Kirche, Staat und Demokratie: Ein Grundthema der katholischen Soziallehre [1 ed.] 9783428476336, 9783428076338


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Kirche, Staat und Demokratie: Ein Grundthema der katholischen Soziallehre [1 ed.]
 9783428476336, 9783428076338

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Kirche, Staat und Demokratie Ein Grundthema der katholischen Soziallehre

Kirche, Staat und Demokratie Ein Grundthema der katholischen Soziallehre

Von o. Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Herbert Schambeck Präsident des Bundesrates der Republik Österreich

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Schambeck, Herbert:

Kirche, Staat und Demokratie: ein Grundthema der katholischen Soziallehre / von Herbert Schambeck. Berlin : Duncker und Humblot, 1992 ISBN 3-428-07633-8

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 21 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-07633-8

Dem Gedenken meiner Frau Elisabeth gewidmet

Vorwort Die Veröffentlichung der Enzyklika "Centesimus annus" durch Papst Johannes PaullI. 1991 aus Anlaß des Hundertjahrjubiläums der ersten Sozialenzyklika "Rerum novarum" Papst Leo XIII. war ein erneuter Anlaß zur Besinnung auf die Bedeutung katholischer Soziallehre, welche für Papst Johannes Paul 11. "die Bedeutung eines Instrumentes der Glaubensverkündigung"! hat und "zudem eine wichtige interdisziplinäre Dimension"2 enthält. Beide stehen im Dienst am Menschen, welcher nach Papst Johannes Paul 11. der Weg der Kirche ist. Was Papst Johannes Paul 11. in diesem Zusammenhang für die soziale Botschaft des Evangeliums feststellt, gilt auch für die katholische Soziallehre, nämlich, daß sie "nicht als eine Theorie, sondern vor allem als eine Grundlage und eine Motivierung zum Handeln angesehen werden" solP. Als Verpflichtung zum Handeln trifft die Verantwortung in der Kirche sowohl Priester als auch Laien. Da Verantwortung tragen im wahrsten Sinne des Wortes Antwort geben verlangt, ist diese in der ganzen Breite der auf die Sozialsituation des Menschen abgestellten Wissensgebiete erforderlich, nämlich in gleicher Weise auf die Wirtschafts-, Sozial- und Staatswissenschaften. Der Staat als der dem Einzelmenschen und der Gesellschaft übergeordnete Herrschaftsverband, der Höchstfunktion zu erfüllen hat, gibt Rahmen und Grundlage für die Möglichkeiten des wirtschaftlichen Wachstums, der sozialen Sicherheit und des kulturellen Fortschritts; ob diese alle erreicht werden können, ist vor allem auch zeit- und ortsbedingt und hängt von dem Wollen sowie von den Fähigkeiten der Menschen ab, welche durch die katholische Soziallehre, besonders durch die Sozialenzykliken der Päpste, Grundprinzipien und Motivation für die Ordnung der Gesellschaft erhalten. Es ist selbstverständlich, daß in den Sozialenzykliken der katholischen Kirche die "soziale Frage" vom Anfang an einen zentralen Platz einnahm. Die katholische Soziallehre wollte nie eine Summe der Sozialwissenschaften sein, sondern auf konkrete Sozialprobleme eine Antwort geben: "Rerum novarum" auf die Arbeiterfrage, "Quadragesimo anno" auf die Klassengesellschaft, "Mater et Magistra" auf die Herausforderungen nach dem 2. Weltkrieg, "Populorum progressio" auf die Not der Entwicklungsländer. 1 2

3

Enzyklika Centesimus annus, Nr. 54. Enzyklika Centesimus annus, Nr. 59. Enzyklika Centesimus annus, Nr. 57.

VIII

Vorwort

Trotzdem wäre es eine Verkürzung der katholischen Soziallehre, wenn man sie auf wirtschaftliche und soziale Probleme einschränken würde. Die politische, d. h. die auf den Staat bezogene Dimension, war von Anfang dessen, was wir katholische Soziallehre im engeren Sinn bezeichnen, da, auch wenn sie sich nicht auf alle Aspekte des staatlichen Lebens bezog. So spricht bereits die erste Sozial enzyklika "Rerum novarum" von der Rolle des Staates in der Lösung der Arbeiterfrage. "Quadragesimo anno" betont die subsidiäre Entflechtung des Staates durch die selbstverantwortliche Gesellschaft. "Mater et Magistra" formuliert sehr konkrete sozialpolitische Aufgaben des Staates. Eines kann festgestellt werden: Die Auseinandersetzung mit der konkreten Staatsform, insbesondere mit der Demokratie, hat in der katholischen Soziallehre einen Entfaltungs- und Wachstumsprozeß erfahren. "Rerum novarum" stand in der Frage der Staatsform noch stark in Ablehnung der liberalistischen Ideologie der Demokratie und in der Tradition der Restauration des 19. Jahrhunderts. "Quadragesimo anno" zeigte bei aller Anerkennung der Menschenrechte eine gewisse Skepsis gegenüber den Schwächen der damaligen Parteienherrschaft. Papst Pius XII. aber sprach bereits während des 2. Weltkrieges in aller Deutlichkeit von der Bedeutung der Demokratie im Wiederaufbau Europas. Einen gewissen Höhepunkt im Bekenntnis zur Demokratie stellt die letzte Sozialenzyklika "Centesimus annus" Papst Johannes Paul II. dar. Hier werden auf der einen Seite die in den Menschenrechten grundgelegten Fundamente der Demokratie aufgezeigt, auf der anderen Seite aber ebenso eindeutig die ethischen Voraussetzungen und Funktionsbedingungen klargestellt. Neben der Klarstellung aktueller, für den Menschen wichtiger Positionen des öffentlichen Lebens nimmt Papst Johannes Paul lI. die Verkündigung seiner neuen Sozialenzyklika "Centesimus annus" für die katholische Soziallehre zum "Anlaß für einen neuen Auftrieb zu ihrem Studium, ihrer Verbreitung und Anwendung in den vielfältigen Bereichen"4. Dies war für mich selbst Grund zur Zusammenstellung einiger meiner in den letzten drei Jahrzehnten bei verschiedenen Gelegenheiten zum rechtsphilosophischen und staatsrechtlichen Gehalt der katholischen Soziallehre im In- und Ausland veröffentlichten Aufsätze und gehaltenen Vorträge. Jeder nimmt von seinem Aufgabenbereich in Wissenschaft und Politik seinen Weg zur Erfassung und Verwirklichung der katholischen Soziallehre. Mein Weg hiezu begann, als ich vor mehr als dreißig Jahren gleichzeitig Mitarbeiter des Nationalrates Dr. Karl Kummer an dem später nach ihm benannten Institut für Sozialreform und Sozialpolitik und von Prof. Dr. Adolf Merkl am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität in Wien wurde. Adolf Merkl war es, der mich als seinen Assistenten besonders auf den staatsrechtlichen und rechtsphilosophischen Gehalt der katholischen Sozial~

Enzyklika Centesimus annus, Nr. 56.

Vorwort

IX

lehre aufmerksam machte, wozu mir dann später das Schrifttum der Professoren Dr. Alfred Verdroß, DDr. Johannes Messner, der auf seinem Lehrstuhl in Prof. DDr. Rudolf Weiler einen würdigen Nachfolger erhalten hat, sowie von Prof. P. Dr. Arthur Fridolin Utz O.P. und besonders auch von Prof. P. Dr. Johannes Schasching S.J. Wegweisendes und Bleibendes gegeben hat. Neben der Betreuung der mit meiner Lehrverpflichtung verbundenen Fächer des öffentlichen Rechts, der politischen Wissenschaften und der Rechtsphilosophie war mir die katholische Soziallehre in ihrer Entwicklung als Wissenschaftler und in ihrer Verwirklichung als Politiker ein persönliches Anliegen. In diesem meinem Bemühen stand mir meine verstorbene Frau Elisabeth stets verständnisvol1st in jeder Weise zur Seite; ihrem Gedenken sei an ihrem 3. Todestag daher auch dieser Sammelband gewidmet, dessen Veröffentlichung ich dem Leiter des Verlages Duncker und Humblot, Herrn Prof. Norbert Simon, zu danken habe. Dank zu sagen habe ich auch am Institut für Staatsrecht und Politische Wissenschaften der Universität Linz Frau Gabriele Langer für das Schreiben des Manuskriptes dieses Buches sowie Frau Univ.-Ass. Mag. Margit Gusenbauer und Herrn Univ.-Ass. Mag. Marcus Bergmann für die Korrekturarbeiten zur Fertigstellung dieser Publikation, um deren Erscheinen in kurzer Zeit im Verlag Duncker & Humblot Frau Birgit Müller und Herr Dieter H. Kuchta in anerkennenswerter Weise bemüht waren. Wien, am 17. November 1992

Herbert Schambeck

Inhaltsverzeichnis I. Grundsatzfragen Der rechtsphilosophische und staatsrechtliche Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Recht und Staat im Lichte der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Zur Staatsordnung

41

Kirche und Staat in ethischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Die Demokratie in der Lehre der katholischen Kirche

57

Kirche und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat

96

Die Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche

114

................ .

127

Der Einzelne in Kirche, Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

Das staatliche Ordnungsbild in "Centesimus Annus"

11. Fragen der Verwirklichung Die Kirche - Gottes Volk in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

Der politische Auftrag der Katholiken heute

159

Der rechtsphilosophische und staatsrechtliche Gehalt der Lehre Papst Pius' XII.

169

Kirche und Staat in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

189

Die Verantwortung des Gesetzgebers und der Schutz des ungeborenen Lebens

194

"Centesimus Annus" und die neue Ordnung in Europa. Gedanken unter besonderer Bezugnahme auf das III. Kapitel der Enzyklika . . . . . . . . . . . . .

204

Aspekte des Friedens

215

Der Heilige Stuhl und die Völkergemeinschaft

.....................

221

Was sagt Maria der Politik? Maria und die Lehre von den politischen Tugenden

231

Quellenverzeichnis

246

.......................................

I. Grundsatzfragen

1 Schamheck

Der rechtsphilosophische und staatsrechtliche Gehalt der Päpstlichen Lehräußerungen * Die Idee des Rechtes und des Staates ist mehrfach zum Gegenstand von Theorien gemacht worden. Eine Vielzahl von Ordnungssystemen war die Folge, die in der pluralistischen Gesellschaft der Gegenwart auch spürbar ist. Als führende Staatsideenlehren seien der Liberalismus, der Konservatismus, der Marxismus und seine radikale Formung im Bolschewismus genannt. Neben diesen Wertungen von Institutionen der Ordnung, deren Ursprung in einem rein weltlichen Bereich gelegen ist, wird das rechtsphilosophische und staatspolitische Denken auch von einer Lehre beeinflußt, deren Grund ein religiöser ist, nämlich die Lehre der katholischen Kirche. Es mag das Vorhandensein einer religionsbedingten Theorie von Recht und Staat nicht immer augenscheinlich gewesen sein, denn wie z.B. die Kodifikation von Grundrechten zeigt, hat so manche christliche Forderung an den Gesetzgeber in säkularisierter Form ihre Entsprechung erfahren 1• So manche weltliche Theorie hat aus taktischen Gründen "Anleihen" bei der christlichen Soziallehre gemacht, indem sie sich Forderungen der Kirche aneignete. Diese Profanierung hat bisweilen das Vorhandensein einer eigenen katholischen Soziallehre "verdeckt". Eine Betrachtung von Recht und Staat, die sich aber mit dem normativen Ausdruck im positiven Rechtssatz nicht zufrieden gibt, muß nach dem Apriori der Rechtsordnung fragen, um die Ursprünge im Wertdenken der Gegenwart wieder aufzudecken. Der christliche Einfluß im politischen Denken wird auf diese Weise wieder sichtbar werden. Für viele mag es allerdings nicht glaubhaft sein, daß die Lehre der Kirche sich neben den Fragen der Dogmatik und Moral auch mit solchen der öffentlichen Ordnung beschäftigt. Die Kirche hat sich zwar in den ersten Zeiten der Glaubensverbreitung zunächst nur um das rein Religiöse kümmern können und sich auf den Bereich des Sakralen beschränkt. Sobald aber die Zahl der Christen ein

* Die deutsche Übersetzung der päpstlichen Lehräußerungen wird zitiert nach Emil Marmy, Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, Freiburg 1945; Anton Rohrbasser, Heilslehre der Kirche, Dokumente von Papst PiusIX. bis PiusXII., deutsche Ausgabe des französischen Originals von P. Cattin und H. Th. Conus, Freiburg 1953, sowie nach Arthur Fridolin Utz und Joseph-Fulko Groner, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens - Soziale Summe Pius' XII., 3 Bände, Freiburg 1954 und 1961. I So geht der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz auf den Satz von der Gleichheit vor Gott zurück; siehe dazu Erich Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in Heft3 der Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Berlin und Leipzig 1927, S. 4ff. I

4

Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen

beträchtliches Ausmaß angenommen hatte, die Gegnerschaft der Staatsgewalt gegenüber dem Christentum aufhörte und gar die Staatsgewalt das Christentum fördern zu müssen glaubte, wurde es für die Kirche unerläßlich, ihren Gläubigen ein Ordnungsdenken zu vermitteln, das mehr und mehr alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfaßte. Ausgehend von der neuen Idee des Menschen, nämlich der christlichen, stand für die Kirche fest, daß alle gesellschaftlichen Lebensordnungen in ihren Grundbeziehungen der sittlichen Wertordnung angehören und daher in den Zuständigkeitsbereich der kirchlichen Lehrautorität fallen. Um den wesentlichen Fragen nach Notwendigkeit, Gehalt und Bedeutung der Soziallehre der katholischen Kirche, wie sie für diese durch die Päpste verkündet wurde, nur annähernd gerecht zu werden, ist es erforderlich, etwas über 1. die Beziehung von religiösem Glauben und öffentlicher Ordnung, 2. den Rang der päpstlichen Enunziationen im Lehrgebäude der Kirche auszusagen, um 3. deren rechtsphilosophischen Gehalt darzulegen, insbesondere 4. die Prinzipien der christlichen Staatslehre zu veranschaulichen und 5. in einer Zusammenfassung die Bedeutung dieser päpstlichen Lehräußerungen hervorzuheben. I. Religiöser Glaube und öffentliche Ordnung

Vielfach werden der religiöse Glaube und die öffentliche Ordnung als zwei voneinander getrennte, gänzlich verschiedene Bereiche angesehen, die bloß durch den Menschen insofern eine Annäherung erfahren, als beide Gebiete den Einzelnen tangential berühren, ohne sich zu überschneiden. In dieser Sicht betrachtet man die Kirche als Hüterin der übernatürlichen Ordnung, der aber keine Aufgaben im Bereich der natürlichen Ordnung zukommen und deren Aussagen keine Bedeutung für das Bestehen des öffentlichen Lebens haben. Die Richtigkeit dieser Auffassung wird an Hand der Heiligen Schrift zu prüfen sein. Heißt es doch bei Johannes 13, 15: "Ein Beispiel habe ich euch gegeben".

Jesus Christus, wie wir seine Botschaft und sein Verhalten aus dem Evangelium kennen, hat selbst keine politische Macht angestrebt und keine politische Kompetenzen ausgeübt. In eine rein politische Auseinandersetzung läßt er sich nicht ein und lehnt ganz deutlich sowohl gegenüber seinen Jüngern wie auch gegenüber seinem Richter den Einsatz der politischen Macht zur Herbeiführung des Gottesreiches ab. Die Errichtung eines theokratisch eingerichteten Staates lag ihm fern. Das soll aber nicht heißen, daß er die Errichtung des Staates nicht wahrnehmen wollte. So spricht Christus beispielsweise vom Steuerzahlen (Mt 17,24) und verweist im Erbstreit auf die bürgerliche Rechts-

Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen

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ordnung (Lk 12, 13). Jesus kommt dadurch mit juristischen und politischen Fragen in Berührung, daß er den einzelnen Menschen, an den sich seine Botschaft richtet, nicht als isoliertes, sondern als soziales Wesen ansieht. Besteht doch auch nach der christlichen Religion zwischen der Glaubensordnung und der irdischen Ordnung schon deshalb ein tiefer Zusammenhang, weil "alles durch Christus und auf Christus hin geschaffen ist" (Koll, 17). Beiden Bereichen ist auch das gleiche Bemühen zu eigen: die Zuordnung der Werte. Der Unterschied liegt nur darin, daß die Glaubensordnung eine Zuordnung auf den Schöpfer Gott nach Ewigkeitsmaßstäben, die öffentliche Ordnung hingegen eine Zuordnung der einzelnen zeitgebundenen Interessen nach zeitlich bedingten und örtlich gebundenen Maßstäben anstrebt. Da die Herstellung der öffentlichen Ordnung in den Aufgabenbereich des Staates fällt, der in der griechischen Antike den Charakter des Stadtstaates, der TCOAli:; angenommen hatte, wird diese Ordnung auch als politische Ordnung bezeichnet. Betrachtet man die Welt des Politischen im Blickfeld christlicher Weltdeutung, dann lassen sich in der Erkenntnis der politischen Wirklichkeit auch Offenbarungsaspekte erkennen. Der Raum der geschichtlichen Ereignisse ist doch ohne den Bezug zur Offenbarung meist unbegreiflich, weil der ordnende, gestaltende Wille, der teils eine konstitutive, teils eine regulative Funktion erfüllt, nicht erkannt werden kann. Nur der Atheist kann die Bedeutung der geistigen Bezogenheit der Menschen auf Gott für den Ablauf historischer Ereignisse leugnen. Auch diese geistige Bezogenheit macht mit die innere Seite des politischen Lebens aus. Ihr steht jedoch jener satanische Wille der Besitzgier, des Machtrausches, der Lüge und welche Formen immer das Dämonische annehmen mag, entgegen, von dem Johannes 8, 44 sagte: "Der Satan war ein Menschenmörder von Anbeginn. Er war in der Wahrheit nicht gefestigt, weil keine Wahrheit in ihm ist. Wenn er lügt, spricht er nach seinem eigenen Wesen".

Gewinnt man aus diesem Blickwinkel dem Geschichtsbild biblische Aspekte ab, dann kann man die Ordnungsrnächte der Zeit auch im Bibelwort erkennen. So spricht z. B. Paulus im Römerbrief 13 von den E~01JOLm, den Obrigkeiten und den UQXOV1:Ei:;, den Herrschenden oder Petrus in seinem ersten Brief, den er an die Christengemeinden von Kleinasien richtete, im zweiten Kapitel13f. ganz deutlich von der av'frQülTCLvrl X1:LOli:;, von der menschlichen Ordnung, der sie sich des Herren willen unterwerfen sollen; er spricht sogar ausdrücklich von dem König, vom ßamAEvi:;, als dem obersten Herrn, dem sie den entsprechenden Gehorsam zollen sollen. Damit wurde keinesfalls die Monarchie als bevorzugte Staatsform hingestellt, sondern vielmehr der öffentlichen Ordnung im Evangelium ein Daseinsrecht zugebilligt. Bei Matthäus 20, 25 lesen wir, daß Jesus sagt: ,.Ihr wißt, die Herrscher gebieten über ihre Völker".

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Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen

Selbst wie die Herrscher dies tun und sich zu sichern verstehen, ist Jesus bekannt. Sagt er doch zu Pilatus: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, so hätten meine Diener gekämpft, daß ich den Juden nicht ausgeliefert würde" (Joh. 18, 36).

Wenn Christus sein Reich auch mit einem irdischen nicht vergleichen läßt, weiß er doch den Ursprung der weltlichen Gewalt zu bestimmen. So sagt er zu Pilatus: "Du hättest keinerlei Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben (livwöev) gegeben wäre".

Am deutlichsten treten wohl menschliche und göttliche Ordnung in dem berühmten Zinsgroschengleichnis (Mk 12, 13 - 18 und Lk 20, 20 - 26) entgegen. Auf die Frage der Pharisäer und der Diener des Herodes, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuer zu zahlen, antwortet Jesus: "Gebt also dem Kaiser, was dem Kaiser gebührt, und Gott, was Gott gebührt".

Dieser Spruch ist, wie Erik Wolf2 so anschaulich darzustellen wußte, eine dialektische Rede, in der Gott insofern auf den Caesar und der Caesar auf Gott bezogen werden, als jedem das Seine ('t6 ÖI,XaLov) zukommen soll. In dieser wechselseitigen Bezogenheit vom Recht Gottes und Recht des Menschen soll das Recht überhaupt religiös-existentiell gerechtfertigt werden. In dieser Form der Rechtfertigung liegt bereits eine bestimmte Beziehung von göttlicher und menschlicher Ordnung begründet, das Gottesrecht ist nämlich dem Menschenrecht vorgeordnet, denn "dem Caesar das Seine geben, das kann nur gewußt und getan werden von dem der weiß, was es heißt, Gott das Seine geben, und danach tun 3 ." Diese skizzenhaften und deshalb unvollständigen Darlegungen über die menschliche Ordnung im Aspekt der biblischen Offenbarung mögen nicht als Versuch einer Eschatologie des Politischen gewertet werden, sie sollten nur die Beziehungen von katholischem Glauben und politischer Ordnung aufdekken. Es sollte gezeigt werden, daß die Politik, trotz aller politischer Prophetien die sich im Alten Testament, so in den prophetischen Schriften, finden lassen zwar nicht das Hauptthema der Bibel und auch nicht der von Jesus Christus gestifteten Kirche ist, wohl aber Gesichtspunkte aufweist, welche dem Glauben und der Lehre der Propheten und der Apostel anhaften. Wenn nämlich auch der Staat und sein Recht, die Politik und die Kultur nicht der eigentliche

2 Erik Wolf, Zur Dialektik von menschlicher und göttlicher Ordnung, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft. Festschrift für Johannes Messner, Innsbruck 1961, S. 48ff. Beachte auch Justinus der Märtyrer (um das Jahr 150) Apologia I, 17 in: C. J. Dtto, Corpus Apologetarum ChristianorumI, 1,3. Aufl., Jena 1876, S. 54f. 3 Wolf, a.a.O., S. 55.

Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen

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Inhalt der Glaubensunterweisung waren, so hatte doch bereits die Predigt der Apostel Folgen für die Öffentlichkeit, denn die Autorität, die sie verkündigte wurde von der kaiserlichen Autorität als Konkurrenz empfunden. Das Christentum entstand doch in der Zeit eines Imperiums, das sich immer mehr einen religiösen Charakter geben wollte. Dieser Welt konnte ein Paulus nicht gleichgültig sein. Hatte doch Paulus eine andere, eine höhere Autorität, nicht bloß gewußt, sondern sogar erschaut. In diesem Sinne muß auch der Satz verstanden werden, den Petrus und Johannes dem Hohen Rat entgegengehalten haben: "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen". Dieses Protestwort der frühen Christenheit ist in den folgenden Jahrhunderten zu einem für alle politischen Herrschaftsgewalten entscheidenden Mahnruf geworden und hat deutlich gemacht, daß das Christentum die politische Macht mit kritischem Blick betrachtet. So gesehen hat der christliche Glaube auch stets politische Aspekte. Die von Jesus Christus eingesetzte Kirche hat sich bei der Betreuung ihrer Gläubigen nicht immer auf das rein Religiöse, auf den Bereich des Sakralen beschränkt, sondern war stets bestrebt, ihren Gläubigen ein umfassendes Ordnungsdenken zu vermitteln. Papst PiusXII. hat dies ganz deutlich ausgesprochen: "Der Gegenstand der Glaubensverkündigung ist die katholische Lehre, d. h. die Offenbarung mit allen in ihr enthaltenen Wahrheiten, mit allen Grundlehren und Begriffen, die sie voraussetzt, mit allen Folgerungen, die sie für das sittliche Verhalten des Menschen im persönlichen, im häuslichen und sozialen, im öffentlichen, auch politischen Leben nach sich zieht ... Die Trennung von Religion und Leben, von Kirche und Welt, widerspricht dem christlichen und katholischen Denken"4.

Damit hat wohl einer der bedeutendsten Nachfolger auf Petri Thron selbst eine Begründung für das Ordnungsdenken der Kirche gegeben und die Notwendigkeit einer katholischen Soziallehre aufgedeckt, wie sie in den päpstlichen Lehräußerungen mit enthalten ist. 11. Der Rang der päpstlichen Enunziationen im Lehrgebäude der Kirche**

Eine eigene Soziallehre der Päpste ist seit dem 19. Jahrhundert feststellbar 5 . Seit dieser Zeit haben sich die Päpste umfassend mit den ideologischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen ihrer Zeit auseinandergesetzt. Anfangs taten sie dies in der Weise, daß sie Zeitirrtümer im nachhinein ablehnten und 4 Papst Pius XII., Aufgaben des Seelsorgers in der Gesellschaft von heute, Ansprache, gehalten am 16. März 1946; Utz / Groner, a.a.O., 11., Nr. 2805. ** Wesentliche Anregungen zur Abfassung dieses Kapitels verdanke ich dem hochw. Herrn o.Ö. Prof. Dr. Kart Binder. S Beachte Kart Lugmayer, Die gesellschaftlichen Rundschreiben Papst Leos XIII. , Wien 1930, bes. S. I - XXXVI.

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Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen

die Gläubigen vor diesen warnten. In diesem Sinne erließ etwa Papst Gregor XVI. die Enzyklika Mirari vos vom 15. August 1832. Ihre Fortsetzung fand diese Zeitkritik in der berühmten Enzyklika Papst Pius IX. Quanta cura vom 8. Dezember 1864. Diese Enzyklika bezog Stellung vor allem gegen den Nationalismus, Liberalismus, Radikalismus und Rationalismus und hält in einem berühmt gewordenen Anhang unter dem Titel Syllabus achtzig Zeitirrtümer fest. Unter dem folgenden Papst Leo XIII. vollzog sich aber die große Wende im kirchlichen Lehramt. An die Stelle der negativen Methode trat nunmehr die positive Methode 6 . Es galt nun, die Zeitirrtümer nicht bloß abzulehnen, sondern vorausblickend ihr Entstehen durch das Aufzeigen neuer Wege zu vermeiden7 . Wenn auch selbst Papst LeoXIII. noch drei in der negativen Methode verfaßte Rundschreiben erließ, nämlich Quod Apostolici muneris vom 28. Dezember 1878 - gegen den Sozialismus, Humanum genus vom 20. April 1884 - gegen die Freimaurerei, und Libertas praestantissimum vom 20. Juni 1888 - gegen den Liberalismus, so war Quanta cura doch das letzte sichtbare Zeichen der Zurückhaltung der katholischen Kirche zu den Fragen der öffentlichen Ordnung ihrer Zeit. Unter Papst LeoXIII. vollzog sich nämlich das Streben im kirchlichen Lehramt, an Stelle der nachträglichen Kritik an begangenen Fehlern ein vorausblickendes Ordnungsstreben zu entwickeln. Den deutlichsten Ausdruck fand diese neue Form der Verantwortung der Kirche für ihre Zeit in der von Papst Leo XIII. verkündeten Enzyklika Rerum novarum vom 15. Mai 1891- die Arbeiterfrage, zu deren 40jährigem Jubiläum Papst Pius XI. die Enzyklika Quadragesimo anno - die Errichtung und Vollendung der Gesellschaftsordnung nach dem Evangelium - und zur 70. Wiederkehr ihrer Verkündigung Papst JohannesXXIII. die Enzyklika Mater et magistra - über die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens der Gegenwart im Sinne der christlichen Gebote erließ. Welche Bedeutung und welcher Rang kommt diesen Lehräußerungen der Päpste im kirchlichen Lehrgebäude zu? Wenn dies aus dem Wortlaut der betreffenden päpstlichen Lehräußerung nicht klar hervorgeht, wollen sie kein eigentliches Dogma verkünden. In diesem Fall stehen sie als theologische Erkenntnisquellen an Ansehen und Geltungskraft hinter der Heiligen Schrift und der Tradition, die für sie normgebend sind, zurück. Sie werden von Melchior Cano in in seinem im 16. Jahrhundert verfaßten Werk De locis theologicis8 unter den zehn von ihm aufgezählten Erkenntnismitteln der Theologie an 6 Anderer Meinung August M. KnolI, Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht, Wien 1962, S. 61ff. 7 Diese positive Methode findet z.B. ganz deutlich ihren Ausdruck in dem Satz der Enzyklika Rerum novarum: "Nach dieser Klarstellung wollen wir nunmehr auseinandersetzen, in welcher Richtung der gesuchte Weg zur Besserung zu finden ist". Marmy, a.a.O., Nr. 524. 8 Siehe dazu Albert Lang, Die loci theologici des Melchior Cano und die Methode des dogmatischen Beweises, München 1925.

Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen

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Bedeutung dem Consensus ecc1esiae und den Entscheidungen allgemeiner Konzilien nachgeordnet. Als weitere eigentliche theologische Erkenntnisquellen folgen der Consensus Patrum und die übereinstimmende Lehre von Theologen der Scholastik oder von Kanonisten. Ein geringerer Grad von Beweiskraft kommt rein menschlichen Erkenntnisquellen, wie der natürlichen menschlichen Vernunft und den Profanwissenschaften wie etwa der Geschichte zu. Der Inhalt der Offenbarung tritt den Menschen in verschiedenen Formen entgegen. Das in Schrift und Tradition hinterlegte Glaubensgut hat Gott nach der Lehre der Kirche einer lebendigen Autorität, nämlich dem kirchlichen Lehramt anvertraut, zur sicheren Aufbewahrung, zur authentischen Auslegung und zur verpflichtenden Verkündigung an die folgenden Geschlechter. Aufgabe des kirchlichen Lehramtes ist es, die Offenbarungswahrheiten nicht bloß präzis zu formulieren, sondern ihnen auch eine der Zeit verständliche Klarheit zu geben. Man muß daher die Lehren der Päpste stets mittels der historischen Methode studieren. Jede dieser päpstlichen Lehräußerungen muß aus den entsprechenden geschichtlichen Ereignissen heraus verstanden und ausgelegt werden, auf die sie sich beziehen. Da die päpstlichen Lehräußerungen zu gesamtpolitischen Problemen immer nach gewissenhaften, langen wissenschaftlichen Studien abgegeben werden, kommt ihnen ein Anspruch auf objektive Wahrheit zu, der ihnen auch außerhalb des innerkirchlichen Bereiches des Glaubens eine besondere Beachtung, ja bisweilen qualifizierte Gültigkeit verschafft. Es handelt sich bei diesen gegenständlichen Lehräußerungen um die Konfrontation der ewigen Heilsbotschaft mit der Situation der öffentlichen Ordnung einer bestimmten Zeit. Die päpstlichen Enunziationen können Kundgebungen des ordentlichen oder außerordentlichen Lehramtes des Heiligen Stuhles sein. Vor allem das außerordentliche Lehramt äußert sich in endgültigen und unabänderlichen Urteilen über Glaubens- und Sittensachen, die in Form von Dogmen verkündet werden. Träger des kirchlichen Lehramtes ist vor allem der Papst, dessen ex cathedra gefällte Entscheidungen den Charakter der Unfehlbarkeit haben, z.B. das 1854 von Papst PiusXI. verkündete Dogma von der Unbefleckten Empfängnis oder die 1950 von Papst Pius XII. kundgemachte Lehre von der leiblichen Aufnahme der Gottesmutter Maria in den Himmel. Auch dem ordentlichen Lehramt steht ein solcher Wahrheitsanspruch in Glaubens- und Sittenlehren zu. Es beschäftigt sich aber neben der Verkündigung der eigentlichen göttlichen Offenbarung auch mit allen jenen Gegenständen, die dieser bloß, wenn auch "innerlich und notwendig verbunden" 9 , zugeordnet sind. 9 M. Fidelis / O. P. Gallati, Wenn die Päpste sprechen, Wien 1960, S. 22. Über das ordentliche päpstliche Lehramt .~eachte das Rundschreiben PiusXII. Humani generis vom 12. August 1950, deutsche Ubersetzung, in: Rohrbasser, a.a.O., Nr. 445.

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Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen

Zu diesen zugeordneten Gegenständen des päpstlichen Lehramtes (objecta secundaria) gehört auch die Soziallehre der Päpste. Sehen sich doch die Päpste verpflichtet, sich auf Grund ihres obersten kirchlichen Lehramtes auch mit den sozialen Fragen im weitesten Sinne auseinanderzusetzen. So betont Papst PiusXII. in Würdigung Papst LeoXIII. und der Enzyklika Rerum novarum, "daß die Kirche nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, zu den Fragen des menschlichen Zusammenlebens autoritativ Stellung zu nehmen. Nicht als ob er die gewissermaßen technische, rein fachliche Seite des gesellschaftlichen Lebens hätte regeln wollen. Er wußte sehr wohl und es war ihm auch eine selbstverständliche Wahrheit, daß die Kirche dafür keine eigentliche göttliche Sendung beansprucht ... Zum unanfechtbaren Geltungsbereich der Kirche aber gehört es, in denjenigen Belangen des sozialen Lebens, die an die Gebiete der Sittlichkeit heranreichen oder sie schon berühren, darüber zu finden, ob die Grundlagen der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung mit der ewig gültigen Ordnung übereinstimmen, die Gott, der Schöpfer und Erlöser, durch Naturrecht und Offenbarung kundgemacht hat"lO. Um diese Anwendung des kirchlichen Lehrgutes auf die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse bemühten sich vor allem die Päpste LeoXIII., PiusXI. und PiusXII. in ihren Aussagen über Recht, Staat, Völkergemeinschaft und über soziale Fragen. Die Päpste haben das ordentliche Lehramt in einer Vielzahl von Formen ausgeübt. Sie haben die sich ihnen bei den verschiedenen Anlässen bietenden Gelegenheiten, so etwa bei Jubiläen, Empfängen oder besonderen Feiertagen, dazu benutzt, um in Form von Enzykliken, Botschaften, apostolischen Briefen, schlichten Schreiben, bloßen Ansprachen, Radio- und Fernsehreden Stellungnahmen zu Zeitfragen abzugeben. Die bedeutendste unter diesen Dokumentationsformen ist die der Enzyklika. Eine Enzyklika ist ein an die ganze Kirche oder an die Gesamtheit der Bischöfe gerichtetes Rundschreiben, in dem der Papst zu wichtigen Zeitfragen Stellung nimmt. Enzykliken sind authentische Erklärungen des ordentlichen Lehramtes. Die beste Charakteristik gab wohl 1891 die Revue benedictine: Eine Enzyklika ist "keine unfehlbare Lehrentscheidung, weder inhaltlich noch formell, aber eine lehramtliche Kundgebung von höchster Autorität, überzeitlich in ihren aus dem Glaubensgut der Kirche geschöpften theoretischen Grundlagen, zeitgebunden und zeitbedingt in ihren praktischen Vorschlägen und Folgerungen"ll. Die Päpste haben aber die Möglichkeit, denselben Inhalt in Briefen, Ansprachen und Erlässen wiederzugeben. Der Unterschied der Enzyklika zu diesen Dokumentationsformen ist kein inhaltlicher, sondern ein solcher der Aussageweise. Diese päpstlichen Lehräußerungen haben zwar 10 Papst Pius XII., Die soziale Frage heute, Radiobotschaft vom 1. Juni 1941; Utz / Groner, a.a.O.I., Nr.497 - 498. 11 Abgedruckt in Emil Muhler, Die Soziallehre der Päpste, München 1958, S. 28.

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nicht den Wahrheits- und Autoritätscharakter von Dogmen, wohl aber können sie vom Papst mit einer bis zur Verpflichtung im Gewissen möglichen Verbindlichkeit ausgestattet werden. Wie GallatP2 hervorhebt, steht dem Heiligen Stuhl aus der Natur des apostolischen Primates die Befugnis zu, bei der einen oder anderen Lehrkundgebung die Zustimmung, die im Gewissen verpflichtet, von allen Gläubigen zu fordern. Es kann demnach der Papst "im Gewissen verpflichtende Urteile erlassen, obwohl diese nicht die Bürgschaft der Unfehlbarkeit besitzen"13. Eine Möglichkeit, von der die Päpste in jeder ihrer Lehräußerungen Gebrauch machen können, aber es nicht immer tun. Der Grad der verpflichtenden Bindung des Gläubigen richtet sich ganz nach der vom Heiligen Vater gewählten Form bzw. dem Ausdruck der Eindringlichkeit, ob es sich um eine bloße Empfehlung, eine Warnung oder gar um eine Verurteilung handelt. Es ist dies aus dem Inhalt bzw. aus dem Wortlaut der betreffenden Lehräußerung zu ersehen. Die päpstlichen Enunziationen haben daher einen nach Form, Thema und Adressatenkreis verschiedenen Wahrscheinlichkeitsgrad und eine abgestufte Geltungskraft. Dieser Umstand möge aber nicht in der Weise mißdeutet werden, als handle es sich bei den gegenständlichen Kundgebungen des ordentlichen Lehramtes um bloße Gelegenheitsfeststellungen; dies wäre eine grundlegend falsche Auffassung. Wohl mag sich manche wirtschafts-, sozial- und staatspolitisch wichtige Äußerung auf eine Zeiterscheinung beziehen, weshalb sich diese auch nur mittels der historischen Methode aus dem konkreten Anlaß heraus richtig erfassen lassen kann. Für dieses Ereignis ist sie verbindlich. Es bleibt daher keinesfalls dem Belieben des einzelnen Gläubigen überlassen, ob er einer solchen päpstlichen Lehräußerung Beachtung schenken wolle oder nicht. Sind doch alle päpstlichen Lehräußerungen Empfehlungen jener Lehrgewalt der Päpste, die auf Christus zurückgeht, der sagt: "Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden, darum gehet hin und lehret alle Völker ... lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe" (Mk28, 19 - 20)

und "Wer euch hört, der hört mich; wer euch verwirft, der verwirft mich; wer aber mich verwirft, der verwirft den, der mich gesandt hat" (Lk 10, 16).

Wenn daher auch nicht alle Äußerungen des ordentlichen Lehramtes einen Glaubensakt verlangen, so bedürfen sie doch des Aktes religiöser Zustimmung (assensus religiosus). Darunter ist aber, wie Gallati 14 bemerkt, nicht bloß ein ehrfurchtsvolles Schweigen (silentium obsequiosum) zu verstehen, sondern die innere Annahme, die in einem positiven Akt besteht. Das päpstliche Lehramt, das ja ein Bestandteil der Jurisdiktion ist, die mit dem Primat des apostoli12 13

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Gallati, a.a.O., S. 37. Gallati, a.a.O., S. 39. Gallati, a.a.O., S.167.

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schen Stuhles verbunden ist 15 , würde ja sonst wirkungslos sein 16 • Der einzelne Grad der Zustimmung wird sich nach dem Grad der theologischen Beweiskraft richten, die der einzelnen päpstlichen Enunziation zugrunde liegt.

Den päpstlichen Lehräußerungen kommt, je nachdem, ob sie sich mehr oder weniger auf die Glaubens- oder Sitten ordnung beziehen, ein größerer oder geringerer Grad theologischer Beweiskraft zu. Je enger die Themen der Lehräußerung mit der Heiligen Schrift zusammenhängen, desto stärker wird die verpflichtende Glaubenskraft sein und umgekehrt abnehmen, je enger der Kontakt mit profanen, zeitbedingten Problemen ist. Als weiteres Bestimmungsmoment gilt es auch zu beachten, ob eine Lehrentscheidung vom Heiligen Vater selbst oder von einer römischen Kongregation erlassen wurde, bloß an das Bistum Rom oder an alle Bischöfe des Erdkreises gerichtet ist 17 • In welcher Form aber immer diese päpstlichen Lehren verkündet und an wen immer sie gerichtet sein mögen, so steht fest, daß diese Kundgebungen des ordentlichen Lehramtes eine Beweisquelle für theologische Behauptungen und somit ein locus theologicus 18 sind.

Gallati, a.a.O., S. 41. Diese Verpflichtung der Gläubigen zur Zustimmung lassen auch z. B. folgende Stellen verstehen: Papst Pius IX., Enzyklika Quanta cura, Marmy, a.a.O., Nr. 81: "Alle verkehrten Meinungen und Lehren also, die Wir in diesem Schreiben einzeln angeführt haben, weisen Wir kraft unserer apostolischen Vollmacht zurück, verbieten sie und verdammen sie und wollen, daß alle Söhne der katholischen Kirche sie durchaus als zurückgewiesen, verboten und verdammt ansehen. Papst LeoXIII., Enzyklika Immortale Dei, Marmy, a.a.O., Nr. 897: "Was ihre Anschauungen betrifft, so müssen sie notwendigerweise alles, was die Römischen Päpste gelehrt haben oder lehren werden, mit unerschütterlicher Überzeugung festhalten, und auch öffentlich, wenn nötig, sich dazu bekennen". Papst Johannes XXIII., Enzyklika Mater et magistra, nichtamtliche Übersetzung, Vaticana 1961, S. 65: "Es ist auch unerläßlich, daß sie sich beim Vollzug der genannten Tätigkeiten im Bereich der Grundsätze und Richtlinien der christlichen Soziallehre bewegen, in der Haltung aufrichtigen Vertrauens und immer in einem Verhältnis kindlichen Gehorsams gegenüber der kirchlichen Autorität." Beachte auch die deutliche Feststellung Papst Pius XII. in seinem Rundschreiben Humani generis, Rohrbasser, a.a.O., Nr. 445: "Ebensowenig darf man annehmen, was in den Enzykliken vorgelegt wurde, fordere an sich keine Zustimmung, da die Päpste in diesen Schreiben nicht höchste Gewalt ihres Lehramtes ausüben. Sie sind nämlich Verlautbarungen des ordentlichen Lehramtes, von dem das bekannte Wort ebenfalls gilt: ,Wer euch hört, der hört mich' (Lk 10, 16); sehr häufig gehört das, was die Enzykliken lehren und einschärfen, schon anderweitig zum katholischen Lehrgut. Wenn die Päpste in ihren Akten über eine bislang umstrittene Frage ein ausdrückliches Urteil fällen, dann ist es für alle klar, daß diese nach der Absicht und dem Willen derselben Päpste nicht mehr der freien Erörterung der Theologen unterliegen kann." 17 Gallati, a.a.O., S.109f. 18 Gallati, a.a.O., S.105. 15

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111. Der rechtsphilosophische Gehalt der päpstlichen Lehräußemngen

Die rechtphilosophischen Anschauungen der Päpste, die in den verschiedensten Enunziationen enthalten sind, wurzeln in dem Satz des dritten Kapitels des Epheser-Briefes:

TO\l'tOV XUQLV XUfUt'tw 'tu yova'tu [.tOV JtQ6~ 'tOV Jta'tEQa, es 0-0 Jtaoa Jta'tQ[a ev oUQavo'i:~ XUL eJtL yfj~ ovo[.tu~E'tm; Deswegen beuge ich meine Knie vor dem Vater, von dem alle Vaterschaft im Himmel und auf der Erde seinen Namen hat.

Papst PiusXII. weist auf die Lehre der Kirche hin, "daß jedes Recht, womit die gegenseitigen Beziehungen im Schoß der großen Menschheitsfamilie zu regeln sind, seine Wurzel in Gott hat"19. Gott in seiner Weisheit ist das Maß aller Dinge. Ein Gedanke, der uns bereits im 4. Buch der Nomoi Platons begegnet, wo es heißt: "Gott in erster Linie ist für uns das Maß aller Dinge, mehr als es irgend ein Mensch sein kann." Diese Grundhaltung der Kirche hat Papst Pius XII. 1950 in einer Ansprache an die Teilnehmer des 1. Internationalen Kongresses für Privatrecht deutlich unterstrichen und damit den Standpunkt des extremen Rechtspositivismus verworfen. Das Recht ist demnach nicht der Willkür ausgeliefert, sondern seiner Herkunft nach mit einer bestimmten Autorität ausgestattet. In dieser Autorität begründet wird die Macht des Rechtes und des Gesetzes gesehen. Dieser Rechtsidee der Kirche kommt nicht bloß eine konstitutive, sondern auch eine regulative Bedeutung zu, die das ethische Minimum des positiven Rechtes bestimmt. Wohl hat die Kirche eine überweltliche Aufgabe zu erfüllen, sie hat die Menschen zu Gott zu führen, aber Papst PiusXII. betont, daß längs des Weges, wo diese Funktion ausgeübt wird, jeder Gläubige als Glied der kirchlichen Gemeinschaft unter Führung der Kirche durch die besonderen und konkreten Verhältnisse des Daseins geht, an deren entsprechender Regelung die Kirche interessiert ist 2o • Die Päpste lehnen den Irrtum des modernen Rationalismus ab, der ein System menschlicher Rechte aufstellen wollte, in dem er die Natur des Menschen als ein für sich bestehendes Sein ohne irgendeine notwendige Beziehung zu einem höheren Wesen betrachtet, von dessen schöpferischem und ordnendem Willen es abhängt. Mit dem Fehlen der richtigen Erkenntnis der menschlichen Natur ist der Verlust des entsprechenden Rechtsbegriffes verbunden, d. h. eines Rechtes, dem jene zwingende Kraft im Gewissen zukommt, ohne die der Rechtsgehorsam und damit auch der Bestand der Geltung gefährdet ist. Die Entwicklung des positiven Rechtes in den letzten Jahrzehnten hat Papst Pius XII. recht behalten lassen. Als nämlich jenes positive Recht, das Utz / Graner, a.a.O. 1., Nr. 42lf. Papst Pius XII., Richter und Recht, Ansprache, gehalten am 6. November 1949; Utz / Graner, a.a.O. 1., Nr. 392ff. 19

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die Grundrechte des Menschen als einen "Aufstand des Egoismus" gegen die Volksgemeinschaft bezeichnet hatte, seine Bankrotterklärung abgeben mußte, baute man eine Rechtsordnung auf, die, wie Hans Carl Nipperdey 21 betont, dem Wesen des Menschen einen character indelebilis zuerkennt. Diese Würde ist ein Eigenwert jeglicher Ordnung: sie bedingt einen "Wertbegriff, der einen Wertträger als Subjekt voraussetzt"22. Als Papst Pius XII. die Begriffe dignitas und ius in engste Verbindung gebracht hatte, ging er einer der wichtigsten Fragen, der Frage nach dem wahren Kriterium echten Rechtes nicht aus dem Wege und stellte fest: Das bloß gesetzliche Recht ist vom wahren Recht dadurch zu unterscheiden, daß dieses "schon mit dem bloßen Licht der Vernunft aus der Natur der Dinge und des Menschen selbst wahrnehmbar ist23 ". Papst Pius XII. hat damit eindeutig und klar das Vorhandensein eines rechtsontologischen Grundes bestätigt. Sagt er doch auch zu den Teilnehmern des Kongresses zur internationalen Vereinheitlichung des Strafrechtes: "Das Recht ist notwendigerweise im letzten Grunde auf die ontologische Ordnung, ihre Festigkeit, ihre Unwandelbarkeit gegründet. Sind die Menschen und Völker nicht überall, wo sie in Rechtsgemeinschaften leben, eben Menschen mit einer wesentlich gleichen menschlichen Natur? Die Forderungen, die sich aus dieser Natur ableiten, sind die letzten Normen des Rechts. So verschieden auch die Formulierung dieser Forderungen im positiven Recht je nach Zeit und Ort, je nach dem Entwicklungs- und Kulturstand sein mag, ihr innerster Kern ist doch, weil er die ,Natur' ausdrückt, überall derselbe"24. Zum Abschluß seiner Betrachtungen über den Rechtspositivismus und das richtige Recht fordert Papst Pius XII. den Gesetzgeber auf, die" ,ethischen Verpflichtungen' als objektive, auch für die Rechtsordnung gültige Normen anzuerkennen"25. Ist doch die sittliche Bindegewalt eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß ein Recht Anerkennung finden und auch Opfer fordern kann. Papst PiusXII. hat mit diesem Gedanken den häufig vertretenen Grundsatz in seiner landläufigen Sinngebung abgelehnt. "Recht ist, was dem Volke nützt". Er verwehrt ihm aber nicht die Anerkennung, sollte ihm der rechte Sinn gegeben werden, daß nämlich sittlich Unerlaubtes nie dem wahren Wohle des Volkes zu dienen vermag. Sowohl Papst PiusXII. als auch vor ihm Papst PiusXJ.26 - in seinem Rundschreiben "Mit brennender Sorge" - weisen auf den Satz in Ciceros De officiis 111, 30 hin: 21 Hans Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner (Hrsg.): Die Grundrechte, Bd. 2, Berlin 1954, S. 3. 22 Günther Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, JZ 1952, S. 259. 23 Papst Pius XII., Der Rechtspositivismus und das richtige Recht, Ansprache, gehalten am 13. November 1949; Utz / Groner, a.a.O. 1., Nr. 388. 24 Utz / Groner, a.a.O. 1., Nr. 462. 25 Utz / Groner, a.a.O. 1., Nr. 388. 26 Marmy, a.a.O. 1., Nr. 311.

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"Nie ist etwas nützlich wenn es nicht gleichzeitig sittlich gut ist. Und nicht weil nützlich, ist es sittlich gut, sondern weil es sittlich gut, ist es auch nützlich". Dieses von allen Päpsten gestellte Verlangen nach einer Versittlichung des Rechtes stellt kein methodenunreines Begehren dar, denn der rechtliche und positive Aspekt bewahrt, wie auch Papst Pius XII.27 erkannte, seinen eigenen, vom Religiösen und Sittlichen unterschiedenen Charakter. Zweifellos kann aber die Zwangsgewalt Strafe als eine Funktion sowohl des menschlichen wie des göttlichen Rechtes angesehen werden. Der rechtliche Aspekt ist niemals getrennt von jedem Bezug auf die sittliche Ordnung zu sehen. Die Sittlichkeit stellt nicht eine Herabsetzung oder Begrenzung des positiven Rechtes dar, sondern vielmehr einen Zuwachs an Kraft und Festigkeit. Diese so begründete Rechtsordnung enthält dann auch den unabdingbaren Anspruch des Menschen auf Rechtssicherheit und damit auch den Anspruch auf eine konkrete Rechtssphäre des Einzelnen, die gegen jeden Angriff der Willkür geschützt ist. Diese Forderung hat in profanierter Form im 19. Jahrhundert auch der Liberalismus gestellt, und die Kodifikation der Grundrechte ist nichts anderes als das Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses jahrhundertealter christlicher Forderungen. Es wäre aber eine Überforderung der päpstlichen Lehrtätigkeit, erwartete man sich von ihr einen dem Naturrecht entsprechenden, konkretisierten, detaillierten Katalog von Rechten und Pflichten des Menschen. Das Naturrecht läßt einen weiten Spielraum für die Individualität von Staaten, Nationen und Menschen und damit für die Rechtssysteme und Rechtseinrichtungen der staatlichen Ordnung. Die Päpste sind sich sehr wohl bewußt, daß jedem Menschen nicht nur eine allgemeine Menschennatur zu eigen ist, sondern daß er auch als Einzelwesen dem Staat einer bestimmten Epoche angehört, einem Staat, der sich wieder auf einer bestimmten Kulturstufe befindet. Die sozialen Entwicklungen bedingen daher für den Gesetzgeber eine weite Freiheit der Rechtskonkretisierung. So lehrt auch Papst Pius XII. : "Im Menschen werden diese Ordnung und diese Harmonie bis zu jener Grenzlinie, an die seine unbewußte Aktivität reicht und bei der sein bewußtes und freies Handeln beginnt, streng nach den Gesetzen verwirklicht, die der Schöpfer in das existierende Sein gelegt hat. Jenseits dieser Linie gilt noch der ordnende Wille Gottes; jedoch sind seine Verwirklichung und seine Entfaltung der freien Entscheidung des Menschen überlassen, welche dem göttlichen Wollen entsprechen oder widersprechen kann"28. Die natürliche Ordnung als Dokumentation des Willens Gottes wird demnach auch als Erstursache des positiven Rechtes angesehen. Papst Pius XII. meint auch: 27 Papst Pius XII., Die kirchlich organisierte Hilfeleistung, Ansprache, gehalten am 26. Mai 1957; Utz / Groner, a.a.O. III., Nr. 4703. 28 Utz / Groner, a.a.O. 1., Nr. 380.

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Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen "In jeder geschichtlichen Wende und Wandlung bleibt das Ziel alles gesellschaftlichen Lebens stets in unveränderter Verbindlichkeit: Die Entfaltung der Persönlichkeitswerte des Menschen als das Ebenbild Gottes"29.

