als Vaterstadt in Form einer imaginierten Gemeinschaft der Petite Bourgeoisie. Darin bündelte er eine Vorstellung Wiens als Inbegriff einer vorindustriell-bürgerlichen, ständisch-familiären und christlichen Stadt, beruhend auf Autorität, Paternalismus, Vätererbe und christlich-katholischem Wertgefüge.239

Paradigmatisch für diesen soziokulturellen Komplex stand das lokal eingesessene Handwerk, das im Innenraum der Versorgungsheimkirche in mehrfachem Sinne verewigt ist. Zum einen präsentiert sich der Raum in seiner gediegenen Ausstattung als ein glänzendes Stück Handwerkskunst: Vom polychromen Zierdachstuhl über die Kirchenfenster, von den Kunstschmiedearbeiten bis hin zur Elektrik 240 ist hier alles sorgfältig gearbeitet und vermittelt den Eindruck eines gekonnten Brückenschlags zwischen Tradition und Modernität. Zum anderen aber wird das Handwerk auch explizit im Raum thematisiert: So zieht sich über die gesamte Innenwand der Kirche – vom Chorbereich bis zur Orgelempore – ein buntes Band aus 130 Handwerks- und Gewerbewappen, »welche die alte geschlossene Bürgergemeinde darstellen sollten«.241 In der Gedenkschrift zur Eröffnung des Versorgungsheims heißt es 1904 dazu: Die meisten der vorliegenden Wappen mußten ganz neu geschaffen werden, weil die betreffenden Genossenschaften vormals entweder überhaupt nicht bestanden oder, obgleich seit altersher bestehend, wenigstens auf Wiener Boden ein Siegelbild oder Wappen nie geführt hatten. In solchen Fällen die Wünsche der Genossenschaften mit den Regeln der alten, konservativen Kunst der Herolde in Einklang zu bringen, war mitunter, wie leicht begreiflich, gerade keine leichte Aufgabe, und manches Wappenbild konnte überhaupt nur auf dem Wege gegen-

238 Maderthaner, Dem Volke, was des Volkes ist, S. 107. 239 Wolfgang Maderthaner / Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900. Frankfurt am Main 1999, S. 189. 240 Zur Elektrifizierung des Versorgungsheimkomplexes vgl. Dont, Das Wiener Versorgungsheim, S. 26 – 28. Überhaupt war das Versorgungsheim zur Erbauungszeit auf dem aktuellen Stand der Gebäudetechnik: »Lainz war nicht nur völlig elektrifiziert, inklusive Beleuchtung und Liftanlagen, und hatte nicht nur das modernste Telefon- und Kommunikationssystem Wiens, sondern auch ein eigenes Schienenverkehrsnetz, das alle Gebäude des Komplexes mit einbezog und dem Transport von Essen und Gütern diente«. Boyer, Karl Lueger, S. 199. 241 Boyer, Karl Lueger, S. 199.

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Abb. 32: Versorgungsheimkirche in Lainz, Innenansicht.

seitigen Nachgebens zustande gebracht werden. Darin mögen strenge Kritiker den Grund suchen, wenn vielleicht hie und da etwas nicht allen Forderungen der Heraldik entsprechen sollte.242

Wie bei den Bezirkswappen gab es also auch hier regelrecht anachronistische heraldische Anstrengungen, um kommunale und mittelständische bzw. zünftische Tradition in den Bau einzuschreiben. So sehen wir zwischen den Faßbinder und den Einspänner den Elektrotechniker eingereiht, die Informations-Bureaus zwischen den Industriemaler und den Juwelier, den Sodawasser-Erzeuger zwischen den Siebmacher und den Spengler, alle versehen mit einem neu gestalteten Wappenschild. Ebenfalls vertreten sind der Friseur, der Zahntechniker und andere zeitgenössische Dienstleister, die zum überwiegenden Teil auch die Wappen finanziert haben, auch sehr spezielle Gewerbe wie die »Händler in Reibsand«, den »Handel in Brennmaterial« sowie die »Gas-Wasserleitung«. Im Gesamtbild des im Kirchenraum aufgereihten Wappenschmuckes erkennt man dann nochmals den ganzen gestalterischen Anspruch – beste handwerkliche Arbeit, verbunden mit romantisch-historistischer Ästhetik und der ständischen Repräsentation, die für das christlichsoziale Gesellschaftsbild eine so bedeutende Rolle spielte. 242 Dont, Das Wiener Versorgungsheim, S. 54.

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Künstler, Kunsthandwerker und Bauhandwerker haben sich auch über die genossenschaftlichen Wappenreihen hinaus im Kirchenraum verewigt. Viele Werkstücke dieses »Schmuckkästchens« 243 waren tatsächlich Spenden der Künstler selbst, so auch die Kanzel aus Marmor mit einem Schalldeckel aus vergoldetem Eichenholz, die der k. u. k. Hofsteinmetz Eduard Hauser angefertigt hat, nicht ohne sich einen prominenten Namenszug am Kanzelsockel zu sichern.244 Verschiedene Handwerks- und Gewerbegenossenschaften haben Kirchenfenster finanziert – so die Fleischhauer-Genossenschaft eine ChristusDarstellung mit beigefügtem Lamm, die Wiener Kleidermacher eine Darstellung des heiligen Homobonus von Cremona, die Bäcker-Genossenschaft eine »Mondsichelmadonna« oder die Genossenschaft der Milchmeier und Milchhändler ein Tiroler Glasmosaik, das den heiligen Leonhard von Limoges samt weidenden Kühen zeigt.245 In einigen Fällen war das finanzielle Engagement der Genossenschaften durch eine besondere Nähe zur Kirchenarchitektur und -ausstattung begründet, immer aber ging es um memoriale Repräsentation im Kirchenraum: Nachdem der Auftrag zur Anfertigung des Trenngitters an den bekannten Kunstschlosser Alexander Nehr ergangen war, beschloss die Generalversammlung der Wiener Schlossergenossenschaft, einen größeren Geldbetrag zuzuschießen, da – so der Versammlungsbericht in der »Schlosser-Zeitung« vom Juni 1904 – dieses Gitter eine die Genossenschaft der Wiener Schlosser bis in die spätesten Zeiten ehrende Arbeit darstellen werde. [. . . ] Herr Heppel betont, dass Kirchen und Klöster stets Förderer der Kunsthandwerke waren und insbesondere die

243 Dont, Das Wiener Versorgungsheim, S. 34. 244 Zuweilen wird an solchen Festern die »eigene Ausführung« durch die stiftenden Künstler eigens betont und mit sehr persönlichen Widmungen verknüpft, so etwa in der Pfarrkirche Rudolfsheim. Dort findet sich am ersten Fenster des linken Seitenschiffs der Schriftzug: »In Erinnerung an meine liebe Mutter Theresia Dworzak geborene Wetzl getiftet von ihrem dankbaren Sohn Richard Dworzak Kunstglasermeister Eigener Entwurf u. Ausführung in Wien 15. im Jahre 1949«. Forschungsnotizen vom 14. Februar 2015. 245 Der heilige Homobonus (oder auch Gotman bzw. Gutmann) von Cremona ist als Schneiderpatron nachgewiesen und häufig mit Elle und Schere dargestellt. Vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie. Herausgegeben von Wolfgang Braunfels. Siebter Band: Ikonographie der Heiligen: Innozenz bis Melchisedech, Rom u. a. 1974, Sp. 543 – 544. Der heilige Leonhard von Limoges bzw. Noblac ist nicht nur Patron der Gefangenen und Schwangeren, sondern wurde auch vielfach in Viehangelegenheiten angerufen und diesbezüglich auf Votiven bedankt. Darstellungen häufig »v. bittenden Bauern m. Tierfiguren, Votivbildern, Kranken usw. umgeben«. Vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie. Herausgegeben von Wolfgang Braunfels. Siebter Band: Ikonographie der Heiligen: Innozenz bis Melchisedech, Rom u. a. 1974, Sp. 394 – 398, hier Sp. 394.

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Kunstschlosserei wurde gefördert; die Spende wird einen dauernden und monumentalen Wert haben und ein ein glänzendes Zeugnis für die Blüte des heutigen Schlossergewerbes ablegen.246

In den sakralen Raum der Versorgungsheimkirche haben sich aber nicht nur Gemeindefunktionäre und Handwerksgenossenschaften eingeschrieben, sondern auch – in einer überaus »rege[n] Betätigung des Gemeinsinnes«,247 wie es in der Denkschrift von 1904 heißt – zahlreiche Privatpersonen. Die Stiftungen von Kirchenfenstern, Kunstgegenständen und liturgischem Gerät folgte in den meisten Fällen dem gleichen Muster, wie es schon in der Wallfahrskirche Mariahilf und in St. Laurentius in Breitensee zu beobachten war: Die Motive und Patrone wurden analog zu den Vornamen oder Berufen der Stifter oder ihrer Verwandten ausgewählt – wie beispielsweise in dem von Karl und Maria Hörmann gestifteten Kirchenfenster des nördlichen Seitenschiffs mit Darstellungen der heiligen Maria mit Kind und des heiligen Karl Borromäus oder im benachbarten, von Franz und Aloisia Weidinger gestifteten Fenster mit einer Darstellung des heiligen Franz von Assisi. In der Apsis hat Bürgermeister Lueger selbst die Patrone von Mitgliedern seiner Familie auf Fenstern festhalten lassen: Zu sehen sind die Heiligen Leopold, Juliane, Hildegard und Rosa von Lima, »womit Lueger seine ganze Familie gezielt an den wichtigsten Sichtpunkten der Kirche positioniert hatte«.248 Auch der Maler des Hochaltarbildes Hans Zatzka hat angeblich seine Eltern dort porträtiert.249 In anderen Fällen waren es ganze Gruppen, die gemeinsam ein Fenster finanziert und dabei Ortsbezüge eingebaut haben – so wie der Gaudenzdorfer »Humanitätsverein Edelsinn« mit einer Darstellung des heiligen Gaudentius von Brescia.250 Überhaupt findet sich in der ganzen Kirche kaum ein Gegenstand, der nicht mit einem bürgerlichen Namen versehen wäre – alles ist genauestens signiert; der Kirchenraum liest sich wie ein Auszug aus dem Honoratiorenregister des 13. Bezirks bis hinunter nach Mauer, mit prominenten Namen wie Wambacher, Weidinger, Huschauer, Geyling und anderen. Jede einzelne Kirchenbank ist nach diesem Prinzip gezeichnet 246 Zit. nach Ruth Koblizek, »Zum Heil der Kranken«. Die Kirche zum Heiligen Karl Borromäus im Geriatriezentrum »Am Wienerwald«, in: Ingrid Arias / Sonia Horn / Michael Hubenstorf (Hg.): »In der Versorgung«. Vom Versorgungshaus Lainz zum Geriatriezentrum »Am Wienerwald«. Wien 2005, S. 85 – 97, hier S. 85. 247 Dont, Das Wiener Versorgungsheim, S. 34. 248 Koblizek, »Zum Heil der Kranken«, S. 89. 249 Vgl. Brückner, Der Wiener Mädel-Maler Hans Zatzka, S. 212. 250 Zum heiligen Gaudentius findet sich im »Lexikon der christlichen Ikonographie« nur eine elfzeilige Notiz – der Bischof von Brescia aus dem frühen 5. Jahrhundert wurde wohl lediglich der Namensparallele zum Meidlinger Bezirksteil Gaudenzdorf wegen ausgewählt. Vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie. Herausgegeben von Wolfgang Braunfels. Sechster Band: Ikonographie der Heiligen: Crescentianus von Tunis bis Innocentia, Rom u. a. 1974, Sp. 350 – 351.

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und trägt am geschnitzten Kopf den Namen eines bürgerlichen Spenders. Auch die Ortsgruppen des Christlichen Wiener Frauenbundes haben zur Finanzierung des Gestühls beigetragen: Bis auf die Gruppen aus dem 11., 14., 17. und 19. Bezirk haben sich alle mit mindestens einer Bank beteiligt. Diese überaus verbreitete bürgerliche Gedächtnispolitik aktualisierte ein altes Muster der »Selbstheiligung«: Über Stiftungen und Spenden in christlichen Kirchenräumen nämlich wurde spätestens seit dem Mittelalter ein symbolischer Gabentausch öffentlich inszeniert und dokumentiert: Materielle Güter wurden gegen immateriellen Beistand eingetauscht. Das meint nicht nur unmittelbar die Beziehung zwischen dem Stifter und Gott, sondern in diese Beziehung war auch die Gemeinde eingeschaltet. Denn mit dem Jenseitsglauben der Stifter war auch die Vorstellung verbunden, daß Gebete, Fürbitten und gute Werke der Lebenden sie bei der Aufnahme in den Himmel unterstützen könnten: »Eine Stiftung diente letztlich zu nichts anderem, als die Lebenden auf diese Unterstützung zu verpflichten, um so auch nach dem Tod noch das Schicksal günstig beeinflussen zu können«.251 Dabei täuscht der scheinbare Gegensatz von materiellen und immateriellen Faktoren über die realen ökonomischen Zusammenhänge solcher Spenden hinweg. Denn über die Stiftungspraxis konstituierten sich vielfältige soziale Netzwerke und Verbindungen zu kirchlichen und politischen Institutionen, die sich auf anderen Ebenen wiederum mittelbar in ökonomische Vorteile ummünzen ließen.252 Für das mittelalterliche wie das moderne religiöse Stiftungswesen gilt daher Bourdieus analytische Bemerkung: »Das religiöse Unternehmen ist ein Unternehmen mit ökonomischer Dimension, das als solches nicht eingestanden werden kann und in einer Art permanenter Verneinung seiner ökonomischen Dimension funktioniert«.253 Stiftungen sind somit stets mit einem »ökonomischen Kalkül« verbunden,254 das aber durch den religiösen Diskurs und die scheinbar uneigennützige Gabe im öffentlichen Kirchenraum systematisch verschleiert wird. 251 Bruno Reudenbach, Stifter, in: Uwe Fleckner / Martin Warnke / Hendrik Ziegler (Hg.), Politische Ikonographie. Ein Handbuch. Band II: Imperator bis Zwerg, München 2011, S. 400 – 406, hier S. 401. 252 Vgl. zum mittelalterlichen Stiftungswesen aus der umfangreichen Literatur etwa Ralf Lusiardi, Stiftung und städtische Gesellschaft. Religiöse und soziale Aspekte des Stiftungsverhaltens im mittelalterlichen Stralsund, Berlin 2000; Michael Grünbart (Hg.), Geschenke erhalten die Freundschaft. Gabentausch und Netzwerkpflege im europäischen Mittelalter, Berlin 2011. Für den profanen Bereich des Stiftungswesens und des bürgerlichen Mäzenatentums vgl. z. B. Manuel Frey / Jürgen Kocka (Hg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert, Berlin 1998, sowie die Fallstudie zu Hamburg von Michael Werner, Stiftungsstadt und Bürgertum. Hamburgs Stiftungskultur vom Kaiserreich bis in den Nationalsozialismus, München 2011. 253 Bourdieu, Das Lachen der Bischöfe, S. 233. 254 Reudenbach, Stifter, S. 401.

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5. DER KIRCHENRAUM ALS AFFEKTIVER RAUM ARCHITEKTUR, SINNLICHKEIT UND EMOTION Obwohl die emotionale Dimension für religiöse Praktiken von zentraler Bedeutung ist, hat die systematische sozial- und kulturwissenschaftliche Thematisierung dieses Zusammenhangs relativ spät eingesetzt.1 Erst im Kontext der neueren Emotionsforschung und Emotionsgeschichte sowie einer transdisziplinären Öffnung der Religionswissenschaft sind religiöse Emotionen und die Emotionalität von Religion umfassend untersucht worden. Dabei hat Georg Simmel bereits 1898 über die Spezifik religiöser und auch religioider Gefühlslagen nachgedacht: Alle Religiosität enthält eine eigenartige Mischung von selbstloser Hingabe und eudämonistischem Begehren, von Demuth und Erhebung, von sinnlicher Unmittelbarkeit und unsinnlicher Abstraktion; damit entsteht ein bestimmter Spannungsgrad des Gefühles, eine specifische Innigkeit und Festigkeit des inneren Verhältnisses, eine Einstellung des Subjektes in eine höhere Ordnung, die es doch zugleich als etwas Innerliches und Persönliches empfindet.2

Aus empirisch-kulturwissenschaftlicher Sicht hat sich in den letzten Jahren unter anderem Monique Scheer intensiv und produktiv mit der Frage nach religiösen Emotionen befasst und an vorwiegend protestantischen Beispielen herausgearbeitet, wie religiöse »Innerlichkeit« hergestellt wird.3 Für das folgende Kapitel bieten Scheers Überlegungen zu den »emotionalen Praktiken« einen 1 Für einen Überblick über die neuere Diskussion John Corrigan (Hg.), The Oxford Handbook of Religion and Emotion, Oxford 2008, sowie Ole Riis / Linda Woodhead (Hg.), A Sociology of Religious Emotion, New York 2010. Aus theologischer Sicht vgl. den Sammelband Lars Charbonnier / Matthias Mader / Birgit Weyel (Hg.), Religion und Gefühl. Praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotionen. Festschrift für Wilhelm Gräb zum 65. Geburtstag, Göttingen 2013. 2 Simmel, Zur Soziologie der Religion, S. 77. 3 Vgl. Monique Scheer, Empfundener Glaube. Die kulturelle Praxis religiöser Emotionen im deutschen Methodismus des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Volkskunde 105 (2009), S. 185 – 213; Pascal Eitler / Monique Scheer, Emotionengeschichte als Körpergeschichte. Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 282 – 313; Monique Scheer, Welchen Nutzen hat die Feldforschung für eine Geschichte religiöser Gefühle? In: VOKUS – Volkskundlich-kulturwissenschaftliche Schriften 21 (2011), S. 65 – 77; Dies., Are Emotions a Kind of Practice (and is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuian Approach to Understanding Emotion, in: History and Theory 51 (2012), S. 193 – 220; Dies., Protestantisch fühlen lernen. Überlegungen zur emotionalen Praxis der Innerlichkeit, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15 (2012), S. 179 – 193; Dies., Von Herzen glauben; Bettina Hitzer / Monique Scheer,

wichtigen Ankerpunkt, um Kirchenräume als »affektive Räume« verstehen zu lernen. Welche Rolle also spielen die materiellen Arrangements von Kirchenräumen bei der Konstitution des von Simmel benannten »Spannungsgrades des Gefühls«? Und wie wird umgekehrt der »Spannungsgrad des Gefühls« eingesetzt, um religiöse »Wahrhaftigkeit« zu erzeugen? In diesem Zusammenhang soll auch die sinnliche Dimension des Kirchenraums systematisch beleuchtet werden, die zur Produktion von »Atmosphären« und »affektiven Räumen« ganz wesentlich beiträgt – vom visuellen Arrangement des Raums bis hin zu seinen akustischen und olfaktorischen Szenerien.

Vermessungen einer »besonderen Atmosphäre« Wenn es um die Anmutungsqualität von Kirchenräumen und ihre spezifische Differenz zu anderen Räumen geht, dann kommt die Rede fast zwangsläufig auf den Begriff der »Atmosphäre«. 86 Prozent der von der Soziologin Anna Körs im Rahmen ihrer Studie zur gesellschaftlichen Bedeutung von Kirchenräumen befragten Personen nannten die »besondere Atmosphäre« der Innenräume als wesentliches Merkmal.4 In ihren Aussagen war vielfach die Rede von Empfindungen, die scheinbar unmittelbar durch den Raum hervorgerufen werden, so bspw. von der Bewunderung für das Bauwerk und seine Erbauer, von der Erhabenheit, Größe und Schönheit der Kirche, vom Licht und den Farben, von der Verbundenheit mit älteren Generationen sowie häufig auch von Empfindungen wie Geborgenheit, Stille, Wärme, Hoffnung oder Dankbarkeit.5

In der Einführung zu ihrem populärwissenschaftlichen »Kirchen-Atlas« schreiben auch Marie Luise Goecke-Seischab und Frieder Harz: Kirchen sind besondere Räume. Das können Besucherinnen und Besucher mit allen Sinnen wahrnehmen: Da fällt mit kräftigem Nachhall die Tür ins Schloss . . . In der Stille des Raums sind Schritte oder das Klappern von Münzen im Opferstock laut hörbar. Die besondere Architektur lenkt die Blicke zu leuchtenden Glasfenstern, zum Altar mit seinem großen Bild . . . in die Höhe zum gotischen Kreuzrippengewölbe . . . zum barocken Himmel oder der modernen Zeltdachkonstruktion. Weihrauch oder der Geruch abgebrannter Kerzen hängen

Unholy Feelings: Questioning Evangelical Emotions in Wilhelmine Germany, in: German History 32 (2014), No. 3, S. 371 – 392. 4 Körs, Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S. 310. 5 Körs, Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S. 377.

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Der Kirchenraum als affektiver Raum

in katholischen Kirchen in der Luft . . . Und der Rücken spürt die harten Lehnen des historischen Gestühls.6

Wenn also Kirchen vielfach »zuallererst [. . . ] in ihrer architektonisch-atmosphärischen Bedeutung« in den Blick kommen,7 wie lässt sich ihre »besondere Atmosphäre« dann kulturanalytisch fassen? Schließlich: Inwiefern geht eine besondere Atmosphäre vom Raum aus und inwiefern lässt sie sich als Produkt und Effekt spezifischer Praktiken und Diskurse verstehen? Ein Abend im Spätwinter, Santa Maria in Trastevere in Rom. Nur die schmalen Seitenschiffe sind durch Strahler erleuchtet, beim Betreten des Mittelschiffs taucht man in einen weiten, dunklen Raum ein. Ganz vorne glänzt das berühmte goldene Apsismosaik immer dann für ein paar Minuten auf, wenn jemand eine Münze in die Lichtanlage einwirft, dann taucht es wieder ins Dunkel ab. Die Pausen sind aber nur kurz; so spektakulär ist die aus dem ausgehenden 13. Jahrhundert stammende Mosaikarbeit von Pietro Cavallini mit Szenen aus dem Marienleben. Touristen sind hier in Gruppen unterwegs, dennoch ist die Stimmung sehr gedämpft: Konzentrierte Bewunderung, leise Unterhaltungen, gemessene Schritte. Viele Besucherinnen und Besucher sitzen still in den Bänken, zum Teil dicht gedrängt. Die Dunkelheit wirkt hier – so mein Eindruck – gemeinschaftsbildend; die Stimmung hat etwas vom Weihnachtsabend in der Kleinstadtkirche. Vorne an den Chorschranken sind vier große Schalen für Opferkerzen aufgestellt, die auf der linken Seite ein Madonnenbild, auf der rechten ein Christusbild illuminieren. Immer wieder nehmen KirchenbesucherInnen eine der langen weißen Kerzen aus dem darunter angebrachten Behältnis, entrichten eine kleine Geldspende und stecken ihre Kerze ins Gitter. Minuten der Andacht werden vor den beiden Bildern verbracht.8 »Hier«, so schreibt Hanns-Josef Ortheil über das gesamte Ensemble von Piazza und Kirche Santa Maria in Trastevere, betritt man einen Stimmungsraum, wie es ihn in Rom kein zweites Mal gibt. Geht man dann weiter in die Vorhalle der Kirche und schließlich ganz in sie hinein, so bemerkt man in der tiefen Dunkelheit, beim Aufstrahlen ihrer großen Apsismosaike, woher diese Stimmung rührt. Sie rührt von einer besonderen Frömmigkeit her, einem tiefen, noch mittelalterlich erscheinenden Glauben, der sich auch sichtbar in den thronenden Mosaikgestalten von Maria und Jesus und in den Szenen der Mariengeschichte darunter ausdrückt. Man setzt sich in eine der im Dunkel stehenden Bänke, man schaut lange zu diesen Mosaiken hinauf, und plötzlich erscheint einem dieser anscheinend so ferne und tiefe Glaube, der etwas Urtümliches und konzentriert Spirituelles hat, ganz gegenwärtig. Aus den frühesten Tagen

6 Goecke-Seischab / Harz, Der Kirchen-Atlas, S. 9. 7 Körs, Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S. 367. 8 Vgl. Forschungsnotizen vom 24. Februar 2014.

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der Christenverfolgungen scheint diese Spiritualität zu stammen, es ist eine Spiritualität, für die der Glaube noch etwas ganz Primäres, gerade Entdecktes und Empfundenes und daher noch nichts Erforschtes oder allzu Besprochenes war.9

Und auch der Schriftsteller Reinhard Raffalt sah in dieser Kirche in den 1970er Jahren einen besonderen religiösen Ort der lokalen Bevölkerung: »Nach Sankt Peter geht man, um den Papst zu sehen. Aber um zu beten, gibt es nur einen Ort: Santa Maria in Trastevere«.10 Der »Stimmungsraum« Santa Maria in Trastevere hat in der Raumerfahrung und in den zahlreichen Beschreibungen eine enorme Evidenz. Zum einen scheint es, als wären es die unmittelbaren Raumqualitäten selbst, die hier die besondere Atmosphäre ausmachen; zum anderen betont auch Ortheil, dass der Raum seine Stimmung von einer »besonderen Frömmigkeit« bezieht und insofern in einer Wechselbeziehung zu tradierten Praktiken und Wertorientierungen steht. Somit werden Atmosphären einerseits »durch die Anmutungsqualität architekturaler Formen erzeugt, z. B. Bewegungssuggestionen, Licht und Dämmerung, akustische Qualitäten, Farben u. a. m.«.11 Sie ist von der Stofflichkeit der Oberflächen, von Klängen und Gerüchen beeinflusst,12 aber auch von der Raumtemperatur im Gegensatz zur Außentemperatur. Andererseits aber ist Atmosphäre elementar abhängig von der Wahrnehmung und Nutzung des Raums sowie von spezifischem Wissen über den Ort; 13 davon ausgehend hat die theologische und kirchenraumpädagogische Forschung Überlegungen entwickelt, welche die »Sedimentation« gottesdienstlicher Nutzung im Kirchenraum in den Mittelpunkt stellt. Für Rainer Volp etwa bildet ein Kirchenraum eine »Textur«, eine »aus geschichtlichen Situationen hervorgegangene und in vielen weiteren Situationen verfestigte Tiefenstruktur«, die den »sakralen Charakter« des Raums ausmacht. Dabei sei »Respekt vor den Erfahrungen und den Entwürfen anderer im Spiel, die sie in ihren Gottesbeziehungen aufbauten«. Auf diese Weise »atmen« Kirchenräume »etwas von Gotteserfahrungen, welche in der durch Musik, Bild, Ritual und Rede verstärkten Textur zu einer ergreifenden Lektüre geraten können«.14 Auch Hans Asmussen macht die Idee von »Spuren« stark, welche die gottesdienstliche Nutzung des Raums zuweilen über Jahrhunderte hinweg hinterlassen hätten. Klaus Raschzok fasst diese Positionen zusammen:

9 10 11 12 13 14

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Hanns-Josef Ortheil, Rom. Eine Ekstase, Berlin 2011, S. 128 – 129. Reinhard Raffalt, Cantata Romana. Römische Kirchen, München 1977, S. 121. Beyer, Geheiligte Räume, S. 19. Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 23. Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 23. Volp, Kirchenbau und Kirchenraum, S. 491.

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Es sind Spuren, die denen, die im Kirchenraum Gottesdienst feiern, Orientierung und Anschluss an an über Generationen hinweg zuvor im Raum Geschehenes bieten und die auf die vergangene, gegenwärtige und zukünftige gottesdienstliche Nutzung verweisen. Kirchenräume tragen diese wie ein Netz miteinander verbundenen Spuren in sich eingeschrieben. Sie setzen sich aus Spuren der Lebensgeschichten der Nutzer wie aus Spuren des göttlichen Wirkens, vermittelt durch die im Raum gefeierten Gottesdienste, zusammen.15

Unterstützung erhält eine solche theologische Deutung von der Religionsphänomenologie, wie sie Hermann Schmitz repräsentiert. Schmitz versteht Atmosphären im »umfriedeten« Raum als objektivierte Gefühle, wobei der Kirchenraum als »Speicher für die Macht des Göttlichen« dient. »Er saugt sich damit voll wie ein Schwamm und steht denen zur Verfügung, die sich dem Kirchenraum aussetzen«. Eben weil der Raum Gefühle und Gotteserfahrungen in sich »gespeichert« hält, ermöglicht er auch außerhalb religiöser Praktiken im engeren Sinn neue religiöse Erfahrungen: Auch der eine Kirche aufsuchende Reisende vollbringt als Einzelner einen Gottesdienst im liturgisch nicht genutzten Raum. Und er kann diesen Gottesdienst nur deshalb vollbringen, weil die aus dem Gottesdienst der Gemeinschaft herrührenden Erregungen im Kirchenraum aufgestaut sind und auf ihn einwirken.16

Ins Scherzhafte gewendet, schlägt sich diese Vorstellung etwa in einem handgeschriebenen Schild in der Rosenkranzkirche in Wien-Hetzendorf nieder: »ACHTUNG Die spirituelle Ausstrahlung hier im Gotteshaus kann ihrem Handy schaden. Bitte schalten Sie es aus«.17 Unverkennbar folgen die religionsphänomenologischen und theologischen Kirchenraumtheorien der im Kern »magischen« Denkfigur eines »heiligen Raums«. Dass sich göttliche Macht, Gottes- und Glaubenserfahrungen in einem Raum »aufstauen«, sich in ihn »einschreiben« oder von ihm »ausstrahlen«, stellt kaum etwas anderes dar als die mit einem historischen Dreh versehene Fassung der Idee des unhintergehbar sakralen Ortes. Diese Vorstellung kann mit einem Begriff des Philologen, Religionswissenschaftlers und Volkskundlers Friedrich Pfister als orendistisch gekennzeichnet werden, als eine Vorstellung, die vom Vertrauen auf »unpersönliche, besonders wirkungsvolle Kräfte, die an irgendwelche körperlichen oder unkörperlichen Objekte gebunden sind«,18 lebt. Freilich ist die Perspektive theologischer Kirchenraumtheorie mit ihren

15 16 17 18

Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum, S. 399. Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum, S. 396. Forschungsnotizen vom 01. 06. 2017. Friedrich Pfister, Deutsches Volkstum in Glauben und Aberglauben, Berlin / Leipzig 1936, S. 30.

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»orendistischen« Rückgriffen stark gefärbt von den praktischen Anforderungen der Liturgie und Kirchenraumpädagogik, in der es wesentlich darum geht, Glaubensinhalte über den Raum zu vermitteln. So formuliert auch das Evangelische Gottesdienstbuch das Problem der Atmosphäre im Kirchenraum im Sinne einer Sedimentation seiner Nutzungsgeschichte. Eine bestimmte Atmosphäre resultiert demnach »aus Ereignissen, Bewegungsmustern und Erfahrungen der vielen Menschen, die diesen Raum belebt und gestaltet haben. Wer dort Gottesdienst feiert, wird davon bestimmt und gestaltet wiederum selbst die Atmosphäre dieses Raumes mit«.19 Dieses Narrativ zielt auf »geistliche Raumerschließung«,20 und so sind in den Grenzzonen zwischen liturgischer bzw. gemeindlicher Praxis und Wissenschaft vor allem Theoriefiguren zu finden, die von einer normativ gesetzten Transzendenzerfahrung ausgehen. Peter J. Bräunlein kennzeichnet denn auch das religionsphänomenologische Denken à la Rudolf Otto und Mircea Eliade als »Erbe der Romantik« und konstatiert, dass sich »über die religionswissenschaftliche Kategorie ›Erfahrung des Heiligen‹ [. . . ] ein christlich-theologisches Transzendenzkonzept als ›Erfahrung Gottes‹ verwissenschaftlichen« ließ.21 Für eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der »besonderen Atmosphäre« von Kirchenräumen sind diese Zugänge daher kaum zu gebrauchen. Befragen wir also im Folgenden die neueren Atmosphärentheorien auf ihre Konzeptualisierung des Zusammenhangs zwischen gebautem Raum, Wahrnehmung und Praxis: Wie lassen sich Atmosphären beschreiben, ohne in die Mystik »heiliger Räume« abzudriften? Wie könnte eine praxistheoretische Fassung des »Stimmungsraums Kirche« aussehen? 22 Nahezu allen neueren Atmosphärenkonzepten ist gemeinsam, dass sie sich von der Idee einer einseitigen Raumwirkung verabschieden und nach Möglichkeiten suchen, die Unterscheidung von materiellem Raum einerseits und subjektiver Wahrnehmung andererseits zu überwinden. Der hierzulande nach wie vor meistzitierte Atmosphärentheoretiker Gernot Böhme lokalisiert Atmosphären dementsprechend zwischen Subjekt und Objekt, in der »Beziehung von

19 Zit. nach Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum, S. 392. 20 Vgl. dazu Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum, S. 402 – 404. 21 Peter J. Bräunlein, »Zurück zu den Sachen!« Religionswissenschaft vor dem Objekt, in: Ders. (Hg.), Religion und Museum. Zur visuellen Repräsentation von Religion(en) im öffentlichen Raum, Bielefeld 2004, S. 7 – 54, hier S. 17 – 18. 22 Teile der folgenden Ausführungen folgen meinem Beitrag: Jens Wietschorke, Affective Spaces: Emotionstheoretische Überlegungen zum Kirchenraum, in: Matthias Beitl / Ingo Schneider (Hg.), Emotional Turn?! Europäisch ethnologische Zugänge zu Gefühlen & Gefühlswelten. Beiträge der 27. Österreichischen Volkskundetagung in Dornbirn vom 29. Mai – 1. Juni 2013, Wien 2016, S. 291 – 300.

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Umgebungsqualitäten und menschlichem Befinden« 23 und denkt sie als »etwas, das von den Dingen, von Menschen oder deren Konstellationen ausgeht und geschaffen wird«.24 Deshalb ist die Atmosphäre für Böhme »die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen«.25 Schwierig ist die präzise Verortung dieser »gemeinsamen Wirklichkeit« der Atmosphäre: »Man weiß nicht recht, soll man sie den Objekten oder Umgebungen, von denen sie ausgehen, zuschreiben, oder den Subjekten, die sie erfahren. Man weiß auch nicht so recht, wo sie sind. Sie scheinen gewissermaßen nebelhaft den Raum mit einem Gefühlston zu erfüllen«.26 In seinen Arbeiten zur »Aisthetik« von Atmosphären kommt Böhme daher zu einem Schluss, der sozusagen den Kerngedanken der philosophischen Phänomenologie seit Husserl wiederholt: Wahrnehmung ist eine Einheit von Subjekt und Objekt, ein Kopplungszustand. Subjekt und Objekt verschmelzen in der Wahrnehmung. [. . . ] Die Atmosphäre ist die Anregung eines gemeinsamen Zustandes von Subjekt und Objekt. Für die Wahrnehmungswirklichkeit sind diese Anregungszustände immer das erste Seiende. So etwas wie Subjekt und Objekt, und ferner Dinge und Substanzen ergeben sich erst aufgrund einer partiellen Entkopplung.27

Unbeantwortet bleibt hier allerdings die Frage, wie genau diese »nebelhafte« gemeinsame Wirklichkeit zwischen den materiellen Dingen und den Akteuren hergestellt wird. Oder anders gesagt: Von der phänomenologischen Perspektive der »Neuen Ästhetik« führt kein Weg zu einer praxistheoretischen Perspektive, der KirchenbesucherInnen wirklich als Akteure im Zusammenhang materieller Arrangements verstehen würde. Nun geht es in der Atmosphärentheorie gerade um das Ausloten der »nicht-repräsentationellen« Dimension,28 die in der klassischen Vorstellung des souveränen Akteurs und seiner symbolischen Ordnungen nicht aufgeht, um Zustände des »Dazwischen« und eine »eigentümliche kulturelle Medialität«.29 Für diese ist eine »Erfahrung des Ungekannten« zentral, mit der eine gewisse Fremdheit notwendigerweise einhergeht, und »außer ein

23 Gernot Böhme, Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995, S. 21 – 22. 24 Böhme, Atmosphäre, S. 33. 25 Böhme, Atmosphäre, S. 34. 26 Böhme, Atmosphäre, S. 22. 27 Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, Paderborn / München 2001, S. 56. 28 Rainer Kazig, Atmosphären – Konzept für einen nicht repräsentationellen Zugang zum Raum, in: Christian Berndt / Robert Pütz (Hg.), Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, Bielefeld 2007, S. 167 – 187. 29 So Jochen Bonz im Atmosphären-Kapitel seiner Studie: Jochen Bonz, Das Kulturelle, München 2012, S. 114 – 135.

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Stück weit / fundamental immer fremd zu bleiben, ist die atmosphärische Wirklichkeitswahrnehmung zugleich auch flüchtig«.30 Wenn es allerdings darum geht, eine praxistheoretische Perspektive einzunehmen, dann müssen auch Irritationen, Fremdheitserfahrungen und flüchtige Momente der Alltagsästhetik daraufhin befragt werden, welche »Voraussetzungen des Tuns« und welche »Produktivität der Handlungen« dabei mit im Spiel sind.31 Selbst wenn wir davon ausgehen, dass uns eine bestimmte Umgebungsqualität gänzlich überraschend »trifft«, ist es doch immer so, dass sie auf kulturell konfigurierte Akteure trifft, die umgehend damit beginnen, mit der Situation etwas zu tun und Handlungsketten in Gang zu setzen. Hier interessiert dann nicht mehr die »Aura« des Ortes, sondern das »doing«, durch das alles – der Ort, der Raum, die Artefakte, die Akteure, das implizite Wissen, das Soziale – situativ miteinander verbunden wird und seinen unmittelbaren, aktuellen und an kulturelle Muster rückgekoppelten Sinn erhält. Kurzum: Es geht darum, auch die Überraschungsmomente, Befremdungen, Verstörungen durch sinnlich-atmosphärische Erfahrungen in seiner Bedeutung für Handlungszusammenhänge zu verstehen. Sucht man nach Ansatzpunkten für eine solche kulturanalytische und praxeologische Interpretation von Raumerfahrungen und räumlich vermittelten Emotionen, ist auch der Blick in neuere Publikationen zum Atmosphärenbegriff eher verwirrend als erhellend. Für Jürgen Hasse sind Atmosphären »spürbare Schnittstellen, an denen Menschen ihr Herum in gefühlsräumlichen Qualitäten erleben«. Hasse fällt wie zuweilen auch Böhme in die alte Phänomenologie à la Hermann Schmitz zurück, wenn er schreibt, Atmosphären »umweben einen Ort, hüllen ihn ein und machen ihn zu einem situativ besonderen Ort«.32 Auch Jean-Paul Thibaud folgt dieser Linie mit seiner deterministisch klingenden Feststellung, dass »Atmosphären eine Art Spannung im Körper erzeugen und uns so zum Handeln anregen«.33 Und in seinem neu vorgelegten Konzept der »ästhetischen Feldforschung« plädiert Andreas Rauh für eine Anerkennung der ontologischen, semantischen und epistemischen Vagheit von Atmosphären,34 was sehr deutlich die Frage nach der analytischen Brauchbarkeit des Konzepts aufwirft. Entweder erschöpfen sich die genannten Konzepte in der Diagnose einer Ungreifbarkeit von Atmosphären, oder aber sie fallen in deterministische und essentialistische Sichtweisen zurück, die an 30 31 32 33

Bonz, Das Kulturelle, S. 133 – 134. Bonz, Das Kulturelle, S. 110. Jürgen Hasse, Atmosphären der Stadt. Aufgespürte Räume, Berlin 2012, S. 12. Jean-Paul Thibaud, Die sinnliche Umwelt von Städten. Zum Verständnis urbaner Atmosphären, in: Michael Hauskeller (Hg.), Die Kunst der Wahrnehmung. Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, Kusterdingen 2003, S. 280 – 297, hier S. 288. 34 Andreas Rauh, Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen, Bielefeld 2012, S. 257.

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die Rede vom »heiligen Raum« oder vom »genius loci« erinnern. Zwar versucht Gernot Böhme, die »Ding-Ontologie« hinter sich zu lassen, nach der die Dinge und Räume qualitative »Bestimmungen« an sich haben.35 Formulierungen aber wie die, dass das Ding »aus sich heraustritt« 36 oder dass man von Atmosphären »angeweht oder ergriffen« wird,37 klingen doch wieder nach einer reinen Überwältigung, mit der sich praxistheoretisch kaum etwas anfangen lässt. Atmosphärische Räume werden bei Böhme so nur zur »affektiv getönte[n] Enge oder Weite, in die man hineintritt«, zum »Fluidum, das einem entgegenschlägt. [. . . ] Man betritt eine Kirche, und man fühlt sich von einer heiligen Dämmerung umfangen«.38 Szenenwechsel: ein warmer Abend Ende Mai während der »Langen Nacht der Kirchen« in Wien, im Inneren der romanischen Ruprechtskirche hoch über dem Ufer des Donaukanals. Noch nachts um zwei Uhr haben sich zahlreiche Jugendliche, aber auch ältere Menschen zum gemeinsamen Taizé-Gebet in der Kirche versammelt; es soll noch weitergehen mit »open end«. Am schmalen Kircheneingang am Ruprechtsplatz stehen zwei junge Männer, verteilen Kerzen und Liedblätter; die eintretenden Besucherinnen und Besucher suchen sich einen Sitz- oder Stehplatz und zünden ihre Kerze beim Nachbarn oder der Nachbarin an. Vorne beim Altar begleitet eine Musikgruppe mit Klavier, Violine, Gitarre, Flöte und Rhythmusinstrumenten die Gesänge der Betenden; der Kirchenraum ist nur von den Kerzen erleuchtet. Nachdem ich in einer der hinteren Bänke Platz genommen und das Geschehen mit Kerze und Liedblatt in der Hand, aber doch aus der Halbdistanz heraus verfolgt habe, werde ich von einer der Veranstalterinnen freundlich, aber bestimmt aufgefordert, nach vorne aufzurücken. »Man hört sich dann gegenseitig beim Singen besser«. Tatsächlich ist das akustische Erlebnis des gemeinsamen Singens inmitten der dicht besetzten Bänke und nahe an der begleitenden Instrumentalgruppe ein anderes: Die eigene Stimme ist kaum noch distinkt zu hören, sie verschmilzt mit den Stimmen der anderen TeilnehmerInnen.39 Die sich stets wiederholenden Gesänge sind zwar sehr simpel aufgebaut, sie bieten aber die Möglichkeit, mehrere Stimmführungen zu wählen und auf diese Weise in die Harmonien »einzutauchen«. Dem Programmheft der »Langen Nacht der Kirchen« ist zu entnehmen: »Taizé begeistert durch Einfachheit, Ökumene, ein liebendes Gottesbild, meditative Gesänge, Internationalität und die Offenheit in den Begegnungen untereinander«.40

35 36 37 38 39 40

Böhme, Atmosphäre, S. 32. Böhme, Atmosphäre, S. 33. Böhme, Atmosphäre, S. 97. Böhme, Atmosphäre, S. 95. Forschungsnotizen vom 23. Mai 2014. Eschhaus, »Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis«, S. 60.

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Die seit 1966 stattfindenden Jugendtreffen in der Communauté de Taizé bei Cluny in Frankreich sind seit vielen Jahren zu einem wichtigen Vorbild und Referenzpunkt für meditative Gottesdienste und Veranstaltungen geworden.41 Im Zentrum dieser Jugendtreffen, aber auch des Gemeinschaftslebens der Taizé-Brüder steht ein dezidiert ästhetisches Programm, über welches das religiöse Programm des Ordens umgesetzt wird: Beginnt der Gottesdienst, so springt zunächst die Inszenierung von Licht und Farben ins Auge. Weil alles ins Halbdunkel getaucht ist, fallen die wenigen Lichtquellen umso mehr auf. Die weißen Gewänder, die die Brüder zum Gebet umlegen, beginnen im Halbdunkel zu leuchten – in der Kirche selbst, aber das ist nur die Wiederholung eines Leuchtens, das man schon sah, als die Brüder sich in der Abenddämmerung auf dem Weg in die Kirche befanden. Mit dem spärlichen Licht, das so weit wie möglich natürliches Licht ist, harmonieren die bevorzugten Farben: Die warmen Farben – hauptsächlich natürliche Töne, wie etwa Honig und Holz, aber auch Früchte sie tragen – beginnen im Kerzenlicht in besonders intensiver Weise von innen heraus zu leuchten. Zentrales Kennzeichen der Gottesdienste sind die charakteristischen Gesänge: bewusst einfache, einstrophige und eingängige, in vielfacher Wiederholung gesungene Liedstrophen, die meistens auf einer Bibelstelle basieren und entweder in lateinischer Sprache abgefasst sind oder oder in zahlreichen Varianten der europäischen Sprachen existieren. Sie zielen auf die Verinnerlichung der zugrunde liegenden Bibelstelle und führen durch die Wiederholung in die Kontemplativität. Geschaffen wurden sie von französischen Komponisten, die der Communauté nahestehen, oder von den Brüdern selbst. Seit Mitte der 1970er Jahre wird man von einer eigenen Gattung der »Gesänge aus Taizé« sprechen dürfen, die ihre internationale Verbreitung in eigenen Liedheften fand und findet.42

Im Kontext unserer Überlegungen zum Kirchenraum als affektivem Raum stellt sich hier die Frage, inwiefern sich Atmosphären ganz gezielt herstellen lassen – durch Inzenierungen von Licht und Dunkel, durch Farbauswahl, Musikauswahl und musikalische Dramaturgie sowie andere Gestaltungselemente. FranzHeinrich Beyer hat hier von der »ästhetischen Arbeit« gesprochen, die darin besteht, »Dingen und Umgebungen solche Eigenschaften zu geben, die von ihnen etwas ausgehen lassen«.43 In einem umfassenden Sinn ist bereits die Tätigkeit der planenden Architekten einer Kirche als eine solche ästhetische

41 Vgl. dazu auch Wolfgang J. Bittner, Hören in der Stille. Praxis meditativer Gottesdienste, Göttingen 2009. Hier wird insbesondere das Motiv des »Aufeinander-Hörens« betont. 42 Christian Albrecht, Taizé, in: Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, S. 380 – 394, hier S. 385. 43 Beyer, Geheiligte Räume, S. 18.

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Arbeit zu verstehen; erst recht gilt das von der konkreten Vorbereitung eines Gottesdienstes oder einer sonstigen Veranstaltung – von der Lichtregie über den Raumschmuck bis hin zur Choreographie von Ritualen. So sind in performanztheoretischen Arbeiten Praktiken der atmosphärischen Inszenierung in den Blick genommen worden – 44 damit ist aber nur wenig darüber gesagt, wie die Atmosphäre als Schnittfeld von Inszenierung und Wahrnehmung tatsächlich wirkt. Hier geht es also um eine weiter reichende Fragestellung: Wie lassen sich die Teilnehmenden einer solchen Veranstaltung nicht nur als die passiven Rezipienten ästhetischer Arrangements, sondern als handelnde Akteure mit einer eigenen ästhetischen und emotionalen agency verstehen? In welcher Weise müssen diese Akteure mit dem materiellen Setting des Kirchenraums zusammengedacht werden, um zu einer praxistheoretischen Beschreibung dessen zu kommen, was im Kirchenraum geschieht, und um nebenbei auch die Forderung der neueren Atmosphärentheorie nach einer Subjekt und Objekt umgreifenden Perspektive einzulösen? Wie lässt sich die Atmosphäre eines Raums anders denken als auf die simple und reduktionistische Weise, dass vom Raum etwas »ausgeht«? Die Soziologin Stefanie Duttweiler hat in einem neuen Konferenzbeitrag vorgeschlagen, die Wechselwirkung zwischen Materialität und religiösem Wissen in Kirchenräumen über das Konzept der »Resonanz« zu erschließen. »Resonanzen« – so Duttweiler – »sind Bedingung der Möglichkeit von Atmosphären. [. . . ] So können beispielsweise die Resonanzen zwischen einem Tisch, einer goldenen Wand und dem religiösen Habitus eines Betrachters eine sakrale Atmosphäre generieren, die bestimmte Wahrnehmungen und Deutungen von Räumen nahelegen. Damit erweisen sie sich als entscheidende Bestandteile zur (Re-)Produktion religiösen Wissens«.45 Dieses Konzept der »Resonanz« ist theoretisch wie empirisch nur wenig erprobt und ausgearbeitet; im Zusammenhang unserer Auseinandersetzung ist aber Duttweilers Hinweis wichtig, dass eine Atmosphäre eben nicht einfach vorhanden ist, sondern erst im Zusammenspiel von Räumen, Artefakten und handelnden Akteuren mit einem eigenen Habitus und Körpergedächtnis entsteht und somit eine Beziehung und Beziehungsqualität anzeigt, die erst in der konkreten sozialen Praxis zutage tritt. So weist Bärbel Husmann in ihrer qualitativen Studie zur Religiosität Jugendlicher auf die »Strukturen der religiösen Selbstkonstruktion« hin, wie sie gerade in Auseinandersetzung mit Räumen und »Stimmungsqualitäten« ausge-

44 Vgl. etwa David Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung. Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes, Zürich 2007, S. 196 – 206. 45 Stefanie Duttweiler, Predigende Tische, Stühle, Wände? Eine empirisch-explorative Resonanzanalyse zur materialen (Re-)Produktion religiösen Wissens, in: Interdisziplinäre Tagung »Materialitäten. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften«. Universität Mainz, Philosophicum, 19.– 20. Oktober 2011, Abstractband, S. 7.

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bildet werden – einer der untersuchten Jugendlichen, Christian, folgt darin dem ästhetischen Programm der Taizé-Gemeinschaft und nutzt dieses zur Selbstbeschreibung seiner religiösen Gefühle.46 Die im Kirchenraum inszenierten »Atmosphären des Wir«, die »die Potenz haben, Individuen in ein Kollektiv einzubinden«,47 funktionieren also nur dann, wenn sie auch aktiv gesucht, angeeignet und als Elemente der Selbstkonstitution genutzt werden. Das Beispiel Christians zeigt eindrücklich, wie stark das, was als »religiöse Erfahrung« formuliert wird, einerseits bestimmten wiedererkennbaren Mustern der Atmosphärenproduktion folgt, andererseits aber von der agency der Akteure abhängig ist. Einige der hier berührten Fragen werden erst im nächsten Kapitel systematisch aufgegriffen werden, wenn es um den Kirchenraum als materiellen Raum geht. Im Folgenden aber wird versucht, eine praxeologische Perspektive auf Atmosphären und Emotionen im Kirchenraum zu entwickeln, die in verschiedenen theoretischen Formulierungen vor allem auf Bourdieus Habitusbegriff rekurriert.

Emotionen im Kirchenraum: Umrisse einer Forschungsfrage In Kirchenräumen lassen sich Emotionen besonders eindrucksvoll inszenieren. Auf überspitzte und verquere Weise hat das der Beitrag des Regisseurs und Aktionskünstlers Christoph Schlingensief zur Ruhrtriennale 2008 deutlich gemacht. Schlingensief stellte in einem »Fluxus-Oratorium« in der alten Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord sein Krebsleiden zur Schau und brachte »eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir« auf die Bühne. Der Rezensent der Neuen Zürcher Zeitung kommentierte: Es ist wirklich ein sakraler Raum, in dem Schlingensief seine Kirche errichtet hat. Mit Kanzel, Kirchenbänken und Kruzifix auf dem Altar. Dies ist der Ort für eine Messe, in der zwischen Gott und Dämonen, Kunst und Religion nicht unterschieden wird. Alles kommt ins Schwimmen, nur das Thema bleibt stabil: Es geht um Christoph Schlingensief, seinen Krebs, seine Angst vor dem Sterben.48

Die Duisburger »Kathedrale der Arbeit« wurde zu einer verstörenden Inszenierung von Sakralität überhöht: »Die Halle [. . . ] ist mit Kirchengestühl möbliert, durch einen Mittelgang strömen Prozessionen zur Apsis, vorn links steht eine

46 Vgl. Bärbel Husmann, Das Eigene finden. Eine qualitative Studie zur Religiosität Jugendlicher, Göttingen 2008, S. 126 – 137. 47 Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung, S. 204. 48 Dirk Pilz, Die Messe des unheiligen Christoph. Krankheit, Kunst – Schlingensief bei der Ruhrtriennale in Duisburg, in: NZZ Online, 23. September 2008, http://www . nzz.ch/aktuell/startseite/die-messe-des-unheiligen-christoph-1.887725 (Zugriff am 1. April 2015).

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Monstranz, die ein Röntgenbild von Schlingensiefs geplünderter Brust enthält, und im Lauf des Abends werden Chöre das Gemäuer erdröhnen lassen«.49 Doch warum das Ganze in einem nachgestellten Kirchenraum? Warum eine Kirche der Angst? Über das Moment der Provokation hinaus, das in Schlingensiefs Inszenierung steckt, wird hier ein Zusammenhang sichtbar, der für eine kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse von Interesse ist. Die Rolle von Emotionen in der religiösen Praxis ist schon von »Klassikern« der Religionstheorie und -phänomenologie wie Friedrich Schleiermacher, William James und Hans-Rudolf Otto vielfach betont worden.50 Aus einer anderen Perspektive hat auch Clifford Geertz in seiner berühmten Analyse zur Religion als einem kulturellen System die emotionale Ebene als eine für religiöse Systeme konstitutive Ebene beschrieben. Demnach sei Religion ein Symbolsystem, das darauf zielt, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.51

Geertz skizziert die »Dispositionen«, die mit den »Stimmungen und Motivationen« angesprochen sind, als konstitutiven Teil eines »System[s] allgemeiner Ideen«, mit dem Erfahrungen sinnvoll ausgedrückt werden können und das »dem einzelnen Menschen oder einer Gruppe von Menschen allgemeine und doch spezifische Auffassungen von der Welt, vom Selbst und von den Beziehungen zwischen Welt und Selbst« liefert.52 »Stimmungen« wären so im Rahmen des religiösen kulturellen Systems als ein Medium zu verstehen, über das

49 Peter Kümmel, Ihn brennt der Tod. Trauerfeier für einen Überlebenden, von ihm selbst inszeniert: Christoph Schlingensief eröffnet seine ›Kirche der Angst‹ bei der Ruhrtriennale in Duisburg, in: Zeit Online, 30. April 2009, http://www.zeit.de/2008/ 40 / Ruhrtriennale (Zugriff am 1. April 2015). 50 Vgl. dazu Roderich Barth, Religion und Gefühl. Schleiermacher, Otto und die aktuelle Emotionsdebatte, in: Lars Charbonnier / Matthias Mader / Birgit Weyel (Hg.), Religion und Gefühl. Praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotionen. Festschrift für Wilhelm Gräb zum 65. Geburtstag, Göttingen 2013, S. 15 – 48, sowie die knappen Hinweise bei Hubert Knoblauch / Regine Herbrik, Emotion, Wissen und Religion, in: Lars Charbonnier / Matthias Mader / Birgit Weyel (Hg.), Religion und Gefühl. Praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotionen. Festschrift für Wilhelm Gräb zum 65. Geburtstag, Göttingen 2013, S. 217 – 231, hier S. 218 – 219. 51 Geertz, Religion als kulturelles System, S. 48. Die Ziffern, die Geertz an dieser Stelle als Verweise auf die Gliederung seines Beitrags eingefügt hat, sind bei der Zitation hier weggelassen worden. 52 Geertz, Religion als kulturelles System, S. 92.

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sich Verbindungen und Beziehungen zwischen Individuum und sozialer Welt herstellen und die bestimmte Modelle dieser Beziehungen affektiv stützen. Über solche Bestimmungsversuche der Rolle emotionaler Dispositionen für die Konstitution von Religion geht der italienische Philosoph Mario Perniola weit hinaus, indem er das religiöse Gefühl von den dogmatischen und ideologischen Voraussetzungen löst und von einem autonomen »katholischen Fühlen« spricht, über das sich Katholizität als »kulturelle Form« herstellt und reproduziert.53 So überzogen Perniolas Thesen auch wirken, sie geben doch einen wichtigen Hinweis auf die Bedeutung emotionaler Dynamiken von Religion – und sie werfen die Frage auf, inwiefern sich religiöse Praxismuster auch als emotionale Stile begreifen lassen, wie es derzeit unter anderem Hubert Knoblauch und Regine Herbrik an der Freien Universität Berlin vorschlagen.54 Während die Bedeutung von Emotionen für religiöse Praktiken schon vielfältig untersucht ist, bleibt der explizit räumliche Aspekt dieses Themas vorläufig noch unterbelichtet. In seinem Beitrag zum »Oxford Handbook of Religion and Emotion« sieht der Religionswissenschaftler John Kieschnick im Zusammenhang von Religion, Emotionen und materieller Kultur ein grundlegendes Forschungsdesiderat: Despite the burgeoning of material culture studies in recent decades and the enormeous amount of data available regarding religious objects of all time periods and all parts of the world, the role objects play in evoking and shaping emotion in religious contexts remains largely unexplored. Most religious activity involves objects of some sort, whether they be the elaborate gowns and imposing cathedral of a medieval Christian priest or the inexpensive wooden prayer beads of a shopkeeper in modern Bangkok; few experience religion alone and empty-handed in the desert.55

53 Vgl. Mario Perniola, Vom katholischen Fühlen. Die kulturelle Form einer universellen Religion, Berlin 2013. In der Originalsprache ist dieses Buch bereits 2001 erschienen: Mario Perniola, Del sentire cattolico. La forma culturale di una religione universale, Bologna 2001. 54 Knoblauch und Herbrik leiteten das Teilprojekt »Die Emotionalisierung der Religion – neue emotionale Stile im Kontext religiöser Erfahrung« des mittlerweile abgeschlossenen DFG-Exzellenzclusters »Languages of Emotion« an der FU Berlin. Vgl. dazu die Homepage http://www .loe .fu - berlin .de (Zugriff am 10. Januar 2015). Zu den emotionalen Stilen im Feld der Religion vgl. z. B. Regine Herbrik, Analyzing Emotional Styles in the Field of Christian Religion and the Relevance of New Types of Visualization, in: Qualitative Sociology Review 8 (2012), Vol. 2, S. 112 – 128; Dies./Hubert Knoblauch, Religion, Emotional Knowledge, Emotional Styles and Religion, in: Christian von Scheve / Mikko Salmela (Hg.), Collective Emotions, Oxford 2014, S. 356 – 371. 55 John Kieschnick, Material Culture, in: John Corrigan (Hg.), The Oxford Handbook of Religion and Emotion, New York 2008, S. 223 – 237, hier S. 223..

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Auch Anna Körs hat hier weiteren Forschungsbedarf angemeldet und die Frage aufgeworfen, wie »dem affektuellen Zusammenwirken von Kirchenraum und Kirchenbesucher methodisch auf den Grund zu gehen ist«.56 Dabei ginge es um die »emotional erlebte (atmosphärische) Dimension des Raums und es wäre die Aufmerksamkeit auf genau das zu lenken, was in der Relation von Mensch und (Kirchen-) Raum nicht in der Interpretation und Zuschreibung von Bedeutungen und Sinn aufgeht«.57 Kathrin Busch hat hier den Begriff der »Interpassion« ins Spiel gebracht, um anzudeuten, »dass die Verstrickung von Subjekt und Objekt in den Bereich der Empfindungen und Atmosphären hineinreicht«.58 Im Bereich der Interferenz zwischen Mensch und Raum ergeben sich also nicht nur Handlungszusammenhänge, sondern auch affektive Wirkungen. Kommen wir an dieser Stelle nochmals zurück auf den Theorieentwurf einer Architektur als Medium des Sozialen, in dem die Affektivität von Architektur einen wichtigen Platz einnimmt: Heike Delitz fasst Architektur mit Deleuze und Guattari als Artefakt, das »mit den Aktionen und Passionen der Akteure und ihren Aussagen ein untrennbares ›Gefüge‹ bildet. [. . . ] Die Architektur (und insbesondere die Innenarchitektur) verbindet sich mit unseren Körpern in einer nie ganz durchsichtigen Weise, evoziert je spezifische Aktionen und Interaktionen, Affekte und Passionen, Motive und Subjektivierungen, während andere gar nicht in den Horizont des Möglichen dringen«.59 Dabei ist das Moment der Subjektkonstitution wichtig, das Delitz nicht von ungefähr gerade im Zusammenhang mit Kirchenräumen anspricht: »Kirchenbauten [. . . ] haben ihre ganz eigene Affektivität, ohne die ein ›Eindringen‹ des Glaubens in die Einzelnen schwer vorstellbar ist. Anders formuliert, erzeugen diese Gebäude die gläubigen Subjekte mit und sind natürlich ganz gezielt darauf angelegt«.60 Die zentrale Frage richtet sich bei alledem sicherlich – wie schon bei der Diskussion des Atmosphärenbegriffs – auf die sozial- und kulturtheoretische Formulierung der affektiven Wirkung von Räumen. Inwiefern ist diese »Wirkung« ein einseitiger Prozess? Inwiefern geht sie in dem auf, was der von Alexandra Kaiser im Rahmen ihrer ethnographischen Dorfkirchenstudie befragte schwäbische Pastor andeutete: »Also des Daimlerstadion und a barocke Kirch’, des geht für mich in die gleiche Richtung, do wird was mit mir gmacht«.61 Inwiefern »machen« Räume etwas mit Akteuren? Der Religions-

56 Körs, Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S. 408. 57 Körs, Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S. 408 – 409. 58 Kathrin Busch, Hybride. Der Raum als Aktant, in: Meike Kröncke / Kerstin Mey / Yvonne Spielmann (Hg.), Kultureller Umbau. Räume, Identitäten und Re / Präsentationen, Bielefeld 2007, S. 13 – 27, hier S. 22. 59 Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 21. 60 Delitz, Architektursoziologie, S. 79. 61 Kaiser, In der Kirche im Dorf, S. 126.

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soziologe Hubert Knoblauch hat in seiner Darstellung zur populären Religion das Feld moderner »Spiritualität« vermessen und die These vertreten, dass die affektive und atmosphärische Wirkung religiöser Räume aus Sicht populärer Spiritualität mit einem »Verweisungscharakter« zusammenhängt, »der das Transzendieren gleichsam nur leer andeutet«, mit einem »Code religiöser bzw. spiritueller Kommunikation«.62 Hier ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem praxeologischen Verständnis der Atmosphäre von Kirchenräumen markiert: Wenn es nämlich ein kommunikativer Code ist, der – wie unbestimmt auch immer – für die Wiedererkennbarkeit »spiritueller« Anmutungsqualitäten sorgt, dann wird deutlich, dass die Atmosphäre von Kirchenräumen nur als soziale Tatsache angemessen verstanden werden kann, als ein Produkt sozialer Aushandlungsprozesse, über die Räume überhaupt als »spirituell aufgeladen« erfahren werden können. Hier ist die Vagheit des Atmosphärischen geradezu notwendig, um ein breites Set von Arrangements und Praktiken als spirituell einordnen zu können; nicht ohne Grund taucht an dieser Stelle bei Knoblauch die Vokabel »irgendwie« auf.63 Es spricht vieles dafür, dass in der säkularisierten und im Zeichen der »Entgrenzung der Religion« 64 re-spiritualisierten Gesellschaft die Affektivität von Kirchenbauten ganz wesentlich von dieser Erfahrung des »irgendwie« Spirituellen abhängig ist. Von der organisierten »Einkehr« im Kloster oder von der Meditation in Taizé werden Stimmungsqualitäten erwartet, die von bestimmten, greifbaren Glaubensüberzeugungen oder gar theologischen Lehrmeinungen vollkommen abgekoppelt sind; mit ähnlich vagen, aber auf den kommunikativen Code des Spirituellen bezogenen Erwartungen betreten wohl auch die meisten KirchenbesucherInnen einen Kirchenraum – sei es zum Gottesdienst, zur kunsthistorischen Besichtigung oder als Teil »jene[r] Mehrheit, die – unter beachtlichem finanziellem Aufwand – mit Bussen, Zügen oder Autos zu den zahllosen heiligen Bauwerken westlicher und anderer Traditionen reist, und sie staunend bewundert, ohne sich für religiös oder kunstsinnig zu halten«.65 Aufgrund der Unschärfe des allgemeinen spirituellen Codes, der auch eine »Vermischung der Codes« aus unterschiedlichen religiösen Traditionen zulässt,66 können Effekte des »Spirituellen« oder »Sakralen« auch in dezidiert nicht-religiösen Kontexten funktionieren, wie der Architekt Bernhard Hirche durchblicken lässt, wenn er in einem Beitrag über Kirchenbau schreibt: »Ich arbeite als Architekt im profanen Bereich sakral, das heißt, meine profanen

62 Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt am Main 2009, S. 189. 63 Knoblauch, Populäre Religion, S. 190. 64 Knoblauch, Populäre Religion, S. 197. 65 Knoblauch, Populäre Religion, S. 189. 66 Knoblauch, Populäre Religion, S. 186.

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Bauten haben Sakralität, zum Teil sehr viel Sakralität. Und umgekehrt, wenn ich Kirchen baue, sind meine Kirchbauten oft sehr profan. In Teilen, in den Materialien, oft auch im Ausdruck – dieses wird von meinen Bauherrn oft verlangt und gewünscht, wie auch umgekehrt das Sakrale in meiner profanen Architektur von meinen profanen Bauherrn als Stimmung, wie auch immer, erwünscht wird.« 67 Hier wird »Sakralität« zu einer von Architekten und Innenarchitekten bewusst und kalkuliert einsetzbaren Raumqualität, zu einem Produkt »ästhetischer Arbeit«,68 wie es auch Christoph Schlingensief mit seiner Inszenierung einer »Kirche der Angst« vorführt. Die Grundelemente einer auf Sakralität zielenden ästhetischen Arbeit sind – folgt man Gernot Böhme – relativ simpel: »heilige Dämmerung«, »diaphanes Licht« sowie Stille und die durch Raumgröße und Raumhöhe erzielte »Erhabenheit«.69 Dabei lebt das Gefühl des Spirituellen von Kontrasten: »Für das Spüren der Erhabenheit – hier des kirchlichen Raumes – ist gerade der Kontrast notwendig, nämlich dass es zugleich das Spüren der eigenen Anwesenheit im Raume, nämlich der verlorenen, gewissermaßen haltlosen Anwesenheit im übergroßen Raum ist. Diese Ambivalenz im Spüren des Erhabenen verbindet dieses Gefühl mit der Erfahrung der Stille«.70 Dieser Effekt wird übereinstimmend immer wieder beschrieben; das »Eintauchen« in den groß dimensionierten und zugleich stillen Raum nimmt auch kirchenferne BesucherInnen gefangen, wie Stefan Schaede an einer Stelle berichtet: »Dies geschah etwa, als eine sehr schwierige Konfirmandengruppe die Nicolaikirche [sic] in Leipzig besuchte. Als sie die Kirche betraten, waren alle wie ausgewechselt und in sehr ähnlicher Weise vom Raum und seiner Geschichte fasziniert«.71 Es liegt nahe, von einem solchen Raum nicht nur die Faszination einer besonderen »Aura«, sondern explizit die Herstellung »religiöser Gefühle« zu erwarten, und die Kirchenraumpädagogik setzt eben an

67 Bernhard Hirche, Das Sakrale im Profanen – Das Profane im Sakralen, in: Zentrum für Medien Kunst Kultur im Amt für Gemeindedienst der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Kunstdienst der Evangelischen Kirche Berlin (Hg.), Kirchenräume – Kunsträume. Hintergründe, Erfahrungsberichte, Praxisanleitungen für den Umgang mit zeitgenössischer Kunst in Kirchen. Ein Handbuch, Münster 2002, S. 48 – 55, hier S. 48. 68 Einblicke in die Praxis dieser ästhetischen Arbeit vermittelt der von prominenten Architekten zusammengestellte Band Mario Botta / Gottfried Böhm – Peter Böhm / Rafael Moneo, Sakralität und Aura in der Architektur, Zürich 2010. 69 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, S. 143 – 146. 70 Böhme, Architektur und Atmosphäre, S. 146. 71 Stefan Schaede, Heilige Handlungsräume? Eine theologisch-raumtheoretische Betrachtung zur performativen Kraft von Kirchenräumen, in: Ingrid Baumgärtner / Paul-Gerhard Klumbies / Franziska Sick (Hg.), Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge, Göttingen 2009, S. 51 – 69, hier S. 63.

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diesem Punkt an. Wenn die Religionsethnologin Tanya Maria Luhrmann die Frage aufwirft: »How do You learn to know that it is God who speaks?«,72 dann wäre die Frage im Hinblick auf die Analyse sakraler Räume zu adaptieren: Welchen Beitrag leistet das räumliche Arrangement in Kirchen zu der Gewissheit, dass es Gott sei, der hier spricht – und welchen Faktor stellen bestimmte Räume im Prozess der Einübung und Internalisierung von Religion, religiösen Praktiken und religiösen Gefühlen dar?

Religion und emotionale Praktiken In ihren einschlägigen Forschungsarbeiten hat die Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer in den vergangenen Jahren immer wieder die Herstellung und Praxis religiöser Gefühle in den Blick genommen und dabei eine dezidiert praxistheoretische Perspektive ausgearbeitet.73 Ihre Studien bewegen sich im Kontext der innerhalb der Geschichts- und Kulturwissenschaften relativ neuen Forschungsrichtung der Emotionengeschichte und Anthropologie der Emotionen, zu der mittlerweile auch gute Einführungsliteratur vorliegt.74 Emotionengeschichte verstehen Scheer und Pascal Eitler in einem Forschungsaufriss zunächst ganz wesentlich als Körpergeschichte. Es reiche nicht aus, Gefühle vorrangig im Gehirn bzw. im kognitiven Bereich zu verorten; vielmehr müsse es darum gehen, mit der Historisierung der Emotionen auch die Historisierung des Körpers voranzutreiben.75 Denn der Körper ist nicht lediglich das Medium, in dem sich »innere« Gefühle »äußerlich« ausdrücken, sondern er ist gleichsam der Ort, an dem sie konfiguriert werden. Scheer und Eitler greifen dabei auf Überlegungen des Historikers William Reddy zurück, der den Begriff der emo-

72 Tanya Marie Luhrmann, How do You learn to know that it is God who speaks? In: David Berliner / Ramon Sarró (Hg.), Learning Religion. Anthropological Approaches, Oxford / New York 2007, S. 83 – 102. Vgl. neuerdings auch dies., When God talks back. Understanding the American Evangelical Relationship with God, New York 2012. 73 Scheer spricht sehr treffend von einer Verschiebung von einem »abbildtheoretischen« hin zu einem »praxistheoretischen« Verständnis von Emotionen. Damit ist gemeint, dass der Gefühlsausdruck nicht nur als Repräsentation eines »innerlichen« seelischen Zustands, sondern als Moment des »Zustandebringens des Innerlichen« begriffen wird. Vgl. Scheer, Von Herzen glauben, S. 118. 74 Vgl. neben den oben genannten Titeln von Corrigan, The Oxford Handbook of Religion and Emotion, und Riis / Woodhead, A Sociology of Religious Emotion, v. a. Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012; für eine essayistische Einführung vgl. Ute Frevert, Vergängliche Gefühle, Göttingen 2013. 75 Eitler / Scheer, Emotionengeschichte als Körpergeschichte, S. 283.

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tives in die Diskussion eingebracht hat. Diese »Emotives« sind »Äußerungen, die das ›Äußere‹ zugleich abbilden und gestalten«.76 Damit bietet Reddy Anknüpfungspunkte für die Integration körperlicher Dimensionen der Emotionen: Körperbewegungen (Gesichtsausdrücke, Gesten, Haltungen) und -regungen (erhöhte Atemfrequenz oder Schweißausbruch) ließen sich nach seinem Modell als emotives begreifen. Dabei ist davon auszugehen, dass solche Körpererlebnisse in und von einer spezifischen Umgebung erlernt werden. Dass sie sich unterhalb der Aufmerksamkeitsgrenze vollziehen und als »unwillkürlich« beschrieben werden, macht sie nicht weniger kultiviert und enkulturiert. Mit dem emotiveKonzept wird es möglich, eine Verbindung zwischen »innen« und »außen« denken zu können, so instabil und uneindeutig sie sein mag, anstatt das »Innere« als außerhalb der Reichweite von Geschichte und Geschichtswissenschaft anzusehen.77

In einer Reihe von Publikationen hat Monique Scheer über diese Überlegungen hinaus einen eigenständigen theoretischen Beitrag zu dem Problem geliefert, wie Emotionen sinnvoll historisiert und als Körpertechniken verstanden werden können. Im Rückgriff auf Ansätze aus der kognitiven Psychologie, der Körperethnologie, der Emotionengeschichte im Sinne Reddys und anderer HistorikerInnen und vor allem auf Bourdieus soziologische Praxistheorie zeigt sie, dass Gefühle – wie bewusst oder unbewusst, absichtlich oder unabsichtlich auch immer – zielgerichtete performative Akte sind.78 »Emotionen als Praktiken aufzufassen heißt, sie nicht nur als Motivationen oder Begleiter menschlichen Handelns zu verstehen, von dem sie konzeptionell getrennt sind, sondern sie ebenso als ein Tun aufzufassen, das mit anderen doings and sayings verbunden ist: mit Sprechen, mit dem Umgang mit Objekten, Raum und anderen Menschen«.79 Dadurch – und nur dadurch – wird es möglich, in emotionalen Befindlichkeiten und Gefühlsäußerungen kulturelle Muster auszumachen. In den Blick kommen affektive Kulturen und emotionale Stile, mehr noch: emotionale Regimes und Praktiken emotionaler Navigation. 80 Diese Konzepte zeigen an, dass Emotionen – auch die von Paul Ekman beschriebenen

76 Eitler / Scheer, Emotionengeschichte als Körpergeschichte, S. 288. 77 Eitler / Scheer, Emotionengeschichte als Körpergeschichte, S. 288. 78 Vgl. die in diesem Kapitel in Anm. 3 genannten Forschungsbeiträge. Zu diesem Komplex vgl. auch den anregenden Sammelband von Claudia Jarzebowski / Anne Kwaschik (Hg.), Performing Emotions. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Politik und Emotion in der Frühen Neuzeit und in der Moderne, Göttingen 2013. 79 Scheer, Von Herzen glauben, S. 118. 80 Vgl. dazu den erhellenden Forschungsbericht bei Plamper, Geschichte und Gefühl, v. a. S. 297 – 319.

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»Basisemotionen« – immer erlernt und sozial eingeübt sind, dass sie eingebunden sind in kommunikative und damit immer auch politische Kontexte. Ein entscheidender Theoriebaustein ist bei alledem das Habituskonzept. Denn zum einen macht der Habitus die Inkorporierung sozialer Strukturen und sozialer Erfahrungen deutlich und erklärt damit die grundlegende Sozialität körperlicher Aktionen und Reaktionen. Zum anderen ist der Habitusbegriff in seiner Koppelung an den Feldbegriff dazu geeignet, die Übereinstimmung von kulturell geprägten materiellen Settings und körperlicher Hexis zu verstehen, das – in Bourdieus Worten – »fast wundersame Zusammentreffen von Habitus und Feld, von einverleibter und objektivierter Geschichte«.81 Die Pointe von Scheers Überlegungen liegt darin, Gefühle nicht nur als kulturell geprägt und formatiert zu verstehen, sondern auch als ein Produkt spezifischer kognitiv-körperlicher Praktiken. »Emotionen sind aus dieser Perspektive als Akte begreifbar, die sowohl Geist als auch Körper beanspruchen, d. h. sie sind weniger etwas, was wir haben, sondern etwas, was wir tun, eine Aktivität von Körper und Geist zugleich; man kann sie als Emotionspraktiken denken«.82 In diesem Sinn sind sie elementarer Bestandteil und Effekt des »practical engagement with the world«; 83 sie gehören in den Bereich inkorporierten Wissens und der »embodied thoughts«.84 Um die Funktionen emotionaler Praktiken aus praxistheoretischer Perspektive genauer zu fassen, unterscheidet Scheer im Rückgriff auf Reddy und andere Theoretiker der Emotionenforschung und -geschichte vier Punkte: Demnach sind emotionale Praktiken 1. mobilisierend; sie sind »habits, rituals, and everyday pastimes that aid us in achieving a certain emotional state«.85 Weiter sind sie 2. benennend, insofern sie im Sinne von Reddys »emotives« auch die diskursive und sprachliche Seite des Gefühlsausdrucks betreffen, über die Emotionen erst ihre distinkte Gestalt erhalten.86 Sodann sind sie 3. kommunikativ, da das »Lesen« des körperlichen Ausdrucks in Gestik, Mimik, Körperhaltungen, Stimmfarbe und vielem mehr »includes judgements about the situational context, the actors involved, and social expectations«.87 Schließlich sind sie 4. regulierend, was auf die Rolle emotionaler Praktiken bei der Einübung und Internalisierung sozialer und kultureller Normen zielt.88

81 Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1987, S. 122. 82 Scheer, Welchen Nutzen hat die Feldforschung, S. 68. 83 Scheer, Are Emotions a Kind of Practice, S. 193. 84 So ein Begriff von Michelle Rosaldo, vgl. Scheer, Are Emotions a Kind of Practice, S. 205. 85 Scheer, Are Emotions a Kind of Practice, S. 209. 86 Scheer, Are Emotions a Kind of Practice, S. 212 – 214. 87 Scheer, Are Emotions a Kind of Practice, S. 214. 88 Scheer, Are Emotions a Kind of Practice, S. 215 – 217. Zu den vier Arten emotionaler Praktiken bei Scheer vgl. auch Plamper, Geschichte und Gefühl, S. 314 – 316.

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Abb. 33: Szene am Opferlichtstand in St. Stephan.

Auf heuristischer und methodischer Ebene ermöglicht diese Perspektive ein Forschungsprogramm, das Körper und Artefakte zum Ausgangspunkt gegenwartsethnographischer, aber auch historischer Kulturanalysen nimmt: »Methodologically, a history of emotions inspired by practice theory entails thinking harder about what people are doing, and to working out the specific situatedness of these doings. It means trying to get a look at bodies and artifacts of the past«.89 Nigel Thrift hat Emotionen als ein »essenzielles Element in der körperlichen Antizipation des Augenblicks« zur Diskussion gestellt.90 Entscheidend ist hier die Idee des Antizipierens, die der gängigen Vorstellung zuwiderläuft, dass sich Emotionen im Augenblick und durch den Augenblick erst einstellen. Vielmehr verklammern sich in der emotionalen Dimension – im Sinne des von Scheper-Hughes und Lock konzipierten mindful body – 91 in spezifischer Weise die Vergangenheit und Gegenwart von Erfahrungen und Erlebnissen mit

89 Scheer, Are Emotions a Kind of Practice, S. 217. 90 Nigel Thrift, Intensitäten des Fühlens: Für eine räumliche Politik des Affekts, in: Helmuth Berking (Hg.), Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt am Main / New York 2006, S. 216 – 251, hier S. 234. 91 Vgl. Nancy Scheper-Hughes / Margaret M. Lock, The Mindful Body. A Prolegomenon to Future Work in Medical Anthropology, in: Medical Anthropology Quarterly 1 (1987), S. 6 – 41; dazu in aller Kürze auch Eitler / Scheer, Emotionengeschichte als Körpergeschichte, S. 286 – 287.

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der vorweggenommenen Zukunft. Wenn wir diese Denkfigur in Analogie zum Bourdieuschen Habituskonzept betrachten, dann wird deutlich, dass sich eben hierin die soziale und geschichtliche Dimension von Gefühlen niederschlägt: Die Emotionen treten aus dem gleichsam »geschichtlosen« Augenblick heraus und erweisen sich als Reflexe, Medien und mehr oder weniger steuerbare Verarbeitungsprozesse gesellschaftlicher Erfahrung. Spätestens hier wird die Relevanz des Konzepts der »emotionalen Praktiken« für die transdisziplinäre Forschung über Religion und religiöse Praktiken deutlich. Denn das »religiöse Gefühl« ist wie kaum ein anderer emotionaler Komplex in Rituale und sich wiederholende Routinen eingebunden: Es ist ein Gefühl, das erlernt werden muss, das gewohnheitsmäßig in bestimmten Situationen der Andacht und des Gebets erzeugt wird und das insofern in eine klare zeitliche Struktur eingebunden ist. Mit der entsprechenden liturgischen oder auch individuellen Handlung ist auch das entsprechende Gefühl antizipierbar, weil auf vielfach eingeübte und routinisierte Muster zurückgegriffen wird. Für die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Religion und Politik im Fokus des Kirchenraums ist Reddys Konzept der »emotionalen Regimes« besonders aufschlussreich. Ein »emotionales Regime« ist – so Jan Plamper in seiner kompakten Zusammenfassung dieses Konzepts – das Ensemble von vorgeschriebenen emotives sowie den dazugehörenden Ritualen und anderen symbolischen Praktiken. Ein öffentliches Bekenntnis zur Vaterlandsliebe – etwa beim Fahnenschwur in der Armee – wäre ein solches emotive und Teil eines nationalen emotionales Regimes in der Moderne. Jedes politische Regime wird durch ein emotionales gestützt.92

Den Gedanken der »emotionalen Regimes« hat Bourdieu in seinem Buch »Sozialer Sinn« gewissermaßen vorweggenommen; in einer berühmt gewordenen Passage heißt es: In allen Gesellschaftsordnungen wird systematisch ausgenutzt, daß Leib und Sprache wie Speicher für bereitgehaltene Gedanken fungieren können, die aus der Entfernung und mit Verzögerung schon dadurch abgerufen werden können, daß der Leib wieder in eine Gesamthaltung gebracht wird, welche die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken heraufbeschwören kann, also in einen jener Induktorzustände des Leibs, der Gemütszustände herbeiführen kann, wie Schauspielern bekannt ist. Daher die Sorgfalt, die bei der Inszenierung großer Massenfeierlichkeiten nicht nur auf das (z. B. bei der Ausgestaltung der großen Barockfeste offensichtliche) Bemühen um feierliche Darstellung der Gruppe zurückgeht, sondern auch, wie zahlreiche Einsatzformen von Tanz und Gesang beweisen, auf die sicher unbestimmte Absicht, Gedanken zu ordnen und durch

92 Plamper, Geschichte und Gefühl, S. 304 – 305.

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strikte Regelung der Praktiken, durch regelhafte Aufstellung der Leiber und besonders durch leibliche Ausdrucksformen der Gemütsbewegung wie Lachen oder Weinen Gefühle zu suggerieren. Symbolische Wirkung dürfte auf der Macht über andere und insbesondere über deren Leib und Glauben fußen, verliehen von der kollektiv anerkannten Fähigkeit, durch verschiedenste Mittel auf die zutiefst verborgenen verbal-motorischen Zentren einzuwirken, um sie zu neutralisieren oder um sie zu reaktivieren, indem man sie mimetisch fungieren läßt.93

Von hier aus wäre auch eine Praxeologie der Emotionen in Kirchenräumen zu konzipieren, und zwar als eine Praxeologie, die das emotionale Handeln z. B. im Gottesdienst immer auch als eine performative Realisierung bestimmter symbolischer Ordnungen – der Gemeinde, der sozialen Beziehungen, der christlichen Moral oder der Heilsgeschichte – versteht. Sie trägt dem Rechnung, was Eiko Ikegami in einem Essay zur Emotionengeschichte als das »Paradox der Emotion« beschrieben hat: »Obwohl Emotionen persönlich als unmittelbare private Gefühle erlebt werden, entwickeln sie sowohl auf individueller wie auf kollektiver Ebene auch eine institutionelle Dimension mit sich wiederholenden Verhaltensmustern«.94 Dieses Paradox macht Emotionen sozusagen besonders anfällig für offene wie verkappte Ideologien, deren Inhalte sich als »private« Empfindungen maskieren; es zeigt aber auch, dass in den scheinbar privaten Gefühlspraktiken immer auch gesellschaftliche Verhältnisse und Ordnungen aktiv mitverhandelt werden. Dabei ist vor allem das relevant, was Scheer als »mobilisierende« sowie als »regulierende« emotionale Praktiken bezeichnet.95 Im Kirchenraum werden Gefühle mobilisiert und reguliert, die die Beziehung zwischen Individuum und Transzendenz, den Platz des Individuums im Kollektiv und die Form des Kollektivs bestätigen und mit hervorbringen. Durch emotionale Praktiken wird – so könnte man sagen – der Kirchenraum als Raum privater Andacht und öffentlicher Repräsentation religiöser Überzeugungen konstituiert. Denn die emotionalen Praktiken sind hier raumbezogen, sie werden gestützt durch ein materielles Arrangement und eine räumliche Ordnung – 96 von der Position der Kirchenbänke und des Sanktuariums über die Situierung von Weihwasserbecken, Kreuzwegstationen, Altären, Bildern, über die Lichtführung, die Herstellung akustischer Räume durch Musik oder Stille bis hin zu räumlichen Sonderformen wie dem Beichtstuhl, der in Kapitel 6 genauer in den Blick genommen wird.

93 Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 127 – 128. 94 Eiko Ikegami, Emotionen, in: Ulinka Rublack (Hg.), Die neue Geschichte. Eine Einführung in 16 Kapiteln, Frankfurt am Main 2013, S. 421 – 445, hier S. 441. 95 Vgl. Plamper, Geschichte und Gefühl, S. 314 – 317. 96 Zum Zusammenhang von Religion, Emotion und Materialität allgemein vgl. den Handbuchbeitrag von Kieschnick, Material Culture.

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Nach Beispielen für den Konnex von Körperpraktiken und religiösen Gefühlen muss man nicht lange suchen. Die Theologin Elke Langhammer hat in ihrer empirisch-theologischen Studie zur Gotteserfahrung von Gemeindeseelsorgerinnen Tagebuchaufzeichnungen verarbeitet, die stellenweise auch Erfahrungen bei der Nutzung von Kirchenräumen reflektieren. Eine Seelsorgerin notierte unter dem Datum des 25. April 2007 über den frühmorgendlichen Besuch in einer Kirche: Heute Morgen habe ich den Kirchenraum sehr bewußt wahrgenommen. Es klingt vielleicht übertrieben oder erhaben, aber ich gehe nicht, ich schreite sehr bedächtig durch die Gänge beim Betreten der Kirche oder beim langen Weg über die verschiedenfarbigen Steinfliesen hin zum Kommunionempfang. Ich versuche in den für mich uralt-heiligen Raum hineinzugehen, ihn aufzunehmen mit allen Sinnen. Auch meine Augen wandern umher, bleiben an einem der schönen bunten Glasfenster hängen, nehmen eine Heiligengestalt wahr oder den besonderen Lichteinfall, den dieses Gotteshaus heute Morgen zu einem mystischen Ort für mich werden ließ, an dem ich verweilen und innehalten kann.97

Das Tagebuchzitat illustriert sehr schön, was William Reddy mit seinem Begriff der »emotionalen Navigation« konzeptualisiert hat: nämlich das durchaus flexible »Navigieren« – auch ganz konkret im Raum – mit dem Ziel, einen bestimmt-unbestimmten emotionalen Zustand herzustellen. Die im Tagebuch niedergeschriebene Aussage »Ich schreite sehr bedächtig« beispielsweise ist in diesem Zusammenhang zum einen die Beschreibung einer emotionalen Praxis, die dazu dient, sich auf den Raum einzustimmen und diesen als »mystischen Ort« erleben zu können. Zum anderen aber ist sie ein emotive im Sinne Reddys, das die Situation nicht nur beschreibt, sondern auch verändert: Das beschriebene Gefühl wird beim Beschreiben mit erzeugt und steht dann wiederum als Erlebnismodell zur Verfügung. So interpretiert, können wir diese kurze Passage also als Beleg dafür lesen, dass es in der Emotionsforschung notwendig ist, »sich von sauberen Trennlinien zwischen ›bewussten‹ und ›unbewussten‹, supraliminalen und subliminalen, kontrollierten und unfreiwilligen Prozessen zu verabschieden«.98 Sie macht Emotionen als overlearned cognitive habits 99 kenntlich, die emotionale Phänomene einer sozialkonstruktivistischen Analyse öffnen. Ein weiteres Beispiel zu diesem Problem liefert der evangelische Pastor Tobias Woydack, der in einem Fachvortrag zum Thema »Gott und Raum« eine

97 Elke Langhammer, »Ist Gott drin?« Erfahrungen der Gottespräsenz im pastoralen Alltag von Gemeindeseelsorgerinnen, Berlin 2011, S. 355. 98 Reddy, The Navigation of Feeling, S. 31, in Übersetzung zit. nach Plamper, Geschichte und Gefühl, S. 301. 99 Vgl. Plamper, Geschichte und Gefühl, S. 301.

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persönliche Erfahrung als Seelsorger schildert. Die Episode sei hier vollständig wiedergegeben, weil sie in exemplarischer Weise deutlich macht, wie emotionale Praktiken im Kirchenraum analysiert werden können: Über den Notfallpieper der Feuerwehr für die Seelsorge wurde ich zu den Angehörigen eines plötzlichen Todesfalls gerufen, eine seelsorgerische Begleitung, die mich auch persönlich sehr betroffen gemacht hat. Am nächsten Tag kam ich an einer der großen Hauptkirchen Hamburgs vorbei, keine der schönen alten, sondern die Jüngste, St. Nikolai am Klosterstern, die erst 1962 eingeweiht wurde. In dieser Kirche habe ich mein Vikariat gemacht. Der Kantor dieser Kirche war zufällig anwesend, und ich bat ihn, mir ein paar laute Töne, ich wusste, es müssten vor allem laute Töne sein, auf der Orgel vor zu spielen. Er tat es bereitwillig, ca. 15 Minuten, und ich konnte einfach in der Kirchenbank sitzen und weinen. Ich konnte mich hineinfallen lassen in etwas, das größer ist als ich selbst – ausgedrückt, verstärkt, symbolisiert durch Raum und Orgel. Nun habe ich selbst auch eine Kirche, eines der ersten klassischen Gemeindezentren der 60er Jahre, auch dort gibt es eine Orgel, aber ich wusste von vornherein, dass es dort nicht funktionieren würde, dass ich mich nicht so hätte fallen lassen können, wie in jener anderen Kirche. [Meine Kirche ist viel kleiner, hell und licht durch offen einsehbare Fenster – jene hat nur indirektes Licht und obwohl sie viel größer ist konnte ich mich geborgen fühlen, konnte für mich privat sein.] Ich bin nicht besonders nah am Wasser gebaut, darum brauchte es wohl mehr Raum. Meine Empfindung war in diesem Moment – wohlgemerkt für mich, jemand anders hätte es vielleicht ganz anders empfunden – dass ich mir tatsächlich nicht selbst genug sein musste, wie es immer so schön heißt. Und meine Vermutung ist, dass das etwas mit der Dimension, innerhalb derer ich mich verortet habe, zu tun hat, mit der Monumentalität von Raum und Orgel. Der Psalmist behauptet: Du stellst meine Füße auf weiten Raum (Ps 31,9). Der Raum, in dem ich meine Erfahrung einbetten konnte, musste um einiges weiter und größer sein als der übliche Raum meines Alltags.100

Dieser Erfahrungsbericht bestätigt nicht nur, was Gernot Böhme über Weite und Monumentalität als Komponenten der »sakralen Atmosphäre« im Kirchenraum schreibt, sondern er macht auch deutlich, dass es zur Produktion und Manifestation bestimmter Emotionen eines bestimmten materiellen Settings bedarf. Woydack wusste »von vornherein«, dass es in einem anderen Raum nicht »funktionieren« würde, sich fallen zu lassen und die eigene Betroffenheit emotional zu verarbeiten; als einem Experten des sakralen Raums war ihm klar, dass

100 Tobias Woydack, Gott und Raum. Menschliche Sinnkonstruktion und die Gottesbeziehung, online unter: http://www .ekir .de / raspus - 2010 / Downloads / Woxdack _ Gott _ und _ Raum _ 08 .pdf (Zugriff am 21. August 2013).

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nur eine bestimmte Raumgröße und ein bestimmtes akustisches Erlebnis dafür geeignet sein würden, sich »hineinfallen« zu lassen in »etwas, das größer ist als ich selbst«. Mit dieser Formulierung spielt Woydack auf das Konzept des Erhabenen an, das nach Kant eine Gemütsbewegung ist, die sowohl die überwältigende Größe des Gegenstands als auch die Größe des menschlichen »Erkenntnis-« oder »Begehrungsvermögens« erfahrbar macht. Sich angesichts des Kirchenraums »klein zu fühlen«,101 ist damit eine Voraussetzung für die Produktion der »erhabenen« Gemütsbewegung. In diesem Sinne wurde Woydack gerade nicht einfach nur von einer Atmosphäre »angeweht oder ergriffen«,102 sondern ganz bewusst und zielorientiert bediente sich der Hamburger Pastor mobilisierender emotionaler Praktiken, um seine Betroffenheit zu einem mehr oder weniger klaren »erhabenen« Gefühl zu formieren und dieses Gefühl für sich – und in der Erzählung auch für andere – zu artikulieren: einfach in der Kirchenbank zu sitzen und zu weinen. Hier scheint also ein ganz anderes Konzept von Emotionalität durch als in den klassischen Atmosphärentheorien. Emotionen sind demnach etwas, was unter bestimmten Umgebungsbedingungen und mittels spezifischer Körperpraktiken erwartbar hergestellt und funktional eingesetzt wird; sie sind – mit Monique Scheer gesprochen – nicht etwas, was man hat, sondern etwas, was man tut. Im Praxiszusammenhang ist der Raum dabei nicht nur ein akteursunabhängiger »Stimmungsraum«, sondern er wird erst durch das emotionale Handeln zum Stimmungsraum. Er kann daher nicht unabhängig vom Praxiszusammenhang reifiziert werden: Wenn er »überwältigend« wirkt, dann vor allem deshalb, weil das Überwältigtwerden zu einem Set von Praktiken gehört, über das Akteure ihre emotionale Navigation durch den Alltag bewerkstelligen. Welche Gefühle hier produziert werden, das hängt ganz wesentlich von den emotionalen Repertoires der Einzelnen und nicht zuletzt von mehr oder weniger bewussten Entscheidungen ab. Andreas Reckwitz hat in einem 2012 veröffentlichten Aufsatz einen sehr schlüssigen Vorschlag gemacht, wie man der theoretischen und methodischen Herausforderung begegnen kann, die darin liegt, Emotionen und Räume als materiell und kulturell zugleich zu denken und beide praxistheoretisch aufeinander zu beziehen.103 Reckwitz stützt sich auf die Idee der »emotional« oder »affective cultures«, die er als Ensembles sozialer Praktiken versteht, in denen die darin eingebundenen Affekte wiedererkennbare Muster bilden.104 Dabei spielt das gesamte materielle, kognitive und affektive Setting der Situation eine integrale Rolle:

101 De Botton, Religion für Atheisten, S. 252. 102 Böhme, Atmosphäre, S. 97. 103 Andreas Reckwitz, Affective spaces. A praxeological outlook, in: Rethinking History 16 (2012), Heft 2, S. 241 – 258, hier S. 247. 104 Reckwitz, Affective Spaces, S. 251.

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When affects form an integral part of social practices and of the subject-object relations these practices imply, then affective cultures can be considered as networks involving artefacts, subjectifications, forms of perception and sensation, routine activities, implicit knowledge and schemes, bodily arousals and, of course, also discoursive practices concerning emotions which can, in turn, impact on non-discoursive affective practices.105

Reckwitz betont dabei den Aspekt der aktiven Raumaneignung und kommt zu dem Schluss, dass jeder Komplex sozialer Praktiken eine bestimmte Form von affektivem Raum impliziert.106 Weiter heißt es: Routine practices mostly rely on perfect matches between atmospheres and sensitivities similar to the ideal fits between habitus and field that Pierre Bourdieu mentions. In these cases we can detect an affective habitus, which is again and again reproduced in the same spaces and atmospheres, for instance in the case of religious practices and feelings carried out and experienced by pious actors in churches.107

Wir sehen hier, dass mit der Forschungsperspektive der emotionalen Praktiken und der affektiven Räume eine tatsächlich neue Sichtweise auf »Gefühle« verbunden ist. Was der Raum an Stimmungsqualitäten »anbietet«, ist in komplexer Weise abhängig von implizitem Wissen, körperlichen Routinen, antizipatorischen Erwartungen; die in Kirchenräumen erzeugten Emotionen sind als performative und subjektkonstituierende »Selbsttechnologien« zurückgebunden an kulturelle Muster und öffnen sich damit prinzipiell der kultur- und sozialwissenschaftlichen Analyse. We are subjected by and through emotions – the fact that they »overcome« us and are outside our control is the embodied effect of our ties to other people, as well as to social conventions, to values, to language. Emotions do not pit their agency and autonomy against ours; they emerge from the very fact that subjectivity and autonomy are always bounded by the conditions of their existence, by the fundamental sociability of the human body and self.108

Inwiefern, wie Scheer und Reckwitz in unterschiedlicher Weise vorschlagen, gerade das Bourdieusche Habituskonzept geeignet ist, die Verbindung aus Wissen, Fühlen und Handeln zu fassen, wird im nächsten Kapitel – und dort vor allem im Abschnitt »Körper im Kirchenraum« – näher beleuchtet werden.

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Reckwitz, Affective Spaces, S. 253. Reckwitz, Affective Spaces, S. 255. Reckwitz, Affective Spaces, S. 255. Scheer, Are Emotions a Kind of Practice, S. 207.

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Sinn und Sinnlichkeit: Visuelle Kultur im Kirchenraum Vor dem Hintergrund der bisherigen theoretischen Überlegungen zu emotionalen Praktiken ist im Folgenden die sinnliche Dimension von Kirchenräumen zu untersuchen. Die kulturwissenschaftliche Frage nach der Sinnlichkeit der sozialen Welt hat generell Konjunktur und ist in zahlreichen programmatischen Sammelbänden behandelt worden.109 Im Rahmen dieser Studie war im Zusammenhang der Diskussion um Architektur und Atmosphäre bereits von den visuellen und akustischen Anmutungsqualitäten die Rede; hier bietet sich nun die Gelegenheit, Raum, Emotion und die Vielfalt sinnlicher Eindrücke zusammenzudenken, um das religiöse wie nicht-religiöse Handeln im Kirchenraum als sinnlich-materiell verfassten Vorgang besser zu verstehen. Dazu sind vor allem im Umfeld der Studien zur Material Religion wichtige Überlegungen im Sinne einer umfassenden Religionsästhetik angestellt worden. Dieser Ansatz »fragt nach den Mitteln und Strategien, mit denen in Ritualen unter Verwendung verschiedener sinnlicher Bedeutungsträger Religion erfahrbar gemacht wird, etwa durch den Einsatz von Gerüchen, Farben, räumliche Gestaltungen, Bewegung oder den Umgang mit Objekten«.110 Zu ergänzen wäre hier die für die Modellierung christlicher religiöser Praktiken so wichtige akustische Dimension, die vor dem Hintergrund eines avancierten Begriffs von Materialität einzubeziehen ist; darauf wird hier in den nächsten Abschnitten zu den »Soundscapes« im Kirchenraum und zur sozialen Produktion von Stille eingegangen werden. Fragen nach der praktischen Ästhetik im Kirchenraum werden seit einiger Zeit in einer interdisziplinär orientierten religionswissenschaftlichen Forschungsrichtung untersucht, die als Vorläufer der Material Religion Studies gelten kann: der sogenannten Religionsästhetik. Einen ersten Entwurf dieses Forschungsprogramms haben Hubert Cancik und Hubert Mohr 1988 im »Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe« publiziert; 111 fundamentale

109 Vgl. exemplarisch Lydia Arantes / Elisa Rieger (Hg.), Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen, Bielefeld 2014; Hannah Katharina Göbel / Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld 2015; Karl Braun / Claus-Marco Dieterich / Thomas Hengartner / Bernhard Tschofen (Hg.), Kulturen der Sinne. Zugänge zur Sensualität der sozialen Welt, Würzburg 2017. 110 Inken Prohl, Religionswissenschaft, in: Stefanie Samida / Manfred K.H. Eggert / Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Kontexte, Disziplinen, Stuttgart 2014, S. 332 – 337, hier S. 334. 111 Hubert Cancik / Hubert Mohr, Religionsästhetik, in: Hubert Cancik / Burkhard Gladigow / Matthias Laubscher (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart 1988, S. 121 – 156.

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Einzelstudien und Sammelbände dazu folgten.112 Diese Ansätze gehen »zum idealisierenden und normativen Ästhetikverständnis auf kritische Distanz« und widmen sich aus einer praxisnahen Perspektive mit »Bildern, materiellen Objekten, religiösen Umweltdesigns, Musik und Geruch sowie mit Ritualen«.113 Im Dialog mit einer umfassenden »Anthropologie der Sinne« wird hier versucht, die sinnliche Dimension religiöser Praxis systematisch in den Blick zu nehmen. Eine wichtige Pointe dieser Forschungsrichtung liegt darin, dass über das ästhetische Paradigma nicht nur Religion im engeren Sinne neu untersucht werden kann, sondern dass sich hier eine weite Perspektive auf die Übergänge zwischen religiösen, religioiden und an religiöse Wahrnehmungsmodelle angelehnten Praktiken bis hin zu den aktuellen »Grenzverschiebungen im Verhältnis von Kunst und Religion, Museum und Kirche« 114 eröffnet. Denn nicht nur in der Religion »wird immer wieder der Anspruch erhoben, dem Menschen andere, zumeist mit Sinnlichkeit und Affektivität verknüpfte Erkenntniszugänge zu eigentlich unsichtbaren, nicht darstellbaren Wirklichkeiten zu ermöglichen«,115 sondern auch in der Kunst. »Sakralität« wird nicht nur in Kirchenräumen und an »religiösen Orten« erzeugt, sondern in ähnlicher Weise auch in Kunstmuseen und im Falle anderer, mit den Anmutungsqualitäten einer bestimmten »Aura« ausgestatteter Räume und Artefakte. Kurzum: Es eröffnet sich hier eine weite Perspektive auf das Verhältnis von Sinnlichkeit und symbolischer Wirklichkeitswahrnehmung, welche die Grenzen zwischen Religion, Spiritualität und Kunst überschreitet und dabei auch in der Lage ist, Phänomene wie Nationalismus, Fankultur und populäre Heldenverehrung mit ihren »authentischen« Orten und Devotionalien miteinzubeziehen. An dieser Stelle sind die Überlegungen von Interesse, die Andreas Reckwitz unter dem Etikett »Elemente einer Soziologie des Ästhetischen« vor-

112 Vgl. etwa Daniel Münster, Religionsästhetik und Anthropologie der Sinne. Vorarbeiten zu einer Religionsethnologie der Produktion und Rezeption ritueller Medien, München 2001; Susanne Lanwerd, Religionsästhetik. Studien zum Verhältnis von Symbol und Sinnlichkeit, Würzburg 2002; Anne Koch (Hg.), Themenheft »Ästhetik – Kunst – Religion«. Münchener Theologische Zeitschrift 55 (2004), Heft 4. Speziell auf den Kirchenraum ausgerichtet ist die religionsästhetische Studie von Clemens W. Bethge, Kirchenraum. Eine raumtheoretische Konzeptualisierung der Wirkungsästhetik, Stuttgart 2015. Einen kurzen Forschungsbericht zum deutschsprachigen Raum liefert Inken Prohl, Religious aesthetics in the German-speaking world. Central issues, research projects, research groups, in: Material Religion. The Journal of Objects, Art and Belief 6 (2010), S. 237 – 239. 113 Prohl, Religionswissenschaft, S. 333. 114 Lanwerd, Religionsästhetik, S. 9. 115 Lanwerd, Religionsästhetik, S. 11.

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gelegt hat.116 Reckwitz spricht von genuin »ästhetischen Praktiken«, die sich im Transformationsprozess der Moderne immer stärker ausdifferenziert haben. Diese ästhetischen Praktiken setzen sich »im Kern aus Akten sinnlicher Wahrnehmung zusammen«, sind aber von einer grundsätzlich auf Sinneswahrnehmungen basierenden Weltwahrnehmung spezifisch unterschieden: »Subjekte prozessieren im Wachzustand zwangsläufig im Modus sinnlicher Wahrnehmung, aber ästhetische Praktiken sind auf eine Intensivierung, Steigerung und Sensibilisierung dieser sinnlich-perzeptiven Akte um ihrer selbst willen [. . . ] ausgerichtet, ein Prozess, in dem aus den Erlebnissen ›ästhetische Erfahrungen‹ werden«.117 Bei ihnen geht es – wie auch bei den von Monique Scheer untersuchten »emotionalen Praktiken« – ganz wesentlich um die »durchaus aktive Hervorlockung innerer Ereignisse«.118 Das bedeutet auch: »Im Interesse an einer Steigerung und Intensivierung von Erleben, Wahrnehmung, Gestaltung und Affekt forcieren sie eine offene Semiotisierung von Welt«.119 Im Rückgriff auf Jaques Rancière und Bruno Latour argumentiert Reckwitz weiter, »dass eine Analyse der sinnlich-affektiven Dimensionen von Praktiken auf die Analyse eines materialen Arrangements von Objekten und Artefakten angewiesen ist, in deren Zusammenhang sich Formen der sinnlichen Wahrnehmung, des Erlebens und Empfindens ausbilden«.120 Formen sinnlicher Wahrnehmung sind demnach immer kulturell strukturiert und folgen – so ein Gedanke Rancières – historisch-spezifischen »Regimes des Sinnlichen«.121 Für eine kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse enthalten diese Überlegungen zentrale Hinweise: Sie machen deutlich, dass sakrale Räume in besonderer Weise Schauplätze ästhetischer Praktiken sind, in denen die »Hervorlockung und positive Strukturierung von Affektivitäten« 122 explizit wie implizit beabsichtigt ist – und das sowohl dann, wenn es um die Produktion religiöser Gefühle vor dem Marienaltar, als auch dann, wenn es um das sinnliche Wohlgefallen vor Michelangelos Pietà geht. In diesem Sinne sind Kirchenräume als genuine Orte ästhetischer Praktiken zu lesen, über die soziale Akteurinnen und Akteure mehr oder weniger bewusst Erfahrungen generieren. Religiöse Praktiken werden in diesem Kontext als »Perzeptions- und Affektgenerierungsnetzwerke« lesbar, die auf die ästhetische Arbeit an der eigenen »Seele« und dem eigenen Körper ausgerichtet

116 Andreas Reckwitz, Elemente einer Soziologie des Ästhetischen, in: Ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 259 – 280. 117 Reckwitz, Elemente einer Soziologie des Ästhetischen, S. 267 – 268. 118 Reckwitz, Elemente einer Soziologie des Ästhetischen, S. 268. 119 Reckwitz, Elemente einer Soziologie des Ästhetischen, S. 271. 120 Reckwitz, Elemente einer Soziologie des Ästhetischen, S. 277. 121 Reckwitz, Elemente einer Soziologie des Ästhetischen, S. 277. 122 Reckwitz, Elemente einer Soziologie des Ästhetischen, S. 270.

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sind.123 Ganz nebenbei ist hier die elementare Rolle des Sinnlichen für religiöse Praktiken und Erfahrungen benannt, die in einer auf theologische Denklinien fixierten Religionsgeschichte allzu leicht unter den Tisch fällt. Lange vor der Entwicklung einer Religionsästhetik und einer breiten Aufmerksamkeit für Phänomene der »Material Religion« hat der US-amerikanische Religionspsychologe Paul W. Pruyser eine Studie vorgelegt, in der er die »Wurzeln des Glaubens« nicht aus einer kognitiven Überzeugung, sondern aus einem routinisierten emotionalen Navigieren durch vertraute, sinnlich erfahrbare Umgebungen und Situationen heraus erklärt.124 Pruysers erstmals 1968 erschienenes Buch ist heute fast völlig vergessen und wird in der Fachliteratur kaum zitiert, dennoch bietet es unter anderem eine erstaunlich konsequente Lektüre von Glaubenspraktiken im Sinne sinnlich-materieller Praktiken. Auf seiner »Reise ins Land der Religionspsychologie« 125 setzt Pruyser nämlich bei »Wahrnehmungsprozesse[n] in der Religion« 126 an und dekliniert dabei die menschlichen Sinne in der Absicht durch, »die reiche Vielfalt sinnlicher Erfahrungen zu skizzieren, die für die Religion in Anspruch genommen werden können«.127 Obwohl Pruysers religionspsychologische Studie letztlich doch weit von einer praxeologischen Analyse von Religion entfernt ist, legt die sukzessive Anlage seiner Untersuchung von den »Wahrnehmungsprozessen« über »intellektuelle Prozesse« und »emotionale Prozesse« in der Religion bis hin zu »Beziehungen zu Dingen und Ideen« und »Beziehungen zum Ich« doch eine bemerkenswerte Spur für eine an der materiellen Dimension religiöser Praktiken interessierte Kirchenraumanalyse. In diesem Sinne weist Pruyser auf die »enorme Bedeutung« hin, »die dem gewöhnlichen Sehvorgang im täglichen Leben eines Gläubigen zukommt«.128 Er skizziert die Lichtführungen und Lichteffekte, durch die in Kirchenräumen Aufmerksamkeiten gelenkt, Atmosphären erzeugt und liturgische Abläufe begleitet werden, thematisiert aber auch die mit der Lichtführung verbundenen Blickpraktiken, die religiöse Bedeutung gewinnen können: »das Öffnen oder Schließen der Augen, das Schielen, Spähen, Starren, Hochblicken und Hinunterschauen«.129 In den Architekturwissenschaften ist die Bedeutung des Lichts und der Lichtführung ein Dauerthema, gerade auch im Hinblick auf den Zusammenhang von Lichtführung, Bewegungsweisen, Körperpraktiken und Blickbeziehungen. So konstatieren Alban Janson und Florian Tigges in ihren

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Reckwitz, Elemente einer Soziologie des Ästhetischen, S. 279. Paul Pruyser, Die Wurzeln des Glaubens, Bern / München 1972. Pruyser, Die Wurzeln des Glaubens, S. 35. Pruyser, Die Wurzeln des Glaubens, S. 38. Pruyser, Die Wurzeln des Glaubens, S. 41. Pruyser, Die Wurzeln des Glaubens, S. 42. Pruyser, Die Wurzeln des Glaubens, S. 43.

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»Grundbegriffen der Architektur«: »Der Gebrauch von und der Aufenthalt in Räumen werden durch Licht und Schatten ebenso stark beeinflusst wie durch ihre Größe und Form«.130 Licht und Schatten regulieren Verhältnisse und Beziehungen zwischen Innen aund außen ebenso wie Hierarchien innerhalb von Räumen. Sie markieren Übergänge und Zwischenräume und akzentuieren bedeutungsvolle Orte im Raum. Tritt man etwa aus der blendenden Helligkeit in einen dunklen Raum, ändert sich schlagartig die ganze Befindlichkeit, bis sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat. Der Gegensatz lässt sich durch Zwischenräume im Zwielicht mildern. Graduelle Übergänge vermitteln auch zwischen der Intimität des Innenraums und dem öffentlichen Charakter des Außenraums. Menschen sind fototrope Lebewesen, sie bewegen sich vorzugsweise zum Licht hin. Damit kann man sie um eine Ecke herumführen und zu einem Ziel locken, ein heller Raum am Ende des Dunkels erscheint wie eine bedeutsame, erleuchtete Szene.131

Grenzziehungen und Übergänge zwischen dem Sakralen und dem Profanen werden durch Lichtwirkungen markiert; die Unschärfen des gebrochenen Lichts werden genutzt, um »religiöse« atmosphärische Wirkungen zu erzielen. Die mittelalterliche Kirche war ein »Schauraum«, die damalige Volksfrömmigkeit eine »Schau-Frömmigkeit«, in der das Visuelle im Vordergrund stand.132 Der zentrale Moment der Messliturgie, die elevatio, bestand in einem Zur-Schau-Stellen des Allerheiligsten in seiner Wandlung während des Hochgebets; die theologische Formulierung der Verinnerlichung des »Glaubensgeheimnisses« durch die Gläubigen zielte ebenfalls auf den Primat des Sehens: »Die sensorische Partizipation des Schauenden am Sakralbild oder einer heiligen Reliquie ist Anlaß einer Versenkung, die über die sensorische Wahrnehmung hinausführt auf die mystische Schau«.133 Von den visuellen Eindrücken im Kirchenraum führt also ein direkter Weg zur »Schau« des Göttlichen – eine Denkfigur, die sich in der Geschichte der katholischen Frömmigkeit als überaus dauerhaft erwiesen hat. Im Hinblick auf das Forschungsfeld der religiösen visuellen Kultur hat der Religionswissenschaftler und Kunsthistoriker David Morgan in den letzten Jahren eine ganze Reihe instruktiver und innovativer Studien vorgelegt. Darin setzt sich Morgan schwerpunktmäßig mit protestantischen Bildkulturen und Bildpraktiken auseinander, und zwar mit einem weiten Blick auf die Rolle von Bildern in verschiedenen populären Gebrauchs-

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Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 192. Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 193. Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 99. Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 99.

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kontexten.134 Dennoch bieten seine Arbeiten wichtige Impulse auch für eine Kulturanalyse des Visuellen in katholischen Kirchenräumen. Was Morgan interessiert, ist die Rolle von Bildern bei der Verbreitung und Verankerung von Praktiken der Frömmigkeitsübung, sei es im Kontext religiöser Bildung und Erziehung, sei es im ganz privaten Gebet: All devotional practices – whether the high ritual of Holy Communion or the display of devotional images in one’s bedroom – are forms of collective memory that offer the scholar primary documents of the construction and transmission of everyday life, which is arguably for most people, most of the time, where character is formed and social allegiances are negotiated.135

Bilder sind also vielfach und in komplexer Weise in den Prozess alltäglicher Wirklichkeitskonstruktion eingebunden; diese Arbeitshypothese Morgans führt ihn zu zahlreichen Fallstudien, wie sie etwa in seiner Studie »The Sacred Gaze« zusammengefasst sind: von den Problemfeldern Idolatrie und Ikonoklasmus über die Rolle von Bildern in der Missionsgeschichte und die Formierung von Geschlechterbildern in der christlichen Ikonographie bis hin zur religiös aufgeladenen Nationalikonographie der »American Civil Religion«.136 Der Schwerpunkt von Morgans historischen Analysen liegt auf der Frage nach der Rolle von Bildern bei der Transmission von Emotionen und der Regulierung von Praktiken. Als Ausgangspunkt dient ihm der grundsätzliche Befund, dass das Sehen kein kognitiver Akt ist, der sich in der Wahrnehmung und Entschlüsselung von Bedeutungsgehalten – wie letztlich auch in der von Aby Warburg vorgeschlagenen Ikonologie der »Pathosformeln« 137 – erschöpfen würde, sondern dass Sehen zuallererst als eine performative Körperpraxis verstanden werden muss. Zusammen mit dem Hören, Riechen und Schmecken – der Sinneswahrnehmung überhaupt – konstituiert es ein praktisches Verhältnis zur Welt, das in sich sozial ist und Sachverhalte wie das »Heilige« erst herstellt: Seeing is not disembodied or immaterial[,] and [. . . ] vision should not be isolated from other forms of sensation and the social life of feeling. Images and the practices of viewing them belong to discrete ways of seeing that perform the social construction of the sacred. How does that happen? Gazes or visual fields, which there are many, engage the human body as an interface with other bodies – bodies

134 Vgl. David Morgan, Protestants and Pictures. Religion, Visual Culture, and the Age of American Mass Production, Oxford 1999. 135 David Morgan, Visual Piety. A History and Theory of Popular Religious Images, Berkeley / Los Angeles 1998, S. 5. 136 Vgl. David Morgan, The Sacred Gaze. Religious Visual Culture in Theory and Practice, Berkeley / Los Angeles 2005. 137 Vgl. dazu u. a. Marcus Andrew Hurttig, Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel, Köln 2012.