Wahrung und Schutz der einzelnen Grundrechte lassen aber zu verschiedenen Zeiten verschiedene Maßnahmen als notwendig erscheinen. So wird auch zur Wahrung der staatlichen Autorität, die dem Gemeinwohl zu dienen hat, einmal die Monarchie und einmal die Republik das zweckmäßigere Konstitutionsprinzip abgeben. Es muß auch festgestellt werden, daß das naturrechtliche Prinzip des Privateigentums nicht unwandelbar ist. Dies hat auch Papst JohannesXXIII. in seiner Enzyklika Mater et magistra festgestellt: "Das Recht auf Privateigentum, auch am Produktionsmittel, gilt für jede Zeit. Es ist in der Natur der Dinge selbst grundgelegt, die uns belehrt, daß der einzelne Mensch früher ist als die bürgerliche Gesellschaft, und daß diese zielhaft auf den Menschen hingeordnet sein muß ... Es genügt jedoch nicht, nur das naturgegebene Recht auf Privateigentum, auch an Produktionsmitteln, zu betonen. Mit gleichem Nachdruck muß alles unternommen werden, damit alle Kreise der Bevölkerung in den Genuß dieses Rechts gelangen"3O. Neben der Betonung des Wertes ?es Privateigentums hebt Papst Johannes XXIII. hervor, daß das eben Gesagte keineswegs ausschließt, "daß auch der Staat und andere öffentlich-rechtliche Gebilde rechtmäßig Eigentum besitzen, auch an Produktionsmitteln, ganz besonders dann, wenn ,die mit ihnen verknüpfte übergroße Macht ohne Gefährdung des öffentlichen Wohls Privathänden nicht überantwortet bleiben kann (Quadragesimo anno 114)'''31. In Anwendung des naturrechtlichen Eigentumsprinzips entsteht, den Erfordernissen der Zeit angepaßt, ein sekundäres Naturrecht, welches der naturrechtlichen Bestimmung der Güterwelt und der sozialen Funktion und den Pflichten des Eigentums Rechnung trägt. Daraus erklärt sich die Berechtigung bestimmter Formen der Verstaatlichung und Sozialisierung. Es wäre daher falsch, wollte man das Naturrecht bloß in seinen allgemeinen Postulaten sehen. Man muß vielmehr auch das diese Prinzipien ausführende, den zeitlichen, örtlichen und kulturellen Verhältnissen entsprechende sekundäre Naturrecht mit einschließen. Dieses sekundäre Naturrecht bildet mit die Grundlage für die Anwendung des Naturrechts durch das positive Recht und im positiven Recht; eine Anwendung, die Papst Pius XII. als eine notwendige Ergänzung dessen ansah, 29 Papst Pius XII., Die Grundelemente des Gemeinschaftslebens, Radiobotschaft vom 24. Dezember 1942; Utz / Groner, a.a.O. 1., Nr. 234. 30 Die Sozialenzyklika Papst Johannes XXIII. Mater et magistra, über die jüngste Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens und seine Gestaltung im Licht der christlichen Lehre; mit einem ausführlichen Kommentar und einer Einführung in die Soziallehre der Päpste von LeoXIII. bis zu JohannesXXIII. von Eberhard Welty O. P., 2. Auflage 1962, S.143ff. 31 Welty, a.a.O., S. 147.

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"was nach den Grundsätzen der Natur nicht mit Sicherheit feststand und das zu ergänzen, worüber die Natur schwieg"32. In dieser Sicht stellen sich primäres Naturrecht, sekundäres Naturrecht und positives Recht als eine Einheit dar. Im Anschluß an Johannes Messner33 hat Alfred Verdross diesen Zusammenhang verdeutlicht, als er schrieb: "Das Naturrecht bedarf des positiven Rechtes, um in einer Gemeinschaft wirksam zu werden und das positive Recht ist im Gewissen nur verbindlich, wenn es dem Naturrecht entspricht. Bloß in ihrer Verbindung entsteht das Recht einer konkreten Gemeinschaft"34. IV. Die Prinzipien der christlichen Staatslehre

Die Päpste anerkennen die Notwendigkeit des positiven Rechtes, ja sie verlangen aus der Grundkonzeption ihrer Naturrechtslehre heraus nach einem Gesetzgeber und damit nach einem Staat. Sie fordern also eine Ordnungsgewalt, d. h. eine Autorität, durch welche die Ordnung Geltung erlangen kann. Der Staat ist für die Päpste eine Naturnotwendigkeit. Es ist der Ort, an dem die echte Autorität zur Entfaltung und Erfüllung gelangen kann. So stellte auch Papst Leo XIII. fest: "Da aber keine Gesellschaft bestehen kann, wenn nicht einer an der Spitze aller steht, der mit wirksamem und gleichmäßigem Antrieb die Einzelnen zum gemeinsamen Ziel hinlenkt, so folgt daraus, daß auch die bürgerliche Gesellschaft eine Autorität braucht, die sie leitet"35. 32 Papst Pius XII., Die internationale Gemeinschaft, Ansprache, gehalten am 13. Oktober 1955, Utz / Groner, a.a.O. III., Nr. 6286. 33 Johannes Messner, Das Naturrecht im positiven Recht, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Jg. 1958, S. 129ff. 34 Al/red Verdross, Primäres Naturrecht, sekundäres Naturrecht und positives Recht in der christlichen Rechtsphilosophie, in: Jus et lex, Festgabe für Max Gutzwiller, Basel 1959, S. 455. Eine Unterscheidung in ein unwandelbares und ein wandelbares Naturrecht hat Papst PiusXII., Die nationale Gemeinschaft, Ansprache, gehalten am 13. Oktober 1955, Utz / Groner, a.a.O. 111., Nr. 6286, auch eindeutig getroffen: "Das Studium der Geschichte und Rechtsentwicklung seit fernen Zeiten lehrt, daß einerseits eine Umwandlung der wirtschaftlichen und sozialen (manchmal auch der politischen) Verhältnisse neue Formen jener naturrechtlichen Postulate verlangt, denen die bis dahin herrschenden Systeme nicht mehr gerecht werden; andererseits aber, daß bei diesen Umwandlungen die Grundforderungen der Natur immer wiederkehren und sich mit größerer oder geringerer Dringlichkeit von einer Generation auf die andere übertragen." Diese Differenzierung entspricht ganz der christlichen Naturrechtslehre, denn bekanntlich hat bereits der hl. Thomas von Aquin zwischen primärem und sekundärem Naturrecht zu unterscheiden gewußt. Seiner Lehre kommt eine solche Bedeutung zu, daß sie von Papst BenediktXV. und Papst PiusXI. als Norm für den theologischen Unterricht anbefohlen wurde. Ihren normativen Ausdruck fand die Autorität des Aquinaten im CIC c. 1366, § 2, der die Professoren der Philosophie und Theologie anweist, ihrer Lehrtätigkeit die Lehre und Grundsätze des hl. Thomas zugrunde zu legen. 35 Papst LeoXIII., Enzyklika Immortale Dei, Marmy, a.a.O. Nr. 839. Über die Notwendigkeit der Obrigkeit und das Ordnungsprinzip der Autorität siehe auch Papst LeoXIII., Rundschreiben Diuturnum illud vom 29. Juni 1881, Marmy, a.a.O. Nr. 80lff.; 2 Schamheck

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Der Staat ist als möglicher Ort der Verwirklichung des natürlichen Rechtes für die Kirche und die Päpste von größter Bedeutung. Sie gehen von einem Staatsbegriff aus, der allumfassend zu sein sucht; d. h. von einem Staatsbegriff, der zur Erklärung des Wesens und der Rechtfertigung der Existenz des Staates alle Bestimmungsmomente ordnend zusammenfaßt und nicht bloß den Staat mit einer seiner Eigenschaften identifiziert und diese Eigenschaft des Staates absolut setzt, wie es der juristische Staatsbegriff (Staat = Recht) oder der soziologische Staatsbegriff (Staat = Herrschaftsmacht) tut. Für die Päpste ist der Staat in gleicher Weise eine societas naturalis, perfecta und completa 36 •

Der Staat ist eine societas naturalis. Findet er doch seinen Ursprung in der Natur des Menschen, in der geistigen wie in der leiblichen Natur. Dieser Naturzustand darf weder in der idyllischen Prägung Jean Jacques Rousseau's noch in der brutalen Form des Kampfes aller gegen alle, wie sie Thomas Hobbes gezeichnet hat, gesehen werden, sondern vielmehr in der existentiellen Lage des Menschen. So sagt Papst Leo XIII. : "Da dem Menschen in der Vereinzelung die zum Leben notwendige Fürsorge und Pflege abginge, hat Gott in weiser Vorsehung es so geordnet, daß er in eine menschliche Gemeinschaft, zunächst und unmittelbar in die häusliche, dann aber in die bürgerliche hineingeboren wurde, denn nur die letztere kann ihm den vollen Lebensbedarf (vitae sufficientiam perfectam) bieten"37.

Diese Idee stellt keine bloße utilitaristische Staatsauffassung dar, denn auch die communis utilitas des Thomas macht einen Staatszweck aus, der auf die objektive seinsbedingte Wertordnung bezogen ist. Der tatsächliche gesellschaftliche Zusammenschluß von Menschen ist auch nicht das Ergebnis willkürlichen Handeins auf Grund reiner subjektiver Nützlichkeitserwägungen, dieser gesellschaftliche Zusammenschluß ist vielmehr eine Folge der Naturanlage der Menschen, die erst in gegenseitiger Ergänzung zu ihrer vollen Entfaltung als Kulturwesen gelangen können; auch als Vernunftwesen ist dem MenPapst LeoXIII., Rundschreiben Sapientiae christianae vom 10. Jänner 1890 und Marmy, a.a.O. Nr. 916ff.; weiters Papst Pius Xl., Rundschreiben Mit brennender Sorge, vom 14. März 1937; Marmy, a.a.O. Nr. 308 und Papst Pius XII., Radiobotschaft vom 24. Dezember 1944 und Grundlehren über die wahre Demokratie; Utz / Groner, a.a.O. 11., Nr. 3480. Von großer Bedeutung sind auch die Darlegungen über den christlichen Begriff der Staatsrnacht von Papst Pius XII., Grundsätze der christlichen Politik, Ansprache vom 28. März 1957, Utz / Groner, a.a.O. III., Nr.6249ff. An Literatur beachte u. a. Richard Hauser, Autorität und Macht - die staatliche Autorität in der neuen protestantischen Ethik und in der katholischen Gesellschaftslehre, Heidelberg 1949, und Adolj Merkl, Die Staatsbürgerpflichten nach katholischer Staatsauffassung, Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. XVII., S.1ff. sowie ders., Das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt im Lichte der christlichen Ethik, in: Naturordnung, a.a.O., S.467ff. 36 Beachte Oswald von Nell-Breuning und Hermann Sacher, Zur christlichen Staatslehre, Freiburg 1957, Spalte 5f. 37 Herdersehe Ausgabe 11, S. 343 ff.

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schen der Trieb zum gesellschaftlichen Leben eigen. Diese Lehre findet schon ihren Ausdruck bei Hugo Grotius: "Inter haec autem, quae homini sunt propria, est appetitus societatis, id est communitatis non qualiscumque sed tranquillae, et pro sui intellectus modo ordinate"38. Dies ist mit der Grund, weswegen die Päpste den Ursprung des Staates in der Natur, die Entstehung aber aus dem Wirken der Freiheit mittels der Vernunft sehen39 • Der Staat wurzelt seinem Ursprunge nach im natürlichen Streben des Menschen, in der Gemeinschaft zu leben. In seiner konkreten Form ist der Staat aber durch das Zusammenwirken von Vernunft, Einsicht und Willensentschluß entstanden, sich zuerst ausprägend im Volkstum einschließlich des Gewohnheitsrechtes des betreffenden Gemeinwesens. Kein Moment hat Ausschließlichkeitscharakter, jedes ist Teil eines bedingenden bedingten Zusammenhanges, den eine Gesamtschau erschließt. Gleich der kleineren Gemeinschaft der Ehe und Familie ist also der Staat das Ergebnis von Entscheidungsfreiheit und Vernunfteinsicht. In diesem Sinne ist die Vertragslehre in der katholischen Staatstheorie zu verstehen. Der Staat ist wohl in der Natur des Menschen vorgegeben, damit aber der konkrete Staat entstehen konnte, bedurfte es doch des menschlichen Handeins. Der durch göttlichen Stiftungsakt begründete Staat begegnet uns nur in der Geschichte des Volkes des alten Bundes. In welcher Weise ist der menschliche Staatsgründungsakt zu verstehen? Die Päpste antworten: durch ausdrückliche oder stillschweigende Übereinkunft. Im Gegensatz zur rationalistischen Naturrechtslehre wird der Einigungsakt nicht notwendigerweise als ein feierlicher Vertrag angesehen. Die Möglichkeiten erstrecken sich von der Vertragsform über die "Akklamation des Volkes" bis zur stillschweigenden Anerkennung durch konkludente Handlungen. Welche Form immer der Staatsgründungsakt annehmen mag, es muß stets ein solcher sein, der es dem Einzelnen ermöglicht, zum Abhängigkeitsverhältnis seine Zustimmung zu geben, auch wenn er diese Möglichkeit selbst tatsächlich nicht gebraucht. Die Übereinkunft ist die Bedingung für das Wirklichwerden der potentiellen und naturrechtlich gesehen präexistenten Sozialordnung, die damit zur öffentlich-rechtlichen Ordnung Staat wird. Dieser Staat ist aber nicht bloß eine societas naturalis, sondern auch eine societas perfecta, d. h. ein Gemeinwesen, dem alle erforderlichen Befugnisse und Machtvollkommenheiten zu Gebote stehen. Dieses Gemeinwesen hat die Möglichkeit, Rechtsakte mit Zwangsfolgen zu setzen. Diese Befehls- und Zwangsgewalt erhält ihre Rechtfertigung durch den Dienst am Gemeinwohl, denn wie Papst PiusXII. betonte, besteht die Aufgabe des Staates darin, "die 38 Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, Prolegomena 6. 39 In diesem Sinne auch Heinrich Rommen, Der Staat in der katholischen Gedankenwelt, Paderborn 1935, S. 103ff. 2':'

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privaten und individuellen Tätigkeiten des nationalen Lebens zu kontrollieren, zu unterstützen und zu regeln, um sie in harmonischer Weise auf das Gemeinwohl auszurichten"40. Das Gemeinwohl ist das inhaltliche Ziel des Staates41 • Darin liegt ein Unterschied zur marxistischen und liberalistischen Staatstheorie. Der marxistische Staat verlangt das Recht zur Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Er tritt für ein positives Recht im Dienste einer Gerechtigkeit nach dem Gleichheitsprinzip ein. Der liberale Staat in seiner ursprünglichen Gestalt sieht seine Aufgabe in der Herstellung einer Rechtsordnung im Sinne einer bloßen Friedensordnung. Er verlangt einen Staat mit einem extrem limitierten Zweck. Das Ergebnis soll ein bloßer Rechtsbewahrungsstaat sein. Diesen Theorien steht die christliche Staatslehre mit ihrer Theorie des Rechts-, Kultur- und Wohlfahrtsstaates entgegen, der die Idee der austeilenden Gerechtigkeit zugrunde liegt. Nach ihr fordert und begrenzt das Gemeinwohl staatliche interventionistische Maßnahmen, es verlangt u. a. nach einer quantitativen und qualitativen Sozialpolitik, einer Mittelstands- und Agrarpolitik als Teilgebiete einer allseitigen Gesellschaftspolitik42 . Die Päpste treten daher nicht für den bloßen Rechtswegestaat ein, dessen Ziele ausschließlich auf die Formen der Rechtssetzung und Rechtsanwendung, gleichgültig welchen Inhaltes, beschränkt sind. Die Bedingung dieses Rechtswegestaates, des heute vorherrschenden Typs des Rechtsstaates, ist die gesetzliche Ermächtigung, wobei die Gegenstände der staatlichen Betätigung vom Verfassungsgesetzgeber in unterschiedlicher Weise umschrieben werden können. Die Päpste verlangen wohl ein gesetzlich determiniertes Handeln des Staates, das aber die dignitas humana auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Rechts schützt. Diese Forderungen der Päpste nach einem Eingreifen des Staates zur Sicherung der dignitas humana und zur Wahrung des Gemeinwohls sollen nicht übersehen lassen, daß die Päpste ebenso, wie sie dem Staat korrigierende Maßnahmen abverlangen, auch ein Halt dann sprechen, wenn der Staat die Grenzen, die ihm diese Staatslehre setzt, überschreitet. So lehnen die Päpste staatliche Eingriffe in das Verfügungsrecht über das Eigentum dann ab, wenn diese Eingriffe das Eigentum als Sozial- und Rechtseinrichtung aushöhlen. Die Päpste verlangen, daß der positive Rechtssatz einen bestimmten Inhalt habe. In diesem Sinne ist auch der Staat eine societas comp/eta: ein Gemeinwesen, das die Voraussetzungen schafft, daß seine Glieder alle Lebens- und Kulturbedürfnisse befriedigen und so zur vollen Entfaltung ihrer Kultur gelangen können. 40 Papst Pius XII., Die Krise der Staatsgewalt, eine Krise der staatsbürgerlichen Gesinnung, Brief vom 14. Juli 1954; Utz / Groner, a.a.O. II., Nr. 4302. 41 Beachte Johannes Messner, Das Gemeinwohl, Osnabrück 1962. 42 Man beachte nur die Vielzahl von Problemen aller Bereiche des sozialen Lebens, für die Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Mater et magistra Lösungsvorschläge gemacht hat.

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Eine besondere Prägung hat die christliche Lehre vom Staat durch die von den Päpsten vertretene Theorie der vertikalen Gewaltenteilung, wie sie dem Subsidiaritätsprinzip zugrunde liegt, erhalten. Diese Theorie geht von der Erkenntnis aus, daß zwischen dem Einzelnen und dem Staat zahlreiche menschliche Gemeinschaftsbildungen als Zwischenglieder existieren, die in ihrem Stufenbau dem einzelnen Bürger ebenso die Freiheit zu garantieren suchen, wie das an Bedeutung gleich wichtige Prinzip der horizontalen Gewaltenteilung, das bereits von Aristoteles und John Locke vertreten und von Montesquieu zum grundlegenden Organisationsprinzip des modernen Verfassungsstaates erhoben wurde. In derselben Weise wie das Prinzip der horizontalen Gewaltenteilung will das von Papst Pius XI. in seiner Enzyklika Quadragesimo anno herausgearbeitete Prinzip der vertikalen Gewaltenteilung den Staatsabsolutismus überwinden. Aus der Erkenntnis der Überbelastung des Staates und der Bedeutung bestimmter an das Individuum gebundener Werte, verlangt Papst Pius XI. , daß das, was von den einzelnen Menschen mit eigener Kraft und durch eigene Tätigkeit geleistet werden kann, ihnen nicht entrissen und der Gemeinschaft übertragen werden darf43 • So tritt er für die Stufenordnung in der Zuweisung der Aufgaben ein. Diese Ordnung gestattet es nämlich dem Staat, sich seinen eigentlichen Aufgaben zu widmen, durch Sub- und Koordination dem Einzelnen ein großes Maß an Selbstverwirklichung durch Selbstentfaltung zu ermöglichen. Das große Verdienst Papst Pius XI. liegt vor allem darin, daß er diesen Grundsatz der Freiheit und Selbständigkeit von dem Verhältnis zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft auf die Beziehungen der kleineren Lebensgemeinschaften untereinander und zum übergeordneten Herrschaftsverband, Staat, erstreckt hat. Die Gestaltung des Prinzipes der Subsidiarität im Einzelfall überläßt Papst Pius XI. dem jeweiligen staatlichen Gesetzgeber44. Er spricht nur von den Körperschaften regionalen und berufsständischen Charakters, für die er die Autonomie, das Recht auf Selbstverwaltung, verlangt. Von den aufterritorialer Basis denkbaren autonomen Verbänden nennt Papst Pius XI. bloß die Gemeinden. Aber es ist anzunehmen, daß er die sonst möglichen Formen territorialer Selbstverwaltung auf Bezirks- und Landesebene nicht ausgeschlossen wissen will. Insofern ist der Föderalismus staatsrechtlicher Provenienz, nämlich die Bundesstaatlichkeit, wie sie auch als Prinzip der österreichischen Verfassung zu eigen ist, zwar keine notwendige, aber eine mögliche Ausführung des Subsidiaritätsprinzips. Die Bedeutung dieses Prinzips gilt es heute um so mehr zu beachten, als die politische Machtkonzentration an der Staatsspitze, die den Freiheitsanspruch des Einzelnen und der kleineren GemeinPapst PiusXI/., Enzyklika Quadragesimo anno, Marmy, a.a.O., Nr.672. Siehe Adolf Süsterhenn, Das Subsidiaritätsprinzip als Grundlage der vertikalen Gewaltenteilung, in: Vom Bonner Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung, Festschrift für Hans Nawiasky, herausgegeben von Theodor Maunz, München 1956, S. 141ft. 43

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schaft negiert, meist, wohl nicht immer, die Folge des Strebens eines gesetzgeberischen Unitarismus und verwaltungsmäßigen Zentralismus ist. Aus diesem Grund ist dieser Föderalismus bzw. die Subsidiarität solidarischer, nicht partikularischer Prägung, ein Freiheitsgarant für die moderne Gesellschaft. Dem Subsidiaritätsprinzip wird im Aufbau der gesellschaftlichen Ordnung nicht allein durch die Gliederung in Familie, Gemeinde, Gemeindeverbände bzw. Bezirke und Länder zum Bundesstaat erschöpfend entsprochen. Dieses Prinzip verlangt auch die Errichtung von berufsständischen Körperschaften. Eine doppelte Gliederung, also die Gliederung in Gebiets- und Berufskörperschaften im Sinne von Leistungsgemeinschaften gehört zum Subsidiaritätsprinzip. Die Forderung nach der Bildung von Berufskärperschaften hat Papst Pius XI. 45 in der Enzyklika Quadragesimo anno gestellt. Anknüpfend an die Tatsache, daß sich auf dem sogenannten Arbeitsmarkt Arbeitgeber und Arbeitnehmer in zwei Kampffronten gegenüberstehen, verlangt er die Bildung von Berufsgemeinschaften, "denen die Menschen nicht nach der Stellung, die sie auf dem Arbeitsmarkt einnehmen, angehören, sondern nach den verschiedenen Rollen, die sie im sozialen Leben zu spielen haben"46. Der Unterschied zwischen der Klassengesellschaft und der ständischen Gesellschaft liegt darin, daß in der Klassengesellschaft der gemeinsame Gegensatz zur anderen Partei, in der berufsständischen Gesellschaft die gemeinsame Aufgabe, ein gesellschaftliches Ziel zu erreichen, eint. Die berufsständische Gesellschaftsordnung bedeutet eine natürliche Gliederung der menschlichen 4S Papst Pius XI., Enzyklika Ouadragesimo anno, Marmy, a.a.O., Nr. 674ff. In der Enzyklika wurden die Berufsstände (ordines) wahlweise als collegia seu corpora bezeichnet, d. h. als Kollegien oder Körperschaften. Im Hinblick auf den für sie von Papst PiusXI. vorgesehenen Aufgabenkreis, der nach einer Rechtspersönlichkeit verlangt, ist die körperschaftliche Organisation der Berufsstände als vorgesehen anzunehmen. Sehr häufig wird an Stelle von Berufsständen auch von Leistungsgemeinschaften gesprochen. Siehe dazu Johannes Messner, Die berufsständische Ordnung, 2. Auflage, Innsbruck 1937. Manche meinten, daß aus dem Umstand, daß Papst Johannes XXIII. in Mater et magistra der berufsständischen Ordnung nicht soviel Platz einräumt als Papst Pius XI. in Quadragesimo anno, zu schließen sei, daß er von dieser Ordnung abgewichen sei. Diese Ansichten sind falsch. Papst JohannesXXIII. hat nämlich zweimal eindeutig auf die berufsständische Ordnung Bezug genommen, zum einen in Ziff. 37, in welcher er anerkennend von Quadragesimo anno spricht und auf die Forderung Papst Pius XI. auf "Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung durch auf den wirtschaftlichen und auf den beruflichen Raum bezogene Sozialgebilde eigenen Rechtes", die keine Staatsschöpfungen sein dürfen, hinweist, zum anderen betont Papst Johannes XXIII. in Ziff.65 als seine eigene Anschauung, daß es notwendig sei, "daß die leistungsgemeinschaftlichen Gebilde sowie die vielfachen Unternehmungen, in denen der Vergesellschaftungsprozeß sich vorzugsweise abspielt, sich wirklich kraft eigenen Rechtes entwickeln können und daß die Verfolgung ihrer Interessen im Einklang mit dem Gemeinwohl bleibt." Siehe dazu Oswald von Nell-Breuning, Mater et Magistra, Stimmen der Zeit 1961/62, 2. Heft, S.125ff. und Welty, a.a.O., S.106 und 120f. 46 Marmy, a.a.O., Nr. 675.

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Gemeinschaft. Die Menschen, die durch ihre Leistungen im Berufsleben verbunden sind, bilden Berufsstände, gleichgültig auf welcher Seite sie diese Leistungen als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer erbringen. Es handelt sich um Organisationen von Berufsgenossen, nicht aber von Klassengenossen. Die verbindende Kraft, die sie zu einer Einheit führen kann, ist die natürliche Verbundenheit aus der Komplementarität der Berufsarbeit, sie müßte nach der Lehre Papst Pius XI. an die Stelle des horizontalen Aufbaues der Gesellschaft in Klassen den vertikalen Aufbau in Ständen treten lassen. An die Stelle des Klassenkampfes würde die Schicksalsgemeinschaft der Berufsangehörigen treten. Diese Leistungsgemeinschaften sollten nicht nur auf wirtschaftliche Erwerbsberufe beschränkt bleiben, sondern sich auch auf die Kulturbereiche erstrecken. Es ist aber nahezu unmöglich, von den Päpsten eine vollständige Aufzählung aller denkbaren Berufsstände bzw. Leistungsgemeinschaften zu erwarten. Diese Aufzählung bleibt wohl dem Gesetzgeber des einzelnen Staates vorbehalten. Es ist aber anzunehmen, daß es sich um Berufsgemeinschaften innerhalb und außerhalb der Wirtschaft handelt. Im Bereich der Wirtschaft: Die Gütererzeugung in der Landwirtschaft, dem Bergbau, der Industrie und dem Handwerk sowie die Güterverteilung im Klein- und Großhandel, dazu das Kredit-, Versicherungs- und Verkehrswesen. Außerhalb der Wirtschaft die Berufsstände des Bildungs- und Erziehungswesens, des Gesundheitsdienstes, des Nachrichten- und Schrifttumwesens, der Wissenschaft und der Künste. Jede dieser Leistungsgemeinschaften wird sich weiter aufgliedern, so wie sich die Leistungsgemeinschaft auf dem Gebiet des Verkehrs in Leistungsgemeinschaften des Straßen-, Schienen-, Wasser-, Luft-, Personen-, Güter- und Nachrichtenverkehrs gliedern lassen. Diese Unter- und Aufgliederung der leistungsgemeinschaftlichen Berufskörperschaften hätte eine dem Subsidiaritätsprinzip kongeniale Stufenordnung innerhalb des einzelnen Standes zur Folge. Außerdem würde damit eine Hierarchie in der berufsständischen Selbstverwaltung hergestellt, wie sie uns bei den hierarchischen Formen der territorialen Selbstverwaltung schon lange geläufig ist. Ihrem Rechtscharakter nach sind die Berufsstände Personalkörperschaften. Sie umfassen Personen mit gleichen wirtschaftlichen oder kulturellen Zielen. Sagt doch Papst Pius XI. : "In diesen Körperschaften spielen die gemeinsamen Interessen des ganzen Standes weitaus die Hauptrolle"47. Da es nach dem Konzept Papst Pius XI. Aufgabe der Berufsstände ist, im Wege der Selbstverwaltung den Staat zu entlasten48 , scheint die Annahme gerechtfertigt, daß für diese Berufsstände Rechtspersönlichkeit verlangt wird. 47

48

Marmy, a.a.O., Nr. 677. Marmy, a.a.O., Nr. 671.

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Dem Subsidiaritätsprinzip würde es auch entsprechen, daß diese Berufsstände, zumal diese eigene Selbstverwaltungskörper sind, über eine eigene Finanzwirtschaft verfügen und ihnen ein bestimmtes Maß an ordnungspolitischer Verfügungsgewalt zusteht 49 • Nach der Konzeption der Päpste wäre es denkbar, daß z. B. der Berufsstand bzw. die Leistungsgemeinschaft "Bergbau" mitbestimmend für das gesamte Bergrecht wäre, für die Bergpolizei die Verantwortung trägt, für die Verleihung von Schürf- und Abbaurechten zuständig wäre, Sorge tragen müßte für die Abwendung der sogenannten Bergschäden (Bodensenkungen, Versumpfungen), in wirtschaftspolitischer Hinsicht die zweckmäßige Zusammenarbeit mit den Großverbrauchern wie Kokereien, Hüttenwerken oder den Betrieben der Kohleveredelung herzustellen hätte. Der sozialpolitischen Verantwortung trägt der Bergbau in Form der berufsständisch organisierten Knappschaft schon seit alters her Rechnung. Alle die erforderlichen rechtlichen wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen im Bereich der einzelnen berufsständischen Selbstverwaltung bedürfen des ständigen Einvernehmens mit den übrigen Selbstverwaltungskörpern und der Koordination im Staat. Gesamtstaatliche Maßnahmen werden daher durch eine berufsständische Ordnung nicht überflüssig. Die berufsständische Ordnung vermag der hypertrophischen Entwicklung der Staatszuständigkeiten entgegenzuwirken. Nach den Prinzipien der Autorität und Subsidiarität kommt es doch dem Staat, also jenem Herrschaftsverband, der allen Berufsgemeinschaften übergeordnet ist, zu, die gesamte Ordnung zu leiten, zu überwachen, zu betreiben und zu zügeln50 • In diesem Sinne kommt dem Staat bloß die Kompetenzhoheit zu. Papst PiusXI. macht sich dabei den Neutralitätsstandpunkt Papst Leos XIII. gegenüber den Staatsformen auch bei der Organisation der berufsständischen Körperschaften zunutze. Er erklärt, "es bleibe den Menschen völlig frei, jene Form zu wählen, die sie vorziehen, sofern nur auf die Gerechtigkeit und die Erfordernisse des Gemeinwohles Bedacht genommen ist"51. So bleiben Fragen der Organisation offen und werden dem einzelstaatlichen Gesetzgeber zur Regelung nach den in den päpstlichen Enunziationen enthaltenen Grundsätzen empfohlen. Solche Fragen betreffen z. B. die genaue Abgrenzung der Berufskörperschaften als Selbstverwaltungskörperschaften voneinander, sie betreffen die freiwillige oder die Zwangsmitgliedschaft, die Bedingungen der Aufnahme und die Folgen des Austritts, den Weg der Willensbildung innerhalb der einzelnen Leistungsgemeinschaft. Dabei wirft die berufsständische Ordnung folgendes besond~res Problem auf: Es gibt Personen, die keinem Stand angehören, weil sie berufs- oder arbeitslos 49 Papst JohannesXXIlI. verlangte im Anschluß an Papst PiusXI. in seiner Enzyklika Mater et magistra für dieses Gebilde ausdrücklich die Autonomie: Ziff. 37: sui sint iuris und Ziff.65 suis legibus rei ipsa regantur. 50 Marmy, a.a.O., Nr. 673. 51 Marmy, a.a.O., Nr. 678, vgl. dazu Papst LeoXIlI., Rundschreiben Immortale Dei vom 1. November 1885, Marmy, a.a.O., Nr. 842ff.

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sind, oder, was auch angenommen wird, als staatliche Hoheitsbeamte keinem Berufsstand angehören, da sie als unmittelbare Staatsdiener außerhalb der berufsständischen Ordnung, d. h. über allen Berufsständen stehen. Es handelt sich also um die Rechtsstellung jener Personen, die Adolf Merkl52 als die "berufsständisch Heimatlosen" bezeichnet hat. Für sie fehlt jegliche Empfehlung in Quadragesimo anno, weshalb anzunehmen ist, daß Papst PiusXI. die Regelung dieses Problems ebenfalls dem staatlichen Gesetzgeber überlassen hat. Diese Fragen, die der staatlichen Autorität zur Regelung überlassen wurden, sind keinesfalls ein Beweis für die Ungeschlossenheit der päpstlichen Lehräußerungen; sie erklären sich vielmehr aus der Tatsache, daß die Päpste ihren Lehrmeinungen größtmögliche Praktikabilität verschaffen wollen und müssen und deshalb einer Zeit und Ort angepaßten Konkretisierung nicht vorgreifen wollen. Leben doch ihre Gläubigen in Staaten mit verschiedenen Staats- und Regierungsformen. Wie immer auch das Konzept der berufsständischen Ordnung den Leitsätzen entsprechend konkretisiert wird, stets wird sie eine Entlastung in den Aufgaben des Staates bewirken und eine Beseitigung der Klassengegensätze versuchen. Das Verhältnis der berufsständischen Ordnung zum Staat wäre aber nur unzureichend geklärt, würde nicht auf die Folgen des tragischen Fehlers hingewiesen werden, die dadurch entstehen, daß die berufsständische Ordnung oft mit dem Ständestaat verwechselt wird 53 • In einem Ständestaat sind die Berufsstände als Teilhaber an der Staatswillensbildung oder aber (Faschismus) als organisatorische Mittel der Staatsführung gedacht. Im Staat mit berufsständischer Ordnung hingegen sind die Stände bloße Selbstverwaltungskörper54 . Der autoritär-totalitäre Charakter, den die meisten Ständestaaten (auch in Portugal) annehmen, steht oft im Gegensatz zu dieser Autonomie. Wenn auch eine ständische Gesellschaftsordnung der Anfang für eine ständische Staatsordnung sein kann, im Grunde handelt es sich doch um zwei verschiedene Staatseinrichtungen, um dezentralisierte Staatseinrichtungen bei der ständischen Selbstverwaltung und um zentrale Staatseinrichtungen bei den ständischen Vertretungskörpem im Ständestaat. Zwischen beiden Ordnungen liegt der weite Bereich der Gestaltungsmöglichkeiten. Das Staatsvolk kann sich in freier Wahl für eine dieser Möglichkeiten entscheiden. So sehr nämlich die Päpste die berufsständische Ordnung empfohlen haben, so sehr haben sie gleichzeitig stets ihre Neutralität gegenüber den Staatsformen betont. 52 Adolf Merkl, Der staatsrechtliche Gehalt der Sozialenzykliken und die Möglichkeit ihrer Verwirklichung in der Gegenwart, in: "Siebzig Jahre Enzyklika Rerum Novarum" , 15. Heft der Schriftenreihe des Instituts für Sozialpolitik und Sozialreform, Wien 1961, S.37. Siehe auch ders., Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika "Quadragesimo anno", Zeitschrift für öffentliches Recht 1934, S. 208ff. 53 Siehe Adolf Merkl, Ständische Staatsverfassung und ständische Selbstverwaltung, Der österreichische Volkswirt 1937, S. 191ff. 54 Papst Johannes XXIII. spricht in Mater et magistra Ziff. 38 ausdrücklich von "Sozialgebilden eigenen Rechtes, die keine Staatsschöpfungen sein dürfen".

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Die neutrale Haltung der Päpste gegenüber den Staatsformen geht auf Papst LeoX1I1. zurück, der in der Enzyklika Diuturnum illud vom 29. Jänner 1881 unter anderem erklärte: "Wenn die Gerechtigkeit gewahrt bleibt, ist es den Völkern freigestellt, sich jene Staatsform zu wählen, die ihrer Veranlagung oder den Einrichtungen oder Gebräuchen ihrer Vorfahren besser entspricht" 55 .

In dem Rundschreiben Immortale Dei vom 1. November 1885 verkündigte er: "Das Befehlsrecht ist an und für sich mit keiner Staatsform notwendigerweise verbunden"56.

In der Enzyklika Libertas praestatissimum vom 20. Juni 1888 setzt Papst Leo XIII. fort: "Die Kirche verwirft keine jener verschiedenen Staatsformen, solange sie aus sich geeignet sind, das Gemeinwohl zu fördern"57.

Eine Art Modifikation hat dieser Neutralitätsstandpunkt durch Papst Pius XII. in der berühmten Weihnachtsansprache des Jahres 1944 über "Die Grundlehren der wahren Demokratie" erhalten. Unter dem Eindruck der verheerenden Folgen des 2. Weltkrieges erklärt Papst Pius XII.58 es nicht für verwunderlich, daß sich die Völker, durch bittere Erfahrung belehrt, mit größerem Nachdruck den ausschließlichen Befugnissen einer diktatorischen, unkontrollierbaren und unantastbaren Macht widersetzen und sie eine Neigung zur Demokratie ergreift. Papst Pius XII. hat damit ganz eindeutig die demokratischen Staatsformen bevorzugt. Er setzt voraus, daß die Demokratie verschiedene Formen zuläßt, die sich in Monarchien und Republiken in gleicher Weise verwirklichen lassen und verlangt ein Regierungssystem, das in Einklang steht mit der Freiheit und Würde des Menschen. V. Zusammenfassung

Betrachtet man abschließend den rechtsphilosophischen und staatsrechtlichen Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen, dann muß festgestellt werden, daß es sich durchaus nicht um eine spezifische Doktrin der katholischen Kirche handelt, die ihr jeweiliges Oberhaupt entwickelt hat, sondern vielmehr um eine Seinsbetrachtung von Recht und Staat, die jedem Menschen auf Grund seines natürlichen Erkenntnisvermögens zugänglich ist. Als Beispiel seien das allgemein aufdeckbare Prinzip der Subsidiarität und die Grundrechte genannt. Diese Bezogenheiten der päpstlichen Enunziationen auf allgemein menschli55 56 57

58

Marmy, a.a.O., Nr. 808. Marmy, a.a.O., Nr, 840. Marmy, a.a.O., Nr.137. Utz / Graner, a.a.O. 11., Nr. 3469ff.

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che Werte machten es möglich, daß sie eine weltweite Anerkennung finden konnten. Es wäre jedoch eine Überforderung der Kundmachungen der Päpste, erwartete man sich eine für alle Zeiten und Kulturnationen gleich gültige Vorformung des Bildes eines christlichen Staates. Diesen christlichen Staat gibt es ebensowenig wie eine als alleinig seligmachend "patentierte" christliche Staatsform. Es gibt bloß eine Lehre von der christlichen Staatsordnung, welche mit ihren Prinzipien auf den jeweiligen konkreten Staat einer bestimmten Kulturepoche zur Anwendung, mindestens aber zur kritischen Konfrontation gelangen soll. Diese Haltung der Päpste entspricht ganz der jahrhundertealten Tradition der Lehre der katholischen Kirche. Das Gottesreich, die civitas Dei, und das Satansreich, die civitas terrena, des hl. Augustinus waren auch keine Realstaaten, sondern bloß Staatsmodelle, vielleicht sogar Grenzfälle, denen der jeweilige Staat mehr oder weniger nahekommt. Die katholische Staatslehre räumt dem Gesetzgeber einen großen Freiheitsbereich ein. Eine Fülle von Möglichkeiten stehen ihm offen, die sich alle daraus erklären, daß die Päpste die religiös-sittlich verbindliche Kraft der Staatsordnung, wie Adolf Merkl5 9 feststellte, nicht von ihrer Übereinstimmung, sondern bloß von ihrer Vereinbarkeit mit dem göttlichen Gebot abhängig machen. Der Gehorsamsbefehl an die der kirchlichen Gemeinschaft angehörigen Staatsbürger von seiten der Kirche wird nur dann entzogen, wenn der Staat dauernd eine qualifiziert-religiöse Forderung verletzt. Diese mögliche Haltung der Kirche ist für keinen Staat wirkungslos, da der Bestand der Geltung des positiven Rechtes von der Wirksamkeit mitbestimmt wird60 und zur Wirksamkeit nicht bloß die Anwendung der Norm durch die betreffenden Rechtsorgane, sondern auch deren Befolgung durch die der Rechtsordnung unterworfenen Normadressaten erforderlich ist. Für die Rechtsbefolgung wieder ist es aber nicht bedeutungslos, ob die gesamte Rechtsordnung oder Teile von ihr vom sittlichen Wertbewußtsein der Bürger bejahend getragen wird oder nicht 61 • Da sich die Lehren der Kirche und somit auch die päpstlichen Lehräußerungen auf das Rechtsgewissen ihrer Gläubigen auch als Staatsbürger beziehen, mag die jeweilige Haltung der Kirche für den betreffenden Staat relevant sein. Die politische Geschichte hat dies auch in einer Fülle von Beispielen bestätigt.

59 Adolf Merkl, Die Staatsbürgerpflichten nach katholischer Staatsauffassung, a.a.O., S.20. 60 Siehe Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage, Wien 1960, S. 11. 61 Über Rechtsgeltung, Rechtsgehorsam und Rechtspflicht beachte: Rudolf Laun, Vom Geltungsgrund des positiven Rechts, in: Grundprobleme des internationalen Rechts, Festschrift für Jean Spiropoulus, Bonn 1957, S. 321 ff.; Hans Welzel, Macht und Recht (Rechtspflicht und Rechtsgeltung), in: Festschrift für Kar! Gottfried Hugelmann, BandII., Aalen 1959, S. 833ff. und Herbert Schambeck, Ordnung und Geltung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1961, Band XII (N.F.) S.484ff.

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Kirche und Staat sind wohl zwei auf verschiedenen Ebenen, mit verschiedenen Bindungs- bzw. Geltungsansprüchen auftretende Ordnungen, die an den einzelnen Menschen, der sowohl Glied der Glaubensgemeinschaft als auch des Staates ist, appellieren. Kirche und Staat haben aber eines gemeinsam: das Ziel, den Frieden nach der Ordnung des Rechtes herzustellen. Jenen Frieden, von dem der Kirchenvater Augustinus62 sagt, er sei die Ruhe der Ordnung. Diese Ordnung vom ontologischen Ansatz her aufzudecken, ist das Bemühen der Päpste in ihren rechtsphilosophischen und staatsrechtlich bedeutsamen Lehräußerungen.

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Aurelius Augustinus, De civitate Dei, XII, c. 2: pax est ordinata concordia.

Recht und Staat im Lichte der Kirche Das katholische Denken ist ein Denken von der Schöpfung her. Dies zeigt sich deutlich im katholischen Naturrechtsdenken. In ihrem Ordnungsstreben geht die Kirche von einem Naturrecht aus, das für sie keine naturalistische oder rationalistische Konstruktion ist, sondern eine Summe von Fundamenta/normen, die mit der Vernunft aus der Natur der Dinge und des Menschen erkannt werden. Das katholische Naturrecht ist das Ergebnis einer natürlichen Vernunfterkenntnis, wozu der Mensch deshalb für befähigt erachtet wird, weil nach katholischer Lehre die Natur des Menschen durch den Sündenfall nicht zerstört, sondern nur geschwächt wurde. Die Vernunft dient als Erkenntnismittel, die Seinswirklichkeit als Erkenntnisgrund. Die Natur wird ontologisch gesehen, d. h., man geht von ihrer Wesenhaftigkeit aus. Es wird also nicht der Mensch in seiner "ungeselligen Geselligkeit"l, sondern als Ebenbild Gottes, mit einer Freiheit und Würde ausgestattet, gesehen; sie sind Ausdruck der Personhaftigkeit des Menschen.

Die Bedeutung des Person-Begriffes zeigt sich am deutlichsten in der Geschichte des Wortes Person. Es führt zurück zu dem griechischen Wort "prosopon" und bedeutet "Antlitz". Unter "persona" verstand man die Maske des Gottesdarstellers im achäischen Kult, durch welchen die Teilnehmer an Gottesdiensten den Ruf des Überweltlichen zu vernehmen glaubten. In diesem Sinne bedeutet auch das lateinische Wort "personare" hindurchtönen. Die Person ist also "jene Stelle der Welt, durch die hindurch ein höherer Anspruch in die Wirklichkeit kommt; ein Anspruch, den man ernst nehmen muß und der Verantwortung fordert".2 Der Mensch als Person ist ein Grund der Verantwortung, und da Verantwortung ein Anspruch ist, auf den zu antworten ist, gleichsam ein ständiger Pflichtgegenstand auch für jede Ordnung und damit auch für jeden Gesetzgeber. Dieser Personwert des Menschen hat eine besondere Vertiefung durch die Lehre der Stoa erhalten, nach der alle Menschen Wesen sind, die durch ihre Vernunft an der Weltvernunft des Logos teilhaben und so ein Abbild der lex naturalis in sich tragen. Die Würde des Menschen selbst wurde erst durch die Lehre des Christentums metaphysisch begründet, nach welcher der Mensch als Gottesebenbild die irdische Welt überragt, in deren Geschichte er nicht aufgeht, sondern sich als poten1 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784. 2 Heinrich Schneider, Politische Bildung als Gewissensbildung, Würzburg 1961, S. 9.

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tielles Glied auf das ewige überirdische Reich Gottes vorbereitet. Bereits Papst Leo der Große weist auf jene dignitas humana hin: "Deus, qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti et mirabilius reformasti" .3

Diese in der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen gelegene Würde des Menschen hat als Wirkgrund das abendländische Denken durchsäuert. Was Denker wie Demokrit, Hippias, Antiphon, Lykrophon und Alkidamas gefordert, Dichter wie Aischylos und Euripides besungen haben, findet im Christentum seine stoßkraftartige Begründung, um etwa in den Bildern der Kirchenväter Gregor von Nyssa, Gregor von Nazianz, Ambrosius, Johannes Chrysostomus, Basilius veranschaulicht und von Aurelius Augustinus und Thomas von Aquin in das Rechts- und Staatsdenken eingeführt zu werden. Diese Lehre von der Würde des Menschen war durchaus nicht konservativ, sondern oft zündend und bahnbrechend, wie z.B. die Lehre von des Menschen Würde, welche die spanischen Spätscholastiker de Vitoria, Soto, Vasquez und Suarez vertreten haben. Sie bricht viele Fesseln des Menschen, die ihn durch Jahrhunderte unfrei sein ließen, und eröffnet damit gehaltvoll die Geschichte der Grundrechte, die Hans Planitz als "die Geschichte der menschlichen Freiheit"4 bezeichnet hat. Diese Lehre von der in der Personnatur des Menschen begründeten Freiheit wurde von besonderer praktischer politischer Bedeutung, als sich die Vernunftlehre der Neuzeit um die Erstellung eines Systems natürlicher Rechte bemühte. Besonders die von John Locke vertretene Lehre vom Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum sollte von entscheidendem Einfluß sein, denn auf ihr baute William Blackstone seine Lehre von den subjektiven und absoluten Rechten der Personen auf, die für die Grundrechtsentwicklung in den USA und hernach über Frankreich auch am Kontinent bestimmend werden sollte. Als die Französische Revolution ihren Kampf um die Freiheit mit dem Streben um Gleichheit verband, trat auch die soziale Bedeutung der Grundrechte in den Vordergrund. So lautet Art. 2 der von Robespierre entworfenen Menschenrechte: "Die Grundrechte des Menschen sind die, für die Erhaltung seiner Existenz und seiner Freiheit besorgt zu sein".5

Wenngleich in den folgenden Konstitutionen die Freiheitsrechte und politischen Rechte noch dominierten, was sich deutlich, beginnend mit der belgisehen Verfassung, hernach in all den übrigen Fundamentalordnungen euroloset Andreas lungmann, Missarum sollemnia, 2. Bd., Wien 1949, S. 74f. Hans Planitz, Zur Ideengeschichte der Grundrechte, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, hrsg. von Hans Carl Nipperdey, 3. Bd., Berlin 1930, S. 597. 5 Zitiert nach Max Bentele, Das Recht auf Arbeit, Zürich 1949, S. 28, Fn. 45. 3

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päischer Staaten zeigte, definierte doch Abraham Lincoln die Demokratie als "the government of the people, by the people, for the people". 6 Diese Erklärung der Demokratie läßt bereits die Tiefe und Verästelung des Grundrechtes der menschlichen Person auf Existenz, des Wirkgrundes der Demokratie, erahnen: die Freiheitsrechte, die politischen Rechte und die sozialen Grundrechte. Die Positivierungsbestrebungen im liberalen Staat des 19. Jahrhunderts waren aber nur auf die Verbriefung der ersten beiden Gruppen von Grundrechten gerichtet, Liberalismus und Demokratie gingen zu diesem Zwecke eine Symbiose ein, die für die Entwicklung des öffentlichen Rechtes, vor allem auch durch die Herausbildung des Gesetzesstaates entscheidend war. Es kam insbesondere zur Konstituierung des Rechtsstaatsprinzips, welches das obrigkeitliche und, wie Hans Klecatsky7 immer wieder betont, auch das privatwirtschaftliche Handeln des Staates an die Gesetze bindet, der Grundrechte der Freiheit der Person und des Vermögens, der Meinungsäußerung, der Forschung und Lehre, der Religionsausübung, der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Petitions-, Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie zur Positivierung des Gleichheitsgrundsatzes, der in der Sicherung der formalen Freiheit liberal und demokratisch zugleich ist. Als zu diesen verbrieften Grundrechten auch noch das demokratische Recht zur aktiven und passiven Wahl, des Volksbegehrens und der Volksabstimmung trat, glaubte sich die bürgerliche Gesellschaft des liberalen 19. Jahrhunderts aus eigenen Kräften und Gedanken hinreichend gesichert. Dabei darf man aber nicht übersehen, daß diese klassischen Grundrechte ideengeschichtlich nichts anderes sind als das Ergebnis der Säkularisation alten christlichen Gedankengutes. So hat etwa schon Erich Kaufmann 8 darauf hingewiesen, daß die Forderung nach der Gleichheit aller vor dem Gesetz zurückzuführen ist auf den Glauben von der Gleichheit aller vor Gott. Das Gleichheitsprinzip ist somit im letzten nichts anderes als der positiv-rechtliche Grundsatz der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen. Gregor von Nyssa hat so auch bereits verkündet: Alle Menschen sind von Natur aus gleich. 9 Das Wesensverhalten der Menschen und der natürlichen Gemeinschaften ist Ausdruck des natürlichen Rechtsgesetzes. Dieses natürliche Rechtsgesetz ist 6 Abraham Lincoln, Rede zu Geuysburg (Geuysburg Address) am 19. November 1863, siehe Henry Steele Commager, Documents of American History, New York 1962, S. 429. 7 Hans Klecatsky, Allgemeines österreichisches Verwaltungsrecht, JBI. 1954, S. 473 ff. und 503 ff.; derselbe, Die Köpenickiade der Privatwirtschaftsverwaltung, JBI. 1957, S. 333ff. 8 Erich Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in Heft3 der Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Berlin und Leipzig 1927, S.4ff. 9 Gregor von Nyssa, De hominis opificio.

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ein Teil des natürlichen Sittengesetzes. Nach der Lehre der katholischen Kirche ist auch die Rechtsordnung ein Ausschnitt aus der sittlichen Ordnung und die Tugend der Gerechtigkeit eine unter den sittlichen Tugenden, wobei die natürliche Sittenordnung als Ausdruck des göttlichen Willens angesehen wird. Das mit der natürlichen Vernunft aus der göttlichen Schöpfungsordnung erkannte Naturrecht ist die grundlegende Norm für das katholische Ordnungsdenken. Dieses Naturrecht gibt aber keine allgemeingültige Antwort auf alle Einzelfragen des öffentlichen und privaten Lebens, sondern vermittelt die Grundsätze, die einer zeit- und ortsbezogenen Ausführung bedürfen. Das Naturrecht verlangt daher nach seiner Ausführung, denn nur das ausgeführte Naturrecht vermag wirksam zu werden. Es unterscheidet daher die Lehre der katholischen Kirche zwischen dem primären Naturrecht der zeitlosen und allgemeingültigen Prinzipien, z. B. der Gewissensfreiheit, der Religionsfreiheit, des Erziehungsrechtes der Eltern, der Freiheit der Person und des Rechtes auf das wohlerworbene Eigentum und dem sekundären Naturrecht, welches diese Grundsätze ausführt und sie dabei auf die wechselnden, sozialen und kulturellen Verhältnisse bezieht. Ist doch auch dem Einzelnen nicht bloß eine allgemeine Menschennatur zu eigen, sondern auch eine individuelle Ausprägung derselben, die den Menschen als geschichtliches Wesen, das einer bestimmten Zeit und Kulturstufe angehört, erkennen läßt. Ersteres ist vom primären Naturrecht, letzteres vom sekundären Naturrecht erfaßt. Die Sätze des primären Naturrechts sind von absoluter Geltung, während sich die Normen des sekundären Naturrechts mit den sozialen und kulturellen Verhältnissen, auf welche sie sich beziehen, ändern. Mit dem Wandel der das sekundäre Naturrecht bedingenden Umstände verändert sich auch dieses Naturrecht selbst. Das katholische Naturrecht hat daher einen dynamischen Charakter. Das sekundäre Naturrecht ist die Anwendung des primären Naturrechtes auf die jeweiligen Zeitprobleme, es verlangt daher eine entsprechende Konkretisierung, die dann allgemein verbindlich wird, wenn sie durch den staatlichen Gesetzgeber positiviert wird. Die Normen der natürlichen Rechtsordnung müssen per modum conclusionis angewandt werden oder dort, wo die natürliche Rechtsordnung Spielraum und Wahlmöglichkeiten offen läßt, diesen Raum je nach den praktischen Bedürfnissen durch konkrete Folgerungen ausfüllen (per modum specificationis). Für den Fall, daß der Gesetzgeber diese wechselseitige Bezogenheit von primärem Naturrecht, sekundärem Naturrecht und positivem Recht beachtet, ist eine besondere Einheit möglich, welche der Rechtsordnung eine qualifizierte Gültigkeit, nämlich eine verbindliche Geltung verschafft. Es ist dann ein Ordnungsanspruch sowohl im positivrechtlichen als auch sittlichen Sinn gegeben. Dies ist insofern wichtig, als jede Geltung zu ihrem Bestand auch der Wirksamkeit bedarf, welche nicht bloß in der Rechtsanwendung durch die Rechtskonkretisierungsorgane zu sehen ist, sondern auch den Rechtsgehorsam der Normadressaten verlangt. So bedarf das

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Naturrecht des positiven Rechts, um volle Wirksamkeit durch Konkretisierung zu erlangen, und das positive Recht des Naturrechts, um auch im Gewissen verbindlich zu sein. Diese aus dem Rechtscharakter des Naturrechts zu erkennende Notwendigkeit des positiven Rechts im allgemeinen, der staatlichen Rechtsetzung und Rechtsanwendung im besonderen, hat Johannes Messner lO klar aufgedeckt. Nach ihm sind es vor allem folgende Gründe, die nach einem Tätigwerden des Staates verlangen: die Rechtssicherheit, die auf Grund des nicht gleichen Rechtsbewußtseins der Menschen nur durch die staatliche Ordnungsgewalt herbeigeführt werden kann; die geordnete Rechtsprechung; die Tatsache, daß die in der Natur der Sache begründeten Rechtsverhältnisse unter komplizierten Umständen nicht immer mit letzter Gewißheit für alle erkennbar sind; der Umstand, daß es einen naturrechtlich neutralen Raum gibt, in dem das Naturrecht den Gesetzgeber zu Entscheidungen legitimiert, ohne ihm inhaltlich bestimmte Rechtsgrundsätze vorzuschreiben. In diesem Fall gilt auch nach Papst PiusXII. das festzulegen, "was nach den Grundsätzen der Natur nicht mit Sicherheit feststand, und das zu ergänzen, worüber die Natur schwieg".!! Letztlich fordert auch die Natur des Menschen die entsprechende Autorität, zum einen, weil sie nach der katholischen Lehre durch den Sündenfall als geschwächt anzusehen ist, zum anderen, weil den Menschen, wie bereits Aristoteles und in Anschluß an ihn u. a. Klemens von Alexandrien und Origines erkannt haben, eine soziale Natur eignet, die auf die Gemeinschaft hin ausgerichtet ist. Jede Gemeinschaft verlangt aber nach einer sie leitenden Autorität. Aus diesem Grund haben die Päpste in ihrer Soziallehre die Autorität als Ordnungsprinzip nicht nur anerkannt, sondern geradezu verlangt. Nach Papst Pius XI. ist die echte Autorität "ein Band der Einheit, eine Quelle der Kraft, eine Gewähr gegen Zerfall und Splitterung, eine Bürgschaft der Zukunft" .!2 Das Naturrecht als Inbegriff allgemeiner konstitutiver und regulativer Prinzipien sowie die Natur des Menschen, die oft durch Leidenschaften getrübt ist, verlangen nach einer Einrichtung autoritativer Vereinheitlichung der Folgerungen aus den allgemeinen Grundsätzen des Naturrechts, die Sicherheit und Ordnung in dem organisierten Gemeinwesen garantiert. Diese Aufgabe hat der Staat zu erfüllen, er hat das Naturrecht im Hinblick auf die Gesellschaft einer bestimmten Kulturstufe auf dem Wege der Setzung positiven Rechts zu kon10 Johannes Messner, Das Naturrecht im positiven Recht, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, 1958/59, S.132f. 11 Papst Pius XII. , Die internationale Gemeinschaft, Ansprache, gehalten am 13. Oktober 1955, Arthur-Fridolin Utz / Joseph-Fulko Groner, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens - Soziale Summe Pius' XII., Freiburg 1954, 3. Bd., Nr. 6286. 12 Papst Pius Xl., Mit brennender Sorge, Rundschreiben vom 14. März 1937, in: EmU Marmy, Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, Freiburg 1953, Nr. 308.