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of other people, things, and images, and through them interface with social bodies, or the groups that individuals inhabit as an integral aspect of their identities. [. . . ] Vision is one medium whereby people engage in embodiment, the process of imagining oneself as an individual as well as belonging to a corporate body. Embodiment is not a condition, but a process, and it tributes powerfully to religious life by joining people in communities of feeling. Shared practices of hearing and tasting, collective memory conveyed in bodily practices such as kneeling, bowing, and enduring pain, and gazing upon images exercise the flesh and bone of the social bodies that structure religious life.138

In Morgans Bestimmung des Visuellen – und der sinnlichen Dimension überhaupt – als mediale Sphäre, über die Körperpraktiken ablaufen und »communities of feeling« hergestellt werden, kommen zahlreiche Überlegungen zusammen, die auch im Verlauf dieser Studie angestellt wurden. So werden hier Atmosphären, Sinneseindrücke und Emotionen nicht als etwas gedacht, was KirchenbesucherInnen individuell »widerfährt«, sondern vielmehr als etwas, was sie als Akteure tun, um die Gemeinsamkeit eines »social body« herzustellen – oder besser: Das Kollektiv stellt sich über das her, was sie aktiv tun, wenn sie den durch den Kirchenraum vorgegebenen Blickregimes oder akustischen Regimes als Körperregimes folgen. Vor dem Hintergrund dieser Bestimmung religiöser visueller Kultur definiert Morgan die Funktionen von Bildern im Kontext religiöser, aber auch nicht-religiöser Praktiken.139 Zu diesen Funktionen gehört, dass Bilder zur symbolischen Ordnung von Raum und Zeit beitragen: Sie markieren heilige Orte und Hierarchien innerhalb von Räumen,140 und sie markieren Erinnerungsorte als historische Ankerpunkte des historischen Gedächtnisses von Religionen, Konfessionen, Nationen und anderen imaginären Kollektiven.

138 Morgan, The Embodied Eye, S. XVII – XVIII. 139 Die Produktion von Autorität in der religiösen Bildpraxis ist ein weites und mittlerweile gut untersuchtes Feld. Zur Bildgeschichte im kultischen Kontext vgl. noch immer den Klassiker von Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. Mit einer ähnlichen Perspektivierung arbeitet Michael Viktor Schwarz, Visuelle Medien im christlichen Kult. Fallstudien aus dem 13. bis 16. Jahrhundert, Wien / Köln / Weimar 2002. Für eine Geschichte autoritativer Bildgesten in der Frühen Neuzeit vgl. den aufschlussreichen Sammelband Frank Büttner / Gabriele Wimböck (Hg.), Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, Münster 2004. 140 Das betont – vor allem für den Raum – auch Rudolf Schlögl: »Ein wesentlicher Aspekt der Leistungen des Bildes im Rahmen der vormodernen Kommunikation war die Strukturierung von Räumen. Bilder hatten Orte (die Kirche, das Rathaus u. a.); sie waren Teil einer konkreten Wahrnehmungsordnung, in der jedes Objekt seinen Platz und seine ihm eigene immanente Bedeutung besaß, die sich unter den Bedingungen von Anwesenheit in Akten des Aushandelns und Tauschens realisierte«. Schlögl, Anwesende und Abwesende, S. 52.

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Sie ermöglichen die Vorstellung einer über das Sichtbare hergestellten Kommunikation mit dem Unsichtbaren, in erster Linie mit dem Göttlichen oder Transzendenten, und sie bieten die symbolische Gemeinschaft mit diesem Unsichtbaren an. Dabei kollaborieren sie mit anderen Formen von Repräsentation und beeinflussen das konkrete Verhalten im Raum.141 Es ist vielleicht die entscheidende Pointe in Morgans Konzept visueller Kultur, dass ein Bild in seinem konkreten Gebrauch stets eine Artikulation des Sozialen darstellt und soziale Beziehungen mit strukturiert: »Seeing an image happens as the particular relation of several components: a viewer, other viewers, an image or object, a setting in which viewers and an image engage one another, and an archive of images or symbols referring to a person, force, deity, or spirit that is made accessible within or through the image«.142 Was Morgan »gaze« nennt – der Blick im Sinne einer die Ordnung der Dinge reproduzierenden und aktualisierenden visuellen Praxis –, verweist auf die konstitutive Macht der Bilder: »a gaze is a practice, conscious or unconscious, which structures social relations, self-concept, and experience of the sacred«.143

Das Sichtbare und das Sagbare: Im Kirchenraum mit Foucault Diese Überlegungen stehen im Kontext einer neueren Tendenz in den Kulturwissenschaften, visual cultures zu untersuchen – als ein Feld, in dem »Blickkulturen« im Sinne kodifizierter Sehgewohnheiten thematisiert werden: »Perspektiven, Blickrichtungen, Sichtweisen, Normierungen von Blicken und Tabuisierungen des Visualisierten«.144 Die »Visual Studies« setzen sich somit nicht nur einfach produktions- und rezeptionsorientiert mit Bildern, visuellen Eindrücken und den entsprechenden Wahrnehmungsweisen auseinander,145 sondern sie entwickeln derzeit auch das Programm einer Praxeologie des Sehens und der Visualisierungen. Entscheidend ist dabei, das Sehen als Wahrnehmungsweise nicht auf einen psychologisch, phänomenologisch oder neurophysiologisch rekonstruierbaren »inneren« Prizeß zu reduzieren, sondern es als Bestandteil kulturell und historisch spe-

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Vgl. Morgan, The Sacred Gaze, S. 55. Morgan, The Embodied Eye, S. 67. Morgan, The Embodied Eye, S. 68. Bärbel Beinhauer-Köhler / Daria Pezzoli-Olgiati / Joachim Valentin, Vorschau, in: Dies. (Hg.), Religiöse Blicke – Blicke auf das Religiöse. Visualität und Religion, Zürich 2010, S. 9 – 13, hier S. 11. 145 Vgl. Sophia Prinz / Andreas Reckwitz, Visual Studies, in: Stephan Moebius (Hg.), Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies, Bielefeld 2012, S. 176 – 195, insbes. S. 180.

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zifischer Praktiken zu analysieren. Diese Praktiken sind wiederum nicht isoliert zu betrachten, sondern eng mit entsprechenden Artefaktkonstellationen, Wissensund Affektstrukturen sowie Subjektivierungsformen verbunden. Zugleich ist das Sehen als Bestandteil von Praktiken auf eine wiederum kulturell besondere Weise mit den anderen Formen der Wahrnehmung verknüpft oder von ihnen separiert. Man kann das Sehen letztlich nur künstlich getrennt von den anderen Weisen sinnlichen Wahrnehmens rekonstruieren, das heißt vom Hören, vom Riechen und vom Schmecken, vom Berühren, vom Leiblichen und vom Bewegungssinn. Die Analyse des Sehens ist in diesem Sinne als Bestandteil eines umfassenden Feldes der Sense Studies zu verstehen.146

Ein derart in das gesamte Setting sinnlicher Wahrnehmung eingebettetes praxeologisches Verständnis des Sehens wirft ein neues Licht auch auf das visuelle Arrangement von Kirchenräumen. Religiöse »Visualitätsordnungen« 147 erlauben so eine Analyse von Praktiken des Blickens und Wahrnehmens, des koordinierten Sich-Bewegens und der Herstellung von (Sicht-)Beziehungen zu anderen im Raum. Wenn es richtig ist, »dass die kulturellen Wahrnehmungsschemata, derer sich das Subjekt im Praxisvollzug bedient, zu einem wesentlichen Teil auf der Verinnerlichung von ›visuellen Ordnungen‹ basieren«,148 dann hat das enorme Konsequenzen für die kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse: Raumanmutung, Lichtführung, Farben, Bilder, Dekorationen, die skulpturale Ausstattung des Kirchenraums sind dann nicht mehr nur der semiologisch bestimmbare »Ausdruck« oder die Repräsentation theologischer wie sozialer Wirklichkeitsmodelle, sondern sie stehen auch für einen »nicht-repräsentationellen« Zugang zur kulturellen Praxis.149 Sie sind aus dieser Perspektive nicht nur Zeichen, sondern Teil routinisierter und in Routinen reproduzierter visueller Ordnungen, die Praxis konstituieren. In ihrer neuen sozial- und kulturtheoretischen Studie zur »Praxis des Sehens« greift Sophia Prinz auf Michel Foucault und dessen historische Analysen des »Sichtbaren« und der Blickregimes zurück, um der »subjektivierenden Funktion« von visuellen Ordnungen nachzugehen und – im Sinne Foucaults – »das Spannungsverhältnis zwischen zwischen machttechnologischen, materiellen und diskursiven ›Fremdführungen‹ auf der einen und den ›relativ freien‹ Selbstführungen auf der anderen Seite« auszuloten.150 Nehmen wir die Denkfigur von »Fremdführung« und »Selbstführung«, die – hier vereinfacht formuliert – im Zentrum des Foucaultschen Subjektivierungs146 Prinz / Reckwitz, Visual Studies, S. 191 – 192. 147 Prinz / Reckwitz, Visual Studies, S. 194. 148 Sophia Prinz, Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld 2014, S. 8. 149 Kazig, Atmosphären. 150 Prinz, Die Praxis des Sehens, S. 38.

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konzepts steht, als Ausgangspunkt für einen Blick auf die visuelle Ordnung von Kirchenräumen, so fällt es nicht schwer, vom Visuellen zu den Praktiken zu kommen. Wenn wir mit Foucault davon ausgehen, dass Blickbeziehungen zur elementaren Funktionslogik einer als »produktiv« verstandenen, also soziale Verhältnisse und Relationen hervorbringenden Macht gehören, dann beschreibt das Visuelle keinen Bereich von »Wahrnehmung« im Gegensatz zum »Handeln«, sondern steht selber im Zentrum sozialer Praktiken. Sophia Prinz skizziert in ihrer Studie drei an Foucault anknüpfende Analysedimensionen, die geeignet sind, das Verständnis von »visueller Kultur« praxistheoretisch zu erweitern: Erstens sind die »visuellen Formationen« des Dispositivs zu untersuchen; sie lassen sich als »eine eigenlogische Ordnungsdimension denken, die genauso wie die Diskurse, Raumstrukturen und intersubjektiven Regierungstechnologien zu den historisch spezifischen Daseinsbedingungen des Subjekts gehören«. Die »formalen Häufungen, Verteilungen und Relationen der materiellen Kultur« tragen dazu bei, »dass das Subjekt historisch und kulturell spezifische ›Anschauungsformen‹ und Apperzeptionsweisen ausbildet, die es für bestimmte ›Ansichten‹, Gestalten und Ästhetiken sensibilisert, während es potentiell gleichermaßen wahrnehmbare Elemente aus dem Sichtfeld ausklammert«. Zweitens ist nach Prinz das »implizite Wahrnehmungswissen« zu berücksichtigen, das dazu führt, dass bildliche Repräsentationen, Dinggestalten und räumliche Konstellationen »auf den ersten Blick« erkannt werden und dass bestimmte Bilder und Gestalten das Subjekt entweder »affizieren, abstoßen oder unberührt lassen«. Drittens sind es die »situativen Wahrnehmungspraktiken«, die konkret regulieren, welche »visuelle Selbstführung« in Abhängigkeit von den »Fremdführungen« des Dispositivs gewählt wird: »So kann sich die sinnliche Gestalt eines Ausstellungsexponats verändern, je nachdem es aus dem Blickwinkel des sonntäglichen Touristen, des traditionsbewussten Kustoden oder der wachsamen Aufsichtsperson betrachtet wird«.151 Dieses Modell ist für die Analyse des visuellen Dispositivs und der visuellen Praktiken im Kirchenraum überaus hilfreich: Es hilft sowohl nachzuvollziehen, dass es in Kirchenräumen visuelle Arrangements gibt, die machtvolle und hierarchische Ordnungen des Blicks implizieren, als auch, dass es Spielräume gibt, diesen Ordnungen zu folgen oder sie zu durchkreuzen. Visuelle Dispositive lassen sich von hier aus als »mehr oder weniger durchlässige Handlungsräume verstehen, deren formale Ordnungen bestimmte Wahrnehmungsweisen und Affekte eher wahrscheinlich machen als andere. Wie die Subjekte auf diese visuellen, räumlichen und dinglichen Ordnungen reagieren, hängt dabei einerseits von ihrem impliziten Wahrnehmungswissen ab und andererseits von den ›Selbstführungen‹, die sie

151 Prinz, Die Praxis des Sehens, S. 339 – 341.

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in der gegebenen Situation praktizieren. Für sie besteht stets die Möglichkeit, ›anders zu sehen‹, als es das Dispositiv vorsieht«.152 Relevant ist im vorliegenden Zusammenhang insbesondere auch die von Foucault vorgenommene und von Gilles Deleuze theoretisch ausformulierte Verknüpfung des Sichtbaren und des Sagbaren, bei der es um »diskursive Beziehungen zwischen der diskursiven Aussage und dem Nichtdiskursiven« geht.153 »Die Orte der Sichtbarkeit haben bei Foucault nie demselben Rhythmus, nie dieselbe Geschichte oder dieselbe Form wie die Aussagenfelder,« 154 dennoch greifen Sichtbarkeiten und Aussagenfelder ineinander; die Orte der Sichtbarkeit sind als Elemente von Dispositiven zu lesen, die Foucault zufolge »aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen« bestehen.155 Zugespitzt formuliert: Wenn das Gefängnis die »Sichtbarkeit des Verbrechens« ist,156 dann ist der Kirchenraum die Sichtbarkeit katholischer Religiosität. Der Kirchenraum bringt in diesem Sinne religiöse Praktiken als religiöse Praktiken performativ zur Darstellung, indem klar ist, dass es hier um Religion geht und nicht um etwas anderes, und indem klar ist, dass es das religiöse Subjekt ist, das hier handelt. Umgekehrt bringt eben diese Darstellung das religiöse Subjekt erst mit hervor. Die diesbezüglichen Aussagen liegen, so ein epistemologisches Grundprinzip Foucaults, offen zutage: »Hinter dem Vorhang gibt es nichts zu sehen, aber darum ist es umso wichtiger, jeweils den Vorhang zu beschreiben oder den Sockel, da nichts dahinter oder darunter existiert«.157 Indem also minutiös die Sichtbarkeiten im Kirchenraum nachgezeichnet werden, kann deren Zusammenhang mit diskursiven Formationen untersucht werden: Blickregimes im Kirchenräumen verweisen in diesem Sinne auf den gesamten Komplex aus kirchlichen Institutionen, theologischen Lehrsätzen und sozialen Verhaltenslehren, mit dem sie verbunden sind. Dass der Körper bei alledem als die Schnittstelle von diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken verstanden werden muss, gehört zum common sense der Sozial- und Kulturtheorie im Anschluss an Foucault. Petra Gehring etwa begreift die körperlich und sinnlich wahrnehmbare Welt als diskursiv strukturierte Landschaft, in der gleichsam »gelesen« werden kann: 152 153 154 155

Prinz, Die Praxis des Sehens, S. 341. Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt am Main 1992, S. 71. Deleuze, Foucault, S. 72. So Foucault 1977 in einem Interview mit Vertretern des Teams Psychoanalyse der Universität Paris-VIII, zit. nach: Jürgen Link, Dispositiv, in: Clemens Kammler / Rolf Parr / Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014, S. 237 – 242, hier S. 239. 156 Deleuze, Foucault, S. 89. 157 Deleuze, Foucault, S. 78.

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Es gibt andere Monumente als geschriebene Zeichen im engeren Sinn, und sie lassen sich wahrscheinlich kaum ohne Bezug auf Aussagen, aber doch im Feld der Aussagen gruppieren. Foucault hat Gebäudepläne, Bilder, Fesselungstechniken, Vorkehrungen gegen Kälte und Wärme, Lichtverhältnisse, Registrierungstechnologien ebenso studiert wie die physische Wirkung eines Arrangements von Gemälden im Museum [. . . ]. Der Diskurs hat sozusagen semi-diskursive Ränder, wo Monumente den Sinn einer Art Aussage erst dann erhalten, wenn der Archäologe nicht nur liest, sondern gleichsam mit dem ganzen Körper liest, seine Sinne bemüht. Anders gesagt: Es gibt Spuren. Von der Ordnung der Aussagen her lassen sich durchaus präzise gleichsam auf bestimmte Weise auslassungsförmige, »sprechende« Muster ausmachen, die ganz allgemein Spuren nicht direkt von, aber doch für eine nichtdiskursive Praxis sein können – zumal, wenn man sie nicht körpervergessen und gleichsam mit den Sinnen liest. Aussagen implizieren »regulär« nichtdiskursive Praktiken – und auch das ergibt ein (wenn auch indirektes) Relief von Positivitäten. So hat es Foucault nicht formuliert, aber so kann man seine Arbeiten verstehen, die neben den Ordnungen des Wissens, die in der Analyse zu Tage treten, stets auch ein ganzes Relief von Formen körperlicher Wirklichkeiten erahnen lassen.158

In dieser Passage ist im Sinne der Foucaultschen Diskursanalyse beschrieben, wie sich das Ineinander von Diskursen und Praktiken verstehen lässt. Erst das Zusammenspiel des Diskurses mit seinen »semi-diskursiven Rändern« sorgt demnach für das »Relief von Positivitäten« und »körperlichen Wirklichkeiten«, über das der Diskurs seine volle Wirkungsmacht und seine subjektivierenden Effekte erzielt. Wenn etwa Andreas Reckwitz aus Sicht der soziologischen Praxistheorie Praktiken in ihrer »Doppelstruktur als materiale Körperbewegungen und implizite Sinnstruktur« 159 thematisiert, dann zielt er – in einer theoretisch etwas anders gelagerten Formulierung – auf den gleichen Zusammenhang von Aussagen und Materialitäten: Praktiken und Diskurse erscheinen hier als »zwei aneinander gekoppelte Aggregatzustände der materialen Existenz von Wissensordnungen«.160 Für eine kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse bedeutet das, den Kirchenraum als »materiale Existenz von Wissensordnungen« zu begreifen, in denen sich Praktiken und Diskurse verschränken. Die Anordnung und Semantik von Weihwasserbecken, Altären, heiligen Bildern, Sitzgelegenheiten, Erinnerungszeichen und anderen Ausstattungsgegenständen verweist in

158 Petra Gehring, Foucault – Die Philosophie im Archiv, Frankfurt am Main 2004, S. 79. 159 Andreas Reckwitz, Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation, in: Herbert Kalthoff / Stefan Hirschauer / Gesa Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt am Main 2008, S. 188 – 209, hier S 196. 160 Reckwitz, Praktiken und Diskurse, S. 201 – 202.

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diesem Sinne nicht nur auf hegemoniale theologische und politische Diskurse, sondern sie entfaltet als epistemische Ordnung ihre soziale Effektivität. Sie vollzieht die Inklusions- und Exklusionsmechanismen des Diskurses in materialer und körperlicher Konkretion und trägt zur Konstitution von Subjektpositionen bei, die der Ordnung des Diskurses entsprechen. Der Zusammenhang zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren ist ein wesentliches Element dieser epistemischen Ordnung, so dass auch die materialen Arrangements von Wissen und Macht der Diskursanalyse zugänglich werden und wie ein Text lesbar sind: »Foucaults Diskursarchäologie behandelt was gesagt und was gesehen werden kann, ja sie konzentriert sich gerade auf das Zusammenspiel von Sehen und Sprechen. Nicht nur Zeichen- und Wissensysteme, sondern auch mediale Wahrnehmungs- und Blickregime werden deshalb diskursanalytisch fassbar. Die politische Wirkkraft medialer Ästhetik verdeutlicht sich dergestalt als ein Spiel nicht nur von Reden und Schweigen, sondern auch von Erscheinen und Verschwinden«.161

Ästhetik, Atmosphäre und Psychiatrie: Die Anstaltskirche am Steinhof Die von Otto Wagner geplante und 1907 eröffnete Kirche St. Leopold der Niederösterreichischen Landesheil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke Am Steinhof ist bestens geeignet, um die eben behandelten Aspekte der visuellen Ordnungen, der Fremd- und Selbstführung sowie des Zusammenhangs zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren exemplarisch zu vertiefen. Gleichzeitig stellen sich hier Fragen nach den binären Konstruktionen von »Sakralität« und »Profanität« einerseits, von »Rationalität« und »Irrationalität« andererseits. Diese Motive wurden und werden – gerade auch in ihrer Widersprüchlichkeit – immer wieder verwendet, wenn es um die Beschreibung der spezifischen Atmosphäre von St. Leopold geht. Der Kunsthistoriker Hans Tietze etwa urteilte 1922, Wagners Steinhofkirche sei ein Bau, der »hygienisch und übersichtlich, praktisch und festlich, ist, aber dem im letzten Grunde gerade die andachtsvolle Stimmung religiöser Hingabe fehlt. Eine Festhalle für liturgische Funktionen, ein Zeremonialraum für eine rationalistische Religion, eine Art Kirche für unkirchlich Gesinnte«.162 Damit umreißt Tietze ein Spannungsfeld, das für die Raumanalyse dieses Kirchenbaus einen guten Ausgangspunkt bietet und grundsätzliche Überlegungen zur ästhetischen Verhandlung von »Sakralität« wie von »Geisteskrankheit« um 1900 in Gang setzt: Was bedeutet es,

161 Samuel Sieber, Macht und Medien. Zur Diskursanalyse des Politischen, Bielefeld 2014, S. 31. 162 Hans Tietze, Otto Wagner, Wien u. a. 1922, S. 11.

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wenn ein Kirchenbau im Zusammenhang einer psychiatrischen Heilanstalt als »praktisch« gilt? Welche Funktion erfüllt seine »Festlichkeit«? Was soll eine Kirche für angeblich »unkirchlich Gesinnte« leisten? Und wie ist die Atmosphäre und Emotionalität dieses Kirchenraums von hier aus zu bestimmen? Die Kirche St. Leopold ist als architektonische »Krone« der Psychiatrischen Anstalt auf der Baumgartner Höhe schon von weitem zu sehen. Insbesondere bei Sonnenschein glänzt die in den 2000er Jahren neu vergoldete Kuppel des »Jugendstil-Juwels« als »heller Goldblink« 163 in der zum Wienerwald hin auslaufenden Stadtsilhouette – ein »wunderbares architektonisches Gebilde [. . . ], das durch Vergoldung und Fensterkranz wie ein Ballon zu schweben begann«.164 Peter Haiko, Harald Leupold-Löwenthal und Mara Reissberger haben in einer Abhandlung in den »Kritischen Berichten« die räumliche Ordnung der zwischen 1904 und 1907 errichteten Heilanstalt Am Steinhof beleuchtet und die ästhetische Funktion der »Festtagsarchitektur« von Verwaltungsgebäude, Gesellschaftshaus und Kirche im Gegensatz zu den Krankenpavillons hervorgehoben. Für die AutorInnen ist diese räumliche Ordnung gekennzeichnet durch eine klare soziale Hierarchie: In der Differenzierung von Heil- und Pflegeanstalt sowie Sanatorium bzw. Pensionat bildet sich die Klassenstruktur der damaligen Gesellschaft ab; die einzelnen Pavillons sind durch ihre unterschiedliche bauliche Ausstattung sozial klassifiziert – rohe Backsteinbauten auf der einen, verputzte und dekorativ ausgestaltete Gebäude auf der anderen Seite. Im Gegensatz zur früheren Unterbringung von »Geisteskranken« in der Stadt und in integralen Gebäuden ermöglichte gerade das Pavillonsystem diese soziale Differenzierung. Innerhalb der Heil- und Pflegeanstalt wurde des weiteren unterschieden in Unterkünfte für die »Ruhigen« bzw. »Socialen«, die »Halbruhigen« bzw. »Halbsocialen« und die »Unruhigen« bzw. »Insocialen«, wobei sich die Kranken »in dem Verhältnisse dem Centrum« der Anlage annäherten, »als sie den Abtheilungen der Reconvalescenten und Ruhigen angehören«, wie es in einer älteren Publikation zur Theorie der »Irren- Heil- und Pflege- Anstalten« heißt.165 Auf diese Weise spiegeln sich in der Struktur der Heilanstalt die Prozeduren, die nach Foucault eingeführt wurden, um die Individuen anzuordnen, zu fixieren und räumlich zu verteilen und zu klassifizieren [. . . ], sie in einer lückenlosen Sichtbarkeit festzuhalten, rund um sie

163 So der Journalist Ludwig Hevesi, zit. nach Peter Haiko / Harald Leupold-Löwenthal / Mara Reissberger, »Die weisse Stadt« – der »Steinhof« in Wien. Architektur als Reflex der Einstellung zur Geisteskrankheit, in: Kritische Berichte 6/1981, S. 3 – 37, hier S. 14. 164 Achleitner, Wien und die Postmoderne, S. 581. 165 Zit. nach Haiko / Leupold-Löwenthal / Reissberger, »Die weisse Stadt«, S. 16.

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einen Beobachtungs- und Registrierungsapparat aufzubauen, ein sich akkumulierendes und zentralisierendes Wissen über sie zu konstituieren.166

Über die Institutionen der Disziplinargewalt und die »Machttechnik der parzellierenden Disziplin« schreibt Foucault: Das psychiatrische Asyl, die Strafanstalt, das Besserungshaus, das Erziehungsheim und zum Teil auch die Spitäler – alle diese der Kontrolle des Individuums dienenden Instanzen funktionieren gleichermaßen als Zweiteilung und Stigmatisierung (wahnsinnig – nichtwahnsinnig, gefährlich – harmlos, normal – anormal) sowie als zwanghafte Einstufung und disziplinierende Aufteilung. (Um wen handelt es sich? Wohin gehört er? Wodurch ist er zu charakterisieren, woran zu erkennen? Wie läßt er sich einer individuellen und stetigen Überwachung unterziehen?) 167

In diesem Sinne steht die Distanz der gesamten Anlage zur Stadt, akzentuiert durch eine umgebende Mauer, für die »Grenze zwischen Norm und Wahnsinn«, die hier gezogen wurde.168 Die Mauer gehört geradezu zu den Gesten, »mit denen eine Kultur das zurückweist, was für sie außerhalb liegt«.169 Die Kirche stellt ihrerseits innerhalb dieser Anlage einen Teil der repräsentativen Öffentlichkeit dar, über die man die Modernität, die großzügige Ausstattung und die hygienischen Richtlinien der »Irrenpflege« nach außen kommunizierte: Hierher kamen auch die Angehörigen der Kranken, zu Feiertagen und besonderen Anlässen.170 Das gesamte Areal am Steinhof bildet auf diese Weise ein System ineinander verschränkter Teilöffentlichkeiten, sozial hierarchisierter Räume und Grenzziehungen, die den Umgang mit sozialer Devianz kennzeichnen und konstituieren.171

166 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976, S. 295. 167 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 255 – 256. 168 Haiko / Leupold-Löwenthal / Reissberger, »Die weisse Stadt«, S. 16. Zur Geschichte des Diskurses über »Wahnsinn« und den damit einhergehenden Grenzziehungen zwischen Normalität und Anomalie vgl. noch immer Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1969. 169 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 9. 170 Haiko / Leupold-Löwenthal / Reissberger, »Die weisse Stadt«, S. 17. 171 Für eine psychiatriegeschichtlich akzentuierte Kritik an der funktionalistischen städtebaulichen Planung Wagners vgl. auch Leslie Topp, Otto Wagner and the Steinhof Psychiatric Hospital: Architecture as Misunderstanding, in: The Art Bulletin 87 (2005), No. 1, S. 130 – 156.

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Abb. 34: Anstaltskirche St. Leopold am Steinhof, Innenansicht mit Kirchenmodell.

Nach Otto Wagners eigenen Erläuterungen zur Kirche St. Leopold ist »die Hauptdisposition des Bauwerkes völlig aus dem Zwecke hervorgegangen«.172 In seinen aufschlussreichen Erläuterungen zum Bauvorhaben schreibt Wagner: Der Zweck dieser Kirche wird dadurch besonders erweitert, weil dieselbe hauptsächlich Kranke der Heilanstalt (zirka 700) aufnehmen soll. Nur um Ruhige handelt es sich und sollen die Männlichen und die Weiblichen getrennt eintreten und getrennt sitzen. Es waren deshalb zwei Tore anzuordnen und die Sitzreihen möglichst kurz anzunehmen, damit die unter den Kranken verteilten Pfleger erforderlichenfalls leicht eingreifen können. Das dritte mittlere Tor bleibt für gewöhnlich geschlossen und tritt nur bei kirchlichen Anläßen oder Repräsentationen in Funktion. Chor und Empore sind getrennt und soll letztere für die Beamten und Bediensteten der Anstalt und ihre Angehörigen dienen. Die Kirche, nach katholischem Ritus, ist keine Pfarrkirche und hat daher nicht den Zweck, für Taufen, Trauungen, Leichensegnungen etc. zu dienen. Die erforderliche Tiefe der Fundierung und die ästhetisch und hygienisch bedingte Höhenlage des Kirchenfußbodens haben zur Annahme von Kirchenunterräumen geführt, in welchen wir 172 Zit. nach Otto Antonia Graf, Otto Wagner. Band 1: Das Werk des Architekten 1860 – 1902, Wien / Köln / Graz 1985, S. 402.

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die vom Standpunkte der Anstalt verlangten Ubikationen, wie Rettungszimmer, Klosetts etc. untergebracht sind.173

Auch die »Opulenz der Belichtung« sei aus den »Anforderungen der Hygiene« hervorgegangen,174 was im Kontext der Zeit im Sinne eines umfassenden Konzeptes von »Hygiene« als sozialer Planung zu verstehen ist. Diese Planung reicht bis in die Details hinein: So »sind alle Staubwinkel, namentlich das übliche Podium unter den Kirchenstühlen, in der Kirche durch stark einströmendes Licht, Steinboden Spucknäpfe etc. vermieden und die Bakterienfreiheit der Luft etc. gefördert«; 175 berühmt geworden sind die einzigartigen Weihwasserspender, die so geformt sind, »daß der das Weihwasser Benützende nicht in ein Becken greift, sondern eine Hand unter einen dünnen, während des Kirchenbesuchs laufenden Wasserstrahl hält, wodurch Infektionen vermieden werden«.176 Die von Wagner beschriebene Binnenstruktur der Kirche gibt Aufschluss über die spezifische Idee des Sozialen, die in der Architektur dieser Anstaltskirche umgesetzt wurde: Zunächst bleiben die Kranken im Kirchenraum vom Anstaltspersonal sowie von BesucherInnen getrennt, denen die Empore vorbehalten bleibt; auf diese Weise wird die Grenzziehung zwischen »Norm und Wahnsinn« nicht nur durch die Mauer zwischen »Steinhof«-Gelände und der umgebenden Stadt, sondern auch im Inneren der Kirche stabil gehalten. Räumliche Distanzierungsgesten bestimmen auch die Beziehung zwischen Priester und GottesdienstbesucherInnen. So sind die Räume für die Geistlichen so organisiert, dass diese etwa auf der Kanzel erscheinen können, ohne den Kirchenraum durchqueren zu müssen: Links vom Presbyterium liegt die Sakristei, von welcher der Priester die Kanzel betritt, ohne den Kirchenraum zu berühren, rechts davon ist ein gleicher Raum für Paramente (auch als Beichtzimmer zu benützen) angeordnet. Eine kleine Vorhalle verbindet dieselben und ermöglicht den beiderseitigen Zutritt, ohne den Kirchenraum zu betreten. Beide Räume haben Gaskamine.177

Strikt getrennt wurde auch zwischen den Geschlechtern, für die zwei separate Eingänge geschaffen wurden: Nicht nur das Pavillonsystem und die medizinischen Einrichtungen, sondern auch der Kirchenraum folgte diesem Prinzip, was Vorstellungen von einer »anormalen« Sozialität und einer besonders leichten »Erregbarkeit« der »Geisteskranken« dokumentiert. Es ist bezeichnend, dass die alte, theologisch begründete Teilung des Kirchenraums in eine »Frauenseite«

173 174 175 176 177

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Zit. nach Graf, Otto Wagner, Band 1, S. 400 – 401. Vgl. Graf, Otto Wagner, Band 1, S. 401. Zit. nach Graf, Otto Wagner, Band 1, S. 407. Zit. nach Graf, Otto Wagner, Band 1, S. 407. Zit. nach Graf, Otto Wagner, Band 1, S. 401.

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(Evangelienseite) und eine »Männerseite« (Epistelseite) hier in Form einer verbindlichen Ordnung mit medizinisch-hygienischer Begründung wiederkehrt, wodurch traditionelle Geschlechterordnungen des Katholizismus und wissenschaftliche Argumentationen zur Geschlechtertrennung ineinandergreifen. Otto Wagner hat in seinen Plänen zu dieser Kirche ein ästhetisches Gesamtkonzept verfolgt, das die Raumwirkung des Kuppelraums und des Presbyteriums durchaus über »gestures of dramatic monumentality« 178 in den Mittelpunkt stellt und sich dabei auf Techniken der visuellen Führung stützt: Das Tor und die Vorhallen dämpfen durch ihre Höhe und Lichtwirkung ansichtlich den sinnlichen Eindruck auf den Kirchenbesucher, um ihn nach Durchschreiten dieser Schauvorbereitung den vollen Eindruck der Raumwirkung zu bieten, welche Wirkung [. . . ] sich in Bälde auf den Hochaltar konzentrieren wird. Je schneller das menschliche Auge zu diesem Punkte hingelenkt wird, je größer also die befehlende künstlerische Impression ist, je richtiger erscheint die künstlerische Lösung. Verstärkt wird in diesem Falle die Wirkung sicher noch dadurch, daß die Farbe im Kirchenraume recht spärlich verwendet ist und erst im Presbyterium zum ästhetischen Erfolge benützt ist, und zwar gerade dort, wo sie sich mit dem Scheine der Kerzen, der Farbwirkung von Teppichen, Blumen, Paramenten und der Wirkung des elektrischen Lichtes vereint.179

Dabei wurde – wie Wagner dann 1907 in seinen »Erläuterungen zur Bauvollendung« anmerkt – explizit von den Bedürfnissen der Psychiatriepatienten ausgegangen: »Hinter dem Hochaltar befindet sich keine Lichtöffnung, weil die Kranken hiedurch unangenehm beeinflußt würden«.180 Für den schnellen ärztlichen Zugriff auf die »kirchenbesuchenden Pfleglinge« 181 ist schließlich die Möblierung der Kirche adaptiert: Die Kirchenbänke sind durchwegs kurz, nur für drei bis fünf Personen berechnet, um ein leichtes Eingreifen der Pfleger zu ermöglichen; sie haben keine Kanten, sind stark am Fußboden befestigt und zur Verhütung einer Beschädigung bei der vorgeschriebenen täglichen feuchten Reinigung am Sockel mit Kupferplatten beschlagen.182 Überhaupt ist die »Abrundung aller Ecken und Kanten« 183 im Kirchenraum nicht nur mit Hinblick auf die Akustik, sondern auch für den Fall des »plötzlichen Auftretens von Erregungszuständen« 184 geschehen, von dem Wagner bei der Planung stets ausging. In einzelnen Einrichtungsgegenständen der Kirche lässt sich sogar die techni-

178 179 180 181 182 183 184

Topp, Otto Wagner and the Steinhof Psychiatric Hospital, S. 147. Zit. nach Graf, Otto Wagner, Band 1, S. 404 – 405. Zit. nach Graf, Otto Wagner, Band 1, S. 407. Zit. nach Graf, Otto Wagner, Band 1, S. 406. Zit. nach Graf, Otto Wagner, Band 1, S. 407. Zit. nach Graf, Otto Wagner, Band 1, S. 407. Zit. nach Graf, Otto Wagner, Band 1, S. 406.

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zistische Vision einer totalen Kontrolle des Patienten ablesen. So sind in der Steinhofkirche die Beichtstühle – ganz gegen das katholische Modell einer vertraulichen Zwiesprache zwischen »Beichtvater« und Beichtiger – offen und für das Pflegepersonal einsehbar gehalten. Der Diskurs des »Wahnsinns«, so eine mögliche Interpretation, war auf diese Weise zurückgebunden an die Kontrollmechanismen der psychiatrischen Institution; die Transparenz der räumlichen Situation – mit den Beamten der Anstalt auf den Emporen, den Geistlichen im eigenen Raumsegment, den den Zugriff erleichternden Bänken und den offenen Beichtstühlen – steht für die Transparenz des professionalisierten Krankheitsmanagements. In diesem Sinne kommentiert Giselheid Wagner zu den stadtplanerischen Visionen Wagners und insbesondere zur Psychiatrischen Anstalt am Steinhof, diese seien »Utopien einer rein funktionalistisch gesteuerten Entwicklung«, deren Kern darin bestand, rational mit den Folgen der modernen Stadtentwicklung umzugehen.185 Diese Rationalität setzte die räumliche Exklusion des »Wahnsinns« im Sinne Foucaults geradezu voraus: »Der Wahnsinn wird aus der Stadt an den Stadtrand gedrängt, die Kirche mit allen erdenklichen hygienischen Vorsichtsmaßnahmen ausgestattet, die eine reibungslose Reinigung und Beseitigung von Zeichen der Krankheit und des Wahns ermöglichen«.186 Der Zusammenhang zeigt: Hier und nirgendwo anders konnte Otto Wagner seine Idee einer durchgestalteten rationalistischen und funktionalistischen Architektur und Stadtplanung in den Kirchenbau übetragen. Denn die spezifischen Erfordernisse einer psychiatrischen Anstaltskirche schienen den Funktionalismus nahezulegen und überzeugten letztlich auch kirchliche Kritiker des Neubaus. Gleichzeitig werden aber hinter dem Funktionalismus dieser Architektur und ihres räumlichen Settings zeitspezifische Diskurse über den Umgang mit »Nervenkranken« sichtbar: Die gesamte Psychiatrische Anstalt und ebenso die Kirche lassen sich als Ordnungsfiguren deuten, die der »Verwirrung« der Patienten ostentativ entgegengesetzt wurden: The simple, ordered daily regimen – intended to replace the mental disorder experienced by the patients and the chaos and violence of past psychiatric regimes – was represented in the plan by Wagner in spatial terms. The graphic clarity of the plan symbolized the ease of supervision.187

Eine Frage, die in der Entstehungszeit der Kirche immer wieder diskutiert wurde, ist die Frage nach ihrem Charakter als sakraler oder religiöser Raum. In seinen einschlägigen Texten und Erläuterungen zu dieser Kirche geht Wagner »mit keinem Wort auf das Bauwerk als Kirche im Sinne einer sakralen 185 Giselheid Wagner, Harmoniezwang und Verstörung. Voyeurismus, Weiblichkeit und Stadt bei Ferdinand von Saar, Tübingen 2005, S. 161. 186 Wagner, Harmoniezwang und Verstörung, S. 160 – 161. 187 Topp, Otto Wagner and the Steinhof Psychiatric Hospital, S. 150.

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Abb. 35: Anstaltskirche St. Leopold am Steinhof, Beichtstuhl.

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Stätte« ein.188 Hier liegt demnach eine Planung vor, die den Kirchenbau weniger von seinen religiösen und theologischen, sondern vielmehr von dezidiert modernen ästhetischen und baukünstlerischen Voraussetzungen her konzipiert. In den heftigen Diskussionen des niederösterreichischen Landtags im November 1903 ist denn auch behauptet worden: »Dieses Haus macht nicht den Eindruck eines christlichen Gotteshauses, denn als ich es das erstemal sah, sagte ich: Soll das vielleicht ein interkonfessionelles Bethaus sein? Dieses Haus sieht zwar großartig aus, es macht aber den Eindruck eines Grabdenkmales eines indischen Maharadschah«.189 Andererseits meinte der Wiener Erzbischof Kardinal Friedrich Gustav Piffl zur Einweihung der Kirche 1913: »Ich kann nur das eine sagen, daß ich, als ich die Kirche betrat, förmlich gepackt wurde von der Monumentalität des Baues; es überwältigt mich das Gefühl: das ist wirklich ein heiliger Ort«.190 In der Beurteilung dieses Kirchenraums als »heilig«, als »christlich« oder als »kalt« und »funktional« im Sinne einer »rationalistischen Religion« schlagen sich also sehr unterschiedliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster nieder – traditionalistische Erwartungen an einen »heiligen Raum«, Einstellungen zur ästhetischen Moderne im Sinne Otto Wagners sowie ganz individuelle Einstellungen zu Religion und Glauben überhaupt. Es gibt von hier aus keine »sakrale Atmosphäre«, die der Raum von sich aus vermitteln würde; vielmehr liefert der Raum verschiedene Angebote, die als »sakral« oder »profan«, als »transzendent« oder »rational« gelesen werden können.191 Eben

188 Scheidl, Schöner Schein und Experiment, S. 234. 189 So die Stenographischen Protokolle des Niederösterreichischen Landtages, 34. Sitzung der I. Session am 12. November 1903, zit. nach Harald Leupold-Löwenthal, Ein unmöglicher Beruf. Über die schöne Kunst, ein Analytiker zu sein. Zusammengestellt, bearbeitet und mit einem Vorwort versehen von Inge Scholz-Strasser, Wien / Köln / Weimar 1997, S. 185 (Anm. 67). 190 Zit. nach Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 304. 191 Es ist damit nicht zuletzt eine Frage der eigenen Dispositionen und – mit Monique Scheer gesprochen – der emotionalen Praktiken, inwieweit man bereit ist, hier eine »sakrale Atmosphäre« anzunehmen. Das zeigen nicht nur die zeitgenössischen Stellungnahmen, sondern auch aktuelle Erfahrungen beim Besuch der Kirche. Als ich im Wintersemester 2014/15 im Rahmen eines Seminars zur »Kulturanthropologie der Architektur« die Kirche besuchte, formulierte eine Studentin ihren Raumeindruck, die Kirche wirke »wie ein Schwimmbad«. Einzelne Studierende fanden den Raum hell und freundlich, andere eher kalt und nüchtern. Vgl. Forschungsnotizen vom 21. Januar 2015. Das weite Spektrum zwischen »Schwimmbad« und »heiligem Raum« verweist auf die Kontextgebundenheit von Atmosphäre: Raumwahrnehmungen hängen in diesem Sinne sehr grundsätzlich mit zeitspezifischen Diskursen und persönlichen Verknüpfungsleistungen zusammen und lassen sich nur aus einem komplexen Ineinander von Erfahrungen, implizitem Wissen und sozialen Situationen heraus verstehen. Übrigens ist der Vergleich mit einem Schwimmbad von den architektonischen Formen her gesehen übrigens keinewegs unsinnig. So werden die

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deshalb wurde die Frage nach der Sakralität dieser Kirche zu einem außerordentlich umkämpften Thema – bekannt ist vor allem die Auseinandersetzung zwischen den Künstlern Otto Wagner und Kolo Moser einerseits und dem von seiten der Kirche als Begutachter des neuen Kirchenbaus eingesetzten Theologen Heinrich Swoboda, der hier schon als Autor der »Großstadtseelsorge« von 1909 erwähnt wurde. Swoboda lehnte Mosers Entwürfe für die Glasfenster entschieden ab, verurteilte »entschieden« die »krallenartig gestellten Hände« seiner Gottvater-Darstellung und die »völlig unverständliche und unnatürliche Art der Flügel« sowie den »malayischen Gesichtstypus« der Engel.192 Artikuliert sich in dieser Diskussion der klassische Konflikt zwischen traditionsgebundener kirchlicher und moderner Kunst, so stehen hinter diesen Gestaltungsfragen immer auch die sehr unterschiedlichen Perspektiven, die Vertreter der Kirche einerseits und Vertreter des Landes bzw. der Gemeinde andererseits einnahmen. Während Swoboda im Sinne der amtskirchlichen Liturgieauffassung argumentierte, steht die Modernität auch der künstlerischen Ausgestaltung der Kirche aus Sicht Wagners, Mosers und ihrer Auftraggeber für eine gesellschaftliche Strategie des Umgangs mit »Geisteskrankheit«. Von der »beruhigenden« Lichtführung und den abgerundeten Formen über die medizinisch funktionale Ausstattung inklusive der Weihwasserspender bis hin zu den transparenten Beichtstühlen und den modernen Darstellungen der Glasfenster finden wir hier eine gebaute Vision rationaler Bewältigung des Irrationalen. Als Kirchenbau macht dies St. Leopold zu einem Kuriosum, wenn man bedenkt, dass der Katholizismus umgekehrt eher die Strategie einer irrationalen Bewältigung des Rationalen verfolgt. Als Beispiel, in dem sich Gesundheitspolitik und sakralisierende Ästhetik zu einem Dispositiv verschränken, ist Wagners Kirchenbau aber außerordentlich aussagekräftig für eine politische Kulturgeschichte des Katholizismus in Wien und darüber hinaus.

»Smellscapes« und »Soundscapes« im Kirchenraum Den Kirchenraum als sinnlichen Raum dominieren nicht nur visuelle Eindrücke von der Lichtführung bis zur bildlichen Ausstattung. Beim Betreten einer Kirche ist es zumeist das plötzliche Eintauchen in eine spezifische Geruchs- und Klanglandschaft, das den ersten und nachhaltigen Eindruck ausmacht. Bei der Beschreibung spezifischer Kirchengerüche kehren vor allem zwei Eindrücke

von Otto Wagner für die seitliche Belichtung der Kirche eingesetzten Rundbogenfenster in der Architekturterminologie als »Thermenfenster« (oder »diokletianische Fenster«) bezeichnet. 192 Vgl. Elisabeth Koller-Glück, Otto Wagners Kirche am Steinhof, 2. Auflage Wien 1988, S. 36 – 38.

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immer wieder: der Geruch von Weihrauch sowie die »muffige« Atmospäre eingesperrter Raumluft und alter Textilien. Paul Pruyser gibt dazu folgende Charakterisierung: Für den durchschnittlichen Gläubigen bedeuten »religiöse« Gerüche Duft von Weihrauch in seiner Kirche oder auch von Kerzen, parfümiert oder unparfümiert, im Gotteshaus oder auf dem Hausaltar. Für andere mag es der Geruch alter Schriftrollen oder heiliger Bücher sein. Einige mögen dabei sogar an die besondere Muffigkeit jener Kirche denken, in der sie Jahre hindurch am Gottesdienst teilnahmen; denn die meisten Kirchen haben tatsächlich einen etwas eigenartigen Geruch, ganz anders als große Gebäude sonst, in denen viele Menschen zusammenkommen. Theaterfoyers riechen auffallend nach kaltem Tabakrauch, während diese Duftnote in Kirchen völlig fehlt. Dafür ist dort selbst an Tagen ohne Gottesdienst ein feiner Geruch von Blumen wahrzunehmen, von staubigen Vorhängen oder Gobelins, von Weihrauch und verbranntem Wachs, von altem Holz, Mörtel und Kalk und von Menschen, alten und jungen. Auffallend ist vor allem das Fehlen von frischer Luft.193

Weihrauch wurde bereits in den antiken Religionen verwendet, um sakrale Räume olfaktorisch zu markieren.194 Schon beim Erreichen der Kirchenschwelle signalisiert der mit Weihrauch imprägnierte Raum, dass der Kirchenbesucher »die Grenze zwischen dem Profanen und dem Heiligen überschreitet«.195 In der katholischen Kirche – so erfahren wir aus dem populärwissenschaftlichen Buch »Katholizismus für Dummies« – »symbolisiert [der Weihrauch] die in den Himmel aufsteigenden Gebete der Gläubigen, und der süße Duft erinnert sie an die Süße der Gnade Gottes«.196 Abseits solcher symbolischen Deutungen fungiert der Weihrauch als schwer definierbares Moment »aisthetischer Ritualität«, die – etwa an Weihnachten – eine wiedererkennbare und in diesem Sinne »unverwechselbare« Geruchswelt konstituieren.197 Die darüber hinaus immer wieder hervorgehobene »Muffigkeit« von Kirchenräumen lässt sich dagegen als überaus diffuse Geruchslandschaft verstehen, in der sich ein – fallweise über Jahrhunderte hinweg – »gewachsenes« Ineinan193 Pruyser, Wurzeln des Glaubens, S. 62 – 63. 194 Vgl. dazu den Ausstellungskatalog K.D. Christof / Renate Haass, Weihrauch. Der Duft des Himmels, Dettelbach 2006. 195 Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 108. 196 John Trigilio / Kenneth Brighenti, Katholizismus für Dummies, 2. Auflage Weinheim 2013, S. 126. 197 Vgl. dazu die Untersuchung zur Ästhetik der bürgerlichen Familienweihnacht von Jörg Zirfas unter Mitwirkung von Noriko Iwai, Beschenken und Besinnen. Der Heilige Abend in einer katholischen Familie, in: Christoph Wulf u. a., Das Glück der Familie. Ethnographische Studien in Deutschland und Japan, Wiesbaden 2011, S. 109 – 147, insbes. S. 129 – 130.

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der von Menschen, religiösen Räumen und Artefakten niederschlägt und die eben deshalb geeignet erscheint, um Vorstellungen von autorisierter Tradition und Historizität zu stützen.198 Hier gilt es den »resonances between scent and meaning« nachzugehen, die Teil einer »impliziten Theologie« sind, wie sie Martyn Percy umrissen hat: »The smell of a country church (flowers, polish, of old prayer books and a slightly musty hint) is a reassuring scent – one that is so deep – that it conveys a sense that informs our theology and shapes our ecclesial horizons«.199 Gerüche sind nicht nur in besonderer Weise mit Räumen verbunden und an Räume gebunden, sie haben auch eine besondere Erinnerungsfunktion; »Geruch ist besonders erinnerungsbeständig«.200 Damit tragen Gerüche wesentlich zur Wiedererkennbarkeit von Situationen und räumlichen Settings bei und sorgen mit für den sozial stabilisierenden Effekt von Architektur. Eine ähnliche, auch unbewusst wirkende Anmutungsqualität von Räumen ist durch die akustische Dimension gegeben. Untersuchen wir nun also weiter den Kirchenraum als soundscape oder »Klanglandschaft«,201 so können wir idealtypisch vier dominante Formen akustischen Geschehens unterscheiden, die in Theologie, Liturgie und Praxis ihren mehr oder weniger klar definierten Platz haben: 1. das Glockengeläut, 2. das gesprochene Wort, 3. das gesungene Wort und die Kirchenmusik sowie 4. die Stille. In seiner Untersuchung zur performativen Ästhetik des Gottesdienstes hat der Theologe David Plüss hervorgehoben, dass das Hören die Akteure weitaus stärker in den Raum einbindet als das Sehen: »Klänge integrieren mich in die Welt wie kaum ein anderes Medium. [. . . ] Ein Klang umgibt und durchdringt mich, ohne dass ich mich zu ihm in ein Ver-

198 Glaubt man der Philosophin Solveig Bøe, gibt es sogar ein Parfüm mit diesem Geruchsspektrum: »Comme des Garcon’s Avignon, which smells like a Catholic church: wearing it is like sitting in a Catholic church during mass«. Solveig Bøe, Nature per Fumum: Perfumes, Environments and Materiality, in: Dies./Hege Charlotte Faber / Brit Strandhagen (Hg.), Raw. Architectural Engagements with Nature, Farnham 2014, S. 127 – 137, hier S. 133. 199 Martyn Percy, Shaping the Church. The Promise of Implicit Theology, Farnham 2010, S. 6. 200 Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 126. 201 Die sound studies erfahren seit einigen Jahren eine Hochkonjunktur; auch in der historischen Forschung ist eine soundgeschichtliche Perspektive mittlerweile etabliert. Vgl. als anregende Handbücher und Sammelbände zum Thema Trevor Pinch / Karin Bijsterveld (Hg.), The Oxford Handbook of Sound Studies, Oxford / New York 2011; Daniel Morat (Hg.), Sounds of modern history. Auditory cultures in 19th- and 20th century Europe, Oxford / New York 2014; Gerhard Paul / Ralph Schock (Hg.), Sound der Zeit. Geräusche, Töne, Stimmen – 1889 bis heute, Göttingen 2014; Michael Bull / Les Back (Hg.), The Auditory Culture Reader. 2nd Edition, London / New York 2016.

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hältnis setzen könnte«.202 Mit Peter Sloterdijk fragt er: »Wo sind wir, wenn wir Musik hören?« – und er gibt ebenfalls mit Sloterdijk die Antwort: »Das Ohr kennt kein Gegenüber, es entwickelt keine frontale ›Sicht‹ auf fernstehende Objekte, denn es hat ›Welt‹ oder ›Gegenstände‹ nur in dem Mass, wie es inmitten des akustischen Geschehens ist – man könnte auch sagen: sofern es im auditiven Raum schwebt oder taucht«.203 In seinem Kapitel zu »liturgischen Klangräumen« formuliert Plüss eine exemplarische »liturgische Klangskizze« eines protestantischen Gottesdienstes, die insbesondere den zeitlichen Ablauf akustischer Inszenierungen verdeutlicht: Die akustischen Phänomene und Räume eines Gottesdienstes sind vielfältig. Es gehört die Ruhe im Haus und auf der Strasse am Sonntagmorgen dazu, das Glockengeläut beim Kirchgang, das mich erst ruft, dann mit Kraft empfängt und schliesslich ohrenbetäubend übermächtigt, so dass ich froh bin, in den Klangschatten des Kirchenraums entkommen zu können. Hier ist das Geläut nur noch schwach zu hören neben dem dumpfen Poltern, das von der Mechanik des Glockenstuhls herrührt. Die Glocken verklingen und nach kurzer Stille, in der leises Schwatzen und Rascheln zu hören ist, wird vernehmbar das Gebläse der Orgel eingeschaltet und das Eingangsspiel hebt an, kräftig und belebend. Nach dem Orgelspiel räuspern sich Gottesdienstbesucher, der Talar raschelt, wenn sich die Pfarrerin von der Sitzbank in der ersten Reihe erhebt; ihre Schritte rhythmisieren mit einem Stakkato den Zwischenraum von Eingangsspiel und Begrüssung, zu der sie, nach kurzem Papierrascheln, das dem Ordnen der Blätter auf dem Abendmahlstisch entstammt, anhebt. Ihre Stimme wird während des ganzen Gottesdienstes immer wieder ertönen. Daneben werden Lieder gesungen und Gebete gesprochen. Ein Psalm wird im Wechsel gelesen. Im Fürbitteteil ein kurzer Moment der Stille, viel zu kurz, um zum eigenen Beten zu kommen. Ein festlich-fulminantes Ausgangsspiel krönt und beschliesst den gottesdienstlichen Klangraum. Wie ich aus der Kirche auf die Strasse trete, werde ich vom vertrauten Rauschen und Dröhnen des inzwischen aufgekommenen Sonntagsverkehrs empfangen.204

Dieses Klangprotokoll entwickelt die oben genannten vier Formen akustischen Geschehens – das Glockengeläut, das gesprochene Wort, das gesungene Wort und die Kirchenmusik sowie die Stille – in exemplarischen Szenerien. In den folgenden Abschnitten werden diese vier Kategorien akustischer Phänomene im Hinblick auf eine praxeologische Untersuchung des Kirchenraums in den Blick genommen. Welche Bedeutungen transportieren die Elemente der »Klanglandschaft« Kirche, wie es Mark M. Smith mit seiner griffigen Bemer-

202 Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung, S. 208. 203 Zit. nach Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung, S. 208. 204 Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung, S. 207 – 208.

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kung nahelegt: »Sounds carry meaning«? 205 Inwiefern sind mit ihnen räumliche Markierungen, Hierarchisierungen und emotionale Praktiken verbunden? Wie lassen sich soundscapes praxistheoretisch fassen? Und wie lässt sich ihre Rolle in Prozessen konfessioneller und politischer Kulturgeschichte beschreiben? 206 Das sicherlich wichtigste akustische Signal für »Sakralität« ist das Glockengeläut, das zugleich die soundscapes von öffentlichem Raum und Kirchenraum miteinander verklammert. Alain Corbin hat in seiner Untersuchung über die »Sprache der Glocken« darauf hingewiesen, wie präsent die »emotionale Gewalt der Glocken« vor Beginn der Moderne gewesen sein müsse.207 Vor dem Zeitalter elektronisch verstärkter Klänge war das Glockengeläut mit Sicherheit eines der mächtigsten akustischen Erlebnisse, die möglich waren; »gemeinsam mit der Orgel war die Glocke bis zum Beginn der Industrialisierung der unangefochten lauteste Tonerzeuger«.208 Zugleich hatte das Glockengeläut klar definierte öffentliche Funktionen zu erfüllen: Glocken markierten dörfliche und städtische Räume als Klangräume, sie dienten als akustische Orientierungsund Alarmzeichen, signalisierten die gemessene Zeit und überbrachten Klangbotschaften vom Freuden- bis zum Trauergeläut. Einige der Topoi, welche die moderne Wahrnehmung des Glockengeläuts geprägt haben, entstammen aber dem ideologischen Repertoire der Romantik: Im Rückgriff auf Argumentationen aus Texten wie Schillers »Lied von der Glocke« wurde das »machtvolle Läuten der Glocke als Sieg über das Chaos, als Symbol der wiedergefundenen Zusammengehörigkeit der Gemeinschaft« gelesen; »es ist das Instrument der Sammlung, das Zeichen einer Gesellschaftsordnung, die auf der Harmonie der kollektiven Rhythmen beruht«.209 Zugleich ist die Glocke für viele französische Autoren des 19. Jahrhunderts ein Zeichen für »Heimat«: »Die romantische Glocke, die man in der Ferne vernimmt, ist zunächst einmal die des Heimatdorfes [. . . ]. Er schafft einen poetischen Raum und bestärkt die Harmonie, in der sich die ganze Lamartinesche ›méditation‹ entfaltet, welche geistige Übung, wehmütiges Gebet und inwendigen Gesang in sich schließt«.210 Mit diesen Assoziationen stehen tradierte Motive bereit, mit denen sich das Glockengeläut als Zeichen »feierlicher Stimmung« nutzen lässt. An den hohen Feiertagen sowie zu besonderen Anlässen erklingt vom Turm des Wiener Stephansdoms die »Pummerin« – die größte Glocke des Doms, die in Ernst Haussermans Film 205 Mark M. Smith, Listening to Nineteenth-Century America, Chapel Hill 2001, S. 266. 206 Vgl. dazu die instruktive Fallstudie Alexander J. Fishers über das gegenreformatorische Bayern: Alexander J. Fisher, Music, Piety, and Propaganda. The Soundscapes of Counter-Reformation Bavaria, Oxford / New York 2014. 207 Corbin, Die Sprache der Glocken, S. 22. 208 Payer, Der Klang von Wien, S. 110. 209 Corbin, Die Sprache der Glocken, S. 390. 210 Corbin, Die Sprache der Glocken, S. 391.

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»Die Stimme Österreichs« als Symbol für die »gute alte Zeit« in Szene gesetzt wird.211 Die alte »Pummerin«, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, hatte unter anderem am 14. März 1938 geläutet, um Adolf Hitler als neues Staatsoberhaupt in Österreich zu begrüßen.212 Der Neuguss dieser Glocke, in den man Bruchstücke der alten »Pummerin« einschmolz, wurde in einem »Triumphzug« nach Wien gebracht und am 26. April 1952 zur offiziellen Domeröffnung geweiht.213 Abgesehen von diesem Einsatz von Glocken als akustischem »Gemeinschaftskitt« und als öffentlich hörbarem Signal sakralisierter Politik trägt das Glockengeläut ganz wesentlich zur akustischen Abgrenzung der Gottesdienstzeit und zur Formierung einer »sakralen Atmosphäre« bei der Annäherung an die Kirche und im Kircheninneren selbst bei. Das Ausläuten der Glocken bei Gottesdienstbeginn bereitet die folgende kurze Stille vor und stellt ein Angebot dar, sich emotional auf die Messe »einzustimmen«. Des weiteren ist die Kirche ganz wesentlich ein Raum des gesprochenen Wortes. Horst Wenzel hat den mittelalterlichen Kirchenraum in seiner Funktion als Resonanzraum für Sprache beleuchtet und festgehalten: »Das Wort im Kirchenraum wirkt anders als die Rede auf dem Marktplatz, und bereits die Zuordnung von Raum und Bausubstanz ist konstitutiv für die körperliche Erfahrung des Wortes«.214 Da steinerne Böden, Decken, Wände und Säulen die Schallwellen tiefer und mittlerer Frequenzen besonders stark reflektieren, ergibt sich ein verstärkter Nachhall der tieferen, dunkleren Töne.215 In seiner Pionierstudie »Soundscape« weist Murray Schafer darauf hin, dass die Akustik vieler Kirchenräume eine »experience of immersion rather than concentration« erzeuge: The stone walls and floors of Norman and Gothic cathedrals produced not only an abnormally long reverberation time (six seconds or more) but also reflected sounds of low and medium frequencies as well, discriminating against high fre-

211 Oliver Rathkolb, The Paradoxical Republic. Austria 1945 – 2005, Oxford / New York 2010, S. 201. Zu den politischen Bedeutungsschichten dieser Glocke vgl. auch Elfriede Faber, Die Pummerin – ein politisches Symbol, in: 850 Jahre St. Stephan. Symbol und Mitte in Wien 1147 – 1997. 226. Sonderausstellung Historisches Museum der Stadt Wien, Dom- und Metropolitankapitel Wien, 24. April bis 31. August 1997, St. Stephan / Historisches Museum der Stadt Wien, Wien 1997, S. 55 – 60. 212 Vgl. Maximilian Liebmann, »Heil Hitler« – Pastoral bedingt. Vom Politischen Katholizismus zum Pastoralkatholizismus, Wien / Köln / Weimar 2009, S. 67. 213 Vgl. Ernst Bruckmüller, Stephansdom und Stephansturm, in: Emil Brix / Ernst Bruckmüller / Hannes Stekl (Hg.), Memoria Austriae II. Bauten – Orte – Regionen, Wien 2005, S. 40 – 74, hier S. 67. 214 Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 105. 215 Vgl. mit Referenz auf Rudolf Wendorff: Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 105.

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quencies above 2,000 hertz owing to the greater absorption of the walls and air in that range. Anyone who has heard monks chanting plainsong in one of these old buildings will never forget the effect: the voices seem to issue from no point but suffuse the building like perfume.216

Der Musiksoziologe Kurt Blaukopf versteht diesen Effekt als eine Technik, Individuum und Gemeinschaft akustisch aneinander zu binden: »The sound in Norman and Gothic Churches, surrounding the audience, strengthens the link between the individual and the community. The loss of high frequencies and the resulting impossibility of localising the sound makes the believer part of a world of sound«.217 Emily Thompson zeigt in ihrer Studie über »the soundscape of modernity«, wie die Architektur der Moderne im »Machine Age« zwischen 1900 und 1933 über bestimmte Techniken der Raumakustik einen »modernen«, klaren und sachlichen sound hervorbrachte, der mit neuen Routinen des Hörens einherging.218 Von hier aus wäre auch der Raumakustik der großen romanischen und gotischen Basiliken und Hallenkirchen ein distinkter sound zuzuschreiben, der religiöse Routinen des Hörens generiert hat. Hier wäre die Frage aufzuwerfen, inwiefern diese Kirchen – als die in aller Regel weitaus größten Innenräume mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Städte und Gemeinden – gerade durch ihre akustische Qualität als sakrale Räume wirken und wahrgenommen werden konnten. Der Klangraum Kirche hob sich mit Sicherheit nicht nur von der Umgebung, sondern auch von anderen Innenräumen in einzigartiger Weise ab und formatierte auch das körperliche Erleben der Situation: Herzfrequenz und Atemrhythmus werden durch die kirchliche Musik verändert, und damit ändert sich im Körper selbst das Zeitgefühl. Das bewirkt besonders in der mittelalterlichen Kirche das Gefühl des »Aus-der-Welt-Seins«, vermittelt eine Stimmung, die gefangennimmt, die herauslöst aus den Alltagsrhythmen. Die natürliche Tonlandschaft wird ausgetauscht gegen eine kirchliche Tonlandschaft, die als akustischer Umraum die alltagsweltliche Orientierung aufhebt und spezifisch umgestaltet.219

216 Murray Schafer, Soundscape. The Tuning of the World, New York 1977, S. 118. 217 Kurt Blaukopf, Problems of Architectural Acoustics in Musical Sociology, in: Gravesaner Blätter 5 (1960), Heft 19/20, S. 173 – 181, hier S. 180. 218 Emily Thompson, The Soundscape of Modernity. Architectural Acoustics and the Culture of Listening in America 1900 – 1933, Cambridge / London 2004. 219 Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 106. Einen literarischen Beleg für die kirchenmusikalische Produktion einer »gefangen nehmenden« Stimmung im Kirchenraum bietet Heinrich von Kleists Erzählung »Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik«. Darin wird gegen Ende des 16. Jahrhunderts einer Horde von Bilderstürmern, »von Schwärmerei, Jugend und dem Beispiel der Niederländer

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Dabei führt die Akustik der monumentalen mittelalterlichen Kirchenräume auch dazu, dass die Schallquelle nur schwer über das Gehör zu lokalisieren ist; der Kirchenbesucher »hat nicht das Empfinden, dem Klanggeschehen gegenüberzustehen [. . . ], sondern er wird vom Klang eingehüllt«.220 Konsequenzen hat das natürlich nicht nur für die Wahrnehmung musikalischer Ereignisse, sondern gerade auch für die Wirkung, die das gesprochene Wort in einem solchen Raum entfaltet. Das Wort erhält hier eine körperlich spürbare Autorität; es vermittelt den Anschein, nicht von einer bestimmten Person gesprochen zu sein, sondern »von oben« bzw. »von überall her« zu kommen. Die durch die »Konsekrationseffekte« des Kirchenraums und der kirchlichen Institution erzeugte Autorität wird somit durch den akustischen Universalisierungseffekt verstärkt, der mit der scheinbaren Standortlosigkeit des – in der katholischen Kirche fast durchgehend männlichen – Sprechers verbunden ist. Dass zudem der Priester bzw. Pastor – gegebenenfalls mit wenigen Ausnahmen während der Lesung oder der Fürbitten – der einzige ist, der im Raum laut zu sprechen ermächtigt ist, macht seine akustische Kontrolle über den Raum vollständig und verleiht seinem – als Wort Gottes ohnehin unumstrittenen – Wort höchste Legitimität. Gleichzeitig ist das vom Priester gesprochene Wort als »Autoritätsdiskurs« in seiner Funktion abgelöst vom spezifischen Sinngehalt, den es transportiert, wie Bourdieu in seinen Arbeiten zur Performativität des Sprachgebrauchs betont: »Die Besonderheit des Autoritätsdiskurses (Vorlesung, Predigt usw.) besteht darin, dass es nicht genügt, wenn er verstanden wird (in bestimmten Fällen braucht er nicht einmal verstanden zu werden und verliert doch nichts von seiner Macht), und dass er seine eigentliche Wirkung erst erzielt, wenn er als solcher anerkannt wird«.221 Erst recht gilt dieser Befund, wenn es nicht um die erhitzt«, durch die eindrucksvolle Aufführung eines Oratoriums Einhalt geboten. Nachdem sich »nach und nach mehr denn hundert, mit Beilen und Brechstangen versehene Frevler, von allen Ständen und Altern« in dem Aachener Frauenkloster eingefunden hatten, begann die Musik ihre Wirkung zu tun: »Das Oratorium ward mit der höchsten und herrlichsten musikalischen Pracht ausgeführt; es regte sich, während der ganzen Darstellung, kein Odem in den Hallen und Bänken; besonders bei dem salve regina und noch mehr bei dem gloria in excelsis, war es, als ob die ganze Bevölkerung der Kirche tot sei: dergestalt, daß den vier gottverdammten Brüdern und ihrem Anhang zum Trotz, auch der Staub auf dem Estrich nicht verweht ward, und das Kloster noch bis an den Schluß des Dreißigjährigen Krieges bestanden hat, wo man es, vermöge eines Artikels im westfälischen Frieden, gleichwohl säkularisierte«. Heinrich von Kleist, Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik (Eine Legende), in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe, herausgegeben von Helmut Sembdner, zweiter Band, München 1984, S. 216 – 228, hier S. 216 – 219. 220 Kurt Blaukopf, Raumakustische Probleme der Musiksoziologie, in: Die Musikforschung 15 (1962), S. 237 – 246, hier S. 241. 221 Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, 2. Auflage Wien 2005, S. 105.

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Predigt, sondern um die Liturgie geht: »Die Liturgie ist eine ritualisierte Sprache, die zwar nicht verstanden wird, aber trotzdem, da sie autorisiert ist, unter bestimmten Bedingungen und zur Zufriedenheit von Sendern wie Empfängern als Sprache funktioniert«. Als ihren Haupteffekt – jenseits aller Kommunikation über sprachliche Botschaften und Inhalte – bestimmt Bourdieu, »glauben zu machen, Respekt zu erheischen, Akzeptanz zu erzeugen – ihre Akzeptanz auch dann, wenn man sie nicht versteht«.222 In einer nicht zu unterschätzenden Weise trägt der Kirchenraum mit seinen spezifischen Resonanzen dazu bei, diesen Effekt des Autoritätsdiskurses zu produzieren. Die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher sprechen im Rahmen des liturgischen Ablaufs nur dann, wenn das gemeinsame Gebet oder ein Wechselgebet es vorsieht. Hier ist das gesprochene Wort nicht als priesterliches Wort autorisiert, sondern es dient der Artikulation als betende Gemeinde sowie – damit einhergehend – dem ganz individuellen Gebet. In ihrer religionsphänomenologischen Studie »Körper beten« hat Julia Koll nachgezeichnet, inwiefern das Beten in- und außerhalb des Gottesdienstes als eine Körperpraxis verstanden werden muss.223 Kolls Untersuchung zielt auf eine theologische Bestimmung des »Körpererlebens« als Moment religiöser Erfahrung; wir können ihre Ergebnisse aber durchaus auch als Beleg dafür lesen, dass das Beten eine Selbsttechnologie ist, die der emotionalen Navigation durch verschiedene Situationen religiöser Praxis dient. Im Kirchenraum stellt das laut oder halblaut gesprochene Gebet eine spezifische Balance zwischen Individuum und Gemeinschaft her, die für das soziale Geschehen im Gottesdienst konstitutiv ist. David Plüss zeigt diese Balance am Beispiel des reformierten »Unservaters« auf: Beim Unservater fällt die intensive mimetische Verschränkung von Individualität und Kollektivität auf. Der Einzelne bleibt in seinem Beten nicht bei sich, sondern stimmt in ein gemeinsam gesprochenes Gebet ein. Das Unservater ist in gewisser Weise vor ihm da. Er wird betend Teil eines kollektiven, auch atmosphärisch gestimmten Klangraums und bleibt doch ganz bei sich, indem er die Augen geschlossen hält und nicht mit den anderen Betenden kommuniziert. Stärker noch als beim gemeinsamen Gesang ist die Aufmerksamkeit des Beters nach innen gerichtet; wie beim gemeinsamen Gesang ist sie aber entschieden geprägt durch den gemeinsamen mimetischen Vollzug; und betend ist die Aufmerksamkeit auf ein ganz Anderes, auf Gott ausgerichtet. Diese performative Gleichzeitigkeit und gegenseitige Durchdringung von Individualität, Kollektivität und religiöser Alterität scheint mir beim Unservater besonders auffällig zu sein, zugleich aber

222 Pierre Bourdieu, Was sprechen heißt, in: Ders., Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 1993, S. 91 – 106, hier S. 97. 223 Julia Koll, Körper beten. Religiöse Praxis und Körpererleben, Stuttgart 2007.

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ein performatives Grundmuster liturgischer Kommunikation schlechthin darzustellen.224

Wenn, wie Plüss es nahelegt, das gemeinsame Sprechen im Raum die Imaginationen von Individualität, Kollektivität und Alterität reguliert, dann macht es auf der akustischen Ebene deutlich, wie sich Architektur als Medium des Sozialen denken lässt. Denn diese kollektive körperlich-klangliche Bewegung wäre ohne den umgebenden Raum und seine spezifische Akustik nicht denkbar; erst die Resonanzen des Raums stellen die konkreten Optionen bereit, sich über hörbare Nähe und Distanz zueinander in Beziehung zu setzen. Erst in einer Mikroanalyse von Räumen mitsamt ihrer sinnlichen Qualitäten sind die Praktiken zu verstehen, die sie möglich machen und nahelegen.

Musik als Sakralitätsmarker Zum Kirchenraum gehört eine genuine akustische und insbesondere musikalische Sprache, die in der praktischen Anwendung und Wahrnehmung relativ klar definiert ist.225 Ihr hoher Wiedererkennungswert lässt sich etwa an prominenten Beispielen aus der Opernliteratur ablesen, in denen – wie in den ersten Akten von Wagners »Die Meistersinger von Nürnberg« oder Puccinis »Tosca« – mit musikalischen Mitteln vom Glockengeläut bis zum Chorgesang vollkommen deutlich gemacht wird, dass das Geschehen sich gerade in einer Kirche abspielt. Erst recht dient diese musikalische Sprache dazu, den Kirchenraum in situ als sakralen Raum auszuweisen; abgesehen von ihrem liturgischen Gebrauchskontext zeigt sich das etwa an der Hintergrundbeschallung, die in vielen touristisch frequentierten Kirchen während der Besuchszeiten geschaltet ist, um den sakralen Raum als solchen zu markieren, eine sakrale Stimmungsqualität zu erzielen und dementsprechend bestimmte Verhaltensweisen nahezulegen. In der Wiener Minoritenkirche etwa wird Orgelmusik vom Band gespielt; in Rom wird für diesen Zweck – eigenen Stichproben zufolge – sakrale Vokalmusik bevorzugt. Beim Betreten der Pilgerkirche S. Lorenzo fuori le Mura an einem Vormittag Ende Februar erklingen gregorianische Gesänge; die kühle Luft ist von Weihrauch durchzogen, der den archaischen Raumeindruck der im Kern frühchristlichen Basilika verstärkt.226 In der griechisch-orthodoxen 224 David Plüss, Körper und Kult. Gestisch-mimetische Kommunikation im ganz gewöhnlichen reformierten Gottesdienst, in: Christina Aus der Au / David Plüss (Hg.), Wahrnehmungen von Leiblichkeit in Theologie, Religions- und Kulturwissenschaften, Zürich 2007, S. 197 – 217, hier S. 216 – 217. 225 Aus Sicht der praktischen Theologie vgl. etwa Jochen Arnold, Was geschieht im Gottesdienst? Zur theologischen Bedeutung des Gottesdienstes und seiner Formen, Göttingen 2010, S. 142 – 159. 226 Forschungsnotizen vom 25. Februar 2014.

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Kirche S. Maria in Cosmedin unweit des Tiber ist die Musik geradezu Teil einer auf ein »mittelalterliches« Setting zielenden »ästhetischen Arbeit«: Der dreischiffige Kirchenraum mit hoher, offener Balkendecke ist durch einen abgeschrankten Chorbereich im Hauptschiff in zwei Zonen geteilt, was ein wenig an klassische orthodoxe Kirchen mit Ikonostasis erinnert. Der Fußboden ist mit cosmatischen Intarsienarbeiten verziert; an den Chorschranken sind rote Hängelichter befestigt, der Raum ist abgedunkelt und wird lediglich durch wenige punktuelle Strahler sowie die Teelichter von den Lichterständen erhellt. Echtes Kerzenlicht bildet die dominierende Lichtquelle; dazu wird im Hintergrund »byzantinische« liturgische Vokalmusik gespielt. Das Eintreten in diesen Raum vermittelt eine erstaunliche Kontrastwirkung: Während sich in der äußeren Vorhalle der Kirche vornehmlich ostasiatische Touristen um die sogenannte »bocca della verità« drängen – eine spätantike Maske, die ein beliebtes Fotomotiv darstellt –, provozieren innen die Stille, das Dunkel und die mittelalterlichen Gesänge ein vollkommen anderes Raumgefühl. Dementsprechend fällt das zu beobachtende Verhalten der KirchenbesucherInnen aus: Die Menschen bewegen sich nur sehr langsam, sie stehen und schauen, lassen den Raum auf sich wirken, fast niemand fotografiert. Der Raum legt – im Unterschied zu vielen anderen häufig besuchten Kirchen in Rom – religiöse Gesten nahe: Einzelne tauchen die Hand ins Weihwasserbecken, bekreuzigen sich, andere zünden ein Licht an. Gleichzeitig wird die Atmosphärenproduktion streng überwacht: Lauteres Sprechen wird sofort von der Aufsichtsperson mit der Aufforderung »silenzio!« unterbunden.227 Ein eher wenig reflektierter Aspekt der Raumakustik ist die Tatsache, dass Akustik, wie Murray Schafer festhält, das Tempo und damit den zeitlichen Verlauf von Aktivitäten reguliert und kontrolliert. Schafer verdeutlicht das an einer musikhistorischen Überlegung: Die Modulationsgeschwindigkeit der Kirchenmusik in Renaissance und Barock sei nicht zuletzt deshalb so langsam, weil diese Musik für Räume mit großem Nachhall konzipiert gewesen sei.228 In der Tat ist Musik mit schnelleren Harmoniewechseln und rasch wechselnden Figurationen in großen, steinernen Kirchenräumen nur schwer aufführbar. So ist der statische Charakter alter Kirchenmusik abgestimmt auf den Raum und von dieser Raumwirkung nicht zu trennen; analog zu den von Foucault untersuchten Regimes des Sichtbaren gibt es demnach auch so etwas wie »Regimes des Hörbaren«. Spezifische »Hörbarkeiten« im Kirchenraum lassen sich auch für das gesprochene Wort und das langsame Tempo der liturgischen Rede ausmachen: »The reverberation of the Gothic Church [. . . ] also slowed down speech, turning it into monumental rhetoric. The introduction of loudspeakers into such churches, as has recently happened, does not prove the acoustic deficiency of 227 Forschungsnotizen vom 24. Februar 2014. 228 Schafer, Soundscape, S. 219.

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Abb. 36: Lichtergottesdienst in Taizé.

the churches but rather that listening patience has been abbreviated«.229 Die durch die Akkordierung von Raumakustik und Sprechtempo erzeugte langsame Rhythmisierung von Worten und Gesängen hat ihre eigene Wirkung »akustischer Autorität« – eine Wirkung, die sich über langfristige Gewohnheiten des Sprechens und Hörens reproduziert hat: »Reverberation and echo give the illusion of permanence to sounds and also the impression of acoustic authority«.230 Wie der atmosphärische Raum in Böhmes Atmosphärendefinition dient auch die Musik – beispielsweise im Falle der Taizé-Gesänge – aus religionspraktischer Sicht dazu, soziale Nähe- und Distanzverhältnisse zu regulieren und seinen eigenen Ort in der Gemeinschaft zu imaginieren, wie in einer Studie über Taizé-Musik betont wird: Music as symbolic activity serves the community by evoking participation, not only in the ritual action, but also, on a deeper level, by evoking participation in the common work of becoming and being transformed into a community of faith. By negotiating relationships among the community and between the community and the God whom they worship, music-making allows individuals and the assembly

229 Schafer, Soundscape, S. 219. 230 Schafer, Soundscape, S. 219.

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as a social group to orient themselves, that is, to discover their identity and their place within their world.231

An diesem kleinen Beispiel wird deutlich, dass die Konstitution eines repräsentationalen Raumes, der – wie hier im dritten Kapitel ausgeführt – für das Kollektiv steht, auch mittels akustischer Raummarkierungen bewerkstelligt wird. Der Kirchenraum ist somit auch von seiner akustischen Einheit her bestimmt; seine Grenzen sind auch definiert von der Reichweite des klanglichen Geschehens im Raum. Dabei ist dieses klangliche Geschehen freilich nicht von vornherein in das Korsett der symbolischen Ordnungen eingebunden und wird auch nicht so erfahren: »There is always something about sound that overwhelms and surprises us«, schreibt der Filmtheoretiker Michel Chion.232 Gerade deshalb aber ist die Frage von Interesse, wie die Überwältigungen und Überraschungen der alltäglichen ästhetischen Erfahrung – ob im Kirchenraum oder anderswo – praktisch verarbeitet und mittels des praktischen sozialen Sinns, der im Habitus inkorporiert ist, in soziale Erfahrung überführt wird. Mehr noch: Es geht auch ganz wesentlich um die antizipatorischen Leistungen des Habitus, der solche Überwältigungen in bestimmten Räumen sucht und von ihnen erwartet. Eben diese Vorgänge sind es, welche die sinnliche Dimension von Kirchenräumen für eine praxeologische Kulturanalyse öffnet. Monique Scheer hat im Rahmen ihrer Untersuchungen zu emotionalen Praktiken in lutherischen und freikirchlichen Kirchengemeinden herausgearbeitet, wie Musik, Körperpraktiken und Emotionen ineinandergreifen, um ein stimmiges Bild religiöser Ergriffenheit zu erzeugen. Dabei sind expressive gestische Formen anzutreffen, die in der »klassischen« katholischen Messe keinen Raum haben, aber in Jugendgottesdiensten oder in den genannten Taizé-Zusammenkünften zunehmend praktiziert werden: Das Singen in der freikirchlichen Gemeinde beginnt mit den fünf bis sechs Lobpreisliedern, die am Anfang des Gottesdiensts von der Band vorne auf der Bühne gespielt werden. Man bekommt dort kein Gesangbuch, die Texte werden stattdessen auf dem riesigen Bildschirm oberhalb der Bühne eingeblendet. Eingängige und unkomplizierte Melodien sorgen dafür, dass man fast sofort mitsingen kann, selbst wenn man die Lieder noch nicht kennt (was aber nach wenigen Wochen schon nicht mehr der Fall ist). Die Anordnung von Bühne und Monitoren bewirkt, dass man nach oben und nach vorne schaut. Da die meisten stehen, muss man auch stehen, wenn man etwas sehen will. Da die Hände frei sind, kann man im Rhythmus klatschen und sogar auf und ab hüpfen. Wenn die Musik eher besinnlich ist, wiegt man sich beim Singen hin und her, manche heben dabei eine

231 Judith Marie Kubicki, Liturgical Music as Ritual Symbol. A Case Study of Jaques Berthier’s Taizé Music, Leuven 1999, S. 190. 232 Zit. nach Bonz, Das Kulturelle, S. 118.

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oder beide Hände in die Höhe. Noch häufiger aber sieht man, dass nur eine Hand ausgestreckt wird, mit der Handfläche zur Bühne hin, manchmal ist der Kopf dabei auch etwas gesenkt, die Augen vielleicht geschlossen – das scheint mir die Haltung zu sein, die mit besonderer Ergriffenheit in Zusammenhang gebracht wird, hier spürt man die Liebe Gottes. Eine klare Unterscheidung zwischen Singen und Beten kann nicht gezogen werden. Zum einen stimmen die Körperhaltungen oft mit Gebetshaltungen überein, die auch anderweitig in der charismatischen Praxis gepflegt werden. Zum anderen heißt dieser Abschnitt des Gottesdienstes – wie die Musik selbst – »Lobpreis«: Die Lieder sind fast immer wie Gebete an Gott adressiert: »Du bist der ewig treue Gott«, »du bist mein Retter«, »wir ehren dich, o Herr« usw. Einen Zwang, beim Singen mitzumachen, herrscht nicht: Manche sitzen ruhig auf ihren Stühlen, vielleicht mit dem Kopf gebeugt und die Hände gefaltet, so dass man annehmen kann, dass hier ein innerliches Zwiegespräch mit Gott gesucht wird.233

Inwiefern Musik im Kirchenraum als wichtiges – manchmal entscheidendes – Instrument der »emotionalen Navigation« dienen kann, wird insbesondere in der musikalischen Begleitung von Kasualgottesdiensten deutlich: Bei Taufen und Hochzeiten, vor allem aber bei Trauerfeiern, fungiert Musik als »Stimmungsöffner« und »hilft bei der Bewältigung der (besonderen) Kasualsituation«.234 Stephan Alexander Reinke hat in seiner empirischen Untersuchung zum Einsatz von Musik bei Trauungen und Bestattungen bestätigt, »dass der Musik eine entscheidende Rolle für das emotionale Leben einer Kasualfeier zukommt« und dass sie dabei als »emotionales Steuerungsmittel« dient.235 Ein von Reinke befragter Bestatter hebt die Rolle der Musik dementsprechend hervor: »Der Pastor, was der da sagt, das bekommt der Angehörige in den meisten Fällen nur schemenhaft mit [. . . ]. Aber Musik, da wird gefühlt, aber ich denke, das ist da halt wichtiger«.236 Auf diese Weise dient Musik als Gestaltungsmittel, über das Gefühle generiert und formatiert werden – und dies wohlgemerkt nicht im Sinne einer »Manipulation« von Emotionen durch Musik, sondern im Sinne aktiver Praktiken, die im Spannungsfeld kultureller Codes und kollektiver wie individueller Umgangsweisen mit diesen Codes zu verorten sind. Kasualmusik wird so zu einem »kulturellen System«,237 das mit musikalischen Traditionen und Erwartungshaltungen sowie fallweise auch deren produktiver Brechung spielt: Wenn etwa bei einer Trauerfeier in einer Kirche Chansons, Schlager oder politische Lieder gespielt werden, die mit der Person des Verstorbenen 233 Scheer, Von Herzen glauben, S. 123. 234 Stephan Alexander Reinke, Musik im Kasualgottesdienst. Funktion und Bedeutung am Beispiel von Trauung und Bestattung, Göttingen 2011, S. 108. 235 Reinke, Musik im Kasualgottesdienst, S. 108 – 109. 236 Reinke, Musik im Kasualgottesdienst, S. 113. 237 Vgl. dazu Reinke, Musik im Kasualgottesdienst, S. 25 – 52.

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eng verbunden sind, dann bricht das mit einer traditionellen Erwartungshaltung hinsichtlich »sakraler« Musik, setzt aber individuelle Erinnerungen frei, die sehr unterschiedlich erlebt werden können. Der – nicht selten konflikthafte – innerfamiliäre Aushandlungsprozess, der mit der Festlegung eines musikalischen Programms für Trauungen oder Trauerfeiern vorangeht, wäre damit im Sinne einer agency von Akteuren zu untersuchen, die auf die Herstellung bestimmter emotionaler Momente zielt. Den wohl bekanntesten und stärksten akustischen Code für »Sakralität« bietet – neben dem Glockengeläut und der gesungenen Kirchenmusik – die Kirchenorgel; »the organ is irrevocably tainted with religiosity«.238 In der katholischen und auch protestantischen Liturgie strukturiert die Orgel den Ablauf des Gottesdienstes und markiert dessen Teilabschnitte. Vor allem aber dient die Orgel der Unterstützung des Gemeindegesangs, »ersetzt aber auch unmittelbar die menschliche Stimme, indem sie bei wechselchörigen Gesängen alternierend jeden zweiten Vers übernimmt«.239 Charakteristisch sind hier die liturgischen Richtlinien des römischen Ritus, nach der die »Begleitung des Gemeindegesangs bei Bedarf immer, Begleitung des offiziellen Altargesangs niemals gestattet« ist.240 Diese Bestimmung nämlich macht deutlich, dass die Orgel in erster Linie als Vertreterin von Gemeinde und Gemeinschaft eingesetzt wird, als akustischer Multiplikator des von der Gemeinde intonierten Wortes. Möglicherweise war es nicht zuletzt diese Funktion der orgelbegleiteten Kirchenmusik als kollektive sinnliche Ersatzhandlung für die individuelle Zuwendung zu Gott, welche die Reformatoren dazu veranlasste, die Orgelmusik einzuschränken oder sogar Orgeln abbrechen zu lassen, wie Zwingli 1527 die Orgel im Zürcher Großmünster.241 Auch Luther hat sich überwiegend kritisch zur Orgelmusik geäußert; 242 den Grundüberlegungen der reformatorischen Theologie zufolge sollten zwischen die Glaubenden und ihren Gott keine vermittelnden Instan-

238 Charles Rosen, Piano Notes. The hidden world of the Pianist, London 2004, S. 19. Diese Konnotation der Orgel geht z. B. auch aus zahlreichen Äußerungen hervor, die Reinke im Rahmen seiner Studie befragt hat: »Wenn [. . . ] diese Orgel anfängt, und diese ganze Kirche beschallt, das hat für mich so einen christlichen Bezug«; »Aber irgendwie hat die Orgel [. . . ] was Besonderes [. . . ]. Und da ich ja sonst keine Orgel höre, hat sie immer irgendwas für mich mit Kirche und dem Jenseits zu tun«. Reinke, Musik im Kasualgottesdienst, S. 119, 122. Zur Bedeutung der Orgel für den Kasualgottesdienst vgl. das Kapitel in ebd., S. 121 – 128. 239 Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 314. 240 Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 314. 241 Vgl. Christoph Albrecht, Die gottesdienstliche Musik, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber / Michael Meyer-Blanck / Karl-Heinrich Bieritz, Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, 3. Auflage Göttingen 2003, S. 413 – 435, hier S. 422. 242 Vgl. Albrecht, Die gottesdienstliche Musik, S. 422.

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zen und Apparaturen treten – der Grundsatz »sola scriptura«, die Zentralität des Wortes, vertrug sich nicht gut mit einer den Gesang begleitenden und überformenden Pfeifenorgel, auch wenn diese als Symbol der Gemeinde überaus wirkungsvoll blieb. Den Gemeindegesang selbst schätzte Luther indessen als wichtiges Mittel der Wortverkündigung. Wenn der Reformator die Musik als »domina et gubernatrix affectuum humanorum«, als »Herrin und Führerin der menschlichen Gefühle« bezeichnet,243 dann benennt er damit die theologisch vielfach thematisierte Ambivalenz von Musik als Führerin und Ver-Führerin, die auch seinem eigenen Urteil über Kirchenmusik zugrundeliegt. Im Zuge ihres zunehmenden Einsatzes in der Liturgie wurde die Kirchenorgel immer mehr zu einem »Sakralitätsmarker«. Im Zusammenhang mit dem Gemeindegesang erhielt die Orgel durch die Choralbegleitung vollends den Nimbus des kirchlichen Instruments schlechthin. Sicher haben dabei auch einige andere Faktoren mitgewirkt: »Die Orgel spielt«, sagt man landläufig. Von keinem anderen Instrument spricht man in einer solchen entpersönlichten oder überpersönlichen Weise. Diese Redeweise mag auch dadurch mit bedingt sein, dass die Gemeinde den Organisten in der Regel nicht sieht. Der statische Ton der Orgel, dessen Dauer im Unterschied zur Singstimme und zu allen Blasinstrumenten unabhängig ist vom menschlichen Atem, macht es ebenfalls erklärlich, dass der Orgelmusik ein nahezu »transzendentaler« Charakter beigelegt wurde.244

Dieser transzendentale Charakter und die klare amtskirchliche Zuordnung der Orgel wird – gleichsam ex negativo – insbesondere dort deutlich, wo die Orgel dezidiert nicht als sakrales Instrument genutzt wurde, sondern vielmehr als Experimentierkasten avantgardistischer Musik. Der Widerstand gegen diese »Zweckentfremdung« der Orgel war und ist in solchen Fällen erstaunlich vehement, wie Michael Heinemann andeutet: Als 1962 Radio Bremen eine zeitgenössische Orgelkomposition prämieren wollte, standen mit György Ligetis Volumina, Bengt Hebraeus Interferenser und Mauricio Kagels Improvisation ajoutée drei Werke auf dem Programm, die nicht allein mit den Traditionen solistischen Orgelspiels, sondern dem Umgang mit der Orgel als »heiligem« Instrument radikal brachen. Die Tutti-Cluster, mit denen Ligeti zu Beginn seiner avantgardistischen Komposition die Leistungsfähigkeit eines ehrwürdigen Instruments testete, boten wie die Effekte, die sich ergaben, wenn der Orgelwind sukzessive nachlässt und immer weniger Pfeifen in nicht vorhergesehenen Teiltönen klingen, zumal im Kirchenraum so grundstürzend neue Erfahrungen, dass es der Kirchenleitung bange wurde: So ernst sollte der Ruf

243 Zit. nach Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung, S. 213. 244 Albrecht, Die gottesdienstliche Musik, S. 422 – 423.

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nach Reform nicht gemeint sein. Dass freilich vierzig Jahre nach dem skrupulösen Interdikt ein Konzert mit den nämlichen Werken als eines sakralen Raumes unwürdig untersagt wurde, zeugt von einer bemerkenswerten Kontinuität kirchenmusikalischer Vorgaben – und auch im protestantischen Bereich weitgehend ausgebliebener Reflexion über die Bedingungen und Möglichkeiten der Moderne.245

Der »sakrale« Nimbus und der entsprechende akustische Charakter der Orgel legten indessen einen Einsatz dieses Instruments auch in anderen Kontexten nahe, in denen sakralisierende Effekte ausdrücklich gesucht wurden. Dass sich die Pfeifenorgel auch zur machtvollen Inszenierung und religiösen Überhöhung politischer Feiern und Rituale eignet, hat insbesondere die musikwissenschaftliche und zeithistorische Forschung zum Nationalsozialismus herausgestellt.246 Albrecht Riethmüller schreibt zusammenfassend über die ideologische Verwertbarkeit der Orgel in dieser Zeit: Die Orgel ist, nach Müller-Blattau, das totale Instrument des totalen Staates. Sie symbolisiert einerseits [. . . ] die monumentale Macht des Reiches, ja sie repräsentiert das mächtige Reich und seine untergeordneten Glieder, sofern sie selbst ein »Gesamtmusikreich« ist, und es dürfte nicht schwer sein, sich auszudenken, wer als der omnipotente Organist dieses Reich beherrscht. [. . . ] Die Orgel symbolisiert andererseits die Gemeinschaft, [. . . ] jene irrationale Größe, die [. . . ] nur als Ganzes, als Volk eine Einheit bildet. Aufgabe der großen Orgel ist es [. . . ], dem Volksgenossen emotional die Botschaft zu verkünden: Du bist nichts, Dein Volk ist alles. Denn das ist das Credo des totalen Staates, als dessen Symbol die Orgel aufgestellt ist, um mit Macht zu wirken.247

Auch ohne vorschnelle Analogieschlüsse herstellen zu wollen, liegt es doch nahe, in dieser Beschreibung der auf das nationalsozialistische Regime bezogenen ideologischen Funktion von Orgelklang und Orgelmusik gewisse Parallelen zum liturgischen Einsatz der Orgel zu erkennen. In diesem Sinn symbolisiert die Pfeifenorgel als »universelles« und ein Orchester ersetzendes Instrument auch die universelle Kirche und ihre »untergeordneten Glieder«; ebenso steht sie für die Gemeinschaft der Gemeinde, deren Gesang sie unterstützt. Sie trägt

245 Michael Heinemann, Kleine Geschichte der Musik, Stuttgart 2004, S. 308 – 309. 246 Vgl. dazu v. a. die Studien von Albrecht Riethmüller, Die Bestimmung der Orgel im Dritten Reich. Beispiele eines Fundierungszusammenhangs zwischen ästhetischer Anschauung und politischer Wirklichkeit, in: Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.), Orgel und Ideologie, Murrhardt 1984, S. 28 – 69; Michael Gerhard Kaufmann, Orgel und Nationalsozialismus. Die ideologische Vereinnahmung des Instrumentes im »Dritten Reich«, Kleinblittersdorf 1997; Stefan Zöllner, Orgelmusik im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt am Main 1999. 247 Riethmüller, Die Bestimmung der Orgel im Dritten Reich, S. 35.

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damit – im Einklang mit ihrer theologischen Bestimmung als Gemeindebegleitinstrument – zur Formierung des Kollektivs der Gläubigen als einer imaginären »irrationalen Größe« bei und hat teil an der Etablierung eines »emotionalen Regimes«, das Menschen situativ, aber auch in sich wiederholenden Routinen zusammenbindet. Bisher sind vor allem die sozial harmonisierenden Leistungen der Kirchenmusik und der kirchenräumlichen Akustik generell thematisiert worden. Dass sich in den »soundscapes« von Kirchenräumen aber auch handfeste politische Konflikte abbilden können, dokumentiert der Bericht eines Augenzeugen aus der evangelischen Apostel-Paulus-Kirche in Berlin-Schöneberg im Jahr 1934: Schon beim Eintritt in den Kirchenraum fiel mir auf, dass der Geistliche nicht am Altar, sondern auf der Kanzel stand. Die Gemeinde sang stehend das Lied »Auf, auf, ihr Reichsgenossen. . . « – Ein Posaunenchor begleitete den Gesang, während die Orgel immer wieder dazwischen einsetzte und so auffallend störte. Ich konnte mir noch gar keinen Begriff davon machen, was das wohl zu bedeuten habe. Erst nach Beendigung eines zweiten Liedes merkte ich durch fortwährende Rufe aus der Menschenmenge, dass man hier versucht, einen Gottesdienst zu stören. Bald hatte ich auch heraus, dass sich in der Kirche zwei Gruppen befanden: etwa 1500 Anhänger des P.[farrer] von Rabenau und etwa 200 Deutsche Christen. Letztere gruppierten sich vor dem Altar, den der deutschchristliche Pfarrer Peters besetzt hielt. Dieser versuchte aus der Agende zu lesen und fiel so immer wieder dem auf der Kanzel stehenden P. v. Rabenau ins Wort. Der an der Orgel sitzende Organist begleitete die »Liturgie«. Pfarrer v. Rabenau konnte sich durch das fortwährende Spiel der Orgel kein Gehör verschaffen, und so ließ er weiter Adventslieder anstimmen, hoffte dabei wohl, dass sich die Opposition beruhigen werde. Das trat jedoch nicht ein. [Vielmehr] spielte nun der Organist wie wild darauf los, keine Melodienfolgen, sondern Präludien. Aus der Menge erschollen Rufe wie: »Wir wollen Pfarrer v. Rabenau hören!« Die DC stimmten ohne Aufforderung Lieder an, die der Organist begleitete. [. . . ] Es kam zeitweise vor, dass zwei Gruppen sangen, dass Orgel und Posaunenchor verschiedene [Weisen] spielten.248

Hier ergibt sich aus der Tatsache, dass sich über die Konstitution akustischer Räume im Kirchenraum »emotionale Regimes« konstitutieren, ein handfester Konflikt: Es handet sich nämlich um den eher seltenen Fall, dass in ein und demselben Kirchenraum unterschiedliche politische Positionen artikuliert werden, ihrerseits gestützt von den klassischen akustischen Mitteln Orgelspiel, Gesang und Predigt. Denken wir an die Formulierung von der Orgel 248 Zit. nach Manfred Gailus, Ein selbstzerstörerischer Bruderkampf. Das protestantische Berlin (1930 – 1945), in: Michael Wildt / Christoph Kreutzmüller (Hg.), Berlin 1933 – 1945. Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus, S. 159 – 175, hier S. 166 – 167.

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als »totalem Instrument«, so wird deutlich, dass die einzelnen Elemente der kirchenräumlichen Klangausstattung keine Konkurrenz dulden: In der gottesdienstlichen Praxis gibt es keine Vielstimmigkeit, sondern nichts als den Alleinvertretungsanspruch des gemeinsam oder vom Priester bzw. Pastor vorgetragenen Wortes oder des Orgelspiels; daher muss die Szene in St. Paulus so schockierend gewesen sein. Gleichzeitig macht die Szene deutlich, dass Kirchenräume auch in der Moderne immer wieder zum Schauplatz der offenen politischen Auseinandersetzung und der Aushandlung politischer Leitvorstellungen wurden.

Respirative Vergemeinschaftung und die soziale Produktion von Stille Schließlich gehören auch das Schweigen und die Stille zum Set aktiver akustischer Praktiken im Kirchenraum.249 Auf die liturgische Bedeutung der Stille weist Rupert Berger in seinem »Pastoralliturgischen Handlexikon« hin: »Auch die Stille ist eine Form ›tätiger Teilnahme‹ am gottesdienstlichen Geschehen«.250 Dabei wird Stille als »Raum des Schweigens« konzeptualisiert, der »dem gehetzten Menschen unserer Tage« erst das richtige Hören des Wortes ermöglicht.251 Auch bei Rainer Volp wird die Stille als Mittel verstanden, den »kontemplativen Charakter von Rede und Musik« hervorzuheben.252 In diesem Sinne fungiert sie also als Kontrastmittel, um dem gesprochenen Wort, aber auch – wie im »epikletischen Schweigen« 253 – der rituellen Geste mehr Präsenz, Resonanz und Autorität zu verleihen. In der katholischen Liturgie wird die Stille vielfach durch ein akustisches Signal eingeleitet – eine Dramaturgie mit starker Wirkung, wie die bei David Morgan zitierte Besucherin einer Messe in Brasilien verdeutlicht: »When the priest says the words of consecration, the altar boy rings a bell. It is at that moment when the Mass was most wonderful for me. The people were quiet. Not a sound. And when the bell rang, you knew you must go to your knees, or bow your head. [. . . ] You knew you were in

249 Allgemein zur Geschichte der Stille im religiösen Kontext vgl. die kongeniale Studie von Diarmaid MacCulloch, Silence. A Christian History, London 2013. Für das 20. Jahrhundert siehe darüber hinaus die Überlegungen von Karsten Lichau, »Noise« or »Silence«. Listening to Sacred Sound in 20th Century Europe, in: Axel Michaels / Christoph Wulf (Hg.), Exploring the Senses. South Asian and European Perspectives on Rituals and Performativity, London / New York / New Delhi 2013, S. 145 – 163. 250 Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 399. 251 Vgl. Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 399. 252 Volp, Kirchenbau und Kirchenraum, S. 505. 253 Vgl. dazu Bieritz, Liturgik, S. 155.

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the presence of something sacred«.254 Das gemeinsame Schweigen konstituiert hier geradezu die »sakrale« Atmosphäre im Raum, die dann durch körperliche Reaktionen – das Knien und Beugen des Kopfes – performativ bestätigt wird. Überhaupt stellt Stille, so Gernot Böhme, eine »Kontrasterfahrung« dar, die bei der »Ingression« – also dem Übergang in einen stillen Raum – besonders deutlich wird: »Man spürt, daß man in die Stille hineingeht wie in eine Nebelwand«.255 Die Konnotation des »Erhabenen«, die sich bei der Erfahrung von Stille in einem großen Raum einstellt,256 macht die Stille im Hinblick auf die Möglichkeit religiöser Erfahrungen bedeutsam. Wie Stille als Bedeutungsgenerator eingesetzt wird, lässt sich aber nicht nur in religiösen Kontexten im engeren Sinne beobachten. Murray Schafer beschreibt die »Ceremonies of Silence«, mit denen in den Ländern des britischen Commonwealth am 11. November um 11 Uhr das Gedenken an die Kriegsopfer begangen wurde.257 1975 habe Yehudi Menuhin als Präsident des International Music Council der UNESCO vorgeschlagen, den Welttag der Musik mit einer Minute des Schweigens zu feiern. Schafer kommentiert: »We are discussing here something much more important than setting time limits on noisy sounds; we are discussing the deliberate celebration of stillness, which, when observed by an entire society together, is breathtakingly magnificent«.258 Der entscheidende Punkt bei Schafers knapper Abhandlung über Praktiken der Stille und des Schweigens ist, dass dieses Schweigen seine erstaunliche Wirkung allein daraus bezieht, dass es ein kollektives Schweigen ist. Es geht eben nicht um die Stille eines einsamen Zimmers, sondern um die soziale Produktion von Stille, die als gemeinsame und gemeinschaftliche Leistung erscheint und wahrgenommen wird.259 Die soziale Produktion von Stille stellt eines der stärksten Mittel kollektiver emotionaler Navigation im Rahmen religiöser Praktiken dar. Rudolf Otto, der 1917 sein Buch über »Das Heilige« vorgelegt hatte, war auch um die liturgischpraktische Umsetzung seiner Vorstellungen bemüht, indem er in der Messe neben der fast ausschließlich geübten Wortverkündigung einen schweigenden Teil vorschlug, bei welchem die Gemeinde die Möglichkeit erhält, zu einem Versenken in die Tiefen und Geheimnisse Gottes und seiner Of-

254 255 256 257 258 259

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Morgan, The Embodied Eye, S. 160. Böhme, Architektur und Atmosphäre, S. 145. Böhme, Architektur und Atmosphäre, S. 145. Schafer, Soundscape, S. 254 – 255. Schafer, Soundscape, S. 254. Zur Schweigeminute vgl. u. a. Karsten Lichau, »The moving, awe-inspiring silence«. Zum »emotionalen Potential« der Schweigeminute, in: Claudia Jarzebowski / Anne Kwaschik (Hg.), Performing Emotions. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Politik und Emotion in der Frühen Neuzeit und in der Moderne, Göttingen 2013, S. 69 – 72.

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fenbarung vorzudringen. Das anbetende Versenktsein nimmt hier sakramentalen Charakter an und führt zur Einigung in der Gegenwart Gottes.260

In Anlehnung an die liturgischen Ideen Ottos hat die Theologin Katharina Wiefel-Jenner einen »Versuch, einen Gottesdienst am 2. Adventssonntag zu beschreiben«, verfasst und dabei insbesondere den Aspekt der akustischen Regie betont. Über die Schlussequenz des Gottesdienstes schreibt sie in ihrem atmosphärisch-suggestiven Text: Den begierig jedes Wort aufsaugenden Männern, Frauen und Kindern gibt der Diakon das Signal, sich auf den Knien ganz dem Schweigen zu überlassen. Der Herr ist in seinem heiligen Tempel, es sei stille vor ihm alle Welt. Die ganze Gemeinde, Prediger, Diakon, Chor, Frauen, Männer, Kinder versinken im Schweigen. Die Stille füllt jeden Winkel der Kirche. Scheinbar weitet sich der Raum, und die roten Kirchenmauern umgeben nur noch von ferne die Gottesdienstbesucher. Immer mehr verdichtet sich die Stille. Die verschiedenen Rhythmen des Atmens gleichen sich einander an. Das Gebet der einen, die Betrachtung der anderen mit geschlossenen Augen, die ununterbrochene Klage jenes, schließen sich zusammen mit dem alles Denken verlassenden Suchen einiger auf den Knien. Das Schweigen wird konzentrierter, es wächst fast unmerklich eine wortlose Gemeinschaft. Die Stille bindet alles im Raum zusammen. Die Gemeinschaft öffnet sich und wirbt um Gottes Nähe. Nach unmeßbar scheinenden Minuten des Schweigens, deren Ende von manchen als zu früh empfunden, von anderen herbeigesehnt wurde, klingt ein heller Ton. Die Gebetsglocke schlägt drei Mal, alle erheben sich von ihren Knien und bringen ihre sprachlose Gemeinschaft des Schweigens in die Worte des Vaterunsers. Die Orgel spielt in alter Weise vor, der Prediger stimmt den Gesang an, die Kirchenglocke läutet, und die ganze Gemeinde singt wie aus einem Munde das Gebet Jesu. Und weil das Lob Gottes nach der erfahrenen Gemeinschaft des Schweigens nicht ausreicht, wiederholt der Chor vielstimmig den Lobpreis des Vaterunsers. Nach dem Amen, das die ganze Kirche durchdringt, wendet sich der Prediger ein letztes Mal mit dem Gruß Der Herr sei mit euch an seine Gemeinde, die ihm gewohnt antwortet Und mit deinem Geist.261

260 Kahle, Deutsche Kirchenbaukunst, S. 12. Vgl. dazu auch Katharina Wiefel-Jenner, Rudolf Ottos Liturgik (Veröffentlichungen zur Liturgik, Hymnologie und theologischen Kirchenmusikforschung 31), Göttingen 1997. 261 Wiefel-Jenner, Rudolf Ottos Liturgik, S. 28 – 29.

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Diese Beschreibung stellt eine klare Verbindung zwischen dem akustischen Ereignis der Stille und einer im kollektiven, konzentrierten Schweigen entstehenden »Gemeinschaft« her; 262 die Stille konstituiert einen »shared moment«.263 Hier wird deutlich, wie die akustische Regie des Gottesdienstes darauf abzielt, Vielstimmigkeit und Diversität zu unterbinden und ein Kollektiv zu formieren, das »wie aus einem Munde« gemeinsam atmet, gemeinsam spricht, gemeinsam singt und gemeinsam schweigt. Diese – wie man sagen könnte – »respirative Vergemeinschaftung« ist ausgesprochen wirkungsvoll; Theodor W. Adorno hat ihr am Beispiel des Chorgesangs in seinen musiksoziologischen Arbeiten einen ideologischen Effekt und eine Nähe zum »falschen Bewusstsein« attestiert, der darin bestehe, dass bereits der Chorklang als solcher, wenn er nicht mit aller kompositorischen Kraft durchgeformt ist, etwas Illusionäres in sich enthält; den fatalen Anschein einer sogenannten heilen, geborgenen Welt inmitten der ganz anderen hervorbringt. Die Tendenz dazu liegt im Chormaterial. Allzuleicht macht es den Einzelnen glauben, in Einverständnis und Harmonie von Mensch zu Mensch aufgehoben zu sein, wie sie in der Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft nicht vorhanden sind.264

Ähnlich – und in der Schlussfolgerung noch härter – urteilt Günther Anders in seinen »Ketzereien« unter der Überschrift »Im Rundfunk Gabrieli«: »Chormusik, vor allem a capella-Gesang, gaukelt uns eine angeblich harmonische Gemeinschaft vor, die es nirgendwo gibt, gegeben hat, geben wird. [. . . ] Im Namen der Wahrhaftigkeit: hindert Eure Kinder daran, in Chören mitzusingen«.265 Beide Autoren haben ihre Verdikte über Chormusik und Chorgesang vor dem Hintergrund einer zeitgeschichtlichen Gesellschaftsdiagnose ausgesprochen. Vor allem die romantische Chormusik erinnerte sie an die ästhetische Formierung von Kollektivität im Nationalsozialismus, bei der das im Chor gesungene »deutsche Volkslied« eine wichtige Rolle spielte, und nur die kompositorisch durchorganisierte und sich dem Wohlklang verweigernde Chormusik der Wiener Moderne erschien ihnen als adäquates Mittel gegen die Ideologieanfälligkeit des gemeinsamen Singens.266

262 Vgl. dazu auch den Bericht von Alfred Ehrensperger, Erfahrungen mit Schweigen und Stille im Horizont des Gottesdienstes, in: Liturgisches Jahrbuch 1996, S. 139 – 157. 263 Morgan, The Embodied Eye, S. 162. 264 Theodor W. Adorno, Chormusik und falsches Bewußtsein, in: Ders., Gesammelte Schriften Band 18: Musikalische Schriften V, Frankfurt am Main 1997, S. 813 – 814, hier S. 814. 265 Günther Anders, Ketzereien, München 1996, S. 159 – 160. 266 Eine ideologiekritische Aufarbeitung christlicher Vokalmusik leistet – mit diversen Beiträgen zum Kontext der deutschreligiösen Bewegung und des Nationalsozialis-

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Man muss indessen nicht der von Adorno und Anders formulierten Ideologiekritik folgen, um zu sehen, dass die respirative Vergemeinschaftung im Kontext verschiedenster Rituale und Events überaus wirkungsvolle Effekte haben kann – vom Gottesdienst bis hin zu Fangesängen im Fußballstadion. David Plüss hat beschrieben, wie das gemeinsame Singen im Gottesdienst dazu beiträgt, die Gemeinde als Kollektiv zu konstituieren: Durch den Gesang des ersten Liedes wird die Gemeinde erst zur Gemeinde, stimmen die Einzelnen in den gemeinsamen Klangraum ein. Sie stimmen ein und werden zugleich eingestimmt, durch den kollektiven Klangraum gelockt und in ihn hineingezogen. Das eigene Singen verwebt sich mit dem gemeinsamen Gesang, was beim mehrstimmigen Singen besonders eindrücklich wahrnehmbar wird. Ich höre von innen die eigene Stimme und von aussen die Stimmen um mich herum sowie die Begleitung durch die Orgel bzw. durch andere Instrumente. Der Gemeindegesang wird dadurch zu einem intensiven körperlichen und kollektiven Klangerlebnis. Wie in der gestischen Kommunikation werden singenderweise Sozialität und Individualität verschränkt und als ineinander übergehende Grössen mit jeweils offenen Grenzen wahrnehmbar.267

Wichtig erscheint im vorliegenden Zusammenhang vor allem der Befund, dass es sich sowohl beim gemeinsamen Singen wie bei der gemeinsam produzierten Stille um spezifische Körperpraktiken und Körpertechniken handelt, über welche die situative und temporäre Gemeinschaft hergestellt wird. Da das Hören schon insofern ein »Gemeinschaftssinn« ist, als »eine leibliche Anwesenheit der Hörer_innenschaft die Grundbedingung für deren akustische Wahrnehmung darstellt«,268 liegt es nahe, gerade diesem Sinn eine besondere Funktion

mus – der Sammelband Richard Faber (Hg.), Säkularisierung und Resakralisierung: Zur Geschichte des Kirchenlieds und seiner Rezeption, Würzburg 2001. 267 Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung, S. 217. In einem polemischen Sachbuch hat der Kirchenmusiker Thomas Day argumentiert, dass das gemeinsame Singen in erster Linie in der protestantischen Traditionslinie liegt und dass Musik und Gesang demgegenüber weitaus weniger selbstverständlich in die katholische Liturgie eingebunden sind. Vgl. Thomas Day, Why Catholics can’t Sing. The Culture of Catholicism and the Triumph of Bad Taste, New York 1991. Für eine konkrete empirische Fallstudie vgl. Klaus Danzeglocke / Andreas Heye / Stephan A. Reinke / Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Singen im Gottesdienst. Ergebnisse und Deutungen einer empirischen Untersuchung in evangelischen Gemeinden, Gütersloh 2011. 268 Lydia Maria Arantes, Kulturanthropologie und Wahrnehmung. Zur Sinnlichkeit in Feld und Forschung, in: Dies./Elisa Rieger (Hg.), Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen, Bielefeld 2014, S. 23 – 38, hier S. 26, Anm. 14.