3 Schambeck

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kretisieren. So erweist sich der Staat als organisierte menschliche Gemeinschaft mit Höchstfunktion, in deren Rahmen die Transformation von der Potenz zum Akt, vom Grundsatz zur zeit- und ortsgemäßen Ausführung erfolgt. Der Staat ist in Erfüllung dieser Aufgabe von der Gesellschaft zu unterscheiden; diese ist nach Einkommen, Stand und Vermögen gegliedert, Umstände, die in Freiheit zusammenwirken. Dem Staat hingegen eignet eine allumfassende Organisation, welche von einer Autorität getragen ist, die sich in der Befehls- und Zwangsgewalt äußert. Der Staat hat, "wie die Gesellschaft überhaupt, im ganzen Menschen, in der Person als Ebenbild Gottes seinen Ursprung und sein Ziel",13 Zwischen dem Staat und der Person besteht ein wesensmäßig bedingender bedingter Zusammenhang. Der Staat bedarf der inneren Zustimmung seiner Bürger, um effektiv sein zu können, die Bürger wieder verlangen auf Grund ihrer sozialen Natur den Staat, denn nur in seinem Rahmen vermag ihre Persönlichkeit sich voll zu entfalten und zu erfüllen. Der Staat wurde also mit dem Menschen vom Schöpfer bei der Schöpfung mitbedacht. Die Würde aller beruht dabei in Gott. "Die Würde des Menschen ist die Würde des Ebenbildes Gottes; die des Staates ist die Würde der von Gott gewollten sittlichen Gemeinschaft, die der politischen Autorität ist die Würde seiner Teilhabe an der Autorität Gottes" .14 Die staatliche Gewalt wird damit letztlich auf den Willen Gottes zurückgeführt. Die sittliche Begründung des Staates und der Staatsgewalt ist in der Hl. Schrift in einer Mehrzahl von Stellen zu erkennen. 15 Der sittliche Grund verleiht der Autorität des Staates ihre Echtheit. Verliert ihn ein Staat, so fehlt seiner Befehls- und Zwangsgewalt die innere Legitimation. Andererseits gewinnt durch die sittliche Begründung der Staatsgewalt auch der Gehorsam der Bürger gegenüber der echten Autorität des Staates einen religiösen Charakter. Die sittliche Begründung der Staatsgewalt bindet demnach den Staat und seine Bürger in gleicher Weise und zeitigt für den Fall ihrer Verletzung und Außerachtlassung auf beiden Seiten schwere Folgen. Die Kirche geht von einem Staatsbegriff aus, der allumfassend zu sein sucht, d. h. von einem Staatsbegriff, der zur Erklärung des Wesens und der Rechtfertigung der Existenz des Staates alle Bestimmungsmomente ordnend zusammenfaßt und nicht bloß den Staat mit einer seiner Eigenschaften identifiziert und diese Eigenschaft des Staates absolut setzt, wie es der juristische Staatsbegriff (Staat = Recht) oder der soziologische Staatsbegriff (Staat = Herr13 Papst PiusXII., Die völkerumspannende Einheit der Kirche, ihr Einfluß auf die Grundlagen der Gesellschaft, Ansprache, gehalten am 20. Feber 1946, siehe Utz / Graner, a.a.O., 2. Bd., Nr. 4103. 14 Papst Pius XII., Die Krise der Staatsgewalt, eine Krise der staatsbürgerlichen Gesinnung, Brief an Charles Flory, den Vorsitzenden der 41. Sozialen Woche Frankreichs vom 14. Juli 1954, siehe: Utz / Graner, a.a.O., 2. Bd., Nr. 4303. 15 Siehe etwa Pre8, 2; Sprüche 8,15; Weish 6, 1ff.; Röm 13, 1ff.; Lk 20, 20ff. und Jo 19 , 11.

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schaftsmacht) tut. Für die Päpste ist der Staat in gleicher Weise eine societas naturalis, perfecta und completa. Der Staat ist eine natürliche Gesellschaft (societas naturalis). Findet er doch seinen Ursprung in der Natur des Menschen, in der geistigen wie in der leiblichen Natur. Dieser Naturzustand darf weder in der idyllischen Prägung J. J. Rousseaus noch in der brutalen Form des Kampfes aller gegen alle, wie sie Thomas Hobbes gezeichnet hat, gesehen werden, sondern vielmehr in der existentiellen Lage des Menschen. So sagt Papst LeoXIII.: "Da dem Menschen in der Vereinzelung die zum Leben notwendige Fürsorge und Pflege abging, hat Gott in weiser Vorsehung es so geordnet, daß er in eine menschliche Gemeinschaft, zunächst und unmittelbar in die häusliche, dann aber in die bürgerliche hineingeboren wurde, denn nur die letztere kann ihm den vollen Lebensbedarf (vitae sufficientiam perfectam) bieten",16 Diese Idee stellt keine bloße utilitaristische Staatsauffassung dar, denn auch die communis utilitas des Thomas macht einen Staatszweck aus, der auf die objektive seinsbedingte Wertordnung bezogen ist. Der tatsächliche gesellschaftliche Zusammenschluß von Menschen ist auch nicht das Ergebnis willkürlichen Handeins auf Grund rein subjektiver Nützlichkeitserwägungen. Dieser gesellschaftliche Zusammenschluß ist vielmehr eine Folge der Naturanlage der Menschen, die erst in gegenseitiger Ergänzung zu ihrer vollen Entfaltung als Kulturwesen gelangen können; auch als Vernunftwesen ist dem Menschen der Trieb zum gesellschaftlichen Leben eigen. Diese Lehre findet schon ihren Ausdruck bei Hugo Grotius: "Inter haec autem, quae homini sunt propria, est appetitus societatis, id est communitatis non qualiscumque sed tranquillae, et pro sui intellectus modo ordinatae",17 Dies ist mit der Grund, weswegen die Päpste den Ursprung des Staates in der Natur, die Entstehung aber aus dem Wirken der Freiheit mit der Vernunft sehen. Der Staat wurzelt seinem Ursprung nach im natürlichen Streben des Menschen, in der Gemeinschaft zu leben. In seiner konkreten Form ist der Staat aber durch das Zusammenwirken von Vernunfteinsicht und Willensentschluß entstanden, sich zuerst ausprägend im Volkstum einschließlich des Gewohnheitsrechtes des betreffenden Gemeinwesens. Kein Moment hat Ausschließlichkeitscharakter, jedes ist Teil eines bedingenden bedingten Zusammenhanges, den eine Gesamtschau erschließt. Gleich der kleineren Gemeinschaft der Ehe und Familie ist also der Staat das Ergebnis von Entscheidungsfreiheit und Vernunfteinsicht. In diesem Sinne ist die Vertragslehre in der katholischen Staatstheorie zu verstehen. Der Staat ist wohl in der Natur des Menschen vorgegeben; damit aber der konkrete Staat entstehen konnte, bedurfte es doch des menschlichen Handeins. Der durch göttlichen Stiftungs16 Zitiert nach Peter Tischleder, Die Staatslehre Leo XIII., M. Gladbach 1925, S. 44. Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, Prolegomena 6.

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akt begründete Staat begegnet uns nur in der Geschichte des Volkes des Alten Bundes. In welcher Weise kommt der menschliche Staatsgründungsakt zustande? Die kirchliche Soziallehre antwortet: Durch ausdrückliche oder stillschweigende Übereinkunft. Im Gegensatz zur rationalistischen Naturrechtslehre wird der Einigungsakt nicht notwendigerweise als ein feierlicher Vertrag angesehen. Die Möglichkeiten erstrecken sich von der Vertragsform über die "Akklamation des Volkes" bis zur stillschweigenden Anerkennung durch konkludente Handlungen. Welche Form immer der Staatsgründungsakt annehmen mag, er muß stets ein solcher sein, in den sich der Mensch kraft der in seiner sozialen Natur begründeten Verantwortung einbezogen weiß. Die Übereinkunft ist die Bedingung für das Wirklichwerden der potentiellen und naturrechtlieh gesehen präexistenten Sozialordnung, die damit zur öffentlichrechtlichen Ordnung "Staat" wird. Dieser Staat ist aber nicht bloß eine natürliche Gesellschaft (societas naturalis), sondern auch eine vollkommene Gesellschaft (societas perfecta), d.h. ein Gemeinwesen, dem alle erforderlichen Befugnisse und Machtvollkommenheiten zu Gebote stehen. Dieses Gemeinwesen hat die Möglichkeit, Rechtsakte mit Zwangsfolgen zu setzen. Die kirchliche Soziallehre verlangt aber, daß die positiven Rechtssätze auch einen bestimmten Inhalt haben. In diesem Sinne ist auch der Staat eine vollständige Gesellschaft (societas completa): ein Gemeinwesen, das die Voraussetzungen schafft, daß seine Glieder die grundlegenden Lebens- und Kulturbedürfnisse befriedigen und so zur vollen Entfaltung ihrer Persönlichkeit gelangen können. Mit der Wertung des Staates als einer societas completa ist der Staatsauffassung des älteren Liberalismus eine Absage erteilt worden. Die Aufgabe des Staates wird nämlich nicht mehr auf die Wahrung des Rechts- und Machtzweckes beschränkt angesehen, sondern es werden dem Staat auch Kulturund Wohlfahrtspflichten auferlegt. Dabei hat es die Entwicklung der modernen Technik und Wirtschaft mit sich gebracht, daß die einzelnen Staaten nicht immer in allen Belangen imstande sind, im Rahmen ihrer Souveränität alle Mittel zu ihrer Wohlfahrt beistellen zu können. Durch Beitritte zu supranationalen Verbänden und internationalen Gemeinschaften wurde versucht, auf weltweiter Basis einen erforderlichen Ausgleich zu schaffen. Der Staat als eine in und aus sich vollständige Gemeinschaft hat dadurch eine Modifikation erhalten. Die einzelnen Staaten werden nämlich bisweilen in diesen internationalen Verbänden veranlaßt, auf einige Souveränitätsrechte zu verzichten. Dieser Verzicht ist aber mit der Idee der societas completa vereinbar, denn jede staatliche Souveränität ist eine relative, sie ist nicht Selbstzweck, sondern, gleich dem Staat überhaupt, bloß ein Mittel zur Herbeiführung des Wohles aller Menschen, die der Völkergemeinschaft eben angehören. Das Gemeinwohl der Völkergemeinschaft kann daher in einer bestimmten Kultur-

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stufe nicht bloß ein mehr oder weniger friedliches Nebeneinander der einzelnen Staaten, wie Alfred Verdroß18 bereits 1919, vor "Pacem in terris", vorausdenkend betont hat, sondern auch ein Miteinanderarbeiten der verschiedenen organisierten Gemeinwesen verlangen. Die Aufgabe des Staates besteht darin, "die private Tätigkeit der Einzelnen im nationalen Leben zu überwachen, zu fördern und zu ordnen, um sie einheitlich auf das allgemeine Wohl auszurichten" .19 Aus dieser Beschreibung der Aufgaben des Staates ergibt sich, daß der Staat bereits ein soziales Geschehen vorfindet, das ihm zur entsprechenden Koordination und Unterstützung aufgegeben ist. Demnach ist es Aufgabe des Staates, einerseits durch einen auf die Natur der einzelnen Gegebenheiten und Verhältnisse ausgerichteten Interessenausgleich für Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu sorgen und andererseits durch unterstützende Maßnahmen in helfender Funktion dem Einzelnen die volle Entfaltung seines Wesens und den natürlichen Gemeinschaften, wie z. B. der Familie, die Erfüllung ihrer Aufgaben zum Wohle aller zu ermöglichen. In diesem Sinne hat der Staat Aufgaben des Rechts- und Machtzweckes ebenso wie des Kultur- und Wohlfahrtszweckes zu erfüllen. Soll doch das Wohl des Einzelnen in gleicher Weise im privaten, öffentlichen, religiösen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Leben ermöglicht werden. In der Zuordnung von Aufgaben an den Staat unterscheidet sich die katholische Staatslehre deutlich sowohl von der liberalen Lehre vom limitierten Staatszweck als auch von der marxistischen Lehre vom expansiven Staatszweck. Der Individualismus und Liberalismus (z. B. Rousseau, Kant, Smith, Spencer) erblickten den wichtigsten Staatszweck in dem Schutz bestehender sozialer Zustände und der Gewährung eines möglichst großen Bereichs gesetzlich geschützter Freiheit des Einzelnen durch das positive Recht. Sozialreformerische Maßnahmen werden nach dieser Lehre abgelehnt. Die kollektivistisch denkende Staatslehre des Marxismus (z. B. Marx, Engels) hingegen lehnt die Vorrangstellung des Einzelnen und den Eigenwert der natürlichen Gemeinschaften ab, da sie kein Eigenleben in und neben dem Staat kennt und duldet. Beide Theorien sind mit der katholischen Lehre vom Staat unvereinbar; die erstgenannte Lehre, weil der Liberalismus dem Staat nur Aufgaben des Rechts- und Machtzweckes zuordnen will und die Wesensentsprechung des Einzelnen und die Entfaltung der natürlichen Gemeinschaften als nicht schutz- und förderungsbedürftig ansieht, die zweite Lehre, weil der Marxismus die Schaffung des totalen Staates anstrebt, der an die Stelle des Organismus der sachgerechten Ordnung den Mechanismus der Zwangsordnung aller 18 Al/red Verdroß, Der Friede in der internationalen Gemeinschaft, Der Große Entschluß 1959, S. 253ff. 19 Papst Pius XII., Sittlicher Zerfall der Menschheit und Wiedererneuerung in Christus durch die Kirche, Rundschreiben "Summi Pontificatus" vom 20. Oktober 1939, siehe Utz / Groner, a.a.O., 1. Bd., Nr.45.

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öffentlichen und privaten Lebensbereiche verlangt und den Eigenwert der kleineren Gemeinschaft und des Einzelnen negiert. Die Sorge für das Gemeinwohl ist Aufgabe und Zweck des Staates und die Wahrung der Subsidiarität ein Weg hiezu. Es wurde bemerkt, daß in den Konzilsdokumenten der Ausdruck "Gemeinwohl" nicht vorkommt; damit ist selbstverständlich die Idee des Gemeinwohls nicht fallengelassen, zumal ausdrücklich vom öffentlichen Wohl gesprochen wird, was nichts anderes als Gemeinwohl bedeuten kann. Außerdem wird sehr viel von den Verantwortlichkeiten des Staates gesprochen, die ja nur in seiner Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl begründet sein können. Das Gemeinwohl (bonum commune) ist die Finalursache des katholischen Ordnungsdenkens, dem in den einzelnen Staaten mit der konkreten Staatsform und der auf ihr beruhenden Organisation des Staates als Wirkursache entsprochen werden kann. Das Gemeinwohl ist kein Summenwert in dem Sinne, daß es ein Ausdruck der Summe der Wohlfahrt der Einzelnen wäre, es ist auch nicht der Inbegriff des Wohles eines staatlichen Kollektivs, sondern das Wohl, das für jeden einzelnen Bürger wie für die Gemeinschaft als solche gemeinsam erforderlich ist. Besteht doch das Gemeinwohl in ontologischer Sicht nach Messner "in der aus der gesellschaftlichen Verbundenheit den Gesellschaftsgliedern erwachsenden Hilfe für die eigenverantwortliche Erfüllung der ihnen in ihrer Natur vorgezeichneten Lebensaufgaben".2o Nach den jeweiligen politischen Verhältnissen wird dem Gemeinwohl in unterschiedlicher Weise in verschiedenen adäquaten Verfassungen und Rechtsformen entsprochen werden können. Das Gemeinwohl ist das inhaltliche Ziel des Staates. Darin liegt ein Unterschied zur marxistischen und liberalistischen Staatstheorie. Der marxistische Staat verlangt das Recht zur Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Er tritt für ein positives Recht im Dienste einer Gerechtigkeit nach dem Gleichheitsprinzip ein. Der liberale Staat in seiner ursprünglichen Gestalt sieht seine Aufgabe in der Herstellung einer Rechtsordnung im Sinne einer bloßen Friedensordnung. Er verlangt einen Staat mit einem extrem limitierten Zweck. Das Ergebnis soll ein bloßer Rechtsbewahrungsstaat sein. Diesen Theorien steht die christliche Staatslehre mit ihrer Theorie des Rechts-, Kultur- und Wohlfahrtsstaates entgegen, der die Idee der austeilenden Gerechtigkeit zugrunde liegt. Nach ihr fordert und begrenzt das Gemeinwohl staatliche interventionistische Maßnahmen, es verlangt u. a. eine quantitative und qualitative Sozialpolitik, eine Mittelstands- und Agrarpolitik als Teilgebiete einer allseitigen Gesellschaftspolitik. Die Päpste treten daher nicht für den bloßen Rechtswege-Staat ein, dessen Ziel ausschließlich auf die Formen der Rechtsetzung und Rechtsanwendung, gleichgültig welchen Inhalts, beschränkt sind. Die Bedingung dieses Rechtswege-Staates, des heute vor20

Johannes Messner, Das Gemeinwohl, Osnabrück 1962, S. 37f.

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herrschenden Typs des Rechts-Staates, ist die gesetzliche Ermächtigung, wobei die Gegenstände der staatlichen Betätigung vom Verfassungsgesetzgeber in unterschiedlicher Weise umschrieben werden können. Die Päpste verlangen wohl ein gesetzlich determiniertes Handeln des Staates, das aber die menschliche Würde auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Rechts schützt und fördert. Diese Forderungen der Päpste nach einem Eingreifen des Staates zur Sicherung der menschlichen Würde und zur Wahrung des Gemeinwohls sollen nicht übersehen lassen, daß die Päpste ebenso, wie sie dem Staat korrigierende Maßnahmen abverlangen, auch ein Halt dann sprechen, wenn der Staat die Grenzen, die ihm diese Staatslehre setzt, überschreitet. So lehnen die Päpste staatliche Eingriffe in das Verfügungsrecht über das Eigentum dann ab, wenn die Eingriffe das Eigentum als Sozial- und Rechtseinrichtung aushöhlen. Die Sorge für das Gemeinwohl ist die Aufgabe und das Ziel des Staates, der als societas perfecta alle anderen Gemeinschaften umfaßt und in dem der Einzelne und alle Gesellschaftsbildungen ihre natürliche Vollendung zu erfahren vermögen. Dies ist aber nur möglich, wenn der Staat jedem Einzelnen und allen Gesellschaftsbildungen den zu ihrer Entfaltung nötigen Bereich unter Wahrung der staatlichen Interessen gewährt. Dem Staat kommt nur die Aufgabe der ergänzenden Hilfeleistung zu. Diese Erklärung des Subsidiaritätsprinzips läßt die negative wie die positive Seite erkennen. Es verlangt nämlich dieses Prinzip der ergänzenden Hilfeleistung sowohl ein Unterlassen als ein Handeln des Staates; ein Unterlassen in all jenen Angelegenheiten, welche auch vom Einzelnen und den kleinen Gemeinschaften im einzelnen Wirkungsbereich mit eigener Kraft geregelt werden können, ein Tun dann, wenn das Gemeinwohl Maßnahmen im Interesse des Einzelnen und der kleineren Gemeinschaften verlangt. Die wechselseitige Bezogenheit der einzelnen Bereiche des sozialen Lebens macht nämlich bisweilen eine reglementierende Tätigkeit des Staates notwendig. Spannungen können dadurch gemildert und Entfaltungsmöglichkeiten geboten werden. Ein bestimmtes Maß an Interventionismus ist daher eine Forderung des Gemeinwohlprinzips, in seiner positiven Sicht. "Darum ist von der staatlichen Führung, die für das Gemeinwohl verantwortlich ist, immer wieder zu fordern, daß sie sich in vielfältiger Weise, umfassender und planmäßiger als früher, wirtschaftspolitisch betätigt und dafür angepaßte Einrichtungen, Zuständigkeiten, Mittel und Verfahrensweisen ausbildet",21 etwa um die aus den Konjunkturschwankungen der Wirtschaft sich ergebenden Störungen zu begrenzen und durch vorbeugende Maßnahmen den Eintritt von Massenarbeitslosigkeit wirksam zu verhindern. Das Subsidiaritätsprinzip gründet sich auf dem Gemeinwohlprinzip. Die Lehre vom Subsidiaritätsprinzip geht von der Erkenntnis aus, daß zwischen dem Einzelnen und dem Staat viele menschliche Gemeinschaftsbildungen als 21

Mater et magistra, 54.

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Zwischenglieder existieren, die in ihrem Stufenbau dem einzelnen Bürger ebenso die Freiheit zu garantieren suchen wie das an Bedeutung gleich wichtige Prinzip der horizontalen Gewaltenteilung, das bereits von Aristoteles und J. Locke vertreten und von Montesquieu zum grundlegenden Organisationsprinzip des modemen Verfassungsstaates erhoben wurde. In derselben Weise wie das Prinzip der horizontalen Gewaltenteilung will das von Papst Pius XI. in seiner Enzyklika "Quadragesimo anno" herausgearbeitete Prinzip der vertikalen Gewaltenteilung den Staatsabsolutismus überwinden. Aus der Erkenntnis der Überbelastung des Staates und der Bedeutung bestimmter an das Individuum gebundener Werte verlangt Papst PiusXI., daß das, was VOn den einzelnen Menschen mit eigener Kraft und durch eigene Tätigkeit geleistet werden kann, ihnen nicht entrissen und der Gemeinschaft übertragen werden darf. So tritt er für die Stufenordnung in der Zuweisung der Aufgaben ein. Diese Ordnung gestattet es nämlich dem Staat, sich seinen eigentlichen Aufgaben zu widmen, durch Sub- und Koordination dem Einzelnen ein großes Maß an Selbstverwirklichung im Wege der Selbstentfaltung zu ermöglichen. Das große Verdienst Papst Pius XI. liegt vor allem darin, daß er diesen Grundsatz der Freiheit und Selbständigkeit von dem Verhältnis zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft auf die Beziehungen der kleineren Lebensgemeinschaften untereinander und zum übergeordneten Herrschaftsverband, Staat, erstreckt hat. Die Gestaltung des Prinzips der Subsidiarität im Einzelfall überläßt Papst PiusXI. dem jeweiligen staatlichen Gesetzgeber. Er spricht nur von den Körperschaften regionalen und berufsgemeinschaftlichen Charakters, für die er die Autonomie, das Recht auf Selbstverwaltung, verlangt. Von den auf territorialer Basis denkbaren autonomen Verbänden nennt Papst Pius XI. bloß die Gemeinden. Aber es ist anzunehmen, daß er die sonst möglichen Formen territorialer Selbstverwaltung auf Bezirks- und Landesebene nicht ausgeschlossen wissen will. Insofern ist der Föderalismus staatsrechtlicher Provenienz, nämlich die Bundesstaatlichkeit, wie sie auch als Prinzip der österreichischen Bundesverfassung eigen ist, zwar keine notwendige, aber eine mögliche Ausführung des Subsidiaritätsprinzips. Die Bedeutung dieses Prinzips gilt es heute um so mehr zu beachten, als die politische Machtkonzentration an der Staatsspitze, die den Freiheitsanspruch des Einzelnen und der kleineren Gemeinschaft negiert, meist, wohl nicht die Folge des Strebens eines gesetzgeberischen Unitarismus und verwaltungsmäßigen Zentralismus ist. Aus diesem Grund ist dieser Föderalismus bzw. die Subsidiarität solidarischer, nicht partikularistischer Prägung, ein Freiheitsgarant für die moderne Gesellschaft.

Zur Staatsordnung Der Staat ist für die katholische Kirche von zweifacher Bedeutung. Zum einen handelt es sich beim Staat um eine politische Organisation, von welcher sich die Kirche als Glaubensgemeinschaft abgrenzt,! zum anderen um jenen Bereich des öffentlichen Lebens, in dem die Menschen leben, an welche sich die Heilsbotschaft Christi und der Sendungs auftrag der Kirche richtet. 2 Aus diesen Gründen ist der Staat für die Kirche von pastoralem Interesse. Die pastorale Aufgabe der Kirche, sich mit dem Staat auseinanderzusetzen, findet ihre Möglichkeiten in der Heiligen Schrift und der Fortentwicklung der katholischen Lehre, insbesondere der Päpste, die herausgefordert durch die Erscheinungsformen des Staates, gerade in den letzten Jahrhunderten, sich mit nahezu allen Grundfragen der Politik und damit auch der Grundordnung des Rechts im Staat auseinanderzusetzen hatten. A. Begründung und SteUung des Staates aus katholischer Sicht

Die Heilige Schrift weist keine Eschatologie des Staates, seiner Politik und seines Rechtes auf. Es sind bloß Ansätze zu einer christlichen Lehre vom Staat gegeben,3 welche in päpstlichen Lehräußerungen und von Theologen eine allmähliche Weiterentwicklung erfahren haben. Ausgangspunkt der katholischen Lehre vom Staat ist die Schöpfung Gottes, in welcher die Menschen in ihrer Verbundenheit von individueller und sozialer Existenz den Staat geradezu existentiell bedingen. Michael Schmaus hat schon hervorgehoben:

1 Siehe näher Joseph Listl, Die Lehre der Kirche über das Verhältnis von Kirche und Staat, in: Joseph List! et al. (Hrsg.), Grundriss des nachkonziliaren Kirchenrechts. Regensburg 1980, S. 831ff.; Herbert Schambeck (Hrsg.), Kirche und Staat. Fritz Eckert zum 65. Geburtstag. Berlin 1976 und darin besonders Heribert Franz Köck, Kirche und Staat. Zum Problem der Kompetenzabgrenzung in einer pluralistischen Gesellschaft, S. 77ff.; sowie Al/red Klose, Die katholische Soziallehre. Graz 1979, insb. S. 49ff. 2 Beachte Giovanni Benelli, Die Kirche und der Dialog mit der Welt, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Kirche und Staat, a.a.O., S. XIff. 3 Über den Staat in der Heiligen Schrift siehe näher Herbert Schambeck, Artikel "Staat in der katholischen Gesellschaftslehre" , in: Alfred Klose et al. (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon, 2. Aufl., Innsbruck, Wien, München und Graz, Wien, Köln 1980, Sp.2898ff.

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Zur Staatsordnung "Daß es zur Bildung von Staaten überhaupt kam, hat seine tiefste Wurzel und seinen letzten Grund in der gesellschaftlichen Struktur des Menschen". 4

Der Optimismus christlicher Glaubenshaltung hat den göttlichen Willen von der Natur des Menschen auf die des Staates übertragen. "Die Verwurzelung im Göttlichen Willen verleiht dem Staat Würde und Glanz ... In einem dialektischen Umschlag muß jedoch betont werden, daß der Staat, weil er ein Element der Schöpfung ist, nicht der höchste Wert ist. Er ist nicht Gott, sondern von Gott. Seinem Tun sind daher Grenzen gesetzt".5

Die Kirche geht davon aus, daß (wie der Mensch) auch der Staat an die Sittenordnung gebunden ist. Die Patristik, vor allem aber Aurelius Augustinus Gedanken über den "Gottesstaat" und Thomas von Aquin "Über die Herrschertätigkeit" , seien als wichtige Beiträge zur katholischen Lehre vom Staat genannt. Die katholische Kirche war nie der Auffassung, daß die Gläubigen sich nur an einem Gottesstaat beteiligen sollten, auf dessen Entstehung zu warten wäre. Die Kirche war vielmehr der Auffassung (was schon bei Augustinus deutlich ist) daß der jeweilige Staat positiv und negativ zu bewertende Elemente aufweist, welche es zu beachten und in katholischer Sicht zu gestalten gilt. Dies verlangt kein politisches Desinteresse der Gläubigen, sondern vielmehr deren Engagement, wozu aber eine realistische Beurteilung des Staates erforderlich ist, auf welche bereits die Heilige Schrift hinführt, die nicht allein die Herrschergewalt auf den Willen Gottes zurückführt,6 sondern auch die Entartung des Staates und den Antichrist als ein politisches Phänomen kennt, welche in der Geheimen Offenbarung uns entgegentreten. Diesen Realismus verlangt die Kirche nicht allein im politischen Engagement von den Gläubigen, sondern bemüht sich darum in ihrer Lehre, in welcher sie sich, soweit es erforderlich ist, in ihrem eigenen Standort als Kirche gegenüber dem Staat abgrenzt und ihre Lehre von den sittlichen Anforderungen an den Staat jeweils zeitbezogen, somit entwicklungsbedingt entfaltet. Anders als die evangelische Sozialethik,7 welche - im Hinblick auf die durch den Sündenfall verdorbene Natur (natura corrupta) des Menschen - den Staat als notwendiges Ordnungsmittel für den Menschen bedarf, geht der Katholizismus VOn einer durch den Sündenfall geschwächten menschlichen Natur (natura vulnerata) aus, für die der Staat kein aus dem Sündenfall abzuleiten4 Michael Schmaus, Der Staat - Menschenwerk oder gottgewollte Institution?, in: Walter Leisner (Hrsg.), Staatsethik. Grundfragen des Verhältnisses von Ethik, Politik und Staatsrecht, Köln 1977, S. 36 (Gesellschaft-Kirche-Wirtschaft, Bd.lO). 5 Michael Schmaus, Der Staat - Menschenwerk oder gottgewollte Institution?, a.a.O., S.37. 6 Röm. 13, 1 - 7. 7 Siehe hierzu Eugen Gerstenmaier, Artikel "Demokratie" , in: Hermann Kunst et al. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart, Berlin 1966, Sp. 287.

Zur Staatsordnung

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des Erfordernis ist, sondern seinen Ursprung (wie der Mensch übrigens selbst) in der Schöpfungsordnung hat und für den Menschen geschaffen ist. Im Dienst an der Menschheit ist aber der Staat nicht allein, sondern neben der Kirche tätig. So erklärte im Anschluß an Thomas von Aquin8 schon Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika "Immortale Dei" aus dem Jahre 1885: "So hat also Gott die Sorge für das Menschengeschlecht zwei Gewalten zugeteilt: der kirchlichen und der staatlichen. Der einen obliegt die Sorge für die göttlichen Belange, der anderen für die menschlichen. Jede ist in ihrer Art die höchste: jede hat bestimmte Grenzen, innerhalb derer sie sich bewegt, Grenzen, die sich aus dem Wesen und dem nächsten Zweck jeder der beiden Gewalten ergeben. Es zieht sich so gleichsam ein Kreis um sie, innerhalb dessen die Tätigkeit einer jeden sich selbständig entfaltet".9

In bezug auf den Staat stellen sich in pastoraler Sicht mehrere Probleme und Anliegen für die Kirche. Sie ist konfrontiert mit der Verschiedenheit der Staatsformen, politischen Ordnungsprinzipien und staatlichen Aufbaumöglichkeiten. Neben diesen mehr den organisationsrechtlichen Teil der Verfassung betreffenden Vorschriften ergibt sich für die Kirche die Notwendigkeit, die Stellung des Einzelmenschen im Staat zu bedenken, d. h. zur Wahrung der Freiheit und Würde des Menschen die Positivierung und Einhaltung der Grundrechte zu verlangen und sich nach dem Zweck des Staates zu fragen. Bezüglich des organisationsrechtlichen Teiles der Verfassung hat die Kirche in bezug auf die Staatsform, den Staatsaufbau und die Möglichkeiten des politischen Lebens des Staates stets konsequent den Grundsatz der Neutralität vertreten. Die Kirche anerkennt jede Staatsform, solange sie dem Gemeinwohl dient sowie die Freiheit und Würde des Menschen wahrt. 10

Eine Art Modifikation hat dieser Standpunkt der Neutralität der Kirche gegenüber Form und Politik des Staates erhalten, als (mit der Weihnachtsansprache Papst PiusXII. im Jahre 1944 beginnend) die Bedeutung der Demokratie betont wurde. 11 Papst PiusXII. wußte, daß die Demokratie verschiedene 8 Thomas von Aquin, In 3 Sent.dist.44, q.2, a. 3, ad54. 9 Zitiert nach Emile Marmy (Hrsg.), Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau. Dokumente, päpstliche Lehrschriften, Freiburg i. Ue. 1945, Nr. 857f. 10 Siehe Papst Leo XIII. , Enzykliken "Diutumum illud" vom 29. Juni 1881, "Immortale Dei" vom 1. November 1885 sowie "Libertas praestantissimum" vom 20. Juni 1888; näher dazu Herbert Schambeck, Staat in der katholischen Gesellschaftslehre, a.a.O., Sp.2907. 11 Siehe Papst PiusXII., Grundlehren über die wahre Demokratie. Radiobotschaft an die Welt vom 24. Dezember 1944; abgedruckt in: Arthur-Fridolin Utz und losefFulko Groner, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius' XII., Bd. 2. Freiburg i. Ue. 1954, Nr. 3469f. Allgemein siehe Theodor Strohm und Heinz-Dietrich Wendland, Kirche und modeme Demokratie, Darmstadt 1973 (Wege der Forschung Bd. 205); weiters aus katholischer Sicht Herbert Schambeck, Die Demokratie in der Lehre der katholischen Kirche, in: Audomar Scheuermann et al. (Hrsg.), Convivium utriusque iuris. Alexander Dordett zum 60. Geburtstag, Wien 1976, S. 27ff.

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Formen zuläßt und sich in Monarchien und Republiken in gleicher Weise verwirklichen läßt. Auch die folgenden Päpste, nämlich Papst Johannes XXIII. , Papst Paul VI. und Papst Johannes Pauill. setzten sich mit der politischen Entwicklung des Staates und damit auch mit der Demokratie auseinander. Sie haben die Erweiterung der Staatsaufgaben erkannt und den Weg zum Sozialund Wirtschaftsstaat mit einer Vielzahl von Sozialgestaltungsempfehlungen begleitet. Stets ist es der Kirche dabei um einen Interessenausgleich im Staat, um die Beschaffung der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zur Persönlichkeitsentfaltung der Menschen gegangen, wobei die Beachtung des Gemeinwohlprinzips und die Wahrung der Grundrechte besonders betont werden. So sehr die Kirche bezüglich der formell-organisatorischen Seite des Staates bis zur Gegenwart strikte Neutralität zu wahren sucht, so sehr ist sie über Sinn und Zweck des Staates zur Wahrung der Freiheit und Würde des Menschen engagiert. Die Neutralität gegenüber der Staatsorganisation wird begleitet von einer akzentuierten Haltung gegenüber den Staatszwecken, welchen sie den Dienst am Gemeinwohl empfiehlt. B. Rechte, pmchten und Grenzen des Staates Die Rechte und Pflichten der Menschen, der Bürger und des Staates werden beginnend mit dem Schutze des ungeborenen Lebens bis zu den Fragen der Sterbehilfe bedacht. Dabei heben sich besonders die vielen Lehräußerungen von Papst Pius XII. wegen ihrer faszinierenden Klarheit und enzyklopädischen Geschlossenheit hervor. An sie schließen sich Sozialgestaltungsempfehlungen an, besonders in den Enzykliken "Mater et magistra" (1961) und "Pacem in terris" (1963) des Papstes JohannesXXIII., "Populorum progressio" (1967) und dem Apostolischen Schreiben "Octogesimo adveniens" (1971) des Papstes Paul VI. sowie "Redemptor hominis" (1979) und "Laborem exercens" (1981) des Papstes Johannes PaulII. Neben den päpstlichen Lehräußerungen kommt auch den entsprechenden Erklärungen des Zweiten Vatikanischen Konzils eine staatsrelevante Bedeutung zu. In einer außerordentlichen Weite anerkennt die katholische Kirche die Grundrechte als ein Mittel des Schutzes des Einzelmenschen in seiner Persönlichkeitsentfaltung. In dieser Sicht tritt die Kirche für die klassischen, nämlich liberalen und demokratischen Grundrechte ebenso ein wie für die sozialen Grundrechte. Die mögliche Freiheit vom Staat, im Staat und durch den Staat und Herbert Schambeck, Der rechts- und staatsphilosophische Gehalt der Lehre Pius'XII., in: Herbert Schambeck (Hrsg.), PiusXII. zum Gedächtnis, Berlin 1977, S. 459ff. sowie Karl Korinek, Der Beitrag Pius' XII. zur katholischen Lehre vom demokratischen Staat, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), PiusXII. zum Gedächtnis, a.a.O., S.563ff.

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wird in gleicher Weise und ein bedingender bedingter Zusammenhang von Freiheit und Sicherheit zu erreichen gesucht. Die verschiedenen Lebensbereiche, welche der Einzelne in der pluralistischen Demokratie des technisierten Industriezeitalters zu bewältigen hat, werden in den päpstlichen Lehräußerungen berücksichtigt, nämlich vor allem seine Privatsphäre, das politische Leben und seine soziale Situation. Unter wechselnden Akzentsetzungen geht es der Kirche um die Wahrung der Freiheit und Würde des Menschen in einer Zeit zunehmender Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, innerlicher und äußerer Umweltgefährdung sowie der zunehmenden Bedeutung der Sozialund Wirtschaftsprobleme. Papst Johannes Pauill. hat selbst in "Redemptor hominis" erklärt, die Kirche wird "um so mehr kraft ihrer göttlichen Sendung zur Wächterin dieser Freiheit, die Bedingung und Grundlage für die wahre Würde der menschlichen Person ist" .12 Je deutlicher die soziale Frage im Staat geworden ist, desto eindringlicher hat die Kirche dazu Stellung bezogen,13 zuletzt Papst Johannes Pauill. in "Laborem exercens", in welcher Sozialenzyklika er geradezu eine eigene Theologie der Arbeit entwickelt hat. Neben den mit der Arbeitnehmersituation verbundenen Problemen geht Papst Johannes Paul 11. auch auf die Fragen der Grenzsituation des Menschen, wie auf die Lage der Behinderten und die sich in Arbeitsemigration befindlichen Gastarbeiter näher ein. Mit Überschreiten der Grenzen seines Heimatlandes geht ja keiner der Freiheit und Würde seiner Person verlustig! So sehr die Kirche gegenüber der Organisation des Staates stets einen Standpunkt strikter Neutralität vertreten hat, befleißigte sie sich hingegen in einer Vielzahl von Sozialgestaltungsempfehlungen um eine Sicherung der Stellung des Einzelmenschen im Staat, was für die Zwecksetzung des Staates bestimmend war. Nach der Erfüllung des Primärzweckes des Staates (der auf die Herstellung und Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit gerichtet ist) verlangt die Kirche die Erfüllung auch des Kultur- und Wohlfahrtszweckes. Den kulturellen Fortschritt, das wirtschaftliche Wachstum und die soziale Sicherheit empfiehlt die Kirche als Staatszwecke. Wenngleich die Kirche gegenüber der Form des Staates den Standpunkt der Neutralität eingenommen hat, hat sie in bezug auf das politische Innenleben diese Indifferenz nie bezogen. Sie ist für eine Ordnung im Staat, welche einer bestimmten Autorität bedarf. So erklärt auch das Zweite Vatikanische Konzil in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute: "Die Menschen, die zu einer Gemeinschaft zusammenfinden, sind zahlreich und verschiedenartig. Sie können mit Recht verschiedene Meinungen haben. Damit nun der Papst Johannes PaullI., Enzyklika "Redemptor hominis", Nr. 12. Siehe grundlegend Johannes Messner, Die soziale Frage im Blickfeld der Irrwege von gestern, der Sozialkämpfe von heute, der Weltentscheidungen von morgen, 8. Aufl., Innsbruck, Wien, München 1964, bes. S. 375ff. 12

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Zur Staatsordnung Staat nicht dadurch, daß jeder seiner eigenen Ansicht folgt, zerfällt, bedarf es einer Autorität, welche die Kräfte aller Bürger auf das Gemeinwohl lenkt, nicht bloß durch die Automatismen des Institutionellen oder durch brutale Gewalt, sondern vor allem als moralische Macht, die sich stützt auf Freiheit und auf das Bewußtsein einer übernommenen Verantwortung ... Ebenso ergibt sich, daß sich die Ausübung der politischen Gewalt in der Gemeinschaft als solche oder in den für sie repräsentativen Institutionen immer nur im Rahmen der sittlichen Ordnung vollziehen darf, und zwar zur Verwirklichung des Gemeinwohls - dieses aber dynamisch verstanden - und entsprechend einer legitimen juridischen Ordnung, die bereits besteht oder noch geschaffen werden soll. Dann aber sind auch die Staatsbürger im Gewissen zum Gehorsam verpflichtet. Daraus ergeben sich also die Verantwortlichkeit, Würde und Bedeutung der Regierenden. Wo jedoch die Staatsbürger von einer öffentlichen Gewalt, die ihre Zuständigkeit überschreitet, bedrückt werden, sollen sie sich nicht weigern, das zu tun, was das Gemeinwohl objektiv verlangt. Sie haben jedoch das Recht, ihre und ihrer Mitbürger Rechte gegen jeden Mißbrauch der staatlichen Autorität zu verteidigen, freilich innerhalb der Grenzen des Naturrechts und des Evangeliums". 14

Die Kirche steht der für die Ordnung des Staates erforderlichen Autorität nicht unkritisch gegenüber. Sie kennt die Möglichkeiten und Grenzen der Autorität des Staates in ihrem dialogischen Bezug zu den Einzelmenschen. In diesem Sinne stellte auch das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Erklärung über die Religionsfreiheit "Dignitatis humanae" fest: "Die staatliche Gewalt und ihre Rechte erkannte er (Christus) an, als er befahl, dem Kaiser Steuer zu zahlen, mahnte aber deutlich, daß die höheren Rechte Gottes zu wahren seien: ,Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist' (Mt22, 21) ... Wie ihr Meister, so achteten auch die Apostel die legitime staatliche Autorität: ,Es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott stammt', lehrt der Apostel und deshalb befiehlt er: ,Jedermann sei den obrigkeitlichen Gewalten untertan ... ; wer sich der Gewalt widersetzt, widersteht der Anordnung Gottes' (Röm.13, 1 - 2). Dabei scheuten sie nicht, der öffentlichen Gewalt zu widersprechen, wenn sie zu dem heiligen Willen Gottes in Gegensatz trat: ,Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen' (Apg. 5, 29). Märtyrer und Gläubige ohne Zahl sind zu allen Zeiten überall diesen Weg gegangen",15

In der Auseinandersetzung mit der Autorität des Staates ist die Kirche für eine möglichste Anerkennung seiner Anordnungen eingetreten, außer sie verstoßen gegen die Freiheit und Würde des Menschen sowie gegen das Gemeinwohlprinzip, was sich in Grundrechtsverletzungen besonders dokumentiert. Ohne eine eigene akzentuierte katholische Lehre vom Widerstand annehmen zu können, vermittelt die Kirche in ihrem Bemühen um Ordnung den Ein14 Zweites Vatikanisches Konzil: Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes" Nr. 74; zitiert nach Karl Rahner und Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 13. Aufl., Freiburg, Basel, Wien 1979, S. 531. 15 Zweites Vatikanisches Konzil: Erklärung über die Religionsfreiheit "Dignitatis humanae", Nr.ll; zitiert nach Karl Rahner und Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, a.a.O., S. 672.

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druck, im Bereich der Widerstandsleistung zunächst für seine passive und hernach für seine aktive Form einzutreten. Die Revolution wird als Allerletztes empfohlen. So bemerkte Papst Paul VI. in seiner Enzyklika "Populorum progressio" (1967): "Es gibt gewisse Situationen, deren Ungerechtigkeit zum Himmel schreit. Wenn ganze Völker das Notwendigste entbehren und in einer Abhängigkeit leben, die sie an der Initiative und Verantwortung sowie am kulturellen Aufstieg hindert und der Teilnahme am sozialen und politischen Leben beraubt, dann ist die Versuchung groß, solches gegen die menschliche Würde verstoßende Unrecht mit Gewalt zu beseitigen. (Nr. 30) Trotzdem: Jeder revolutionäre Aufstand - ausgenommen im Fall der einseitigen und lange dauernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes schwer schadet - zeugt neues Unrecht, bringt neue Störungen des Gleichgewichts mit sich, ruft neue Zerrüttung hervor. Man darf ein Übel nicht mit einem noch größeren Übel vertreiben" (Nr. 31).

C. Sozialgestaltung im modemen Staat

In einer Zeit, in welcher die für den Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts so kennzeichnende Trennung von Staat und Gesellschaft geradezu zurückgenommen erscheint und die Demokratisierung des öffentlichen Lebens zu einer besonderen Annäherung von Staat und Gesellschaft geführt hat,16 haben sich daraus auch entsprechende Folgerungen für die Lehre der Kirche ergeben. Gerade in "Laborem exercens" wurde von Papst Johannes Paul H. die Sozialsituation des heutigen Menschen in ihrer ganzen Komplexität verdeutlicht. Nach einer Analyse des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital und der Rechte der arbeitenden Menschen anerkennt Papst Johannes Paul H. die Bedeutung der Interessenvertretung vor allem im Hinblick auf die Rolle der Gewerkschaften, deren Aufgaben er über den Kreis der Vertretung der Arbeitnehmer erkennt: "Die Angehörigen aller Berufe können sich ihrer zur Sicherung der jeweiligen Rechte bedienen. Es gibt daher auch Gewerkschaften der Landwirte und der Arbeitnehmer in leitender Stellung wie auch der Vereinigungen der Arbeitgeber" (Nr. 20).

Sehr deutlich wird innerhalb des Staates auf die Vertretung der Berufsinteressen Bedacht genommen. Hatte Papst PiusXI. noch in seiner Enzyklika "Quadragesimo anno" (1931) empfohlen, an Stelle der Vertretung nach der Stellung am Arbeitsmarkt (also als Arbeitgeber und Arbeitnehmer) eine solche nach Berufsständen vorzunehmen 17 (damit an Stelle des Klassenkampfes die Schicksalsgemeinschaft der Berufsangehörigen trete, welche innerhalb des 16 Siehe hierzu Herbert Schambeck, Kirche, Staat, Gesellschaft. Probleme von heute und morgen, Wien, Freiburg, Basel 1967 , bes. S. 65ff. (Konfrontationen, Bd. 1). 17 Siehe Papst Pius XI., Enzyklika "Quadragesimo anno", Nr. 81 ff.

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jeweiligen Berufsstandes selbst einen Interessenausgleich ermäglicht 18 und sich Papst JohannesXXIII. in "Mater et magistra" (1961) noch auf diese berufsständische oder leistungsgemeinschaftliche Ordnung bezogen,19 so ist dies in "Laborem exercens" (1981) nicht mehr der Fall. Papst Johannes Paul H. geht auf die geradezu klassisch gewordene Situation des Interessengegensatzes von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in eigenen Verbänden näher ein, spricht sich für eine Art Partnerschaft von Arbeit und Kapital aus20 und betont bei aller Anerkennung notwendiger Interessenvertretung das Erfordernis, den Beschränkungen Rechnung zu tragen, "welche die allgemeine Wirtschaftslage des Landes auferlegt" (Nr. 20). Das Gemeinwohl ist bei aller Interessenvertretung vordergründig im Staat zu beachten. "Die gewerkschaftlichen Forderungen dürfen nicht in Gruppen- oder Klassenegoismus ausarten." Sehr deutlich zeigt sich dieses im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf, als dessen allerletztes Mittel der Streik anerkannt wird, dessen Mißbrauch aber vor allem "für politisches Taktieren" (NT. 20) abgelehnt wird. Der Mißbrauch des Streiks kann zu einer Lähmung des ganzen sozioäkonomischen Lebens führen und das widerspricht den Erfordernissen des Gemeinwohls der Gesellschaft" (Nr.20). Bei allen Auseinandersetzungen im intermediären Bereich der Gesellschaft will die Kirche dadurch die Aufgaben des Staates nicht gefährdet sehen. Die Interessenvertretung im Bereich der Gesellschaft ist mit der Ordnungsfunktion des Staates in Einklang zu bringen. Treffend bemerkte schon zur katholischen Staatsauffassung Paul Mikat: "Der Staat ist in erster Linie Rechts- und Ordnungsinstitution, er hat seinen Gliedern Recht und Frieden nach innen und außen zu sichern und ihnen den Raum zu belassen, den sie benötigen, um in schöpferischer Eigenverantwortlichkeit und Eigentätigkeit diejenigen Aufgaben wahrzunehmen, die sie selbst wahrnehmen können. "21

D. Naturrechtlicher Ordnungsrahmen der Staatslehre

Betrachtet man abschließend die skizzierte Einstellung der katholischen Kirche zum Staat, so zeigt sich mit wechselnder Aktualitätsbezogenheit, daß der Staat als societas naturalis in der Natur des Menschen gegründet angesehen wird und als societas perfecta und completa alle anderen natürlichen 18 Dazu siehe Herbert Schambeck, Kammerorganisation und Ständeordnung, in: Anton Burghardt et al. (Hrsg.), Im Dienste der Sozialreform. Festschrift für Kar! Kum-

mer, Wien 1965, S. 443ff., bes. S. 453ff. 19 Beachte Papst Johannes XXIII., Enzyklika "Mater et magistra" , Nr. 37 und Nr. 65. 20 Siehe Papst Johannes PaullI., Enzyklika "Laborem exercens", Abschnitt 111. 21 Paul Mikat, Grundelemente katholischer Staatsauffassung, in: Paul Mikat, Religionsrechtliche Schriften. Abhandlungen zum Staatskirchenrecht und Eherecht, hrsg. von Joseph Listl, 2. Halbband, Berlin 1974, S. 646 (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, Bd. 5).

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Gesellschaften (wie z.B. Familie und Gemeinde) umfaßt und sich bemüht, höchste Gesellschaftsfonn mit allen Macht- und Ordnungsmitteln zu sein, die erforderlich sind, daß ihre Glieder die volle Entfaltung ihrer personalen Natur erreichen. Diese Staatsauffassung drückt auch die Grundsätze der Autorität, Solidarität und Subsidiarität im Dienste des Gemeinwohls in gleicher Weise aus. Die motivierende Kraft des Staates soll nämlich, soweit es andere Gemeinschaften in ihrem Rahmen nicht können, allen Menschen die Ordnung vennitteln, die erforderlich ist, damit sie in Freiheit und Würde leben können. Mit dieser Sozialauffassung versucht die katholische Kirche unter gleichzeitiger Ablehnung des kapitalistischen Liberalismus und des kollektivistischen sowie materialistischen Marxismus22 einen personalistischen Weg auf dem Boden des Naturrechts 23 zu gehen, dessen Begriff zwar in unterschiedlicher Verwendung anzutreffen ist, dessen Sinn aber in der Lehre der Kirche von der Freiheit und Würde des Menschen sowie vor allem in ihrem ständigen Eintreten für den Schutz und die Fortentwicklung der Grundrechte sich verdeutlicht. Diese stete Anerkennung von Grundelementen und Grundwerten des Staates durch die katholische Kirche erlaubt trotz ihres Bemühens um Anerkennung durch ein mehr oder weniger ausdrückliches Ordnungsdenken vom Naturrecht her nicht die Vennittlung einer detaillierten Staatsordnung. Schon Heinrich Rommen hat in seinen Gedanken über "Die ewige Wiederkehr des Naturrechts" betont, daß das Naturrecht der philosophia perennis ein "Rahmenrecht" ist, das keine Detailregelung in direkter Ableitung zuläßt. 24 Es bedarf vielmehr der zeit- und ortsbedingten politischen Entscheidung der Menschen, welche den konkreten Staat in Fonn und Inhalt prägt. So erklärte auch Papst Paul VI. in "Pacem in terris" (1963): "Um festzustellen in welcher Form ein Staat regiert wird und wie er seine Aufgabe erfüllen soll, müssen ... der augenblickliche Zustand und die Lage eines jeden Volkes in Betracht gezogen werden, die nach Ort und Zeit verschieden sind" (Nr.68).