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für kollektive Wahrnehmungsprozesse zu unterstellen. Der von Wiefel-Jenner beschriebene Übergang von der »Gemeinschaft des Schweigens« in das »Wort des Vaterunsers« ist ein Vorgang, der nur durch körperliche Akkordierung von Atmen und Sprechen zustandekommt; das hier ermöglichte emotionale Erlebnis ist eines, das wesentlich mit der Erfahrung zu tun hat, dass der eigene individuelle Körper aufgeht in einer kollektiven Gestik. Gleichzeitig bedarf es einer habituellen Disposition der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher, derartige emotionale Erlebnisse zu suchen, mitzutragen und als bedeutungsgenerierend wahrzunehmen. Hier ist an die von Andreas Reckwitz betonten »perfect matches between atmospheres and sensitivities« zu erinnern, die ihn zu seinem Konzept des »affective habitus« geführt haben.269 Dieser affektive Habitus kann erklären, wer sich in immer wiederkehrenden Routinen des Fühlens und Wahrnehmens in bestimmten Räumen zusammenfindet, um bestimmte emotionale Erlebnisse zu generieren. Es ist keineswegs die Atmosphäre oder der »Klangraum« allein, die Kollektivität herstellen, sondern es gibt einen der konkreten Situation vorgängigen praktischen sozialen Sinn, der dafür sorgt, dass hier eine »Gemeinde« zusammenkommt, die ähnliche Modi der religiösen und sozialen Selbstartikulation teilt. Dieser Frage nach dem sozialen Profil von Gottesdienstbesucherinnen und – besuchern in sozialräumlich verschieden zugeschnittenen und mit unterschiedlicher sozialer Reichweite ausgestatteten Kirchengemeinden wäre in konkreten ethnographischen Untersuchungen nachzugehen; eine detaillierte Kirchenraumanalyse bedarf solcher qualitativer Daten. Der vorliegende raumtheoretische Grundriss muss sich dagegen darauf beschränken, das theoretische framework für die Untersuchung von »affective spaces« bereitzustellen und die Bedeutung des Habitusbegriffs für das Verständnis des Handlungsraums Kirche herauszuarbeiten. Im folgenden abschließenden Kapitel dieser Untersuchung wird darauf nochmals systematisch eingegangen werden. In den 1980er Jahren hat der Komponist Luigi Nono mehrere Versionen seines für den Kirchenraum der säkularisierten Kirche S. Lorenzo in Venedig konzipierten Werkes »Prometeo« vorgestellt. Darin setzt er sich insbesondere mit der Stille auseinander und inszeniert verschiedene akustische Phänomene von Stille, die er im Kirchenraum vorfindet: »Jetzt fühle ich mich, als wäre mein Kopf San Lorenzo. . . Ich fühle, dass ich ihn in Besitz nehme und suche auch, mich von ihm in Besitz nehmen zu lassen[,] vom Raum der Kirche San Lorenzo und ihren Stillen. . . und indem ich alles höre, versuche ich, die Klänge zu finden, die diesen Raum und diese Stillen deuten und entdecken können«.270 Dass

269 Reckwitz, Affective Spaces, S. 255. 270 Zit. nach Regine Elzenheimer, Pause. Schweigen. Stille. Dramaturgien der Abwesenheit im postdramatischen Musik-Theater, Würzburg 2008, S. 157.

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beim »Paradigmenwechsel vom Klang zur Stille« 271 in der Musik der Moderne der Kirchenraum als Aufführungsort eine wichtige Rolle gespielt hat, verweist auf den besonderen Konnex zwischen Kirchenraum und Stille, auf die Disposition des Raums zur Produktion von Stille – oder sogar pluraler »Stillen« unterschiedlicher Qualität –, die mit den akustischen Verhältnissen mittelalterlicher, barocker oder moderner Kirchenbauten zu tun hat, aber auch mit ihrer Wahrnehmung und Nutzung als »spirituelle« Räume. In einer Reihe relativ neuartiger Andachtsräume in der Stadt wird dieses Motiv der Stille dezidiert aufgegriffen, nämlich in den sogenannten »Räumen der Stille«, wie sie an transitorischen Orten wie Flughäfen und Bahnhöfen, aber auch an verschiedenen zentralen Orten in der Stadt oder auch in Krankenhäusern und Pflegeheimen eingerichtet wurden. Hier ist die Stille weniger ein kollektives Produkt als im Rahmen der Liturgie; vielmehr sind diese Räume für die kurze individuelle »innere Einkehr« konzipiert und gehen in ihrer sozialen Funktion auch über religiöse Praxis hinaus. Meditationsorte dieser Art reagieren auf die zeitkritische Diagnose, dass – wie die Liturgiekommission der deutschen Bischofskonferenz meint – die Menschen der späten Moderne mit wirklicher Stille nicht mehr umgehen können.272 »Räume der Stille« entsprechen in diesem Sinne dem »Wunsch nach Ruhe, Einkehr und der Abwendung vom schnelllebigen und oft durch Geräusche dominierten Alltag«.273 In »meditativen Gottesdiensten« wird darüber hinaus versucht, neue Möglichkeiten des Hörens auszuloten, wie es Wolfgang J. Bittner in seiner theologischen Anleitung zum »Hören in der Stille« nahelegt.274 Eine »Kirche der Stille« wie sie z. B. in der Christophoruskirche in der Hamburger Helenenstraße eingerichtet worden ist,275 versteht sich weniger als Kirche im eigentlichen Sinne denn vielmehr als offener Ort für das Innehalten und Zu-Sich-Selbst-Kommen. Die relative Popularität dieser Angebote, für einen Moment aus dem Alltag »auszusteigen« und z. B. einen Teil der Mittagspause meditativ zu verbringen, verweist auf die Diversifikation des Religiösen oder »Spirituellen«, das sich vielfach von der klassischen Liturgie wie von den dort vermittelten theologischen Botschaften gelöst hat.276 Meditation und meditative Spiritualität sind zum Teil eines Lebensstils gewor-

271 Martin Zenck, Dal niente – Vom Verlöschen der Musik. Zum Paradigmenwechsel vom Klang zur Stille in der Musik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, in: MusikTexte 55 (August 1994), S. 15 – 21. 272 Vgl. Katharina Engelke, Zwischen Sakralität und Stille. Eine empirische Untersuchung zum Raum der Stille im Hildesheimer Klinikum, Berlin 2013, S. 22. 273 Engelke, Zwischen Sakralität und Stille, S. 22. 274 Vgl. Bittner, Hören in der Stille. 275 Irmgard Nauck / Anne Gidion, Der Stille Raum geben. Ein Weg der Kirche im 21. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 2012. 276 Zu »neuen religiösen Räumen« in diesem Sinne vgl. auch Stephanie Duttweiler, Missionierende Räume? Neue religiöse Räume als Medien religiösen Wandels,

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den. Auch dieser Einsatz der Stille als Medium von Praktiken der Meditation oder »inneren Einkehr« macht deutlich, dass allen räumlich gebundenen Atmosphären bestimmte, zu diesen Atmosphären »passende« emotionale Praktiken zugrundeliegen und dass »sakrale« Raumqualitäten nie isoliert, sondern nur im Zusammenhang mit diesen Praktiken angemessen untersucht werden können.

Christmette in St. Stephan: Ein Protokoll Am späten Abend des 24. Dezember 2014 gehe ich in Richtung des Doms St. Stephan am Stephansplatz, um die Mitternachtsmette zu besuchen.277 Von der Messe an Heiligabend verspreche ich mir einen besonderen Einblick in die »emotionale Dramaturgie« 278 des Gottesdienstes, insbesondere in den Einsatz aller sinnlichen Register eines Kirchenraums wie der gotischen Kathedrale St. Stephan. Interessant ist dieser prominente Kirchenraum auch insofern, als hier nicht nur eine lokale Kirchengemeinde, sondern insbesondere an hohen Feiertagen ein sehr gemischtes und auch internationales Publikum zusammenkommt. Was also geschieht hier im liturgischen Ablauf ? Was ist dabei über die »atmosphärischen« Raumqualitäten zu sagen? Wie insbesondere wirkt sich das »soundscape« auf die Raumerfahrung aus? Wenn man sich am späten Weihnachtsabend dem Stephansplatz nähert, sind von überall her die Kirchenglocken zu hören. Ich gehe durch die Kärntner Straße, höre Geläut insbesondere aus Richtung Nordwesten, wo im näheren Umkreis Kapuzinerkirche, Michaelerkirche und Augustinerkirche sowie die beiden protestantischen Kirchen in der Dorotheergasse liegen. Von St. Stephan läutet die »Pummerin«, die nur zu bestimmten Feiertagen zum Einsatz kommt. Die Straßen der Fußgängerzone im Ersten Bezirk sind belebt, an der Ecke zur Singerstraße intoniert ein Straßengeiger »Jingle Bells« und versieht das Lied mit improvisierten Variationen. Am »Riesentor«, dem Westportal der Stephanskirche, steht Sicherheitspersonal der Gemeinde mit umgehängten Dienstmarken; zahlreiche Menschen drängen zur Kirche. Beim Eintritt in den Dom wechselt – nach einem kurzen fließenden Übergang im Atrium – der akustische Bezugsraum: Die Straßengeräusche verschwinden, ich tauche ein in einen weiten Klangraum, in dem leise Unterhaltungen zu einem kollektiven gedämpften Geräusch verschmelzen. Meine gespannte Aufmerksamkeit richtet sich insbe-

in: Hannah Katharina Göbel / Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld 2015, S. 195 – 218. 277 Die folgende Skizze folgt meinen Forschungsnotizen vom 24. Dezember 2014. 278 Regine Herbrik / Hubert Knoblauch, Die Emotionalisierung der Religion, in: Gunter Gebauer / Markus Edler (Hg.), Sprachen der Emotion. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Frankfurt am Main 2014, S. 192 – 210, hier S. 199.

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sondere auf diesen Klangraum, und sofort kommen mir die Formulierungen aus den Studien zur Klangforschung in den Sinn, die ich wenige Tage zuvor durchgesehen habe: etwa Kurt Blaukopfs Beobachtung, der Kirchenbesucher einer gotischen Kathedrale »hat nicht das Empfinden, dem Klanggeschehen gegenüberzustehen [. . . ], sondern er wird vom Klang eingehüllt«.279 Oder, wie Schafer sagt: »The voices seem to issue from no point but suffuse the building like perfume«.280 Von irgendwo oben hört man nun das Ausklingen der »Pummerin«, dennoch kommt im Kirchenschiff keine Ruhe auf, denn es herrscht eine ständige Vorwärtsbewegung im Raum, vom relativ dunklen Bereich des Westwerks in Richtung des erleuchteten Hochaltars, wo der Gottesdienst zelebriert werden wird. Zwar sind im hinteren Teil des Kirchenschiffs vier große Bildschirme angebracht, über die das Geschehen im Presbyterium übertragen wird, dennoch geht es erst einmal darum, im überfüllten Raum möglichst weit nach vorne zu gelangen. Die überaus zahlreichen Besucherinnen und Besucher versuchen, die Position ihrer Stehplätze zu verbessern und werden in ihrer Bewegung gleichsam vom Licht nach vorne geführt; auch ich nutze jede Bewegung der Menge, um mich weiter nach vorne durchzuschieben. Einen Sitzplatz in den wenigen Bänken des Schiffs erhält man um diese Zeit – wenige Minuten vor zwölf Uhr – nicht mehr. Etwa in der Mitte des Schiffs angelangt, warte ich gespannt auf den Beginn der Messe. Kurz nach Mitternacht. Die seitlich postierte große Pfeifenorgel leitet mit mächtigen Akkorden den Gottesdienst ein, es folgt das Eröffnungslied »Jauchzet, ihr Himmel, frohlocket ihr Enden der Erden«. Die Liturgie wird vom zelebrierenden Priester vornehmlich gesungen, wobei die verwendeten modalen Skalen bzw. Kirchentonarten einen im Gegensatz zur gewohnten modernen Dur-Moll-Tonalität »archaischen« Eindruck erwecken – ein Effekt, der unter anderem beim zunehmend beliebten Einsatz des Gregorianischen Chorals genutzt wird. Die Messe wird von einem Blechbläserensemble begleitet, dessen klar definierte Töne die sehr schwammige und wattige Akustik des Raumes ausgleichen; zwischendurch singt ein kleiner Chor klassische Weihnachtslieder, die klingen, als kämen sie aus der Tiefe des Raumes, schwer lokalisierbar und doch gut zu hören. An den Schlüsselstellen des liturgischen Ablaufs kommt Weihrauch zum Einsatz, der die Geruchskulisse bestimmt und sich wie leichter Nebel vor das Licht der im Kirchenschiff aufgehängten Lüster und der seitlich angebrachten Strahler legt. St. Stephan ist keine beschauliche Dorfkirche, sondern ein metropolitanes Gotteshaus, in dem ein Gottesdienst immer auch zu einem großformatigen Event wird. So werden die Worte und Gesänge des Priesters am Altar nicht nur unmittelbar verfolgt, sondern auch in ihren medialen Abbildern: Die Got279 Blaukopf, Raumakustische Probleme der Musiksoziologie, S. 241. 280 Schafer, Soundscape, S. 118.

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tesdienstbesucherInnen im hinteren Teil der Kirche verfolgen die Zelebration auf den vier Bildschirmen, gleichzeitig werden zahlreiche Mobiltelefone in die Höhe gehalten, um Fotos und Filmaufnahmen zu machen. Darüber hinaus wird die Christmette auch über »Radio Stephansdom« auf der Frequenz 107,3 live übertragen. Die Atmosphäre ist im vorderen Bereich eher gespannt und gedämpft, weiter hinten im Kirchenschiff aber unruhig: Durch das Hinund Hergehen einiger BesucherInnen entsteht zwischen den Stehenden eine stete Bewegung; das Sprechen und Singen des Priesters ist unterlegt durch eine beständig raunende Geräuschkulisse. Der Charakter des Gottesdiensts als »Massenevent« zeigt sich auch in der Lockerung der Sitzdisziplin: Einige – vorwiegend junge – BesucherInnen haben auf den Marmorbalustraden um die zwischen Hauptschiff und Seitenschiffen positionierten Altäre Platz genommen. Dieses legere Sitzen stört anscheinend niemanden; es wird akzeptiert, weil die konzentrierte Atmosphäre des Gottesdienstes durch die Vielzahl der BesucherInnen ohnehin gesprengt ist. Ich selbst bemerke diese relative Freiheit auch daran, dass ich ungestört in mein Notizbuch schreiben kann, während ich mitten im Langhaus stehe und dem Gottesdienst folge. Mein spontaner Eindruck: In einer kleineren Kirche und einer intimeren Gottesdienstsituation wäre das kaum möglich, ohne missbilligend angesehen oder gar zurechtgewiesen zu werden. In diesem Sinne ist hier weniger die soziale Kontrolle eines geschlossenen Gemeinderaums zu spüren, sondern vielmehr die relative Anonymität einer Großstadtkirche mit dem Charakter eines öffentlichen Raums. Mitten in der stehenden Menschenmenge überlege ich kurz, ob wohl die Gottesdienste des späten Mittelalters – vor der Einführung des festen Kirchengestühls – einen ähnlichen Charakter hatten, komme aber angesichts der Bildschirmübertragungen und der filmenden Mobiltelefone bald wieder von dem Gedanken ab. Auch meine Annahme, dass sich hier – vermittelt über den Kirchenraum – ein Kollektiv formiert, muss ich in diesem konkreten Fall stark relativieren: Ich habe eher den Eindruck, dass das Angebot dieses Gottesdienstes doch recht individuell und auch unterschiedlich genutzt werden kann und auch genutzt wird, bis hin zum Charakter des Gesamtereignisses als »Religiotainment«.281 Dem liturgischen Ablauf folgen nicht alle Anwesenden aufmerksam, dennoch entsteht bei den Responsionen der Gemeinde ein sehr gleichförmiges Sprechgeräusch, das sich im Gewölbe bricht. Wenn ich nicht wüsste, dass auf »Der Herr sei mit Euch« gesprochen wird »Und mit Deinem Geiste«, würde ich diese Worte nicht sofort verstehen. Ich spreche einige wenige Teile der Gemeindemesse mit, meistens aber höre ich nur zu. Vor allem aber singe ich die Weihnachtslieder mit: »Es ist ein Ros entsprungen«, »Zu Betlehem geboren« und – nach dem Schlusssegen – »Stille Nacht«. Auf diesen Moment habe ich gewartet: Sukzessive werden die Lichter gelöscht, einer der 281 Diesen Begriff benutzt z. B. Meyer, Die Ironie Gottes.

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großen Lüster nach dem anderen wird abgedreht. Licht geben nun nur noch die kleinen Strahler, während die Orgel mit breitem Klang das Lied intoniert. Die Wirkung des Verdunkelns ist enorm. Wenn man sich auf den Moment einlässt, wenn man mitsingt, dann schwimmt man tatsächlich für ein paar Minuten mit im großen Ganzen. Ich denke nach über das Mitsingen als Selbsttechnologie, als emotionale Praktik: Will ich hier einen besonderen emotionalen Moment für mich erzielen, indem ich singe? Ist es der heimliche Wunsch, trotz aller Distanz doch irgendwie Teil dieses Ganzen zu sein? Oder singe ich in diesem Moment einfach nur gerne? Die schwammige Akustik des Raumes schluckt viel von dem Gemeindegesang, und trotzdem entsteht gerade dadurch die besondere Wirkung: Der Raum verzeiht zahllose falsche Töne und Intonationen, er transformiert den Gesang in ein mehr oder weniger homogenes »Singgeräusch«, das in den halbdunklen Kirchenraum hinein flutet und vom Gewölbe wieder zurückgetragen wird. Nur wenige lesen den Text beim Singen auf dem ausgegebenen Liedblatt nach, die Zeilen können die meisten auswendig. Nach der dritten Strophe und der wiederholten Zeile »Christ, der Retter, ist da« folgt unmittelbar ein spannungsgeladener, teilweise wild dissonanter Sturm der Orgel, bis der Organist nach ein paar Minuten auf dem überlang ausgehaltenen Tonikaakkord endet. Die Umstehenden applaudieren dem sein Notenbuch zuklappenden Organisten, während sich die Menschenmenge langsam hinausschiebt. Im Bereich der Sitzbänke – näher am Altar – wird noch konzentriert (oder andächtig) geschwiegen, vor dem Gitter wird dann schon angeregt geplaudert. Die Christmette in St. Stephan ist zu Ende, aus dem dämmerigen, von Weihrauch durchzogenen Kirchenraum trete ich hinaus in die klare Nachtluft.

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6. DER KIRCHENRAUM ALS MATERIELLER RAUM PRAXISTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN Die Materialität religiöser Praktiken: Zum Diskussionsstand Das vorliegende Kapitel liefert in vielerlei Hinsicht einen zusammenfassenden Analyserahmen für verschiedene Aspekte, die bereits in bisherigen Abschnitten dieser Arbeit behandelt worden sind. Es geht hier ganz grundsätzlich um das Problem, wie Praktiken, Räume und raumkonstituierende Dinge zusammenhängen. Dieses Problem impliziert eine doppelte Frage: Inwiefern sind Praktiken konstitutiv für Räume? Und inwiefern sind umgekehrt Räume konstitutiv für Praktiken? In diesem Sinne gehen die folgenden Überlegungen noch einmal systematisch der Hypothese nach, dass sich religiöse und nicht-religiöse Praktiken im Kirchenraum nur im Zusammenhang mit ihrem materiellen Setting verstehen lassen. Dabei werden einerseits der Körper als Ankerpunkt einer praxeologischen Auseinandersetzung mit dem Kirchenraum, andererseits die Dinge und Artefakte als »Aktanten« religiöser Handlungsnetzwerke beleuchtet. Gleichzeitig ist hier auch der Ort für eine grundlegende Reflexion der neueren kulturtheoretischen Entwicklung, die systematisch auf eine neue Einbeziehung des Materiellen zielt.1 Welche Bedeutung hat die Rede von der »Materialität« in der neueren kulturtheoretischen Diskussion? Andreas Reckwitz hat in seinen Abrissen zur Entwicklung der Kulturtheorien konstatiert, dass hier vor allem zwei grundlegende Bedeutungen des Materiellen im Spiel sind: Zum einen geht es um den Befund, dass soziale und kulturelle Muster inkorporiert, also in Form von routinisierten Praktiken die Körper eingelassen sind. Zum anderen geht es um den vor allem durch die Arbeiten Bruno Latours neu in die Diskussion eingebrachten Stellenwert der Dinge und Artefakte.2 Aus diesem Grund spricht Reckwitz von einer »doppelten Materialität«, die in der neueren Kultur- und Praxistheorie reflektiert wird: »Die soziale Ordnung und Reproduktion kann nur dann

1 Für eine grundlegende Diskussion praxistheoretischer Ansätze zur Analyse religiöser Praktiken vgl. Frank Hillebrandt, Die Soziologie der Praxis und die Religion – ein Theorievorschlag, in: Anna Daniel u. a. (Hg.), Doing Modernity – Doing Religion, Wiesbaden 2012, S. 25 – 57. Siehe auch Hillebrandts nützlichen Band Ders., Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2014. 2 Vgl. dazu seine Arbeiten, die sich mit der Transformation des kulturtheoretischen Feldes hin zu einer umfassenden »Materialisierung des Kulturellen« befassen: Reckwitz, Der Ort des Materiellen; Ders., Subjekt, Bielefeld 2008, S. 106 – 120; Ders., Die Materialisierung der Kultur. Für den generellen Rahmen der Theorieentwicklung vgl. Ders., Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000.

adäquat verstanden werden, wenn man ihre doppelte Materialität berücksichtigt: ein Verstehen, das sowohl in den menschlichen Körpern inkorporiert als auch in den Artefakten materialisiert ist«.3 Wenn also die Kulturtheorien im Anschluss an den »Cultural Turn« der 1980er Jahre dem Grundgedanken einer »sinnhaften, symbolischen oder semiotisch-differenziellen Konstitution der Wirklichkeit« gefolgt sind,4 dann ergibt sich seit der systematischen Berücksichtigung der materiellen Dimension im Sinne eines »Material Turn« ein neues Bild: Die sozial-kulturelle Welt ist demnach nicht nur symbolisch konstruiert, sondern sie ist »›immer schon‹ durch mediale Technologien, durch Artefaktkonstellationen, durch räumliche Arrangement[s] sowie durch Affiziertheiten und Affizierungen strukturiert« und erhält nur so ihre Form [. . . ]. Die sinnhafte Welt der Materialitäten, Codes, Wissensformen und Repräsentationen ist in der sozialen Praxis notwendig verkettet mit Entitäten, die immer auch interpretiert werden, deren Entstehung zweifellos immer von kulturellen Schemata abhängt, die aber, einmal in die Welt gesetzt, eine Faktizität erlangen, welche sich strukturierend auf die soziale Praxis auswirkt.5

Damit verbunden ist eine gewisse Revision des klassischen Akteursbegriffs. Denn wenn es in der ethnographischen und kulturanalytischen Forschung um materielle Praktiken in dem oben skizzierten Sinn geht, dann verlieren Akteure tendenziell ihren Status als epistemologisches Zentrum und Fokus der Analyse. In den Blick kommen komplexe Zusammenhänge und Verschränkungen, die über den Akteursbegriff nicht aufzulösen sind, wie Stefan Hirschauer betont: Löst man sich von einer akteurszentrierten Perspektive, gewinnt man völlig neue Beschreibungsmöglichkeiten für soziale Phänomene, deren Entfaltung auch ein je eigenes Theoriepotenzial bereithält. Ein wesentlicher theoriestrategischer Vorzug der Rede von Praktiken besteht dabei darin, einerseits nicht nur eine Beschränkung auf Menschen, sondern überhaupt jede Reifikation von »Aktanten« zu vermeiden, sie aber auch andererseits als unvermeidlich eingeschlossen in den Vollzug sozialer Phänomene zu betrachten. Personen, Artefakte und Körper mögen Umwelt sozialer Systeme sein, sozialen Praktiken sind sie inhärent. 6

Die hier in aller Kürze angerissene Theorieperspektive hat sich in vielen Forschungsrichtungen und disziplinären Kontexten schnell durchgesetzt, in denen die Fokussierung auf materielle Kultur sowie die Körper- und Artefaktgebundenheit sozialer Praktiken ohnehin schon common sense war, so etwa in der Soziologie, Ethnologie, Empirischen Kulturwissenschaft, Archäologie oder 3 4 5 6

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Reckwitz, Der Ort des Materiellen, S. 155. Reckwitz, Die Materialisierung der Kultur, S. 29. Reckwitz, Die Materialisierung der Kultur, S. 33. Hirschauer, Praktiken und ihre Körper, S. 88 – 89.

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Theaterwissenschaft.7 In anderen klassischen Geisteswissenschaften stand ihr eine gewisse Fixierung auf die textuelle und kognitive Verfasstheit von »Kultur« entgegen; ganz besonders gilt das, wie Peter J. Bräunlein hervorhebt, für die Auseinandersetzung mit Religion aus theologischer und religionswissenschaftlicher Sicht. Denn Religionswissenschaftler richteten ihre Blicke zunächst und bevorzugt nach Innen oder himmelwärts. Gesucht wurde Jenseitiges, schwer Fassbares mit der Geschmacksrichtung »heilig«. [. . . ] Nie war es das materielle Objekt, das interessierte, sondern steht der daran haftende Heiligenschein. Es waren die »letzten Dinge«, für die die Religionswissenschaft Zuständigkeit beanspruchte.8

Auf diese Weise betrieb die »religionsphänomenologisch« orientierte Religionswissenschaft »systematisch die Entmaterialisierung der dinglichen Welt«.9 Auch Arbeiten zur volkskundlichen Frömmigkeitsforschung sowie in der Europäischen Ethnologie angesiedelte Untersuchungen zur popularen Religiosität, die sich durchaus intensiv mit religiöser Sachkultur auseinandersetzen, haben sich bisher nur selten einer konsequent praxeologischen Sichtweise verschrieben. Erst in den letzten Jahrzehnten – so die Ethnologin Inken Prohl – wuchs innerhalb der deutschsprachigen Religionswissenschaft sowie innerhalb der internationalen Religious Studies die Kritik daran, dass sich die Erforschung von Religionen unverhältnismäßig stark auf ihre verbalen Formen und auf die Exegese von Schriften stützt. Vor dem Hintergrund der praxistheoretischen Umwälzungen in den Kulturwissenschaften verbreitete sich in der Religionsforschung die Überlegung, dass die symbolischen Ordnungen, Diskurse und Wissensstrukturen, die vielfach als Basis von Religion gelten, nur existieren und ihre Wirkung entfalten können, wenn sie sich in sozialen Praktiken, Artefakten und spezifischen Räumen »materialisieren«.10

7 Für einen Überblick vgl. das instruktive neue Handbuch zum Thema: Stefanie Samida / Manfred K.H. Eggert / Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Kontexte, Disziplinen, Stuttgart 2014. 8 Bräunlein, »Zurück zu den Sachen!«, S. 7 – 8. 9 Bräunlein, »Zurück zu den Sachen!«, S. 9. Zur Rolle der Materialität von Religion in der ethnologischen und religionswissenschaftlichen Forschung vgl. neuerdings auch Ders., Die materielle Seite des Religiösen. Perspektiven der Religionswissenschaft und Ethnologie, in: Uta Karstein / Thomas Schmidt-Lux (Hg.), Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen. Wiesbaden 2017, S. 25 – 48. Die neuere soziologische Diskussion zum Thema beleuchten im gleichen Sammelband Uta Karstein / Thomas Schmidt-Lux, Die materiale Seite des Religiösen. Soziologische Perspektiven und Ausblicke, in: Dies. (Hg.), Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen. Wiesbaden 2017, S. 3 – 22. 10 Prohl, Religionswissenschaft, S. 332.

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In diesem Sinne ist das interdisziplinäre Interesse an der materiellen Dimension religiöser Praxis sprunghaft gestiegen.11 So schreibt Matthew Engelke in einem neueren Forschungsüberblick zum Thema: »All religion has to be understood in relation to the media of its materiality«.12 Im Schnittfeld von Religionswissenschaft, Ethnologie und Soziologie ist in den letzten Jahren ein Forschungsansatz begründet und weiterentwickelt worden, der Praxistheorie und ein fundamentales Interesse an der Materialität des Sozialen mit der Frage nach Religion und religiösen Praktiken verbindet. Im Januar 2005 erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift »Material Religion«, derzeit herausgegeben von Birgit Meyer, David Morgan und Crispin Paine. Im »Editorial Statement« dieser Ausgabe wird die Zeitschrift annonciert als »a new project in the study of religious images, objects, spaces, and material practices«.13 Das Interesse liegt, so die HerausgeberInnen, in recognizing just how deeply dependent religious identity and experience are on the material stuff and ordinary practices of belief. Religion is not considered a merely abstract engagement in doctrine or dogma, nor a rote recitation of creeds and mantras. In other words, religion is not regarded as something one does with speech or reason alone, but with the body and the space it inhabits. Religion is about the sensual effects of walking, eating, meditating, making pilgrimage, and performing even the most mundane of ritual acts. Religion is what people do with material things and places, and how these structure and color experience and one’s sense of oneself and others.14

Was folgt nun aus einer solchen, auf die Materialität des Kulturellen orientierten Perspektive auf Religion? In methodologischer Hinsicht verändert sich die Datenbasis religionswissenschaftlicher, religionsethnologischer und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen zum Thema. Die Bedeutungsebenen von

11 Vgl. dazu etwa Colleen McDannell, Material Christianity. Religion and Popular Culture in America, New Haven / London 1995; Elisabeth Arweck / William J.F. Keenan (Hg.), Materializing Religion. Expression, Performance and Ritual, Aldershot 2006; David Morgan, Religion and Material Culture. The Matter of Belief, London 2009; Manuel A. Vasquez, More Than Belief. A Materialist Theory of Religion, Oxford 2011; Dick Houtman / Birgit Meyer (Hg.), Things. Religion and the Question of Materiality, New York 2012; Hutchings, Tim / Joanne McKenzie (Hg.), Materiality and the Study of Religion. The Stuff of the Sacred. New York 2017; Uta Karstein / Thomas Schmidt-Lux (Hg.), Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen. Wiesbaden 2017. 12 Matthew Engelke, Material Religion, in: Robert A. Orsi (Hg.), The Cambridge Companion to Religious Studies, Cambridge 2011, S. 209 – 229, hier S. 209. 13 Birgit Meyer / David Morgan / Crispin Paine, Editorial Statement, in: Material Religion. The Journal of Objects, Art and Belief 1 (2005), Heft 1, S. 4 – 9, hier S. 5. 14 Meyer / Morgan / Paine, Editorial Statement, S. 5.

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Religion sind nun nicht mehr nur aus Texten und überhaupt sprachlichen Äußerungen zu rekonstruieren, sondern sie müssen auch durch die ethnographische Beobachtung von Körperpraktiken und Mensch-Ding-Konstellationen erschlossen werden. In der langen historischen Perspektive müssen Texte und vorhandene Quellen auf solche Praktiken und Konstellationen hin befragt werden, weshalb auch Bildmaterial einen neuen Stellenwert erhält. Kurz: Es geht um den Versuch, Religion und Glauben als »physically embodied phenomena« 15 zu lesen und deren Spuren in verschiedensten Quellen nachzugehen. Das bedeutet, eine besondere Sensibilität für die emotionale Dimension des Glaubens zu entwickeln. Es bedeutet, den Körper als einen zentralen Ausgangspunkt der Analyse religiöser Praktiken zu konzipieren. Es bedeutet, Rituale und Performanzen neu in den Blick zu nehmen. Es bedeutet, die konkreten Räume und Architekturen religiöser Praktiken zu untersuchen. Und es bedeutet, von einem umfassenden Verständnis von Ästhetik auszugehen, um alle sinnlichen Ebenen von Religion berücksichtigen zu können.16 Schließlich bedarf es dazu eines praxistheoretischen Rahmens, der die genannten Momente einer Material Religion zusammenbindet und erlaubt, sie zusammenzudenken. Gerade für die Geschichte religiöser Praktiken eröffnen sich hier hochspannende und herausfordernde Arbeitsfelder: Es fällt auf, dass Religionshistoriker die Religion heute in den breitesten Kontexten der Politik und des kollektiven Handelns verstehen wollen, aber auch in der Subjektivität der Erfahrung. Erst wenn sie Religion als Bündel von Vorstellungen und Praktiken begreifen, die sich in Gegenständen ausdrücken und in diese eingebettet sind, die als Reize für die Sinne gelebt werden und die die Erinnerung anregen und die Identität sichern, können Historiker zum Verständnis und zur Deutung von Religion auf der ganzen Welt – nah und fern, verlockend und bedrohlich – beitragen.17

In zahlreichen Forschungsrichtungen der Sozial- und Kulturwissenschaften ist eine Perspektive auf Körper und Körperlichkeit mittlerweile schon lange etabliert; kaum eine Arbeit aus Ethnologie, Soziologie und Kulturwissenschaften kann dieses »soziale Totalphänomen« ausklammern. Insbesondere dort, wo es um die Analyse von »race, class and gender« als machtvolle Kategorien der

15 Jojada Verrips, Body and mind: material for a never-ending intellectual odyssey, in: David Morgan (Hg.), Religion and Material Culture. The Matter of Belief, Abingdon 2010, S. 21 – 39, hier S. 37. 16 So die »leading themes in the study of religions and their material cultures« nach der informativen Forschungsskizze von David Morgan, Materiality, social analysis, and the study of religions, in: Ders. (Hg.), Religion and Material Culture. The Matter of Belief, Abingdon 2010, S. 55 – 74. 17 Rubin, Religion, S. 420.

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Fremd- und Selbstzuschreibung geht, hat sich ein körpergeschichtlicher und überhaupt körperbezogener Blick als unabdingbar erwiesen. Die aktuelle Hochkonjunktur der Körperforschung hat indessen auch damit zu tun, dass Körperlichkeiten überall dort in den Fokus kommen, wo es um die Materialität sozialer und kultureller Praktiken geht. Praxistheorie setzt immer auch an der Ebene der Körper und der Körperlichkeiten an; Robert Schmidt hat sogar konstatiert: »Der soziologische practice turn ist [. . . ] zugleich body turn«.18 Insofern kommen Ansätze, wie sie etwa in der Ritualforschung, der Geschlechtergeschichte und Geschlechterforschung oder der Medizinanthropologie schon vor längerer Zeit entwickelt wurden, der in der neueren Kulturtheorie dominanten Tendenz zu praxeologischen Ansätzen besonders entgegen. Denn die Geschichte der Körper ist die Geschichte ihrer Praktiken. [. . . ] Die Art und Weise, wie sich Körper in Beziehung zueinander setzen und zu der Welt, in die sie eingelassen sind, ist eine agierende. In der Weise, wie Körper gehen, wie Körperteile funktional Aufgaben übernehmen oder sich scheinbar dysfunktional den Produktionsprozessen entziehen, in der Weise, wie Körper atmen, tanzen, frieren oder Lust empfinden, sich zusammenziehen oder öffnen, krank werden, sich formen und umgestalten, sich schmücken, in der Weise, wie sie kämpfen oder erstarren, sich zurückziehen oder aber sich in das alltägliche Handgemenge werfen, bilden sich die gesellschaftlichen Verhältnisse heraus, in denen wir alle handeln. Körper tun etwas, und dieses Tun bringt in seiner sozioökonomischen, kulturellen, politischen, historischen, technischen oder raumzeitlichen Spezifik den Menschen hervor, der sowohl diesen Körper hat und der gleichzeitig dieser Körper ist.19

Im Zusammenhang des vorhergehenden Kapitels zum Kirchenraum als affektivem Raum wurde bereits auf die Verbindung zwischen Körper, Emotion, Religion und Materialität verwiesen; dort sind insbesondere die Arbeiten von Pascal Eitler und Monique Scheer herangezogen worden, um zu zeigen, dass für die Untersuchung religiöser Emotionen der Blick auf den Körper und die körperlichen Praktiken entscheidend ist.20 Diese Einsicht liegt im Forschungstrend: Mit der in den Material Religion Studies vorangetriebenen Thematisierung des Körpers in der Religionsforschung 21 wird seit einiger Zeit ein Themenfeld neu

18 Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken, Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012, S. 55. 19 Christiane König / Massimo Perinelli / Olaf Stieglitz, Einleitung Praktiken, in: Netzwerk Körper (Hg.), What can a Body Do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2012, S. 11 – 15, hier S. 11. 20 Vgl. v. a. Eitler / Scheer, Emotionengeschichte als Körpergeschichte. 21 Eine besonders pointierte Interpretation des religiösen »embodiment« bietet Vásquez, More Than Belief, Oxford 2011.

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strukturiert, in dem bisher nicht selten »mentalistische« Zugänge dominant waren. Eine Praxistheorie, die auf die Körperlichkeit und Materialität des Sozialen zielt, kann hier ihr ganzes innovatives Potential entfalten; daher gilt ganz besonders für die Auseinandersetzung mit Religion, was Robert Schmidt festhält: Soziale Praktiken als immer auch sinnhafte, bedeutungstragende, gekonnte Körperbewegungen zu perspektivieren, eröffnet insbesondere in jenen Feldern innovative Beschreibungsmöglichkeiten, die [. . . ] als Domänen des Kognitiven, »Geistigen« und Mentalen gelten. Praxeologische Analysen machen auf die Verkürzungen mentalistischer Handlungstheorien aufmerksam und versuchen, gerade auch in kognitiven Tätigkeiten eine entscheidende Beteiligung von Körpern und Körperbewegungen zu zeigen.22

Auf dieser theoretischen Grundlage kann also auch der Frage nachgegangen werden, wie sehr das religiöse »Glauben« an materielle, sinnliche und körperliche Handlungen und Erfahrungen gebunden und wie sehr es als Praxis im Sinne körperlicher Vollzüge zu denken ist.

Körper im Kirchenraum: Haltungen und Performanzen Einer ausdrücklich körperbezogenen Forschungsperspektive folgen diejenigen Arbeiten aus dem Bereich der Praktischen Theologie und der Religious Studies, die Gottesdienst und liturgische Praxis performanztheoretisch lesen. David Plüss hat den Gottesdienst konsequent als ästhetische Inszenierung durchdekliniert und in seiner dramaturgischen Qualität in den Blick genommen. Es geht ihm darum, »den komplexen Zusammenhang von gestischer Verkörperlichung, Atmosphären, Klängen, Rollen und Texten ansichtig und theoriefähig zu machen«, der den Gottesdienst als »Gesamtvollzug« und »Gesamtkunstwerk« konstituiert.23 Auch im Hinblick auf historische Gottesdienstpraktiken ist dieser Ansatz immer wieder zur Anwendung gekommen. Mediävistische Arbeiten haben vielfach auf die theatralische Dimension der mittelalterlichen Frömmigkeitspraktiken hingewiesen und dabei ein weites Feld sozialer Phänomene abgesteckt: »Die Grenzen zwischen theatralischer Frömmigkeit und frommem Theater, zwischen vollzogenem Ritual und mimetisch repräsentierter Handlung eines vergangenen Geschehens sind fließend wie die Grenzen zwischen Liturgie, paraliturgischen Riten, privaten Frömmigkeitspraktiken und

22 Schmidt, Soziologie der Praktiken, S. 55. 23 Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung, S. 309.

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Geistlichem Spiel«.24 Der Körper spielt in all diesen ineinander übergehenden Praxisformen die zentrale Rolle als Medium der Vergegenwärtigung, Verinnerlichung, Reproduktion und auch des Ausdrucks religiöser Glaubensinhalte. Grundlegende Leitvorstellungen katholischer Frömmigkeitspraxis wie die Imitatio Christi wurden auf diese Weise nicht nur kognitiv, sondern vor allem körperlich nachvollzogen, etwa in »Formen ekstatischer Frömmigkeit [. . . ], die die Imitatio Christi als buchstäblich-körperhafte Nachahmung auffassen«.25 Bei alledem gehen die Körperpraktiken des katholischen Rituals aber nicht im »Theatralischen« auf; vielmehr unterscheiden sich Theater und liturgische Mimesis in entscheidenden Punkten. Denn – so Jan-Dirk Müller – indem sich der Gläubige bemüht, Jesu Leiden nachzuahmen, scheint es nur, als spiele er eine Rolle. Er leidet tatsächlich, während weder der Priester noch der Spieler in einem Theaterstück selbst leidet. Der eine handelt qua Amt im Auftrag Christi und verweist auf sein Leiden, der andere führt bildhaft dieses Leiden vor, ohne etwas zu empfinden. Die ekstatische Frömmigkeit soll gerade diesen Ausschluss des Körpers aufheben.26

Abb. 37: Antwerpener Passionsaltar (um 1460), Kreuztragung, Votivkirche.

24 Jan-Dirk Müller, Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel, in: Ders., Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien, Berlin / New York 2010, S. 161 – 182, hier S. 161. 25 Müller, Realpräsenz und Repräsentation, S. 161. 26 Müller, Realpräsenz und Repräsentation, S. 178.

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Durch ihre grundlegende Körpergebundenheit legt die Kirchenarchitektur nahe, den Körper als Zentrum der Frömmigkeitspraxis zu denken. So finden sich in bestimmten Kirchenräumen materielle Arrangements, die devotio und imitatio Christi wenigstens ansatzweise körperlich erfahrbar machen sollen. Sie sind abgestimmt auf eine spezifische religiöse Gestik, in der – so schon die mittelalterliche Auffassung – Körper und Seele, »Innen« und »Außen« zur Deckung kommen sollen.27 Eine der wichtigsten Gesten der Devotion im katholischen Ritus ist die der Genuflexion, des Kniebeugens, die eng mit der architektonischen Gestik von Kirchenräumen zusammenhängt – mit der Ordnung von Ebenen und Stufen, der Anordnung von Altären und Bildern im Raum. Philipp Hartmann hat in seinem »Repertorium Rituum« – einem Kompendium der Liturgik des 19. Jahrhunderts – die verschiedenen Arten und Ausführungsbestimmungen der Genuflexion für Priester zusammengestellt und zeigt damit anschaulich, wie sehr der katholische Ritus auf Choreographien im Zusammenspiel von Gesten und Artefakten im Raum basiert. So sind die Genuflexionen inner- und außerhalb des Offiziums sowie etwa »im Vorübergehen vor dem Kreuze des Hochaltares [. . . ], im Vorübergehen vor einem ausgestellten Kreuzpartikel« oder »im Vorübergehen vor dem ausgesetzten Allerheiligsten« genauestens ausdifferenziert.28 Die Genuflexion steht hier neben dem Kreuzzeichen, der Inklination (Verbeugung), der elevatio oculorum (Erhebung der Augen), der Prostration (dem Niederwerfen) und anderen körperlichen Gesten, durch welche im (Blick-)Kontakt zu sakralen Artefakten die Verbindlichkeit religiöser Normen und Werte körperlich bestätigt wird.29 Zum Knien hat Rudolf Schenda eine kleine polemische Betrachtung angestellt und dieses als »Symbol der Erniedrigung« gedeutet: Als besonders wirksame Bußübung gilt es, wenn die Gläubigen zu einem Heiligtum streckenweise auf Knien rutschen, um Frieden oder Gnade zu erlangen. Die Scala Santa beim Lateran und verschiedene Nachbildungen derselben sollten als Rutschtreppen benützt werden: Nur wer kniet und kriecht (so die Moral absolutistischer Herrschaftsformen) kommt höher hinauf. An manchen Marmorumrandungen von Wallfahrtskapellen erkennt man eine doppelte Spurrille: Die Frommen haben sie ausgerutscht; an anderen Stätten katholischer Fröm-

27 Vgl. dazu Thomas Lentes, »Andacht« und »Gebärde«. Das religiöse Ausdrucksverhalten, in: Bernhard Jussen / Craig Koslofsky (Hg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400 – 1600, Göttingen 1999, S. 29 – 67, insbes. S. 29 – 33. 28 Philipp Hartmann, Repertorium Rituum. Uebersichtliche Zusammenstellung der wichtigsten Ritualvorschriften für die priesterlichen Functionen. Zweiter Band: Von der heiligen Messe, 3. verbesserte Auflage Paderborn 1873, S. 210 – 212. 29 Vgl. zu verschiedenen Aspekten der Gestik in der katholischen Liturgie Ronald Sequeira, Liturgische Körper- und Gebärdensprache als Thema der Semiotik, Berlin / New York 1992.

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migkeit erkennt man Steinkuhlen, welche fortwährend betende Einsiedler oder heiligmäßig lebende Menschen ausgekniet haben sollen.30

In Ansätzen sollen die Schmerzen Christi während der Passion beim knienden Hinaufrutschen auf der »Scala Santa« nachvollziehbar gemacht werden – ein eher mildes Beispiel für katholische Bußpraktiken, die eine lange und blutige Geschichte haben. In seinem religionspsychologischen Versuch schreibt Paul Pruyser: Ein Tourist, der zufällig den Platz vor der Kathedrale Unserer Lieben Frau von Guadalupe, im Norden von Mexico City, besucht, wird demütige Gläubige sehen, die unter Schmerzen auf ihren Knien vom einen Ende des Platzes zum andern rutschen. Genauso mochten sich früher [. . . ] Büßer zum Petersdom in Rom geschleppt haben, mit Erbsen oder Kies in den Schuhen. [. . . ] Wenn man längere Zeit in einer unbequemen Stellung kniet, führt das bald zu unerträglichen Schmerzen.31

In der Tat zeigte auch ein Selbstversuch im Februar 2014 auf der Scala Santa in Rom, wie beschwerlich der Weg auf Knien die Stufen hinauf ist. Inmitten einer Traube von Gläubigen, die auf jeder einzelnen Stufe teils mehrere Vaterunser und »Ave Maria« beten, kommt man zwangsläufig nur sehr langsam voran und ist für längere Zeit in die kniende Position gezwungen. Einzelne Gläubige halten den Rosenkranz in der Hand, manche küssen jede einzelne der 28 Stufen, die – der Legende nach – Christus im Palast von Pontius Pilatus in Jerusalem hinaufgegangen sein soll und die angeblich später nach Rom transferiert wurden.32 Der Blick geht beim Knien nach oben, in eine mit Fresken ausgemalte Apsis, in der Christus mit Engeln zu sehen ist. Wer oben angelangt ist, dem öffnet sich ein kurzer Blick in die als »Sancta Sanctorum« bekannte Reliquienkapelle, verbunden mit dem Versprechen »Non est in toto sanctior urbe loco«, »in der ganzen Stadt gibt es keinen heiligeren Raum«.33 In solchen und anderen Treppenanlagen wird das allgemeine, »kulturell und sozial fest verankerte Strukturprinzip« bedient und ausgenutzt, demzufolge »der positive Wert, also das Wichtigere und Wertvollere, das Mächtigere oder Heilige, immer oben angesiedelt« ist. »Dramaturgisch betrachtet liegt in der Steigung oft eine Steigerung von Bedeutsamkeit [. . . ] Das Ankommen gleicht einem Triumph oder

30 Rudolf Schenda, Gut bei Leibe. Hundert wahre Geschichten vom menschlichen Körper, München 1998, S. 339. 31 Paul Pruyser, Wurzeln des Glaubens, S. 59 – 60. 32 Vgl. Thomas Raff, Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, Münster 2008, S. 108 – 109. Zur Baugeschichte der Scala Santa unter Sixtus V. vgl. Christopher C. L. C. Ewart Witcombe, Sixtus V. and the Scala Santa, in: Journal of the Society of Architectural Historians 44 (1985), S. 368 – 379. 33 Vgl. Forschungsnotizen vom 21. Februar 2014.

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einer Befreiung, die Übersicht und neue Ausblicke ermöglicht«.34 Treppen und Stufen machen dieses Strukturprinzip nicht nur anschaulich, sondern ermöglichen seine unmittelbare Verkörperlichung. Der Theologe Romano Guardini hat diesen architekturpsychologischen Befund religiös gewendet und in seinem Buch »Von heiligen Zeichen« aus dem Jahr 1927 festgehalten: Da sind zum Beispiel die Stufen. Unzähligemal bist du schon hinaufgestiegen. Aber bist du inne geworden, was dabei in dir vorging? Denn es geschieht etwas in uns, wenn wir emporsteigen. Nur ist das sehr fein und still, und man kann es leicht überspüren. [. . . ] Wenn wir die Stufen hinaufsteigen, dann steigt nicht nur der Fuß, sondern auch unser ganzes Sein. Auch geistig steigen wir. Und tun wir es mit Bedacht, dann ahnen wir ein Emporsteigen zu jener Höhe, wo alles groß und vollendet steht: Das ist der Himmel, darinnen Gott wohnt.35

Mit welchen Ideen auch immer die körperlichen Steigungsmuster verknüpft werden: Die Scala Santa im Rom stellt die Kapelle Sancta Sanctorum in ihrer Bedeutung für die Pilgerpraxis seit langem in den Schatten – nicht etwa aufgrund ihres höheren theologischen Status, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass »die Treppe physisch erlebt werden kann, während der Inhalt der Kapelle kaum zu erkennen und auch in Vergessenheit geraten war, bevor er 1905 weitgehend in die Vatikanischen Museen überführt wurde«.36 Gerade die enge Verklammerung von Körperpraktiken und »heiligem Ort«, wie sie sakrale Architektur auszeichnet, generiert also Bedeutung – ein weiteres Beispiel für die formative Kraft von benutzbaren Räumen. Ein weiteres anschauliches Beispiel für die religiöse Körperchoreographie katholischer Kirchenräume stellt die Kalvarienbergarchitektur des Barock dar, bei welcher der Leidensweg Christi durch ein Arrangement aus meist steilen Treppen nachvollziehbar gemacht werden soll, die zumeist an den 14 Kreuzwegstationen entlang führen. Nach der Enteignung der protestantischen Freiherren von Jörger entstand bei der Hernalser Pfarrkirche im Westen Wiens eine Heilig-Grab-Anlage. Der Bau wurde im Zuge der Gegenreformation errichtet und in einen Kreuzweg einbezogen, der von St. Stephan im Stadtzentrum über sieben »Leidensstationen« bis zur Grabkapelle führte. Schon dieser Kreuzweg diente als eine stadträumliche Figur, welche die Erinnerung an die Passionsgeschichte und ihre »originalen« Orte in Jerusalem veranschaulichen sollte. Neta Bar-Yoseph hat gezeigt, dass nicht nur der körperliche Nachvollzug des Weges selber dazu beitrug, die Leiden Christi zu verinnerlichen, sondern dass die Prozessionen sozusagen von »multimedialen« Angeboten begleitet wurden:

34 Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 297. 35 Zit. nach Gerhards, Wo Gott und Welt sich begegnen, S. 95. 36 Raff, Die Sprache der Materialien, S. 109.

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The walk and the visual imagery in the stations were accompanied by narrated content. While the crowd walked along the route they could hear explanations by clergymen, or carry with them a booklet written by Musart especially for the path and published in 1642 under the name »Nova Viennensium Peregrinatio«. This path was a tool comprised of different elements all used to assist the public in identifying with the passion through a multi-sensory physical and mental experience. People walked a long way between the stations, felt the length of the path with their bodies, saw images of the story, and heard or read the narrative.37

Nach den Zerstörungen des Jahres 1683 wurde im frühen 18. Jahrhundert neben der Hernalser Kirche ein Kalvarienberg errichtet: ein künstlicher Berg mit 72 Stufen, die an einer Reihe von Kapellen vorbeiführten.38 Die Themen und Darstellungen in den insgesamt 14 Kapellen waren nicht deckungsgleich mit den 14 klassischen, die einzelnen Szenen der Passionsgeschichte zeigenden Kreuzwegstationen, sondern sie zeigten bergauf sieben Szenen zum Thema »Jesus büßt die Hauptsünden«, bergab schließlich sieben Szenen »Maria lehrt die Tugenden«.39 Auf der oberen Plattform des künstlichen Berges befand sich eine Kreuzigungsgruppe.40 Im Zuge von Erweiterungen des Kirchenbaus wurde der Kalvarienberg abgetragen und seine Stationen als erhöhter Umgang in den Kirchenraum integriert. Ein weiteres, heute noch gut erhaltenes Beispiel einer Kalvarienbergarchitektur findet sich in Maria Lanzendorf im Süden von Wien. Eine Freitreppe führt dort zur ovalen Gnadenkapelle hinauf; daneben beginnt der durchaus verwirrende Weg durch den Kalvarienberg. Die ersten Szenen der Passionsgeschichte sind in grottenähnlichen Räumen dargestellt; bei der Heilig-Grab-Kapelle befindet sich die Darstellung der Geißelung Christi, in der Querachse der Anlage liegen eine kleine »Scala Santa« sowie die Darstellung des »Ecce Homo«. Von hier aus führt der Weg weiter ins Freie und über einen künstlichen Berg, dessen Höhepunkt die Kreuzkapelle bildet. Der Rundweg endet wieder weiter unten an der Gnadenkapelle.41 Im Zusammenspiel aus Bil-

37 Bar-Yoseph, The Kreuzweg of Vienna, S. 229. 38 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Franz Gstaltmeyr, Die Kirche und der Kalvarienberg von Hernals. Ein kirchengeschichtlicher Beitrag mit besonderer Berücksichtigung der Reformation und Gegenreformation, Wien 1949. 39 Vgl. Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 345. 40 Schön zu sehen auf der Abbildung in: Vorderwinkler, Sakrale Kunst in Österreich, S. 184. 41 Vgl. die Beschreibung bei Klaus J. Loderer, Kreuzweg und Kalvarienberg im Königreich Ungarn im 18. Jahrhundert, in: Rainer Bendel / Norbert Spannenberger (Hg.), Kirchen als Integrationsfaktor für die Migranten im Südosten der Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert, Berlin 2010, S. 211 – 232, hier S. 221.

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dern des Schmerzes – vom leidenden Christus bis zur »Mater Dolorosa« 42 – und architektonischen Steigungsgebilden bilden die genannten Kalvarienbergarchitekturen didaktische Wege, welche die heilsgeschichtliche Erinnerung nicht nur als mentales, sondern auch als körperliches Geschehen nahelegen. Religiöse Symbolik und Bewegungschoreographie sind hier so eng verschränkt, dass das eine vom anderen kaum zu trennen ist: Das Hinaufsteigen geschieht langsam und mit Mühe, weil mindestens die Last des eigenen Körpers Schritt für Schritt hinaufgehoben werden muss, wobei die erhöhte Gewichtsbelastung auch den Fußkontakt intensiviert. Darin liegt das heroische Gefühl begründet, die Anfechtung durch die eigene Schwere zu überwinden und sich in der Höhe eine Freiheit zu erkämpfen. Hinaufzusteigen und oben anzukommen ist wie eine Abfolge von mühsamer Aufwärts- und triumphierender Vorwärtsbewegung.43

Katholische Religiosität adressiert also in besonderer Weise den Körper als Medium und Ausdrucksmittel der devotio und imitatio, als zentralen Ort der Produktion und Reproduktion bestimmter Welt- und damit auch Gesellschaftsbilder. Prozesse der Inklusion und Exklusion vollziehen sich – insbesondere im historischen Modus der »Vergesellschaftung unter Anwesenden« – immer auch über die im Raum anwesenden Körper.44 An dieser Stelle wird deutlich, dass die im dritten Kapitel dieser Studie untersuchte Funktion des Kirchenraums als Repräsentationsraum sozialer Ordnungen erst durch die ihn konstituierenden performativen Praktiken, das körperliche Handeln, virulent wird. Versteht man das Handeln im Kirchenraum – von der Liturgie des Gottesdienstes über kirchlich eingebundene politische Rituale bis hin zu heutigen touristischen Praktiken – als Platzierungspraxis, als Anordnung von Menschen und sozialen Gütern an einem Ort, dann lässt es sich als eine Form sozialen Theaters begreifen, über das nicht nur gesellschaftliche Ordnung verhandelt, sondern diese Ordnung zugleich in Körperpraktiken übersetzt und habitualisiert wird. Dieser Vorgang lebt wesentlich von der Wiederholung der immergleichen Gesten, Gebärden, Choreographien im Raum, die sowohl das Bild gesellschaftlicher Ordnung, als auch die ordnungsstiftenden Praktiken stabilisiert und auf Dauer stellt. Wenn

42 Zur Ästhetik des Schmerzes vgl. Anne-Rose Meyer, Homo dolorosus. Körper – Schmerz – Ästhetik, München 2011. Zur spätmittelalterlichen Schmerzdarstellung vgl. auch die aufschlussreichen emotionsgeschichtlichen Bemerkungen bei KarantNunn, »Gedanken, Herz und Sinn«, S. 75 – 76, sowie die schöne Fallstudie von Valentin Groebner, »Abbild« und »Marter«. Das Bild des Gekreuzigten und die städtische Strafgewalt, in: Bernhard Jussen / Craig Koslofsky (Hg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400 – 1600, Göttingen 1999, S. 209 – 238. 43 Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 298. 44 Vgl. Schlögl, Anwesende und Abwesende, S. 58.

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schon der Theologe und Religionsphilosoph Friedrich Schleiermacher von dem »darstellenden Handeln« im Kirchenraum spricht, das auf die »Darstellung der durch die Gemeinschaft mit Christo, dem Erlöser, bedingten Gemeinschaft mit Gott« zielt,45 dann ist diese Perspektive auf das Handeln soziologisch zu erweitern durch die Frage nach der Konstitution und Repräsentation sozialer und symbolischer Ordnungen einer Gesellschaft: Aus dieser Perspektive konstituiert und konturiert das konkrete Handeln im Kirchenraum nicht nur das Verhältnis zwischen »Heaven and Earth«,46 sondern immer auch die Ordnungen und Hierarchien innerhalb der Gesellschaft, verstanden als Gemeinschaft der Gläubigen. Der epistemisch autoritäre und rituell genutzte Kirchenraum produziert dabei auch die symbolischen Ausschlüsse mit, über die sich diese Gemeinschaft herstellt: Wer gehört dazu, wer nicht? Wem wird welcher Platz zugewiesen? Und wie sind Kirchenräume an der Herstellung einer hierarchischen städtischen Raumordnung beteiligt?