Die Kirche konnte somit von dem Wesen des Staates und dem Charakter ihrer Lehre her keine für alle Zeiten, Orte und Generationen gleich gültige patentierte Universallösung des Staates anbieten, sondern hat Alternativen an 22 Vgl. RudolfWeiler, PiusXII. und die Ideologien, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), PiusXII. zum Gedächtnis, a.a.O., S. 589ff. und Papst PaulVI., Enzyklika "Populorum progressio", Nr. 26 und Nr. 39 sowie Papst PaulVI., Apostolisches Schreiben "Octogesimo adveniens", Nr.31ff. und Papst Johannes PaullI., Enzyklika "Laborem exercens", Nr. 13 f. 23 Beachte Johannes Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik. Staatsethik und Wirtschaftsethik, 5. Auf!. , Innsbruck, Wien, München 1966 und Heribert Franz Köck, Zur Frage der Zuständigkeit der Kirche für das Naturrecht, in: Alfred Klose et al. (Hrsg.), Ordnung im sozialen Wandel. Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, Berlin 1976, S. 75ff. 24 Heinrich A. Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2. Auf!. München 1947, S.251, siehe dazu auch Paul Mikat, Grundelemente katholischer Staatsauffassung, a.a.O., S.637f.

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Entwicklungen verdeutlicht und Grundelemente katholischer Staatsauffassung vermittelt,25 deren Verwirklichung risikoreich ist, weil sie von menschlichen Entscheidungen abhängt, die relativ und gerade im Bereich des Staates sehr verantwortungsvoll sind. Hans Kelsen hat schon bemerkt: "Denn mit einer spezifischen Erzeugungsregel, mit einer bestimmten Staats- oder Gesellschaftsform ist noch in keiner Weise die offenbar viel wichtigere Frage nach dem Inhalt der staatlichen Ordnung verbunden";26 für ihn "ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt"27 und verweist auf das 18. Kapitel des Evangeliums Johannes, in dem wir lesen, daß das Volk auf die Frage des Pilatus, wen er am Osterfest freilassen solle, nicht Jesus Christus riefen, sondern Barabas. "Der Chronist aber fügt hinzu: Barabas war ein Räuber" .28 Auf das gleiche 18. Kapitel bei Johannes, auf das der agnostische Rechtspositivist Hans Kelsen29 zum Abschluß seiner Schrift "Vom Wesen und Wert der Demokratie" zu sprechen kommt, wird auch von Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika "Redemptor hominis" verwiesen und die Frage nach dem Christsein im Staat beantwortet: "Als Jesus Christus als Gefangener vor das Gericht des Pilatus trat und von ihm zur Anklage befragt wurde, die gegen ihn von den Vertretern des Synedriums erhoben worden war, hat er da nicht selbst geantwortet: ,Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege' ... Ist nicht Jesus Christus selbst im Verlaufe so vieler Jahrhunderte und so vieler Generationen, angefangen von den Zeiten der Apostel, sehr oft an die Seite von Menschen getreten, über die um der Wahrheit willen gerichtet wurde; ist er nicht auch mit Menschen in den Tod gegangen, die um der Wahrheit willen verurteilt wurden? Ist er nicht weiterhin Sprecher und Anwalt des Menschen, der im Geist und in der Wahrheit lebt? Wie er nicht aufhört, vor dem Vater zu sein, so ist er auch in der Geschichte des Menschen stets anwesend" (Nr.12).

25 Dazu siehe Gerhard Müller, Gedanken zur Staatsethik der Katholischen Soziallehre heute, in: Lothar Bossle (Hrsg.), Freiheit und christliche Soziallehre, Köln 1977, S. 143ff. (Gesellschaft-Kirche-Wirtschaft, Bd. 9) sowie grundSätzlich Anton Burghardt, Katholische Soziallehre. Anmerkungen zu ihren Konstanten und Variablen, in: Alfred Klose et al. (Hrsg.), Ordnung im sozialen Wandel, a.a.O., S. 43ff. 26 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S.98. 27 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, a.a.O., S. 101. 28 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, a.a.O., S.104. 29 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, a.a.O., S. 104.

Kirche und Staat in ethischer Sicht Von Kirche und Staat in ethischer Sicht zu sprechen, verdeutlicht ein Spannungsverhältnis, das zu jeder Zeit in den einzelnen Erdteilen und in verschiedenen Staaten unterschiedlich zu beurteilen ist und in mannigfachen Strukturen auftritt. Der Staat ist der dem Einzelnen und der Gesellschaft übergeordnete Herrschaftsverband, der Höchstfunktion erfüllt. Diese Höchstfunktion erfüllt der Staat aus der Sicht des positiven Rechts. Der Staat ist verpflichtet, Ruhe, Ordnung und Sicherheit herzustellen und aufrechtzuerhalten. Thomas Hobbes hat in seinem Werk "Leviathan" geschrieben, daß der Einzelne den Staat so lange anzuerkennen hat, so lange der Staat imstande ist, die Ordnungsfunktion zu erfüllen; wenn er diese Aufgabe nicht mehr erfüllen kann, so schrieb Hobbes, ist der Staat ein sterblicher Gott, denn dann ist ihm auch nicht mehr Respekt zu zollen, es kann nämlich in dieser Situation des Staates Widerstand geleistet werden. Die katholische Kirche hat in ihrer Lehre vom Widerstand immer den Standpunkt vertreten, daß gegen schweres Unrecht Widerstand erlaubt ist, wenn die begründete Aussicht besteht, die ungerechte Ordnung durch eine bessere Ordnung zu ersetzen, aber nicht Anarchie entstünde. Wir haben daher am Beginn die Ordnungsfunktion des Staates zu sehen, wenn man das Verhältnis von Kirche und Staat in den Blick bekommen will. Der Staat als dem Einzelnen und der Gesellschaft übergeordneter Herrschaftsverband kann seine Höchstfunktion mit unterschiedlichen Staatsformen und politischen Ordnungssystemen erfüllen. Er steht hierbei der Kirche als einer nicht weltlich begründeten Gemeinschaft gegenüber, ist doch die Kirche als die Glaubensgemeinschaft von Jesus Christus gestiftet worden. Aus der Sicht des 11. Vatikanischen Konzils ist die Kirche Gottes Volk in der Welt, getragen von Priestern und Laien. Besonders als Politiker möchte ich daher betonen, daß christliches Apostolat politische Verantwortung verlangt. Ich darf Sie dazu vor allem auf das großartige Schrifttum verweisen, das uns Papst Pius XII. hinterlassen hat. Die Dominikanerprofessoren Utz und Groner haben uns in drei Bänden diese Botschaft Papst Pius XII., als Soziale Summe Pius XII. mit einem ausführlichen Sachregister herausgegeben, zugänglich gemacht. 4*

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Die Kirche als Volk Gottes in der Welt steht der Staatenwelt gegenüber. An diese Staatengemeinschaft richtet sich die Lehre vom Völkergemeinwohl, wie sie die Schule von Salamanca, Francisco de Vitoria und Francisco Suarez, im 16. und 17. Jahrhundert schon großartig dargelegt hat und die heute von größter Wichtigkeit ist. Was heute der Korb 3 der Schlußakte der KSZE beinhaltet, ist mit Ausdruck des Geistes, der uns in der Schule von Salamanca bereits vor Jahrhunderten entgegengetreten ist. Wenn wir diese Staatlichkeit und diese Völkergemeinschaft hier in Bezug setzen zu unserer Kirche mit ihrem göttlichen Glaubens- und Heilsauftrag, dann ist die Kirche jeglicher politischer Disposition entzogen. Das Spannungsverhältnis von Kirche und Staat zeigt sich auch darin, daß die Verfassung und die einfachen Gesetze nach Adolf Merkl im ganzen Stufenbau der Rechtsordnung des Staates auf die jeweilige Mehrheit in einer parlamentarischen Körperschaft, aber nicht auf die 10 Gebote Gottes zurückgehen. Die Grundlage des Staates kann geändert werden, Verfassungen können novelliert werden, aber die 10 Gebote Gottes ebensowenig wie Glaubenswahrheiten.

Wie Gesetze zustande und zur Anwendung kommen sowie weiterentwickelt werden können, das bedarf sicherlich der entsprechenden zeit- und ortsgebundenen Auslegung. Das gilt auch in etwa für die Weiterentwicklung der katholischen Soziallehre, aber nicht für das Glaubensgut selbst. Wobei dieses Glaubensgut sicherlich auch in das hineinreicht, was heute politisch zur Diskussion steht: etwa der Schutz des ungeborenen Lebens. Wer aber annimmt, daß die katholische Kirche den Schutz des ungeborenen Lebens zur Disposition stellt, wird sich irren. Der Staat kann es tun, wenn er will - im Fall Österreich tat er es gegen meine Stimme -, aber ich darf Sie versichern, die Kirche nicht. Dasselbe bezieht sich vor allem auf den Schutz von Ehe, Familie sowie der Freiheit und Würde des Menschen. Der Staat ist in dieser seiner Verantwortung begleitet von der schweren Last der Freiheit. Die Freiheit ist eine große Verpflichtung. Sie ist auch eine große Last. Vor mehr als 25 Jahren habe ich in einem von Otto B. Roegele herausgegebenen Sammelband den Artikel geschrieben: "Von der Last der Freiheit im Staatsrecht des Westens und des Ostens". Die Freiheit ist für uns eine große Verpflichtung, und auch eine Verpflichtung für die Kirche. Die Tatsache, daß die Freiheit mit ein wesentlicher Nährboden der Kirche ist, ohne den die Kirche ihr Hirtenamt nicht ausüben und den Willen ihres Stifters nicht ausführen könnte, macht es unmöglich, daß die Kirche ihrem Wesen nach ein totalitäres System wird. Wäre die Kirche ein totalitäres System, wie es der Staat sein kann, hätte sie einen innerweltlichen Herrschaftsanspruch gestellt und diesen mit einer weltanschaulichen Bindung des Einzelnen zu fundieren gesucht, das ist aber nicht der Fall. Die Kirche hat nie ein konkretes - gleich einem der heute vielfach angebotenen Partei programme - ähnlich detailliertes Bild eines katholischen Staates, einer katholischen Sozial- oder Wirtschaftsordnung ange-

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boten und zur Herbeiführung dieses katholischen Staates und dieser katholischen Gesellschaft aufgerufen. Ein solcher Aufruf wäre auch unmöglich, weil es keinen katholischen Staat und keine katholische Gesellschaft geben kann, sondern vielmehr einen Staat, eine Sozial- und eine Wirtschaftsordnung von Katholiken, in denen die Grundsätze des Katholizismus zu verwirklichen sind. Augustinus hat in seinem Werk "De Civitate Dei" niemals geschrieben, die Katholiken sollen warten, bis die "Civitas Dei" kommt. Er hat die unterschiedlichen Möglichkeiten dargestellt, nämlich die "Civitas Dei" oder die "Civitas Diaboli" . Wir wissen, daß heute beide Elemente in den Staaten vorhanden sein können, mehr oder weniger, so daß die Grundsätze der katholischen Kirche hier zur zeit- und ortsorientierten Anwendung kommen können. Gustav Ermecke hat einmal sehr klar betont: "Der Staat ist ein soziales Gebilde. Ein solches kann nicht christlich im eigentlichen Sinn = christusverbunden in der Gnade sein, weil der Staat keine substantielle gnadenempfängliche Seele besitzt. Er kann darum auch keine Gliedgemeinschaft am mystischen Leib Christi werden. "1 Weder der Staat noch die Gesellschaft kann in personaler Weise Christus verbunden sein, sondern nur der einzelne Mensch. Dieser hat die große Verantwortung im Staate dafür, daß sich die christliche Lehre in Staat und Gesellschaft entfaltet, ihre Grundsätze und Empfehlungen zur Sittenordnung im individuellen und sozialen Leben verwirklicht werden. So enthält auch die katholische Soziallehre selbst kein Glückseligkeitspatent, sondern vielmehr Sozialgestaltungsempfehlungen, die den Katholiken im Gewissen verpflichten, sie zu beachten. Der einzelne Katholik ist dabei veranlaßt, die Heilige Schrift zur Hand zu nehmen. Die Heilige Schrift enthält keine eigene Staatslehre, sondern bloß Ansätze zu einer solchen. Der Staat wird als eine dem Menschen gemäße Ordnung betrachtet, die deshalb im Gewissen verpflichtet und der auch Gehorsam zu leisten ist. Im Römerbrief 13, 7 lesen wir:

"So gebt denn jedem, was ihr schuldig seid, Steuer, wem Steuer, Zoll, wem Zoll, Ehrfurcht, wem Ehrfurcht, Achtung, wem Achtung gebührt." Dazu wird der Staat als Helfer für die Ordnung der Gerechtigkeit angeführt, weshalb auch das Gebet für die Obrigkeit empfohlen wird. Der Staat kann sich aber auch für Gott ausgeben. Der Mißbrauch der Staatsgewalt hat seinen Ursprung nicht in Gott, sondern letztlich in Satan. Das Diabolische ist in der Politik eine reale Größe. Einer meiner Lehrer, Johannes Messner, hat oft und oft zu mir gesagt, daß er an die reale Macht des Teufels und des Diabolischen glaube und auch, daß es eine echte Versuchung gibt. Vor dieser Situation befinden wir uns. Insoferne müssen wir auch an eine 1

Joseph Mausbach / Gustav Ermecke, Katholische Moraltheologie, 10. Auf!., 3. Bd.,

Münster 1961, S.124.

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Eschatologie der Politik und an die Alternativen im öffentlichen Leben denken. Denken wir an die Mahnung Jesu Christi: "Gebt also dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gott gebührt!" (Mk 12,17)

Die Auseinandersetzung zwischen dem Herrschaftsanspruch Gottes und dem des Staates hat die Geschichte der Christenheit begleitet. Die Kirche konnte zwar in den ersten Zeiten der Glaubensverkündigung zunächst nur um das rein Religiöse besorgt sein und hat sich auf den Bereich des Sakralen beschränkt. Sobald aber die Zahl der Christen ein beträchtliches Ausmaß angenommen hatte, kam es zur Gegnerschaft des damaligen Staates gegenüber dem Christentum. Dadurch wurde es für die Kirche unerläßlich, ihren Gläubigen ein Ordnungsdenken zu vermitteln, das immer mehr alle Bereiche des öffentlichen Lebens erfaßte. Dazu wurde auch das christliche Naturrechtsdenken entwickelt, dessen Bedeutung in Osterreich besonders Johannes Messner in seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk dargelegt hat und uns gerade in der jetzigen Situation Mittel- und Osteuropas erkennbar ist. Haben wir es doch erlebt, daß für die Anerkennung von natürlichen Rechten unzählige Menschen in den früheren kommunistischen Staaten auf die Straße gegangen sind und gekämpft haben. Nicht die Politiker, nicht die Juristen, das Volk ist hinausgegangen und hat eine Wandlung hervorgerufen, weil man den eklatanten Widerspruch zwischen diesem positiven Recht eines solchen diabolischen Staates und den natürlichen Rechten nicht länger ertragen konnte. Der Staat ist seiner Einrichtung nach zunächst aus der Sicht des Staatsrechts wertneutral. Ethisch relevant ist aber bereits die Frage, zu welchem Zweck wird die Staatsgewalt verwendet? Die Bestimmungselemente des Staates, Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt, haben ihre unterschiedlichen Bedeutungen in der Rechtsgeschichte gehabt. Die Staatsgewalt ist vor allem als Imperium durch das römische Rechts- und Staatsdenken geprägt worden, das Staatsgebiet durch das germanische Staatsdenken, und das Personale tritt uns schon im Staatsvolk der griechischen Polis entgegen. Wobei es dann später eine folgenschwere Illusion gewesen ist, das Bild der griechischen Polis auf die Massengesellschaft pluralistischer Prägung zu übertragen.

Diese Staatselemente können Bezugspunkte für ethische Forderungen sein; wie weit dies der Fall ist, kann aus dem Text von Verfassungen und einfachen Gesetzen erkannt werden. Dabei gibt es nun Verfassungen, die in ihrem Text überhaupt keine Wertaussage beinhalten. So gibt es z.B. das Wort Freiheit und Würde des Menschen und das Wort Grundrecht im österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz 1920 überhaupt nicht, weil wir eine rein positivistische Verfassung haben. Es kommt daher in Österreich für den Christen darauf an, diese Werte namens der Kirche gegenüber dem Staat zu vertreten. Im demokratischen Verfassungsstaat muß man auf dem Wege parlamentarischer Wil-

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lensbildung das Seine dazu beitragen, daß die Staatszwecke und Staatszielbestimmungen so ausgerichtet und die Rechtswege so angelegt werden, daß sie ethischen Voraussetzungen entsprechen können. Ein ethisches Postulat aber betrifft die Staatsform und die politischen Systeme. Die katholische Kirche nimmt gegenüber Staatsformen und politischen Ordnungssystemen den Grundsatz der Neutralität ein. Der Kirche ist es völlig gleichgültig, ob ein Staat eine Monarchie oder Republik, ob ein Einheitsstaat oder Bundesstaat, demokratisch oder autokratisch ist. Entscheidend für die Kirche ist, daß dem Gemeinwohl gedient sowie daß die Freiheit und Würde des Menschen anerkannt wird. Das verlangt daher eine ständige Beobachtung des Verfassungsrechtssystems und der Entwicklung der politischen Ordnung. Es kann sich nämlich manches in der politischen Ordnung entfalten, was nicht im Verfassungsrecht steht. Daher bedarf es einer ständigen Aufmerksamkeit der Kirche im allgemeinen, ihrer Autoritäten, vor allem von Bischofskonferenzen, und Laien im besonderen. Wem nämlich in Kirche und Staat Autorität und Verantwortung gegeben ist, der ist im Gewissen verpflichtet, diese Autorität auch einzusetzen und Verantwortung auszuüben. Wie auch unsere Zeitgeschichte zeigt, hat die Kirche im Hinblick auf die Staatsformen, auf die politischen Ordnungssysteme und den Staatsaufbau den Grundsatz der Neutralität vertreten. In bezug auf Gemeinwohl und Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen aber wird der Staat von der Kirche beurteilt. Die katholische Kirche hat in bezug auf die Staatsorganisation nichts Wesentliches eingebracht, diese ist kein pastorales Anliegen. Das Entscheidende in der katholischen Kirche zur Entwicklung des Staatsrechts ist von der Ethik und den Grundrechten her gekommen. Nach Alfred Verdroß hat die katholische Kirche durch ihre Imago Dei-Lehre, also der Lehre von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen, die Idee von der Dignitas Humana, von der Freiheit und Würde des Menschen, metaphysisch begründet. Wir sollten heute unserem Heiligen Vater Papst Johannes PaulII. innigst dafür danken, daß er die Lehre von den Menschenrechten nach wichtigen Beiträgen seiner Vorgänger, vor allem Papst PiusXII., Papst JohannesXXIII. und Papst Paul VI. in seinen Sozialenzykliken in großartiger Weise bis zur Sozialdimension des Grundrechtssystems bereichert hat. Der beste Beitrag, der wirkungsvollste für die Grundrechte im Staat wurde von der Kirche geleistet! Denn diese Grundrechte berechtigen den Einzelnen und verpflichten ihn auch gleichzeitig. Vergessen wir doch nicht: Grundrechte und Grundpflichten gehören zusammen, sie beschränken aber auch gleichzeitig die Möglichkeit des Staates, so daß in diesem Falle die Wirkung der Lehre von den Grundrechten auch eine Wirkung auf die Staatsorganisation hat, ohne diese vorzuschreiben. Hier hat die katholische Kirche für den Staat und den Einzelnen in ihm Bleibendes erbracht!

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Von Bedeutung für die Beziehung von Kirche und Staat war in bestimmter Weise auch das 11. Vatikanische Konzil, auf dessen Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" besonders hingewiesen sei; einzelne Stellen dieses Konzilsdokumentes seien auf Grund ihrer Wichtigkeit für das gegenständliche Thema abschließend hervorgehoben. In Nr. 36 dieser Pastoralkonstitution erfolgt eine Anerkennung der richtigen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten. Hier liegt auch eine bestimmte Grenzziehung zwischen dem Politischen und dem Nichtpolitischen vor. Die abendländische Kultur beruht ja auf einer klaren Unterscheidung zwischen politischen und nichtpolitischen Lebensbereichen. Ein synodaler Vorgang in der Kirche ist zum Beispiel etwas anderes als die Demokratisierung im Staate. Nach Nr.42 ist die Kirche bereit, der menschlichen Gemeinschaft Hilfe zu geben. Der Sendungs bereich der Kirche ist jedoch für den politischen und sozialen Bereich nicht in derselben Form gegeben wie für den pastoralen. Das Ziel, das Christus der Kirche gesetzt hat, gehört der religiösen Ordnung an. Aus der religiösen Sendung der Kirche ergibt sich aber die Möglichkeit, der menschlichen Gemeinschaft auf dem Wege zu einer gerechten Ordnung behilflich zu sein. In diesem Streben um eine gerechte Ordnung hat niemand das Recht, die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und für seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen. Immer soll sie aber in einem offenen Dialog zwecks Klärung der Fragen zu helfen suchen. Dabei sollen alle die gegenseitige Liebe bewahren und vor allem auf das Gemeinwohl bedacht sein. In diesem Zusammenhang gilt es auf die Enzyklika Papst Paul VI. "Ecc1esiam suam" über die Möglichkeiten und Grenzen des Dialogs zu verweisen. Es kann nämlich vorkommen, daß es unterschiedliche Urteile bei gleicher Gewissenhaftigkeit und in gleichen Fragen gibt. Zu diesem Wettbewerb um die beste Idee zur Gestaltung der Politik hat die katholische Kirche mit ihrer Soziallehre Sozialgestaltungsempfehlungen gegeben, die besonders auf die Wahrung der Freiheit und Würde des Menschen sowie auf die Achtung des Gemeinwohls gerichtet sind. Von diesen Grundwerten ausgehend ist die Kirche bestrebt, dem Staat ethische Ziele zu vermitteln, die zu einer gerechten Ordnung zeit- und ortsorientiert führen können und Aufgabe der jeweiligen Politik bleiben.

Die Demokratie in der Lehre der katholischen Kirche I. Die Konfrontation von Glaube und politischem System ist für keine Kirche, auch nicht für die katholische Kirche, eine von der Stiftung verlangte Notwendigkeit, hat sie doch als religiöser Zweck einen transzendentalen Bezug. Da sich aber die Botschaft der Kirche an den einzelnen Menschen richtet, der sowohl am religiösen als auch am politischen Leben teilnimmt, ist die Kirche veranlaßt, sich in bestimmter Weise mit Problemen der öffentlichen Ordnung zur Erfüllung ihres seelsorglichen Auftrages auseinanderzusetzen. Die öffentliche Ordnung in der neueren Geschichte wird vor allem durch die Demokratie geprägt. Dem Begriff nach wird die Demokratie in ihrer Entwicklungsgeschichte unterschiedlich verwendet: teils gleichsam anstelle der Republik als Staatsform, was vor allem in der Antike und im Mittelalter der Fall war, teils aber als politisches Herrschaftssystem, das sich sowohl in der Staatsform der Republik als auch der Monarchie verwirklichen läßt. Erst allmählich entwickelte sich die Demokratie, meist mit revolutionärem Elan vorgetragen, von einem Anliegen der politischen Theorie zu einem Faktor der öffentlichen Ordnung. Wie Hans Maier bereits betonte!, war die Demokratie im wesentlichen in den neuzeitlichen Jahrhunderten bis zur Französischen Revolution ein Wort der Gelehrtensprache2 • Sie wird in der Theorie auf einen Teil der gemischten Verfassung und in der Praxis auf einfache Kleinstaaten wie die Schweizerische Eidgenossenschaft bezogen und als Regierungsform verstanden 3 • Die von Jean Jacques Rousseau vertretene Lehre von der Demokratie4 war dementsprechend auch nach seinen eigenen Aussagen nur auf einen Kleinstaat von der Größe Korsikas bezogen, und es zählt mit zur Tragik unserer Zeit, daß diese Lehre ohne das Bedenken ihrer Dimension später auch auf Großstaaten mit einer pluralistischen Gesellschaft übertragen und auf diese Weise die plebiszitär konzipierte Demokratievorstellung angesichts der Mas1 Hans Maier, Zur neueren Geschichte des Demokratiebegriffs, in: Theorie und Politik, Festschrift zum 70. Geburtstag von earl Joachim Friedrich, hrsg. von Klaus von Beyme, Haag 1971, S. 127ff. 2 Siehe hiezu R. P. Pahner, Notes on the use ofthe word "Democracy" 1789 - 1799, Political Science Quarterly LXVIII, June 1953, S. 203ff. und G. H. Blanke, Der amerikanische Demokratiebegriff in wortgeschichtlicher Beleuchtung, Jahrbuch für Amerikastudien I, 1956, S. 41 ff. 3 Siehe die bei Maier, a.a.O., S. 128ff., angegebene Literatur. 4 Siehe die bei Maier, a.a.O., S. 128ff., angegebene Literatur.

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sengeseIlschaft des Flächenstaates mit den Erfordernissen des Repräsentativsystems5 konfrontiert wurde, was ein Neubedenken von Wesen und Wert der Demokratie verlangt hätte 6 • In den letzten Jahren ist zu der schon im 19. Jahrhundert feststellbaren Oberforderung der Demokratie durch die Übertragung ihrer Idee der Identität von Herrscher und Beherrschten von ihrem Idealbild im Kleinstaat auf den Staat der Massengesellschaft eine weitere Überforderung getreten; sie besteht in der Obertragung der Idee der Demokratie vom Bereich des Staates auf den der Gesellschaft und damit auch auf die Bereiche der Religion sowie der Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsordnung7 . Das Problem der Demokratie stellt sich daher heute der Kirche in zweifacher Form: zum einen als eine Art "politische Umweltbedingung" , die für das Maß und die Art seelsorglichen Wirkens der Kirche ebenso von Bedeutung ist, wie für den grundrechtlichen Schutz der Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen, zum anderen als eine innerorganisatorische Möglichkeit der Kirche. Die gegenständliche Betrachtung über Kirche und Demokratie soll sich auf die erstgenannte Thematik, nämlich auf die Einstellung der katholischen Kirche zur Demokratie als politischem Ordnungssystem beziehen und nicht auf die Demokratie als innerkirchliches Problems. In der Beziehung von Kirche und Demokratie muß in katholischer Sicht bedacht werden, daß die katholische Kirche, dort wo sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Europa mit der Demokratie in Berührung gekommen ist, es mit einem politischen Herrschaftssystem zu tun hatte, welches unter der Nachwirkung der monarchisch-absolutistischen Vergangenheit radikalisiert und zugleich - gemessen an der angelsächsischen Tradition - pervertiert9 worden 5 Hiezu Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. Aufl., Berlin 1966. 6 Siehe in diesem Sinn Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1929. 7 Siehe dazu Wilhelm Hennis, Demokratisierung, Zur Problematik eines Begriffes, Köln und Opladen 1970, und Christian Brünner, Uber die Fundamentaldemokratisierung zur Demontage aller Lebensbereiche und zum Verlust der Freiheit, Juristische Blätter 1971, S. 10Hf. 8 Zu dem Problemkreis der sogenannten Demokratisierung der Kirche siehe u. a. Karl Rahner, Demokratie in der Kirche? Stimmen der Zeit, 1968, S. 1ff.; Harry Hoefnagels, Demokratisierung der kirchlichen Autorität, Wien/Freiburg/Basel 1969; Demokratisierung der Kirche, ein Memorandum deutscher Katholiken, hrsg. vom Benberger Kreis, Mainz 1970; losef Ratzinger / Hans Maier, Demokratie in der Kirche, Möglichkeiten, Grenzen, Gefahren, Limburg 1970; Georg May, Demokratisierung der Kirche, Wien/München 1971; Hans Dombois, Hierarchie, Grund und Grenze einer umstrittenen Struktur, Freiburg/Basel/Wien 1971; lohannes Neumann, Synodales Prinzip, der größere Spielraum im Kirchenrecht, Freiburg/Basel/Wien 1973, und Alexander Dordett, Kirche zwischen Hierarchie und Demokratie, Wien 1974 sowie Herbert Schambeck, Kirche und Demokratie, in: Kirche und Staat, Fritz Eckert zum 65. Geburtstag, Berlin 1976, S. 103ff. Neudruck in diesem Band. 9 Hans Maier, Kirche und Gesellschaft, München 1972, S. 84.

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ist, und das sich der katholischen Kirche gegenüber mehr ablehnend als annehmend verhielt. Anders das Verhalten der demokratischen Staaten im angloamerikanischen Bereich, die aus einer errungenen Toleranz heraus allen Religionen und daher auch den Katholiken und ihrer Kirche gegenüber nicht feindlich eingestellt waren. Der Kulturkampf blieb daher ein Thema Kontinentaleuropas. Die Entwicklung der Lehre der katholischen Kirche gegenüber der Demokratie ist demnach bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nur aus der politischen Situation Europas erklärlich.

u. Obwohl sich die katholische Kirche den einzelnen Staatsformen gegenüber grundsätzlich neutral verhält und insbesondere deren politische Bewertung etwa in der Art, daß sie eine bestimmte Staatsform für die allein zulässige hielte, vermeidet 10 , ist sie der Demokratie anfangs reserviert gegenübergestanden. Dabei kann die katholische Kirche schon auf Thomas von Aquin ll hinweisen, der sich in seiner Staatslehre weitgehend auf Aristoteles beruft und das Zusammenleben der Menschen in ihrer geselligen Natur begründet sieht. Die Geselligkeit des Menschen und die gegenseitige Abhängigkeit führen zur Gemeinschaft, zum Staat 12 . Von Aristoteles übernimmt er auch die Einteilung der Staatsformen - drei "gute" und drei "schlechte". Zur ersten Gruppe zählen die Monarchie, die Aristokratie und die Politie, schlecht sind die Tyrannei, die Oligarchie und die Demokratie. Die heutige Form der Demokratie entspricht in der thomasischen Einteilung der Politie. Unter Demokratie als entartete Staatsform ist die Ochlokratie gemeint. Das Abgrenzungskriterium zwischen 10 Beachte zum Beispiel die Äußerung Papst Leos XIII. im Rundschreiben Sapientiae christianae vom 10. Jänner 1890, in: Emil Marmy (Hrsg.), Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, Dokumente, Freiburg in der Schweiz 1945, Nr.949: "Gleichmäßig darauf bedacht, ihr eigenes Recht zu wahren, wie auch das Recht anderer peinliehst zu achten, hält die Kirche es nicht für ihre Aufgabe, zu entscheiden, welche Staatsform die bessere sei, oder mit welchen besonderen Einrichtungen ein christliches Staatswesen zu führen sei: sie verwirft keine der verschiedenen Staatsformen, wenn nur Religion und Sittlichkeit gewahrt bleiben." Vergleiche auch Rundschreiben Libertas praestantissimum vom 20. Juni 1888, in: Marmy, a.a.O., Nr. 137, und Rundschreiben Papst PiusXI., Ubi arcano vom 23. Dezember 1922, in Marmy, a.a.O., Nr.ll02; beachte dazu auch Emil Muhler, Die Soziallehre der Päpste, 2. Aufl., München 1958, S. 93ff. 11 Siehe dazu: Peter Tischleder, Ursprung und Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule, M.-Gladbach 1923; Johann Fischi, Geschichte der Philosophie, Graz/Wien/Käln 1964, S. 195ff.; Franz Klüber, Katholische Gesellschaftslehre, Osnabrück 1968, S. 197ff.; Adolf Wilhelm Ziegler, Religion, Kirche und Staat in Geschichte und Gegenwart, München 1969, Bd. I, S. 271 f. 12 Thomas von Aquin, De regimine principum I, 1; siehe dazu Franz Faller, Die rechtsphilosophische Begründung der gesellschaftlichen und staatlichen Autorität bei Thomas von Aquin, Heidelberg 1954, S. 63ff.

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guter und schlechter Verfassungsform ist der Dienst am Gemeinwohl. "Alle jene Staatsformen sind gerecht, welche auf das Gemeinwohl hingeordnet sind, und alle jene sind ungerecht, die das Eigeninteresse zum Ziele haben."13 Die schlechteste aller möglichen Staatsformen ist für Thomas die Gewaltherrschaft der Tyrannis, von der er sagt: "Nihil differet a bestia." 14 Deshalb hat das Volk, das dem Fürsten die Herrschergewalt überträgt, zu sorgen, daß dieser nicht zum Tyrannen wird. Als geeignetste Staatsform und zugleich als Schutz gegen die Tyrannei schlägt Thomas, beeinflußt von der griechischen Philosophie und Staatslehre, eine aus Elementen der drei "guten" Verfassungsformen bestehende Mischfoim vor. Erentwickelt dabei eine modifizierte Monarchie, in der aristokratische Momente in Form eines Rates weiser Männer eingebaut sind und das demokratische Prinzip insofern berücksichtigt ist, als der König und der Rat vom Volke selbst aus dessen Mitte gewählt werden. Die Autorität und die Legitimation des Herrschers kommt aber von Gott. Die Staatslehre des Thomas von Aquin wurde von den im 16. Jhdt. lebenden spanischen Scholastikern Francisco de Vitoria und Francisco Suarez aufgegriffen und insbesondere im Sinne der Beachtung der Volkssouveränität und einer Betonung der Entscheidungen des Volksganzen bei der Gestaltung des sozialen Lebens weitergeführt l5 . Suarez lehrt, daß Träger der Staatsgewalt, die ihren Ursprung in Gott hat, die staatliche Gemeinschaft, die persona moralis des Staates ist. Im Einzelfall entsteht diese Staatsgewalt durch den Konsens der die Gemeinschaft verkörpernden Menschen, die das naturrecht liehe Subjekt der Staatsgewalt sind. Dies bedeutet, "daß die primäre und natürliche Staatsform die reine Demokratie ist. Sie ist die naturrechtliehe Form, das heißt, sie beruht nicht wie Aristokratie und Monarchie auf positiv-rechtlicher Institution, sondern es ist die natürliche Vernunft selbst, die, wie sie anzeigt, daß die Staatsgewalt überhaupt einfach aus der Idee der vollkommenen Gesellschaft folgt, so auch anzeigt, daß die Gewalt an sich der ganzen Gemeinschaft zukommt; in diesem Sinne kann man sagen, die Demokratie sei die naturrechtliche Staatsform"16. Da nach Suarez die Staatsgewalt nur von dem zu einem Staat geeinten Volk erworben werden kann, verwirft dieser die Designationstheorie, nach der die Staatsgewalt von Gott unmittelbar auf den Herrscher übergehen soll und das Volk nur Träger der Staatsgewalt sei. Er läßt sie lediglich für die Papstwahl zu, da der Ursprung der päpstlichen Gewalt 13

In Pol. IH, 6.

14 De regimine principum, I, 3.

15 Beachte Francisco de Vitoria, Relectio de Indis, 1539 und Francisco Sutirez, De legibus ac Deo legislatore, 1612, dazu Friedrich A. Frhr. v. d. Heydte, Seinsbegriff und Naturrecht bei Thomas von Aquin und Francisco Suarez, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, hrsg. von loset Höf!ner, Alfred Verdroß, Francesco Vito, Innsbruck/Wien/München 1961, S.125ff.; und Alfred Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963, S. 92ff. 16 Heinrich Rommen, Die Staatslehre des Franz Smirez, M.-Gladbach 1926, S. 176.

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direkt einer positiven göttlichen Institution entstammt. Die Staatsgewalt, soweit sie rechtmäßig ausgeübt werden soll, muß auf einer vom Willen des Volkes getragenen Zustimmung beruhen, da das Staatsvolk allein über die Ausübung der Staatsgewalt entscheidet (Delegations- oder Translationstheorie). Das besagt aber nicht, daß die Staatsgewalt auch immer durch die Gemeinschaft ausgeübt werden muß. Dies ist nur solange der Fall, als nicht durch Beschluß der Gemeinschaft ein anderer Modus der Gewaltausübung gewählt wird 17 • Kraft Translationsvertrages kann die naturrechtliche Staatsform der Demokratie in den Regierungsformen der Monarchie, der Aristokratie oder der Demokratie im engeren Sinn konkretisiert werden, je nachdem, welche Qualität dem die Staatsgewalt ausübenden Organ zukommt. Dabei genießt unter Heranziehung neuerer staatsphilosophischer Aspekte zur Deutung der Staatslehre des Suarez - die demokratische Regierungsform infolge des Subsidiaritätsprinzips permanenten Vorrang. Sie wird bevorzugt auf ihre Eignung als Regierungsform zu prüfen sein 18 • Trotz dieser theoretischen Ansätze nahmen die Autoritäten der katholischen Kirche der Demokratie gegenüber eine zurückhaltende bis ablehnende Stellung ein, dies vor allem auch deshalb, weil die Demokratie als politisches System den damals vorherrschenden Staatsformen der Monarchie gegenüber eine mehr revolutionäre Haltung bezog und in der Prägung des Jakobinismus in Erscheinung trat. Dies zeigte sich besonders in den Schrecken der Französischen Revolution 1789 und der folgenden Entwicklung. ßI.

Die ursprüngliche Befangenheit der katholischen Kirche gegenüber der Demokratie wurde erst seit Papst Leo XIII. von den Päpsten allmählich abgebaut. Die jahrhundertelange Förderung der Monarchie durch die katholische Kirche beruht auch auf der Tatsache, daß sie die Staatsform war, in der sich die Kirche seit ihrer Entstehung zurechtzufinden hatte. So formte die katholische Staatslehre die gegebene Staatsform Monarchie zum Modell einer gottgewollten, zumal die Monarchie gelegentlich, z. B. im spätrömischen Reich, sogar theokratische Züge annahm. Anderseits ist die Abneigung katholischer Amtsträger und kirchlicher Lehräußerungen gegenüber demokratischen und konstitutionellen Bewegungen auf die Kirchenfeindlichkeit jener Kreise zurückzuführen, von denen diese Bestrebungen ursprünglich ihren Ausgang nahmen. So trat z. B. Papst Pius VII. in Ecclesiam a Jesu Christo (1821) für Autorität und Gehorsam, für "Thron und Altar" ein. Papst GregorXVI. setzt sich in Mirari vos (1832) und Singulari nos (1834) mit dem Freiheitsbegriff Lamennais' auseinander, den er verurteilt. Trotz der notwendigen Bedenken, die gegen eine falsch verstandene Demokratie vorzubringen waren, wäre es rich17

18

Defensio fidei III, 2, 9. Vgl. Franz Klüber, a.a.O., S. 190f.

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tiger gewesen, den erwachenden demokratischen Gedanken gerade in den katholischen Völkern mehr Beachtung zu schenken 19. Erst Papst Leo XIII., der in seiner Staatslehre weitgehend von Thomas von Aquin beeinflußt ist, hat sich zur Zu lässigkeit einer "gesunden Demokratie" bekannt2o • Nachdem er in der Enzyklika Rerum novarum vom 15.5. 1891 bereits einige an der Peripherie der Demokratie liegende Fragen gestreift hatte, wie zum Beispiel das Problem der Mitbestimmung der Arbeiter oder ihr Koalitionsrecht, behandelt er in Graves de communi vom 18. 1. 1901 die "christliche Demokratie". Diese will er nicht im politischen, sondern im rein sozialen Sinn verstanden wissen und stellt sie der Republik sowie der damals stark kommunistisch beeinflußten Auffassung von der Demokratie gegenüber. Im Rundschreiben über die christliche Staatsordnung Immortale Dei vom 1. 11. 1885 sagt Papst Leo XIII. bezüglich der Staatsform: "Das Befehlsrecht ist freilich an und für sich mit keiner Staatsform notwendigerweise verbunden. Es darf sich diese oder jene dienstbar machen, wenn sie nur imstande ist, Nutzen zu stiften und das Gemeinwohl tatkräftig zu fördern"21.

Durch die Lehrvorschriften der katholischen Kirche über Verfassung und Verwaltung werden, "wenn man unvoreingenommen urteilt, keine der verschiedenen Staatsformen an und für sich verworfen, falls sie nichts an sich haben, was der katholischen Lehre widerspricht. .. ; auch das ist an sich durchaus nicht zu tadeln, daß das Volk mehr oder weniger teilnimmt am staatlichen Leben; zu gewissen Zeiten und auf Grund bestimmter Gesetze kann das nicht nur den Bürgern zum Vorteil gereichen, sondern auch zu ihrer Pflicht gehören"22.

Die gleiche Ansicht hat Papst Leo XIII. auch in seinem Rundschreiben über die Staatsgewalt Diuturnum illud vom 29. Juni 1881 vertreten: "Es liegt ja keinerlei Grund vor, warum die Kirche die Herrschaft eines einzigen oder mehrerer nicht billigen sollte, sofern sie nur gerecht ist und Sorge trägt für das Gemeinwohl. Wenn daher die Gerechtigkeit gewahrt bleibt, ist es den Völkern freigestellt, sich jene Staatsform zu wählen, die ihrer Veranlagung oder den Einrichtungen und Gebräuchen ihrer Vorfahren besser entspricht"23.

Im Rundschreiben Libertas praestantissimum vom 20. Juni 1888 betont Papst LeoXIII. die Zulässigkeit der Demokratie: "Auch ist es keine Pflichtverletzung, eine Staatsverfassung anzustreben, welche durch eine Volksvertretung gemäßigt ist, solange dabei die kath. Lehre von dem Ursprung der Anwendung der Staatsgewalt gewahrt bleibt ... Es ist gut, sich am Peter Tischleder, Die Staatslehre Leo XIII., 2. Auf!., M.-Gladbach 1927, S. 11. Siehe dazu Tischleder, a.a.O., insbes. S. 243ff. 21 Abgedruckt bei Marmy, a.a.O., Nr. 841. 22 Marmy, a.a.O., Nr. 890f. 23 Marmy, a.a.O., Nr. 808. 19

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öffentlichen Leben zu beteiligen, ... ja, die Kirche billigt es sehr, daß die einzelnen ihre Kräfte in den Dienst des Gesamtwohles stellen"24.

Papst Leo XIII. bemühte sich um einen für die katholische Kirche annehmbaren Weg der Demokratie, ohne aber die Gefahren zu verkennen, die sich unter einem kirchenfeindlichen Einfluß aus einer Symbiose aus Liberalismus und Demokratismus ergeben können; aus dieser Sicht sind seine warnenden Worte in den Enzykliken Humanum genus25 , Immortale Dei26 und Libertas praestantissimum27 zu verstehen. Bei Beachtung der Möglichkeiten der Demokratie hat die katholische Kirche auch in den folgenden Jahren auf die Gefahren in der Demokratie hingewiesen. So hat Papst PiusXI. in der Enzyklika Ubi arcano vom 23.12. 1922 besonders auf die Gefahren der Demokratie durch Parteikämpfe hingewiesen. "Eigentlich müßten die verschiedenen Parteien in gegenseitigem Wetteifer, jede in ihrer Art, dem Gemeinwohl aufrichtig dienen; statt dessen sehen wir nur zu oft, wie sie rücksichtslos ihre selbstsüchtigen Zwecke verfolgen, mögen die anderen darunter auch noch so leiden ... alles das muß um so verderblicher wirken, je größeren Anteil das Volk an der Staatsregierung hat, wie dies bei den modernen demokratischen Regierungen der Fall ist. Zwar verwirft die Kirche diese Regierungsform nicht (wie überhaupt keine Einrichtung, die dem Recht und der Vernunft gemäß ist), aber es ist doch eine bekannte Tatsache, daß dieses Regierungssystem für Parteiränke besonders zugänglich ist"28.

IV. Ein neues Verstehen der Demokratie durch die katholische Kirche begann mit Papst Pius XII., der wiederholt zu einzelnen Problemen der modernen Demokratie Stellung genommen hat und die Entwicklung des späteren Zweiten Vatikanischen Konzils vorbereitete. Die bisher umfassendste Lehräußerung der katholischen Kirche über die "wahre Demokratie" ist seine Rundfunkansprache Benignitas zu Weihnachten 1944. Erschüttert von der Grausamkeit des Krieges, der von der nationalsozialistischen Diktatur des Deutschen Reiches entfesselt wurde, begrüßt er die Neigung der Völker zur Demokratie: "Ist es bei einer solchen Verfassung der Gemüter vielleicht zu verwundern, wenn die Neigung zur Demokratie die Völker ergreift und weithin die Unterstützung und Zustimmung derer findet, die wirksam mitarbeiten möchten an den Geschicken der einzelnen und der Gemeinschaft?"29

24 25

26 27 28

29

Marmy, Marmy, Marmy, Marmy, Marmy, Marmy,

a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,

Nr.137. Nr. 46ff. Nr. 833ff. Nr. 81ff. Nr. 1102. Nr.1056.

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Gleichzeitig erteilt Papst Pius XII. empfehlende Richtlinien zur Gestaltung der Demokratie. Die zwei Grundprobleme der Demokratie, die in der Monarchie wie in der Republik verwirklicht werden können, sieht er einerseits in der Frage nach den Eigenschaften der Menschen, die unter einer demokratischen Regierungsform leben und anderseits in der Frage nach den Eigenschaften jener Männer, die in der Demokratie die öffentliche Gewalt in Händen haben. Die Demokratie fordert als Glieder Persönlichkeiten. Die gestaltlose Masse "ist der Hauptfeind der wahren Demokratie und ihres Ideals von Freiheit und Gleichheit"30, die aus der Freiheit einen "tyrannischen Anspruch auf ungehemmte Befriedigung menschlicher Gier und menschlicher Triebe zum Schaden für die anderen" macht und die Gleichheit in "geistlose Gleichmacherei, in eine eintönige Gleichschaltung"3! verfälscht. Jeder Staatsbürger muß die Möglichkeit haben, sich eine eigene Meinung zu bilden, ihr Ausdruck zu verleihen und in einer dem Gemeinwohl entsprechenden Weise Geltung zu verschaffen. Auch der demokratische Staat muß, wie jede andere Regierungsform mit wirksamer Autorität, ohne die er nicht bestehen kann, ausgestattet sein. Papst Pius XII. sieht sie von Gott abgeleitet. Die Träger der öffentlichen Gewalt werden durch das Bemühen, die von Gott gewollte Ordnung zu verwirklichen, befähigt, ihre Pflichten in Gesetzgebung und Verwaltung "mit jenem Bewußtsein der eigenen Verantwortung, mit jener Sachlichkeit, mit jener Unparteilichkeit, mit jener Rechtschaffenheit, mit jener Vornehmheit der Gesinnung, mit jener Unbestechlichkeit zu erfüllen, ohne die eine demokratische Regierung schwerlich die Achtung, das Vertrauen und die Zustimmung des besseren Teiles des Volkes gewinnen könnte"32. Eine Überlebensfrage und eine Frage des Gedeihens der Demokratie ist die geistige und sittliche Qualität der Volksvertreter, von denen die höchsten politischen Entscheidungen im demokratischen Staat getroffen werden. Papst PiusXII. erkennt, daß nur eine Auslese von geistig hervorragenden und charakterfesten Männern als Vertreter des gesamten Volkes wirken dürften. "Wo solche Männer fehlen, nehmen andere ihren Platz ein und machen aus der politischen Tätigkeit einen Kampfplatz für ihren Ehrgeiz, ein Rennen nach Gewinn für sich selbst, für ihre Kaste oder Klasse, wobei sie die Jagd nach Sondervorteilen das wahre Gemeinwohl aus dem Auge verlieren und der Gefahr überantworten läßt"33. Wird der staatlichen Gesetzgebung eine zügel- und grenzenlose Macht zuteil, verkehrt sich nach Papst Pius XII. die demokratische Staatsform, die dann nicht mehr auf den unveränderlichen Grundgesetzen des Naturgesetzes und den geoffenbarten 30

Marmy, a.a.O., Nr.1062.

3! Marmy, a.a.O., Nr.1063. 32 Marmy, a.a.O., Nr.1065; siehe dazu auch Johannes Schasching, Die soziale Bot-

schaft der Kirche, Innsbruck/Wien/München 1963, S. 231ff. 33 Marmy, a.a.O., Nr.1067.

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Wahrheiten beruht, trotz des gegenteiligen trügerischen Scheins in ein absolutistisches System. Eindringlich ermahnt Papst Pius XII. die Christen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Dies sei ein Akt schwerer sittlicher Verantwortung, dessen Vernachlässigung die Gefährdung der Demokratie und dort, wo religiöse Dinge auf dem Spiele stehen, eine schwere, verhängnisvolle Unterlassungssünde bedeute. Wie Papst Gregor XVI. die Freiheitsrechte und mit ihnen die Demokratie verurteilt hat 34, Papst Leo XIII. die Zulässigkeit der Demokratie herausstrich35 , Papst Pius X. die Christen vor der einseitigen Zuneigung zur demokratischen Staatsform warnte 36 und Papst Pius XI. auf die Gefahren für die Demokratie durch Parteienhader hinwies37 , hat neben Papst Pius XII. Papst Johannes XXIII. die demokratische Staatsform als durchgesetzt akzeptiert und sich in seinen Lehräußerungen mit ihren Grundsätzen und Konsequenzen für die Christen auseinandergesetzt. In seiner Friedensenzyklika Pacem in terris vom 11. April 1963 legt er ein Bekenntnis für die Demokratie ab: "Jedoch daraus, daß die Autorität aus Gott stammt, ist durchaus nicht zu folgern, daß die Menschen keine Möglichkeit hätten, diejenigen zu wählen, die an der Spitze des Staates stehen sollen, die Staatsform zu bestimmen und den Umfang sowie die Art und Weise der Gewaltausübung abzugrenzen. Daher kann diese Lehre mit jeder demokratischen Regierungsform in Einklang gebracht werden, die diesen Namen wirklich verdient"38.

Für die Bestimmung der Struktur und Funktion der staatlichen Gewalt empfiehlt er, den nach Zeit und Art verschiedenen Zustand und die Lage eines jeden Volkes ins Kalkül zu ziehen. Damit betont er mit der Neutralitätshaltung der Kirche ihre Achtung vor der Selbständigkeit der Staaten und ruft zur bestmöglichen Gestaltung der konkreten Regierungsform auf39 . Er sieht auch mit der Würde der menschlichen Person das Recht verknüpft, am öffentlichen Leben aktiv teilzunehmen und zum Gemeinwohl beizutragen. Papst JohannesXXIII. hat in Pacem in terris die päpstliche Lehre von Staat und Politik mit einer systematischen Darlegung der Grundrechte des Menschen bereichert. Am Anfang seiner Gesamtlehre über die politische Ordnung sagte er: Marmy, a.a.O., Nr.1ff. 35 Siehe FN 20. 36 Marmy, a.a.O., Nr. 968ff. 37 Marmy, a.a.O., Nr. 1102. 38 Die Friedensenzyklika Papst Johannes XXIII., Pacem in terris, hrsg. von ArthurFridolin Utz, Freiburg im Breisgau 1963, S. 103. 39 Vgl. dazu Albrecht Beckel, Demokratie - Idee und Praxis, Osnabrück 1966, insbes. S. 43. 34

5 Schambeck

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"Jedem menschlichen Zusammenleben, das geordnet und fruchtbar sein soll, muß das Prinzip zugrunde liegen, daß jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist"4O. Den umfassenden Grundrechtskatalog (Nr. 11 - 27), in dem er unter anderem das Recht auf Leben und Lebensunterhalt, moralische und kulturelle Rechte, das Recht auf Gottesverehrung, das Recht auf freie Wahl des Lebensstandes, das Recht auf Gemeinschaftsbildung, auf Auswanderung und Einwanderung fordert, stellt er in unauflösliche Beziehung mit den Pflichten der Staatsbürger (Nr. 28 - 45). Schon in seiner Sozialenzyklika Mater et Magistra vom 15. Mai 1961 verpflichtet Papst Johannes XXIII. die Katholiken der ganzen Welt, sich um die Probleme der Welt auf zweifache Art zu kümmern; einerseits müssen sie sich jenes Wissen aneignen, das zur sachgerechten Mitsprache notwendig ist, und anderseits müssen sie sich gerade in einer demokratisch organisierten Gesellschaft um jene sittliche Reife und Vollkommenheit bemühen, ohne die das Leben in der Gemeinschaft nicht bewältigt werden kann. "Jeder, der sich Christ nennt, muß es als seine Sendung ansehen, sich mit aller Kraft für die Vervollkommnung der Gesellschaft einzusetzen und bis zum äußersten sich bemühen, daß die Menschenwürde in keiner Weise angetastet wird, vielmehr alle Schranken niedergelegt und alle Hilfen bereitgestellt werden, die ein Leben nach der Tugend anziehend machen und befördern. "41 Als Zeichen der Zeit wertet er den Abschied vom Klassendenken durch Integration der Arbeiterschaft, die Neubewertung der Stellung der Frau im öffentlichen Leben und die rechtsstaatliehe Tendenz der heutigen Staatsauffassung durch die Fixierung der Grundordnung des Staates in einer geschriebenen Verfassungsurkunde, der hier erstmalig in der Geschichte der päpstlichen Lehre Beachtung geschenkt wird. Er hat die formell demokratische Staatsauffassung seiner Vorgänger mit Elementen eines materiellen Demokratiebegriffes in der Lehre der Kirche bereichert und die demokratische Tradition in einer neuen Weise gerechtfertigt. Insbesondere ist es ihm gelungen, ihre Angemessenheit gegenüber der menschlichen Person zu belegen und den Zusammenhang zwischen Sicherung der Grundrechte und demokratischer Ordnung des modernen Verfassungsstaates in einem neuen Lichte zu zeigen.

v. Das Verständnis und die Offenheit der katholischen Kirche gegenüber der Demokratie hat das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spesfortgesetzt und besonders verdeutlicht; es betont, daß sie ihrer Struktur nach den Staatsbürgern die Pacem in terris, a.a.O., S. 88. Die Sozialenzyklika Papst Johannes XXIII., Mater et Magistra, hrsg. von Eberhard Welty, Freiburg/BasellWien 1961, S.174f.; siehe auch Franz-Martin Schmälz, Die Kirche auf dem Weg zur Demokratie, Forum, Heft 121, 1964, S. 20. 40 41

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günstigsten Voraussetzungen für die Entfaltung von Gemeinsinn und Initiative bietet und spricht ihr besonderes Lob aus: "Anerkennung verdient das Vorgehen jener Nationen, in denen ein möglichst großer Teil der Bürger in echter Freiheit am Gemeinwesen beteiligt ist"42,

und "in vollem Einklang mit der menschlichen Natur steht die Entwicklung von rechtlichen und politischen Strukturen, die ohne jede Diskriminierung allen Staatsbürgern immer noch die Möglichkeit geben, frei und aktiv teilzuhaben an der rechtlichen Grundlegung ihrer politischen Gemeinschaft, an der Leitung des politischen Geschehens, an der Festlegung des Betätigungsbereiches und des Zweckes verschiedener Institutionen und an der Wahl der Regierenden. Alle Staatsbürger aber sollen daran denken, von Recht und Pflicht der freien Wahl Gebrauch zu machen zur Förderung des Gemeinwohls. Die Kirche ihrerseits zollt der Arbeit jener, die sich zum Dienst an den Menschen für das Wohl des Staates einsetzen und die Lasten eines solchen Amtes tragen, Anerkennung und Achtung"43.

Die katholische Staatsauffassung des 19. Jahrhunderts, nach der Staat und Kirche hierarchisch strukturiert sein mußten, ist damit aufgegeben. Der Staat, von dem das Konzil ausgeht, ist prinzipiell demokratisch. Gemeint ist aber, wie Franz Klüber betont, nicht nur die formale Demokratie im staatsrechtlichen Sinn, sondern eine Lebensform, die alle gesellschaftlichen Bereiche etwa im Sinne einer vom romanischen Sozialkatholizismus entwickelten "democratie en profondeur" beherrscht44 • In dieser sozialen und wirtschaftlichen Demokratie sollen alle Bürger am Entscheidungsprozeß der einzelnen Institution im Gemeinwesen beteiligt sein und echt mitbestimmen können. Die Konstitution bekennt sich klar zur Möglichkeit, im Zeitalter der Sozialisierung die Rechte des Einzelnen im Dienste am Gemeinwohl einzuschränken. "Überall jedoch, wo die Ausübung von Rechten um des Gemeinwohls willen zeitweise beschränkt wird, muß die Freiheit, sobald die Voraussetzungen für diese Beschränkungen wegfallen, unverzüglich wieder hergestellt werden. Unmenschlich ist es, wenn eine Regierung auf totalitäre und diktatorische Formen verfällt, die die Rechte der Person und der gesellschaftlichen Gruppen verletzten" 45 . Nicht nur die Parteien werden angewiesen, ihre Sonderinteressen dem Gemeinwohl unterzuordnen, auch die Christen werden gemahnt, gegen politisch Andersdenkende Toleranz zu üben 46 • "Berechtigte Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Ordnung irdischer Dinge sollen sie anerkennen, und die anderen, die als einzelne oder kollektiv solche Meinungen vertre42 Gaudium et spes, Nr. 31, Karl Rahner / Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 2. Auflage, Freiburg/Basel/Wien 1967, S. 478. 43 Gaudium et spes, Nr. 75; Rahner / Vorgrimler, a.a.O., S. 532. 44 Vergleiche Franz Klüber, Katholische Gesellschaftslehre, a.a.O., S.480. 45 Gaudium et spes, Nr. 75. 46 Vgl. Rahner I Vorgrimler, a.a.O., S. 442.

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ten, sollen sie achten"47: Damit wird in dem Abschnitt der Pastoralkonstitution Nr. 75 (Die Mitarbeit aller am öffentlichen Leben), der nach Rahner-Vorgrimler "ein uneingeschränktes Lob des Konzils für die Demokratie"48 enthält, die vielfach mit Ideologie verbrämte, aber eher machtpolitisch orientierte monolithische Einmütigkeit der Katholiken in Belangen des politischen Lebens in Frage gestellt49 ; sie ist im Zusammenhang mit den verschiedenen Möglichkeiten, dem Gemeinwohl zu dienen, ebenso zu sehen, wie in der in Art. 36 der Pastoralkonstitution ebenfalls erfolgten Anerkennung der richtigen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten: "Vorausgesetzt, daß die methodische Forschung in allen Wissensbereichen in einer wirklich wissenschaftlichen Weise und gemäß den Normen der Sittlichkeit vorgeht, wird sie niemals in einen echten Konflikt mit dem Glauben kommen, weil die Wirklichkeiten des profanen Bereichs und des Glaubens in demselben Gott ihren Ursprung haben"50.

Die in dem postkonziliaren Katholizismus deutliche sachlich gerechtfertigte Toleranz ist keine Form der Grundsatzlosigkeit, sondern eine Form des Gesprächs der Kirche mit der Welt und damit auch mit der Politik in ihr. Dies zeigt sich besonders in der Enzyklika Ecclesiam suam Papst Pauls VI., in der als Eigenschaften des Dialogs die Klarheit, das Vertrauen und die Klugheit angegeben werdenS! und auch auf die Gefahren verwiesen wird, die mit jedem Dialog gegeben sind: "Die Kunst des Apostolats ist ein Wagnis. Die Sorge, den Brüdern näherzukommen, darf nicht zu einer Abschwächung und Herabminderung der Wahrheit führen. Unser Dialog kann uns nicht von der Verpflichtung gegenüber unserem Glauben entbinden. Das Apostolat darf keinen doppelseitigen Kompromiß eingehen bezüglich der Prinzipien des Denkens und Handeins, das unser christliches Bekenntnis kennzeichnet"52. Gaudium et spes, Nr. 75. Rahner I Vorgrimler, a.a.O., S. 441. 49 Gaudium et spes, Nr. 75, Rahner I Vorgrimler, a.a.O., S. 533. 50 Rahner I Vorgrimler, a.a.O., S. 482, beachte auch I. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über den Katholischen Glauben, Kap. III: Dez. 1785 - 1786 (3004 - 3(05). 51 Papst PauIVI., Enzyklika Ecclesiam suam, Nr. 76. 52 Papst PauIVI., a.a.O., Nr.81. Vgl. die am 27.2.1973 von Franz Kardinal König vor dem Bundesvorstand des Österreichischen Gewerkschaftsbundes gehaltene Rede "Die gemeinsame Basis ist der Mensch", in: Franz Kardinal König, Der Mensch ist für die Zukunft angelegt, Wien/FreiburglBasel1975, besonders S. 80: "Aber in grundsätzlichen Fragen kann sich die Kirche nicht arrangieren, auch nicht um des guten Einvernehmens, auch nicht um des lieben Geldes willen, das dahinter steckt. Auch dann nicht, wenn es ihr leid tun sollte, daß deswegen ein gutes Einvernehmen getrübt werde. Die Kirche ist nicht in allen Fragen Herr ihrer eigenen Entscheidungen, sie ist gebunden an ein Gesetz, das sie nicht ändern und das sie auch nicht mit Taktik überspielen kann. Als ,Geschäftspartner' in Grundsatzfragen ist die Kirche ungeeignet, weil sie sich immer auf eine höhere Instanz berufen muß, die letztlich doch nicht zu umgehen ist, die außerhalb ihrer Einflußsphäre liegt und mit der man auch nicht paktieren kann: nämlich auf Gott." 47

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Papst Paul VI. hat in Ecclesiam suam selbst Möglichkeiten und Grenzen des Dialogs angegeben, den er inner- und zwischenstaatlich geführt sehen will. Besonders deutlich wurde dies auch in seinem aus Anlaß des 80jährigen Jubiläums von Rerum novarum ergangenen Schreiben Octogesima adveniens, in dem er nach einer kritischen Auseinandersetzung mit verschiedenen Ideologien unserer Zeit (Nr. 22 - 41), besonders dem Liberalismus, Sozialismus und Marxismus (Nr. 31 - 37), auf das Erfordernis der Mitbestimmung und Mitverantwortung (Nr. 47) verweist und dabei an seinen Vorgänger anknüpft: "Unser Vorgänger seligen Andenkens JohannesXXIII. bezeichnet in seinem Rundschreiben ,Mater et Magistra'53 die Übernahme von Verantwortung als eine elementare Forderung der Natur des Menschen und zugleich als Bestätigung seiner Freiheit und als Weg zur persönlichen Entfaltung; er zeigt auch Wege auf, wie diese Mitbestimmung sich im Bereich der Wirtschaft, insbesondere in den Unternehmungen, verwirklichen läßt54 . Heute erstreckt sich dieser Bereich noch weiter und umfaßt auch den gesellschaftlichen und staatlichen Raum, in dem gleichfalls Beteiligung an Pflichten und Entscheidungen eingeführt und ausgebaut werden sollten"55.

VI.

Betrachtet man diese Entwicklung der Lehre der katholischen Kirche in ihrer Einstellung zur Demokratie, kann eindeutig ein Wandel von Ablehnung über Reserviertheit bis zur empfehlenden Mitgestaltung festgestellt werden. Darin ist kein Bruch im Lehrgebäude der katholischen Kirche zu erkennen, sondern ein Wandel in der Anwendung der gleichbleibenden Grundsätze, zu welchen vor allem die dignitas humana und das bonum commune zu zählen sind; beide Grundsätze, also die Würde des Menschen und das Gemeinwohl, waren aber in der jakobinisierten Form der Demokratie, wie sie sich nach der Französischen Revolution entfaltete, gefährdet, weshalb auch diese Demokratie abgelehnt wurde. Anders wurde dies durch den Weg zum demokratischen Verfassungsstaat 56 , der vor allem in einer Symbiose von Liberalismus und Demokratismus zur Begründung der politischen FreiheitS? durch den RechtsstaatS8 führte; er erleichtert diesen Wandel nicht zuletzt deshalb, weil deren Anliegen, wie sie besonders die Rechtssicherheit, die Grundrechte und die 53 Enzyklika Mater et Magistra, A. A. S. 53 (1961) 420 - 422. 54 Vgl. Past. Konst. Gaudium et Spes, Nr. 68: A. A. S. 58 (1966) 1089 - 1090; 1097. 55 Octogesima adveniens, Nr. 47. 56 Siehe earl Joachim Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1953. 57 Beachte Adolj Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit in: Demokratie und Rechtsstaat. Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S.163ff. 58 Dazu Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Schriftenreihe der Berliner Juristischen Gesellschaft e. V., Heft 38, Berlin 1970, bes. S.19ff.

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Gewaltenteilung sind, mit den Zielen übereinstimmten, wie sie von der katholischen Soziallehre vertreten wurden. Die katholische Kirche hat damit ihre traditionelle Haltung der Neutralität gegenüber den Staatsformen nicht aufgegeben, da sich eine Demokratie sowohl in der Staatsform der Republik wie in der der Monarchie verwirklichen läßt, sie lehnt nur jedes politische System, möge es sich noch so als demokratisch bezeichnen, ab, "dem eine materialistische und atheistische Philosophie zugrunde liegt, die weder die Ausrichtung des Menschen auf sein letztes Ziel noch seine Freiheit und Würde als Mensch achtet"59, oder die einen demokratischen Messianismus, Totalitarismus und Utopismus 60 vertritt. Dabei ist es interessant, daß auch in der Lehre der katholischen Kirche gleich dem politischen Sprachgebrauch bei der Auseinandersetzung mit der Demokratie nicht immer differenziert zwischen Staats- und Regierungsform und politischem System unterschieden wird; oft werden diese Begriffe verwechselt oder überschneidend verwendet. Dies ist aus dem Antwortcharakter der katholischen Soziallehre, die sich auf jeweilige Tendenzen bezieht, zu erklären. Mit der weiteren Entwicklung der Politik und auch der Möglichkeit der Demokratie wird sich die Einstellung der Kirche zur Demokratie weiterzuentwickeln haben, um im Sinne der Pastoralkonstitution Gaudium et spes die Kirche in der Welt von heute sein zu können, welche sich als solche um die Vermenschlichung der Politik bemüht, indem sie allen politischen Kräften - unabhängig von parteipolitischen Bindungen - den ethischen Maßstab für die Möglichkeiten und die Grenzen ihres Wollens gibt.

59 Über den Fortschritt der Völker, Die Entwicklungsenzyklika Papst Pauls VI. Populorum progressio, Freiburg i.Br. 1967, S.168; beachte dazu Wolfgang Waldstein, Die Enzyklika "Populorum progressio" und ihre marxistische Auslegung, in: Populorum progressio, hrsg. von Georg Prader, Wien 1968, S. 5lff.; und Herbert Schambeck, Populorum progressio und das Zweite Vaticanum, in: Soziale Verantwortung, Festschrift für Goetz Briefs, hrsg. von J. Broermann und Ph. Herder-Dorneich, Berlin 1968, S. 587ff., bes. S.606ff. 60 Vgl. Octogesima adveniens, Nr. 37.

Kirche und Demokratie Kennzeichen unserer Zeit sind nicht allein das durch die Technik und die Bevölkerungsentwicklung hervorgerufene Näherkommen und Zusammenrükken der Menschen, auch in ihrem Bewußtsein treten Veränderungen auf. Dachte der Einzelne früher getrennt in den Kategorien seines privaten, öffentlichen und religiösen Lebens, so sind heute hier weitgehende Annäherungen erfolgt. So hat der Einzelne auf dem Wege demokratischer Willensbildung den Staat neben der Sicherung auch zur Entfaltung seines privaten Lebens gerufen, und jeder spürt es ständig, wie sehr der persönliche Haushalt vom Staatshaushalt abhängig wird. Die Demokratisierung des Staates verbindet sich so mit der Tendenz wachsender Verstaatlichung des Einzelnen, das heißt, mit der Zunahme der Auswirkung des politischen Systems eines Staates auf die Persönlichkeit des Einzelnen. Das gleiche kann in bezug auf das religiöse Leben gesagt werden. Da die Kirche als Glaubensgemeinschaft auf die Erfassung des Einzelnen abgestellt ist, kommt es darauf an, daß sie den Menschen in seiner gesamten Entwicklung, d. h. auch einschließlich seines politischen Bewußtseins anspricht. Dieses politische Bewußtsein des Einzelnen wird in einem steigenden Maße von der Idee der Demokratie geprägt, die heute in einer nicht zu unterschätzenden Weise zum Gegenstand theoretisierender Betrachtungen gemacht wird. Dabei wird man an eine Feststellung Hegels in seinem Brief an Niethammer erinnert, in der er bemerkt: "Die theoretische Arbeit - überzeugte ich mich täglich mehr - bewegt mehr Zustände in der Welt als die praktische; ist das Reich der Vorstellungen revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus"!.

Die Kirche als Glaubensgemeinschaft ist zwar nicht aus dieser Welt stammend, aber in dieser Welt wirkend, daher kann ihr die Entwicklung des politischen Bewußtseins der Menschen, für die sie beauftragt ist, nicht gleichgültig sein. So wird auch die Kirche mit der Idee der Demokratie konfrontiert. Diese Konfrontation von Kirche und Demokratie kann eine zweifache sein: einmal, daß die aus dem weltlichen Bereich der Politik kommende Forderung nach Demokratisierung auch für das kirchliche Leben erhoben wird, ein andermal, daß die Kirche selbst im Bereich ihrer sozialethischen Verantwortung, nämlich in dem der christlichen Soziallehre, gegenüber der Demokratie als politi! Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Briefe I, S. 194 Jubil. Ausg.

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sches System Position bezieht und die Aufgaben des Einzelnen in der Demokratie artikuliert. Bevor diese beiden Fragen nach Demokratie und Kirche beantwortet werden, ist es erforderlich, beide Begriffe zu erklären. I. Der Kirchen- und Demokratiebegriff

Geht man von dem katholischen Kirchenverständnis aus, wird die Kirche als die auf Jesus Christus und seiner Erlösung beruhende Gemeinschaft des Glaubens verstanden. Die Kirche ist Ausdruck des "Corpus Christi Mysticum", sie ist die von Jesus Christus gestiftete Heilsgemeinschaft der Menschen, die in der Welt gegenwärtig ist. Das Wort Kirche leitet sich aus dem Wort ekklesia ab, was Versammlung bedeutet. Die Kirche ist danach die Versammlung, in die Gott einladet. So ist die Kirche schon im Sinne des Wortes ein Ausdruck des Anrufes Gottes an die Welt. Dieser Ruf in die ekklesia erging zunächst an sein Volk Israel und wurde hernach von seinen zwölf Aposteln in die ganze Welt hinausgetragen. Dieser Kirche überträgt er die Binde- und Lösegewalt auf Erden. "Was immer ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst werden" (Mt. 18,18).

So wie jede Gemeinschaft in ihrer für ihren Bestand erforderlichen Ordnung von einer Autorität getragen sein muß, kann dies auch von der Kirche und ihrer Verfassung gesagt werden. Sie beruht in ihrer Grundordnung nicht auf einem weltlichen Willen, auch nicht in dem Willen des Volkes, sondern in dem Stifterwillen Gottes, seiner Offenbarung und die darin geltend gemachte Ordnung der Kirche ist weder den Gläubigen noch ihren Hirten verfügbar, denn der Ursprung der Kirchengewalt ist nicht in der Mitte der Gläubigen, sondern in Gott gelegen, "er ist nicht von unten her demokratisch zu erklären, sondern von oben her, christokratisch"2. Die Vollmacht der Apostel und ihrer Nachfolger unterscheidet sich daher wesentlich von den Autoritäten, die außerkirchliche Ordnungen prägen. Sie ist "Teilnahme an der Vollmacht Jesu Christi" 3. Dieser Stiftungsursprung der Kirche beschränkt auch ihre Gewalt. Sie ist auf den religiösen und nicht auf den weltlichen Bereich bezogen. Die Souveränität der Kirche ist daher keine aus sich selbst begründete, sondern eine abgeleitete, das heißt vom Willen Jesu gestiftete, der sie in den Dienst des Anspruches seines Evangeliums an die Welt stellte und damit jeden "Positivis2 Georg May, Demokratisierung der Kirche - Möglichkeiten und Grenzen, Wien! München 1971, S. 27. 3 Heinrich Bacht, Nomos und Pneuma, Kritische Überlegungen zur Diskussion über Autorität und Freiheit in der Kirche, Stimmen der Zeit 1969, S. 102.

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mus des Selbstbetriebs"4, wie ihn der Staat bisweilen kennt, für die Kirche ausschließt; ist doch die Gewalt der Kirche immer eine stellvertretende Gewalt, da sie in ihrer Einsetzung und Ausübung auf Gott zurückweist. Dies unterscheidet die Kirche grundlegend von der Demokratie. Wie schon die Erklärung dieses aus dem Griechischen stammenden Wortes erkennen läßt, fußt die Demokratie auf der Idee der Herrschaft des Volkes 5 und begründet in ihrer Anwendung auf den Staat6 den Ursprung und die Ausübung seiner Gewalt im Willen des Volkes. Die Idee der Identität von Herrscher und Beherrschten drückt sich in ihr ebenso aus wie die Erfüllung des Wunsches nach Selbstbindung des Volkes. Diese Jahrhunderte lang das abendländische Denken in unterschiedlicher Sinngebung beeinflussende Idee wurde im 18. Jh. von Jean Jacques Rousseau in seinem Werk "Der Gesellschaftsvertrag" zu einer anfangs in Frankreich und dann über Europa hinaus weltbewegenden Theorie entwickelt?, die allerdings totalitäre Züge annahm8 • Nach Rousseau geht nämlich der Einzelne mit seinen Rechten und Ansprüchen insoferne unter, als er diese an das Volk abtritt; gegenüber diesem volonte generale genannten Gemeinwillen, der die Ausübung der Staatsgewalt bestimmt, hat der Einzelne keine Freiheitsrechte mehr, er hat sich unterzuordnen. In ihrer konsequenten Anwendung während der französischen Revolution hat diese Lehre Rousseaus zu einer Demokratisierung aller drei Staatsfunktionen, nicht allein der Gesetzgebung, sondern auch der Verwaltung und Gerichtsbarkeit geführt, wodurch sowohl die Rechtssetzung, als auch die Rechtsvollziehung demokratisiert und damit verpolitisiert wurden 9 • Denkt man etwa an die damals auch eingeführten sogenannten Volksgerichte, wird man an die Terrorherrschaft erinnert, welche diese Jakobinisierung lO der Staatsfunktionen bewirkte.

4 Joseph Ratzinger, Demokratisierung der Kirche?, in: Demokratie in der Kirche, von Joseph Ratzinger und Hans Maier, Limburg 1970, S. 21. 5 Siehe Hans Maier, Zur neueren Geschichte des Demokratiebegriffes, in: Theory and Politics, Theorie und Politik, Festschrift zum 70. Geburtstag von earl Joachim Friedrich, Haag 1971, S. 127ff. 6 Beachte Herbert Schambeck, Der Staat und die Demokratie, Festschrift für Karl R. Stadler zum 60. Geburtstag, Wien 1974, S. 419ff. 7 Dazu Max Imboden, Rousseau und die Demokratie, Recht und Staat, Heft 267, Tübingen 1963. 8 Siehe J. L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln und Opladen 1961 und derselbe, Politischer Messianismus, Köln und Opladen 1963. 9 Siehe zu diesem Problemkreis grundlegend Adolf Merkl, Demokratie und Verwaltung, Wien und Leipzig 1923 und Hans Kelsen, Demokratisierung der Verwaltung, in: Zeitschrift für Verwaltung 1921, S.5ff., Neudruck in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl und Alfred Nerduck hrsg. von Hans Klecatsky, Rene Marcic und Herbert Schambeck, 2. Bd. Wien/Salzburg 1968, S. 1581 ff. 10 Winfried Martini, Das Ende aller Sicherheit, Stuttgart 1955, S. 29ff., besonders S.42ff.

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Der Grund für diese durch die Theorie Rousseaus bewirkte Freiheitsgefährdung des Einzelnen lag darin, daß man seine Idee der Demokratie in ihrer plebiszitären, also direkt demokratischen Form ausführen wollte, ohne daß man sich bewußt war, daß diese von Rousseau nur für einen Kleinstaat von der Größe Korsikas ll , aber nicht für einen modernen Flächenstaat mit einer pluralistischen Gesellschaft gedacht war. Dazu kam noch, daß diese plebiszitäre Demokratie auf Grund ihrer totalen Demokratisierung auch keine Gewaltenteilung, wie sie schon Aristoteles 12 , John Locke 13 und Montesquieu 14 forderten, kannte und damit jede Kontrollmöglichkeit ausschaltete. Im Zuge der nachrevolutionären Zeit entwickelten sich aber, wie der Weg Frankreichs von der Jakobiner-, über die Direktorial- zur Konsul- und Kaiserverfassung zeigte, auch Formen des Repräsentativstaates, die aber nicht der Freiheit des Volkes dienten. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts gelang es in Auseinandersetzung mit der absoluten Monarchie, den Staat insofern zu konstitutionalisieren und zu demokratisieren, als eine Verfassung und ein Parlament geschaffen wurden, das den Weg von der Stände- zur Volksvertretung antrat und der Regierung des Monarchen gegenüber bestimmte Kontrollrechte ausübte, wodurch einerseits die Idee der Demokratie eine dem Großstaat angepaßte repräsentative Form annahm und durch Gewaltenteilung eine auch die Freiheitssicherung des Einzelnen einschließende Kontrolle eröffnete, die nach der Ausrufung der Republik weiterentwickelt wurde und zu der heutigen Form des demokratischen Rechtsstaates führte 15 • Sie ist das Ergebnis einer Symbiose von Demokratismus und Liberalismus 16 , in der einer der Größe des Staatgebietes und des Staatsvolkes angepaßten Weise das Vertrauen des Volkes in seine Amtsträger "nicht nur ideell, sondern auch real und institutionell gesichert werden kann" 17.

Der Liberalismus hat dem J akobinisierungseffekt der Demokratie durch seine Idee von der Gewaltenteilung und der Grundrechte auszugleichen verstanden und die Freiheit und Würde des Menschen in einer zeitangepaßten 11 Siehe lean lacques Rousseau, Contrat social, 10. Kapitel (Ausgabe H. Denhardt, Leipzig o.J.), S. 58. 12 Aristoteles, Politik IV, 1298a. 13 lohn Locke, Two Treatieses on Civil Government, 1690. 14 Montesquieu, De I'esprit des lois, 1748, X/2 und 3. 15 Dazu Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Berlin e. V., Heft 38, Berlin 1970. 16 Beachte Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie (Antinomie und Synthese), in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 107ff. und Adolf Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Demokratie und Rechtsstaat, S. 163ff. 17 Hans Maier, Vom Ghetto der Emanzipation, Kritik der "demokratischen" Kirche, in Ratzinger / Maier, a.a.O., S. 66.

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Form zu sichern gewußt. Die Lehre der Kirche von der dignitas humana, die ihren Grund in der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen hat 18 war daran insofern wesentlich beteiligt, als sich zwar die Repräsentanten der Kirche an dem Kampf gegen die absolute Monarchie nicht beteiligten, die Grundrechte dieses Verfassungsstaates aber nichts anderes als die Säkularisation uralten christlichen Gedankengutes waren. Die Demokratie wurde daher auf diesem Weg unter dem Einfluß der Lehre der Kirche vermenschlicht. Unbewußt und bisweilen auch ungewollt ist so der Einfluß der Kirche auf die Demokratie ausgegangen. Je mehr nach der Abschaffung der Monarchie und der' Ausuferung der Republiken das öffentliche Leben besonders im 20. Jahrhundert demokratisiert wurde, desto mehr wurde auch das politische Bewußtsein des Einzelnen und somit sein Ordnungsdenken demokratisiert. Es erhebt sich daher die Frage, wieweit der Einfluß der demokratischen Idee auch für die Kirche selbst von Bedeutung sein kann. 11. Demokratie in der Kirche

Vergleicht man Kirche und Demokratie, kann festgestellt werden, daß beide verschieden sind; diese Verschiedenheit liegt in ihrem Ursprung und Ziel. Die Kirche beruht auf dem Stifterwillen Gottes und nicht der Menschen, in das Evangelium einzuführen und auf das Jenseits vorzubereiten; die Demokratie findet hingegen ihren Grund im Willen des Volkes und sucht, diesen innerweltlich auszuführen. Während die Verwirklichung der Ziele der Demokratie durch menschliche Kräfte allein möglich ist, kann dies von der Kirche nicht behauptet werden; sie lebt aus der Verbundenheit mit Gott. Daher ist es für das Grundgefüge der Kirche bezeichnend, daß in ihr Institution und Charisma sowie Nomos und Pneuma verbunden sind. "Keines von beiden ist auf das andere zurückführbar , keines darf das andere verdrängen oder zum Schweigen bringen. In ihrem spannungsreichen Zusammenspiel garantieren sie der Kirche auf dem Gang durch die Jahrhunderte, daß weder Institution und Recht sie in starre Unbeweglichkeit führen, noch die Unberechenbarkeit des Charismas sie von einem Abenteuer ins andere stürzt" 19. Bewahrung, Tradierung und Verwirklichung des Wortes Gottes ist Aufgabe der Kirche, der damit ein für alle Male das Ziel ihres Handeins vorgegeben ist. Anders hingegen die Demokratie, von der Hans Kelsen in seiner Schrift "Vom 18 Siehe Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, Tübingen 1974, S. 221ff. und Alfred Verdross, Die Würde des Menschen und ihr völkerrechtlicher Schutz, Schriftenreihe der niederösterreichischen Juristischen Gesellschaft Heft 3, St. Pölten 1975. 19 Bacht. a.a.O., S.110.

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Wesen und Wert der Demokratie" selbst feststellt, daß sie "der Ausdruck eines politischen Relativismus ist"20, und im folgenden gleichsam beweisführend auf das 18. Kapitel des Johannesevangeliums verweist, nach dem Pilatus während des Osterfestes den Juden einen Verurteilten freigeben will und er sie fragt: "Wollt ihr nun, daß ich euch den König der Juden freigebe"; sie aber schrien: "Nicht diesen, sondern Barabbas". Und Kelsen selbst verweist darauf, daß der Chronist aber die Feststellung hinzufügt: "Barabbas war ein Räuber". Demokratie ist ihrem Wesen nach auch dadurch gekennzeichnet, daß ihr ein Wertpluralismus zugrundeliegt, der den in ihr zustandekommenden Entscheidungen einen relativistischen Charakter verleiht. Dieser der Demokratie eigene Relativismus ist in der Kirche unzulässig, da ihre Grundordnung und damit die Bedingung ihres Wollens und HandeIns durch Gott in Jesus Christus vorgegeben wurde; dies verpflichtet die Amtsträger der Kirche wie das Kirchenvolk. Die Unterscheidung von Amtsträger und Kirchenvolk ergibt sich aus dem Gesamtverständnis des Neuen Testaments, sind doch die Amtsträger von Christus beauftragt, das Evangelium zu predigen, die Sakramente zu spenden und die Kirche zu leiten, waren doch auch die Apostel schon mehr als bloße "primi inter pares"21; sie besaßen eine Leitungsgewalt, die sich auf die Päpste und ihre Bischöfe auf dem Wege apostolischer Sukzession fortsetzte. Auf diese Kirche kann die Idee der Demokratie nicht so ohne weiteres angewendet werden 22 , da die Grundverfassung der Kirche einer demokratischen Willensbildung des Kirchenvolkes nicht untersteht. Diese Unabhängigkeit der Verfassung und des Auftrags der Kirche vom Kirchenvolk soll aber nicht übersehen lassen, daß die Kirche mit ihren Amtsträgern ihren Auftrag nicht unabhängig vom Kirchenvolk, sondern nur innerhalb desselben erfüllen kann. Gerade das 11. Vaticanum hat in seiner dogmatischen Konstitution über die Kirche "Lumen gentium" diese Weite des Kirchenbegriffes dadurch verdeutlicht, daß sie die Kirche als das Volk Gottes in der Welt erklärte. Es betont, daß sich zwar das gemeinsame Priestertum der Gläubigen und das Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Priestertum dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach unterscheiden. Dennoch sind sie einander zugeordnet: das 20 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S.103. 21 Bacht, a.a.O., S. 110. 22 Beachte u. a. Demokratisierung der Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, ein Memorandum deutscher Katholiken, hrsg. vom Bensberger Kreis, Mainz 1970, S.10: "Auch ist bisher keine dieser gesellschaftlich-staatlichen Demokratien ganz zu sich selbst gekommen: Ausnahmslos sind sie in Demokratisierungsprozessen oder in gegenläufigen Prozessen begriffen; Schon deshalb eignen sie sich nicht ohne weiteres als Modell kirchlicher Demokratisierung" und siehe die Konfrontationen von Kirche und Staat bei Georg May, Demokratisierung der Kirche, Wien 1971 sowie Hans Urs von Balthasar, Der antirömische Affekt, wie läßt sich das Papsttum in der Gesamtkirche integrieren, Freiburg/Basel/Wien 1974.

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eine wie das andere nämlich nimmt ja auf besondere Weise am Priestertum Christi teil. Der Amtspriester nämlich bildet kraft seiner heiligen Gewalt, die er innehat, das priesterliche Volk heran und leitet es; er vollzieht in der Person das eucharistische Opfer und bringt es im Namen des ganzen Volkes dar; die Gläubigen hingegen wirken Kraft ihres königlichen Priestertums an der eucharistischen Darbringung mit und üben ihr Priestertum aus im Empfang der Sakramente, im Gebet, in der Danksagung, im Zeugnis eines heiligen Lebens, durch Selbstverleugnung und tätige Liebe"23. Ausdrücklich spricht das Konzil von dem heiligen und organisch verfaßten Wesen dieser priesterlichen Gemeinschaft24 und betont, daß dieses Gottesvolk in allen Völkern der Erde wohnt, "da es aus ihnen allen seine Bürger nimmt, Bürger eines Reiches, freilich nicht irdischer, sondern himmlischer Natur. Alle über den Erdkreis hin verstreuten Gläubigen stehen mit den übrigen im Hl. Geist in Gemeinschaft" und so weiß, um mit Johannes Chrysostomus25 zu sprechen, "der, welcher zu Rom wohnt, daß die Inder seine Glieder sind"26. Darin kommt eine Brüderlichkeit zum Ausdruck, die ihren Grund in der Vaterschaft Gottes hat. Das Kapitel über das Volk Gottes wird daher in der genannten dogmatischen Konstitution über die Kirche den Kapiteln, über die hierarchische Verfassung der Kirche und über die Laien vorangestellt und damit auch festgestellt: "Das heilige Gottesvolk nimmt auch Teil an dem prophetischen Amt Christi, in der Verbreitung seines lebendigen Zeugnisses vor allem durch ein Leben im Glauben und Liebe, in der Darbringung des Lobesopfers an Gott als Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen (vgl. Hebr. 13, 15). Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Jo. 2, 20 und 27), kann im Glauben nicht irren"27.

Kann aus dieser Sicht der Kirche als Volk Gottes in der Welt die Forderung nach Demokratie in der Kirche im Sinne von Demokratisierung der Kirche erhoben werden28 ? Diese Frage wird zu verneinen sein, da Jesus Christus seinen Aposteln und über diese ihren Nachfolgern eine Autorität verliehen hat, ist diese von einer Abstimmung der Gemeinde unabhängig; das soll aber nicht heißen, daß diese Autorität sich nicht um die Bezogenheit mit der Gemeinde bemühen und diese ausdrücken soll. So erklärt das Gutachten, das dem Holländischen Pastoralkonzil vorgelegt wurde und den Titel trägt "Autoritätsauffassungen und Autoritätserlebnis": 23 Lumen gentium Nr.lO, Karl Rahner / Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 2. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 1966, S.134f. 24 Rahner / Vorgrimler, a.a.O., S.135 25 Jo. Horn 65,1. PG 59, 361. 26 Rahner / Vorgrimler, a.a.O., S.138. 27 Rahner / Vorgrimler, a.a.O., S.136. 28 Dazu auch WilU KreiterUng, Katholische Kirche und Demokratie, Frankfurt am Main 1960 und Alexander Dordett, Kirche zwischen Hierarchie und Demokratie 1974.

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Kirche und Demokratie "Das Gebot der Stunde heißt daher: Die Autorität muß sich öffnen und sich der Diskussion stellen. Recht gehandhabte kirchliche Autorität bedarf keiner Rechtfertigung, sie kommt aus dem Wort, an das man selbst glaubt und führt zu der Tat, die durch ihren Wert für sich selber spricht"29.

Das heißt, daß der jeweilige Amtsträger in der Ausübung seiner Autorität sich seiner Bezogenheit auf die ihm anvertraute Gemeinde besonders bewußt sein soll, also der Papst auf die Weltkirche, der Bischof auf seine Diözese und der Pfarrer auf seine Gemeinde; eine doppelte Repräsentation begegnet sich hier in der Kirche: die Repräsentation Christi und die Repräsentation der Gläubigen 30. In dieser Weise bestand schon in der urchristlichen ekklesia der Antike ein Nebeneinander von beschließender Körperschaft und anwesender Öffentlichkeit in einer Volksversammlung, und die Apostelgeschichte berichtet unter anderem, daß das Apostelkonzil zwar vor der Öffentlichkeit der ganzen ekklesia stattfand, Entscheidungsträger waren aber allein die "Apostel und Presbyter"3!. Dieser Hinweis auf die Apostelgeschichte zeigt deutlich, daß schon in der Urkirche Autoritäten bestanden und anerkannt waren. Diese Autoritäten schließen aber die freie Mitverantwortung nicht aus, sie sind, wie Heinrich Bacht schon erklärte: "ergänzende Größen. Autorität, die die Freiheit der Untergebenen nicht respektiert, ist Tyrannei: Freiheit, die die vorgegebene Autorität nicht achtet, ist Anarchie"32. Welche Möglichkeiten für eine derartige Mitverantwortung eröffnen sich dazu heute in der Kirche? Wie jede Autoritätsstruktur33 der Natur der jeweiligen Ordnung anzupassen ist, muß dies auch in bezug auf die Mitverantwortung in der Kirche gesagt werden. So werden Autorität und Mitverantwortung in Familie, Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Schule und Hochschule, Krankenhaus und auch in der Kirche jeweils anders strukturiert und fundiert sein. Harry Hoefnagels meint: "Die Demokratie in der Kirche kann nicht bedeuten, daß das Volk die durch Gott selbst über seine Kirche ausgeübte Autorität übernimmt, sondern nur, daß das Kirchenvolk an der Führung der Kirche als der die Unterwerfung unter Gottes Willen wollenden Vergemeinschaftung aktiv beteiligt ist"34.

Diese Mitverantwortung ist ja schon deshalb erforderlich, damit das Charisma sich Zugang zur Kirche verschaffen und sich entfalten kann. Das Amt ist in diesem Sinne auch "als Dienst am freien Charisma"35 zu verstehen. 29 Stimmen der Zeit 1968, S. 190f. Dogmatische Konstitution über die Kirche, Art. 19, 21, 27 und Dekret über Dienst und Leben der Priester Art. 2, 5. 3! Apg. 15, 6 und 15, 22. 32 Bacht, a.a.O., S. 107. 33 Siehe über Autorität allgemein J. M. Bochenski, Was ist Autorität? Einführung in die Logik der Autorität, Freiburg im Breisgau 1974. 34 Harry Hoefnagels, Demokratisierung der kirchlichen Autorität, Wien/Freiburgl Basel 1969, S. 87. 30

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Jeder Autoritätsträger befindet sich in der Kirche in dienender Funktion. Es sollte daher schon bei den Bestellungen von Amtsträgern insofern deutlich werden, daß diese immer unter einem orts- und gesamtkirchlichen Aspekt erfolgen und niemals unter derartig ausschließlichen Erwägungen von oben, daß kein Einvernehmen mit den unmittelbar Betroffenen, nämlich der entsprechenden Gemeinde hergestellt wird; muß doch auch bei der Übertragung von Ämtern zwischen der Bezeichnung der Person und der Übertragung der Gewalt unterschieden werden; an erstgenanntem Vorgang könnte eine demokratische Mitverantwortung auch in der Kirche einsetzen. Die letzte Entscheidung verbleibe trotzdem weiter bei der übergeordneten Autorität, welche die Amtsgewalt übertragen und dabei die Eignung und Würdigkeit überprüfen muß, die dem Stiftungswillen Christi zu entsprechen hat, denn "die Kirchengewalt ist wohl zu Volkes Diensten, nicht aber von Volkes Gnaden"36. Es sollte daher ein Weg der Ämterbestellung beschritten werden, der ebenso wenig nur von oben wie nur von unten erfolgt, ist doch die Kirche in der Ausführung ihres Stifterwillens unter Ausschluß der Willkür auf die Zuordnung aller getauften Christen abgestellt. So verlangt schon der Gottesdienst als Erstform der Kirche die Versammlung der Gläubigen und das Evangelium kann nur in der Gemeinschaft verwirklicht werden und jede Gemeinde kann nur als ein Teil der Gesamtkirche bestehen, der in ihrem Bereich eine Eigenverantwortung zukommt. Die Mitverantwortung in der Kirche könnte neben der einvernehmlichen Ämterbesetzung ihren Ausdruck in beratenden Gremien auf allen Ebenen der Kirche von der Pfarre bis zum Papst finden 37 ; in dieser Sicht könnte die Forderung nach sogenannter Demokratisierung der Kirche ihre Entsprechung auch im synodalen Prinzip finden. Anerkennt doch auch das 11. Vatikanum in der Nr. 36 der Pastoralkonstitution die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et Karl Rahner, Demokratie in der Kirche? Stimmen der Zeit 1968, S. 3. May, a.a.O., S. 31. 37 Beachte Johannes Neumann, Synodales Prinzip, der größere Spielraum im Kirchenrecht, Freiburg/Basel/Wien 1973, S. 55f.: "So gesehen, ist auch diese Ausweitung des synodalen Systems bis in die Einzelgemeinde nichts ungewöhnlich Neues, sondern nur die heute von der Sache geforderte und konsequente Anwendung des traditionellen Grundsatzes der Brüderlichkeit auch im Bereich der einzelnen Gemeinde. Durch eine solche Teilhabe der Repräsentanten der Gemeinde oder der Teilkirche an der Information wird jedoch weder die Bedeutung des amtlichen Dienstes und seine unaufhebbare Verantwortung in der Kirche geschmälert, noch wird das Amt abhängig gemacht vorn Willen der Mehrheit - wo allerdings versucht würde, einfach den Willen einer (zufälligen) Abstimmungsmehrheit zur Norm für das Handeln der kirchlichen Amtsträger zu machen, würde nicht nur der Boden der kirchlichen Tradition verlassen, sondern auch das Wesen und das (evangelische) Selbstverständnis der Kirche in Frage gestellt ... Diese konsultative Mitwirkung meint nicht, Mitbestimmung im heutigen Sinn, sondern Teilhabe an der Mitverantwortung der gesamten Kirche"; beachte dazu die von Neumann, a.a.O., S.105, Anm.66 angeführten postkonziliaren Gesetze und Verordnungen, besonders auch die Apostolische Konstitution Papst Paul VI. "Regimini Ecclesiae" vom 15.8.1967 zur Neuordnung der Römischen Kurie (AAS 59 [1967] 885 - 928). 3S

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spes" die "richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeiten"38 und damit auch die Bedeutung des Eigenwertes wissenschaftlicher Erkenntnisse, die der Kirche zu vermitteln sind. Je komplizierter unser soziales Leben wird, desto dringender wird sich die Notwendigkeit zur Bildung derartiger beratender Gremien für die Ausübung des Lehr- und Hirtenamtes der Kirche ergeben; denn die Richtigkeit einer moralischen Wertung durch die Autoritätsträger der Kirche setzt deren Sacheinsicht und damit deren Sachverständnis voraus, ohne daß ihnen die Verantwortung für ihr moralisches Urteil abgenommen werden kann und soll. Es wird noch genau zu prüfen sein, in welchen Bereichen und Formen eine tätige Mitverantwortung in der Kirche von Laien gegenüber dem Priester und von Priestern gegenüber höheren Autoritätsträgern in der Kirche möglich ist39 . Schon heute läßt sich sagen, daß es dabei zwei Extreme abzugrenzen gilt: auf der einen Seite wird eine volle Demokratisierung der Mitverantwortung in der Kirche derart, daß über Glaubenssätze abgestimmt und deren Änderung beschlossen wird, nicht möglich sein; insoferne besitzt die Kirche eine absolut starre Verfassung, aber andererseits sollte man die Weihegewalt der Kirche nicht auf jede Angelegenheit der Kirche erstrecken4(). So stellte schon Hans Maier fest: "Die Regierung eines Bistums ist sicher ein Akt geistlicher Gewalt. Es wäre undenkbar, daß ein Laie das täte. Kirchliche Amtsverantwortung ist gebunden an die Weihe, an das Amt im eigentlichen Sinn. Aber diese heilige Gewalt ist nicht vonnöten für die kirchlichen Finanzen, für Dinge der kirchlichen Caritas, für kirchliche Soziallehre und Sozialpolitik, für das Presse- und Nachrichtenwesen"41.

In diesem Sinne könnten mehr als bisher in diesen Bereichen der Kirche auch Laien herangezogen werden und den Klerus für seine eigentlichen seelsorglichen Aufgaben entlasten42 • Rahner / Vorgrimler, a.a.O., S. 482. Beachte Hans Dombois, Hierarchie - Grund und Grenze einer umstrittenen Struktur, Freiburg/BasellWien 1971. 40 Siehe auch lose! Pieper, Entsakralisierung?, Zürich 1970. 41 Maier, in: Ratzinger / Maier, a.a.O., S. 75. 42 Maier, a.a.O., S.75: "Ich würde also eine zweifache Richtung sehen, in der sich ein Prozeß der Demokratisierung sinnvoll entwickeln könnte: einmal eine deutliche Scheidung der bis jetzt noch einheitlichen Gewalt der Gesetzgebung, der Exekutive, der Judikative (Stichwort: kirchliche Verwaltungsgerichte unabhängig von der Exekutive - Hineinwachsen der Laien in die Teilhabe an der kirchlichen Gesetzgebung), und zum anderen eine deutliche Scheidung zwischen der heiligen Gewalt, die unaufhebbar ist und mit dem Stiftungscharakter zusammenhängt, und jeder anderen politischen Gewalt in der Kirche. Am weitesten ist der Prozeß der ,Demokratisierung' wohl im Bereich der sogenannten Räte vorangeschritten. Die ,Synodalisierung' auf Pfarrei-, Dekanats- und Diözesanebene ist in vollem Gang", dazu siehe näher Klaus Mörsdorf, Das synodale Element der Kirchenverfassung, in: Volk Gottes Festschrift für Joseph Höffner, Freiburg/BasellWien 1967, S. 568ff. undlohannes Neumann, Synodales Prinzip: sowie derselbe, Menschenrechte auch in der Kirche? Zürich 1976. 38

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Eine dem Wesen der Kirche entsprechende Form der Demokratisierung der Kirche würde daher nicht allein zur Mehrung des Verantwortungsdenkens in der Kirche, sondern auch zu einer Konzentration des Klerus auf seine eigentlichen Aufgaben führen 43, auf die er zeitgemäß vorzubereiten wäre. Voraussetzung dafür ist aber, daß bei den Bemühungen um eine Demokratisierung der Kirche der für das gesamte abendländische Denken grundlegende Unterschied von Politischem und Nichtpolitischem nicht außer acht gelassen wird und die Formen der politischen Demokratisierung, die im Staat zu gegensätzlichen Parteiungen führen und auf die Vertretung und den Ausgleich entgegengesetzter Interessen und Anliegen gerichtet sind, auf den Bereich der Kirche, die sich nicht um eine politische Willensbildung, sondern um eine religiöse Heilsfindung des Einzelnen bemüht, wesensfremd übertragen werden44 • Viele Probleme, wie etwa die einer entsprechenden Laienrepräsentation, gilt es noch zu lösen. Neben diesen Bemühungen um eine sachgerechte Demokratie in der Kirche im Sinne einer Mehrung mitverantwortlichen Denkens, ist jenes Bemühen der Kirche um die Demokratisierung zu unterscheiden, in dem sich die Kirche im Rahmen ihrer Soziallehre mit dem sittlichen Auftrag der Demokratie als politischem System beschäftigt45 • 111. Die Einstellung der Kirche zur Demokratie

Die Kirche hat den politischen Systemen und Staatsformen gegenüber stets eine neutrale Haltung bewahrt und keinen Widerstand gegen sie geleistet, solange sie nicht das Gemeinwohl und die Grundrechte der Menschen verletzten 46 • Die Kirche hat dabei jede Evolution einer Revolution 47 vorgezogen und 43 Siehe Demokratisierung der Kirche, S. 15: "Rasche Reformen der übergreifenden Institutionen, des kirchlichen Rechtskanons, der theologischen Fakultäten, der Theologenausbildung und anderer Grundstrukturen der Kirche sind in der Richtung der Demokratisierung dringend nötig." 44 So auch Demokratisierung der Kirche, S.20: "Ebensowenig wie seit Konstantin die Antike, später die mittelalterliche Ordnungsstruktur die Kirche in ihrer Gemeinsamkeit geprägt hat, vielmehr auch durch Strukturelemente durchbrochen wurde, die auf Grund des Evangeliums und der Wirkung des Heiligen Geistes quer zur üblichen und geltenden Ordnung standen, ebensowenig läßt sich ein irgendwie geartetes liberales oder sozialistisches Demokratieverständnis, unmittelbar auf die Kirche übertragen"; beachte auch KarZ Rahner, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, 3. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 1973, bes. S.127ff. 4S Siehe etwa die päpstlichen Rundschreiben "Diuturnum illud", 1881, "Immortale Dei", 1885 und "Sapientiae christianae", 1890 abgedruckt in: Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, hrsg. von Emil Marmy, Freiburg 1945, S. 553ff., 71ff. und 603ff. 46 Beachte die Entwicklungsenzyklika Papst Paul VI., Populorum progressio N r. 31, Freiburg im Breisgau 1967, S. 163: "Trotzdem: Jeder revolutionäre Aufstand - ausgenommen im Fall der eindeutigen und lange dauernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes schwer schadet zeugt neues Unrecht, bringt neue Störungen des Gleichgewichts mit sich, ruft neue Zer-

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diese nur als ultima ratio für den Fall für zulässig erklärt, daß sie imstande ist, die bestehende schlechte öffentliche Ordnung durch eine neue, bessere öffentliche Ordnung unmittelbar zu ersetzen. Da die Demokratie durch Jahrhunderte hindurch meist in revolutionärer Weise und in Ablehnung gegen die Staatsform der Monarchie, welche die Kirche in ihrem Sendungsauftrag - meist nicht uneigennützig - unterstützte, auftrat, fand sie eine schon zur Geschichte gewordene Ablehnung durch die Kirche 48 . Dazu kommt noch, daß die Demokratie von einigen charismatisch, nämlich geradezu als Religionsersatz, auJgefaßt und revolutionär gegen das Bündnis von Thron und Altar vertreten wurde. Sie forderten eine Trennung von Kirche und Staat, welche von der Kirche damals abgelehnt wurde 49 , da es ein Stadium eines langen, gegen die Kirche seit dem Mittelalter gerichteten Prozesses der Säkularisation warso. Je mehr aber die Kirche auf Distanz zu dem als Hemmschuh der Entwicklung des öffentlichen Lebens empfundenen Absolutismus und der noch vom Mittelalter übernommenen Feudalordnung ging, desto mehr öffnete sie sich zum Gespräch mit den Anliegen der Demokratie. Im Hinblick auf das in der Demokratie mögliche Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, das in der Idee von der Identität von Herrscher und Beherrschten mit enthalten ist, hätte gerade der Katholizismus offen für die Demokratie sein können. Diese Entwicklung setzt aber erst ein, als der Demokratismus sich mit dem Liberalismus auf dem Weg zum Verfassungsstaat S1 und damit zum RechtsstaatS2 vereinteS3 und so die politische Freiheit des Einzelnens4 eine neue Prägung erhielt, welche der christlichen Lehre von der dignitas humana mehr entsprach als das politische "Hintersaßenverhältnis" unter autoritären und absolutistischen Staatsformen. Diese Konstitutionalisierung und Demokratisierung des Staates zum demokratischen Verfassungs- und Rechtsstaat war durch eine allmähliche Demokratisierung des Wahlrechtess5, der StaatswillensbildungS6 , die Bindung ruttungen hervor. Man darf ein Übel nicht mit einem noch größeren Übel vertreiben"; dazu siehe die von Papst PaulVI. am 23. August 1968 in Bogota gehaltene Ansprache, Kathpress Dokumentation, Papstreden in Bogota, S.15f. sowie Herbert Schambeck, Populorum progressio und das Zweite Vaticanum, in: Soziale Verantwortung, Festschrift für Goetz Briefs, Berlin 1968, S. 604ff. 47 Hans Maier, Revolution und Kirche, 2. Aufl., Freiburg 1965. 48 Siehe Hans Maier, Kirche und Gesellschaft, München 1972, bes. S.84ff. 49 Vgl. etwa die päpstlichen Rundschreiben "Mirari vos" 1832 und "Quanta cura" 1864, abgedruckt bei Marmy, a.a.O., S.15ff. und 33ff. 50 Waldemar Besson, Die christlichen Kirchen und die modeme Demokratie in: Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte, hrsg. von Walther Peter Fuchs, Stuttgart 1966, S.202. 51 Siehe Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1953. 52 Beachte Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates. 53 Dazu Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie, in Demokratie und Rechtsstaat, S.107. 54 Hierzu Adolf Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Demokratie und Rechtsstaat, S. 163 ff.

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der Vollziehung an die GesetzeS?, die Justizmäßigkeit der VerwaltungS8 , die Entwicklung der Gerichtsbarkeit öffentlichen RechtsS9 , die Rechnungs- und Gebarungskontrolle60 und letztlich durch die Amtshaftung61 gekennzeichnet62 • Allmählich wurde im Laufe des 19. und später deutlicher im 20. Jahrhundert jene oft auch harte Auseinandersetzung beendet, von welcher Jacques Maritain schrieb: "Infolge der blinden Logik der geschichtlichen Auseinandersetzungen und des mechanisch wirksamen Massenbewußtseins - einer Logik, die mit der Logik des Denkens nichts zu tun hat - war es möglich, daß die führenden Kräfte der modemen Demokratie ein Jahrhundert hindurch im Namen der Freiheit das Evangelium und das Christentum ablehnten, während die führenden Kräfte der christlich sozialen Kreise ein Jahrhundert hindurch im Namen der Religion die demokratischen Bestrebungen bekämpften"63.