Zum Verhältnis »äußerer« und »innerer« Haltungen In der Reflexion religiöser Praxis ist das körperlich-materielle Handeln immer wieder an prominenter Stelle thematisiert worden, und das gerade auch in spekulativen Arbeiten. So hat Louis Althusser in den 1970er Jahren im Rahmen seiner Ideologietheorie auf die materielle und performative Dimension religiöser Praxis hingewiesen: In bezug auf ein Subjekt (ein beliebiges Individuum) werden wir sagen, daß die Existenz der Ideen seines Glaubens materiell ist, insofern seine Ideen seine materiellen Handlungen sind, die in materielle Praxen eingegliedert und durch materielle Rituale geregelt sind, die ihrerseits durch den materiellen ideologischen Apparat definiert werden, dem die Ideen dieses Subjekts entstammen.47

45 Zit. nach: Horst Schwebel, Evangelium und Raumgestalt. Was ist ein Kirchenraum? In: Zentrum für Medien Kunst Kultur im Amt für Gemeindedienst der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Kunstdienst der Evangelischen Kirche Berlin (Hg.), Kirchenräume – Kunsträume. Hintergründe, Erfahrungsberichte, Praxisanleitungen für den Umgang mit zeitgenössischer Kunst in Kirchen. Ein Handbuch, Münster 2002, S. 33 – 47, hier S. 38. Vgl. dazu auch Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung, S. 29 – 34. 46 Nach dem Titel von Robert E. Orsi, Between Heaven and Earth. 47 Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung), in: Ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Positionen, Hamburg / Westberlin 1977, S. 108 – 153, hier S. 139. Hervorhebungen im Originaltext.

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Was Althusser unter den »materiellen Handlungen« versteht, erläutert er anhand eines Satzes von Blaise Pascal: »Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet, und du wirst glauben«.48 Hier wird die elementare Bedeutung inkorporierter Handlungsprogramme für religiöse Praktiken im Kontext eines marxistischen Materialismus formuliert; auf verquere Weise befindet sich dieser Befund im Einklang mit neueren Positionen zur Materialität sozialer Praktiken überhaupt. Wenn Andreas Reckwitz meint, »daß eine soziale Praktik identisch ist mit einer implizit und sorgfältig organisierten Hervorbringung eines Komplexes von Körperbewegungen«,49 dann müssen auch religiöse Praktiken aus bestimmten Komplexen und Choreographien von Körperbewegungen heraus verstanden werden. Ähnlich wie Althusser mit seinem Pascal-Zitat hat auch Ludwig Wittgenstein 1937 in einer Tagebuchnotiz festgehalten: »Nicht das Knien hilft beim Beten, aber man kniet«.50 Formuliert in einer Situation persönlichen Glaubenszweifels, spielt dieser Satz auf die Korrespondenz »innerer« und »äußerer« Haltungen an; Martin Scharfe erläutert dazu: Der kulturelle Leib hat sein eigenes Gewicht [. . . ]. Das Knien trägt nichts bei zum Erfolg des Gebets, sagt die Vernunft; aber man kniet, um zu beten. Der Wittgensteinsche Gedanke betont also die Stärke des kulturell trainierten Leibgedächtnisses – in diesem Fall: die Stärke des religiösen Leibgedächtnisses. Die Körpergebärde ist hier zugleich religiöse Gebärde. So läßt sich also [. . . ] am Ende sagen, daß die Leibgebärden des Legalen Christentums – das »richtige« Sitzen, Knien, Stehen, Sprechen, Blicken undsoweiter – nichts anderes sind als der in großer Tiefe verankerte Ausdruck des Versuchs, die Attacken der Angst und auch sonstigen Ansturm des Unbewußten heil zu überstehen.51

Nun sind die Gebärden des »Legalen Christentums« – also die von Liturgie und Tradition vorgegebenen Abläufe und Choreographien – immer auch in den architektonischen Binnenstrukturen des Kirchenraums und in der Materialität der Kirchenausstattung angelegt. Überhaupt entfaltet Architektur ihre Wirkung wesentlich durch »Evokation oder Ermöglichung von Aktionen, Hand-

48 Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 138. 49 Andreas Reckwitz, Die Entwicklung des Vokabulars der Handlungstheorien: Von den zweck- und normorientierten Modellen zu den Kultur- und Praxistheorien, in: Manfred Gabriel (Hg.), Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie, Wiesbaden 2004, S. 303 – 328, hier S. 321. 50 Ludwig Wittgenstein, Denkbewegungen. Tagebücher 1930 – 1932, 1936 – 1937. Herausgegeben von Ilse Somavilla, Frankfurt am Main 1999, S. 84. 51 Scharfe, Über die Religion, S. 110. Vgl. dazu auch Ders., »Nicht das Knien hilft beim Beten, aber man kniet.« Überlegungen zur volkskundlichen Fachidentität, in: Gudrun M. König / Gottfried Korff (Hg.), Volkskunde ’00. Hochschulreform und Fachidentität. Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Tübingen, 9.– 11. November 2000, Tübingen 2001, S. 59 – 69.

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lungen, Körperhaltungen«.52 Sie stellt sich als ein »körperräumliches Medium« dar, das Bewegungen und damit Handlungen lenkt und organisiert, bis hin zur »gezielte[n] Führung des Körpers durch die Architektur«, die Körper- und Blickbewegungen mit einrechnet.53 Damit ist sie ein zentrales Moment in der Herausbildung eines routinisierten »Gewohnheitshandelns«, das – in den Worten Arnold Gehlens – die Gewohnheiten »an der Vollzugsschwelle« festhält und »chronisch aktualisiert«.54 Mitentscheidend ist dabei »die Aff inität (›Akkordanz‹) einer Raumgestalt zu einer Körperhaltung«, die wiederum mit einer »inneren Haltung« einhergeht, wie es auch Michel Foucault in seinen Studien zur Disziplinararchitektur demonstriert hat.55 In diesem Sinne wäre ganz grundsätzlich auf die Architektur zu beziehen, was Pierre Bourdieu in »Sozialer Sinn« ausgeführt hat. Ich gebe diese wichtige Passage nochmals vollständig wieder: In allen Gesellschaftsordnungen wird systematisch ausgenutzt, daß Leib und Sprache wie Speicher für bereitgehaltene Gedanken fungieren können, die aus der Entfernung und mit Verzögerung schon dadurch abgerufen werden können, daß der Leib wieder in eine Gesamthaltung gebracht wird, welche die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken heraufbeschwören kann, also in einen jener Induktorzustände des Leibs, der Gemütszustände herbeiführen kann, wie Schauspielern bekannt ist. Daher die Sorgfalt, die bei der Inszenierung großer Massenfeierlichkeiten nicht nur auf das (z. B. bei der Ausgestaltung der großen Barockfeste offensichtliche) Bemühen um feierliche Darstellung der Gruppe zurückgeht, sondern auch, wie zahlreiche Einsatzformen von Tanz und Gesang beweisen, auf die sicher unbestimmte Absicht, Gedanken zu ordnen und durch strikte Regelung der Praktiken, durch regelhafte Aufstellung der Leiber und besonders durch leibliche Ausdrucksformen der Gemütsbewegung wie Lachen oder Weinen Gefühle zu suggerieren. Symbolische Wirkung dürfte auf der Macht über andere und insbesondere über deren Leib und Glauben fußen, verliehen von der kollektiv anerkannten Fähigkeit, durch verschiedenste Mittel auf die zutiefst verborgenen verbal-motorischen Zentren einzuwirken, um sie zu neutralisieren oder um sie zu reaktivieren, indem man sie mimetisch fungieren läßt.56

Theologen des Mittelalters haben den Zusammenhang zwischen Glauben und körperlichem Handeln aus ihrer praktischen Perspektive heraus erstaunlich klar

52 Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 126. 53 Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 197. 54 Vgl. Heike Delitz, Expressiver Außenhalt. Die »Architektur der Gesellschaft« aus Sicht der Philosophischen Anthropologie, in: Joachim Fischer / Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 163 – 194, hier S. 174. 55 Delitz, Gebaute Gesellschaft, S. 196. 56 Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 127 – 128.

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erkannt, etwa im Kontext von Überlegungen zur angemessenen Gebärde. So stellte der Dominikaner Konrad Schlatter die Frage, »welche Gebärde am allerbesten sei zur Andacht«, und gab den Nonnen von St. Nikolaus in undis zu Straßburg den Rat: »Und ist die erste ein andächtiges Knien vor Gott. Die andere ist die Augen aufheben zu Gott . . . Die dritte ist die Hände zusammenschlagen und zu Gott erheben. Die vierte sind Venien und das Beten in Kreuzesweise«.57 Der Historiker Thomas Lentes kommentiert diese Textstelle: Andacht [. . . ] hat ihre Gebärde; und durch die Gebärde kam die Andacht der Frommen nicht nur zum Ausdruck. Vielmehr sollte sie gerade durch die Gebärde erregt und gesteigert werden. [. . . ] Innen und Außen, der homo interior und der homo exterior, äußeres formalisiertes Verhalten und innere Haltung sollten nach Meinung der meisten mittelalterlichen Prediger zur Deckung gebracht werden und waren beide aufeinander bezogen.58

Dieser Befund steht interessanterweise im Einklang mit Thesen der aktuellen Emotionsforschung zum Zusammenhang von Körperbewegungen und emotionalen Praktiken, wie sie hier bereits diskutiert worden sind. In seinem Pamphlet für die vorkonziliare römische Liturgie unterstreicht ihn Martin Mosebach nochmals deutlich: »Wir glauben mit den Knien oder wir glauben überhaupt nicht«.59 Nachdrücklich vertritt Mosebach in seiner Streitschrift eine Frömmigkeitspraxis, die auf bestimmten basalen körperlichen Bewegungsmustern aufbaut: dem Knien, dem Stehen und dem Gehen. Die Erfahrung der körperlichen Gegenwart Christi in der Eucharistie, so Mosebach, müsse die körperliche Bewegung der Gläubigen gleichsam von selbst in Gang setzen: »Wer diesem Vorgang hingegeben folgt und in Erwartung auf den Augenblick der Christus-Erscheinung lebt, der wird im glücklichsten Fall wie eine der Gestalten des Neuen Testaments, gleichsam unwillkürlich, von der Glaubenseinsicht überwältigt, knien können«.60 Weiter spricht Mosebach vom Stehen in seiner »Qualität als sakrale Haltung« 61 und dem Gehen und Schreiten, das die »Bewegung der Seele zu Gott hin« versinnbildliche. »Was sonst ein bloßer Gedankenakt oder Gefühlszustand bliebe, wird im Voranschreiten gleichsam zu etwas Objektivem«.62 Die Körperbewegung als Mittel zur Objektivierung von Gedanken und Gefühlen: Diese Überlegung Martin Mosebachs lässt sich mit dem Scheerschen Konzept der »emotionalen Praktiken« fassen; von hier aus wäre zu ergän-

57 58 59 60 61 62

Zit. nach Lentes, »Andacht« und »Gebärde«, S. 29. Lentes, »Andacht« und »Gebärde«, S. 29. Mosebach, Häresie der Formlosigkeit, S. 25. Mosebach, Häresie der Formlosigkeit, S. 125. Mosebach, Häresie der Formlosigkeit, S. 128. Mosebach, Häresie der Formlosigkeit, S. 133.

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zen, dass das körperliche Handeln möglicherweise eher zur Konstitution der »Gedankenakte« und »Gefühlszustände« beiträgt, als diese nur zu verfestigen. Spezifische, immer wiederkehrende Erfahrungen beim Betreten eines Kirchenraums machen diesen Zusammenhang anschaulich: Treten wir von einer belebten Straße oder einem Platz aus in den Vorraum einer Kirche, gehen wir weiter durch die Innentüren in den Hauptraum, so stellen sich Wahrnehmungen und Bewegungen in verhältnismäßig kurzer Zeit auf diesen Raum ein: Dunkelheit und Stille werden als Kontraste erlebt, Schritte und Bewegungen verlangsamen sich, ohne dass das im strengen Sinne »absichtlich« geschieht. Zuweilen werden Hände ineinander verschränkt; Gespräche, die draußen noch lebhaft geführt wurden, brechen ab. Einige der Eintretenden gehen zum Weihwasserbecken im Eingangsbereich, bekreuzigen sich und / oder machen eine Kniebeuge in Richtung Altar. Alban Janson und Florian Tigges haben darauf hingewiesen, dass Gebäude über eine bestimmte Raumgestik verfügen, die es nahelegt, »Bewegungen auch in unbewegte Bauformen als deren Formcharakter hineinzudeuten. [. . . ] Als räumliche Gesten [. . . ] erleben wir solche architektonischen Formen dann, wenn wir in unserem eigenen Verhalten angesprochen und zu einer performativen Reaktion angeregt werden«.63 Die Raumfigur einer gotischen Kathedrale regt in diesem Sinne ein anderes Bewegungsmuster an als eine Turnhalle; diese »gestische« Raumwirkung gibt einen starken »dynamischen Impuls [. . . ], mit dem eine baulich-räumliche Situation unsere Bewegung vorzeichnet oder uns eine Haltung empfiehlt«.64 Gleichzeitig wird durch die in diesem spezifischen materiellen Setting routinisiert eingenommene Körperhaltung – auch wenn sie nicht von rituellen Gesten wie dem Kreuzzeichen begleitet wird – die »besondere Atmosphäre« und der besondere Status des Raums performativ verfestigt; der körperlich bezeugte Respekt ist eine Art, den Raum zu lesen und konstituiert zugleich diesen Raum als einen besonderen oder eben sakralen Raum. Auch das Knien im Rahmen privater oder gottesdienstlich eingebundener Devotion ist vom Standpunkt der Praxistheorie als ein Akt zu begreifen, zu dem die »Unwillkürlichkeit« – paradox formuliert – explizit und bewusst dazugehört; die emotionale Navigation sorgt vielmehr dafür, dass die »unwillkürliche« Handlung genau im richtigen, »passenden« Moment erfolgt, um die Glaubenseinsicht zur Geltung zu bringen. Wir sehen an diesen angedeuteten Beispielen, dass hier das scheinbar kausale Verhältnis von Bewusstsein und körperlich sichtbarem Handeln umgekehrt oder doch zumindest durcheinandergeraten ist. Eben diese Überlegung illustriert Althusser mit seinem Hinweis auf Pascals Satz »Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet, und du wirst

63 Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 132. 64 Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 132.

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glauben« 65 – der oder die Gläubige handelt nicht so oder so, weil sie glaubt, sondern sie glaubt, weil sie so oder so handelt. Oder, anders formuliert: Der »Glaube« steht nicht mehr am Anfang, sondern am Ende bestimmter Handlungsprogramme, gleichsam als deren Ergebnis. Von hier aus lassen sich die Körperbewegungen im Kirchenraum neu fassen: Das Knien, Stehen und Gehen verankert Routinen im Körpergedächtnis, die dann diskursiv als »Glaubenseinsicht« vertreten werden; diese wiederum erzeugt die Bereitschaft, Routinen immer wieder zu reproduzieren und auf diese Weise den komplexen Kreislauf aus »doings and sayings« zu stabilisieren. Bemerkenswerterweise ist die enorme Bedeutung körperlicher Routinen auf der praktischen Ebene der Religionspädagogik längst erkannt worden, ohne freilich die entsprechenden theoretischen Schlüsse daraus zu ziehen. In einem Handbuch für LehrerInnen zum evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I wird das Konzept eines »Religionsunterrichts in Bewegung« vorgestellt, der ausdrücklich am Körpergedächtnis der SchülerInnen ansetzt. Ausgehend von einer Pädagogik des »sinnlichen Erlebnishandelns« 66 werden religiöse Inhalte spielerisch und körperlich vermittelt; dabei habe das Konzept des Bewegten Religionsunterrichts Auswirkungen auf die intellektuelle Qualität des theologischen Denkens der Schülerinnen und Schüler im Unterricht. Sie sehen sich in den Spielräumen des Bewegten Religionsunterrichts veranlasst, aufgrund der Erfahrungen am eigenen Leib existenzielle religiöse Fragen neu zu stellen. Das Bewegungserlebnis ermutigt sie, sich mit religiösen Perspektiven auseinander zu setzen, sie zu bewerten und und sich des eigenen Standorts neu bewusst zu werden.67

Der Befund, dass »Menschen nicht anders können, als sich mit Vorstellungen von Gott leiblich-sinnlich zu befassen«,68 wird hier zum Ausgangspunkt eines Lehr- und Lernplans, wobei sich interessante Überschneidungen zu Ergebnissen der Material Religion Studies ergeben. So steckt in dem Satz »Was ich berühre, berührt mich« 69 der Grundgedanke, dass die konkreten materiellen Arrangements eine zentrale Rolle beim emotionalen Prozess des »BerührtWerdens« spielen. Zu Ende gedacht, bedeutet das auch, dass religiöse Gefühle durch materielle Inszenierungen und die entsprechenden Routinen im Umgang mit ihnen nicht nur begünstigt, sondern zuallererst hervorgebracht werden. Ein interessantes Beispiel zu diesem Thema stellen die »Thomas-Messen« dar, auf die Regine Herbrik und Hubert Knoblauch aufmerksam gemacht haben

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Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 138. Elisabeth Buck, Religion in Bewegung. Sekundarstufe I, Göttingen 2005, S. 10. Buck, Religion in Bewegung, S. 11. Buck, Religion in Bewegung, S. 11. Buck, Religion in Bewegung, S. 12.

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und die in besonderer Weise zeigen, wie die körperlich-sinnliche Dimension des Handelns religionspädagogisch und sozusagen »missionarisch« nutzbar gemacht wird: Dieser spezielle Typus eines Gottesdienstformats wurde 1988 in Helsinki erfunden und wird heutzutage auch in diversen anderen Ländern, einschließlich Deutschland, zelebriert. Die Thomas-Messe wendet sich hauptsächlich an Menschen, die hinsichtlich des christlichen Glaubens ihre Zweifel hegen, worauf auch der Name der Veranstaltung hinweist, der sich auf den ungläubigen Thomas der Bibel bezieht. Bekanntlich glaubt Apostel Thomas nicht an Christi Auferstehung als ihm davon berichtet wird. Er möchte das Wunder mit eigenen Augen sehen und es am liebsten anfassen. Dementsprechend spielen körperliche und emotionale Erfahrungen eine besonders wichtige Rolle innerhalb der Thomas-Messe. Ihre konkreten Elemente können vom jeweils örtlichen Organisationsteam gewählt werden. Obwohl sie in evangelischen Gemeinden gefeiert wird, beinhaltet sie häufig für jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer die Gelegenheit, sich in eine kurze persönliche Interaktion mit einem Pastor oder einer Pastorin zu begeben und sich salben zu lassen. Häufig genutzte Elemente sind außerdem das Anzünden einer Kerze, das Niederschreiben eigener Gedanken und Gefühle auf ein Stück Papier und das Anheften dessen an eine »Klagemauer«. Häufig teilen sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen in kleinere Gruppen auf, um über einem Bild oder einer Bibelstelle zu meditieren oder den eigenen Körper in der Meditation zu erfahren. Die Organisatorinnen und Organisatoren legen viel Wert auf außergewöhnliche musikalische Arrangements und ersetzen die Kirchenorgel durch andere Instrumente. Während der Abendmahlfeier stehen die Gläubigen zumeist in einem großen Kreis um den Altarraum und halten sich an den Händen.70

Körper und Subjektivierungsweisen: Das Beispiel Beichtstuhl Die Beichte gehört – als zentrale Bußpraktik – zu den sieben Sakramenten der katholischen Kirche; auch nach der Reformation blieb zumindest im lutherischen Augsburger Bekenntnis die Buße bzw. Absolution – neben Taufe und Abendmahl – als eines der drei Sakramente erhalten.71 Dabei nahm die Beichte im Verlauf der Kirchengeschichte sehr unterschiedliche Formen an: In der alten Kirche spielte die öffentliche Beichte vor versammelter Gemeinde im Gottesdienst eine wichtige Rolle; »sie wurde verlangt, wenn jemand für alle sichtbar gesündigt hatte und wieder in die Gemeinschaft der übrigen Christen 70 Herbrik / Knoblauch, Die Emotionalisierung der Religion, S. 202 – 203. 71 Vgl. Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 376 – 378.

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aufgenommen werden wollte«.72 Als eine Form der Regulierung sozialer Inklusion und Exklusion diente diese Beichtvariante der Formierung öffentlicher Ordnung und sozialer Kontrolle. Eine »brüderliche Beichte« diente daneben als gegenseitige Versicherung sozialer Ordnung durch persönliche Akte des Schuldeingeständnisses. Besonders in den evangelischen Kirchen wird die »gemeinsame Beichte der Versammelten vor Gott« praktiziert,73 bei der weniger die individuelle Schuld als vielmehr die theologische Idee einer »Erbsünde« aller Menschen im Mittelpunkt steht. Die konfessionsübergreifend wohl wichtigste Form der Beichte ist aber die Einzelbeichte oder Privatbeichte, früher auch als »Ohrenbeichte« bezeichnet. Sie ist bestimmt durch die Gegenüberstellung von »Beichtvater« und »Beichtkind« – eine Formulierung, in der das Autoritätsverhältnis zwischen beiden deutlich wird. Der Geistliche, der die Beichte abnimmt, unterliegt dem – vom Staat weitgehend anerkannten – Beichtgeheimnis, was die Situation der Beichte zu einer Mischform aus Zwiegespräch und »Gespräch mit Gott« macht.74 Frühe Beispiele von Beichtstühlen inszenieren überaus deutlich das Machtgefälle zwischen »Beichtvater« und »Beichtkind« als Verhältnis zwischen Oben und Unten: Der Beichtstuhl bestand vor dem Tridentinum in der Regel »aus einer seitenwandlosen, höchstens mit niedrigen Lehnen versehenen Sitzbank für den Beichtvater, vor dem der Pönitent am Boden kniete«.75 Alternativ konnte er als »Cathedra« ausgestaltet sein, was die Position des Beichtvaters als Amtsträger unterstrich.76 Das Sitzen und das Knien stellen hier Körperhaltungen dar, die ganz direkt die hierarchische Struktur der Situation markieren – das Sitzen ist hier die »Haltung des Lehrers und Richters«,77 das Knien die Haltung, welche die »Kleinheit und Niedrigkeit Gott gegenüber« mit der Geste der »Huldigung« verbindet.78 Zwar bleibt dieses Körper- und Haltungsschema auch bei späteren Beichtstühlen das gleiche; allerdings ist hier die Hierarchie noch offener inszeniert, da zwischen »Beichtvater« und »Pönitent« noch keine Abschrankungen oder Gitter postiert sind. Frühe Formen des Sprechgitters finden sich zunächst in Nonnenklöstern, da die Bestimmungen für die Beichte vorsahen, dass sich zwischen dem männlichen Beichtvater und der weiblichen

72 Peter Zimmerling, Studienbuch Beichte, Göttingen 2009, S. 15. 73 Vgl. Zimmerling, Studienbuch Beichte, S. 15. 74 Vgl. dazu Zimmerling, Studienbuch Beichte, S. 16. Zur Figur des »Beichtvaters« vgl. Berthold Unfried, »Ich bekenne«. Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik, Frankfurt am Main 2006, S. 92 – 102. 75 Lexikon für kirchliches Kunstgut, S. 36. 76 Hildegard Heidelmann / Helmuth Meißner, Evangelische Beichtstühle in Franken, Bad Windsheim 2001, S. 36. 77 Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 389. 78 Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, S. 213 – 214.

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Pönitentin eine trennende Wand befinden müsse.79 Nach dem Tridentinum schlug Kardinal Carlo Borromeo in seinen einschlägigen »Instruktionen« nicht nur zwei Beichtstühle pro Kirchenraum zur Trennung der Geschlechter, sondern auch die zweigeteilte Form des Beichtstuhls vor; 80 auch nach dem »Rituale Romanum«, einer weit verbreiteten Liturgieanleitung für Priester von 1614, musste ein Brett oder ein Gitter die beiden Bereiche trennen, der Beichtstuhl sollte an öffentlich zugänglichen Orten – in Kirchen und Kapellen – aufgestellt sein.81 In der Folge wurden dann zum Teil auch die bildlichen Ausstattungen des Beichtstuhls vorgeschrieben, wie im Rituale Romanum: »Auf Seiten des Pönitenten sei irgendein erbauendes Bild des Gekreuzigten, des Guten Hirten und dergleichen aufgehängt«.82 Im Giebelfeld vieler barocker Beichtstühle befanden sich zudem einschlägige Darstellungen biblischer Schuld- und Bußszenen wie der Verrat Petri, die büßende Maria Magdalena oder das Jüngste Gericht.83 Waren die frühen Beichtstühle der alten Kirche noch vielfach im Sanktuarium, teils sogar hinter dem Hochaltar postiert,84 hat der Beichtstuhl später seinen festen Platz in den Seitenschiffen – oft nahe am Haupteingang der Kirche – oder auch im Querhaus des Kirchenraums gefunden, so auch in evangelischen Kirchenräumen, in denen immer wieder Beichtstühle zu finden sind.85 Die Grundform eines durch Sprechgitter zwei- oder dreigeteilten Gehäuses hat sich dabei im wesentlichen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein erhalten und bestimmt die katholische Beichtpraxis zum Teil bis heute, auch

79 Heidelmann / Meißner, Evangelische Beichtstühle in Franken, S. 36. Ein Priester der Kartause Mauerbach nannte das Beichthören in Nonnenklöstern einmal »Engerl abstauben« – eine durchaus witzige Formulierung, die auch die geistliche Routine des Beichtens und Beichthörens mit einfängt. So Hedwig Öhler in Ihren autobiographischen Erinnerungen zum Thema Beichte, zit. nach: Rupert Scheule (Hg.), Beichten. Autobiographische Zeugnisse zur katholischen Bußpraxis im 20. Jahrhundert, Wien / Köln / Graz 2001, S. 179. 80 Vgl. Dürr, Private Ohrenbeichte im öffentlichen Kirchenraum, S. 389. 81 Rupert M. Scheule, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Beichten. Autobiographische Zeugnisse zur katholischen Bußpraxis im 20. Jahrhundert, Wien / Köln / Weimar 2001, S. 11 – 41, hier S. 29. 82 Zit. nach Heidelmann / Meißner, Evangelische Beichtstühle in Franken, S. 37. 83 Lexikon für kirchliches Kunstgut, S. 36. An Hildesheimer Beispielen behandelt die figürliche Ausgestaltung des Beichtstuhls Dürr, Private Ohrenbeichte im öffentlichen Kirchenraum, S. 390. 84 Heidelmann / Meißner, Evangelische Beichtstühle in Franken, S. 36; Lexikon für kirchliches Kunstgut, S. 36. 85 Vgl. dazu u. a. Heidelmann / Meißner, Evangelische Beichtstühle in Franken; Alexander Wieckowski, Evangelische Privatbeichte und Beichtstühle. Beobachtungen zu einem fast vergessenen Kapitel lutherischer Frömmigkeitsgeschichte in Leipzig und Umgebung, in: Stadtgeschichte. Jahrbuch 2006. Mitteilungen des Leipziger Geschichtsvereins e. V., Beucha 2006, S. 67 – 108.

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wenn in neuerer Zeit die »Ohrenbeichte« wohl in den meisten Fällen außerhalb des Beichtstuhls abgenommen wird. Seit dem 19. Jahrhundert sind die Beichtstühle vermehrt auch an der Vorderseite mit festen Türen versehen und bilden einen in sich abgeschlossenen Raum mit zwei Kammern.86 Die Beichte ist – auch wenn ihre Abläufe vielfach formalisiert waren – mit Sicherheit als »eines der wirkungsvollsten außerfamilialen Disziplinierungsund Sinnstiftungsinstrumente religiöser Sozialisation« zu werten, »denn durch sie hatte die Kirche Zugang zum Gewissen jedes einzelnen Christen. Die anhand des Beichtspiegels vorgenommene Gewissenserziehung sorgte für eine systematische religiöse Durchdringung des Alltagslebens«.87 Insofern bietet sich die Beichte für eine Untersuchung religiöser Selbstthematisierung und religiöser Subjektivierungspraktiken geradezu an.88 Berthold Unfried und Hannelore Bublitz haben in ihren – ansonsten sehr unterschiedlich zugeschnittenen – Studien die christliche Beichtpraxis im Kontext von Michel Foucaults Analysen zur Disziplinarmacht und vor allem zur Subjektivierung untersucht.89 Auf die räumliche Struktur des Beichtstuhls als einer Art von »Bußarchitektur« geht vor allem Bublitz ein, wenn sie zeigt, wie die kommunikative Anordnung des Beichtstuhls, insbesondere das »geheimnisvolle Szenario der vollzogenen Trennung von Sprecher und Zuhörer«, ein bestimmtes »Archiv von Aussagen« generiert.90 Indem die Sicht zwischen Sprecher und Zuhörer – oder eben »Beichtvater« und »Pönitent« – stark eingeschränkt ist und die Illusion von Anonymität erzeugt, wird die Kommunikation auf die Präsenz der Stimme reduziert, was den Beichtstuhl nach Bublitz zu einem »akustischen Kontrollsystem« 91 macht, in dem sich soziale Kontrolle und Selbstkontrolle aufs Engste verschränken.

86 Lexikon für kirchliches Kunstgut, S. 36. 87 Oliva Wiebel-Fanderl, Religion als Heimat? Zur lebensgeschichtlichen Bedeutung katholischer Glaubenstraditionen, Wien / Köln / Weimar 1993, S. 131. 88 Materialien zu einer Sozial- und Kulturgeschichte bzw. Soziologie der Beichte finden sich u. a. bei: Alois Hahn, Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozess, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), S. 408 – 432; Edith Saurer, Frauen und Priester. Beichtgespräche im frühen 19. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt am Main 1990, S. 141 – 171; Scheule, Beichten; Dürr, Private Ohrenbeichte im öffentlichen Kirchenraum. 89 Unfried, »Ich bekenne«; Hannelore Bublitz, Im Beichtstuhl der Medien. Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis, Bielefeld 2010. Mit Foucault argumentiert auch Scheule, Einleitung, insbesondere S. 258 – 262. 90 Bublitz, Im Beichtstuhl der Medien, S. 67. 91 Bublitz, Im Beichtstuhl der Medien, S. 68.

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Abb. 38: Kirche St. Karl Borromäus am Zentralfriedhof, Beichtstuhl.

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In der Perspektive der Foucault’schen Analyse von Subjektivierungsweisen und Subjektformen geht es um die Koppelung diskursiver und nicht-diskursiver Dimensionen der Subjektformierung, die materielle Artefakte und materiell-architektonische Anordnungen – wie den Beichtstuhl bzw. den Beichtstuhl als mediales Dispositiv – einschließt.92

Bublitz nimmt den Beichtstuhl als eine bis zum Äußersten verdichtete Disziplinararchitektur in den Blick, in der über die Regulierung von Ordnungen des Begehrens und der Strafe eine spezifische Subjektivität hergestellt wird: Der Beichtstuhl ist eine mediale Apparatur, eine »Maschine«, die Materialien für die Zurschaustellung von Authentizität produziert und mediale Spiegelungen hervorbringt, in denen sich das Subjekt »erblickt«, »(ab)bildet« und – als unzulängliches Subjekt, als reuiger Sünder und begehrendes Subjekt – re-präsentiert. Über dieses mediale Spiegelverhältnis, in das der Beichtvater eingeschaltet ist, vollzieht sich seine Selbstoffenbarung und -anerkennung. Indem es sich öffnet und seine intimsten Wünsche und Regungen berichtet, kann es sich der Überwindung seiner Unzulänglichkeit nähern. Die Anwendung von Geständnis- und Bekenntnistechniken, die völlige Offenlegung und Offenbarung seiner Gelüste und seines Begehrens, deren Geheimhaltung im Medium des Beichtstuhls und seine Entlastung durch Techniken der Strafe, durch Buß- und Betpraktiken sowie Techniken der Vergebung sind Bestandteil einer Anordnung, die das unzulängliche, fragile und immer wieder scheiternde Subjekt zu einem verbesserungsfähigen und -willigen Menschen macht. Es geht also um ein – überindividuelles – Medium, in dem sich das Subjekt und sein abweichendes Begehren abbildet, um zu erfahren, wer es ist und wer es sein könnte.93

Wenn also Bourdieu von den »Induktorzuständen des Leibs« spricht, »welche die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken heraufbeschwören« können,94 dann wäre der Beichtstuhl mit Bourdieu als ein Möbel zu charakterisieren, das genau auf die Herstellung eines solchen körperlichen »Induktorzustandes« abzielt: auf die räumlich abgesonderte, individualisierte und individualisierende Sitz- und Knieposition, die eine »Ordnung der Gedanken« sowie eine spezifische Art der Gefühlsproduktion und der Gefühlsäußerung nahelegt und die den idealen situationalen Rahmen für die »institutionelle Selbstthematisierung« der Beichte darstellt. Hinzu kommt die ausgeprägte Dunkelheit dieses Raums, die das gesprochene Wort ins Zentrum stellt und die imaginäre Macht der Institution unterstreicht. So hatten nicht wenige beichtende Kinder regelrecht »Angst vor der riesigen düsteren Kirche und dem finsteren

92 Bublitz, Im Beichtstuhl der Medien, S. 66. 93 Bublitz, Im Beichtstuhl der Medien, S. 66. 94 Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 128.

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Abb. 39: Konzilsgedächtniskirche in Lainz, Beichtstuhl.

Beichtstuhl«.95 Die räumlichen und kinetischen Voraussetzungen der Beichte sind somit konstitutiv für die »medialen Spiegelungen«, über die sich der Pönitent als ein solcher versteht und über die er sich – wie Bublitz sagt – »als unzulängliches Subjekt, als reuiger Sünder und begehrendes Subjekt« zu imaginieren gelernt hat. Das Knien im Beichtstuhl, vor dem Sprechgitter, ist dem Beichten also nicht äußerlich, sondern es macht die Beichte erst zu dem, was sie ist: eine Institution und Praxis, die darauf angelegt ist, »Innenkontrolle« und »Außenkontrolle« sowie »Innengeleitetheit« und »Außengeleitetheit« als sich wechselseitig verstärkende Konstitutionsverhältnisse mit zu begründen.96

Der Habitus macht das Habitat: Im Kirchenraum mit Bourdieu In seinem liturgiewissenschaftlichen Handbuchartikel zum Thema hat Klaus Raschzok auf die elementare Bedeutung des Kirchenraums für die bewusste und unbewusste körperliche Tradierung religiöser Verhaltensmuster verwiesen: »Der Raum ist nicht allein funktionale Hülle der in ihm agierenden menschlichen Körper, sondern zugleich auch Medium, Steuerungsinstrument und Umfriedung für das sich in ihm und mit ihm vollziehende Geschehen. Raumerfah-

95 So die 1921 geborene Wienerin Ilse Halle, zit. nach: Scheule, Beichten, S. 71. 96 Vgl. Faber, Libertäre Katholizität statt traditioneller Katholizismus, S. 17.

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rungen im Gottesdienst werden meist unbewusst tradiert und müssen erst in die Ebene des Bewusstseins erhoben werden. [. . . ] Die Beziehung zum Kirchengebäude bestimmt wesentlich die Beziehung zum Gottesdienst im Sinne eines unbewusst prägenden Vorgangs«.97 Dieser Vorgang ist wesentlich ein körperlicher Vorgang; die Formulierung von der »unbewussten Tradierung« nimmt auf, was in den materialitätsorientierten Kulturtheorien als körperliche Routinen und inkorporierte Handlungsmuster gefasst wird. David Morgans Arbeiten zum »Embodied Eye« in der religiösen visuellen Kultur haben am Beispiel der Bildpraxis gezeigt, dass auch das Sehen im Kirchenraum als körperlicher Vorgang zu verstehen ist; erst diese Perspektive ermöglicht es, darüber nachzudenken, wie Religion in die intelligiblen Körper eingeht und von ihnen reproduziert wird. Der religiöse Blick auf den Hochaltar oder das Gnadenbild setzt emotionale Körperpraktiken der devotio und imitatio in Gang, die formierend und subjektivierend wirken; das Knien und das Verschränken der Hände ist nicht etwa Ausdruck einer inneren Haltung, sondern ist in einem integralen Sinne diese Haltung, insofern diese im Körpergedächtnis verankert ist und über die körperliche Bewegung performativ vollzogen wird.98 Auf diese Weise wird einmal mehr deutlich, dass auch die immateriellen Substrate, die Religion scheinbar ausmachen, an materielle Arrangements von Räumen und Artefakten gebunden sind und dass diesen materiellen Arrangements für sämtliche Praktiken der Kirchennutzung und des Kirchenbesuchs eine zentrale Rolle zukommt. Durch die Berücksichtigung der materiellen Dimension von Religiosität eröffnet sich die Chance, das soziale Geschehen im Kirchenraum als symmetrischen Zusammenhang von Akteuren und Aktanten, als »Gefüge« im Sinne von Deleuze und Guattari oder als habitualisiertes Handeln praxistheoretisch auszubuchstabieren und so der kulturwissenschaftlichen Analyse zugänglich zu machen. Pierre Bourdieu hat im Zusammenhang seiner religionssoziologischen Arbeiten von den default assumptions gesprochen, die den Blick auf religiöse Praktiken verzerren können. Er nennt hier insbesondere die Neigung, die Glaubensüberzeugungen als mentale oder diskursive Repräsentationen zu behandeln und zu vergessen, dass [. . . ] die Treue zur Religion in Dispositionen unterhalb der Sprache und des Bewusstseins verwurzelt ist (und überlebt), in den körperlichen Gewohnheiten und den sprachlichen Wendungen, wenn nicht in Diktion und Aussprache; dass Körper und Sprache erfüllt sind von erstarrten Glaubensvorstellungen und dass der religiöse (wie der politische)

97 Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum, S. 392. 98 Eine neue, hochinteressante historische Analyse materieller Praktiken der Gnadenvermittlung über Gnadenorte, Dinge und Reliquien bietet Daniel Sidler, Heiligkeit aushandeln. Katholische Reform und lokale Glaubenspraxis in der Eidgenossenschaft, Frankfurt am Main / New York 2017, insbesondere S. 205 – 287.

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Glaube zuallererst eine mit einem sprachlichen Habitus verbundene körperliche Hexis ist. Aus dieser Logik heraus ließe sich zeigen, dass die ganze Debatte über die »Volksreligion« – wie zahllose andere Diskussionen über »Volk« und »volkstümlich« – in Voraussetzungen gründen, die einem unzulänglich analysierten Verhältnis zu der eigenen Vorstellung von Glauben und Religion innewohnen, wobei dieses Verhältnis wahrzunehmen verhindert, dass das relative Gewicht der mentalen Vorstellung und der theatralischen Darstellung, der rituellen Mimesis, mit der sozialen Position und dem Bildungsniveau variiert und dass das, was in den Augen des »Virtuosen« des religiösen Bewusstseins [. . . ] an der sogenannten volkstümlichen Religiosität so skandalös erscheint, sicherlich darin beruht, dass sie in ihren ritualisierten Automatismen an die Willkürlichkeit der sozialen Konditionierungen gemahnt, die den dauerhaften Dispositionen des Korpus der Gläubigen zugrundeliegen.99

Für eine kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse enthält Bourdieus Überlegung eine Reihe wichtiger Hinweise: Zunächst kann die Inkorporierung und Habitualisierung von religiösen Praktiken in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden; religiöses Handeln folgt vielfach nicht der Logik der mentalen und diskursiven Repräsentationen, wie sie die Theologie bereitstellt und wie sie in einer ideen- oder diskursgeschichtlichen Auseinandersetzung mit Religion dominieren, sondern einer eigenen, in die körperliche Hexis eingegangenen praktischen Logik. Zweitens hängt die Bedeutung der in Körper und Sprache gespeicherten »rituellen Mimesis« von der sozialen Position und dem Bildungsniveau der Gläubigen ab, so dass von einem sozial ausdifferenzierten Spektrum religiöser Praktiken auszugehen ist. Drittens plädiert Bourdieu hier für eine konsequente Reflexion der Vorannahmen über Religion, die in die wissenschaftliche Behandlung des Themas eingehen. Für eine praxistheoretische Annäherung an den Kirchenraum ist die Betonung der praktischen Logik und der »ritualisierten Automatismen« zentral – in diesem Sinne kann die Ausstattung eines Kircheninterieurs nicht nur als Widerspiegelung theologischer Lehrsätze und ikonographischer Programme verstanden, sondern muss als alltagspraktisches Setting ernstgenommen werden. Die für das Mittelalter unter anderem von Horst Wenzel herausgearbeitete, im vorhergehenden Kapitel ausführlich vorgestellte sinnliche Dimension des »Erziehungsraums« Kirche ist, von hier aus betrachtet, nicht nur zurückgebunden an die Theologie, sondern elementarer Bestandteil dieses praktischen Handlungszusammenhangs. Bourdieus Habituskonzept zielt auf die Verbindung von Strukturen und Praktiken und erklärt darüber hinaus auch die Akkordanz von »äußerer« und

99 Bourdieu, Soziologie des Glaubens, S. 230.

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»innerer Haltung«, von Körperbewegungen und mentalen Dispositionen.100 Diese Akkordanz ist ein wichtiges Thema eines pädagogischen Komplexes, der in der Gegenwart immer mehr an Bedeutung zu gewinnen scheint: der Benimmlehre.101 Vor etwa zehn Jahren hat der Direktor des Frankfurter Dommuseums und Honorarprofessor an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität August Heuser einen kleinen Text publiziert, der das Thema »Manieren« für Kirchenräume adaptiert. In seinem »kleinen römisch-katholischen Knigge« verweist er zeitkritisch auf die abnehmende Kenntnis allgemeiner Verhaltensregeln, besonders aber darauf, dass es zu der im Religionsunterricht vermittelten »Überlegung ethischer und sittlicher Sachverhalte« auch gehöre, »sich selbst sittlich benehmen zu können«. Im Folgenden nennt Heuser 13 Verhaltensregeln, die in katholischen Kirchenräumen zu beachten sind – vom Verzicht auf »Kaugummikauen und Bonbonlutschen« bis hin zum »verbindliche[n] Gruß unter Christen«. Gesten wie das Kreuzzeichen, das Händefalten und das Aufnehmen des Weihwassers beim Betreten der Kirche gehören ebenso dazu wie die Körperhaltungen der Kniebeuge und des Kniens und die Bewegung des »gemessenen Schritts«. Schließlich wird darauf hingewiesen, dass in der Kirche das »Schweigegebot« als »Zeichen der grundsätzlichen Achtung vor Gott« gilt.102 Heusers kleiner Text ist geeignet, die kulturwissenschaftlichen Überlegungen zu Körperpraktiken und Habitualisierungen im Kirchenraum noch einmal zusammenzuführen und zu einer theoretischen Pointe zu führen. Denn hier wird deutlich, dass die Verhaltensweisen, die unter dem Etikett der »Manieren« verhandelt werden, immer auch soziale Praktiken sind, die dazu dienen, die für die Möglichkeit religiösen Handelns konstitutive Übereinstimmung von »Habitus« und »Habitat« herzustellen. In einem prägnanten Text hat Pierre Bourdieu die Dynamik von Habitus und Raumaneignung beschrieben und herausgearbeitet, dass es eines bestimmten inkorporierten Wissens bedarf, um sich in einem Raum adäquat bewegen zu können.103 Die Möglichkeit der Aneig-

100 Vgl. dazu die Bestandsaufnahme Alexander Lenger / Christian Schneickert / Florian Schumacher (Hg.), Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2013. 101 Vgl. etwa das sehr populäre und auch in den Feuilletons besprochene Buch von Asfa-Wossen Asserate, Manieren. Frankfurt am Main 2003. Für eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Benimmregeln, Benimmkursen und Benimmpraxis vgl. Elisabeth Timm, Ausgrenzung mit Stil. Über den heutigen Umgang mit Benimmregeln, Münster 2001. 102 August Heuser, Manieren in Kirchenräumen. Kleiner römisch-katholischer Knigge, in: Schulinformationen Paderborn 1/2005, S. 20 – 24. Zu Verhaltensregeln in Kirchen vgl. auch das neu erschienene »Handbuch« von Linda J. Williams, Church Etiquette. A Handbook for Doorkeepers, Bloomington 2015. 103 Zum Nutzen von Bourdieus Sozial- und Kulturtheorie für die Raum- und Architekturanalyse vgl. auch Jens S. Dangschat, Symbolische Macht und Habitus des Ortes.

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nung von Räumen setzt demnach die »stillschweigend geforderten Mittel dazu« voraus, angefangen mit einem bestimmten Habitus.104 Bourdieu skizziert ganz allgemein die Erfahrung, der man sich immer aussetzt, wenn man einen Raum betritt, ohne alle Bedingungen zu erfüllen, die er stillschweigend von allen, die ihn okkupieren, voraussetzt. Das kann Besitz an einem bestimmten kulturellen Kapital sein, eine echte Eintrittsberechtigung, ohne die eine Aneignung der sogenannten öffentlichen Güter oder selbst der Gedanke daran hintertrieben werden kann. Hier fällt einem natürlich das Museum ein, doch dies trifft auch für Dienstleistungen zu, die spontan für eine größere Allgemeinheit als notwendig angesehen werden, wie die der medizinischen und juristischen Einrichtungen; es gilt sogar für Dienstleistungsangebote der Institutionen, die den Zugang zu diesen Institutionen erleichtern sollen, wie die staatliche Krankenversicherung oder die anderen Formen kostenloser Sozialfürsorge. Man hat jeweils das Paris (oder die Stadt, in der man wohnt) entsprechend seinem eigenen ökonomischen, aber auch kulturellen und sozialen Kapital: Der bloße Besuch des Centre Beaubourg genügt nicht, um sich das dortige Museum für moderne Kunst geistig anzueignen; es ist nicht einmal sicher, daß man die der modernen Kunst gewidmeten Räumlichkeiten tatsächlich betreten muß (was selbstredend nicht alle tun), um zu entdecken, daß es nicht genügt, sie zu betreten, um jene sich anzueignen. . . 105

Es handelt sich bei den »Manieren in Kirchenräumen« also nicht einfach nur um »Benimmregeln«, sondern um ein Set von Praktiken, das – wie Bourdieu sagt – »bestimmte Präferenzen für einen mehr oder weniger adäquaten Gebrauch des Habitats ausbildet« – eine Überlegung, die sich in der Formulierung verdichtet: »Es ist der Habitus, der das Habitat macht«.106 Die von Heuser genannten Verhaltensweisen im Kirchenraum markieren eine spezifische Disposition zu den kulturellen Ordnungen, die in den Kirchenraum eingeschrieben sind. Sie zu »erlernen«, bedeutet in den seltensten Fällen, sich lediglich ein bestimmtes »Regelwissen« anzueignen, sondern es bedeutet mehr: Es bedeutet, Haltungen zu generieren, denen bereits sozial vermittelte Zugehörigkeiten zugrundeliegen. Wer den Kirchenraum betritt, um zu beten oder einen Gottesdienst zu besuchen, der benötigt diese Handlungsanweisungen nicht, denn für

Die »Architektur der Gesellschaft« aus Sicht der Theorie(n) sozialer Ungleichheit von Pierre Bourdieu, in: Joachim Fischer / Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 311 – 341. 104 Pierre Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume (Die Zukunft des Städtischen. Frankfurter Beiträge Band 2), Frankfurt am Main 1991, S. 25 – 34, hier S. 31. 105 Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, S. 32. 106 Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, S. 32.

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ihn ist der Raum ein »affective space«, der für seine Praktiken gemacht ist und der mit ihnen korrespondiert.107 Wenn sich der Schritt beim Betreten eines Kirchenraums von der Straße her unwillkürlich verlangsamt – eine Beobachtung, die man an sich und anderen leicht machen kann –, dann folgt er nicht Heusers Kodex des »gemessenen Schritts«, sondern er passt sich wie von selbst in den Raum ein, den er zugleich bestätigt. Bourdieu hat diesen Zusammenhang über den »Sinn für Sakrales« erklärt, der diesen Praktiken vorgängig ist: Der Antrieb – oder die Motivation, wie es zuweilen heißt – steckt weder im materiellen noch im symbolischen Zweck des Handelns, wie der naive Finalismus, noch in den Zwängen des Feldes, wie die mechanistische Sicht es will. Er steckt in der Verbindung von Habitus und Feld, so daß der Habitus selber das mitbestimmt, was ihn bestimmt. Sakrales gibt es allein für den Sinn für Sakrales [. . . ].108

Für das Zusammenspiel von Raum und Praktiken bedeutet das, dass es keine »äußerliche« Verbindung zwischen beiden gibt, wie sie sich in der Vorstellung von »Manieren« ausdrückt, die auf einen Raum abgestimmt sind, sondern dass sich sakraler Raum und »respektvolles« Verhalten gegenseitig bedingen und hervorbringen. Der religiöse Raum ist nur insoweit wirklich »sakral«, als er als Feld »sakralen« Verhaltens anerkannt wird: Die Verhaltensmuster, Gesten und Körperhaltungen, die Alfred Heuser in seinem Benimmkatalog nennt, »machen« den Raum; der Habitus macht das Habitat.

Artefakte im Kirchenraum: Dinge und Ding-Arrangements Ein ähnlicher Befund gilt auch für die Untersuchung sakraler Dinge und Artefakte bzw. von Dingen und Artefakten in sakralen Kontexten. In der Forschung zu religiösen Artefakten ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass ihr Status als »sakrale« Objekte prinzipiell prekär, fließend und sogar »beliebig« ist: »Grundsätzlich kann jedes materielle Objekt als Repräsentant des Heiligen angesehen werden und als solcher Verehrung erfahren. Sein primärer Verwendungszweck stellt keine Einschränkung für seinen Gebrauch als Träger von sakralen Bedeutungen dar«.109 Inwieweit ein bestimmtes Objekt also als sakrales »funktioniert«, ist und bleibt eine Frage seines Gebrauchs und der konkreten Handlungskontexte, in denen es seine Bedeutung erhält. Das Feld der sakralen Objekte ist daher »prinzipiell unabgeschlossen«, was ein Verständnis von »Sa-

107 Reckwitz, Affective Spaces, S. 254. 108 Pierre Bourdieu, Leçon sur la Leçon, in: Ders., Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la Leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, S. 47 – 81, hier S. 75. 109 Kohl, Die Macht der Dinge, S. 157.

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kralität als Prozess« nahelegt.110 Im Rahmen von Prozessen der Sakralisierung erhalten die Dinge also ihre Bedeutung; sie gelten dann »als außergewöhnlich, werden oft räumlich von der Welt des Profanen isoliert und an tabuisierten Plätzen aufbewahrt, sind Objekt von Verehrung und Ehrfurcht und werden eingebunden in kultische Zusammenhänge«.111 Allerdings verengt ein solcher Fokus auf »heilige« Gegenstände erheblich den Analyserahmen: Geht man mit den Material Religion Studies von räumlich-materiellen Arrangements aus, die religiöse Praxis mit konstituieren, dann geht dieses Interesse für die Materialität von Religion weit über ein Interesse an Prozessen der Sakralisierung bestimmter Objekte hinaus. Denn auch die nicht im engeren Sinne »heiligen« Gegenstände sind am sozialen Konstitutionsprozess religiöser Praxis beteiligt: Auch Kerzenständer, Kirchenbänke und Beleuchtungskörper, weiß getünchte oder farbig ausgemalte Wände, Schwellen und Bodenbeläge, Klingelbeutel und Gesangbücher machen die »religiöse Erfahrung« in Kirchenräumen aus. Kurzum: Es ist das gesamte materielle Setting einer Situation, die in den Blick kommen muss, wenn es um die Materialität von Religion geht. In diesem Sinne zielt die Frage nach der »Sakralität« auf einen untergeordneten Aspekt: Sie ist zwar geeignet, spezifische Techniken der Überhöhung bestimmter Gegenstände im Sinne sakraler Bedeutungsüberschüsse zu erfassen, stellt aber kaum in Rechnung, dass Religion in weitaus breitere materielle Handlungszusammenhänge eingebettet ist. In ihrer Einleitung zu einem sozialanthropologischen Sammelband zum Zusammenhang von Materialität und Transzendenz formulieren die Herausgeber Diana Espirito Santo und Nico Tassi dementsprechend eine weitreichende Hypothese zur Rolle der Dinge in religiösen Kontexten: The ethnographic data presented here lead us to reconsider the consequences of material movement, or the movement of materials – inasmuch as this movement generates relations of all kinds – particularly in how an active engagement with and employment of »things«, as well as their mere presence, may have consequences beyond epistemological ones: that is, how objects may be complicit in the making of spiritual worlds. [. . . ] In the end, we feel it is not enough to grant the object »subjectivity« or voice, but rather it may be necessary to see it as intrinsic to and even constitutive of religious ontologies.112

110 Torsten Cress, Religiöse Dinge, in: Stefanie Samida / Manfred K.H. Eggert / Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Kontexte, Disziplinen, Stuttgart 2014, S. 241 – 244, hier S. 242. 111 Cress, Religiöse Dinge, S. 241. 112 Diana Espirito Santo / Nico Tassi, Introduction, in: Dies. (Hg.), Making Spirits. Materiality and Transcendence in Contemporary Religions, London / New York 2013, S. 1 – 30, hier S. 8.

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Von hier aus stellt sich der »Dingraum« Kirche als Ineinander zahlreicher, mehr oder weniger sakralisierter Objekte, Gebrauchsgegenstände, medialer Apparaturen und anderen »Zeugs« im Heideggerschen Sinne dar.113 Der katholische Kirchenraum war über lange Zeit hinweg ein Ort, an dem nicht nur eine Fülle teils »wundertätiger« Bilder und Reliquien zu sehen war, sondern auch viele weitere Artefakte, die auf performative Praktiken verweisen. So hat Stefan Laube die frühneuzeitlichen Kirchenräume als »performative Dingräume« 114 interpretiert und sie dabei zwischen Museum und Theater verortet: In Zeiten ohne institutionalisierte Kultureinrichtungen war die Kirche zumindest partiell Schauplatz kultureller Vielfalt. Von jeher war sie als Ort liturgischer Dramen und exponierter Objekte ebenso theatral wie auch museal geprägt. Man denke nur an ausklappbare Altarretabeln, »handelnde Bildwerke«, mit Orgeln und mechanischen Uhren verbundene Figurenautomaten sowie an den Brauch jener liturgisch gerahmten Heiltumsweisungen, die große Volksmassen anzuziehen pflegten. Kirchen, insbesondere Kathedralen, stellten lange Zeit die einzigen überdachten, geschützten und zugleich geräumigen Gebäude der Stadt dar, in denen es möglich war, »lebende Bilder« zu inszenieren und großformatige Einrichtungsgegenstände aufzustellen.115

Hier wird nochmals nachvollziehbar, dass Kirchenräume im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit immer auch eindrucksvolle Schauräume waren – eine Dimension des Kirchenraums, die heute in Initiativen zur Installation zeitgenössischer Kunst vielleicht am deutlichsten erfahrbar ist.116 Unter der Leitung des Jesuiten Gustav Schörghofer wird seit einigen Jahren in der Kirche der Alten Universität am Wiener Ignaz-Seipel-Platz Kunst gezeigt: Im Winter 2014/15 etwa ist hier von der Künstlergruppe Steinbrener / Dempf & Huber ein gewaltiger »schwebender Stein« à la René Magritte installiert worden, der den Raumeindruck dominierte und irritierte.117 Installationen wie diese brechen spontane Erwartungen an den Kirchenraum und konfrontieren die Welt

113 Vgl. dazu in aller Kürze die Erläuterungen in: Hans Peter Hahn / Manfred K.H. Eggert / Stefanie Samida, Einleitung: Materielle Kultur in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Stefanie Samida / Manfred K.H. Eggert / Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Kontexte, Disziplinen, Stuttgart 2014, S. 1 – 12, hier: S. 2 – 3. 114 Laube, Von der Reliquie zum Ding, S. 458 – 459. 115 Laube, Von der Reliquie zum Ding, S. 34. 116 Vgl. grundsätzlich dazu die praktisch-theologische Studie von Frank Hiddemann, Site-specific Art im Kirchenraum: Eine Praxistheorie, Berlin 2007. 117 Vgl. Anne Katrin Feßler, Hommage an René Magritte: Tonnenschwerer Trick, wuchtiges Wunder. »To be in Limbo« von Steinbrener / Dempf & Huber in der Jesuitenkirche, in: derStandard.at, 19. November 2014. http://derstandard .at / 2000008372371 (Zugriff am 10. Januar 2015).