In dieser Zeit allmählicher Öffnung des Katholizismus für die Demokratie entstand dort eine christliche Demokratie, "wo sich die Absicht des politischen und sozialen Katholizismus mit einer geschichtsphilosophischen Konzeption trifft, die in der Demokratie nicht nur die providentielle Staats- und Gesellschaftsform des christlichen Zeitalters, sondern auch die sicherste Bürg55 Siehe z. B. hinsichtlich der allgemeinen Entwicklung des Wahlrechtes immer noch am informativsten Karl Braunias, Das parlamentarische Wahlrecht, 2Bde., Berlin und Leipzig 1932 und speziell für Österreich Herbert Schambeck, Die Entwicklung des österreichischen Wahlrechtes, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Tübingen 1973, S. 247ff. 56 Dazu näher Kurt Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus, Köln/Berlin 1967. 57 Dazu Dietrich fesch, Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl. 1968 und Hans Klecatsky, Der Verwaltungsgerichtshof und das Gesetz, in: 90 Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich, Wien 1966, S. 46ff. 58 Siehe dazu vor allem Friedrich Tezner, Das österreichische Administrativverfahren, 2. Aufl., Wien 1925. 59 Dazu vor allem Felix Ermacora, Der Verfassungsgerichtshof, Graz/Wien/Köln 1956 sowie Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit - Fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof in Österreich, hrsg. Felix Ermacora / Hans Klecatsky / Rene Marcic, Frankfurt/Salzburg 1968, Kurt Ringhofer, Der Verwaltungsgerichtshof, Graz/Wien/Köln 1955 und Friedrich Dolp, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, Wien 1972. 60 Vgl. Rudolf Hoenig, Der österreichische Rechnungshof, Wien 1951; 100 Jahre Rechnungshof, Wien 1961 und Herbert Schambeck, Österreichs Wirtschaftsstaat und seine Kontrolle, Österreichische Juristenzeitung 1971, S. 589ff. 61 Siehe Edwin Loebenstein und Gustav Kaniak, Kommentar zum Amtshaftungsgesetz, Wien 1951 und 1957 sowie Hans Spanner, Haftung des Staates für rechtswidriges Verhalten seiner Organe (Österreich), in: Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, 1967, S. 505 ff. 62 Siehe diesbezüglich auch Leopold Werner, Österreichs Weg zum Rechtsstaat, in: Juristische Blätter 1948, S. 120ff.; Hans Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, Wien/Freiburg/Basel1967 und Herbert Schambeck, Vorn Sinnwandel des Rechtsstaates, S. 19ff. 63 facques Maritain, Christianisme et democratie, New York 1943, deutsch von Franz Schmal, Christentum und Demokratie, Augsburg 1949, S. 26. 6*

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schaft für die Freiheiten der Kirche sieht"64. In diesem Zusammenhang sei auf die democratie chretienne der Revolution von 1848 in Frankreich und nach 1891 auch in Belgien und Italien verwiesen. Es seien im französischen Katholizismus65 Lamennais66 und Lacordaire67 genannt. Auch in der Lehre der Päpste zeichnete sich ein Wandel ab, so erklärte Papst Leo XIII. 1885 in der Enzyklika Immortale Dei: "Wenn das Volk in mehr oder minder großem Umfang an der Ausübung der Staatsgewalt beteiligt ist, ist das an sich nicht zu tadeln, ja eine solche Teilnahme kann in bestimmten Zeiten und unter bestimmten Gesetzen nicht nur zum Nutzen der Bürger beitragen, sondern geradezu zu ihren Pflichten gehören"68,

und 1888 bemerkt er in seiner Enzyklika Libertas praestantissimum: "Auch ist es keine Pflichtverletzung, eine Staatsverfassung anzustreben, die durch eine Volksvertretung gemäßigt ist"69.

Den Begriff "democratia christiana" verwendet Papst LeoXIII. erstmals 1901 in seiner Enzyklika Graves de Communi07o • Als nach Beendigung des ersten Weltkrieges auch im Zusammenhang mit der Ausrufung von Republiken die Demokratisierung der Staatsformen und politischen Systeme wuchs, nahm nicht zuletzt aus pastoralen Gründen die Bedeutung der Demokratie in der Lehre der Päpste zu. Am deutlichsten hat sich geradezu empfehlend Papst Pius XII. mit dem Anliegen der Demokratie in seiner Weihnachtsansprache 1944 auseinandergesetzt; er betont, daß es angesichts der damaligen Verletzungen der Menschenrechte und des Gemeinwohls nicht zu verwundern sei, wenn sich die Menschen von der Idee der Demokratie angesprochen fühlen 71. Papst Pius XII. hatte bei dieser Gelegenheit gleichsam einen Sittenspiegel der Demokratie entfaltet. Am 10. März 1948 erklärte Papst Pius XII. sogar später: "Unter den gegenwärtigen Umständen ist es strenge Pflicht aller Männer und Frauen, die das Recht haben, an der Wahl teilzunehmen. Wer sich davon fernhält, besonders aus Trägheit oder Feigheit, begeht an sich eine schwere Sünde, lädt eine tödliche Schuld auf sich"72. 64 Hans Maier, Revolution und Kirche, S. 32. 65 Dazu Maier, a.a.O., besonders S.259f., 268f., 272ff. und 303ff. 66 F. de Lamennais, Essai sur l'indifference en matiere de religion, Paris 1836/37 und derselbe, Defense de I'Essai, Paris 1818, dazu Maier, a.a.O., S. 164ff. 67 Hiezu Maier, a.a.O., S. 215ff. und S. 231ff. 68 AAS XVIII, 1885, S.174. 69 Vgl. Marmy, a.a.O., S.ll5. 70 AAS XXXIII 1900 - 1901, S. 385ff. 71 Arthur-Fridolin Utz / Joseph-Fulko Graner, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens (Soziale Summe PiusXII) 11, Freiburg/Schweiz 1954, S. 2102f. 72 Utz I Groner, a.a.O., S. 1408f.

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Am 13. Dezember 1950 fügte dem Papst PiusXII. noch hinzu: "Wer in unseren Tagen berufen ist, beim Werk der Gesetzgebung mitzuarbeiten, übernimmt damit zugleich eine Aufgabe, von der oft Leben und Tod, Zufriedenheit oder Verbitterung, Fortschritt oder Verfall von unzähligen Menschen abhängt. Vorn Augenblick an, wo sie ihren Stimmzettel in die Urne werfen, legen Tausende von Wählern ihr Schicksal in seine Hände. Für die Dauer der Legislaturperiode hängt ihr Glück oder Unglück, ihr wirtschaftliches, soziales, kulturelles und geistiges Wohl mehr oder weniger endgültig vorn Ja oder Nein einer Stimme ab, die Ihr den Gesetzesvorschlägen gebt, welche den Gegenstand Eurer Erörterungen und Überlegungen bilden"73.

Auch die Nachfolger Papst PiusXII. haben sich in positiven Äußerungen mit den Notwendigkeiten der Demokratie auseinandergesetzt. Papst Johannes XXIII. legte am 11. April 1963 in seiner Friedensenzyklika Pacem in terris ein Bekenntnis zur Demokratie ab74 und hat diese mit einer systematischen Darlegung der Grundrechte des Menschen verbunden. Diesen umfassenden Grundrechtskatalog (Nr. 11 - 27) stellte er in engen Zusammenhang mit den Pflichten der Staatsbürger (Nr. 28 - 45). Papst Paul VI. hat wieder in seiner Enzyklika "Ecc1esiam suam" die Eigenschaften, aber auch die Grenzen angegeben, die für den Dialog, der Voraussetzung jeder Demokratie ist, bestimmend sind75 • In dieser Weise steht die Lehre Papst Paul VI. im Zusammenhang mit dem II. Vatikanischen Konzil, das besonders in der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" über die Kirche in der Welt von heute, einen deutlichen positiven Bezug zur Demokratie nimmt: "Anerkennung verdient das Vorgehen jener Nationen, in denen ein möglichst großer Teil der Bürger in echter Freiheit am Gemeinwesen beteiligt ist"76.

Diese Anerkennung der Demokratie in der Lehre der katholischen Kirche stellt keine Abkehr von ihrer traditionellen Einstellung des Neutralismus gegenüber den Staatsformen dar; es ist vielmehr eine zeitbedingte Modifikation dieser Position, da das politische System der Demokratie sowohl in einer Staatsform der Monarchie als auch der Republik verwirklicht werden kann. Es läßt sich daher heute feststellen, daß die Kirche heute jede Staatsform anerkennt, ausgenommen die absolutistische Monarchie und die autoritäre Republik, sofern sie die Menschenrechte des Einzelnen und das Gemeinwohl nicht verletzt. Damit hat die Kirche aber selbst keinen allzu großen Raum empfehlungslos gelassen, da sie seit Jahrhunderten, nämlich seit Ambrosius, neben der Individualmoral eine eigene Sozialmoral vertritt, die sich später zu einer eigenen katholischen Soziallehre entwickelte. Utz / Groner, a.a.O., S.1793f. Arthur-Fridolin Utz, Die Friedensenzyklika Papst JohannesXXIII, Freiburg im Breisgau 1963, bes. S. 103. 75 Papst Paul VI., Enzyklika Ecclesiam Suam 1964, Nr. 76. 76 Rahner / Vorgrimler, a.a.O., S.478. 73

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Die kathoLische SoziaLLehre 77 ist eine seit Ambrosius von der katholischen Kirche entwickelte Lehre von der sozialen Ordnung in Staat und Gesellschaft, der es vor allem um die Wahrung der Freiheit und Würde des Menschen geht und dazu eine Reihe von Grundsätzen entwickelt hat, die als Sozialgestaltungsempfehlungen zeit- und ortsorientiert jeweils weiterzuentwickeln sind.

Die Lehre der katholischen Kirche von der Freiheit und Würde des Menschen, der dignitas humana, kann heute rückblickend als ein Teil der Entwicklung der Grundrechte 78 bezeichnet werden und hat zur Humanisierung der Rechts- und Staatsordnung79 überhaupt beigetragen. Dabei hat die katholische Kirche durch ihre Lehre von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen, der Imago Dei-Lehre, die Würde des Menschen metaphysisch begründet und einen Anstoß zu einer Rangordnung der Werte gegeben, in welcher mit einer zunehmenden Anerkennung der Mensch an der Spitze der Bemühungen um eine gerechte Sozialordnung auch der pluralistischen Gesellschaft in der technisierten Industriegesellschaft stehtso. Dies zeigt sich in dem Bemühen um eine Neukodifikation der Menschrechte im innerstaatlichen Bereich8! wie in dem Postulat von Menschenrechten im Bereich des Europarates82 oder weltweit der UN083. Diese feststellbare Erweiterung 77 Dazu siehe zur grundlegenden Problematik Karl Rahner, Die gesellschaftskritische Funktion der Kirche, in: derselbe, Schriften zur Theologie Band IX, Einsiedeln/ Zürich/Köln 1967, S. 569ff. und Fortschritt wohin zum Problem der Norrnenfindung in der pluralen Gesellschaft, hrsg. von WilU Oelmüller, Düsseldorf 1972 sowie zu den Grundsätzen und dem System der katholischen Soziallehre Gustav Gundlach, Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, 2 Bände, Köln 1964; Joseph Hö!fner, Christliche Gesellschaftslehre, Kevelaer Rheinland 1962; derselbe, Die katholische Soziallehre gestern und heute, ihre Dynamik und Herausforderung, Bonn 1975; Franz Klüber, Katholische Gesellschaftslehre, Geschichte und System, Osnabrück 1968; Johannes Messner, Die soziale Frage, 7. Aufl., Innsbruck/Wien/München 1964 - derselbe, Das Naturrecht, 5. Auflage, Innsbruck/Wien/München 1966; derselbe, Ethik und Gesellschaft, Köln 1975; Nikolaus Monzel, Katholische Soziallehre, 2 Bände, Köln 1965 und 1967; Emil Muhler, Die Soziallehre der Päpste, 2. Auflage, München 1958; Oswald von Nell-Breuning, Wirtschaft und Gesellschaft heute, 3 Bände, Freiburg 1956ff.; derselbe, Baugesetze der Gesellschaft, Freiburg 1968; derselbe, Wie sozial ist die Kirche, Düsseldorf 1972 sowie Katholisches Soziallexikon, Schriftleitung Al/red Klose, Innsbruck/ Wien/München 1964. 78 Siehe Al/red Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Auflage Wien 1963 und derselbe, Die Würde des Menschen und ihr völkerrechtlicher Schutz. 79 Vgl. dazu Der Einfluß des katholischen Denkens auf das positive Recht hrsg. von Theodor Tomandl, Wien 1970. 80 Beachte Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, und Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner, Berlin 1976, S.445ff. 81 Siehe für Österreich Peter Pernthaler, Die Grundrechtsreform in Österreich, Archiv des öffentlichen Rechts 1969, S. 31ff. 82 Siehe dazu die Übersicht bei Felix Ermacora (Hrsg.), Internationale Dokumente zum Menschenrechtsschutz, Stuttgart 1971, S. 94ff.

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des Grundrechtsschutzes ergibt sich sowohl aus seiner Internationalisierung als auch aus vielen sachlichen Notwendigkeiten. Die Menschenwürde ist so ein Wirkungsgrund geworden, der sich neben den sogenannten klassischen, nämlich den liberalen und demokratischen Grundrechten, auch auf die sozialen Grundrechte bezieht84 . Die Grundrechte sind damit zu einem Bestimmungsgrund staatlichen Wo liens geworden, der sich auf ein Tun als auch ein Unterlassen des Staates und damit auf eine Freiheit im, vom und durch den Staat bezieht. Diese Erweiterung der Objekte des Grundrechtsschutzes verlangt heute eine ihr angepaßte Auswahl der entsprechenden Grundrechtsform, damit nicht das ihnen gemeinsame Menschenbild verloren geht. Hier zeigt sich auch wieder einmal die Problematik der Beziehung von Freiheit und Sicherheit. Die Technisierung des Lebens hat aber gezeigt, daß wirtschaftliches Wachstum, soziale Sicherheit und kultureller Fortschritt umsonst erreicht werden, wenn sie nicht der Einzelne als physisch und psychisch gesunder Mensch erleben kann. Damit erweist sich der Umweltschutz 85 und die auf ihn gerichteten existentiellen Grundrechte als erster und letzter Grund aller Grundrechtsentwicklung überhaupt. In dieser Entfaltung der Lehre von den Grundrechten zeigt sich die christliche Lehre von der Menschenwürde als der heute immer deutlicher werdende Wirkgrund der Rechtsentwicklung, der aber ebensooft durch die Politik in Verletzung der Menschenrechte gestört wird. Eng mit der Lehre von der Menschenwürde hängt die Idee des Gemeinwohls 86 ab. Das Gemeinwohl ist kein Inbegriff der Gruppeninteressen, also gleichsam das Ergebnis einer Addition von Organisationsbegehren, sondern auf den Einzelnen bezogen; es ist ein Ausdruck der kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Werte, die der Mensch bedarf, um die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit in Eigenverantwortung zu erfahren. Dieses Gemeinwohl wird heute sowohl inner- als auch zwischenstaatlich verstanden und wie bereits Papst Paul VI. in seiner Entwicklungsenzyklika Populorum progressio betonte, auch als Verpflichtung der Völkergemeinschaft herausgestellt87 , die Entwicklungshilfe verlangt. Mit dem Grundsatz des Gemeinwohls ist die katholische Soziallehre auf eine Brüderlichkeit gerichtet, die öko83 Vgl. dazu Andreas Khol, Der Menschenrechtskatalog der Völkergemeinschaft, Wien/Stuttgart 1968. 84 Siehe grundsätzlich Peter Saladin, Grundrechte im Wandel, Bern 1970; speziell zu den sozialen Grundrechten beachte Franz van der Yen, Soziale Grundrechte, Köln 1963; Theodor Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, Tübingen 1967 und Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Berlin 1970. 85 Siehe dazu Herbert Schambeck, Umweltschutz und Rechtsordnung, Österreichische Juristenzeitung 1972, S. 617ff. und derselbe, Whose Rights are to be Protected, in: Parliamentary Conference on Human Rights, Strasbourg 1972. 86 Vgl. dazu Johannes Messner, Das Gemeinwohl, Idee, Wirklichkeit, Aufgaben, 2. Aufl., Osnabrück 1968. 8? Siehe dazu Herbert Schambeck, Populorum progressio und das Zweite Vaticanum, S.587ff.

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menisch und ökonomisch zugleich sein will; zur Verwirklichung dessen sind in der katholischen Soziallehre einige Grundsätze als Sozialgestaltungsempfehlung entwickelt worden. Es sind dies die Grundsätze der Autorität, der Solidarität, der Subsidiarität, die Empfehlung leistungsgemeinschaftlicher oder berufsständischer Ordnung und die Anerkennung der Autonomie der irdischen Wirklichkeit; sie seien hervorgehoben. In der Besprechung dieser Grundsätze kann man die Lebensnähe der katholischen Soziallehre und die Ablehnung aller Utopien erkennen. IV. Grundsätze katholischer Soziallehre

Wer wollte nämlich nicht anerkennen, daß jede Ordnung zu ihrem dauernden Bestand von Autoritäten 88 getragen sein muß und dieser Grundsatz gerade in einer Zeit von größter Bedeutung ist, in der die Anarchie offen und verdeckt in verschiedenen Formen eine früher nicht für möglich gehaltene Renaissance feiert. Dabei darf nicht angenommen werden, daß Autoritäten immer gleich bleiben können. Auch diese entwickeln sich mit den Ordnungen, die sie tragen und zu sichern haben, weiter. So gehen wir den Weg von den hierarchischen zu den partnerschaftlichen Ordnungen, in welchen es auch Autoritäten geben muß. Waren diese früher bloß in den Positionen begründet, werden sie in Zukunft auch in den Argumentationen gelegen sein müssen. So erwartet man sich Autoritäten, die befragbar, also partnerschajts- und antwortsfähig sind. Diese Partnerschaft89 wird in Ehe, Familie, Gesellschaft und Staat, im Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschehen der Natur der jeweiligen Sache entsprechend verschieden sein. Man halte sich das Erfordernis unterschiedlicher Partnerschaft von Kindern und Eltern in der Familie, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Betrieb und von lernender und lehrender Seite in den Schulen der 6- bis 10-, der 10- bis 14- und der 14- bis 18-jährigen und der Studenten und Professoren an den Hochschulen vor Augen. Es wird jeder in einer partnerschaftlichen Ordnung nur so viel an Aufgaben übernehmen können, als er verantworten kann, und verantworten kann man nur das, was man auch versteht. Diese Form der Autorität läßt die Solidarität 90 als ihren gleichsam bedingten Grund erkennen. Sie ist aus der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen religiös erklärlich und in Grundrechten des Einzelnen rechtlich gesichert. Diese Grundrechte sind in Freiheitsrechten auf den Schutz der Privatsphäre des Einzelnen und in politischen Rechten auf seine Mitwirkung an der Staats88 89 90

Beachte Höf!ner, Christliche Gesellschaftslehre, S. 47. Siehe Herbert Kohlmaier, Partnerschaft, in: Katholisches Soziallexikon, Sp. 816ff. Vgl. Oswald von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, S. 15ff.

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willensbildung gerichtet. Neben diesen mehr auf ein Unterlassen des Staates gerichteten Grundrechten haben sich in letzter Zeit zwei neue Gruppen von Grundrechten entwickelt, die auf ein Tun des Staates ausgerichtet sind, nämlich die im Dienste der sozialen Sicherheit stehenden sozialen Grundrechte und die den Umweltschutz bezweckenden sogenannten existentiellen Grundrechte. So findet der von der Freiheit und Würde des Menschen getragene Grundsatz der Solidarität seinen Ausdruck in dem Streben, dem Einzelnen nicht allein die Freiheit zu gewähren, sondern auch zu ihrer Nutzung zum Zweck der vollen Entfaltung seiner Persönlichkeit in Eigenverantwortung auch die politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zu geben, die heute auch den Schutz verlangen, diese so ermöglichte Freiheit auch als gesunder Mensch erleben zu können. Dieser vermehrte Einsatz des Staates ist mit dem dritten Leitsatz der katholischen Soziallehre, nämlich dem Prinzip der Subsidiarität 91 als dem Grundsatz der ersatzweisen Hilfeleistung, zu konfrontieren. Dieser Grundsatz hat in verschiedener Weise eine Ausprägung gefunden. Es sei im Staatsrecht an die Bundesstaatlichkeit 92 und in der Wirtschafts- und Sozialpolitik an die Formen der paritätischen Politik der Sozialpartner 93 erinnert, in welcher der Gedanke der Leistungsgemeinschaft94 seine zeit- und ortsbezogene Ausführung erfahren hat. Während durch den Föderalismus eine Aufteilung der Ausübung der Staatsfunktionen auf Bund und Länder erfolgt, kann die paritätische Politik dem Staat die Mühen um eine Lösung wichtiger sozial- und wirtschaftspolitischer Probleme dadurch ersparen, daß die Interessenverbände als freiwillige und gesellschaftliche Selbstschutz- und Selbsthilfeeinrichtungen der Sozialpartner, die sie betreffenden Fragen in Eigenverantwortung einer Lösung zuzuführen suchen, damit den Staat entlasten und dem Gemeinwohl dienen. In all den skizzierten Grundsätzen der katholischen Soziallehre geht es der Kirche nicht um den Einsatz und die Ausübung monologischer Macht, sondern um die Entfaltung und das Erleben dialogischer Verantwortung; hier drückt sich sehr deutlich der im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts vollzogene Wandel im Ordnungsstreben der katholischen Kirche von der oft auch weltpolitischen Einflußnahme in die mehr noch als bisher deutlich gewordene 91 Dazu Albrecht Beckel, Subsidiaritätsprinzip, in: Katholisches Soziallexikon, Sp.1202ff. 92 So auch Herbert Schambeck, Österreichs Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip in: Festschrift für Ernst Kolb zum sechzigsten Geburtstag, Innsbruck 1971, S. 309ff. 93 Karl Korinek, Wirtschaftliche Selbstverwaltung, Wien/New York 1970, S.161ff. und Alfred Klose, Ein Weg zur Sozialpartnerschaft, das österreichische Modell, Wien 1970. 94 Siehe Johannes XXIII., Mater et Magistra 1961, Nr. 37 und 65, dazu den Kommentar von Eberhard Welty, 2. Auflage, Herder-Bücherei Band 110, Freiburg/BasellWien 1962, S. 106 und 120f.

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ausschließliche pastorale Aufgabe des Heiligen Stuhles aus 95 • Daraus läßt sich auch die Bedeutung der 1964 von Papst Paul VI. verkündeten Enzyklika "Ecclesiam suam" erkennen, in welcher als Eigenschaften des Dialoges empfohlen wurden: die Klarheit, den Sanftmut, das Vertrauen und die Klugheit. Diese Dialogbereitschaft der Kirche, die sich auch in den Reisen des Papstes nach Nord- und Südamerika, nach Indien und in das Heilige Land zeigte, kann als Zeichen der Weltverantwortung und Weltbejahung gewertet werden. Dabei werden aber auch die Gefahren gesehen, die mit jedem Dialog gegeben sind. So erklärte auch Papst Paul VI. : "Die Kunst des Apostolates ist ein Wagnis. Die Sorge, den Brüdern näher zu kommen, darf nicht zu einer Abschwächung und Herabminderung der Wahrheit führen. Unser Dialog kann uns nicht von der Verpflichtung gegenüber unserem Glauben entbinden. Das Apostolat darf keinen doppelseitigen Kompromiß eingehen bezüglich der Prinzipien des Denkens und HandeIns, die unser christliches Bekenntnis kennzeichnen" (Art. 81).

In dieser dialoghaft verstandenen Sozialverantwortung hat sich die Kirche bemüht, zur Gesellschafts- und Staatswillensbildung in der Demokratie unter Wahrung ihrer grundsätzlich neutralen Haltung gegenüber den Staatsformen96 ihre empfohlenen Grundsätze zur Sozial gestaltung auf wichtigen Gebieten der Politik näher auszuführen. Hier paaren sich Ethik und Sachlichkeit, was besonders ein Anliegen des 11. Vatikanums in seiner Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" war. Es betonte im Art. 36 die richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeiten: "Durch ihr Geschaffensein selber nämlich haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methode achten muß. Vorausgesetzt, daß die methodische Forschung in allen Wissenbereichen in einer wirklich wissenschaftlichen Weise und gemäß den Normen der Sittlichkeit vorgeht, wird sie niemals in einen echten Konflikt mit dem Glauben kommen, weil die Wirklichkeiten des profanen Bereichs und des Glaubens in demselben Gott ihren Ursprung haben 97 ."

Ein Fall Giordano Bruno oder Galileo Galilei wäre daher heute nicht mehr möglich. Das 11. Vatikanum hat neben der neu formulierten Standortbestimmung von Glauben und Wissenschaft auch ebenso eine solche von Kirche und Politik vor95 Beachte grundlegend Heribert Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhles, Berlin 1975. 96 Beachte den Maßstab in "Gaudium et spes" Art. 42: " ... unter jegliche Regierungsform, die die Grundrechte der Person und der Familie und die Erfordernisse des Gemeinwohls anerkennt." Rahner / Vorgrimler, a.a.O., S. 49l. 97 Rahner / Vorgrimler, a.a.O., S.482; beachte auch dort den Hinweis auf I. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über den katholischen Glauben, Kap.III: Deuz. 1785 - 1786 (3004 - 3(05).

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genommen. In Nr. 42 (Die Hilfe, welche die Kirche der menschlichen Gemeinschaft hingeben möchte) wird in der Pastoralkonstitution betont: "Die ihr eigene Sendung, die Christus der Kirche übertragen hat, bezieht sich zwar nicht auf den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich: das Ziel, das Christus ihr gesetzt hat, gehört ja der religiösen Ordnung an"98.

Im Rahmen ihrer Soziallehre bemüht sich die Kirche, ihre Sozialgestaltungsempfehlungen offen allen anzubieten, um zu einer Humanisierung der Zeit beizutragen. Im Art. 75 von "Gaudium et spes" geht das 11. Vatikanum auf die Notwendigkeit der Mitarbeit aller am öffentlichen Leben ein. Rahner / Vorgrimler sprechen in diesem Zusammenhang in ihrem Kommentar von einem uneingeschränkten Lob des Konzils für die Demokratie 99 • Dabei wird die Monopolisierung des Begriffes "christlich" zu politischen Zwecken abgelehnt 1°O. "Berechtigte Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Ordnung irdischer Dinge sollen sie anerkennen, und die anderen, die als einzelne oder Kollektiv solche Meinungen vertreten, sollen sie achten. " Es wird damit auch zum Ausdruck gebracht, daß in manchen Fällen mehrere Möglichkeiten bestehen, Grundsätze katholischer Soziallehre, also christlich in der Politik handelnd, zu verwirklichen. Differenziert in bezug auf das notwendige Engagement des einzelnen Katholiken in der Politik geht das 11. Vatikanum auch vor und betont im Art. 76 der obengenannten Konstitution, "daß zwischen dem, was die Christen als Einzelne oder im Verbund im eigenen Namen als Staatsbürger, die von ihrem christlichen Gewissen geleitet werden, und dem, was sie im Namen der Kirche zusammen mit ihrem Hirten tun, klar unterschieden wird"101. So hat das Il. Vatikanum das Verhältnis von christlichem Apostolat und politischer Gesamtverantwortung neu formuliert und die Bereiche eigenständiger Position von Laien und Autoritätsträgern der Kirche sowie beide zusammen als Glaubensgemeinschaft herausgearbeitet 102. Handelt es sich nun aber bei der Soziallehre der katholischen Kirche um eine der vielen heute existierenden Ideologien? Eine Ideologie ist eine Lehre, die von der Erfahrung einer Teilwirklichkeit aus den gesamten Bereich des 98 Rahner / Vorgrimler, a.a.O., S. 489; vgl. Papst Pius XII., Ansprache an Historiker und Archäologen, 9. März 1956, AAS 48 (1956/212): "Ihr göttlicher Stifter Jesus Christus gab ihr weder einen Auftrag noch eine Zielsetzung auf der Ebene der Kultur. Das Ziel, das Christus ihr anweist, ist streng religiös ( ... ) Die Kirche muß die Menschen zu Gott führen, damit sie sich ihm vorbehaltlos hingeben ( ... ) Die Kirche kann dieses streng religiöse und übernatürliche Ziel nie aus dem Auge verlieren. Der Sinn all ihrer Tätigkeiten, bis zum letzten Artikel ihres Rechtsbuches, kann nur der sein, direkt oder indirekt zu diesem Ziel beizutragen." 99 Rahner / Vorgrimler, a.a.O., S.441. 100 Siehe Rahner / Vorgrimler, a.a.O., S. 442. 101 Rahner / Vorgrimler, a.a.O., S. 534. 102 Dazu näher Herbert Schambeck, Kirche - Staat - Gesellschaft, Wien Freiburg/ Basel 1967, S. 95ff.

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Innerweltlichen zu erklären sucht. In diesem Sinne sind z. B. der Liberalismus, der von der Erfahrung des eigenen und einzig scheinenden Ichs, und der Marxismus, der von dem Erleben der kollektiv gefaßten Gemeinschaft ausgehen, Ideologien. Viele andere Ideologien ließen sich noch hinzuzählen. Die Lehre der Kirche ist aber keine Ideologie, sondern die Lehre von einer umfassenden Seinsordnung, welche nicht bloß die Formen des Seins, sondern vielmehr auch den Grund des Seins - die Schöpfung selbst - zu erklären sucht. Sie ist religiös bedingt, eine Lehre, die keinen Teilaspekt absolut setzt und sich mit der Erfahrung des Innerweltlichen nicht begnügt, sondern die Erfahrungen des Innerweltlichen vielmehr mit der Erfahrung des Überweltlichen, der Transzendenz, konfrontiert. Die Lehre des Christentums könnte sich auch mit einer Ideologie schon deshalb nicht "messen", weil jede Ideologie in ihrer Wirkkraft auf ein angebbar Fühl- und Spürbares abgestellt ist. In dieser Weise ist die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen und der Heilsauftrag der Christen wohl unvergleichbar etwa mit der Blut- und Bodenlehre des Nationalsozialismus und der auf Pläne und Daten abgestellten Lehre des Kommunismus, nach welcher Freiheit die Kenntnis der ökonomischen Gesetzmäßigkeit ist. Die Kirche hat nämlich in ihrer Soziallehre die "innere" Freiheit des Einzelnen ständig als Wirkgrund in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen über Staat und Gesellschaft gestellt und alle Erscheinungsformen "äußerer" Freiheit als Reflex sozialer Institutionen daran gemessen 103 • Auf diese Weise wurde die SozialIehre der Kirche ein Beitrag zur Lehre von Möglichkeiten der Freiheit des Einzelnen in unserer Zeit und zur Vermenschlichung der Demokratie. V. Aufgaben postkonziliaren Christentums

Gedanken über Kirche und Demokratie haben uns mit dem Bemühen um eine zeitnahe und menschlich ansprechende Kirche konfrontiert. Beide Positionen galt es zu erfassen: die Position der einen, die nach mehr Demokratie in der Kirche streben und der anderen, die dabei nicht vergessen haben, die Kirche mit der heutigen Demokratie zu befassen. Die Entwicklung des nachkonziliaren Christentums zeichnet sich durch ein neues kirchliches Weltverständnis und damit einer dreifachen Hilfe der Kirche, die "Gaudium et spes" besonders deutlich machen, aus: erstens die Hilfe, die die Kirche dem einzelnen Menschen leisten möchte, zweitens die Hilfe, die sie der ganzen menschlichen Gemeinschaft, Staat und Gesellschaft anbietet und drittens die Hilfe, die die Kirche selbst von der heutigen Welt erfährt, ja braucht. 103 So schon Schambeck, a.a.O., S.105ff.; beachte auch Karl Rahner, Ideologie und Christentum, in: derselbe, Schriften zur Theologie, Bd. VI, Einsiedeln I Zürich I Köln 1965, S. 59ff.

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Dieses Bemühen um ein neues kirchliches Weltverständnis unter dem Aspekt Kirche und Demokratie ist nicht risikolos, denn es wäre falsch, wollte man in einer Zeit der Entkonfessionalisierung der Politik die Konfession verpolitisieren. Es kommt vielmehr darauf an, das Ordnungsbewußtsein des Einzelnen mit dem Wesen, nämlich dem Heilsauftrag der Kirche in Einklang zu bringen. Dies verlangt eine Entlastung des Klerus von nicht unmittelbar in seinem eigentlichen Bereich, nämlich dem der Seelsorge gehörenden Aufgaben, und auch für die Seelsorge wäre mehr als bisher eine Zusammenarbeit von Klerus und Laien ebenso wünschenswert, wie eine kollegialere Zusammenarbeit der Autoritäten der Kirche. Im ersteren Fall würde die Seelsorge lebensnaher und im letzten Fall die Kirche auch im Innenverhältnis menschlicher werden. Dies setzt allerdings ein richtiges Demokratie- und Kirchenverständnis voraus, es wäre nämlich verhängnisvoll, wollte man heute bei dem Bemühen um mehr Demokratie in der Kirche die Entwicklung der Demokratie selbst übersehen und an einen längst in Staat und Gesellschaft überholten Demokratiebegriff anknüpfen; die Folge wäre ein Substanzverlust an Glaubenskraft und ein Weg entweder in eine Anarchie oder eine Diktatur. Der konsequente Marxismus ist im Kommunismus in diesem Sinne den Weg über die Anarchie zur Diktatur gegangen. Hannah Arendt hat schon geschrieben: "Die abendländische Tradition politischen Denkens hat einen klar datierbaren Anfang, sie beginnt mit den Lehren Platons und Aristoteles. Ich glaube, sie hat in den Theorien von Kar! Marx ein ebenso definitives Ende gefunden"I04.

Damit drückt Hannah Arendt klug aus, daß die abendländische Kultur aus der Trennung von Politischem und Nichtpolitischem in unserem Leben ausgeht, lebendige Begriffe wie Staat, Verfassung, Freiheit, Individuum entwikkelt hat, ohne die wir heute gar nicht denken können; wo wir aber den unterschiedlichen Geltungsanspruch dieser Begriffe nicht erkennen, gefährden wir uns selbst. So erklärte Wilhelm Hennis in seinen Gedanken über: "Demokratisierung - zur Problematik eines Begriffes": "Wer ihre abendländische Ursprungsproblematik abschneidet, treibt nicht Ideologiekritik, sondern legt die Axt an die Wurzel der Sache"I05.

Das bedeutet für unser Thema "Kirche und Demokratie", daß die Kirche wohl sich in ihrem Inneren zu einer zeitgenössischen Erfüllung ihres Heilsauftrages demokratisieren, das heißt, ihre Meinungsbildung auf eine breitere Basis stellen soll, um dem Klerus auch die Arbeit damit zu erleichtern und 104 Hannah Arendt, Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frankfurt/Main 1957, S. 9. 105 Siehe Wilhelm Hennis, Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffes, Köln/Opladen 1970, S.23. Neudruck in: derselbe, Die mißverstandene Demokratie, Freiburg/Basel/Wien 1973, S. 150.

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lebensnaher zu gestalten, was allerdings gegenseitiges Vertrauen ebenso voraussetzt, wie Grundsätze ein- und desselben Glaubens sowie Toleranz und Takt im Handel aller Beteiligten. Wer allerdings die Demokratie in der Kirche im Übertragen politischer Kategorien versteht, verkennt das Wesen der Kirche und die Zeichen der Zeit. Das Wesen der Kirche liegt in der Verwirklichung des vorgegebenen Wortes Gottes und nicht in der Ausführung eines zu beschließenden Gesetzes. Die Zeichen der Zeit verlangen auch nicht die Anwendung einer Rousseauschen Demokratievorstellung in der Kirche just in dem Augenblick, in dem im Bereich von Staat und Gesellschaft von ihr Abschied genommen wird. Genauso wie auch die Formen direkter Demokratie alleine in der modernen Massengesellschaft unmöglich sind, ist auf die Kirche eine Form des Repräsentativsystems des Staates unübertragbar. Die Demokratie in der Kirche wird daher zu keiner Bildung von Parteien und Interessenverbänden in der Kirche führen können und dürfen. Es würde sich in diesem Fall nur der Pluralismus außerhalb der Kirche auf ihr Inneres ergießen und eine Kirche, welche nur die Gegensätze ihrer Zeit widerspiegelt, ist wertlos für diese Zeit. Die Kirche hat vielmehr - und eine sachgerechte Demokratie könnte dies begünstigen - diesen Pluralismus durch Koordination und Integration auszugleichen und sich dem Gespräch mit dieser Welt und ihren Ideologien zu stellen. Eine falsche Demokratisierung würde die Kirche an der Erfüllung der Aufgaben in unserer Zeit behindern; die Kirche würde mehr Kräfte im Inneren ver- ' kraften als in der Auseinandersetzung mit der Welt verbrauchen. Die Demokratie in der Kirche zum Selbstzweck geworden, würde die Kirche in dieser Zeit wertlos machen. Der Abbau der Autorität in der Kirche hätte in tragischer Weise, aber mit unerbittlicher Konsequenz, eine Verminderung der Autorität der Kirche nach außen zur Folge. Hier zeigt sich der Zusammenhang von Demokratie in der Kirche und Kirche gegenüber der Demokratie, wenn in einer noch zu findenden entsprechenden Form der ausgeführten Brüderlichkeit - wozu das synodale Prinzip einen Beitrag leisten kann - die Demokratisierung der Kirche durchgeführt ist und dann die Kirche ihren Auftrag mit vermehrter Glaubwürdigkeit in der Welt erfüllen kann. Die heutige Notwendigkeit besteht aber nicht in einer Verpolitisierung der Kirche im inneren und einer Neutralisierung der Kirche gegenüber der Politik nach außen. Es warten noch große Aufgaben auf die Kirche in einer Welt, in der die Menschen umgeben von lauter Garanten äußerer Sicherheit innerlich immer unsicherer werden; in der bei allen Schutzmaßnahmen der Staat immer mehr Aufgaben der Menschen an sich zieht, ohne selbst menschlicher zu werden, und in der der Mensch einfach versagt, weil es Bereiche des Menschlichen

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und Zwischenmenschlichen gibt, in denen keine Rechtsinstitutionen des Staates helfen können, sondern der Einzelne der brüderlichen Hilfe der Nächsten wie die der Kirche bedarf. Dies verlangt den Dienst der Kirche auch bei äußerlich Gesicherten, aber innerlich Verunsicherten: bei zerrütteten Ehen, versagenden Kindern, bei Rauschgiftsüchtigen, Trinkern, Neurotikern, aber auch bei Kranken, Alten, Verlassenen, kurz bei aLl den Einsamen in lauter Welt H16 • Sehen wir daher die Aufgabe von Kirche und Demokratie nicht als Möglichkeit der Verpolitisierung weiterer Bereiche unseres Daseins an, sondern als eine Möglichkeit der Bewährung in neuer Heilsfindung, die weniger in der Diskussion um den Glauben, sondern in Aktionen für den Glauben besteht, dann wird vielleicht an die Stelle des ethischen Minimalismus in der Politik der Demokratiediskussion eines Tages wieder das glaubwürdige Zeugnis eines vorgelebten christlichen Apostolats treten, das zwar noch nicht die Garantie, vielleicht aber eine Chance gibt, daß die Antwort auf die jederzeit - auch an uns - wiederholbare Frage des Pilatus: wen wollt ihr freihaben, nicht mehr Barabbas, sondern Jesus Christus lautet.

106 Beachte die Erklärung Nr.114 Verantwortung im Wohlstand, im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz herausgegeben von der bischöflichen Kommission für gesellschaftspolitische Fragen.

Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat Von Grundrechten im demokratischen Verfassungsstaat heute zu sprechen, mag manchen in unserer Zeit als überflüssig, weil überholt und daher nicht aktuell erscheinen. Hat nicht schon Aristoteles auf die Teilung der Gewalten hingewiesen und die Stoa der Griechen mit ihrer kosmopolitischen Einstellung die Enge der alten Polis gesprengt. Sind es nicht schon zweitausend Jahre her, seit das Christentum durch die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen die Idee der Menschenwürde metaphysisch begründete und damit die geistigen Voraussetzungen für eine Rechtsentwicklung geboten, die sich später in den Grundrechten äußerte, die u. a. Inhalt der nordamerikanischen Pflanzungsverträge und 1787 der ersten amerikanischen Verfassung wurden. Sind nicht auch schon hundertachtundfünfzig Jahre seit der Erklärung der Menschenrechte und Bürgerrechte am Beginn der französischen Revolution, sechsundzwanzig Jahre seit der Beschlußfassung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschen- und Bürgerrechte, die 1961 durch die Europäische Sozialcharta ergänzt wurde, vergangen? Trotz dieser langen Tradition von Grundrechten ist eine Auseinandersetzung mit ihnen immer von neuer Notwendigkeit. Sind die Grundrechte doch Schutzrechte des Menschen, die nach der jeweiligen Staatsform und ihrer politischen Ordnung sowie nach den jeweiligen Bedürfnissen des Einzelnen unter sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen eine verschiedene Formung verlangen. Wer wollte leugnen, daß in dieser Sicht die Grundrechte heute ein besonderes Anliegen sind? Es sei nur an die verschiedenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erinnert, die in Kriegs-, aber auch in sogenannten Friedenszeiten in allen Erdteilen besonders in Anhalte- und Konzentrationslagern durch die neuen Formen des Terrors zur Erde und zur Luft, aber auch durch mangelnde soziale Hilfe begangen werden. Oft verdecken sogenannte Friedensmaßnahmen zur Vermeidung weiterer militärischer Auseinandersetzungen, von der Öffentlichkeit leider nicht entsprechend beachtet und gebrandmarkt, Unmenschlichkeiten. Für Hunderttausende derartiger Fälle der Unmenschlichkeit in unserer Zeit sei u. a. an die allen Grundsätzen der Humanität spottenden Ereignisse auf Zypern erinnert und eine jüngst zu lesende Zeitungsnotiz hervorgehoben, nach der in Zypern am Dienstag, 20.8. 1974, zwölf Meilen nordwestlich vom Dorf Piyi ein Massengrab gefunden wurde, in dem u. a. auch eine Mutter mit ihrem Kind im Arm lag.

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In dieser Sicht kann ohne Übertreibung gesagt werden, daß wir in einer Zeit neuer Barbarei leben, was eine Konfrontation verlangt. Dies wird einem besonders bewußt, wenn man in Frankfurt am Main vor der Paulskirche steht, in welcher 1848 durch den Beschluß von Grundrechten ein wichtiger Beitrag zur Grundrechtsentwicklung und Entstehung des demokratischen Verfassungsstaates geleistet wurde. Dort kann man nämlich heute rechts vom Eingang den in Stein gehauenen Satz lesen, den der damalige amerikanische Präsident lohn F. Kennedy in seiner Rede an die Deutsche Nation sprach: "Niemand soll von dieser unserer atlantischen Generation sagen, wir hätten die Ideale und Visionen der Vergangenheit, Zielstreben und Entschlossenheit unseren Gegnern überlassen".

I.

Zu den Idealen und Zielstreben der Vergangenheit, die uns auch in der Gegenwart neu bewußt sein sollten, zählen auch die Grundrechte. Sie sind Ausdruck des Strebens des Menschen nach Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, ein Streben, das mit dem Anwachsen der GesetzesJlut unserer Tage nicht abo, sondern zugenommen hat, da der Einzelne sich nur selten in der Rechtsordnung seines Staates auskennt und kaum mehr den Ausgang eines Rechtsstreites berechnen kann. Dies wird begleitet von einem immer mehr schwindenden Vertrauen in den Gesetzgeber. Dieses Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber steigert sich noch zu einer Angst vor dem Staat, dessen Kompetenzen ständig anwachsen, weil ihm neben Aufgaben im Dienste des Rechts- und Machtzweckes auch solche der Kultur und Wohlfahrt übertragen werden. Er ist ja heute nicht allein für die Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit, sondern auch für kulturellen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit zuständig; Aufgaben, zu deren Erfüllung er nicht nur in der Hoheitsverwaltung, sondern auch als Träger von Privatrechten, sei es unternehmensführend, auftragsvergebend und subventionsverwaltend, tätig wird. Diese Kompetenzerweiterung des Staates wird begleitet und begünstigt durch die mangelnde Bereitschaft des Einzelnen und der Gesellschaft, die ihr primär zustehenden Bereiche autonomer Selbstordnung wahrzunehmen und zu nutzen. So ist es ein "Zeichen des innergesellschaftlichen Entwicklungstrends, aus Sekuritätsgründen risikobehaftete Betätigungspositionen preiszugeben und das entstehende Vakuum als Aufgabe positiver Wohlfahrtsförderung in den Funktionsbereich staatlicher Verwaltung zu entlassen".1 Leider ist daher die Verlustquote gesellschaftlich-privater Autonomie nahezu identisch mit dem Anwachsen des staatlichen Funktionsbereiches. Diese Entwicklung 1 Joachim Burmeister, Vom staatsbegrenzenden Grundrechtsverständnis zum Grundrechtsschutz der Staatsfunktionen, Frankfurt am Main 1971, S. 87.

7 Schambeck

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des Staates der Industriegesellschaft wird noch begleitet durch die Notwendigkeiten technischer Realisation. Der Fortschritt der Technik verlangt zu seiner restlosen Nutzung im wachsenden Maße die Hilfe des Staates. Zu dem Zeitpunkt, in dem mit der Entfaltung der Wohlstandsgesellschaft die soziale Realisation in bestimmter Weise scheinbar abgeschlossen wurde, beginnt nun die technische Realisation. Sie führt dort, wo es zu einer Identifizierung von Staat und Technik kommt, notwendig zu einer prinzipiellen Gefährdung der individuellen Freiheit; es sei denn, die technische Realisation durch den Staat wird von einer entsprechenden freiheitssichernden Weiterentwicklung der politischen Ordnung begleitet. Diese Weiterentwicklung der politischen Ordnung in einer Zeit sozialer und technischer Realisation ist vor allem deshalb für den Einzelnen vonnöten, weil sich die Sachzwänge in einem derartigen Staat nur allzuoft - man bedenke z. B. den Umweltschutz - fortschrittsunkritisch geradezu in einem ständigen Prozeß unentwegter Regenerierung von neuen Bedarfserweckungen und Bedürfnisbefriedigungen ausdrücken. Dabei geht mit dem Maße der Zunahme dieses Bedürfnisautomatismus und der technischen Realisation die politische Effizienz des Staates zurück. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Staates und damit die Möglichkeit politischer Entscheidung nehmen ab. Das zeigt sich besonders deutlich bei der jährlichen Budgeterstellung. Der Großteil der Mittel ist schon von vornherein gebunden, sodaß für politische Entscheidungen nur mehr ein verschwindender Spielraum bleibt. Aus diesem Grund ist es auch nie zu einer richtigen antizyklischen Budgetpolitik, wie sie Keynes verlangte, gekommen. Angesichts dieser staatlichen und politischen Entwicklung und besonders in Hinblick auf das Ausgeliefertsein und damit die Unsicherheit des Einzelnen auch im Staat der Industriegesellschaft, wie einleitend nur andeutungsweise skizziert werden konnte, ist die Frage nach den Grundrechten im demokratischen Verfassungsstaat nicht überflüssig, sondern im Sinne einer neuen Standortbestimmung von Einzelnen, Gesellschaft und Staat unerläßlich.

11. Grundrechte sind Schutzrechte, welche dem Einzelnen, sei es als physische oder juristische Person, gegenüber dem Staat oder im Staat zustehen. Ihr Entstehen läßt sich aus drei Ursprüngen erklären. Zunächst muß betont werden, daß die Grundrechte positivrechtlicher Ausdruck des Strebens nach Anerkennung der Menschenwürde, der dignitas humana sind. Von dieser Würde des Menschen erklärte schon Hans Carl Nipperdey, daß sie einen Charakter indelebilis hat, der sich als eine gleichbleibende Forderung an jede Sozial- und Wirtschaftsordnung erweist. 2 Und Josef Wintrich stellte fest:

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"Würde kommt dem Menschen um deswillen zu, weil er seiner seinsmäßigen Anlage nach Person ist". 3

Der Sinngehalt des Personbegriffes drückt sich in den Menschenrechten aus. Dabei ist es interessant, die Geschichte des Personbegriffes zu betrachten. So bezeichnete man im Griechischen unter Person das Antlitz und die Göttermaske im archaischen Kult und im Lateinischen versteht man unter personare hindurchtönen. Daß dieser Anspruch der Personhaftigkeit aber nicht bloß im sittlichen, sondern auch im rechtlichen Bereich gilt, geht darauf zurück, daß die Menschenrechte als Grundrechte Aufnahme im Verfassungsrecht gefunden haben. Grundrechte hat es schon immer gegeben, sie standen früher aber nicht allen, sondern nur einigen wenigen, am politischen Leben Beteiligten, zu. Sie waren jahrhundertelang bloß Rechte des Adels und der Geistlichkeit gegen den Herrscher, die ihre Stellung im Staat absicherten; sie wurden im Zuge des Vordringens des Liberalismus mit wechselndem Inhalt auch dem Bürgertum und später unter dem Einfluß des Demokratismus auch dem übrigen Volk eingeräumt. Auf diese Weise wurden die Grundrechte von Standesrechten zu Menschenrechten.

Diese Anerkennung der Menschenrechte als Grundrechte wurde jahrzehntelang von einem Streben begleitet, die Ausübung der Staatsgewalt vorhersehbar und berechenbar zu machen. Das Ergebnis dieses Bemühens war der Verfassungsstaat, unter dem im 19. Jahrhundert die konstitutionelle Monarchie, im 20. Jahrhundert mit Änderung der Staatsform die parlamentarische Republik und der demokratische Rechtsstaat verstanden wurde. Dieser demokratische Verfassungsstaat suchte den Menschen als Bürger anzusprechen. Er ist heute vor allem gekennzeichnet durch das demokratische Wahlrecht, den Parlamentarismus mit den Rechten der Volksvertetung zur Gesetzgebung und Kontrolle, der Ministerverantwortlichkeit, der Unabhängigkeit der Justiz, der Gesetzesbindung der Vollziehung, der Justizmäßigkeit der Verwaltung, der Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts, nämlich der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Rechnungs- und Gebarungskontrolle und der Amtshaftung. Ein Großteil der genannten Einrichtungen des demokratischen Verfassungsstaates wurde in der Zeit der Monarchie gebildet und auch nach Ausrufung der Republik beibehalten. Das zeigt, daß sich das Instrumentarium des demokratischen Verfassungsstaates mit Änderung der Staatsform und der politischen Ordnung nicht zwingend ändern muß, weil sich rechtsstaatliche Verfassungselemente von dem soziologischen Grunde, auf dem sie ehedem entstanden sind, gelöst haben. 2 Hans Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, 2. Bd., Berlin 1954, S. 3. 3 JosefWintrich, Zur Problematik der Grundrechte, Köln und Opladen 1957.

7*

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Dieses nicht problemlose Eigenleben der Rechtseinrichtungen des demokratischen Verfassungsstaates hat sich vor allem deshalb ergeben, weil dieser Staat ursprünglich ein nur auf Ordnungsbewahrung ausgerichteter Rechtswegestaat war, dem jede Sozialgestaltung durch seine auf den Rechts- und Machtzweck gerichtete Limitierung versperrt war. Die Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit war das primäre und einzige Staatsziel und die Freiheit eine Form der Neutralität gegenüber Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsordnung. Dieser frühe Verfassungsstaat war von einer konsequenten Trennung von Staat und Gesellschaft gekennzeichnet, wobei die Grundrechte die Grenzziehung zwischen dem Einzelnen, Staat und Gesellschaft boten. Erklärte schon Rudolf Smend in seiner auf der Reichsgründungsfeier der Berliner Universität am 18. Jänner 1933 gehaltenen Rede über "Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht" über die altliberale Theorie der Grundrechte, der Einzelne "soll Ruhe vor dem Staat haben, weil sein intelligenter Egoismus von dieser Ruhe schon von selbst den nützlichsten Gebrauch machen wird";4 in diesem sogenannten liberalen bürgerlichen Rechtsstaat wurde in den Grundrechten "in der Hauptsache die Sicherung des einzelnen vor Willkür der Polizei"5 gesehen. Je mehr aber vor allem im 19. Jahrhundert das politische Bewußtsein des Einzelnen im öffentlichen Leben erwachte, desto mehr war er in liberalen Rechten durch Gewährung einer staatsfreien Sphäre nicht allein auf eine Freiheit vom Staat, sondern in sogenannten politischen oder demokratischen Grundrechten durch Mitwirkung an der Staatswillensbildung an einer Freiheit im Staat interessiert. Diese Grundrechte bestimmten den Standort des Einzelnen im Staat und wurden Teil der Verfassung als normative Grundordnung des Staates. Diese Bedeutung der Grundrechte hat sich im Deutschland der Weimarer Verfassung und des Bonner Grundgesetzes durch die Aufnahme der Grundrechte in den Verfassungstext, im Bonner Grundgesetz noch dazu durch das schon im Art. 1 Abs. 1 erfolgte Bekenntnis zur Würde des Menschen besonders kenntlich gemacht. Auch sei auf die im Art. 73 (3) Bonner Grundgesetz grundgelegte besondere Bestandssicherung der Grundrechte durch die Unzulässigkeit ihrer Abänderung, die in Österreich unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist, ebenso verwiesen wie auf den in der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 (2) enthaltenen Schutz vor Grundrechtsaushöhlung auf dem Wege einfacher Gesetzgebung. Während die Grundrechte heute in der BRD und in Österreich in erhalten gebliebener klassischer Prägung einen liberalen und demokratischen Inhalt haben, hat sich der umgebende demokratische Verfassungsstaat weiterentwik4

5

Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Auf!. , Berlin 1968, S. 313. Smend, a.a.O., S. 314.

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kelt und insoferne eine soziale Prägung erhalten, als ihm nicht nur die Freiheitsgewährung, sondern auch die Autbringung der kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen zur Freiheitsnutzung nicht bloß einiger weniger, sondern aller abverlangt wird. Dies zeigt sich besonders im Sozialstaatsprinzip der Art. 20 und 28 Grundgesetz, wonach die BRD ein sozialer Rechtsstaat und Bundesstaat sein soll. Das Instrumentarium des Rechts- und Bundesstaates wird in den Dienst des sozialen Fortschritts gestellt; der demokratische Verfassungsstaat soll auch Sozialstaat sein und eine Freiheit durch den Staat verschaffen. Diese Entwicklung zum Sozialstaat war deshalb möglich, weil im Zuge der Demokratisierung des Verfassungsstaates, die schon in der Zeit konstitutioneller Monarchie im 19. Jahrhundert begann, das Volk über seine Repräsentanten auf dem Wege der demokratischen parlamentarischen Staatswillensbildung die Möglichkeit erhielt, die Staatszielsetzungen wesentlich mitzubestimmen. Die klassischen Grundrechte haben damit dem Einzelnen und der Gesellschaft die Möglichkeit zur Sozialorientierung des Verfassungsstaates eröffnet. Soll nun nach dieser Erklärung der Begriffe und Entwicklung der Grundrechte und des demokratischen Verfassungsstaates die Bedeutung der Grundrechte für den demokratischen Verfassungsstaat hervorgehoben werden, verlangt dies vorher ein Erfassen des derzeitigen Bestandes an Grundrechten. III.

Die Grundrechte sind als liberale Grundrechte oder Freiheitsrechte vor allem auf die Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit der Person, des Eigentums, der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Forschung und ihrer Lehre, die Pressefreiheit, die Freizügigkeit und die Freiheit der Erwerbsbetätigung, also auf eine Freiheit vor dem Staat gerichtet. Als demokratische und politische Grundrechte beinhalten sie die Vereins- und Versammlungsfreiheit und das Petitionsrecht, sie zielen auf eine Freiheit im Staat. 2 Zu diesen demokratischen Grundrechten ist auch das Wahlrecht zu zählen. Betrachtet man die Grundrechte in dieser ihrer klassischen Form, so drükken sie zum überwiegenden Teil eine Negation staatlicher Zuständigkeit aus und sind Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Sie suchen die Würde des Menschen im positiven Recht auszuführen und zu schützen. Darüberhinaus sind von diesen Grundrechten interessante Impulse für die Entwicklung des politischen Lebens insofern ausgegangen, als z. B. die Vereins- und Versammlungsfreiheit die Verfassungsrechtsgrundlage für die politischen Parteien und die freien Interessenverbände bot und der Schutz der wirtschaftlichen Grundlage der damaligen bürgerlichen Gesellschaft war. Der Kreis der Grundrechte hat sich mit der Entwicklung der Bedürfnisse des Einzelnen und der organisierten Interessen der Gesellschaft erweitert. Zu

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den klassischen, nämlich liberalen und politischen Grundrechten sind sogenannte soziale Grundrechte getreten, die vor allem in internationalen Dokumenten, nämlich in der UNO-Deklaration der Menschenrechte von 1948 und in der Europäischen Sozialcharta 1961 sowie in manchen deutschen Landesverfassungen enthalten sind. Sie sind auf ein Tätigwerden des Staates gerichtet und wollen eine Freiheit durch den Staat. Als Beispiel für derartige soziale Rechte seien genannt: das Recht auf Arbeit, auf sichere, gerechte und gesunde Arbeitsbedingungen, auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, auf Kollektivverhandlungen, der Kinder und Jugendlichen auf Schutz, auf Berufsberatung, Berufsausbildung, auf Gesundheit, Fürsorge und soziale Sicherheit. Wer diese sozialen Rechte aufgezählt hört, muß bei Kenntnis der Entwicklung des Verwaltungsrechts und dabei besonders des Arbeits- und Sozialrechts zugeben, daß viele dieser sozialen Rechte, die sich als Sozialgestaltungsauftrag an den Gesetzgeber erweisen, schon Jahre und Jahrzehnte in vielen Fällen vor ihrer Formulierung und Proklamierung einfach gesetzlich ausgeführt wurden. Auf diesem Gebiet ist in zwar nicht allen, aber manchen Ländern, wie der Schweiz, der Bundesrepublik Deutschland und Österreich der einfache Gesetzgeber den Empfehlungen der internationalen Gemeinschaft zuvorgekommen und hat durch einfaches Gesetzesrecht schon Forderungen erfüllt, bevor sie in Grundrechten erhoben wurden. Manche soziale Forderung, wie z. B. die nach Mitbestimmung, haben sie daneben neu entwickelt, und es wird darauf ankommen, eine Form sachgerechter, nämlich funktional abgestimmter Partnerschaft im Betrieb zu finden, die neben den freien Unternehmer auch den freien Arbeitnehmer treten läßt. Diese Entwicklung der Grundrechte zeigt, daß der Einzelne anscheinend seine jahrhundertelange Flucht vor dem Staat beendet hat und nun seine Obsorge in Anspruch nehmen will. Dabei erhebt sich die Frage, ob auf diese Weise nicht die Sicherheit des Einzelnen auf Kosten seiner Freiheit gewährt wird. Um diese Frage, die das Wesen der Beziehung von Grundrechten und demokratischem Verfassungsstaat berührt, beantworten zu können, muß man die Konsequenzen, die sich aus dieser Ordnung der Grundrechte und ihrer Situation ergeben, bedenken. IV.

Die Grundrechte gewährleisten in ihrer liberalen, politischen und sozialen Bezogenheit heute "Vorbedingungen personaler Existenz, nicht nur im privaten Winkel, sondern auch im staatlich-politischen Bereich"6, sie sind nicht bloß für den einzelnen Menschen, sondern für die Sozial- und Wirtschaftsordnung 6 Hans Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat - Kritische Bemerkungen zur Auslegung der Grundrechte in der deutschen Staatsrechtslehre der Gegenwart, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1972, S. 71.

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von grundlegender Bedeutung. Auch dort, wo eine Verfassung, wie es in der Schweiz, der BRD und Österreich der Fall ist, keine bestimmte Sozial- und Wirtschaftsordnung vorschreibt, ergeben sich doch aus den Grundrechten konkrete Konsequenzen, die für das soziale und wirtschaftliche Leben bestimmend sind. So sei beispielsweise auf die Freiheit des Eigentums, der Berufsund Arbeitsplatzwahl, die Vertrags- und Vereinigungsfreiheit und die Autonomie der Sozialpartner verwiesen, die alle ein derartiges Maß an Freiwilligkeit im Handeln des Einzelnen erlauben, da die Zentralverwaltungs- und Planwirtschaft wohl ausgeschlossen ist und sich viele einfach gesetzlich zu bestimmende Möglichkeiten für eine diesen Erfordernissen grundrechtlich gewährleisteten Freiheiten eröffnen. Damit diese Freiheiten vom Einzelnen auch genützt werden können, muß der Staat aber als demokratischer Verfassungsstaat auch willens und fähig sein, jene sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen zu schaffen, die eine Grundrechtsausübung erlauben. Dies ist vor allem in einer Zeit zu betonen, in welcher der Staat um Sozialstaat sein zu können, auch Wirtschaftsstaat geworden ist und als solcher die private Wirtschaft bedrängt und verdrängt. "Dies gilt sowohl für die organisatorische Integrierung bestimmter Wirtschaftszweige in den Staatsverband als auch für Kompetenzausweitungen durch konkurrierendes Eindringen in bestimmte Betätigungsbereiche (Wettbewerb), privilegierende Ausstattung öffentlicher Unternehmen im Rechtsverkehr (strukturelle Wettbewerbsvorteile, Fiskalprivilegien etc.), reglementierende Beschränkung des Geschäftsvolumens (partielle Betätigungsverbote, Kontingentierung), bis hin zur totalen Verdrängung des Privaten durch staatliche Monopolbildung (Monopolisierung)" .7 Diese erlebbare Entwicklung zeigt auch, daß es noch nicht gelungen ist, den Staat als Träger von Privatrechten den Grundsätzen des Rechtsstaates anzupassen. Das heißt nicht das Verlangen, die Privatwirtschaftsverwaltung des Staates spiegelgleich der rechtsstaatlichen Erfassung der Hoheitsverwaltung entsprechend zu gestalten, dies verlangt aber eine dem jeweiligen Sachgebiet entsprechend differenzierte Ordnung der privatwirtschaftlichen Tätigkeit des Staates, die Willkür ausschließt und die private Wirtschaft des Einzelnen vor dem Staat schützt, der sich für seine wirtschaftliche Tätigkeit oft bessere Startbedingungen schafft, als sie der Einzelne vorfindet. Die Grundrechte könnten für diese Fortentwicklung des demokratischen Rechtsstaates auf dem Bereich der Privatwirtschaft des Staates wertvolles Richtmaß geben! Waren nämlich die Grundrechte, wie bereits betont, ursprünglich und lange Zeit bloße Abwehrrechte, die dem Einzelnen und der Gesellschaft dem Staat gegenüber zustanden, so haben sie in der Gegenwart auf Grund der Weiterentwicklung des Rechtsverkehrs, der Rechtsschutzbedürfnisse des Einzelnen 7

Burmeister, a.a.O., S. 7f.

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und der Aufgaben des Staates eine Mehrdimensionalität ihrer Wirkung erfahren. Zwei Problemkreise seien hervorgehoben: die Bedeutung der Grundrechte für das Privatrecht und der Grundrechtsschutz der Staatsfunktionen. Bezüglich der Bedeutung der Grundrechte für das Privatrecht, und damit nicht allein für den Rechtsverkehr der Einzelnen untereinander, sondern auch für den Fall der privatwirtschaftlichen Tätigkeit des Staates, wird zwar mit verschiedenen Modifikationen, die auf Hans earl Nipperdey8 zurückgehende Lehre von der sogenannten Drittwirkung der Grundrechte vertreten; nach ihr sind die Grundrechte auch für den einzelnen Rechtsgenossen, sei es ein Privater oder der Staat, bei der Anwendung des Privatrechts von Bedeutung. Neben der Vertikalwirkung, welche die Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat im öffentlichen Recht haben, ist nun auf Grund der Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht ihre Horizontalwirkung getreten. Diese Mehrdimensionalität der Grundrechte wirkt sich aber nicht allein zwischen den privaten Rechtsträgern und von diesen gegenüber dem Staat aus, sie ist umgekehrt auch vom Staat in der Ausübung seiner Staatsgewalt gegeben, und treffend hat Joachim Burmeister sein Buch: "Vom staatsbegrenzenden Grundrechtsverständnis zum Grundrechtsschutz der Staatsfunktionen " betitelt. Ist es doch erkennbar, daß der Staat in Erfüllung seiner leistenden und daseinsvorsorgenden Tätigkeit bei der Erfüllung von Sozialansprüchen gegenüber dem Einzelnen und der Gesellschaft insofern selbst Grundrechtsschutz in Anspruch nehmen kann, als er sich gegenüber Gefährdungen in der Erfüllung seines Sozialgestaltungsauftrages zur Wehr setzen kann. Dabei sei aber betont, daß die grundrechtsinstitutionelle Sicherung von Einrichtungen mit spezifisch sozialem Gepräge letztlich nicht der Wahrung von Eigenkompetenzen der Verwaltungsträger, sondern der Vermeidung von Schmälerungen individueller Rechtsposition dient: "Im sozialen Staat hat der Bürger einen Anspruch auf allgemein gewährte öffentliche Leistungen unter Wahrung des Rechtsstatus. Die Verwirklichung dieser sozialstaatsimplizierten individuellen Rechte setzt die Existenz bestimmter öffentlicher Einrichtungen voraus. Wenn sich diese Einrichtungen selbst oder deren Rechtsträger gegen Auflösung bzw. Beschneidung der Aktionsvollmachten zur Wehr setzen, so geschieht dies in ihrer Stellung als Verpflichteter gegenüber dem Bürger, also letzten Endes nicht aus Eigeninteresse, an ungeschmälerter Beibehaltung ihrer Kompetenzen, sondern im Interesse und zum Schutz des Sozialstatus der hinter ihm stehenden Bürger".9

In dieser Weise steht der Grundrechtsschutz für Staatsfunktionen nicht im Dienst der Vermehrung der Staatsallmacht, sondern des Schutzes der Anliegen der Einzelnen.

8

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Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Tübingen 1959, I, 11s , S. 91ff. Burmeister, a.a.O., S. 101f.

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v. Erkennt man diese Mehrdimensionalität an Grundrechten, wie sie sich auch in der Drittwirkung gegenüber privaten Rechtsträgem und im Grundrechtsschutz für die Staatsfunktionen zeigt, verdeutlicht sich damit besonders die Stellung, die heute die Grundrechte im Verfassungssystem des demokratischen Rechtsstaates einnehmen. Die Grundrechte sind heute in der Wirkung ihres Gehaltes nicht neben den Organisationsvorschriften, also gleichsam als eine Verfassungsergänzung zu sehen, sondern sie zählen mit zu den Staatsstrukturbestimmungen. Sie haben nicht, wie früher, eine bloße Abwehr- sondern auch eine Gestaltungsfunktion, da sie auf die verschiedensten Aspekte individueller Freiheit Bezug nehmen und gleichzeitig wesentlich die Funktionen der Verfassung, nämlich der Repräsentation und der Integration bestimmen. Durch demokratische Grundrechte wird ja ein wesentlicher Beitrag zur Repräsentation eines Volkes im Staat geleistet und durch die gesamte Grundrechtsordnung als allgemein anerkannte Wertordnung im Staat ein großes Maß an Übereinstimmung erzielt, welches dauernd integrierend wirken kann. Auf diese Weise wirken die Grundrechte also neben der Freiheitssicherung des Einzelnen auch mitbestimmend auf die Staatsorganisation und Staatszwecke. Sie sind ein heute nicht wegzudenkender Faktor der Verfassungsgestaltung geworden, was besonders betont sei, denn oft wird "infolge der redaktionellen Zweiteilung der Verfassung der enge Zusammenhang übersehen, in dem die Grundrechte mit dem ersten, organisatorischen Teil der Verfassung stehen. " 10 Auf diese Weise bestimmen sie ja nicht allein durch Ausgrenzung individueller Freiheit die Grenzen der Staatsgewalt, sondern bestimmen wesentlich das Zustandekommen des Staatswillens und damit die Richtung der Ausübung der Staatsgewalt, da sie die Maßstäbe zur Konkretisierung der oft nur zu programmatisch gefaßten Staatszielbestimmungen liefern können. So kommt es zur Auflösung der das Verfassungsrecht oft prägenden Unterscheidung von Kompetenz und Organisation einerseits und Grundrechten andererseits. Es wandeln sich die Grundrechte von antistaatlich scheinenden Refugien zu Grundsätzen der Gemeinschaftsordnung. Damit erhebt sich die Frage nach der Bedeutung der Grundrechte für die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Der Bezug von Grundrechten und Demokratie ist für den Verfassungsstaat schicksalhaft, denn erst durch die Anerkennung demokratischer Grundrechte, wie Gleichheit vor dem Gesetz, Vereins- und Versammlungsfreiheit und Wahlrecht nimmt ein Staat, unabhängig von einer Staatsform, demokratische Züge an und erlaubt dem Einzelnen eine Mitwirkung an der Staatswillensbildung. Die so gewährte demokratische Freiheit politischer Teilhabe erfüllt im 10

Smend, a.a.O., S. 318.

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wesentlichen die Funktion einer Legitimation durch Verfahren und zwar durch das Verfahren periodischer Wahl von Amtsträgern und durch die vielfältigen Mechanismen, welche Verantwortlichkeit realisieren. Wir wissen heute, daß keine Demokratie ohne die verfassungsrechtliche Gewährleistung bestimmter Grundrechte, wie Pressefreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung bestehen kann. Obwohl diese Rechte schon seit langem gegeben sind, wird oft die Forderung nach einer Verbesserung der Demokratie erhoben, der Grund mag insbesondere darin liegen, daß es der repräsentativ parlamentarischen Demokratie nicht gelungen ist, eine entsprechende, mehr oder weniger, Aktivhaltung des einzelnen Staatsbürgers zu erzeugen. Es käme heute daher sehr darauf an, daß innere Organisationsleben von Parteien und Interessensverbänden zu demokratisieren und bisweilen sogar den Einzelnen durch Grundrechte in seiner Partei und seinen Interessensverbänden zu schützen. Es käme auch darauf an, neben der parlamentarischen Staatswillensbildung durch Einrichtungen der direkten Demokratie - wie Volksbegehren, Volksbefragung und Volksabstimmung - die Ergänzung des freien Mandats der Abgeordneten zu erwägen und die politische Bildungsarbeit - weder als Untertanendressur noch als ideologische Gehirnwäsche - als eine Erziehung zur Demokratie zu verbessern. Eine notwendige Verbesserung des demokratischen Verfassungsstaates wäre es auch, würden in einer Zeit, in welcher in der parlamentarischen Republik die Regierung mit der Parlamentsmehrheit eine Einheit bildet und die Gewaltenteilung als eine bloß funktionell organisatorische nicht mehr wirksam ist, der parlamentarischen Opposition bestimmte Minderheitsrechte in der Kontrolle eingeräumt werden. Auch das zählt heute zu den Möglichkeiten der Freiheit im demokratischen Verfassungsstaat. Wer wollte leugnen, daß in der Gegenwart die Grundrechte von ursprünglichen Abwehrrechten gegenüber dem Staat zu Schutzrechten der Minderheit im Staat vor der Mehrheit werden. Was im besonderen für das Verhältnis von parlamentarischer Mehrheit und Minderheit in der repräsentativen Demokratie gilt, gilt heute allgemein für die ganze Gesellschaft in einem Staat, in dem der legitime Wunsch nach verfassungsmäßiger Sicherung der Grundrechte vor demokratischen Fehlentscheidungen immer deutlicher wird; Entscheidungen, die vom Staat, aber auch von den Trägern seiner kollektiven Mächte - im Hinblick auf Forderungen der Technik und des Materialismus - zu immer tieferen Eingriffen in die Persönlichkeitssphäre des Einzelnen führen. VI.

So sehr nun betont sei, daß Minderheitenschutz und Kontrolle Hauptanliegen einer Weiterentwicklung des demokratischen Verfassungsstaates darstellen, muß aber gleichzeitig auf die Grenzen der Forderung nach einer Demokra-

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tisierung im Dienste der Grundrechte und damit der Freiheitssicherung hingewiesen werden. Die Forderung nach Demokratisierung ist eine Forderung, die sich von den demokratischen Grundrechten gegen den Staat und nicht gegen die Gesellschaft, die Wirtschaft, das Kulturgeschehen usw. richtet. Die Demokratisierung der Wirtschaft und anderer Bereiche der Gesellschaft - auf die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre sei besonders verwiesen - kann nicht aus dem demokratischen Baugesetz der Verfassung, außer es ist nicht allein auf den Staatsaufbau, sondern ausdrücklich auf die Gesellschaft und ihre Bereiche abgestellt, abgeleitet werden. Wenngleich nämlich gerade im demokratischen Verfassungsstaat der Gegensatz von Staat und Gesellschaft abgebaut wurde, gilt es doch das Unterschiedliche zu beachten, wo dies nicht der Fall ist, sind die Freiheiten des Einzelnen gefährdet. In derselben Weise, in der im demokratischen Rechtsstaat zur Freiheitssicherung des Einzelnen die demokratische Ausübung der Staatsgewalt in Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung unterschiedlich, entsprechend den Aufgaben der jeweiligen Staatsfunktion erfolgt, andernfalls keine im Dienste der Freiheit des Einzelnen stehende Demokratisierung, sondern eine zum Terror führende Jakobinisierung eintritt, ist es zur Demokratisierung der Gesellschaft erforderlich, daß sie nicht als Abbild der staatlichen Demokratie, sondern unter Bedachtnahme der Unterschiede erfolgt, die in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen vorhanden sind. So ist der Staat, die Kirche, die Sozial- und Wirtschaftsordnung, aber auch das Bildungsgeschehen, vor allem im Hinblick auf die Altersstufen und die Sachbereiche differenziert zu demokratisieren. Wer dies nicht beachtet, gefährdet die Freiheit! Diese Freiheitsgefährdung liegt in dem Totalitätseffekt, der in der Unterwerfung aller Lebensbereiche unter ein einheitliches Ordnungsprinzip und damit Inpflichtnahme permanenter Aktivierung des Individualismus seitens der öffentlichen Gewalt gegründet ist. Eine weitere Grenze und auch Gefahr für die Grundrechte liegt darin, daß es darauf ankommt, für die jeweiligen Grundrechtsgüter, je nachdem ob es sich also um solche der liberalen, politischen, oder sozialen Grundwerte handelt, die entsprechende Rechtsform zu finden. Als solche bieten sich Möglichkeiten des Grundrechtsanspruches als subjektiv öffentliches Recht des Einzelnen gegen den Staat, als Einrichtungsgarantie, Organisationsvorschrift oder Programms atz an. Während es sich im ersten Fall um einen von Einzelnen gegen den Staat jederzeit einklagbaren Individualanspruch handelt, ist in den übrigen Fällen mehr ein von der Verfassung an den einfachen Gesetzgeber gerichteter Sozialgestaltungsauftrag gegeben. Wird diese notwendige Beziehung der Grundrechtwerte auf die mögliche Grundrechtsform nicht beachtet, kann dies das allen Grundrechten zugrunde liegende Menschenbild gefährden. Diese Gefahr besteht vor allem bei neuen Grundrechten, wie den Sozial-

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rechten, die nicht mehr wie die klassischen Grundrechte auf ein Unterlassen, sondern auf ein Tätigwerden des Staates gerichtet sind. Würde daher z. B. das Recht auf Arbeit als subjektiv öffentliches Recht, d. h. als ein von jedermann gegen den Staat einklagbarer Individualanspruch eingeräumt werden, würde dies nur allzubald zu einer Pflicht des Einzelnen auf Arbeit führen und damit die Zentralverwaltungs- und Planwirtschaft verlangen, da man in diesem Fall nicht bloß den Einzelnen berechtigen kann, seinen Arbeitsplatz gegen den Staat nötigenfalls einzuklagen, sondern dem Staat auch Gelegenheit geben muß, den Arbeitsplatz zu beschaffen, was ohne dirigistische Maßnahmen des Staates in der Wirtschaft nicht möglich ist. Anders ist dies, nimmt man diese auf ein Tätigwerden des Staats gerichteten Grundrechte als Organisationsvorschrift, Einrichtungsgarantie oder als Programmsatz auf, also in einer die gesamte Politik des Gesetzgebers bestimmenden Staatszielsetzung bzw. Staatszweckbestimmung; dies erteilt dem Staat den entsprechenden Sozialgestaltungsauftrag und schafft dem Einzelnen soziale Sicherheit im Rahmen des dem Staat zeit- und ortsbedingt Möglichen, ohne seine Freiheit zu gefährden. Dieser Hinweis auf Möglichkeiten und Gefahren in der Weiterentwicklung der Grundrechte möge auch erkennen lassen, daß die Grundrechte nicht immer miteinander harmonisieren und sich ergänzen müssen; es kommt vielmehr auch vor, daß sich Grundrechte reiben; man denke an das Reiben von sozialen Grundrechten mit der Eigentumsfreiheit, oder beim Konzentrationsprozeß innerhalb der Presse an das Reiben von Unternehmerfreiheit und Meinungsfreiheit der Redakteure. In solchen Fällen wird ein Interessensausgleich und damit oft auch eine politische Entscheidung erforderlich sein. Die Grenzen der Grundrechte verdeutlicht weiters auch die Tatsache, daß nicht alle Ansprüche und Werte, die grundrechtswürdig sind, auch grundrechtsfähig sein müssen. Wer hat etwa in unseren Tagen nicht oft und oft das Bedürfnis nach einem Grundrecht auf Ruhe durch Schutz vor Lärm, nach einem Grundrecht auf Verkehrssicherheit gegen Verantwortungslosigkeit der Verkehrsteilnehmer, nach einem Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre gegen Bespitzelung oder nach einem Grundrecht auf Alleinsein gegen Belästigung. Viele dieser Ordnungsansprüche können durch einfache Gesetze geregelt werden, manche aber auch nicht, weil sie sich normativ nicht erfassen lassen. Viel könnte auch durch persönliche Rücksichtnahme erreicht werden, man denke nur an den kostenlosen Umweltschutz durch Nichtwegwerfen von Papier in der Natur, dem Leisegehen in der Wohnung und dem Leiserdrehen des TV und Rundfunks. Hier wird natürlich etwas vom Einzelnen verlangt, was heute Mangelware ist, nämlich das sich Beherrschen können! In jedem Fall wird aber genau zu prüfen sein, welche neuen Sicherheitsbedürfnisse und Ordnungsansprüche des Einzelnen und der Gesellschaft grundrechtsfähig sind. Dazu zählt heute sicher das Leben selbst.

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Viele Belange für ein persönlichkeitsgerechtes Leben sind in Grundrechten geregelt, nur die Frage nach dem Schutz des Lebens ist noch nicht in Grundrechten entsprechend beantwortet worden. Das sei gerade auf einer Veranstaltung betont, die unter dem Motto steht: "Für das Leben der Welt." Dieser Schutz des Lebens verlangt schon den Schutz des ungeborenen Lebens. Man kann und darf daher gerade in unserer Zeit und in dieser Stunde an diesem Anliegen nicht achtlos vorübergehen. Das Recht auf Leben verlangt einen dreifachen Rechtsschutz: erstens den Schutz des ungeborenen Lebens, zweitens den Umweltschutz und drittens das Recht auf ein menschliches Sterben. Der Rechtsschutz ungeborenen Lebens ist in der österreichischen Rechtsordnung lange vor dem Entstehen des demokratischen Verfassungsstaates und der Grundrechtskataloge schon 1811 im heute noch geltenden § 22 ABGB ausgedrückt worden; er lautet: "Selbst ungeborene Kinder haben vom Zeitpunkt ihrer Empfängnis an einen Anspruch auf den Schutz der Gesetze." Ein dementsprechendes eigenes Grundrecht kennt zwar die österreichische Verfassung nicht, wohl aber gilt auch in Österreich im Verfassungsrang der Art. 2 (1) der Europäischen Menschenrechtskonvention: "Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt." Diese Bestimmung entspricht dem Art. 2 (2) Bonner Grundgesetz: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit". Es ließen sich dazu viele zum überwiegenden Teil positive Stimmen aus der Literatur anführen. Besonders sei auf den Standardkommentar von Maunz I Dürig I Herzog 1971 verwiesen, der eindeutig erklärt: "Inhalt des Grundrechts auf Leben ist auch der nasciturus. 11 " DIE FRISTENLÖSUNG WIDERSPRICHT DAHER DIESEM GEBOT! Meist wird in dieser Debatte die Frage, was Leben sei, aufgeworfen. Für viele Stimmen aus Ärztekreisen lassen Sie mich aus der beachtenswerten Inaugurationsrede des derzeitigen Rektors der Universität Innsbruck, des Medizinprofessors Heribert Berger, zitieren: der auf die Frage "Ist das, was bei der Befruchtung menschlicher Keimzellen entsteht, wirklich Leben?" geantwortet hat: "Ja, es ist wirkliches, organisches Leben, zunächst in Form einer einzigen Zelle, dem Zellkern, dem Zelleib und der Zellwand ausgestattet mit allen für das Leben dieser Zelle notwendigen Substrukturen, einschließlich der Fähigkeit, sich durch Teilung zu vermehren. "12 11 Theodor Maunz, Günther Dürig, Roman Herzog, Grundgesetz (Kommentar), Bd. I, München 1970, Art. 11, Abs. 2, Rn. 2l. 12 Heribert Berger, Die Heimatlosigkeit des Menschen, in: Veröffentlichungen der Universität Innsbruck 83, Innsbrucker Universitätsreden VIII, Innsbruck 1974, S. 20f.

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Das ist eine klare Antwort, nicht gegeben von einem beifallshaschenden Politiker, der um seine allfällige Wiederwahl ringt, sondern von einem zuständigen Arzt, der sich über sein Wissen ein Gewissen macht. Die Fristenlösung ist daher nicht allein verfassungsrechtlich, sondern auch moralisch bedenklich, sie ist Tötung entstehenden menschlichen Lebens und als solche abzulehnen. Es ist auch bedauerlich, daß man sich jenes Maß an Achtung menschlichen Lebens und damit auch an Moral, das man in Zeiten der Not aufgebracht hat, in einer Zeit des Wohlstandes nicht mehr "leisten" will! Ich weiß allerdings, daß mit dem Recht allein das ungeborene menschliche Leben nicht zu schützen ist! Es bedarf u. a. einer verbesserten Aufklärung und Sexualpädagogik sowie mehr Hilfe, Verständnis und Liebe, die man Müttern in Grenzsituationen und deren Kindern entgegenbringen sollte. Falsche Vorurteile sowie Liebe- und Verständnislosigkeit haben hier schon manche Frau geradezu verfolgt. Das sei besonders betont. Wenn man sich um einen verbesserten, oder wie bei uns in Österreich, um einen neuen Rechtsschutz bemüht, so wäre es empfehlenswert, auch als Sozialgestaltungsauftrag, als existenzielle Grundrechte die Anliegen des Umweltschutzes, nämlich nach Reinheit der Luft und des Wassers und gegen übermäßige Lärmerregung sowie gegen die Lebensgefährlichkeit in Lebensmitteln mitaufzunehmen. Welchen Sinn hätte es doch auch, sich in Grundrechten um ein kulturell, sozial, wirtschaftlich und politisch sinnvolles Leben zu bemühen, ohne das Erlangen dieses Lebens und das physisch und psychisch gesunde Leben in Grundrechten zu schützen. Der Schutz des Lebens sollte nicht nur einzelne Lebensphasen, sondern das Leben in seiner Gesamtheit und daher neben dem Beginn auch das Ende menschlichen Lebens erfassen. Aus diesem Grund wäre die Formulierung eines Grundrechtes auf ein menschliches Sterben erwägenswert. Ein solches Grundrecht auf menschliches Sterben sollte den Anspruch des Einzelnen auf eine entsprechende Betreuung in seinem letzten Lebensabschnitt ebenso beinhalten wie das Recht der Entsprechung der Willensfreiheit, eine heute mögliche künstliche Verlängerung des Lebens abzulehnen. Ohne damit nur im geringsten einer Ermächtigung zu einer Euthanasie das Wort zu reden, sollte ein solches Grundrecht wohl auch die Möglichkeit eröffnen, den Sterbenden den Fortschritt der Medizin durch weitestgehende Schmerzfreiheit zu gewährleisten. Die Entscheidungsbefugnis dürfte einzig und allein nur beim Betroffenen liegen und nicht einer staatlichen oder medizinischen Stelle übertragen werden. Schon Papst Pius XII. hat sich mit diesem Problem des menschlichen Sterbens beschäftigt und 1958 erklärt: "Die Euthanasie, d. h. der Wille den Tod herbeizuführen, ist offenkundig von der Moral verworfen. Wenn aber der Sterbende zustimmt, ist es erlaubt, maßvoll Betäubungsmittel zu gebrauchen, die seine Schmerzen lindern, aber auch den Tod rascher herbeiführen. In diesem Fall

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wird der Tod nicht direkt gewollt, doch ist er unvermeidlich und entsprechend wichtige Gründe rechtfertigen Maßnahmen, die sein Kommen beschleunigen." 13 1957 hatte Papst Pius XII. in diesem Zusammenhang auch festgestellt: "Die Rechte und Pflichten des Arztes sind korrelativ zu denen des Patienten. Der , Arzt hat in bezug auf den Patienten kein getrenntes und unabhängiges Recht: im allgemeinen kann er nur handeln, wenn der Patient ihm dazu ausdrücklich oder stillschweigend (direkt oder indirekt) ermächtigt ... Die Rechte und Pflichten der Angehörigen hängen gewöhnlich von dem anzunehmenden Willen des bewußtlosen Kranken ab, wenn er großjährig und "sui juris" ist. Was die eigene und unabhängige Pflicht der Angehörigen betrifft, so sind sie gewöhnlich nur zu Anwendung der üblichen Mittel verpflichtet. Wenn es sich daher zeigt, daß der Versuch der Wiederbelebung in Wirklichkeit für die Angehörigen eine derartige Belastung darstellt, daß man ihn ihnen nicht mit gutem Gewissen zumuten kann, so können sie rechtmäßigerweise darauf bestehen, daß der Arzt seine Versuche abbricht. Der Arzt kann ihnen also erlaubterweise Folge leisten." 14

Dieses Grundrecht auf Leben, Umweltschutz und menschliches Sterben sollte in diesen seinen wichtigsten Aspekten in einem von Juristen und Fachleuten aus den einzelnen Sachgebieten gebildeten Expertengremium, dem daher auch Ärzte und Theologen angehören müßten, beraten und formuliert werden, um hernach auch Inhalt der staatlichen und internationalen Rechtsordnung werden zu können. VII.

Damit öffnet sich der Blick auf die Weite an Entwicklungsmöglichkeiten der Grundrechte, aber auch ihrer Grenzen. Bei ihrer Verdeutlichung habe ich mich bemüht auch darauf hinzuweisen, daß die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat nicht bloß ein Wissensobjekt, sondern auch ein Gewissensanspruch sind, dem sich niemand entziehen kann, der ein freies Menschsein bejaht. Die Grundrechte verpflichten den Gesetzgeber und in bestimmter Weise auch den Einzelnen und die Gesellschaft, es handelt sich dabei aber um Grundrechte und nicht um Grundpflichten, wie sie z. B. im Bereich politischer oder demokratischer Grundrechte, manchmal bei der Wahlpflicht gegeben sind. Die Grundrechte, die primär als Schutzrechte des Einzelnen vor dem Staat entstanden sind, verzichten nämlich darauf, die in ihnen angelegte Integrationsfunktion rechtlich zu sanktionieren. Man spricht daher von Grundrechten und nicht von Grundpflichten. Ein demokratischer Staat, der darauf angewiesen zu sein glaubt, seine Bürger "mit rechtlichen Mitteln zur Mitarbeit im Staat anhalten zu müssen, behandelt sie als prinzipiell verantwortungslos, 13 Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII., hrsg. von Utz / Graner, 3. Bd., Freiburg 1961, Nr. 5442. 14 Utz / Graner, a.a.O., Nr. 5548.

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also unmündige Existenzen. Das aber dürfte in einem unaufhebbaren Widerspruch zu ihren eigenen Voraussetzungen stehen."15 Diese in den Grundrechten im demokratischen Verfassungsstaat eingeräumte Freiheit stellt eine große Verpflichtung dar. Karl Jaspers hat schon darauf hingewiesen: " ... daß zwar alle die Freiheit begehren und daß selbst despotische Verfahren unter dem Namen der Befreiung auftreten müssen, daß aber zugleich so viele Menschen die Freiheit nicht ertragen. Sie drängeln dahin, wo sie unter dem Namen der Freiheit von der Freiheit befreit werden." 16

Um das zu vermeiden, bedarf es des Mutes zu einer sinnvoll gestellten Demokratisierung, wobei die Überlebenschance der Demokratie und ihres Verfassungsstaates davon abhängt, wie weit ihre Bürger bereit und fähig sind, von ihren Rechten, und damit besonders den Grundrechten, Gebrauch zu machen. Diese Feststellung des Erfordernisses politischen Engagements steht aber heute im Widerspruch zu der Tatsache, daß der einzelne Wohlstandsbürger unserer Tage in dem Maße, in dem er bewußt gewollt oder ungewollt vom Staat abhängig wird, das Interesse an eben diesem seinem Staat verliert; er ist für ihn ein mehr oder weniger gut funktionierender Mehrzweckapparat, von dem er bei einem Minimum an eigenem Einsatz ein Maximum an Leistung erwartet. Der Gedanke, daß man sich gerade in einer Demokratie zunächst fragen sollte, was man für den Staat leisten kann, bevor man von diesem etwas verlangt, trifft kaum auf. Meist kommt es zu derartigen Überlegungen nicht, denn in der modernen Repräsentationsdemokratie denken und entscheiden immer einige wenige für die übrigen, die aber gerade die Aufgabe des Mitdenkens und der entsprechenden Kontrolle hätten. Was dabei zu verlangen ist, sind Demokraten und nicht Demokratisierer, jener heute leider allzuoft anzutreffende Typ, der mit Recht die vermehrte Diskussion verlangt, ohne aber selbst zuhören zu können. Es handelt sich um eine oft lautstark auftretende Minderheit, was die schweigende Mehrheit nicht entschuldigt, im Gegenteil, verantwortlich macht. Damit möchte ich betonen, daß es mit zu der erforderlichen Spontaneität der Demokratieausführung gehört, nicht nur Formen im Rechtsleben, sondern auch im menschlichen Umgang zu beachten und zu erkennen, daß die Freiheit der einen dort endet, wo die des Nächsten beginnt. Leider ist das heute in mancher politischen Auseinandersetzung, die als Beitrag zur Verlebendigung der Demokratie gedacht wird, oft nicht der Fall und es macht sich eine Form 15 Hans Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staate, res publica Bd. 26, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1972, S. 47, Fn. 75. 16 Karl Jaspers, Freiheit und Autorität, Vortrag vor der Konferenz Schweizerischer Gymnasial-Rektoren in Basel 1951, in: Kar! Jaspers, Philosophische Aufsätze, Frankfurt/Main 1967, S. 103.

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des Grobianismus breit, die als eine milde Form des Terrors zu bezeichnen ist! Wie treffend ist doch die in einem Buch gegen den Mißbrauch der Demokratie getroffene Feststellung, daß sich von keiner einzelnen Konvention und keinem einzigen Akt der Höflichkeit beweisen ließe, "daß er für die Humanität unseres Zusammenlebens unentbehrlich sei - so wie sich bei keinem einzelnen Baum, der in einem Wald gefällt wird, eine Veränderung der Landschaft nachweisen ließe. Und trotzdem führt der Abbau der Umgangsformen ebenso zur Enthumanisierung unseres gemeinsamen Lebens, wie der Raubbau in den Wäldern die Verkarstung der Landschaft zur Folge hat." 17 VIII.

Dieser Hinweis auf eine erforderliche menschliche Grundhaltung in der Demokratie soll zeigen, daß trotz des umfangreichsten und bestformuliertesten Grundrechtskataloges, etwas gerade in einem Staat mit pluralistischer Gesellschaft erforderlich ist, was kein Gesetzgeber vorschreiben kann, sondern eine menschliche Voraussetzung der Demokratie in jedem Staat ist, nämlich, neben Grundsätzen im Denken auch Toleranz im Handeln zu üben. Der institutionalisierte Grundrechtsschutz verlangt daher zu seiner Ergänzung die praktizierte Rechtserziehung ! Damit enden Gedanken über Grundrechte und demokratischen Verfassungsstaat, die von Anliegen des Staatsrechtes ausgegangen sind, in solche der politischen Bildung. Wer wollte meinen, daß dies nicht gerade in unserer Zeit vonnöten ist, in der auf der einen Seite manche glauben, über alles reden zu können und nur von wenigen oder von nichts etwas verstehen und auf der anderen Seite, was mindestens ebenso betrüblich ist, immer mehr Menschen nicht wissen, was immer weniger werdende Personen über sie und ohne sie verfügen. Eine solche erlebbare Situation in Staat und Gesellschaft zu erkennen, eröffnet in dem demokratischen Verfassungsstaat auch die Möglichkeit, die Politik und das Recht zu verbessern; die entsprechende Forderung ist aber nicht an Dritte zustellen, sondern jeder kann und soll bei sich selbst beginnen. Die Demokratie ermöglicht ja die Staatsform der politischen Selbstdarstellung, da die Grundrechte den Untertanen zum Bürger gemacht haben und damit jede im demokratischen Verfassungsstaat erhobene Forderung in dieser Sicht nicht an einen Dritten, sondern an uns selbst gerichtet ist. Möge diese Einsicht zu einer Entwicklung führen, durch welche die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat die Menschen verantwortungsbewußter und den Staat menschlicher werden lassen. 17 Thesen gegen den Mißbrauch der Demokratie, hrsg. von Hans Buchheim und Felix Raabe, Stuttgart 1972, S. 34.

8 Schambeck

Die Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche Die Grundrechte sind der positivrechtlich gewordene Ausdruck der Personhaftigkeit des Menschen innerhalb der Rechtsordnung eines Staates. Die Grundrechte drücken eine Werteinsicht aus, welche das Verhältnis des Einzelnen zum Staat und im Staat bestimmen; sie sind Teil des Verfassungsstaates der Neuzeit geworden, in dem neben den Staatsorganisationsvorschriften der Grundrechtsteil prägend geworden ist.! Ihrer Ideengeschichte nach sind die Grundrechte wesentlicher Teil des abendländischen Rechtsdenkens2 und innerhalb derer eine Säkularisation christlichen Gedankengutes, die in der Lehre der katholischen Kirche die längste Tradition besitzt. Für die katholische Kirche sind Recht und Staat nicht eigentliche Lehrinhalte, wie es in bezug auf die Rechts- und Staatswissenschaft der Fall ist. Das Recht und der Staat sind selbst nicht, so wie der Mensch, der Heilsfindung fähig. Wohl können, aber müssen sie nicht wesentliche Voraussetzungen, nämlich die Rahmenbedingungen für die pastoralen Aufgaben der Kirche, enthalten und so die Situation des Menschen, die seiner Personhaftigkeit mehr oder weniger angepaßt sein kann oder nicht, bestimmen. Der Staat und seine Rechtsordnung sind für die katholische Kirche von zweifacher Bedeutung: zum einen dadurch, daß Staat und Recht das Ausmaß der Bekenntnisfreiheit des Einzelmenschen, also seine Rechtsstellung, bestimmen können und zum anderen, daß sie die gesamten "politischen Umweltbedingungen" der Menschen prägen. Aufgabe der katholischen Kirche ist es daher, nicht eine eigene Lehre von Staat und Recht zu entwickeln, sondern vielmehr in ihrer Heilslehre soweit auf den Staat und seine Ordnung Bezug zu nehmen, als dies pastoral erforderlich ist. In dieser Sicht gibt es daher keine katholische Staatslehre, sondern vielmehr in der auf das soziale Leben der Menschen bezogenen Lehre der katholischen Kirche staats- und rechtsrelevante Bezüge. 3 Diese sind im Letzten bestimmt durch die Lehre der katholischen Kirche von der Freiheit und Würde des Einzelnen, die in der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen 1 Dazu näher Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, Berlin 1976, S. 445ff. 2 Beachte Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963. 3 Ausführlich Herbert Schambeck, Der Staat in der katholischen Gesellschaftslehre, in: Katholisches Soziallexikon, 2. Aufl., Graz 1980, Sp.2894ff.

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begründet ist und dadurch, was die Lehre des Christentums im abendländischen Denken hervorhebt, die Stellung des Menschen metaphysisch fundiert. I. Die Verkündigung des Christentums von der dignitas humana des Menschen, die in der Imago Dei-Lehre begründet ist, sucht den Menschen eine Rechtsbegründung zu geben, die ihn vor staatlicher Willkür schützt. Diese Lehre der katholischen Kirche von der Stellung der Menschen, die wir heute als Grundrechte bezeichnen, tritt uns zunächst ansatzweise in der Heiligen Schrift, später bei einzelnen Kirchenvätern und bedeutenden Theologen entgegen, um vor allem beginnend mit Papst Leo XIII. in der päpstlichen Sozial/ehre eine Ausprägung zu erhalten, die in den Enzykliken Papst Johannes Pauill. "Redemptor hominis" 1979 und "Laborem exercens" 1981 in diesem Pontifikat beachtenswerte Wegweisungen enthält. Diese Entwicklung der kirchlichen Lehre drückt eine Weltverantwortung des Katholizismus aus, wie sie in der Pastoralkonstitution des 11. Vatikanischen Konzils "Gaudium et spes" über "Die Kirche in der Welt von heute" besonders deutlich erkennbar ist. Es handelt sich um den Versuch, die Kraft des Evangeliums in die heutige Gesellschaft einströmen zu lassen, was in den kirchlichen Lehräußerungen unserer Zeit, bei aHen pastoralen Hauptanliegen, letztlich den Umriß einer politischen Ethik erkennen läßt. Treffend trägt auch das Schlußdokument der Römischen Bischofssynode 1971 den Titel "De Iustitia in mundo", "Gerechtigkeit in der Welt", und stellt zur Weltsituation analysierend fest: ,,7. Die Welt, in der die Kirche lebt und wirkt, ist zur Gefangenen eines gefahrvollen Widerspruchs geworden. Niemals erwiesen die auf Verwirklichung einer weltumspannenden Einheitsgesellschaft hindrängenden Kräfte sich als so mächtig und wirksam wie heute; wurzeln sie doch in der Überzeugung von der völligen, wesentlichen Gleichheit wie auch von der (gleichen) menschlichen Würde aller Menschen. Alle Glieder ein und derselben Menschheitsfamilie sind unlösbar verbunden in ein und derselben Bestimmung der Welt und sind mitverantwortlich für sie ... Der Widerspruch liegt darin, daß diesem Ausblick auf Einheit zum Trotz trennende und gegensätzliche Kräfte heute offenbar wieder an Stärke gewinnen. Den alten Streitigkeiten zwischen Völkern und Staaten, Volksstämmen und gesellschaftlichen Schichten stehen heute neue technische Mittel der Zerstörung zu Gebote. Der Rüstungswettlauf gefährdet das wertvollste aller menschlichen Güter, das Leben; er macht die armen Völker und Menschen noch ärmer und bereichert die ohnehin schon Mächtigen; er verursacht ständig Kriegsgefahr und droht, wenn Nuklearwaffen zum Einsatz kommen, alles Leben auf der Welt zu vernichten. Zur gleichen Zeit tun sich neue Spaltungen auf, die die Menschen voneinander trennen. Werden die Auswirkungen dieser neuen industriellen und technologischen Welt nicht durch gesellschaftliche und staatliche Maßnahmen in Grenzen gehalten oder zurückgedrängt, dann begünstigen sie die Zusammenballung von Reichtum, Macht und Entscheidungsbefugnissen in den Händen einer Anzahl geringen privaten oder öffentlichen Macht8*

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elite. Die Ungerechtigkeit im ökonomischen Bereich und der Mangel an sozialer Partnerschaft sind schuld daran, daß vielen die grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte vorenthalten werden. "4

Diese hervorgehobenen Texte katholischer Lehräußerungen jüngster Zeit dokumentieren die Weite katholischen Grundrechtsdenkens, das ansatzweise, was die besondere Stellung des Menschen in der Seinsordnung betrifft, mit der Heiligen Schrift seinen Beginn genommen hat. In der Gen 1, 26 - 27 steht bereits: "Gott sprach: ,Lasset uns den Menschen machen nach unserem Ebenbilde, uns ähnlich. Er soll herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels, über das Vieh und über alles Wild des Feldes und über alles Gewürm, das auf dem Erdboden kriecht.' Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie."

Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch Ps 8, 5 - 7: "Was ist der Mensch, daß Du seiner gedenkst, oder des Menschen Sohn, da du ihn heimsuchst? Wenig geringer als einen Engel hast du ihn gemacht, mit Ehre und Herrlichkeit ihn gekrönt, und du hast ihn über die Werke deiner Hände gesetzt. Alles legtest du ihm zu Füßen".

Es wäre falsch, anzunehmen, daß bereits in der Heiligen Schrift und hernach in der Patristik Grundrechtsformulierungen anzutreffen sind, das war nicht der Fall. Es sind vielmehr Ansätze für die im katholischen Glauben fußende, besondere Stellung des Menschen festzustellen. So verweist Gregor von Nyssa in seiner Schrift "De hominis opificio" darauf, daß alle Menschen als Ebenbild Gottes dieselbe Würde besitzen, er spricht von der "königlichen Würde" Ein(n~ ßaö'tALöa. Lactantius stellte fest, daß der Zwang zum Glauben der menschlichen Freiheit widerspricht und betont die Religionsfreiheit: " ... religio sola est, in qua libertas domicilium collocavit".5

Trotz dieser Grundrechtshinweise gilt es, die Feststellung Johannes Messners zu beachten: "Noch aber wird im Zusammenhang mit dieser Auszeichnung des Menschen nicht ausdrücklich von der Würde des Menschen und dem Wert der menschlichen Person gesprochen, noch weniger von dem Begründetsein der Rechte des Menschen auf Wert und Würde der menschlichen Person. Wohl ist bei Augustinus und im Anschluß an ihn in den nächsten Jahrhunderten der Eigenwert des Menschen gesehen, hauptsächlich aber wegen seiner Bestimmung zur geistigen Gemeinschaft mit Gott und zum ewigen Leben mit ihm, weshalb das irdische Leben des Menschen als Weg zur Vollwirklichkeit dieser Gemeinschaft gesehen wird. Erst Thomas von Aquin stellt den Menschen vollends in die irdische Welt, in der er die ihm von Gott zugewiesenen 4 Texte zur katholischen Soziallehre, Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit einer Einführung von Os wald von Nell-Breuning Si, 6. Aufl., Kevelaer 1985, S. 527f. 5 Epitome divinarum institutionum 53 und 54.

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Aufgaben zu erfüllen hat. Der Mensch erkenne diese Aufgabe aus den in seiner und der äußeren Natur durch den Schöpferwillen vorgezeichneten Zwecken".6

Johannes Messner betonte hiezu noch: "Der entscheidende Schritt von Thomas von Aquin liegt darin, daß diese Zwecke auch Eigenzwecke des Menschen sind, durch deren Verwirklichung er, wie wir heute sagen würden, seine Selbstverwirklichung findet. Auf diesem Eigenzweck beruhe die dignitas humana. Wie nebenher kommt Thomas zu dieser überraschenden Umschreibung der Würde des Menschen, nämlich bei der Behandlung der Frage der Berechtigung der Todesstrafe; diese werde im Verbrechen durch den Abfall von der Menschenwürde verschuldet. 7 Kennzeichnend für die Langsamkeit der Entwicklung des menschlichen Rechtsbewußtseins und des wissenschaftlichen Verständnisses der Menschenrechte ist es, daß es Thomas, wie Arthur-Fridolin Utz mit Recht hervorhebt, nie eingefallen wäre, ,auf Grund der Menschenwürde ein Freiheitsrecht für den einzelnen' zu behaupten. 8 Auch von der Personwürde des Menschen zu sprechen, lag ihm fern, Person und Persönlichkeit sind ihm metaphysische Begriffe (entwickelt vor allem im Zusammenhang mit der Trinitätslehre). Wenn er trotzdem von Menschenrechten spricht, geschieht es unter Berufung auf die dem Menschen vom Schöpfergott in seiner Natur, der Gemeinschaft und der äußeren Natur vorgezeichneten Zwecke".9

Wie immer der Zugang des Christentums zu den Rechten der menschlichen Person begründet wurde, stets ging es um die Verteidigung der religiösen Freiheit des Menschen und der damit zusammenhängenden Rechte. Das 11. Vatikanische Konzil hat der Religionsfreiheit eine eigene Erklärung, nämlich "Dignitatis humanae" gewidmet. Aus der religiösen Freiheit entwickelten sich allmählich einzelne andere Grundrechte, z. B. wie die Gedanken-, Rede- und Versammlungsfreiheit. Einen starken Einfluß hat auf die Grundrechtsentwicklung die christliche Idee vom Gemeinwohl, und zwar in nationaler und internationaler Sicht, nämlich im Hinblick auf das bonum commune humanitatis ausgeübt. Aus dieser Sicht kam es zu einem Überdenken der Rechte der menschlichen Person und der menschlichen Gemeinschaften, wie Staat und Völkergemeinschaft. Hier gilt es, vor allem auf die Spanischen Moraltheologen des 15. und 16. Jahrhunderts, besonders auf die Schule von Salamanca hinzuweisen und die Namen Francisco de Vitoria und Francisco Suarez zu nennen. In dieser Zeit finden wir zwar noch keine vollständige Liste der Menschenrechte, wohl ist aber der innere Gehalt jener Grundrechte bereits entwickelt worden, die spätere Verfassungsurkunden prägten: wie das Recht auf Leben, die Unverletztlichkeit des Körpers, das Recht auf Ehe und Familie, auf gesellschaftliche und politiJohannes Messner, Ethik und Gesellschaft, Köln 1975, S. 20. 2. 11. 64. 2. 8 Arthur-Fridolin Utz, Recht und Gerechtigkeit, Deutsche Thomas Ausgabe, Band 18, Heidelberg/Graz 1953, S. 494. 9 Messner, a.a.O., S. 20f. 6

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sehe Freiheit, wobei gewisse Zugeständnisse der staatlichen Autorität zugunsten der bürgerlichen Freiheit vorgesehen waren, weiters bestimmte Formen der Gleichheit vor dem Gesetz und des Rechtschutzes, das Recht auf Privateigentum und der Vereinigung sowie das Recht, auszuwandern und das Recht, in jedem Land der Erde sich niederzulassen. Es wäre falsch anzunehmen, daß all das, was katholische Professoren der Moral in ihrem Wissensgebiet geschrieben haben, auch in dieser Zeit von den offiziellen Repräsentanten der Kirche immer und überall mit allen Mitteln verlangt worden wäre. In einem 1976 im Vatikan selbst herausgegebenen Arbeitspapier der Päpstlichen Kommission Iustitia et Pax über "Die Kirche und die Menschenrechte" steht zu lesen: "Es gab jedoch Zeiten in der Geschichte der Kirche, in denen die Menschenrechte in Wort und Tat nicht mit genügender Klarheit und Energie gefördert und verteidigt wurden. Heute stellt die Kirche durch ihr Lehramt und ihre Tätigkeit einen wichtigen Faktor auf dem Gebiet der Menschenrechte dar. "10

Den Weg hiezu hat besonders die Soziallehre der Päpste, vor allem beginnend mit Papst Leo XIII., gewiesen. 11.