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religiöser Artefakte mit anderen Materialitäten. Während Steinbrener / Dempf & Huber ihren »schwebenden Stein« in den Kirchenraum gebracht haben, hat Martin Mosebach seinerseits darüber nachgedacht, inwiefern die liturgischen Gegenstände des katholischen Ritus auch außerhalb des Kirchenraums funktionieren. Er beschreibt die materielle Minimalausstattung für eine katholische Messe anhand eines kleinen Messkoffers: Der Geist des katholischen Ritus offenbart sich jedermann in der römischen Basilika oder der französischen Kathedrale oder den spanischen goldstarrenden Barockaltären – mindestens ebenso aber in jenem Meßkoffer aus dem Zweiten Weltkrieg, den ich neulich in Benutzung erleben durfte: mit abgestoßenen Ecken, von der Größe einer voluminösen Reiseschreibmaschine, im aufgeklappten Deckel sind die Kanon-Tafeln eingeklebt, eine Klapp-Platte mit Heiligenreliquie, dem »Sepulcrum«, kann über die untere Kofferhälfte gelegt werden, ein Kelch in Eierbecherformat, Meßkännchen im Lederfutteral, ein Aspergill von der Größe einer Füllfeder, das Meßbuch in Gebetbuchsgröße, die priesterliche Stola wie ein violettes Seidenband, um Geschenke zu verpacken, ein kleines vernickeltes Standkruzifix mit ebensolchen Kerzenleuchterchen: ein solcher Koffer, der »Onmia mea mecum porto« zu sagen scheint, dieser Puppenaltar, der überall aufgeschlagen werden kann, ist eben gleichfalls Inbegriff und Wesensausdruck des römischen Kultes und ganz besonders auch des Meßbuchs von Trient. Denn hier ist der Versuch unternommen, die ganze Fülle der katholischen Glaubenspraxis in eine – durchaus dick geratene – Nußschale zu packen. Das Meßbuch von Trient ist gemacht für die Kathedrale, aber auch für den Dschungel, für das letzte vergessene Diasporakirchlein und die Katakombe. Es ist ein Robinson- und Fluchtgepäck; der Priester, der schiffbrüchig mit dem Tridentiner Missale auf einer einsamen Insel landete, könnte mit ihm die ganze Fülle der Katholizität erzeugen.118

Bedarf es also gar keines sakralen Raums, um die Messe mit ihrer »ganze[n] Fülle der Katholizität« zu feiern? Welche Artefakte sind unbedingt notwendig, um den liturgischen Ablauf zu garantieren? Und – weiter gefragt – inwiefern ist Liturgie ohne diese Minimalausstattung eben nicht möglich? Wie »materiell« und wie »immateriell« sind Liturgie und religiöse Praxis in bestimmten Kontexten? Dieser Frage lässt sich gerade aus der Perspektive einer Eliminierung der Dinge gut nachgehen. Denn welchen Stellenwert das materielle Setting des Kirchenraums mit seinen Dingen und Artefakten für die religiöse Praxis hat, machen nicht zuletzt die gewaltsamen Attacken deutlich, denen diese Dinge immer wieder ausgesetzt waren und sind. Jeanne Halgren Kilde schreibt dazu:

118 Mosebach, Häresie der Formlosigkeit, S. 154 – 155.

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At the heart of any fundamental alteration in ritual space lies iconoclasm. Though the term conjures images of violent destruction – shattered stained glass, defaced statuary – the physical elimination of the old and its replacement with the new accomplished by less-violent means is certainly no less momentous. Born of transformations in religious creed and culture, iconoclasm instantiates conceptual theological changes in the physical world.119

In gewisser Weise lässt sich an der Geschichte ikonoklastischer Praktiken ex negativo ablesen, was hier bereits über die Materialität von Religion entwickelt worden ist – nämlich dass nicht nur die heiligen Texte, der theologische Diskurs und die »Bewusstseinsinhalte« die religiöse Praxis ausmachen, sondern immer auch das, was in konkreten Handlungszusammenhängen getan wird. Ein naheliegendes historisches Beispiel für ikonoklastische Praktiken ist der reformatorische Kampf gegen die Bilder und Utensilien der Liturgie. In zahllosen Kirchenräumen in Deutschland und Mitteleuropa kam es in den 1520er Jahren zu bilderstürmerischen Akten, bei denen Heiligenbilder und Heiligenstatuen demoliert, liturgisches Gerät entwendet und zerstört und Verwaltungsund Vorratsräume geplündert wurden.120 Nimmt man hier über die Muster städtischer Konfliktaushandlung 121 hinaus insbesondere den Aspekt der materiellen Kultur in den Blick, so lässt sich festhalten, dass theologische Konzeptionen und damit zusammenhängende symbolische Ordnungen des Sozialen hier über einen sehr direkten und gewaltsamen Eingriff in die materielle Faktur von Religion verhandelt wurden. Wenn sich der Angriff auf religiöse Praktiken einer Konfession durch einen Angriff auf die religiösen Dinge vollzieht, dann muss dahinter eine bestimmte Vorstellung davon existieren, wie Dinge und religiöse Praxis zusammenhängen. Folgen wir dieser Spur, so ließe sich zugespitzt sagen, dass der praxeologische Gedanke Pascals – »Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet und du wirst glauben!« – der Sache nach schon den Reformatoren des 16. Jahrhunderts bekannt war. Denn hinter ihrem Kampf gegen die heiligen Dinge im Kirchenraum steckte nicht zuletzt die Einsicht in das enge Verhältnis von Materialität, Handeln und Glaubenspraxis: dass das, was man glaubt, wesentlich mit der Inkorporierung und der materiellen Verankerung von Handlungsprogrammen zu tun hat. Nicht nur zwischen den großen christlichen Konfessionen, sondern auch innerhalb des Protestantismus setzte sich die Debatte um den Status der Dinge

119 Kilde, When Church became Theatre, S. 22. 120 Vgl. dazu u. a. Norbert Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln im 15. und 16. Jahrhundert, München 1996. 121 Dazu etwa Norbert Schnitzler, »Kirchenbruch« und »lose Rotten«. Gewalt, Recht und Reformation (Stralsund 1525), in: Bernhard Jussen / Craig Koslofsky (Hg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400 – 1600, Göttingen 1999, S. 285 – 315.

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im Kirchenraum fort. So sprach sich der Rostocker Theologe Heinrich Müller im 17. Jahrhundert gegen vier zentrale Inventarstücke protestantischer Kirchenfrömmigkeit aus. Die Christenheit seiner Zeit habe – so Müller – »vier stumme Kirchen-Götzen, denen sie nachgehet, den Taufstein, Predigtstuhl, Beichtstuhl, Altar, sie tröstet sich ihres äußerlichen Christentums, daß sie getauft ist, Gottes Wort höret, zur Beichte gehet, das Abendmahl empfängt, aber die innere Kraft des Christentums verleugnet sie«.122 In der Folge dieser pietistischen Kritik entstanden Kirchenräume, die den denkbar stärksten Bruch mit den barocken Interieurs gegenreformatorischer Prägung vollzogen: Das strenge reformierte Auditorium kannte nach Heinrich Heines später Verhöhnung aufgrund heimischer Beispiele im Bergischen Land nur vier weiße Wände und vorne ein kleines schwarzes Täfelchen mit weißen Ziffern, nämlich zum Anzeigen der zu respondierenden Psalmen, weil schon lutherischer Kirchengesang des Teufels war.123

Pietismus und reformierte Kirchen wandten sich – wie viele innerkirchliche Reformprogramme, etwa in den Orden und Klöstern – im Namen der »reinen Lehre« und der wahren, »innerlichen« Frömmigkeitsübung gegen das »äußerliche« Christentum der Liturgie und der Rituale. Die ostentative Kargheit aber hatte ihren eigenen materiellen Aufforderungscharakter – die schlichten Kirchenräume mit weißen Wänden und schwarz-weißem Zifferntäfelchen, wie sie Heine parodierend beschreibt, bildeten eine materielle Umgebung, welche die meditative Seite und die »innere Kraft« der religiösen Praxis verstärken sollte. Versucht man, den protestantischen Exorzismus der Dinge aus dem Kirchenraum mit den oben formulierten Überlegungen zur Materialität des Kirchenraums zusammenzudenken, dann lässt sich spekulativ festhalten, dass die Dinge nicht nur als Stellvertreter der Heiligen und als Objekte der Verehrung, sondern immer auch in ihrer Funktion als Teil eines auf unbewussten körperlichen Routinen basierenden Handlungszusammenhangs abgelehnt wurden. Schon die Passage über die »Kirchen-Götzen« macht das deutlich: Dass über die Dinge automatisierte Handlungsprogramme abliefen, machte sie zum integralen Moment einer »altgläubigen« Praxis. So konnte man den Katholizismus wie auch allzu »äußerliche« Formen protestantischer Frömmigkeitsübung nur dann wirksam bekämpfen, wenn man den Kirchen ihre Dinge nahm. Nur wenn »die Existenz der Ideen seines Glaubens materiell ist«, wie Althusser sagt,

122 Zit. nach Martin Brecht, Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, in: Ders. (Hg.), Geschichte des Pietismus. Band 1: Das 17. und frühe 18. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 113 – 203, hier S. 174 – 175. 123 Wolfgang Brückner, Heiliges Blut, in: Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, S. 503 – 514, hier S. 513.

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konnte man dem fehlgeleiteten Gläubigen mit Taufstein, Kanzel, Beichtstuhl und Altar auch eine Basis seiner Ideen entziehen. Praxistheoretisch ausgedrückt: Nicht nur, wenn der Körper / Geist, der ein bestimmtes Verstehen inkorporiert hat und verkörpert, verschwindet, wird es für soziale Praktiken unmöglich, sich zu reproduzieren. Auch wenn die Dinge, die ein bestimmtes materielles Verstehen in sich enthalten, verschwinden würden oder nie in Erscheinung getreten wären, wäre man mit dem gleichen Ergebnis konfrontiert: der Unmöglichkeit, bestimmte soziale Praktiken aufrechtzuerhalten.124

In diesem Sinne haben die protestantischen Reformatoren und Pietisten die Rolle der Dinge für die inkorporierten Programme der Glaubenspraxis früh erkannt. Gleichsam gegen ihr eigenes Programm sowie im Einklang mit Pascal und Althusser haben sie gesehen, dass der Glaube kein freischwebendes mentales Geschehen ist, sondern sich als Praxis über materielle Arrangements und körperliche Hexis herstellt. Katholische Frömmigkeit erweist sich von hier aus als eine räumliche »Praxis, die ohne Dinge nicht denkbar ist«.125 Der Kirchenraum ist deshalb immer mehr als nur das »Abbild einer geistigen communio sanctorum«,126 und welche Rolle die materiellen Dinge – Gebetbuch, Rosenkranz, Andachtsbild – in der häuslichen Frömmigkeitspraxis und der emotionalen Ökonomie des Gebets gespielt haben und spielen, ist ebenfalls ein überaus lohnendes Thema gegenwärtiger und künftiger, die Materialität von Religion in den Mittelpunkt stellender Forschungsarbeiten.127 Im Februar und März 2014 kam es zu einer Reihe vandalischer Akte in Wiener Kirchenräumen. Betroffen waren neben dem Stephansdom die Pfarrkirchen Breitenfeld und Neuottakring, die Kirche St. Othmar in Wien-Landstraße, die Mariahilfer Barnabitenkirche sowie – ganz besonders – die Lazaristenkirche in Wien-Neubau. Der »Standard« berichtete, wie Ibrahim A. in St. Stephan eine Statue des heiligen Judas Thaddäus von ihrem Marmorsockel gestoßen habe. Nach Aussage des Polizeisprechers Hahslinger habe der Mann darauf

124 125 126 127

Reckwitz, Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien, S. 154. Laube, Von der Reliquie zum Ding, S. 47. Laube, Von der Reliquie zum Ding, S. 47. Wichtige Einsichten und Ergebnisse sind von der für Dezember 2018 angekündigten ethnographischen Studie von Torsten Cress zu erwarten: Torsten Cress, Sakrotope. Studien zur materiellen Dimension religiöser Praktiken. Bielefeld 2018 (im Erscheinen). Eine durch ihre originelle Fragestellung anregende Skizze bietet beispielsweise Barbara Thériaults Aufsatz zum Gebrauch des Rosenkranzes in Frauengefängnissen: Barbara Thériault, Die den Rosenkranz tragen. Religiöse Formen in einem Frauengefängnis, in: Uta Karstein / Thomas Schmidt-Lux (Hg.), Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen. Wiesbaden 2017, S. 253 – 265.

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verwiesen, dass ihn eine »Eingebung« dazu bewogen habe, »gegen die StatuenVerehrung vorzugehen«. In diesem Zusammenhang habe er die katholischen Gläubigen als »Marionetten« bezeichnet.128 Dompfarrer Toni Faber ergänzt zu dem Vorfall, der Täter habe sich »vor dem Vorfall über seinen iPod mit religiöser Musik in Stimmung gebracht«.129 Im Sommer 2014 ist dem Täter seitens der Gerichtspsychiatrie eine psychotische Störung attestiert worden, woraufhin er freigesprochen wurde. Dennoch reiht sich diese Episode ein in eine lange Geschichte ikonoklastischer Attacken, die auf die Dinge zielen, um Praktiken zu treffen. Die Metapher, mit der Ibrahim A. die katholischen Gläubigen als »Marionetten« bezeichnet, erinnert ganz nebenbei an das vielleicht zentrale Moment der neueren kulturtheoretischen Entwicklung: nämlich die Zerstörung und Neuformatierung der klassischen Vorstellung vom souveränen Subjekt.

Akteur-Netzwerke? Im Kirchenraum mit Latour Die im Umkreis der Science and Technology Studies 130 entwickelten Kulturund Praxistheorien der Materialität gehen in der Dezentrierung des klassischen handelnden Akteurs noch einen Schritt weiter als es etwa die poststrukturalistischen und postkolonialen Theorien tun. So verweisen diese Ansätze ganz grundlegend darauf, »dass das Soziale und damit die Bedingung von Subjekthaftigkeit sich nicht auf ›Ideelles‹, d. h. auf symbolische Ordnungen, auf sprachliche und nichtsprachliche Zeichensysteme und Wissensordnungen, reduzieren lässt«.131 In diesem Sinne verstehen sie das Subjekt als »Korrelat von medialen Apparaturen und Artefakt-Netzwerken« und positionieren damit die materielle Welt der organischen oder anorganischen, natürlichen oder technischen »Dinge« nicht nur als Bezugspunkt, sondern als konstitutives Element sozialer Praktiken.132 Einen Entwurf zu einer solchen Theorie des Materiellen haben Deleuze und Guattari in ihren »Mille Plateaux« vorgelegt; zu einer wichtigen kulturtheoretischen Strömung hat sich dieses Denken aber vor allem durch die Arbeiten von Bruno Latour und Michel Callon entwickelt, in denen 128 Heiligenstatuen in vier Wiener Kirchen zerstört, Meldung vom 30. März 2014, auf: http://derstandard.at/1395363639450/Vandalismus-In-vier-Kirchen-Statuen-zerstoert (Zugriff am 02. April 2014). 129 Vandalismus-Serie in Wiener Kirchen, Meldung vom 31. März 2014, auf: http:// diepresse .com / home / panorama / religion / 1583936 / VandalismusSerie - in - Wiener Kirchen ? _ vl _ backlink = / home / index .do (Zugriff am 02. April 2014). 130 Vgl. dazu Stefan Beck / Jörg Niewöhner / Estrid Sørensen, Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung, Bielefeld 2012. 131 Andreas Reckwitz, Subjekt, Bielefeld 2008, S. 106. 132 Reckwitz, Subjekt, S. 106.

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eine »Akteur-Netzwerk-Theorie« vorgeschlagen wird; 133 sie kommuniziert mit einer Theorie sozialer Praktiken, wie sie bei Theodore Schatzki, Karin Knorr Cetina und Eike von Savigny umrissen und im Sinne eines »practical turn« proklamiert worden ist.134 Für eine Untersuchung räumlich gebundener und in materielle Settings eingebetteter Praktiken wie die vorliegende ist eine solche Perspektive zunächst ungemein attraktiv. Verspricht sie doch nicht nur, »endlich das fluide Soziale nachzuzeichnen«,135 ohne einen normativen Begriff von Gesellschaft und gesellschaftlicher Ordnung vorauszusetzen und damit die Differenz zwischen Mikro- und Makroperspektive zu überwinden, sondern stellt sie darüber hinaus in Aussicht, die konstitutive Rolle von Dingen und Artefakten für die Herstellung des flüssigen und beweglichen Sozialen endlich angemessen zu berücksichtigen. Dies war schließlich von Beginn an ein wesentliches Erkenntnisinteresse dieser Arbeit: zu bestimmen, wie sich religiöse und religioide Praktiken aus dem Zusammenspiel von Akteuren, räumlichen Strukturen und Artefakten – vom Kirchenportal über die Kniebank bis zum Gnadenbild – verstehen lassen. Im vorliegenden Abschnitt werden daher versuchsweise Überlegungen der AkteurNetzwerk-Theorie daraufhin befragt, ob sie für die praxistheoretische Analyse von Kirchenräumen von Nutzen sein können: Kann mittels eines Ansatzes, der von einer »Symmetrie von Akteur und Aktant« ausgeht,136 besser verstanden werden, was in Kirchenräumen vor sich geht und was die Spezifik dieser Räume ausmacht? Anna Körs hat sich in ihrer raumsoziologischen Studie über Kirchenräume und ihre BesucherInnen eingehend mit dieser Frage auseinandergesetzt. Sie resümiert Latours allgemeines Anliegen, »die Welt der Menschen und der Dinge nicht als getrennt, sondern als ineinander verwoben aufzufassen und das traditionelle Konzept des Sozialen als Beziehungen zwischen Menschen durch eine Netzwerksoziologie als die Assoziationen menschlicher und nichtmenschlicher Wesen zu ersetzen«.137 Als Anregung für die Forschung über Kirchenräume hält Körs fest: Auch wenn die ANT mit ihrer These der Hybridisierung in ihrer empirischen Anwendung bislang schwerpunktmäßig auf die Untersuchung von Dingen und

133 Vgl. v. a. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995; Ders., Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 2007. 134 Vgl. Schatzki, Social Practices; Ders./Karin Knorr Cetina / Eike von Savigny (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001. 135 Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 285. 136 Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 219. 137 Körs, Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S. 398.

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Techniken gezielt hat, kann ihr empirisches Potential darüber hinaus überall dort vermutet werden, wo es darum geht, die Mitwirkung nicht-menschlicher Wesen in den Blick zu bekommen, wie beispielsweise auch im Bereich der Religion. Indem die ANT darauf aufmerksam macht, dass es neben dem Sozialen eine Reihe von Mittlern und Existenzformen gibt, seien es Götter, Engel oder auch Kirchenräume, die das Leben der Menschen wesentlich beeinflussen, ohne dass diese immer auch einen dahinter liegenden sozialen Grund zurück zu führen sind, vermag sie möglicherweise [. . . ] eine neue Perspektive auch auf traditionelle technische und nicht-technische bzw. raumhaltige Gegenstände der Soziologie zu werfen.138

Nun scheint es zumindest methodologisch schwierig, Götter oder Engel als Aktanten ins Akteur-Netzwerk einzubeziehen – vielversprechend ist aber sicherlich die Idee, die zahlreichen materiellen Arrangements bis hin zu den Repräsentationen von Göttern, Engeln und anderen »Geistern des Raums« 139 im konkreten Kirchengebäude im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie zu berücksichtigen und auf diese Weise über den klassischen Subjekt-Objekt-Dualismus hinauszugelangen. Es kommt einer solchen materialitätsorientierten Sichtweise – und erst recht einem dezidiert architektursoziologischen Ansatz – entgegen, wenn mit der Akteur-Netzwerk-Theorie gesagt werden kann, Akteure hätten »eine von den Umgebungen, die sie zu Akteuren mit bestimmten Handlungen und Kompetenzen machen, abhängige Wirklichkeit«.140 Dadurch nämlich kommen eben diese Umgebungen in ihrem sozial konstitutiven Effekt in den Blick, sie erscheinen als Gesamtheit aller Elemente, die in einer bestimmten Konstellation dazu beitragen, »dass ein relativ stabiles Ordnungsmuster entsteht«.141 Mehr noch: Alle diese Elemente erhalten – zumindest »sekundär« – einen Akteursstatus, insofern sie Teile von Handlungsnetzwerken sind. Wenn, wie Körs festhält, Kirchenbesucher und Kirchennutzer »nur als Hybrid-Akteur[e] zugänglich« sind,142 dann müssen Religion, Raum und Materialität neu gedacht werden. Denn – so Stefan Beck – eine »Theorie des Sozialen, die symmetrisch den menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren durch Handlungssituationen folgt, nimmt materiale Kultur [. . . ] nicht nur in ihren symbolischen (also: diskursiven) Sublimationen ernst, sondern interpretiert sie als materiale Be-Dingung alltäglichen Handelns und als (Mit-)Erzeugerin

138 Körs, Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S. 401. 139 Vgl. die in Kapitel 4 diskutierte Idee von Mayerfeld Bell, The ghosts of place. 140 Andréa Belliger / David Krieger, Netzwerke von Dingen, in: Stefanie Samida / Manfred K.H. Eggert / Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Kontexte, Disziplinen, Stuttgart 2014, S. 89 – 96, hier S. 92. 141 Belliger / Krieger, Netzwerke von Dingen, S. 92. 142 Körs, Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S. 409.

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des Sozialen«.143 Oder nochmals mit Latour: »Wenn wir von nun an von einem Akteur sprechen, sollten wir stets das große Netzwerk von Verknüpfungen hinzufügen, das ihn handeln macht«.144 Kathrin Busch hat versucht, die Latoursche Akteur-Netzwerk-Theorie mit ihrer spezifischen Aufmerksamkeit für die Materialität von Gebrauchsgegenständen und technischen Artefakten für die Analyse von Räumen und Architekturen produktiv zu machen. Sie weist auf den naheliegenden Befund hin, dass gebauten Räumen und räumlichen Anordnungen ebenso wie Gebrauchsgegenständen handlungsstrukturierende Funktion zukommt.145 So werde es möglich, eine »Symmetrie von Mensch und Raum zu begründen«, in der beide gleichberechtigt an einer »Sozialität mit Objekten« – so Karin Knorr Cetinas Formel – beteiligt sind. »Weder existiert der Raum unabhängig vom Subjekt noch produziert der Mensch asymmetrisch durch sein Handeln den Raum. Vielmehr ist auch hier eine Hybridisierung zu denken, in der Akteur und Aktant sich symmetrisch ergänzen«.146 Auch im Hinblick auf ganze Ding-Räume gilt, was Busch für die Akteur-Netzwerk-Theorie insgesamt festhält: »Wenn Handlungsprogramme an Dinge delegiert werden, können diese für menschliche Akteure einstehen und Träger von sozialen Normen werden«.147 Aus dieser theoretischen Perspektive kann also danach gefragt werden, wie die sozial konstituierten Kirchenräume »Zirkulationen begrenzen oder regulieren und wie dadurch Fakten und Artefakte ebenso wie soziale Akteure in ihren Handlungen und Identitäten definiert werden«.148 Anna Körs bestimmt die Relevanz der Akteur-Netzwerk-Theorie für die theoretische Vermittlung von Akteuren und Materialitäten in Kirchenräumen daher wie folgt: Kirchenräume können zwar nicht sprechen und Steine nicht predigen, wie es mitunter heißt [. . . ], sind aber auch nicht »bloß die glücklosen Träger symbolischer Projektion« [. . . ], sondern Teil des Hybrid-Akteurs »Kirchenraum-Besucher«, in dem sich Akteur und Aktant symmetrisch ergänzen. Das Konzept des Aktanten erlaubt es so, die nicht deterministische Wirksamkeit von Kirchenräumen in den

143 Stefan Beck, Vom Nutzen der »science and technology studies« für die Europäische Ethnologie, in: Reinhard Johler / Max Matter / Sabine Zinn-Thomas (Hg.), Mobilitäten. Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung. 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Freiburg im Breisgau vom 27. bis 30. September 2009, Münster u. a. 2011, S. 333 – 335, hier S. 334. 144 Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 376. 145 Vgl. Busch, Hybride. S. 15. 146 Busch, Hybride, S. 19. 147 Busch, Hybride, S. 15. 148 Beck, Vom Nutzen der »science and technology studies«, S. 333.

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Blick zu nehmen, ohne dabei in eine naive materialistische Perspektive zu verfallen.149

Bekanntlich begründet Latour sein Konzept des Aktanten, indem er darauf verweist, dass Dinge in Handlungszusammenhängen einen Unterschied machen: »Wenn wir [. . . ] bei unserer Entscheidung bleiben, von den Kontroversen um Akteure und Handlungsquellen auszugehen, dann ist jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, ein Akteur – oder, wenn es noch keine Figuration hat, ein Aktant«.150 In gewohnt polemischem Ton serviert Latour eine ganze Reihe von Beispielen: Wenn Sie mit unbewegtem Gesicht behaupten können, dass es genau dieselbe Tätigkeit ist, einen Nagel mit und ohne Hammer einzuschlagen, Wasser mit und ohne einen Wasserkessel zu kochen, Vorräte aufzubewahren mit und ohne einen Korb, durch die Straßen zu gehen mit und ohne Kleider, ein Fernsehgerät mit oder ohne Fernbedienung zu zappen, einen Wagen abzubremsen mit und ohne eine Bremsschwelle, ein Inventar zu führen mit und ohne eine Liste, eine Firma zu betreiben mit und ohne Buchhaltung, daß also die Einführung dieser prosaischen Geräte »nichts wesentliches« an der Durchführung der Aufgaben ändert, dann sind Sie im Begriff, auf den fernen Planeten des Sozialen auszuwandern und aus dieser niederen Welt zu verschwinden.151

Wenn wir diese Überlegung im Hinblick auf den Kirchenraum adaptieren, können wir etwa fragen: Ist es genau dieselbe Tätigkeit, zu knien mit oder ohne Kniebank, zu beten mit oder ohne Seitenaltar, Madonnenbild und Rosenkranz, sich zu bekreuzigen mit oder ohne Weihwasser? Oder aber: Ist es genau dieselbe Tätigkeit, zu glauben mit oder ohne Kniebank, mit oder ohne Seitenaltar, mit oder ohne Madonnenbild, mit oder ohne Rosenkranz, mit oder ohne Weihwasser? Die Frage – so banal sie gestellt ist – zielt ins Zentrum der Vorstellung eines autonomen Subjekts. Wenn nämlich die Rolle der Dinge und Artefakte bei der Konstitution des Glaubens aufgewertet wird, dann erscheint das Subjekt zunehmend als abhängiges »Korrelat von medialen Apparaturen und ArtefaktNetzwerken«. Das Religiöse erscheint dann – wie das Soziale überhaupt – nicht mehr als »ideelles« Moment, das dem Materiellen vorgängig gedacht werden könnte, sondern es hängt wesentlich von einem »eigendynamischen Arrangement von Artefakten« ab.152 John Law hat in einem kommentierenden Text zur Akteur-Netzwerk-Theorie den neuen Status von Subjekten als vom Netzwerk abhängigen Akteuren anschaulich beschrieben:

149 150 151 152

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Körs, Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S. 405 – 406. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 123. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 123. Reckwitz, Subjekt, S. 106.

Der Kirchenraum als materieller Raum

Personen sind die, die sie sind, weil sie aus einem strukturierten Netzwerk heterogener Materialien bestehen. Wenn man mir meinen Computer, meine Kollegen, mein Büro, meine Bücher, meinen Schreibtisch, mein Telefon nähme, wäre ich kein Artikel schreibender, Vorlesungen haltender, »Wissen« produzierender Soziologe mehr, sondern eine andere Person. Vergleichbares träfe sicher auf uns alle zu. Die analytische Frage muss also lauten: Ist ein Akteur primär aus dem Grund ein Akteur, weil er oder sie einen Körper bewohnt, der Wissen, Kompetenzen, Werte und vieles mehr beherbergt? Oder ist ein Akteur aus dem Grund ein Akteur, weil er oder sie über einen Satz von Elementen (darunter natürlich auch über einen Körper) verfügt, die sich über ein Netzwerk von somatischen und anderen Materialien erstrecken, die jeden Körper umgeben? 153

Analog dazu könnte die Frage gestellt werden, inwiefern auch ein Priester oder ein religiöser Akteur generell nur denkbar ist, weil er über einen »Satz von Elementen« verfügt, der ermöglicht, dass er so und nicht anders handelt. Durch Überlegungen dieser Art rückt der Kirchenraum mit seinen Räumen und Gegenständen in der Tat ins Zentrum der Diskussion über Religion überhaupt. Wenn es immer ganze »Netzwerke von Artefakten, Dingen, Menschen, Zeichen, Normen, Organisationen, Texten und vielem mehr« sind,154 die religiöse Handlungszusammenhänge konstituieren, dann ist der Kirchenraum als Knotenpunkt zu verstehen, an dem sich die Elemente dieses Netzwerks überkreuzen und verbinden. Wie aber ist die Wirkmächtigkeit der Dinge im Kirchenraum konkret zu bestimmen? Eine Möglichkeit dazu bietet das Latoursche Konzept der Skripte. Entwickelt im Rahmen einer Soziologie der Technik, lässt es sich für das Verständnis architektonischer Räume und damit auch von Kirchenräumen nutzen. Gemeint sind Handlungsprogramme, die als Resultate vergangener Praktiken in Artefakte eingeschrieben sind und dort als strukturierende Prinzipien der Interaktion wirksam sind. Matthias Wieser schreibt in seiner Studie zur Akteur-Netzwerk-Theorie: »In der Semiotik ist ein Aktant dasjenige, was eine Rolle in der Geschichte übernimmt, ob es nun Madame Bovary, Herr Lehmann, ein Einhorn oder die Blechtrommel ist. Dies gilt für Latour nicht nur im Buch, sondern auch in der Welt, in der wir leben – einer Welt mit Steinen, Sand und Zement«.155 Nach Latour hat »jedes Artefakt [. . . ] sein Skript und das Potential, einen Passanten aufzuhalten und zu zwingen, in seiner Ge-

153 Zit. nach Belliger / Krieger, Netzwerke von Dingen, S. 95. 154 Andréa Belliger / David Krieger, Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, in: Dies. (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-NetzwerkTheorie, Bielefeld 2006, S. 13 – 50, hier S. 15. 155 Matthias Wieser, Das Netzwerk von Bruno Latour. Die Akteur-Netzwerk-Theorie zwischen Science & Technology Studies und poststrukturalistischer Soziologie, Bielefeld 2012, S. 176.

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schichte eine Rolle zu übernehmen«.156 Es fällt nicht schwer, diese Überlegung auf die Artefakte zu übertragen, die in Kirchenräumen zu finden sind: Schon beim Eintreten in die Kirche sind es die schweren Zwischentüren, welche die »Passanten« aufhalten, ihren Schritt verlangsamen und ihre Bewegungen neu justieren. Das Weihwasserbecken veranlasst mit seinem »Skript« dazu, Stellung zu beziehen: entweder das Skript mehr oder minder flexibel auszuführen, die Hand einzutauchen und das Kreuzzeichen in Richtung Altar zu machen, oder aber es bewusst zu ignorieren bzw. zu umgehen. Kirchen- und Kniebänke sind gleichsam »programmiert« und fordern zu bestimmten Körperhaltungen auf – so wie der oben untersuchte Beichtstuhl. So zwingen die einzelnen und aufeinander abgestimmten Artefakte des Kirchenraums dazu, ihnen bei den konkreten Praktiken des Innehaltens, Betens und Glaubens eine Rolle einzuräumen. Umgekehrt übernehmen – nach der Latourschen Formulierung – die BesucherInnen und NutzerInnen des Kirchenraums eine Rolle in der Geschichte der Artefakte. Was bei Latour als »prescription«, »proscription«, »affordances« und »allowances« bezeichnet wird und als die »Moralität eines Settings« gilt, »sowohl in negativer (was es vorschreibt) als auch in positiver Hinsicht (was es gestattet)«,157 das strukturiert also ganz wesentlich das, was im Raum geschieht. Dabei sind die entsprechenden Handlungsprogramme weniger eine Frage der »Manieren«, wie es Alfred Heuser in seinem kleinen religionspädagogischen Artikel nahelegt,158 sondern eben vielmehr eine Frage der »Moralität des Settings«, also dessen, wie das Netzwerk aus Akteuren und Aktanten funktioniert. Heuser schreibt: »Mit der Kniebeuge in Richtung Tabernakel und Ewiges Licht macht der Christ und die Christin deutlich, dass sie den Kirchenraum als Gotteshaus bzw. als Ort der Anwesenheit Jesu Christi im Sakrament des Altares verstehen und dies im Glauben bekennen«.159 Entgegen dieser »logozentrischen« Beschreibung dieses Handlungsvorgangs lässt sich die Beziehung zwischen Christ bzw. Christin, Tabernakel und Ewigem Licht mit Latour – und Althusser – anders fassen: Es ist das spezifische Akteur-Netzwerk, das die Kniebeuge hervorbringt und den spezifischen Komplex aus Praktiken konstituiert, den man »Glauben« nennt. Die Kniebeuge wäre dann nicht einfach das sichtbare Resultat des kognitiven und mentalen Sachverhalts »Glauben«, sondern dieser wäre seinerseits das Resultat eines komplexen Zusammenspiels von Akteuren und Aktanten. Religiöse Subjektivierung in allen ihren Spielarten

156 Latour, Die Hoffnung der Pandora, S. 215. 157 Madeleine Akrich / Bruno Latour, Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nicht-menschlicher Konstellationen, in: Andréa Belliger / David Krieger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 399 – 406, hier S. 401. 158 Heuser, Manieren in Kirchenräumen, S. 18 – 21. 159 Heuser, Manieren in Kirchenräumen, S. 20.

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wäre dann als »Prozess einer (Selbst-)Formung von Körpern« 160 zu begreifen, der sich immer in Netzwerken vollzieht und seine Stabilität durch Performanz, Wiederholung und Ritualisierung gewinnt – gerade im ritualisierten Umgang mit Artefakten. Für den »Vorgang der Netzwerkkonsolidierung bis hin zu Konvergenz und Irreversibilität« benutzt Latour den Begriff des »Blackboxing«. Wenn ein Netzwerk ausreichend stabilisiert ist, wird es zu einer »Blackbox« oder einer »Institution« mit einem vorhersehbaren »Input / Output-Verhalten«.161 Belliger und Krieger erläutern dazu: Die stabilisierten Resultate der Übersetzungsprozesse schütteln ihre Entstehungsgeschichte für gewöhnlich ab, sie gelten dann als selbstevident und werden von den beteiligten Akteuren selbstverständlich und fraglos vorausgesetzt. Eine Blackbox kann ganz unterschiedliche Formen annehmen: Eine »wahre« Theorie, eine »funktionierende« Technik, ein »gesunder« Körper, ein »durchschnittlicher« User, ein Ritualgegenstand, ein Kruzifix, ein Medikament etc. können sich in einem Akteur-Netzwerk als Blackbox verhalten.162

Blackboxes sind in diesem Sinne Netzwerke, die sozusagen so eingespielt funktionieren, dass sie nicht mehr als Netzwerke kenntlich sind. Praxistheoretisch gesehen, stellt der katholische Kirchenraum mit seinen impliziten Handlungsanweisungen, seinen körperlichen und mentalen Routinen des Handelns und Fühlens eine solche Blackbox dar, die ihrerseits wieder aus einzelnen Blackboxes zusammengesetzt ist. Er hat einen überaus starken Aufforderungscharakter, der auch dann wirksam ist, wenn man sich dezidiert gegen das religiöse Handlungsprogramm entscheidet – mit Latour gesprochen, würde es sich dabei um ein »Anti-Programm« handeln.163 Mit dem Konzept der »Blackbox« lässt sich aus Latourscher Sicht formulieren, was hier bereits in anderen theoretischen Formulierungen gesagt worden ist: dass nämlich materielle Arrangements aus Körpern und Artefakten eine »institutionelle« Eigendynamik gewinnen können, die sie zu gleichsam in Gestalten geronnenen Routinekomplexen macht. Die Macht der Institution Kirche liegt nicht zuletzt darin begründet, dass aus situativen Handlungsnetzwerken stabile, immer wiederkehrende Muster geworden sind, die ihre Stabilität auch und gerade durch architektonische Formen erhält. Nun ist ein Kirchenraum kein Labor, die Hostie kein Berliner Schlüssel. Die heuristische Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie kann sicher nicht ohne Probleme auf die Analyse religiöser Praktiken übertragen werden, die in 160 161 162 163

Reckwitz, Subjekt, S. 106. Belliger / Krieger, Netzwerke von Dingen, S. 94. Belliger / Krieger, Netzwerke von Dingen, S. 94. Belliger / Krieger, Netzwerke von Dingen, S. 93 – 94.

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Prozessen der Proposition, der Artikulation, der Übersetzung nicht aufgeht und die sich vor allem nur schwer emergenztheoretisch fassen lässt. Gerade Prozesse der symbolischen Ordnung, der individuellen und kollektiven Sinnstiftung basieren auf Kontexten, die nicht zwingend in der spezifischen Situation präsent sind. Elisabeth Timm hat aus methodologischer Sicht einige gewichtige Einwände gegen die Forschungsdesigns der Akteur-Netzwerk-Theorie sowie der von ihr inspirierten »Praxeographie« formuliert und hervorgehoben, dass hier tendenziell »Fragen nach Struktur, Geschichte und Gesellschaft [. . . ] pauschal als essentialistisch abgelehnt und mit einem Positivismus des Moments und einem Positivismus der situativen Performanz beantwortet« werden. Daher seien »emergenztheoretische Einsichten [. . . ] mit dem Einwand zu konfrontieren, dass sich Gesellschaft nicht voluntaristisch in Momente oder Situationen auflösen lässt«.164 Was die Akteur-Netzwerk-Theorie im Feld der Religious Studies möglicherweise leisten kann, wird die Diskussion der kommenden Jahre zeigen. Fest steht allerdings, dass die Überlegungen Latours und anderer VertreterInnen der Akteur-Netzwerk-Theorie überaus anregend sind, um möglichst konsequent die Materialität von Praktiken zu reflektieren und darüber nachzudenken, wie sich im Rahmen konkreter Handlungszusammenhänge das fluide Soziale immer wieder auf Dauer stellt. In diesem Sinne sind die damit aufgeworfenen Fragen möglicherweise von größerer Bedeutung als die Antworten, die man auf dieser theoretischen Basis erwarten kann.

Von den Handlungsprogrammen zum Handeln: Was tut man eigentlich in der Kirche? In der vorliegenden Studie ist bisher nur wenig berücksichtigt worden, dass Kirchenräume nicht nur religiös genutzt werden, sondern sich in ihnen religiöse, spirituelle, touristische und durchaus auch widerständige Gebrauchsweisen des Raums verschränken.165 In Einzelfällen überlagert die Rolle von Kirchenbauten

164 Elisabeth Timm, Bodenloses Spurenlesen. Probleme der kulturanthropologischen Empirie unter den Bedingungen der Emergenztheorie, in: Timo Heimerdinger / Silke Meyer (Hg.), Äußerungen. Die Oberfläche als Gegenstand und Perspektive der Europäischen Ethnologie. Beiträge der dgv-Hochschultagung »Äußerungen. Die Oberfläche als Gegenstand und Perspektive der Europäischen Ethnologie« vom 28. bis 30. September 2012 am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck, Wien 2013, S. 49 – 75, hier S. 72 – 73. 165 Zu den widerständigen Gebrauchsweisen kann möglicherweise auch der Kirchenschlaf gerechnet werden, der im Zuge des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Bremen 2009 eine überraschende Aufmerksamkeit erfahren hat. Die evangelisch-reformierte Gemeinde Bremen-Blumenthal iniitierte damals das Projekt www.kirchenschlaf.de, dazu erschien auch eine Publikation: Arne Hilke / Ulrich

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als kunsthistorisch bedeutsame Sehenswürdigkeiten deren religiöse Funktion im engeren Sinn. »Faktisch« – so Gernot Böhme – »werden kirchliche Räume wie Kunstwerke betrachtet, ja man muss damit rechnen, dass in Europa die touristischen Besucher von Kirchen ihrer Zahl nach dieselbe Größenordnung erreichen wie die religiös motivierten Besucher«.166 Dabei können sich die Formen von religiöser Praxis und bürgerlicher »Kunstreligion« im Sinne der ostentativen »Versenkung« in die Transzendenz der Kunst stark aneinander annähern. Peter Bräunlein schreibt: Der Habitus des Bürgers, der seine Familie am Sonntag in ein Kunstmuseum führt, unterscheidet sich in Nichts [sic] vom Habitus des Kirchenbesuchers. Der Schritt ist gemessen, die Stimme gesenkt, die Stimmung andächtig. Verboten sind ausholende Gesten, Lärm, Lachen, Nahrungsaufnahme. Das europäische 19. Jahrhundert formte nicht nur einen ganz spezifischen Kunstbegriff, sondern auch eine ganz eigen[e] Art von Körpersprache und Wahrnehmung in musealen Räumen. Gesucht wurden Versenkung, seelische Bewegung und Erhebung [. . . ].167

Diese Idee einer quasi-religiösen Kunstrezeption hat einen ihrer Ausgangspunkte in der deutschen Romantik.168 In seinen »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« hat Wilhelm Heinrich Wackenroder Religion und Kunstgenuss bis zur Ununterscheidbarkeit überblendet: Bildersäle, so Wackenroder, sollten Tempel sein, wo man in stiller und schweigender Demut und in herzerhebender Einsamkeit die großen Künstler, als die höchsten unter den Irdischen, bewundern und mit der langen, unverwandten Betrachtung ihrer Werke in dem Sonnenglanze

Klein (Hg.), Mensch, wo schläfst du? Anthologie zum Stichwort: Kirchenschlaf, Norderstedt 2009. Schon eine der Satiren Jonathan Swifts befasst sich mit diesem Thema: Jonathan Swift, Über das Schlafen in der Kirche, in: Ders., Ausgewählte Werke. Erster Band: Satiren und Zeitkommentare. Herausgegeben von Anselm Schlösser, Frankfurt am Main 1982, S. 544 – 553. Als Motto für diesen Text hatte Swift eine Passage aus der Apostelgeschichte XX, 9, gewählt, in der die möglichen Folgen des Kirchenschlafs drastisch ausgemalt werden: »Es saß aber ein Jüngling mit Namen Eutychus in einem Fenster und sank in einen tiefen Schlaf, dieweil Paulus so lange redete, und ward vom Schlaf überwogen; und fiel hinunter vom dritten Söller, und ward tot aufgehoben«. 166 Böhme, Architektur und Atmosphäre, S. 142. 167 Bräunlein, »Zurück zu den Sachen!«, S. 21. 168 Zur Genealogie der »Kunstreligion« vgl. etwa Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006; Albert Meier / Alessandro Costazza / Gérard Laudin (Hg.), Kunstreligion. Band 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800, Berlin / New York 2011.

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der entzückendsten Gedanken und Empfindungen sich erwärmen möchte. Ich vergleiche den Genuß der edleren Kunstwerke mit dem Gebet.169

Gelten – im Sinne dieser Traditionslinie – in Kunstmuseen zuweilen ganz ähnliche Verhaltenscodes wie in Kirchen, so überschneiden und überlagern sich in Kirchenräumen Praktiken von »Religion« und »Kunstreligion«. Das betrifft beispielsweise die Haltung gegenüber der musikalischen Begleitung von Gottesdiensten, wie in einer von Monique Scheer erforschten lutherischen Gemeinde in einem bürgerlichen Villenviertel: Die Körperpraxis der Kirchenbesucher [. . . ] erinnert an die eines Publikums bei einem Konzert mit klassischer Musik: Man sitzt in ruhiger Haltung und das andächtige Lauschen soll zu einem stillen, friedlichen Genießen erhebender Gedanken und der gediegenen Musik führen. Im Unterschied zum Konzert wird am Ende eines Stückes nicht geklatscht.170

Eine Beobachtung aus der Kirche S. Maria del Popolo in Rom kann die Engführung von Religion und Kunstreligion illustrieren: An einem späten Vormittag im Februar betrete ich diesen Kirchenraum, der in seinen heutigen Grundzügen auf das späte 15. Jahrhundert zurückgeht und der durch Kapellendekorationen von Pinturicchio sowie eine Ausmalung durch Lorenzetto nach Plänen Raffaels, vor allem aber durch zwei hier befindliche Gemälde Caravaggios von enormer kunsthistorischer Bedeutung ist. Der Raum an sich macht keinen spektakulären Eindruck; allerdings zeigen in den Fußboden eingelassene Grabplatten und zahllose Stifterinschriften die Bedeutung der Kirche als Erinnerungsort römischer Adelsfamilien und Geistlicher. Die Bewegungen der KirchenbesucherInnen im Raum ähneln denen in einem Museum: Außerhalb der Gottesdienstzeiten wird die Kirche vor allem aufgesucht, um die Fresken und Bilder zu betrachten; ein Hinweis »Niente visite durante la messa« ist notwendig, um angesichts der vielen BesucherInnen den sakralen Charakter des Ortes während der Messe abzusichern. Vor der Cerasi-Kapelle mit den beiden Caravaggio-Bildern »Crocefissione di San Pietro« und »Conversione di San Paolo« herrscht ein gewisser Betrieb: Immer wieder wird die Kapelle von den Scheinwerfern erleuchtet, die nach dem Einwurf von einem Euro für ein bis zwei Minuten in Gang gesetzt werden. Spätestens dann versammeln sich mehrere Personen vor den Bildern; einige benutzen dabei den Audio-Guide, der im Eingangsbereich ausgeliehen werden kann. Wie ein Museumsgang wirkt denn auch das linke Seitenschiff, an dem die berühmte Chigi-Kapelle mit den von Raffael konzipierten Fresken liegt; dieser Gang verbindet einen kleinen

169 Wilhelm Heinrich Wackenroder, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders [1797], Stuttgart 1979, S. 71 – 72. 170 Scheer, Von Herzen glauben, S. 122.

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Souvenirstand links des Eingangsbereichs mit der neben dem Chorbezirk gelegenen Cerasi-Kapelle. Während die meisten BesucherInnen sich hier auf und ab bewegen, vor den Fresken verharren oder fotografieren, herrscht im Hauptschiff mehr Ruhe. Ein älterer Herr in der dritten Bank kniet im Gebet und blickt dabei auf das Gnadenbild über dem Hochaltar. Unweit von ihm stehen drei junge Touristinnen und richten ihre Handykameras auf das gleiche Gnadenbild. Andere treten von der seitlichen Cerasi-Kapelle in die Vierung, bekreuzigen sich kurz vor dem Gnadenbild und verneigen sich, wieder andere bleiben in Sichtweite des Marienbildes nur kurz stehen und richten einen bewussten, gemessenen Blick darauf, bevor sie sich durch das Hauptschiff wieder Richtung Ausgang bewegen. Weiter hinten sitzen vereinzelt BesucherInnen in den Bänken, blättern in Reiseführern oder nutzen die Internetfunktionen ihrer Mobiltelefone. Drei junge Frauen in der hintersten Bank senken den Kopf und scheinen in eine kurze Andacht abzutauchen. Ein Herr mittleren Alters wird plötzlich angerufen und eilt nach draußen, um ein Telefongespräch zu führen. Im Raum ist es verhältnismäßig still, man hört nur leise Gespräche und die geflüsterten Diskussionen der Kunstfreunde vor den Caravaggio-Meisterwerken.171 Die kleine Skizze aus S. Maria in Popolo macht deutlich, wie komplex die Nutzung eines bekannten, der Öffentlichkeit zugänglichen Kirchenraums außerhalb der Gottesdienstzeiten ist. Hier überlagern sich religiöse und touristische Praktiken in ein und demselben Raum, Momente der Kunstbetrachtung changieren mit Momenten des Gebets, der Meditation oder einfach nur der kurzen Pause und gehen ineinander über. Dabei navigieren die KirchenbesucherInnen in durchaus verschiedener Weise zwischen den Bildern und visuellen Arrangements, die der Raum anbietet: Während die Caravaggio-Gemälde und die Fresken der Seitenkapellen mit Hilfe des Reiseführers oder des AudioGuide konzentriert betrachtet werden, sind die Blicke, die das Gnadenbild im Chor treffen, vielfältiger – vom festen, andächtigen Blick beim Gebet über die pflichtschuldige Reverenz an den zu verehrenden Ort bis hin zum HandySchnappschuss. Die Szene zeigt damit auch die Verschränkung von Kirchenbesuch und Mediennutzung auf: Nicht nur ist der Kirchenraum selbst ein komplexes Medium und Informationsträger, sondern der Blick in den Raum wird auch unterstützt durch visuelle und auditive Informationen vom Mobiltelefon, Tablet oder Audio-Guide; er wird durch fotografierende BesucherInnen in unterschiedlicher Weise in den Fokus genommen und auf Dauer gestellt. Schließlich bin ich – als teilnehmender Beobachter mit einem spezifischen Interesse an sozialen Praktiken in Kirchenräumen – auch selbst im Raum situiert: Ich gehe mit meinem Notizbuch durch die Kirche, sitze auf unterschiedlichen

171 Forschungsnotizen vom 20. Februar 2014.

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Plätzen in der Kirchenbank, notiere und fotografiere aus meiner Perspektive, was ich sehe. Durch die neue Pluralität von Nutzungsformen des Kirchenraums sieht sich der Tourismusforscher Karlheinz Wöhler sogar an mittelalterliche Raumpraktiken erinnert: »Die Eindeutigkeit des Kirchenraumes ist einer Vielzahl von von säkularen, ›entwidmeten‹, ›intensiven‹ oder ›multifunktionalen‹ Nutzungen gewichen, so dass man sich bisweilen im Mittelalter wähnt, in dem sich ebenfalls das pralle soziale Leben im Kirchenraum abspielte«.172 Schauplätze, an denen sich das »mittelalterliche« Ineinander unterschiedlichster Raumnutzungen besonders gut studieren lässt, sind prominente Kirchenbauten wie St. Peter in Rom, die als religiöse und touristische Zentren viele verschiedene Bedürfnisse zugleich abdecken müssen, was auch mehr oder weniger flexible Teilungen und Separationen des Raums zur Folge hat. St. Peter ist keine Gemeinde- oder Pfarrkirche, sondern zentraler Repräsentationsort des Katholizismus, Schaubühne für »Heilige Jahre, Pilgerfahrten und Bischofsversammlungen, Trauerfeiern und Inthronisationen, Weihnachtsbotschaften, moralische Appelle und Segensspendungen«.173 Über diese religiösen Großereignisse hinaus ist St. Peter ein Ort zahlloser kleinerer Messfeiern, individueller Frömmigkeitspraktiken und vor allem touristischer Kirchenbesuche, in denen sich religiöse Motive und »sightseeing« bis zur Untrennbarkeit verschränken. Um einen Eindruck von der Pluralität der Nutzungsformen zu vermitteln, vor allem aber, um nochmals die Dynamik und Logik individueller Praktiken der »emotionalen Navigation« im Kirchenraum zu beleuchten, greife ich einen sehr aufschlussreichen Erfahrungsbericht heraus, den die Romreisende Hiltrud Koch 2014 als »Book on Demand« veröffentlicht hat, und führe in einer kleinen Analyse dieses Textes einige der bisherigen Überlegungen exemplarisch zusammen. Die Autorin beschreibt die Schleusen und Eingangskontrollen an der Piazza S. Pietro, bei denen die Einhaltung des korrekten Kleidungscodes und die mitgeführten Gegenstände überprüft werden. Im Anschluss daran schildert sie ausführlich den Eintritt in den Kirchenraum und den Aufenthalt in St. Peter, einem Ziel ihrer zu Fuß bewältigten Pilgerreise von Hannover nach Rom: Der Petersdom ergreift mich ganz ungeahnt. Ich muss mit den Tränen kämpfen. Trotz der wild fotografierenden Asiaten, die überhaupt keine Ahnung haben, was sie da sehen und sich benehmen wie in Disneyland, ist das doch ein spiritueller Ort. Die Orgel braust. Für die Gläubigen sind Areale abgetrennt und die Fotografierenden werden von Aufsichtsführenden abhgehalten: »Praying only. Only

172 Karlheinz Wöhler, Touristifizierung von Räumen: Kulturwissenschaftliche und soziologische Studien zur Konstruktion von Räumen, Wiesbaden 2011, 228. 173 Johann Hinrich Claussen, Gottes Häuser oder die Kunst, Kirchen zu bauen, München 2010, S. 174.

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for praying«. Ich erfülle alle Pilgerpflichten, denke ganz intensiv an alle Kranken, Mühseligen und Beladenen in meinem Umfeld, denke an die vielen freundlichen Menschen, die mir unterwegs geholfen haben, die meine Wanderung bereichert haben. Vor allem denke ich an alle, die es mir erst möglich gemacht haben, loszugehen und die so lange auf mich verzichtet haben. Ich danke dafür, dass ich gesund geblieben bin, dass ich überhaupt so gesund bin, um eine solche Tour unternehmen zu können. Ich denke auch an meinen Vater, der mir als Kind die Peterskirche so genau beschrieben hat, alle Künstler, alle Besonderheiten erklärt hat, dass ich es lebendig vor Augen hatte. An meine Mutter denke ich intensiv, was es für sie bedeutet, dass ich hier bin. Ach, wenn Kerzen anzünden doch etwas bewirken könnte! Ich danke dafür, dass ich so viel Gutes in meinem Leben erfahren durfte – und dass ich fast immer ein unbeschreibliches Glück mit allem hatte. Tiefer Dank erfüllt mich bis in die letzte Muskelfaser. Ich gehe vor zur Petrusstatue und küsse nun auch selbst seinen vorgestreckten Fuß. Das muss jetzt sein. Die Asiaten tun so, als ob sie ihn umarmen wollten und knipsen sich gegenseitig vor der Figur. Ich habe Mühe, einen winzigen Augenblick hier allein zu sein. Ich bin sehr bewegt in dem Moment, weiß ich mich doch in Gemeinschaft mit tausenden und abertausenden Menschen vor mir, die das gleiche getan und gedacht haben. Ein Rauschen geht durch die Kirche. Eine lange Prozession von Kardinälen und Bischöfen zieht aus der Sakristei hinter dem Altar durch den Mittelgang nach unten und verschwindet irgendwo. Sie tragen ihre Kardinalshüte und Bischofsmützen, die unierten Orthodoxen auch ihre goldenen Kronen. Ich war so mit mir beschäftigt, dass ich zu spät reagiert habe. Die besten Fotoplätze sind schon besetzt und werden nicht mehr freigegeben. Besucher der Messe werden nach vorn durchgelassen, also gehe ich weiter und setze mich auf einen Platz direkt neben Berninis Baldachin mit den gedrehten Säulen. Von hier habe ich einen guten Blick auf den Altarraum und auch Zeit, alles auf mich wirken zu lassen. Orgelklang. Einzug der Kardinäle und Bischöfe! Nun sind sie alle einheitlich als Priester in grüne Messgewänder gekleidet. Die Kirche versteht sich auf Inszenierungen! So feierlich könnte das kein Theater! Kerzen werden vorangetragen, die Geistlichen ziehen im gemessenen Gleichschritt in Zweierreihen zum Altar, gestaffelt nach Alter und Würde. Ich stehe direkt neben der Absperrung, aber fotografieren mag ich die Szenerie nicht. Das entweiht diese Andacht zu einem Event, so als ob es ein Promi-Aufmarsch wäre oder die Royals einzögen. Die Gläubigen sind geübt im Aufstehen und Hinsetzen, Niederknien, Aufstehen. Die Messe wird komplett in Latein gesungen, Lingua Franca der Kirche. Nur die Lesungen und die kurze Predigt werden auf Italienisch vorgenommen. Den Part der Gläubigen übernimmt ein großer Chor, aber die meisten können gut bei den Responsorien mithalten. Weihrauch wird reichlich geschwenkt, da wird nicht gespart. Nach uns nach verabschieden sich

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die neugierigen Asiaten und machen die Plätze frei für die vielen Gläubigen, die stehen mussten. Nach wie vor weiß die Kirche, wie man nicht nur den Geist, sondern auch die Sinne des Menschen anspricht. Ich gehe wie betäubt aus der Kirche. Schon als Kind wurde mir vom Weihrauch ganz blümerant.174

In den Eingangssequenzen ihres Reiseberichts macht Koch deutlich, dass es ihr bei ihrer Wanderung über 2000 Kilometer von Hannover nach Rom nicht um religiöses Pilgern, sondern – nach dem Vorbild von Johann Gottfried Seumes »Spaziergang nach Syrakus« – um »Lustwandeln« geht – »einfach nur so, weil es mir Freude macht«.175 Dennoch stellt sie sich auch in die Traditionslinie historischer Romreisender, die zumeist einen dezidiert religiösen Hintergrund hatten: »Pilger, Mönche, deutsche Kaiser und Könige, Landsknechte, Klassiker und Romantiker, Künstler, die dort eine deutsche Kolonie bildeten«.176 Auf die Ambivalenzen moderner Pilgerpraxis zwischen »spiritueller Selbstfindung« und »religiöser Pflicht« ist seitens der Religionssoziologie vielfach verwiesen worden,177 und auch Kochs Bericht bewegt sich in einer unentschiedenen Grauzone zwischen »spirituellen« und »religioiden« Motiven und Erfahrungen sowie einer »profanen« und kirchenkritischen Selbstpositionierung. Die zitierte Stelle bietet denn auch einen hervorragenden Einblick in eine Kirchenraumnutzung und Kirchenraumdeutung, die sich den klaren Unterscheidungen zwischen »religiösen« und »nicht-religiösen« oder aber zwischen »spirituellen« und »touristischen« Motiven entzieht. Eben deshalb ist er geeignet, die Brüche und Widersprüche aufzuzeigen, mit der sich eine allzu sehr auf »Religion« fixierte Kirchenraumanalyse auseinanderzusetzen hat. Zunächst fällt auf, dass der Text durchsetzt ist mit Distanzierungsgesten. Wenn die Autorin gleich zu Beginn ihre Ergriffenheit angesichts des Raumeindrucks von St. Peter festhält, dann tut sie dies in dezidierter Abgrenzung zu den »wild fotografierenden Asiaten, die überhaupt keine Ahnung haben«. Mehrfach werden diese »Asiaten« im Bericht herangezogen, um ein falsches von einem richtigen Benehmen im Kirchenraum zu unterscheiden: Die Asiaten »benehmen [sich] wie in Disneyland«, dabei ist die Kirche »doch ein spiritueller

174 Hiltrud Koch, Nach Rom, wohin denn sonst! Wandern zum Vergnügen von Hannover nach Rom, Norderstedt 2014, S. 265 – 266. 175 Koch, Nach Rom, wohin denn sonst, S. 7. 176 Koch, Nach Rom, wohin denn sonst, S. 6. 177 Vgl. Markus Gamper / Julia Reuter, Pilgern als spirituelle Selbstfindung oder religiöse Pflicht? Empirische Befunde zur Pilgerpraxis auf dem Jakobsweg, in: Anna Daniel u. a. (Hg.), Doing Modernity – Doing Religion, Wiesbaden 2012, S. 205 – 232. Hubert Knoblauch hat in seiner Darstellung zur »populären Religion« das moderne, auf spirituelle Selbsterfahrung zielende Pilgern am Beispiel Hape Kerkelings und seines erfolgreichen Buches »Ich bin dann mal weg« diskutiert, vgl. Knoblauch, Populäre Religion, S. 175 – 181.

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Abb. 40: Touristen in der Mariahilfer Kirche.

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Ort«; sie »knipsen« sich vor der Petrusstatue und »machen« schließlich – und endlich! – »die Plätze frei für die vielen Gläubigen«. Die »neugierigen Asiaten« werden hier einerseits einem pauschalen »Othering« unterworfen, verbunden mit der Unterstellung, keine katholischen Christen zu sein bzw. sein zu können. Andererseits fungieren sie als paradigmatische Figuren für die rein touristische Motivation des Kirchenbesuchs, die ostentativ abgelehnt wird. Obwohl auch die Autorin selbst Touristin ist, verzichtet sie bewusst auf das Fotografieren, das die Andacht zu einem Event »entweihen« würde – »als ob es ein Promi-Aufmarsch wäre oder die Royals einzögen«. Auf diese Weise klagt sie Manieren ein, die für den Respekt vor dem heiligen Ort stehen. Sie lässt alles auf sich »wirken«, wünscht sich »einen winzigen Augenblick hier allein zu sein«; bestimmte Praktiken wie das Küssen des bronzenen Petrusfußes werden als »richtiger« Umgang mit dem Ort gekennzeichnet und zugleich als inneres Bedürfnis präsentiert: »Das muss jetzt sein«. Andererseits hatte Koch nach dem Einzug der Geistlichen »zu spät reagiert«, um einen der »besten Fotoplätze« zu besetzen, worin sich eine gewisse Rollenambivalenz ausdrückt. An anderen Stellen wiederum finden sich kritische Bemerkungen, die eine Distanz zur Institution Kirche und ihren rituellen Verfahren erkennen lassen: »Ach, wenn Kerzen anzünden doch etwas bewirken könnte! [. . . ] Die Kirche versteht sich auf Inszenierungen!« Die Beschreibung macht deutlich, wie die Autorin ihre Vorstellung vom »angemessenen« Verhalten im Kirchenraum in Abgrenzung gegen die touristische Raumnutzung à la »Disneyland« und auch in – wenn auch ganz vorsichtiger – Abgrenzung zur liturgischen Praxis der katholischen Kirche bestimmt. Der Kirchenraum wird in diesem Moment als ein Handlungsraum sichtbar, der sich durch eine komplexe Konstellation und »relationale (An)ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern« 178 konstituiert. Wie man sich in ihm verhält, ist hier weniger eine Frage der in ihn eingelassenen »Handlungsprogramme« als vielmehr ein Produkt dieser konkreten sozialen Konstellation und der in ihr wirksamen Prozesse der Aufmerksamkeitslenkung und der abgrenzenden Distinktion. Gleichzeitig lässt sich an dieser Erzählung beobachten, wie die Autorin ihr eigenes Verhalten stellenweise als Produkt authentischer Emotionalität kennzeichnet: »Ich muss mit den Tränen kämpfen«, »Tiefer Dank erfüllt mich bis in die letzte Muskelfaser«, »Das muss jetzt sein«. An anderen Stellen scheint das Verhalten im Kirchenraum eher ein bewusster Akt im Sinne emotionaler Praktiken zu sein, die dem Raum, seinem »Code der Spiritualität« und seiner »spirituellen Atmosphäre« 179 angemessen sind. Etwa dann, wenn Koch hervorhebt, dass sie ihre »Pilgerpflichten erfüllt« und »ganz intensiv« an alle »Kranken, 178 Löw, Raumsoziologie, S. 160; vgl. auch Dies., Raum – die topologischen Dimensionen der Kultur, S. 58. 179 Knoblauch, Populäre Religion, S. 181.

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Mühseligen und Beladenen« denkt, wenn Sie gleichsam aus einer vom Ort ausgehenden Verpflichtung heraus auch an ihre Eltern denkt und ein Gefühl der Dankbarkeit generiert. Wir sehen hier – an einem personalisierten Beispiel –, dass die Angebote des Raums bestimmte Handlungsoptionen nahelegen, aber auch Spielräume eröffnen, sich aktiv, im Sinne von »agency« und »emotionaler Navigation« zu positionieren. Die retrospektive Schilderung bringt diesen Positionierungsprozess in eine narrative Ordnung, die aber eben auch Brüche und Widersprüche erkennen lässt.

St. Stephan heute: Ein komplexer Handlungsraum Die Domkirche St. Stephan ist als prominenteste Kirche der Stadt 180 und als touristischer Anziehungspunkt ein geeigneter Ort, um auch anhand eines Wiener Beispiels nach der Diversität und Vieldeutigkeit des sozialen Gebrauchs von Kirchenräumen zu fragen: Hier überlagern sich – ähnlich wie in S. Maria del Popolo und St. Peter in Rom und anderen kunst- und kulturgeschichtlich bedeutenden Kirchen – sehr verschiedene soziale Praktiken und zeigen, dass eine praxeologische Perspektive auf Kirchenräume über das Thema Religion und Religiosität hinauszugehen hat. An verschiedenen Tagen habe ich mich immer wieder in dieser Kirche aufgehalten und beobachtet, um der Parallelität von Gottesdiensten und anderen Handlungen nachzugehen, aber auch um möglichst unvoreingenommen zu registrieren, was hier eigentlich passiert. Dabei geht es um das eben thematisierte Spannungsfeld von »Museum oder Gotteshaus«,181 aber auch schlicht und einfach um den Dom als Aufenthaltsort: Der jüdische Schriftsteller und Journalist Joseph Wechsberg schreibt in seiner kleinen Hommage an St. Stephan: »Many people who are neither Christians nor Catholics step into the cathedral for a short rest or spiritual belief, to be alone with their God for a few minutes or, in summertime, because ›it’s nice and cool inside‹«.182 Man betritt den Kirchenraum in der Regel vom romanischen Westwerk aus, durch das sogenannte »Riesentor«. Nach dem Durchgang durch das Portal wendet man sich nach rechts, um durch eine der beiden seitlichen Türen – wie

180 Zur erinnerungskulturellen Bedeutung der Domkirche vgl. Bruckmüller, Stephansdom und Stephansturm. 181 Annemarie Fenzl, Der Stephansdom – Museum oder Gotteshaus? In: 850 Jahre St. Stephan. Symbol und Mitte in Wien 1147 – 1997. 226. Sonderausstellung Historisches Museum der Stadt Wien, Dom- und Metropolitankapitel Wien, 24. April bis 31. August 1997, Wien 1997, S. 9 – 23. 182 Joseph Wechsberg, »The Dome Was My Teacher«. A Little History of St. Stephen’s Cathedral in Vienna, Wien 1982, S. 6.

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bei vielen Kirchen üblich – in den Kirchenraum zu kommen. Am Weihwasserbecken steht die erste Entscheidung an: Möchte man mit dem Kreuzzeichen bestätigen, dass man – zumindest auch – aus religiösen Gründen hier ist oder lässt man die rituelle Geste weg? Etwa die Hälfte der Eintretenden, so mein Eindruck, nimmt hier etwas Weihwasser auf und macht mehr oder weniger routiniert das Kreuzzeichen zum Altar hin. Nach dem Eintreten in den Kirchenraum werden die Schritte merklich langsamer, das Fortschreiten wird tastender. Offensichtlich veranlasst die räumliche Gestik der Architektur dazu, die eigenen Bewegungsmuster auf den Raum und das räumliche Erleben einzustellen.183 Gleichzeitig werden die Blicke von der Architektur nach vorne und nach oben gelenkt: Die meisten KirchenbesucherInnen richten gleich nach dem Eintreten den Blick zum entfernt stehenden Hochaltar oder in das hohe Gewölbe. Auf diese Weise greift der Blick – so Alban Janson und Florian Tigges – »der Erstrecktheit der ganzen persönlichen Raumsphäre vor«.184 Gleichzeitig gibt die Blickrichtung auch die Gehrichtung vor: »Blickführungen sind meistens zugleich Wegführungen«.185 Schon hier scheint die Reaktion auf den Raumeindruck auf das hinzudeuten, was die KirchenbesucherInnen mit der Kirche verbinden: Wenige nur schlendern einfach herum; die meisten Eintretenden bewegen sich konzentriert entweder auf die Mitte des den Raum trennenden Gitters oder auf den seitlich postierten Altar »Maria Pötsch« zu. Gesprochen wird hier nur in sehr gedämpftem Ton; zu hören sind die Schritte auf dem Steinboden und das regelmäßige Quietschen der Schwingtüren, die in den Kirchenraum führen. Beim Betreten der Domkirche fällt sofort eine sehr grundlegende räumliche Trennung auf: Während der Eingangsbereich beim Westwerk prinzipiell immer zugänglich ist, wird der größte Teil des Kirchenraums während der Gottesdienste geschlossen; ein massives Gitter ermöglicht dann zwar den Durchblick bis zum fern liegenden Hochaltar, trennt aber ansonsten die BesucherInnen der Messe von den anderen KirchenbesucherInnen ab. Wenn keine Messe stattfindet, gelangt man zwar im linken Seitenschiff durch eine geöffnete Tür in diesem Gitter in den Hauptraum; dennoch ist die räumliche Trennung stets stark spürbar. Das Gitter fungiert so – abgesehen von der Grenze zum Presbyterium – als die wichtigste Grenze im Kirchenraum, die nicht nur den Raum teilt, sondern auch das Handeln auf den beiden Seiten des Gitters strukturiert. Schon nach kurzer Beobachtung wird offensichtlich, dass der weite Hauptraum bis hin zum Chor einerseits den Messen und Gottesdiensten vorbehalten ist, andererseits – außerhalb der Messzeiten – für die stille und konzentrierte Besichtigung der

183 Vgl. zur räumlichen Gestik Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 132 – 133. 184 Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 46. 185 Janson / Tigges, Grundbegriffe der Architektur, S. 47.

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hier postierten Kunstwerke genutzt wird: etwa des Hochaltars von 1640 mit einer Darstellung der »Steinigung des heiligen Stephanus vor der Stadtmauer von Jerusalem«, der berühmten Kanzel von Anton Pilgram, des Hochgrabs Kaiser Friedrichs III. im Apostelchor oder des Taufsteins aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert in der Katharinenkapelle.186 Der Raum diesseits des Gitters erfüllt demgegenüber vielfältige Funktionen. Hier finden sich zahlreiche Angebote für die schnelle Devotion zwischendurch, aber auch Informationsangebote für TouristInnen sowie – angrenzend an das linke Seitenschiff – der »DomShop«. Im Folgenden soll dieser Bereich etwas genauer beleuchtet werden, da er die Diversität sakraler und nicht-sakraler Funktionen des Raums sehr anschaulich zeigt. Im erweiterten Vorraum der Kathedrale ist zur Rechten der Altar mit dem Gnadenbild der Madonna von Pötsch postiert, davor befinden sich mehrere Bankreihen mit Kniebänken. 1697 gelangte das Bild aus der griechisch-katholischen Pfarrkirche in Máriapócs nach Wien, nachdem es als »wundertätig« qualifiziert worden war; aus den Augen der Madonna sollen wiederholt Tränen geflossen sein.187 Seitlich, nahe dem Gitter, sind mehrere ausladende Opferlichtstände aufgestellt, die auch stark frequentiert werden: Während meiner Besuche in St. Stephan brannten durchschnittlich schätzungsweise 500 Kerzen. Durch den Kerzenschein entsteht im Raumteil um den Maria-Pötsch-Altar eine intensive Helldunkelwirkung; stets sind mehrere Menschen dort, verharren vor den Lichtern oder wenden sich kniend zum Gnadenbild. Zur Mitte hin befindet sich ein Pult, auf dem Anliegen und Fürbitten niedergeschrieben werden können; durch einen breiten Schlitz kann man die beschriebenen Papiere in das geschlossene Pult einwerfen. Ein kleiner Aufkleber informiert darüber, in welchem Gottesdienst für die gesammelten Anliegen gebetet werden wird – am 3. Februar 2015 war hier der Gottesdienst am 20. Februar angegeben. Neben dem Pult ist ein kleines notenständerartiges Gestell positioniert, auf dem drei Blöcke mit Abreissblättern befestigt sind. Auf den Blättern stehen vorgedruckte Fürbitten und Segenswünsche, unterschieden nach den Kategorien »Dankesgebet«, »Trostgebet«, »Krankengebet«, »Friedensgebet«, »Segensgebet« und »Schwere Zeiten«. Hin und wieder ist auch ein »irischer Segensspruch« mit dabei. Diese Blätter können mitgenommen oder aber an Ort und Stelle in den Fürbittkasten eingeworfen werden. Unweit des Fürbittkastens befinden sich auch drei »Phonomaten«, an denen man sich über einen Hörer gegen Geldeinwurf historische und kunsthistorische Informationen liefern lassen kann, ein weiteres, älteres Modell steht etwas abseits. Auf der linken Seite schließlich

186 Vgl. Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens, S. 28 – 34. 187 Zum Gnadenbild von Maria Pötsch im Kontext der gegenreformatorischen Marienverehrung der Habsburger vgl. Polleroß, Renaissance und Barock, S. 469.

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Abb. 41: St. Stephan, Innenansicht.

hängt ein Bild der heiligen Therese von Lisieux, davor ein weiterer Opferlichtstand mit schlanken Wachskerzen in einem Bett aus Sand und einige Bänke. Neben dem Maria-Pötsch-Altar, am Durchgang zur Eligiuskapelle, ist ein rundes Bild des verstorbenen Papstes Johannes Paul II. angebracht. Hier lassen sich Praktiken beobachten, die Hans Dünninger einmal unter dem Stichwort »Deponia Pia« abgehandelt hat. Diese »Deponia Pia« sind sozusagen umgekehrte Devotionalien: symbolische Gegenstände, die im Kirchenraum oder in Kapellen hinterlassen – also »deponiert« – werden, um sie gleichsam an einen ihnen angemessenen Ort zu bringen.188 Von den Promulgationsmedien sind diese Hinterlassenschaften dadurch unterschieden, dass sie keinen Hinweis auf Namen oder sonstige Botschaften enthalten und sich auch kaum als Votivgaben verstehen lassen. In diesem Fall wird dem Bild des Papstes mit Kerzen, ewigen Lichtern, Blumen und Blumentöpfen anscheinend regelmäßig Reverenz erwiesen. Betrachtet man die Lichterstände, den Fürbittkasten und das Papstbild, so lässt sich dieser Teil des Kirchenraums als Bereich verstehen, in dem »en passant« kleine Symbole, Zeichen und Bitten im Raum hinterlassen werden. Der erweiterte Vorraum vor dem Gitter ist ein Handlungsraum der kleinen religiösen Gesten, der kleinen symbolischen Tauschakte und der »niederen

188 Hans Dünninger, Deponia Pia, in: Jahrbuch für Volkskunde 1978, S. 238 – 240.

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Mythologie« des Katholizismus.189 Hier zirkuliert sozusagen das symbolische »Kleingeld«, über das in alltäglichen Praktiken die Verbundenheit zur Kirche und zu den religiösen Gnadeninstanzen hergestellt und bestätigt wird. Dementsprechend sind hier auch vier massive schwarze Opferstöcke aufgestellt, die Spenden für Caritaszwecke oder für die Instandhaltung der Domkirche gesammelt werden. Ein großes Plexiglasmodell des Doms ist ebenfalls zum Einwurf von Geldscheinen und Münzen bereitgestellt und fordert mittels eines großen Pfeils eine »Spende für die Restaurierung des Stephansdoms«; das Modell ist hell erleuchtet, und das bisher gespendete Geld ist darin gut sichtbar. Anders als bei den schwarzen Opferstöcken ist hier leicht zu beobachten, wer welchen Betrag spendet. Eine weitere Kasse befindet sich auf einem Tisch mit Zeitschriften und Faltblättern, die gegen ein kleines Entgelt entnommen werden können. Der durch das Gitter abgeteilte Bereich des Kirchenraums wird intensiv genutzt. Hier herrscht eine ständige Bewegung, ein ständiges Kommen und Gehen. Nicht wenige KirchenbesucherInnen gehen sehr zielstrebig auf den Maria-Pötsch-Altar zu und knien dort nieder; andere bewegen sich eher vorsichtig und lassen erst den Raum auf sich wirken, bevor sie sich einem Altar oder dem Lichterstand zuwenden. Wieder andere besuchen die Eligius-Kapelle, in der »nur für Beter!« und in absoluter Stille eine konzentrierte eucharistische Anbetung stattfindet. Auf einer schmalen Bank sitzen zwei oder drei Personen vor dem »Beichte + Aussprachezimmer«, an dessen Tür ein Dienstplan aller die Beichte hörenden Priester bei St. Stephan hängt. Ein Bildschirm zeigt – mit Namen und Foto des Priesters – an, wer gerade die Beichte abnimmt. So stellt sich der Eingangsbereich als Raum der Promulgation dar, als Raum der Seelsorge und der schnellen Andacht in der Arbeitspause oder nach Feierabend. Vor allem aber scheint dieser Bereich von vielen Personen frequentiert zu werden, die kein klar definiertes religiöses Anliegen haben, sondern die vom belebten Stephansplatz aus entweder einen kurzen Blick in den Innenraum werfen oder einfach einige Minuten im Dom verbringen, »for a short rest or spiritual belief«, wie es bei Wechsberg heißt. Das konkrete Handeln im Kirchenraum stellt sich als ein stark ausdifferenziertes Set von Praktiken dar, die in den verschiedenen, funktional gestaffelten Teilräumen – dem Hauptraum, dem erweiterten Eingangsbereich, der Eligiuskapelle – angesiedelt sind, die sich ergänzen und

189 Nach Gottfried Korff ist der Terminus »niedere Mythologie« in der Volkskunde um 1900 durchaus gängig gewesen; er verweist auf Jacob Grimms Formulierung von der »Religion für den ganz niederen Hausbedarf«. Vgl. Gottfried Korff, Kulturforschung im Souterrain. Aby Warburg und die Volkskunde, in: Kaspar Maase / Bernd Jürgen Warneken (Hg.), Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft, Köln 2003, S. 143 – 177, hier S. 152, Anm. 40.

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überlagern.190 Dabei kommt es nicht zuletzt auch zu kleineren Konflikten, wie es der langjährige Mesner von St. Stephan Franz Weinwurm Ende der 1990er Jahre beschrieben hat. Und es ist wenig erstaunlich, dass es dabei wieder um die Routinen des »Benehmens« geht, die immer wieder verlässlich anzeigen, inwiefern – und von wem – der Raum tatsächlich als ein sakraler Raum angeeignet wird und welches unbewusste Traditionswissen der Raumnutzung hier im Spiel ist: Vormittags ist im Dom manchmal – wenn es nicht der Dom wäre, würde ich das gerne sagen – der Teufel los, mit den vielen Besuchern aus aller Welt, die sich, das muß ich schon sagen, immer weniger dem Kirchenraum entsprechend benehmen können oder wollen. Wenn man jemanden auffordert, doch die Kopfbedeckung abzunehmen, dann schaut der Betroffene dich manchmal ganz entgeistert an, als ob du ihm gesagt hättest, er soll die Hose ausziehen. Es ist nicht immer leicht mit den Besuchern, obwohl das Personal angewiesen ist, so lange als möglich höflich zu bleiben. Aber manchmal müssen wir uns schon etwas anhören. Zum Beispiel muß der Dom für die Zwölfuhrmesse, die am Volksaltar gefeiert wird, »geleert« werden, da darf niemand innerhalb des großen Gitters herumgehen. Das ist nicht immer einfach, weil das nicht alle einsehen wollen.191

190 Alle Beobachtungen nach: Forschungsnotizen vom 3. Februar 2015, 4. Februar 2015, 11. Februar 2015. 191 Franz Weinwurm, Menschen am Dom, in: 850 Jahre St. Stephan. Symbol und Mitte in Wien 1147 – 1997. 226. Sonderausstellung Historisches Museum der Stadt Wien, Dom- und Metropolitankapitel Wien, 24. April bis 31. August 1997, Wien 1997, S. 33 – 35, hier S. 34.

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7. SCHLUSS WOZU EINE KULTURWISSENSCHAFTLICHE KIRCHENRAUMANALYSE?

In der vorliegenden Studie wurde ein weiter theoretischer Deutungsrahmen abgesteckt, der dazu dient, Kirchenräume in Geschichte und Gegenwart möglichst konsequent als soziale Handlungsräume zu lesen. Anhand zahlreicher Einzelalspekte und Fallbeispiele wurde gezeigt, wie sich gesellschaftliche Strukturen und Prozesse nicht nur in Kirchenräumen niederschlagen und artikulieren, sondern wie umgekehrt Kirchenräume auch als bedeutende Orte der Formierung, Produktion und Reproduktion gesellschaftlicher Ordnungen verstanden werden müssen. Dazu wurde eine ganze Reihe sozial- und kulturtheoretischer Interpretationsansätze herangezogen: von Maurice Halbwachs’ Gedächtnistheorie und sozialer Morphologie über Roland Barthes’ Theorie des Mythos, Pierre Bourdieus Religionssoziologie, Michel Foucaults machtanalytische Geschichte der Gouvernementalität, Theorien der symbolischen Ordnung bei Lacan und Castoriadis, Bruno Latours akteur-netzwerktheoretische Soziologie der Artefakte bis hin zu Heike Delitz’ Konzept von Architektur als Medium des Sozialen. Hinzu kommen Beschreibungsmodelle und Theorien »mittlerer Reichweite« aus den Geschichts- und Religionswissenschaften, zahlreiche Überlegungen aus der Praktischen Theologie, vereinzelt auch Ansätze aus Psychologie, philosophischer Ästhetik, Kunstgeschichte und anderen Disziplinen. Bei alledem wurde eine epistemologische Perspektive eingenommen, wie sie die sogenannten »Ethnowissenschaften«, insbesondere die Volkskunde / Europäische Ethnologie kennzeichnet: möglichst nahe an den historischen Akteurinnen und Akteuren, mit einem »ethnographischen« Fokus auf Alltagshandlungen und Alltagslogiken. Auf diese Weise konnte der Zusammenhang von Kirchenräumen und sozialen Praktiken an zahlreichen Stellen und in unterschiedlichen historischen Konstellationen erhellt werden. Dieser Schlussabschnitt zieht eine knappe Bilanz der gesamten Studie: Zum einen sollen nochmals die Grundlinien einer politischen Kulturgeschichte katholischer Kirchenräume in Wien benannt werden, um deutlich zu machen, worin der Gewinn einer lokalen Fallstudie liegt. Zum anderen soll der allgemeine Nutzen einer kulturwissenschaftlichen Kirchenraumanalyse zusammenfassend herausgestellt werden. Dabei wird das in dieser Arbeit geleistete theoretische framework nochmals in sehr komprimierter Form vorgestellt, des weiteren sind – im Hinblick auf künftige Forschungsarbeiten – Perspektiven und Ausblicke zu skizzieren: Was kann eine kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse zu einem Verständnis sozialer und kultureller Prozesse in Geschichte und Gegenwart beitragen? Welchen Mehrwert erbringt die politische Kulturgeschichte katholischer Kirchenräume für die allgemeine Gesellschaftsgeschichte? Und wie wären die hier entwickelten

Theoriebausteine in weiteren konkreten Forschungen gewinnbringend umzusetzen? Betrachtet man die politische Kulturgeschichte der Produktion und Nutzung katholischer Kirchenräume in Wien im Zeitraum zwischen dem 18. und 21. Jahrhundert, so lassen sich unter anderem drei wichtige Themenkomplexe identifizieren. Erstens lässt sich anhand von Kirchenräumen nachvollziehen, wie sehr der österreichische und insbesondere der Wiener Katholizismus in die politische Kultur und öffentliche Repräsentation zunächst der Habsburgermonarchie und ihrer konservativen Kräfte, dann der Christlichsozialen Partei unter Karl Lueger, dann des Politischen Katholizismus der Zwischenkriegszeit eingebunden war. Von der barocken »Pietas Austriaca« bis zum »christlichen, deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage« in den 1930er Jahren spannt sich der Bogen einer immer wieder dezidiert politisierten Kirche und einer sakralisierten Politik. Die konkreten Kirchenräume stellen in dieser Geschichte insofern zentrale Orte dar, als im Rahmen dieser Teilöffentlichkeiten die hegemonialen sozialen Ideen katholischer Politik in ritualisiertes Handeln, in Körperwissen, in Modelle der Lebensführung und in Erinnerungskultur übersetzt wurden. Zweitens konnte gezeigt werden, dass die Positionierung sakraler Architekturen im Wiener Stadtraum immer auch eine sozialmissionarische Komponente aufweist. Im genauen Blick auf katholische Räume und Raumpraktiken in der Stadt wird deutlich, dass der Stellenwert von Religion für die soziale Ordnung immer auch über Kämpfe um den öffentlichen Raum verhandelt wurde und dass auch dabei stets Modelle der Lebensführung auf dem Spiel standen. Kirchenräume lassen sich von hier aus ganz umfassend als Versuche lesen, räumliche Arrangements zu schaffen, die auf die Durchsetzung symbolischer Ordnungen zielen. Im Wiener Fall sind diese Raumpolitiken eingespannt in die basalen Gegensätze von katholischen und protestantischen Weltauslegungen, von Monarchie und Republik, von »roten« und »schwarzen« politischen Optionen, von säkularisierter Gesellschaft und politischem Katholizismus. Ihre eingehende Analyse trägt wesentlich dazu bei, die praktische Dynamik dieser Kräftefelder zu verstehen. Drittens macht die politische Kulturgeschichte katholischer Kirchenräume in Wien sichtbar, mit welchen – auch (raum-)kulturellen – Strategien die Kirche auf die gesellschaftsgeschichtlichen Umbrüche und Transformationen seit dem 18. Jahrhundert reagiert hat. Die erzwungenen Reformen des Josephinismus, die offensiven Rekatholisierungsprogramme im Zeichen der politischen Romantik und des Konkordats von 1855, die ultramontanistische Versteinerung der Amtskirche nach dem Ersten Vaticanum, die architektonische Horizonterweiterung der Jahrhundertwende, die verschiedenen »Notkirchenprogramme«, der Kirchenbau als Antwort auf das »Rote Wien«, die Neuausrichtung auf den Gemeinde- und Gemeinschaftsgedanken im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils – alle diese Entwicklungen lassen sich an den entsprechenden Wiener Kirchenräumen und ihrer Innenausstat-

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tung ablesen, mehr noch: Sie haben in diesen Kirchenräumen ihre eigentlichen Orte und Schauplätze. Die lokalen Logiken des religiösen Feldes in seiner Beziehung zu anderen Feldern lässt sich – so eine Bilanz aus der politischkulturgeschichtlichen Untersuchung Wiener Kirchenräume – also nur dann rekonstruieren, wenn wir auch die konkreten Lokalitäten in den Blick nehmen, in denen kirchliche Praxis stattfindet und in denen sie in Form symbolischer Ordnungen repräsentiert wird. Worin besteht aber nun der systematische Gewinn einer politischen Kulturgeschichte und kulturwissenschaftlichen Raumanalyse katholischer Kirchenräume? Hier sind sieben Punkte zu nennen, in denen sich die Ergebnisse dieser Studie bündeln und die sich als eine Bilanz der hier geleisteten theoretischen Arbeit lesen lassen: 1. Die hier vorgeschlagene kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse macht die Funktion von Kirchenräumen als historische Orte einer »Vergesellschaftung unter Anwesenden« deutlich. Mit Blick auf die europäische Gesellschaftsgeschichte der Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit bis in die beginnende Moderne hinein lässt sich festhalten, dass sich in Kirchenräumen stets Prozesse der sozialen Inklusion und Exklusion abgespielt haben, die für die Formierung von Kollektiven und sozialen Gruppen grundlegend waren. Der theologisch ausformulierte Anspruch des sakralen Raums, Gesellschaft und Gemeinschaft in ihrer Beziehung zur transzendenten Instanz abzubilden, machte die dort versammelte Gemeinde zur Blaupause der religiös legitimierten sozialen Ordnung und des »richtigen Lebens«. Unter den vormodernen Bedingungen überwiegend direkter Kommunikation und Interaktion vollzog sich in Kirchenräumen deshalb immer auch soziale Strukturbildung, in der gesellschaftliche Differenzen und Hierarchien produziert, reproduziert und festgeschrieben wurden. Auf diese Weise wurde der Kirchenraum zu einem starken Medium des Sozialen: zu einem Aushandlungsund Repräsentationsort von Sozialität im Rahmen religiöser Wirklichkeitsdeutungen. 2. Kirchenräume waren bis weit in die Moderne hinein zentrale Orte der Produktion und Legitimation politischer Herrschaft. Zum einen betrifft das die Institution der katholischen Kirche selber, die bis weit ins 19. Jahrhundert als grundbesitzende Adelskirche eigene Herrschaftspositionen abzusichern und zu repräsentieren hatte. Räumliche Konfiguration, Ausstattung und Atmosphäre von Kirchenräumen dienten wesentlich dazu, diesen Herrschaftspositionen Legitimität und Selbstverständlichkeit zu verleihen und sie mit der Dignität des Religiösen auszustatten. Zum zweiten fungierte die Kirche – auch und gerade über das Medium ihrer sakralen Räume – als eine wesentliche Stütze hegemonialer politischer und sozialer Herrschaft im Rahmen weltlicher Regierungssysteme. Kirchenräume verankerten Herrschaftsbezie-

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hungen im Alltag, inszenierten den Glanz monarchischer und nationaler Führungsinstanzen, dienten als Orte sozialmoralischer Indoktrination, politisch-religiöser Feiern und Rituale, wurden zum Medium politischer Mythen und erinnerungskultureller Botschaften. Somit waren Kirchenräume wichtige Schauplätze der symbolischen Reproduktion von Herrschaftsbeziehungen und ihrer Transmission in den Alltag der Menschen. 3. Über die Frage nach der Reproduktion politischer und sozialer Herrschaft hinaus müssen Kirchenräume auch als Schauplätze einer »Mikrophysik der Macht« im Sinne Michel Foucaults verstanden werden. Sie waren und sind Knotenpunkte im Netz der »Pastoralmacht«, die den Zugriff auf die Individuen, ihr Gewissen und ihr persönliches Seelenheil organisiert. Sie stellten und stellen räumliche Arrangements dar, in denen durch Blickregimes und die Verteilung von Sprechpositionen, durch die Regularitäten des hier institutionalisierten Diskurses, durch Techniken der Anrufung, der Führung und der Selbstführung initiierte Subjektivierungsprozesse ablaufen, ohne die die Geschichte der neuzeitlichen Individualität nicht zu verstehen wäre. Sie waren und sind Teil von Dispositiven der Macht, in deren Rahmen sich religiös grundierte Selbstverständnisse herausbilden: gebunden an »transhistorische« und transzendente Ordnungen, gestützt durch Technologien des Selbstgesprächs, der Selbstbeobachtung und Innerlichkeitskontrolle. Gleichzeitig können sie auch heterotopische Orte einer »Gegen-Macht« sein, an denen herrschende Dispositive punktuell in Frage gestellt werden. 4. Im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Kirchenraumanalyse rückt die sinnlich-ästhetische Dimension von Religion und religiösen Praktiken in den Fokus der Aufmerksamkeit, wie sie u. a. in neueren Ansätzen der Material Religion Studies thematisiert wird. Der Kirchenraum erscheint dabei als ein sinnliches Arrangement, als Ineinander von visuellen Ordnungen, »soundscapes«, »smellscapes« und taktilen Qualitäten, das religiöse Erlebnismodelle konfiguriert. Diese Erlebnismodelle sind nicht einfach als Effekt bestimmter »Atmosphären« und räumlicher Anmutungsqualitäten zu verstehen, sondern als Produkte ästhetischer und emotionaler Praktiken, die mehr oder weniger bewusst auf die Herstellung von Erfahrungen und »inneren Zuständen« zielen. Durch diese praxistheoretische Wendung wird es möglich, den sinnlichen Gebrauch sakraler Räume im vollen Sinne als soziales Handeln zu untersuchen: Visuelle, akustische und olfaktorische Eindrücke werden so zu Bausteinen der mehr oder weniger bewussten sinnlichen Navigation durch den Alltag. Die Herstellung von individuellen wie kollektiven sinnlichen und emotionalen Erlebnissen ist dabei immer eingebunden in übergreifende ästhetische und emotionale Regimes, die zur Reproduktion sozialer und symbolischer Ordnungen beitragen. 5. Die hier eingenommene raum- und praxistheoretische Perspektive kulturwissenschaftlicher Kirchenraumanalyse trägt mit all dem auch zum Verständnis

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Abb. 42: St. Karl Borromäus am Zentralfriedhof, Außenansicht.

der Körpergebundenheit religiöser Praktiken bei. Kirchenräume konditionieren und adressieren den Körper in spezifischer Weise: Über die architektonische Gestik, das Mobiliar wie Sitz- und Kniebänke oder Beichtstühle, liturgische Handlungsvollzüge und körpersprachliche Routinen und Usancen werden religiöse Wissensordnungen inkorporiert, performativ wiederholt und damit auf Dauer gestellt. Die wechselseitige Abstimmung von »Habitus und Habitat« im Sinne Pierre Bourdieus bringt naturalisierende Effekte hervor, die die Platzierungen, Bewegungen und Gesten von Akteurinnen und Akteuren im Raum als selbstverständlichen Ausdruck »natürlicher« sozialer und religiöser Ordnungen erscheinen lassen. Zugleich wirken diese körperlichen Platzierungen, Bewegungen und Gesten strukturbildend, indem sie – etwa in Sitzordnungen – soziale Grenzziehungen und Geschlechterdifferenzen mit produzieren und zu ihrer habituellen Verankerung beitragen. 6. Eng damit verbunden ist eine grundlegende Perspektive auf die Materialität des Kirchenraums. Durch die Untersuchung von Dingen und DingArrangements in Kirchenräumen kann nachvollzogen werden, dass religiöse Praktiken in einer mentalistischen Sichtweise nicht aufgehen, sondern vielfältig an ganz bestimmte Artefaktkonstellationen gebunden sind. Vom steinernen Portal zum Glockenstuhl, vom Weihwasser bis zum Hochaltar ist der katholische Kirchenraum ein performativer Dingraum, der die Zirkulation der Gnadenmittel reguliert und kanalisiert. Der Blick auf spezifische Netzwerke von Körpern und Dingen im Kirchenraum ist geeignet, um kon-

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fessionelle Unterschiede herauszuarbeiten und Dynamiken des »Sakralen« und des »Profanen« zu verstehen. Er zeigt damit auch, dass es nicht nur einen »atmosphärischen« Unterschied macht, ob man sich in einem opulent ausgestatteten Kirchenraum des Barock bewegt oder in einem schlichten Meditationsraum des frühen 21. Jahrhunderts. Denn Architektur als Medium des Sozialen zu lesen, bedeutet auch, die fundamentale Funktion des gebauten und mit Artefakten bestückten Raums für die spezifische Produktion religiöser Subjektivitäten zu verstehen. 7. Bei alledem macht die im weiten Sinne ethnographisch ausgerichtete Analyse von Kirchenräumen immer auch die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der hier zu beobachtenden Praktiken sichtbar. Die herrschafts- und machtkritische Perspektive bildet eine wichtige Leitlinie einer kulturwissenschaftlichen Kirchenraumanalyse, allerdings gehen die konkreten Phänomene darin nicht einfach auf: Kirchenräume werden als Orte des Rückzugs und der Kontemplation ebenso genutzt wie als Orte der Kunstbetrachtung, als Treffpunkte und Räume der Kommunikation ebenso wie als wohltuende Orte des Gesprächs mit Gott, als institutionell verfasste religiöse Räume ebenso wie als deutungsoffene »spirituelle« Orte, sie werden im Sinne herrschender Lehrmeinungen ebenso dekodiert wie »gegen den Strich« gelesen, sie werden in ihrem architektonisch und theologisch formulierten Anspruch ernstgenommen, in Frage gestellt und ignoriert. Dabei wird deutlich, dass Kirchenräume legitimatorische Erzählungen, politische Mythen, Zugehörigkeitsoptionen, religiöse Wirklichkeitsdeutungen, Möglichkeiten der Inkorporierung symbolischer Ordnungen sowie sinnliche und emotionale Erlebnismodelle nahelegen oder bereitstellen, dass ihre konkrete Nutzungspraxis aber immer wieder auch davon abweicht. Der Handlungsraum Kirche lässt sich in seiner sozialen Effektivität untersuchen, er lässt sich darauf aber nicht festlegen. Diese prinzipielle Offenheit der Praxislogiken revidiert nicht die Ergebnisse dieser Arbeit, sondern gehört selbst zu ihren wichtigsten Ergebnissen. Stellt man in diesem Sinne die agency der Kirchennutzerinnen und Kirchennutzer, ihre Spielräume der Bedeutungsproduktion und des sinnhaften Handelns in Rechnung, so lässt sich abschließend festhalten, dass Kirchenräume zwar überaus starke kulturelle Repräsentationen im Sinne hegemonialer Vorstellungen des Sozialen darstellen, dass sie aber aus einer praxistheoretischen Perspektive niemals deterministisch zu lesen sind. Der Kirchenraum legitimiert soziale und politische Herrschaft nur dann, wenn seine Legitimationsstrategien anerkannt und produktiv aufgegriffen werden. Der Kirchenraum »produziert« seine Subjekte – als im Wortsinne »Unterworfene« – nur dann, wenn seine entsprechenden performativen und semantischen Angebote auch tatsächlich entsprechend der hegemonialen Lesart verstanden und als Subjektivierungsoptionen genutzt werden. Somit sind Kirchenräume als Medien des Sozialen

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immer nur potentielle Orte der Konstitution und Reproduktion symbolischer Ordnungen. Ihre tatsächliche soziale Bedeutung und Relevanz ergibt sich niemals allein aus ihnen selbst – und damit auch nicht aus ihrer kulturwissenschaftlichen Theoretisierung –, sondern sie ist abhängig von den Akteurskonstellationen und den vielfältigen sozialen und kulturellen Kontexten, in denen sie überhaupt nur »Sinn machen« können. Daher sind eingehende historischkulturanalytische und / oder ethnographische Fallstudien notwendig, in denen solche konkreten Akteurskonstellationen und Kontexte zum Ausgangspunkt der Raumanalyse gemacht werden. Die vorliegende Untersuchung bietet dazu einen theoretischen und begrifflichen Rahmen sowie eine Reihe von analytischen Beispielen an, aus denen hervorgeht, wie Kirchenräume als Medien des Sozialen und als gesellschaftliche Handlungsräume thematisiert werden können. Wenn die sozial- und kulturwissenschaftliche Aufmerksamkeit für diese so überaus wichtigen Orte der europäischen Gesellschaftsgeschichte dadurch zumindest geschärft wird, so hat sie eines ihrer wesentlichen Ziele erreicht.

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ABBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1: St. Josef in Wien-Floridsdorf, Innenansicht © Christof Krumpel, Wien Abb. 2: Der Obelisk als Pilgerzeichen: Piazza Giovanni Paolo II, Rom Wikimedia Commons, Szilas Abb. 3: Mariahilfer Kirche, Altarraum mit Gnadenbild © Christof Krumpel, Wien Abb. 4: Opferstock mit Darstellung des Hl. Paulus in der Mariahilfer Kirche © Christof Krumpel, Wien Abb. 5: Votivkirche, Blick in das Kirchenschiff © Christof Krumpel, Wien Abb. 6: Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläumskirche, Innenansicht © Christof Krumpel, Wien Abb. 7: Die Kirche als Festung: Rosenkranzkirche in Hetzendorf © Christof Krumpel, Wien Abb. 8: St. Antonius von Padua in Favoriten, Frontalansicht Wikimedia Commons, Hubertl Abb. 9: Gottesdienst in der Kirche zur Hl. Theresia vom Kinde Jesus, Siedlung Starchant Wikimedia Commons, Roman Klementschitz Abb. 10: St. Josef in Floridsdorf, Gesamtansicht © Christof Krumpel, Wien Abb. 11: Sandleitenkirche, Eingangsbereich © Christof Krumpel, Wien Abb. 12: St. Rafael in Floridsdorf, Eingangsbereich Wikimedia Commons, Anton-Kurt Abb. 13: Kirche zur Heiligsten Dreifaltigkeit in Mauer © Christof Krumpel, Wien Abb. 14: »Feyerliche Begehung des Oster Festes in der St Stephans Dom Kirche zu Wien von PIUS dem VI Röm. Papst«, 1782. Carl Schütz, Kupferstich und Radierung, koloriert. Verlag Artaria, Wien. © Wien Museum Abb. 15: »Feyerliche Seegens Ertheilung am Ostertage auf den Hofe zu Wien von PIUS dem VI Röm. Papst«, 1782. Carl Schütz, Kupferstich und Radierung, koloriert. Verlag Artaria, Wien. © Wien Museum Abb. 16: Lettner in St. Pantaleon, Köln Wikimedia Commons, Hawobo Abb. 17: Taufgottesdienst in St. Karl Borromäus am Karlsplatz © Christof Krumpel, Wien

Abb. 18: Konzilsgedächtniskirche in Lainz, Innenansicht © Christof Krumpel, Wien Abb. 19: »Ich bin in Gottes Hand«, Kinderbereich in der Konzilsgedächtniskirche in Lainz © Christof Krumpel, Wien Abb. 20: St. Karl Borromäus am Karlsplatz, Fassade © Christof Krumpel, Wien Abb. 21: »Kaiserfenster« im nördlichen Querschiff der Votivkirche © Christof Krumpel, Wien Abb. 22: Kapuzinergruft, Detail am Sarkophag Kaiser Karls VI. Wikimedia Commons, Welleschik Abb. 23: Kerzengeschäft, Zentralfriedhof © Christof Krumpel, Wien Abb. 24: St. Karl Borromäus am Zentralfriedhof, Altarraum © Christof Krumpel, Wien Abb. 25: Christkönigskirche Neu-Fünfhaus, Innenraum © Christof Krumpel, Wien Abb. 26: Denkmal für Ignaz Seipel und Engelbert Dollfuß, Christkönigskirche Neu-Fünfhaus © Christof Krumpel, Wien Abb. 27: Militärpfarre St. Nepomuk am Fasangarten © Christof Krumpel, Wien Abb. 28: Minoritenkirche in der Alser Vorstadt, Maximilian-Kolbe-Kapelle © Christof Krumpel, Wien Abb. 29: Minoritenkirche in der Alser Vorstadt, Opferlichtstand und Votivtafeln © Christof Krumpel, Wien Abb. 30: Votivtafeln im Kreuzgang der Minoritenkirche, Alser Vorstadt © Christof Krumpel, Wien Abb. 31: Szene am Opferlichtstand in St. Stephan © Christof Krumpel, Wien Abb. 32: Versorgungsheimkirche in Lainz, Innenansicht © www.kamillianer.at Abb. 33: Szene am Opferlichtstand in St. Stephan © Christof Krumpel, Wien Abb. 34: Anstaltskirche St. Leopold am Steinhof, Innenansicht mit Kirchenmodell © Christof Krumpel, Wien Abb. 35: Anstaltskirche St. Leopold am Steinhof, Beichtstuhl © Christof Krumpel, Wien Abb. 36: Lichtergottesdienst in Taizé Wikimedia Commons, Christian Pulfrich

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Abbildungsnachweise

Abb. 37: Antwerpener Passionsaltar (um 1460), Kreuztragung, Votivkirche © Christof Krumpel, Wien Abb. 38: Kirche St. Karl Borromäus am Zentralfriedhof, Beichtstuhl © Christof Krumpel, Wien Abb. 39: Konzilsgedächtniskirche in Lainz, Beichtstuhl © Christof Krumpel, Wien Abb. 40: Touristen in der Mariahilfer Kirche © Christof Krumpel, Wien Abb. 41: St. Stephan, Innenansicht Wikimedia Commons, Peter Knorr Abb. 42: St. Karl Borromäus am Zentralfriedhof, Außenansicht © Christof Krumpel, Wien

Abbildungsnachweise

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DANKSAGUNG Die vorliegende Studie wurde im Mai 2015 an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien als Habilitationsschrift eingereicht; das zugehörige Habilitationskolloquium fand am 21. Oktober 2015 statt. Für mich ging mit dieser Arbeit ein wichtiger Arbeits- und Lebensabschnitt zu Ende. Gleichzeitig begann mit meinem Wechsel an die LMU München ein neuer Abschnitt. In dieser Zeit und während der anschließenden Arbeit am Buchmanuskript haben mich viele Personen unterstützt, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Mein herzlicher Dank geht an: – die Studierenden meiner Wiener Seminare »Kirchenräume verstehen« und »Religion und Politik: Kirchenräume in Wien« für ihr Interesse und ihre Anregungen zum Thema, ganz besonders Anton Philapitsch, Simone Schmid und Toni Witzel. – Brigitta Schmidt-Lauber, die mir nicht nur 2009 eine Stelle als Universitätsassistent in Wien angeboten, sondern mich später auch in der Idee bestärkt hat, meine Überlegungen zur politischen Kulturgeschichte von Kirchenräumen in die Form einer Habilitationsschrift zu bringen. Darüber hinaus hat sie die Publikation dieser Arbeit in der Institutsreihe »Ethnographie des Alltags« mit ermöglicht. – Herbert Nikitsch vom Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien, mit dem ich das fachliche Interesse für religiöse Praktiken und Räume intensiv teilen konnte und der für mich nicht nur ein besonders lieber Kollege, sondern auch in vielen Fragen der erste Ansprechpartner war. – allen Kolleginnen und Kollegen vom Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien, namentlich Anna Eckert, Bernhard Fuchs, Klara Löffler, Lukasz Nieradzik, Magdalena Puchberger, Ana Rogojanu, Tobias Schweiger, Alexandra Schwell, Ove Sutter, Nina Szogs und Georg Wolfmayr für die immer anregende Arbeitsatmosphäre und die kollegiale und freundschaftliche gemeinsame Zeit. – meine derzeitigen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Ludwig-MaximiliansUniversität München, die mich herzlich in München aufgenommen und mir anlässlich einer Präsentation meines Habilitationsthemas in der »Forschungswerkstatt« produktives Feedback gegeben haben. – alle Kolleginnen und Kollegen, die im Rahmen der Habilitationskommission oder als Gutachtende Anteil an meinen Forschungen genommen haben: Peter Becker, Peter Eigner, Karin Kuna, Klara Löffler, Claudia Rapp, Ra-



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phael Rosenberg, Brigitta Schmidt-Lauber und Alexandra Schwell sowie – als externe Gutachterinnen – Rebekka Habermas (Göttingen), Sabine Kienitz (Hamburg) und Monique Scheer (Tübingen). Dekanin Claudia Theune-Vogt, Guntram Schneider und Gisela Urbanek vom Dekanat der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, die das Habilitationsverfahren trotz der knappen Fristen zügig und kooperativ durchgeführt haben. Daniela Sommer-Neustifter, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen als professionelle Kirchenführerin mit mir teilte. Marco Valerio Abbati, in dessen Appartement in der Via del Babuino ich während meiner Forschungsaufenthalts in Rom wohnen durfte und dessen Dachterrasse einer der besten Überblicks- und Ausgangspunkte für römische Kirchenerkundungen ist, die man sich vorstellen kann. alle Wiener Pfarreiangestellten, die mir unkompliziert Zugang zu Pfarreiarchiven und Kirchenräumen verschafften. das Dekanat der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien für den großzügigen Druckkostenzuschuss. die Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7) für Ihren ebenfalls großzügigen Druckkostenzuschuss. das Wien Museum und die Niederlassung der Kamillianer in Österreich für die freundliche und unkomplizierte Erteilung von Abdruckgenehmigungen. Johannes van Ooyen, Lena Krämer-Eis, Gabriele Marcini, Bettina Waringer und den Böhlau Verlag für die hervorragende und immer angenehme Kooperation und die Betreuung der Publikation bis zur Drucklegung und Auslieferung.

Mein ganz besonderer Dank geht an: – unseren Freund und Nachbarn Christof Krumpel für die Fotografien, die er eigens für dieses Buch angefertigt hat. – unseren dritten Sohn Felix Ferdinand Schrimpf, dessen Geburt am 6. Mai 2015 mich zu Pragmatismus bei der Fertigstellung und Abgabe dieser Arbeit im gleichen Monat angehalten hat. – meine Eltern Edeltraud und Paul Wietschorke, für deren Unterstützung ich jeden Tag dankbar bin. Gewidmet ist dieses Buch meiner wunderbaren Frau Ulrike und unseren Söhnen Johannes, Michael und Felix.

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Danksagung

REGISTER DER KIRCHENGEBÄUDE Aachen Fronleichnamskirche 115 – 116 Pfalzkapelle 87 Berlin Hindu-Tempel Urbanstraße 56 Islamisches Kulturzentrum der Bosniaken, Adalbertstraße 56 Kreuzberg, St. Jacobi-Kirche 56 Schöneberg, Apostel-Paulus-Kirche 328 – 329 Chester Holy Trinity Church 15, 214 Defereggental / Tirol St. Jakob 232 Frankfurt am Main Paulskirche 137 Freiburg i. Br. Münster Unserer Lieben Frau 247 – 249 Graz Basilika und Wallfahrtskirche Mariatrost 246 Hamburg Altona-Nord, Christophoruskirche 335 St. Nikolai am Klosterstern 287 Hechingen Klosterkirche St. Luzen 15 – 16 Hohe Wand / Niederösterreich St. Engelbert 232 Innsbruck Stadtpfarrkirche / Dom St. Jakob 61 Istanbul Hagia Sophia 116, 201 Köln Dom St. Petrus 136 – 137, 231 St. Pantaleon 160 Leipzig Nikolaikirche 279 Paulinum 16 London Westminster Abbey 78 Marburg Elisabethkirche 211 – 212

Maria Enzersdorf bei Wien Klosterkirche St. Magdalena 243 Maria Lanzendorf bei Wien Kalvarienberg mit Gnadenkapelle 352 Máriapócs Wallfahrtskirche / griechisch-katholische Pfarrkirche 397 Mariazell Basilika Mariä Geburt 246 Mauerbach Kartause 176 Mexiko City Basilika unserer Lieben Frau von Guadalupe 350 Münster i.W. Dom St. Paulus 158 – 159 Padua Basilica S. Antonio 96 Paris Basilica Sacré-Coeur de Montmartre 16 Notre-Dame de Travail 15 Panthéon / Ste.-Geneviève 78 Sainte-Marguerite 93 Passau Wallfahrtskirche Mariahilf 62 Penzlin St. Marien 165 Ravenna S. Giovanni in Fonte 87 Rom Cappella Sancta Sanctorum / Scala Santa 349 – 351 S. Croce in Gerusalemme 46 S. Giovanni in Laterano 46 S. Lorenzo fuori le mura 320 S. Maria del Popolo 388 – 389, 395 S. Maria in Cosmedin 320 – 321 S. Maria in Trastevere 265 – 266 S. Maria Maggiore 46 S. Pietro in Vaticano 86, 201, 350, 390 – 395 Ronchamp Notre-Dame-du Haut 119

San Pelagio Kapelle im Seehospiz 224 Stettin Schlosskirche St. Marien 165 Straßburg Kloster St. Nikolaus in undis 357 Taizé Eglise de la Réconciliation 322 Tauberbischofsheim St. Martin 246 Venedig S. Marco 96 S. Lorenzo 334 Vierzehnheiligen Wallfahrtskirche zu den vierzehn Nothelfern 177 Wien Altlerchenfelder Pfarrkirche zu den sieben Zufluchten 74 – 76 Alsergrund, Dreifaltigkeitskirche der Minoriten (Alserkirche) 240 – 245, 241, 244, 245 Alsergrund, Servitenkloster 189 – 190 Atzgersdorf, St. Katharina 70 Baumgarten, St. Anna 88 Breitenfeld, St. Franziskus 377 Breitensee, St. Laurentius 84 – 85, 254 – 256, 261 Brigittenau, St. Brigitta 76 Brigittenau, Zu Allen Heiligen 92 Donaufeld, St. Leopold 88, 178 Donaustadt, Christus, Hoffnung der Welt 127 Favoriten, Pfarrkirche Königin des Friedens 107 Favoriten, St. Antonius 93 – 100, 97, 177 – 178 Floridsdorf, St. Cyrill und Method 127 Floridsdorf, St. Josef 19, 107, 108 Floridsdorf, St. Rafael 124, 124 Fuchsenfeldhof, Notkirche 109 Fünfhaus, Maria vom Siege 76 Goethe-Hof, Kapelle 109 Großjedlersdorf, St. Markus 122 Gumpendorf, Ev. Gustav-Adolf-Kirche 74 Gumpendorf, St. Ägyd 247

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Register der Kirchengebäude

Hernals, Grabkapelle 49 Hernals, Pfarrkirche / Kalvarienbergkirche 351 – 352 Hetzendorf, Rosenkranzkirche 88, 89, 267 Hietzing, Kapelle zur Allerheiligsten Dreifaltigkeit im Krankenhaus Hietzing 224 Hietzing, St. Johannes Nepomuk am Fasangarten (Militärpfarre / Invalidenhauskirche) 234 – 237, 235 Innere Stadt, Augustinerkirche 70, 336 Innere Stadt, Domkirche St. Stephan 49, 51, 76, 169, 132 – 133, 134, 227, 240, 250, 255, 283, 315 – 316, 336 – 339, 351, 377 – 378, 395 – 400, 398 Innere Stadt, Kapelle St. Johannes Nepomuk im Bundeskanzleramt am Ballhausplatz 232 Innere Stadt, Kapuzinerkirche zur Heiligen Maria von den Engeln 214 – 217, 215, 336 Innere Stadt, Kirche Am Hof zu den neun Chören der Engel 133, 135, 226, 243 Innere Stadt, Lutherische Stadtkirche A.B. 336 Innere Stadt, Maria am Gestade / Maria Stiegen 72 Innere Stadt, Michaelerkirche 336 Innere Stadt, Minoritenkirche Maria Schnee 70, 320 Innere Stadt, Reformierte Stadtkirche H.B. 336 Innere Stadt, St. Ruprecht 271 Innere Stadt Universitätskirche / Jesuitenkirche Mariä Himmelfahrt 373 – 374 Karl-Marx-Hof, Kapelle 109 – 110 Karlskirche St. Karl Borromäus 57 – 58, 172, 201 – 202, 203 Lainz-Speising, Konzilsgedächtniskirche zum Hl. Ignatius von Loyola 121, 178 – 184, 181, 183, 366 Lainz, Zur Allerheiligsten Dreifaltigkeit 179

Priesterkolleg St. Augustin / Frintaneum Lainz, Versorgungsheimkirche zum Hl. 71 Karl Borromäus 16, 88 – 89, 223, 256 – 262, 259 Rudolfsheim, Maria, Königin der Landstraße, St. Othmar unter den Märtyrer 260 Weißgerbern 76, 377 Sandleitenkirche St. Josef / Notkirche im Leopoldstadt, Franz-von-Assisi-Kirche / Sandleitenhof 109 – 112, 111 Kaiserjubiläumskirche 85, 85 – 87 Schmelz, Heiliggeistkirche 90 – 91 Liesing, Maria, Mittlerin aller Gnaden / Starchant, Wallfahrtskirche zur Hl Mutter der göttlichen Gnade und Theresia vom Kinde Jesus 105, 106, heiliger Servatius 119 107, 249 – 252 Mariahilf, Pfarr- und Wallfahrtskirche Steinhof, St. Leopold 88, 90, 302 – 311, 16, 60 – 67, 63, 66, 253 – 254, 256, 261, 305, 309 393 Votivkirche 16, 76 – 79, 77, 136, Mariahilf, St. Josef ob der Laimgrube 184 – 190, 202 – 209, 205, 237 – 240, 348 88 Währing, Lutherkirche / Kaiser-FranzMauer, Kirche zur Heiligsten Joseph-Jubiläumskirche 85 Dreifaltigkeit 125 – 127, 126 Währing, St. Gertrud 231 – 232 Meidling, Maria Empfängnis 92 Wieden, St. Florian 116 Neuottakring, Zur Heiligen Familie Zentralfriedhof, St. Karl Borromäus 377 88, 90, 223 – 226, 225, 364, 405 Neusimmering, Zur Unbefleckten Wittenberg Empfängnis 88 Stadtkirche 201 Neubau, Lazaristenkirche zur Zürich Unbefleckten Empfängnis 76, 377 Neu-Fünfhaus, Christkönigskirche 52, Großmünster 50, 132, 325 107, 226 – 231, 230, 232 Liebfrauenkirche 50

Register der Kirchengebäude

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