Die Soziallehre der Kirche enthält auf dem Menschen- und Weltbild des Katholizismus beruhende Sozialgestaltungsempfehlungen, die sich auf die Sozialerfordernisse und den Wissensstand der jeweiligen Zeit beziehen. Sie gehen vor allem vom Papst aus, der sich der Publikationsform der Enzyklika, das ist ein Rundschreiben, einer schlichten Ansprache, eines Briefes von ihm oder einer anderen von ihm ermächtigten Autorität der Kirche, wie es z. B. der Kardinalstaatssekretär oder ein anderer Kardinal oder ein Bischof ist, bedienen kann. Eine derartige Sozialgestaltungsempfehlung ist zeit- und bisweilen auch ortsorientiert. Daher sind alle diese Enunziationen mittels der historischen Methode zu studieren, d. h., man muß genau beachten, zu welchem Zeitpunkt, aus welchem Anlaß und auf welchen Personenkreis hin sind sie erlassen. In Beachtung dieser Umstände wäre es daher falsch, in unkritischer Weise rückblickend mit dem Erfahrungsstand von heute kirchliche, vor allem auch päpstliche Lehräußerungen von früher zu beurteilen. Man übersehe auch nicht, daß der Charakter der Unfehlbarkeit päpstlichen Lehräußerungen nur zukommt, wenn sie in Glaubenssachen ex cathedra gesprochen werden. Im weiteren Sinn sind zur katholischen Soziallehre neben den Lehräußerungen der kirchlichen Autoritäten auch die Lehrmeinungen katholischer Sozial10 Die Kirche und die Menschenrechte, hrsg. von der Päpstlichen Kommission "Iustitia et Pax", München und Mainz 1976, S. 8.

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wissenschafter zu zählen, vor allem, wenn sie von allgemein anerkanntem Ansehen sind, wie dies z.B. bei den Professoren Johannes Schasching SJ in Rom, Johannes Messner aus Österreich, Arthur-Fridolin Utz aus der Schweiz oder Oswald von Nell-Breuning SJ aus der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. Sicher bilden die päpstlichen Lehräußerungen den Kern der katholischen Soziallehre; sie haben vom Rang der sie verkündenden Autorität her einen besonderen Anspruch auf Beachtung. Betrachtet man diese katholische Soziallehre, so bildet sie die Anwendung der katholischen Glaubenslehre auf die Stellung des Menschen in der jeweiligen Zeit, d. h., ein allgemeingültiges Bild von der Freiheit und Würde des Menschen wird mit der betreffenden Sozialsituation konfrontiert. Die Entwicklung der katholischen Soziallehre bietet daher einen Überblick über die Entwicklung der jeweiligen Sozialproblematik. Die Grundrechte sind der Kern dieser katholischen Lehre, denn diese katholische Lehre von den Grundrechten bezieht sich auf die Personhaftigkeit des Menschen. Das Wort Person geht u.a. auf das lateinische Wort personare zurück, d.h., hindurchtönen; in der Person des Menschen tönt daher ein höherer Anspruch an die Wirklichkeit. Die Ansprüche des Staates und die Sozialproblematik der Gesellschaft waren Hauptgründe, welche die katholische Kirche veranlaßt haben, sich in einer eigenen Lehre mit den Rechten der Menschen zum Schutz ihrer Freiheit und Würde zu beschäftigen. Als Hauptdokumente dieser Lehre seien genannt: die Enzykliken "Rerum novarum" Papst Leos XIII. , 1891, "Quadragesimo anno" Papst Pius' XI., 1931, "Mater et Magistra" Papst Johannes' XXIII., 1961, "Pacem in terris" Papst Johannes'XXIII., 1963, "Populorum progressio" Papst PaulsVI., 1967, das Apostolische Schreiben "Octogesima adveniens" Papst Pauls VI., 1971 sowie die Enzykliken Papst Johannes Pauls 11. "Redemptor hominis", 1979 und "Laborem exercens", 1981. Neben diesen offiziellen Schreiben, die wie "Rerum novarum" , "Quadragesimo anno", "Mater et Magistra" , "Octogesima adveniens" und "Laborem exercens" zu besonderen Anlässen, nach "Rerum novarum" jeweils zu deren Jubiläen erlassen wurden, sind noch die Vielzahl von Lehräußerungen Papst Pius' XII. zu nennen. Sie beschäftigen sich in einer geradezu enzyklopädischen Vollständigkeit mit den wichtigsten Fragen des privaten und öffentlichen Lebens, vom Schutz des ungeborenen Lebens bis zur aktiven und passiven Sterbehilfe. Von besonderer staatspolitischer Bedeutung ist die Weihnachtsansprache Papst Pius' XII. von 1944, weil sie näher auf die Bedeutung der Demokratie als politisches Ordnungssystem eingeht. Von großer Aktualität sind die ständigen Lehräußerungen Papst Johannes Pauls 11., die er zu verschiedenen Anlässen, besonders zu bestimmten Themenkreisen, wie Schutz des Lebens, zur Situation der Armen, der Schwachen, einschließlich der Minderheiten, macht. Sein bisheriges Pontifikat läßt, besonders was die Rundschreiben betrifft, ein Programm erkennen, z. B. stellt

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sich die Sozialenzyklika "Laborem exercens", 1981, als eine auf die Sozialordnung näher bezogene Ausführung der vorangegangenen umfassenden Enzyklika "Redemptor hominis", 1979, dar, in der vor allem der erlöste Mensch und seine Situation in der Welt von heute behandelt wird. Neben diesen päpstlichen Lehräußerungen gilt es noch einzelne andere kirchliche Dokumente, vor allem des 11. Vatikanischen Konzils, von besonderer Bedeutung zu beachten, wie z. B. die Pastoralkonstitution des 11. Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes" sowie die Erklärung über die Religionsfreiheit "Dignitatis humanae" und die Ergebnisse der Römischen Bischofssynode 1971, Gerechtigkeit in der Welt, "De Iustitia in mundo". Alle diese genannten katholischen Lehräußerungen enthalten in keinem einzigen Dokument einen umfassenden Katalog der Aufzählung der Grundrechte der Menschen, wohl wird aber in jedem sich nur irgendwie ergebenden Sachzusammenhang auf die Grundrechte der Menschen hingewiesen. Die umfassendste Darstellung der Rechte der Menschen findet sich im 1. Teil des Rundschreibens "Pacem in terris", Papst Johannes XXIII., 1963, unter dem Titel "Die Ordnung unter den Menschen". In diesem Text findet sich die grundlegende Feststellung: ,,9. Jedem menschlichen Zusammenleben, das gut geordnet und fruchtbar sein soll, muß das Prinzip zugrundeliegen, daß jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist. Er hat eine Natur, die mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist; er hat daher aus sich Rechte und Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen. Wie sie allgemein gültig und unverletzlich sind, können sie auch in keiner Weise veräußert werden". Ausdrücklich wird neben der Personhaftigkeit des Menschen die Würde der menschlichen Person nach den Offenbarungswahrheiten betrachtet und betont, wenn wir dies tun, "müssen wir sie noch viel höher einschätzen. Denn die Menschen sind ja durch das Blut Jesu Christi erlöst, durch die himmlische Gnade Kinder und Freunde Gottes geworden und zu Erben der ewigen Herrlichkeit eingesetzt".11 In "unauflöslicher Beziehung" werden Rechte und Pflichten in derselben Person gesehen; zu den Rechten werden gezählt: "das Recht auf Leben und Lebensunterhalt (11)", "moralische und kulturelle Rechte (12, 13)", "das Recht auf Gottesverehrung (14)", "das Recht auf freie Wahl des Lebensstandes (15, 16, 17)", "Rechte in wirtschaftlicher Hinsicht (18, 19,20,21,22)", "Recht auf Gemeinschaftsbildung (23, 24)", "Recht auf Auswanderung und Einwanderung (25)" und "Rechte politischen Inhalts (26, 27)"; bezüglich dieser letztgenannten Rechte wird in "Pacem in terris" betont, "daß mit der Würde der menschlichen Person das Recht verknüpft ist, am öffentlichen Leben aktiv teilzunehmen, um zum Gemeinwohl beizutragen (26, 11

Pacem in terris, P. 10.

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27)". Zur menschlichen Person gehört "auch der gesetzliche Schutz ihrer Rechte, der wirksam und unparteiisch sein muß in Übereinstimmung mit den wahren Normen der Gerechtigkeit". Neben den Rechten wird die "unauflösliche Beziehung zwischen Rechten und Pflichten in derselben Person (28)" betont, u. a. das Verantwortungsbewußtsein und das Zusammenleben in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit (35, 36) gefordert. Betrachtet man diese auf die Stellung des Einzelmenschen bezogenen Aussagen, so sind diese weniger normativrechtlich formuliert, sondern mehr von sozialethischer Bedeutung, aber in dieser Weise präpositive Werte betonend und Ansprüche postulierend, welche den deklaratorischen Charakter von Grundrechtsformulierungen in Verfassungsrechtsordnungen erklären läßt. Die katholische Kirche erkennt, daß sittliche Postulate alleine nicht genügen, daß es vielmehr darauf ankommt, mittels der Exaktheit positiven Rechts Rechtssicherheit zu gewähren, da nicht alle Ordnungsbezüge präpositiv bedingt sind. Papst Pius XII. hat am 13. Oktober 1955 in einer Ansprache über "Koexistenz und Zusammenleben der Völker in der Wahrheit und in der Liebe" festgestellt, daß es nicht weniger lehrreich sei, zu sehen, "wie man immer das Bedürfnis erkannt hat, durch internationale Verträge und Vereinbarungen das festzulegen, was nach den Grundsätzen der Natur nicht mit Sicherheit feststand, und das zu ergänzen, worüber die Natur schwieg".12 Damit hat Papst Pius XII. mit einmaliger, oft viel zuwenig beachteter Deutlichkeit festgestellt, daß es für das positive Recht Bereiche gibt, die nicht durch ein naturrechtlich begründetes, präpositives Recht bedingt sind, hier ist auch nach Papst PiusXII. ein Bereich der politischen Entscheidung eröffnet. III.

Die höchstrangige politische Entscheidung in einem Staat ist die des Verfassungsrechtes. Die katholische Kirche weiß, daß diese auch durch den noch so allgemein anerkannten Satz der Ethik nicht ersetzt werden kann. Es kommt vielmehr darauf an, wie Papst JohannesXXIII. in "Pacem in terris" (75) gefordert hat, daß in klaren und bestimmten Sätzen eine Zusammenfassung der den Menschen eigenen Grundrechten herausgearbeitet wird, die nicht selten in die Staatsverfassung selber aufgenommen wird. ,,76. Ferner wird gefordert, daß in exakt juristischer Form die Verfassung eines jeden Staates festgelegt wird. Darin soll angegeben werden, in welcher Weise die 12 Papst PiusXII., Der Weg zu Sicherheit und Frieden, Weihnachtsbotschaft vom 24. Dezember 1955, in: Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius' XII., hrsg. von Arthur-Fridolin Utz und Joseph-Fulko Groner, 3. Band, Wien 1961, Nr. 6349.

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staatlichen Behörden bestimmt werden, durch weIches Band diese untereinander verknüpft sind, wofür sie zuständig sind und schließlich, auf weIche Art und Weise sie zu handeln verpflichtet sind."

Die präpositiv bedingten Postulate an dieses zur Rechtssicherheit erforderliche Verfassungsdenken hat die katholische Kirche in ihrer Lehre formuliert. Es wäre aber falsch anzunehmen, daß die katholische Kirche zu diesem Zweck eine eigene Verfassungslehre entwickelt hat. Die Lehre vom Staat und von den Grundrechten ist Teil der Sozi all ehre der katholischen Kirche, in der sie seit Ambrosius neben der Individualethik eine Sozialehtik entwickelt, d. h. neben der Sittenordnung für das private Leben des Einzelmenschen eine Sittenordnung für das öffentliche Leben des Einzelnen, von Staat und Gesellschaft die ja beide für den Einzelmenschen, an den sich die Glaubenswahrheit der Kirche richtet, schicksalshaft sind. Die katholische Kirche hat in bezug auf die Verschiedenheit der Staatsformen und der politischen Systeme immer einen Standpunkt der Neutralität bezogen;13 die Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils "Gaudium et spes" hat dazu festgestellt: Die Kirche "selbst hat keinen dringlicheren Wunsch, als sich selbst im Dienste des Wohles aller frei entfalten zu können unter jeglicher Regierungsform, die die Grundrechte der Person und der Familie und die Erfordernisse des Gemeinwohls anerkennt" (Nr. 42).

Papst Pius XII. hat dazu noch in seiner berühmt und viel zitiert gewordenen Weihnachtsansprache 1944 der Demokratie, die ja in verschiedenen Staatsformen und politischen Systemen verwirklichbar ist, einen Vorzug eingeräumt, weil sie den einzelnen Menschen ein Mitwirken in der Bestimmung seines Schicksals ermöglicht. Die katholische Kirche betont die Priorität des Menschen gegenüber dem Staat. Papst LeoXIII. sprach es 1891 in "Rerum novarum" aus: "Der Mensch ist älter als der Staat, und darum besaß er das Recht auf Erhaltung seines körperlichen Daseins, ehe es einen Staat gegeben" (6).

Der Mensch wird auch in diesem Dokument als geselliges Wesen und in seiner Beziehung zur Familie anerkannt: "Denn da das häusliche Zusammenleben sowohl der Idee als der Sache nach früher ist als die bürgerliche Gemeinschaft, so haben auch seine Rechte und Pflichten den Vortritt, weil sie der Natur näher stehen." (10).

Zu diesen Rechten, die jedem zustehen und unentziehbar sind, zählt nach Papst Leo XII. das Koalitionsrecht. Papst Leo XIII. betonte den Wohlfahrtszweck des Staates, den Papst Pius XI. in "Quadragesimo anno", Papst Pius XII. in vielen Ansprachen, besonders in der Pfingstbotschaft 1941, Papst 13 Beachte Papst Leo XIII., Diuturnum iIIud 1881, Immortale Dei 1885 und Libertas praestantissimum 1888.

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Johannes XXIII. in "Mater et Magistra" , Papst Paul VI. besonders in seiner Ansprache vor der Internationalen Arbeitsorganisation 1960 und Papst Johannes PaulII. in "Laborem exercens" hervorgehoben haben. Papst Johannes Pauill. hat ja in dieser letztgenannten Sozialenzyklika 1981 unter erneuter Betonung der Personhaftigkeit des Menschen die Arbeit als Mittel der Persönlichkeitsentfaltung dargestellt, den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital betont und die Sozialrechte in den Zusammenhang mit den allgemeinen Menschenrechten gestellt und somit die katholische Lehre der Menschenrechte, wie sie Papst Johannes XXIII. in "Pacem in terris" besonders entfaltet hat, weiterentwickelt. Der katholischen Kirche geht es darum, wie es in dem Konzilsdokument "Gaudium et spes" festgehalten ist, daß "die Ordnung der Dinge ... der Ordnung der Personen dienstbar werden und nicht umgekehrt" (26). Analysiert man die einzelnen kirchlichen Lehräußerungen, vor allem die der Päpste, dann kann man, ausgehend von der Erklärung der Freiheit, Würde und Personhaftigkeit der Menschen, beginnend mit dem Schutz des ungeborenen Lebens, zu einzelnen Grundrechten des religiösen, geistigen, kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens, wie sie heute in verschiedenen internationalen Dokumenten und staatlichen Verfassungen mehr oder weniger detailliert positiviert sind, ethische Bezüge auf religiöser Grundlage feststellen. Würde man zu diesen einzelnen Grundrechten eine Ideengeschichte schreiben, würde der Einfluß des Katholizismus im abendländischen Rechtsdenken deutlich werden. Es sei nicht geleugnet, daß dieser Einfluß der Kirche in den Jahrhunderten der Geschichte durch die Beteiligung des Kirchenstaates an den machtpolitischen Auseinandersetzungen oft verdeckt war, als religiöses Postulat aber immer bestanden hat und nach dem Verlust des Kirchenstaates sowie der ausschließlichen Besinnung der katholischen Kirche auf ihr pastorales Anliegen besonders deutlich geworden ist. Die katholische Kirche ist vor allem durch den Papst zu einem personifizierten Gewissen in der Welt geworden! Sie anerkennt das Erfordernis und die Funktion der staatlichen Gewalt und legt ihnen ihren ethischen Maßstab an. In "Pacem in terris" lesen wir: ,,65. Das allgemeine Wohl verlangt von der Regierung ein Zweifaches: einmal die Festlegung und Wahrung, dann aber auch die Förderung des Rechtes des einzelnen . . . . 69 .... Aus demselben Grunde ist erforderlich, daß der Gesetzgeber im Staate bei der stets sich verändernden Lage niemals die sittlichen Normen oder die verfassungsmäßigen Grundsätze außer acht lassen, noch auch die Bedürfnisse des Gemeinwohls vernachlässigen darf."

Die katholische Kirche weiß, daß zur Erreichung ihrer Ziele der humanen und gemeinwohlgerechten Ordnung es keinen allgemeingültigen Weg gibt, daß dieser immer zeit- und ortsbezogen im Hinblick auf die ethischen Erfordernisse gesucht und gefunden werden muß. Dazu anerkennt die Kirche, wie es in "Gaudium et spes" festgehalten ist:

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,,36. Die richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeiten"

und betont in diesem Konzilsdokument die Pluralität zulässiger Meinungen. ,,43 .... Oftmals wird gerade eine christliche Schau der Dinge ihnen eine bestimmte Lösung in einer konkreten Situation nahelegen. Aber andere Christen werden vielleicht, wie es häufiger, und zwar legitim, der Fall ist, bei gleicher Gewissenhaftigkeit in der gleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen. Wenn dann die beiderseitigen Lösungen auch gegen den Willen der Parteien, von vielen andern sehr leicht als eindeutige Folgerung aus der Botschaft des Evangeliums betrachtet werden, so müßte doch klar bleiben, daß in solchen Fällen niemand das Recht hat, die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen. Immer aber sollen sie in einem offenen Dialog sich gegenseitig zur Klärung der Frage zu helfen suchen. Dabei sollen sie die gegenseitige Liebe bewahren und vor allem auf das Gemeinwohl bedacht sein."

In dieser Sicht wird die Eigenverantwortung des Laien deutlich, der den Weg vom Untertan zum Staatsbürger zurücklegt, dem das vierte Kapitel von "Gaudium et spes" besonders gewidmet ist; es kommt nämlich darauf an, ,,76 .... auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangt".

Die Kirche weiß, daß hiezu die Gesetze alleine nicht genügen, es bedarf einer "Neubelebung der Solidarität"14; nicht des Einsatzes von Macht gegen Macht, sondern der Gerechtigkeit 15 ; vor allem kommt es darauf an, wie es Papst Paul VI. 1969 in seiner Ansprache vor der Internationalen Arbeitsorganisation ausdrückte: "Den Menschen vor sich selbst zu schützen": "Um jeden Preis gilt es ihn davor zu bewahren, nichts anderes mehr zu sein als nur ein mechanisierter Bediener einer gefühllosen Maschine, die den besseren Teil seines Ich in sich hineinschlingt oder eines Staates, der es darauf ablegt, alle seine Kräfte ausschließlich für seinen Dienst in Anspruch zu nehmen. "16

In Eigenverantwortung wird der Laie in der Kirche und für die Kirche diesen Weg zu suchen, zu beschreiten und dann zu gestalten haben, Patentrezepte gibt es dazu nicht, sondern Grundsätze, die es der jeweiligen Situation angepaßt auszuführen gilt. "Der Kirche als religiöser und hierarchischer Gemeinschaft steht es an und für sich nicht zu, fertige Lösungen anzubieten, um im sozialen, ökonomischen und politischen Bereich die Gerechtigkeit in der Welt zu verwirklichen. Wohl aber gehört zu ihrer Sendung die Verteidigung und gegebenenfalls der kämpferische Einsatz für die personale Würde und die Grundrechte des Menschen."17

14 15 16 17

Papst Paul VI., Octogesima adveniens Nr. 23. Octogesima adveniens Nr. 43. Texte zur katholischen Soziallehre, 6. Aufl., Kevelaer 1985, S. 481 f. Römische Bischofssynode 1971, Gerechtigkeit in der Welt Nr. 38.

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Diesen Weg sollen die Laien in Eigenständigkeit beschreiten: "dabei handeln sie im allgemeinen aus eigener Initiative, ohne die kirchliche Hierarchie mit Verantwortung dafür zu belasten, in gewissem Grade allerdings wird die Verantwortung der Kirche mitberührt, insoferne nämlich, als sie deren Glieder sind".18

Wer heute die Weltlage und die Situation der Christen vor Augen hat, weiß, daß diese Aufgabe von Erdteil zu Erdteil und innerhalb des betreffenden Erdteils von Staat zu Staat jeweils verschieden ist. Soviel wird in diesen Bereichen und Zeiten in diesem Zusammenhang dabei von Befreiung gesprochen. Die Kirche meint jene echte Befreiung, "die mit der Evangelisation verbunden ist und sich um die Verwirklichung von Strukturen bemüht, die die menschliche Freiheit schützen", die Religionsfreiheit vor allem. 19 Dieses Anliegen des Schutzes der Grundrechte ist bei den Pastoralreisen Papst Johannes Paul II. außerordentlich deutlich geworden, weil sich der Papst in allen Staaten des Rechtes der einzelnen Völker, aber auch der Gefährdeten und der Minderheiten unter den Menschen besonders annimmt. Die Kirche gibt auch in diesem Pontifikat keine taxative Aufzählung von Grundrechten des einzelnen Menschen, sie geht auch nicht, um.eine kluge Unterscheidung von Karl Korinek zu gebrauchen,20 auf das Verhältnis von Grundrechtswürdigkeit und Grundrechtsfähigkeit ein, auch nicht auf einzelne Rechtsprobleme, wie etwa nach Grundrechtsform und Grundrechtswert, oder stellt sich Fragen wie nach der Drittwirkung der Grundrechte, also ob diese nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber der Gesellschaft und den Mitmenschen von Bedeutung sind. Man geht wohl aber nicht fehl anzunehmen, daß die katholische Kirche einem umfassenden Grundrechtsschutz das Wort redet. Ausgehend von dem Verlangen nach Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen ruft sie auch nach dem Rechtsschutz des Einzelnen als Person, wohl wissend, um mit Papst J9hannes PaulII. (2Kor. 3, 6) zu zitieren: "daß der ,Buchstabe' allein töten kann, während nur ,der Geist lebendig macht'" .21

Um diesen Geist, nämlich den der Menschlichkeit, geht es der katholischen Kirche in ihrer Lehre von den Grundrechten. Diese Lehre verdeutlicht die religiösen und ethischen Voraussetzungen der notwendigen Rechte des Einzelmenschen zur Wahrung seiner Freiheit und Würde. Da diese Lehre auf die ganze Welt bezogen ist, kann sie nur allgemein gehalten sein und bedarf demnach ihrer orts- und zeitbezogenen Ausführung. 18 Gerechtigkeit in der Welt Nr. 39. 19 Papst Paul VI., Evangelii nuntiandi 1975, Nr. 39. 20 Karl Korinek, in: Die Grundrechtssituation in Österreich, Wien 1966, S. 97. 21 Papst Johannes Paulll., Redemptor hominis, Nr.17.

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Im demokratischen Verfassungs staat der Gegenwart kann diese Ausführung nur in einem Gesetzgebungsakt bestehen, für den die Lehre der katholischen Kirche keinen Rechtsanspruch an den einzelnen Staat beinhaltet, sondern eine an alle gerichtete Rechts- und Sozialgestaltungsempjehlung ist, für den Katholiken aber ein Gewissensauftrag zu einer Rechtssetzung und Rechtsvollziehung darstellt, die der Lehre seiner Kirche von der Stellung des Menschen entspricht. Diese Lehre vermag die Grenzen der Kontinente, Staaten, Parteien und sonstiger Verbände zu überschreiten, weil sie den Menschen in dem Wert seiner Personhaftigkeit verdeutlicht, was alle angehen müßte. Je mehr diese Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche Anerkennung fänden, desto breiter wäre der Bereich der allgemein anerkannten Grundwerte eines Staates und umso geringer die Gegensätze im öffentlichen Leben. Es obliegt der politischen Entscheidung jedes einzelnen Staates, von der Möglichkeit der Befriedung Gebrauch zu machen oder nicht. Die Geschichte der Staaten weist Beispiele für beide Fälle auf und wird dies sicher auch in der Zukunft tun. Ob anerkannt oder nicht wird die katholische Kirche im allgemeinen und die Lehre der Päpste im besonderen ihr Bemühen um den Schutz der Freiheit und Würde des Menschen und damit die Achtung seiner Gottesebenbildlichkeit fortsetzen; sie wird die Staaten und Völker ebenso anzusprechen suchen, wie den einzelnen Menschen, möge er in Freiheit oder Unfreiheit leben. Die Feststellung dieses Bemühens kann aber nicht überraschen, denn sie ist bereits nachprüfbarer Teil der Menschheitsgeschichte, die von der Lehre der katholischen Kirche von den Grundrechten begleitet ist und in der sich die Kirche immer auch all der Einsamen in lauter Welt angenommen hat. Papst Johannes Pauill. hat es schon in seiner Enzyklika "Redemptor hominis" 1979 in Erinnerung gerufen: ,,12. Ist nicht Jesus Christus selbst im Verlauf so vieler Jahrhunderte und so vieler Generationen, angefangen von den Zeiten der Apostel, sehr oft an die Seite von Menschen getreten, über die um der Wahrheit willen gerichtet wurde; ist er nicht auch mit Menschen in den Tod gegangen, die um der Wahrheit willen verurteilt wurden? Ist er nicht weiterhin Sprecher und Anwalt des Menschen, der im Geist und in der Wahrheit lebt? Wie er nicht aufhört, vor dem Vater zu sein, so ist er auch in der Geschichte des Menschen stets anwesend. "22

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Papst Johannes Paul I1., Redemptor hominis, Nr. 12.

Das staatliche Ordnungsbild in "Centesimus Annus" Die Heilsfindung dem Menschen wegweisend zu ermöglichen, ist das Ziel der Kirche. Sie tut dies mit all ihren pastoralen Möglichkeiten, einschließlich ihrer Soziallehre. In der zum Neunzig-Jahrjubiläum von "Rerum Novarum" verkündeten Enzyklika "Centesimus Annus" ist dies durch Papst Johannes Pauill. wieder besonders verdeutlicht worden, als er feststellte: "In der Tat, die Verkündigung und Verbreitung der Soziallehre gehört wesentlich zum Sendungsauftrag der Glaubensverkündigung der Kirche; sie gehört zur christlichen Botschaft, weil sie deren konkrete Auswirkungen für das Leben in der Gesellschaft vor Augen stellt und damit die tägliche Arbeit und den mit ihr verbundenen Kampf für die Gerechtigkeit in das Zeugnis für Christus den Erlöser miteinbezieht. Sie bildet darüber hinaus eine Quelle der Einheit und des Friedens angesichts der Konflikte, die im wirtschaftlich-sozialen Bereich unvermeidlich auftreten. Auf diese Weise wird es möglich, die neuen Situationen zu bestehen, ohne die transzendente Würde der menschlichen Person weder bei sich selbst noch bei seinen Gegnern zu verletzen, und sie zu einer richtigen Lösung zu führen" 1.

Mit Recht betitelt daher auch Johannes Schasching seinen Kommentar zur Enzyklika "Centesimus Annus" "Unterwegs mit den Menschen".2 Auf Grund ihrer bald zweitausendjährigen Erfahrung weiß die Kirche mit den Menschen unterwegs um all die Umstände, welche die Menschen auf ihrem Lebensweg begleiten und auch mit jenes öffentliche Leben prägen, die für das Schicksal des einzelnen Menschen mitbestimmend sind; hiezu gehört besonders der Staat. Wie Papst Johannes Pauill. in "Centesimus Annus" betonte, hat der Staat "die Aufgabe den rechtlichen Rahmen zu erstellen, innerhalb dessen sich das Wirtschaftsleben entfalten kann. "3 I. Der Staat ist der dem Einzelnen und der Gesellschaft übergeordnete Herrschaftsverband, der Höchstfunktion erfüllt. In dieser seiner Höchstfunktion hat der Staat Ordnungsaufgaben zu erfüllen, nämlich Ruhe, Ordnung und Sicherheit herzustellen, also das Neben- und Miteinander der Menschen zu sichern. Centesimus Annus Nr. 5. Johannes Schasching, Unterwegs mit den Menschen, Kommentar zur Enzyklika "Centesimus Annus" von Papst Johannes Paul H. mit dem Text der Enzyklika in überarbeiteter deutscher Übersetzung, Wien/Zürich 1991. 3 Centesimus Annus Nr. 15. 1

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Das staatliche Ordnungsbild in "Centesimus Annus"

Die Erfüllung der Aufgaben des Staates hat ihre eigene Geschichte, sie hat sich von dem früher auf den Rechts- und Machtzweck beschränkten, limitierten Staatszweck zu dem heute auch den Kultur- und Wohlfahrtszweck mitumfassenden expansiven Staatszweck weiterentwickelt und stellt eine Mehrzwekkeverwendung des Staates dar. Die Vielzahl an Aufgaben des Staates ist auch auf den kulturellen Fortschritt, das wirtschaftliche Wachstum und die soziale Sicherheit gerichtet. Dieser Mehrzweckestaat ist heute in seinem Anforderungsprofil allgemein anerkannt ein Kennzeichen des politischen Lebens und hat den besonders auch im 19. Jahrhundert deutlich gewesenen "Nachtwächterstaat" , wie ihn Ferdinand Lasalle einmal treffend bezeichnete,4 abgelöst. Der Umfang der Staatsaufgaben wird begleitet von einem Umfang an Organisation des öffentlichen Lebens, der den Staat selbst als omnipotent und die in seiner Natur gelegenen Grenzen oft übersehen läßt. Der modeme Staat ist in seiner Mehrzweckeverwendung offen für viele Ziele geworden, deren Rangordnung eine jeweils politische Entscheidung der Verantwortungsträger eines Staates verlangt, deren Staatszielsetzungen sollen sich aber nach den in einer langen Tradition entwickelten Grundsätzen nach den Anforderungen des Rechtsstaates5 in Gesetzesbindung des Staatshandelns unter Wahrung der Freiheit und Würde des Menschen verwirklichen lassen. Dieses Gesetzesgebot des Staatshandelns verlangt bei der Vielzahl seiner heutigen Aufgaben eine Erweiterung seiner Arbeitsbereiche sowohl was die Zahl seiner Gesetze als auch die seiner Organe betrifft. Mit der Zahl der Staatsaufgaben ist auch der Einfluß des Staates gewachsen und seine Dominanz hat seinen eigentlichen Hoheitsbereich weit überschritten und beeinflußt auch die Wirtschaft, weiters den sozialen Bereich der Gesellschaft, beginnend mit der Familie über die Kirche, Religionsgesellschaften, Interessenverbände und die politischen Parteien, sowie die individuelle Sphäre des Einzelmenschen. Auf diese Weise stellt sich nicht allein der Mensch mit seinen Anliegen, Bedürfnissen und Wünschen als eine ordnungspolitische Aufgabe dar, sondern der Staat selbst. Im Unterschied zur früheren Zeit, als der Staat in der Herrschaftsgewalt einer Einzelperson oder einiger weniger stand, ist eine Demokratisierung des Staates insofern erfolgt, als das Verlangen immer deutlicher wurde, daß das Wirken des Staates im Dienste des Gemeinwohls stehen6 und von der Repräsentanz des Volkes getragen sein soll. Die Wirklichkeit dazu ist nach der jeweiligen Situation von Erdteil zu Erdteil und innerhalb des4 Ferdinand Lasalle, "Arbeiterprogramm", in: Gesammelte Reden und Schriften, hrsg. und eingeleitet von Eduard Bernstein, Bd. 11, Berlin 1920/21, S. 195. 5 Näher Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V. Berlin, Heft 38, Berlin 1970. 6 Dazu Johannes Messner, Das Gemeinwohl. Idee, Wirklichkeit, Aufgaben, 2. Aufl., Osnabrück 1968.

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selben von Staat zu Staat verschieden und stellt sich aus der Weltverantwortung der Kirche heraus7 als pastorale Aufgabe dar.

D. Diese Sorge um die Entwicklung des öffentlichen Lebens, besonders des Staates im Hinblick auf den einzelnen Menschen hat aus Anlaß des Jubiläums von "Rerum Novarum" in "Centesimus Annus" durch Papst Johannes Pauill. seine besondere Deutlichkeit aus pastoraler Sicht erlangt. Papst Johannes Pauill. setzt die Tradition der Kirche fort, die Grundsätze katholischen Denkens sowohl auf das private wie auf das öffentliche Leben in abgestimmter Weise in sittlicher Verantwortung zeitbedingt allgemein weiterzuentwickeln, gleichzeitig sich mit aktuellen Anlässen, wie jetzt die Ereignisse des Jahres 1989 und der Folgezeit im Hinblick auf den Zusammenbruch des Marxismus auseinanderzusetzen und schwerpunktmäßig besondere Problemstellungen wie den Unterschied von Industrie- und Entwicklungsländern hervorzuheben. Die Pluralität im öffentlichen Leben der Staaten und damit der Völkergemeinschaft wird erkennbar und von Papst Johannes Pauill. als besonderer Grund zur Verantwortung, nämlich zum Antwortgeben auf Zeiterfordernisse genutzt. Wenngleich "Centesimus Annus" aus einem historischen Anlaß, nämlich in Erinnerung der Verkündigung von "Rerum Novarum" 1891 publiziert wurde, ist sie nach ihrem Inhalt kein Rückblick, sondern unter verständnisvoller Verarbeitung der bereits gegebenen Tradition an katholischer Soziallehre und in Auseinandersetzung mit Gegenwartstendenzen der Politik ein Ausblick auf Erfordernisse der Zukunft. Der Staat selbst wird in "Centesimus Annus" als der rechtliche Rahmen und die normative Grundlage für das private und öffentliche Leben, besonders auch für die Erfordernisse der Kultur-, Sozialund Wirtschaftspolitik angesehen. Für Papst Johannes Paul Il. ist der Staat keine bloße Rechtseinrichtung und in einer monistischen Sicht die Staatslehre nicht gleichgesetzt allein mit der Staatsrechtslehre, sondern der Staat wird mit seiner Rechtsordnung in den Dienst des Menschen gestellt, dessen Freiheit und Würde es zu schützen gilt und dem zur Heilsfindung alle Voraussetzungen auch vom Staat zu bieten wären, damit jeder die Chance seiner Persönlichkeitsentfaltung erfährt. Papst Johannes Paul Il. verbindet mit der Lehre vom Staat eine Ethik vom Staat! Papst Johannes Paul 11. beurteilt den Staat in ethischer Sicht, wobei er sich nicht mit der bloßen Verkündigung von ethischen Postulaten begnügt, sondern diese vielmehr in den jeweiligen Sachzusammen7 Siehe Herbert Schambeck, Glaube und Weltverantwortung der Katholiken. Gedanken nach dem 11. Vatikanischen Konzil, in: Pax et iustitia, Festschrift für Alfred Kostelecky zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans Walter Kaluza, Hans R. Klecatsky, Heribert Franz Köck, Johannes Paarhammer, Berlin 1990, S. 37ff.

9 Schambeck

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hang der Staatsordnung stellt. Staat und Ethik werden in einen wechselseitigen, nämlich bedingend bedingten Zusammenhang gesetzt, was sich in allen Bezügen auf den Staat in allen Teilen von "Centesimus Annus", aber besonders im V. Kapitel von "Centesimus Annus" ausdrückt. Es trägt die Überschrift "Staat und Kultur". III.

Es ist bezeichnend für "Centesimus Annus" und darüber hinaus für die katholische Soziallehre, daß sie den Staat nicht allein aus der Sicht der Kirche nur für den gläubigen Menschen sieht, sondern sie bietet vielmehr den christlichen Realismus der Beachtung der Ordnungsaufgaben des Staates allen an. Auch der Nichtgläubige wird durch die realistische Betrachtung dieser päpstlichen Lehräußerungen angesprochen. In dieser Sicht weist Papst Johannes Paulll. schon darauf hin, wie sehr Papst Leo XIII. es wohl wußte, "daß man eine gesunde Staatstheorie braucht, um eine normale Entfaltung der menschlichen Tätigkeit zu gewährleisten, der geistigen und der materiellen, die beide unerläßlich sind".s Papst Johannes Paulll. unterstreicht auch nach hundert Jahren in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Neuheit in der damaligen Lehre der Kirche, mit welcher sie die Lehre von der Gewaltenteilung im Staat anerkennt. Auch Papst Johannes Paul 11. geht es zum Schutz der Freiheit und Würde des Menschen um die gegenseitige Kontrolle im öffentlichen Leben. "Zu diesem Zweck ist es besser, wenn jede Macht von anderen Mächten und anderen Kompetenzbereichen ausgeglichen wird, die sie in ihren rechten Grenzen halten. "9

In diesem Zusammenhang der Beziehung der Kirche auf die klassische Lehre von der Gewaltenteilung gibt Papst Johannes Paulll. das klare Bekenntnis zum Rechtsstaat ab, in dem er fortsetzend feststellt: "Das ist das Prinzip des Rechtsstaates, in dem das Gesetz und nicht die Willkür der Menschen herrscht." 10

Wenn Papst Johannes Paulll. vom Rechtsstaat spricht, dann tut er dies nicht in einer bloß rechtspositivistischen Sicht eines einfachen Rechtswegestaates, in dem es nur auf die Rechtssatzformen ankommt, Papst Johannes Paulll. sieht diese notwendigen Rechtssatzformen vielmehr in den Dienst von Rechtsinhalten gestellt; durch sie ist die Gesellschaftspolitik im allgemeinen und die Sozialreform im besonderen möglich, auf die es der Kirche und Papst 8

128. 9

10

Centesimus Annus Nr.44; vgl. Enzyklika Rerum Novarum, 32 - 33: a.a.O., 126Centesimus Annus Nr. 44. Centesimus Annus Nr. 44.

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Johannes Pauill. ankommt. Dabei sieht Papst Johannes Pauill. den Menschen nicht bloß idealistisch, sondern realistisch und betont: "Man darf allerdings nicht die zahlreichen Bedingtheiten übersehen, von denen die Freiheit des einzelnen Menschen abhängt .... Der Mensch strebt zum Guten, aber er ist auch des Bösen fähig; er kann über sein unmittelbares Interesse hinausgehen und bleibt dennoch daran gebunden".1 1

Papst Johannes Pauill. strebt mit der GewaltenkontroLle gleichzeitig auch den Interessenausgleich im Staat an; dies gibt dem Staat das Erfordernis seiner besonderen ständigen Dynamik und des Maßhaltens am Prinzip des Gemeinwohls. "Denn wo das Interesse des einzelnen gewaltsam unterdrückt wird, wird es durch ein drückendes System bürokratischer Kontrolle ersetzt, das die Quelle der Initiative und Kreativität versiegen läßt. Wenn Menschen meinen, sie verfügen über das Geheimnis einer vollkommenen Gesellschaftsordnung, die das Böse unmöglich macht, dann glauben sie auch, daß sie für deren Verwirklichung jedes Mittel, auch Gewalt und Lüge einsetzen dürfen."12

Papst Johannes Pauill. warnt daher zu Recht: "Die Politik wird dann zu einer ,weltlichen Religion', die sich einbildet, das Paradies in dieser Welt zu errichten".13

Gerade der Marxismus hatte sich dieser Utopie hingegeben und den Interessenkampf der Klassen zur Herrschaftsausübung verwendet. Freiheit, hatte diese Ideologie des Marxismus vorgegeben, sei die Kenntnis des wirtschaftlich Notwendigen; Plan- und Zwangswirtschaftssysteme wurden als sozial Notwendiges ausgegeben und die Individualität der Menschen dem ideologisch bestimmten Kollektiv untergeordnet. Die Kirche wußte, daß es im menschlichen Leben innerhalb des Staates Interessengegensätze gibt; sie lehnte deren Bewältigung aber als Klassenkampf ab. Papst Johannes Pauill. erklärte: "Was am Klassenkampf verurteilt wird, ist die Auffassung eines Konflikts, der sich von keiner Erwägung ethischer oder rechtlicher Art leiten läßt; der sich weigert, die Personenwürde im anderen (und damit die eigene) anzuerkennen; der daher einen angemessenen Vergleich ausschließt und nicht mehr das Gesamtwohl der Gesellschaft, vielmehr ausschließlich das Sonderinteresse einer Gruppe im Auge hat, das sich an die Stelle des Gemeinwohls setzt und daher vernichten will, was sich ihm entgegenstellt" .14

Die Freiheit und Würde des Menschen und mit ihr all die natürlichen Rechte, mit welchen der Mensch geboren wird, konnte der Marxismus nicht Centesimus Annus Nr. 25. 12 Centesimus Annus Nr. 25. 13 Centesimus Annus Nr. 25. 14 Centesimus Annus Nr. 14.

11

9*

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beseitigen; das Gegenteil war der Fall. Je länger die unmenschliche Herrschaft des Marxismus dauerte, desto stärker wurde das Verlangen nach einer Systemänderung, die 1989 und in der folgenden Zeit nicht durch Verhandlungen der Politiker, Juristen und Diplomaten eingeleitet wurde, diese haben vielmehr später das in verhältnismäßig kurzer Zeit rechtlich verarbeitet, was die Menschen freiwillig auf den Straßen und Plätzen ihres Lebens demonstrierend und sonst agierend sich erkämpft hatten. Nach Jahrzehnten der Herrschaft verschiedener Ideologien und Rechtspositivismen, welche die natürlichen Rechte, mit welchen Menschen geboren werden und die dem Staat vorgegeben sind, geleugnet hatten, haben diese sich durchgesetzt. "Einen wichtigen, ja entscheidenden Beitrag hat dabei der Einsatz der Kirche für die Verteidigung und die Förderung der Menschenrechte geleistet. In stark ideologisierten Milieus, wo eine völlig einseitige Beeinflussung das Bewußtsein von der gemeinsamen menschlichen Würde trübte, hat die Kirche klar und nachdrücklich geltend gemacht, daß jeder Mensch, welche persönliche Überzeugung er auch immer haben mag, das Ebenbild Gottes in sich trage und daher Achtung verdiene. In dieser Aussage hat sich die große Mehrheit des Volkes oft wiedererkannt, und das hat zur Suche nach Kampfformen und politischen Lösungen geführt, die der Würde des Menschen mehr entsprechen." 15

IV. Papst Johannes Pauill. erkennt mit Nachdruck, daß "aus diesem historischen Prozeß ... neue Formen der Demokratie hervorgegangen"

sind,16 wobei er hervorhebt, "daß der Zusammenbruch dieser Machtblöcke überall durch einen gewaltlosen Kampf erreicht wurde, der nur von den Waffen der Wahrheit und der Gerechtigkeit Gebrauch machte. Der Marxismus war der Meinung, daß es erst nach Radikalisierung der sozialen Gegensätze möglich wäre, durch eine gewaltsame Auseinandersetzung zu einer Lösung zu gelangen. Die Kämpfe hingegen, die zum Zusammenbruch des Marxismus führten, bemühten sich mit Zähigkeit, alle Wege der Verhandlung, des Dialogs und des Zeugnisses der Wahrheit zu gehen. Man appellierte an das Gewissen des Gegners und man war bemüht, in ihm das Bewußtsein der gemeinsamen Menschenwürde zu wecken. "17

Nachdem der Mensch der Weg der Kirche ist, was Papst Johannes Pauill. in der Überschrift des VI. Kapitels von "Centesimus Annus" ausdrückte, ist es ihm auch im Zusammenhang mit dem Staat auf eine neue Kultur in ihm für den Menschen angekommen. 15 16

17

Centesimus Annus Nr. 22. Centesimus Annus Nr. 22. Centesimus Annus Nr. 23.

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Diese im Staat erstrebenswert angesehene Kultur soll aus den Erscheinungsbildern des Totalitarismus lernen, das Bestreben dieses Staates "läuft noch immer darauf hinaus, die Nation, die Gesellschaft, die Familie, die Religionsgemeinschaften und die Menschen selbst in sich aufzusaugen" .18 Die Kirche, das zeigte sich schon auch deutlich in der Pastoralkonstitution des 11. Vatikanischen Konzils "Gaudium et spes", anerkennt die richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeiten (Nr.36) und die Eigengesetzlichkeit der Sachbereiche, welche dem Staat und in ihm besonders der Demokratie zur Regelung aufgetragen sind. Die Kirche besitzt eine lange Erfahrung mit der Demokratie; sie hat sie in ihrer Lehre nicht vorbehaltlos anerkannt,19 zumal die Demokratie zunächst für die Kirche abschreckend im Zusammenhang mit der Französischen Revolution oft in der Erscheinung des Jakobinismus auftrat. In ihrer Verbundenheit mit dem Liberalismus ist der Demokratie die Entstehung des Rechtsstaates und die Gesetzesbindung des staatlichen Handeins gelungen. In seiner berühmt gewordenen Weihnachtsansprache 194420 hat Papst PiusXII. die Demokratie als politisches Ordnungssystem gegenüber anderen Systemen besonders hervorgehoben und auch Papst Johannes Paul 11. tut dies in "Centesimus Annus" : "Die Kirche weiß das System der Demokratie zu schätzen, insoweit es die Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen sicherstellt und den Regierten die Möglichkeit garantiert, sowohl ihre Regierungen zu wählen und zu kontrollieren als auch dort, wo es sich als notwendig erweist, sie auf friedliche Weise zu ersetzen".21

Papst Johannes Pauill. spricht sich daher für eine mögliche Breite der Demokratie aus; die Kirche "kann daher nicht die Bildung schmaler Führungsgruppen billigen, die aus Sonderinteressen oder aus ideologischen Absichten die Staatsrnacht an sich reißen" .22

Gerade weil die Kirche die verschiedenen Gefahren der möglichen Entwicklungen der Demokratie kennt, erklärt sie: "Eine wahre Demokratie ist nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich. Sie erfordert die Erstellung der notwendigen Vorbedingungen für die Förderung sowohl der einzelnen Menschen durch 18 Centesimus Annus NT. 45. 19 Dazu näher in diesem Band: Die Demokratie in der Lehre der katholischen Kirche. 20 Papst Pius XII. Grundlehren über die wahre Demokratie, Radioansprache vom 24. XII. 1944, in: Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius'XII., hrsg. von Arthur Fridolin Utz OP. und Joseph-Fulko Groner OP., 2. Aufl., Freiburg 1954 und 1961, NT. 3473ff. 21 Centesimus Annus NT. 46. 22 Centesimus Annus NT. 46.

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die Erziehung und der Heranbildung zu echten Idealen als auch der ,Subjektivität' der Gesellschaft durch die Schaffung von Strukturen der Beteiligung und Mitverantwortung" .23

Die Kirche weiß um die in der Demokratie erforderliche Meinungs- und Urteilsbildung möglichst vieler, um eine demokratisch legitimierte Staatswillensbildung zu gewährleisten; diese soll aber nicht willkürlich sein, sondern von einem möglichst breiten Konsens an Werten getragen sein. "Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus. "24 In "Centesimus Annus" wird jede Vereinseitigung abgelehnt, neben der des Totalitarismus, auch die der Verideologisierung, des Fanatismus und Fundamentalismus. Die Kirche ist auch in der Politik für die Offenheit des Blickes, der in der Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen seine Grundlage und im Gemeinwohl sein Ziel mit finden kann. Papst Johannes PaulI!. stellt daher fest: "Der christliche Glaube, der keine Ideologie ist, maßt sich nicht an, die bunte soziopolitische Wirklichkeit in ein strenges Schema einzuzwängen. Er anerkennt, daß sich das Leben des Menschen in der Geschichte unter verschiedenen und nicht immer vollkommenen Bedingungen verwirklicht. Darum gehört zum Vorgehen der Kirche, die stets die transzendente Würde des Menschen beteuert, die Achtung der Freiheit. 25 Aber die Freiheit erhält erst durch die Annahme der Wahrheit ihren vollen Wert. In einer Welt ohne Wahrheit verliert die Freiheit ihre Grundlage und der Mensch ist der Gewalt der Leidenschaften und offenen oder verborgenen Bedingtheiten ausgesetzt. "26

Vieles, was sich in den letzten Jahren sowohl in den saturierten Industrieund Wohlfahrtsstaaten als auch in ärmeren Staaten, vor allem auch in den Entwicklungsländern, aber auch in den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas an neuen Problemen ergab, ist von Papst Johannes Paul II. in "Centesimus Annus" behandelt worden. Gleich welches Wirtschafts- und Sozialsystem Platz greift, oft verdeckt ein falscher Materialismus, Utilitarismus und Utopismus die realen Erfordernisse des heute sittlich Notwendigen. Papst Johannes Paul H. spricht sich daher für alle Staaten für die unbedingte Anerkennung" vorrangigster Rechte" aus und nennt hiezu ausdrücklich: "das Recht auf Leben, zu dem wesentlich das Recht gehört, nach der Zeugung im Mutterschoß heranzuwachsen; das Recht zu einer geeinten Familie und in einem sittlichen Milieu zu leben, das für die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit geeignet ist; das Recht seinen Verstand und seine Freiheit in der Suche und Erkenntnis der Wahrheit zur Reife zu bringen; das Recht an der Arbeit zur Erschließung der Güter der Erde teilzunehmen und daraus den Lebensunterhalt für sich und Centesimus Annus Nr. 46. Centesimus Annus Nr. 46. 25 Vgl. H. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae. 26 Centesimus Annus Nr. 46. 23

24

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die Seinen zu gewinnen; das Recht auf freie Gründung einer Familie und auf Empfang und Erziehung der Kinder durch verantwortungsvollen Gebrauch der eigenen Sexualität. Quelle und Synthese dieser Rechte ist in gewissem Sinne die Religionsfreiheit, verstanden als Recht in der Wahrheit des eigenen Glaubens und in Übereinstimmung mit der transzendenten Würde der eigenen Person zu leben. "27

v. Betrachtet man diese Nennung der von Papst Johannes Paul II. genannten "vorrangigsten Rechte", so ist sie keine taxativ erschöpfende, sondern eine mehr demonstrative Aufzählung von Grundrechten, welche von allgemeiner existentieller Bedeutung für die Sicherung der transzendenten Würde des Menschen sind. Sie sind ansatzweise Teile von grundlegender Bedeutung an existentiellen, politischen, liberalen und sozialen Grundrechten, ohne daraus allein einen umfassenden Grundrechtskatalog als Grundlage eines Verfassungssystems erstellen zu können. Der ethische Gehalt dieser Fundamentalrechte ist stärker als deren normative Erfaßbarkeit. Es handelt sich bei diesen sogenannten "vorrangigen Rechten" nicht um Individualrechte, welche etwa der einzelne Staatsbürger bei einem Höchstrichter einklagen könnte, wie dies z. B. bei einem als subjektiv öffentliches Recht positivierten Grundrecht der Fall ist; es handelt sich vielmehr um an die in Staat, Parlament oder Regierung Verantwortlichen gerichtete Sozialgestaltungsempfehlungen, die ein Richtmaß für die Rechtssetzung und ihr folgend der Rechtsvollziehung sein können. Der Papst und die Kirche verfügen über keine Macht zur gewaltsamen Durchsetzung der von ihr vorgeschlagenen Fundamentalrechte, sondern vielmehr über die Lehrautorität höchsten Ranges, die auf die Gläubigen und darüber hinaus alle Menschen mit Gewissenhaftigkeit gerichtet ist. Dabei geht es um die Wahrung von fundamentalen Rechten und Werten, für welche eine allgemein umfassende Anerkennung in der Gemeinschaft der Staaten erreicht werden könnte. Eine Mißachtung derartiger Rechte, wie es z.B. die Abtreibung darstellt, wird zu Recht als "Skandal"28 bezeichnet, aber "auch verschiedene Anzeichen der Krise der demokratischen Systeme, denen mitunter die Fähigkeit zu Entscheidungen für das Gemeinwohl abhanden gekommen zu' sein scheint" ,29 werden verurteilt und mit Recht wird darauf hingewiesen, daß "Anfragen von seiten der Gesellschaft ... bisweilen nicht nach Kriterien der Gerechtigkeit und Sittlichkeit geprüft" werden, "sondern mehr nach der Wahl- oder Finanzkraft der Gruppen, die sie unterstützen. "30 Papst Johannes 27 Centesimus Annus Nr. 47; vgl. Papst Johannes PaullI., Botschaft zum Weltfriedenstag 1988: a.a.O., 1572 - 1580; Botschaft zum Weltfriedenstag 1991: L'Osservatore Romano, 19. Dezember 1990; 11. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae 1 - 2. 28 Centesimus Annus Nr. 47. 29 Centesimus Annus Nr. 47. 30 Centesimus Annus Nr. 47.

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PaulII. weist auf die Folgen derartiger Entwicklungen hin, welche übrigens heute z. B. sowohl in Industriestaaten des Westens, wie in neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas feststellbar sind, wenn er warnend erklärt: "Derartige Entartungen des politischen Verhaltens erzeugen mit der Zeit Mißtrauen und Gleichgültigkeit und in der Folge eine Abnahme der politischen Beteiligung und des Gemeinsinnes in der Bevölkerung, die sich hintergangen und enttäuscht fühlt. "31 Die Folgen dieser richtigen Kritik Papst Johannes Paul II. sind politisches Desinteresse, die Bildung von Alternativszenerien und politische Grenzgänger; diese Situation ist übrigens auch entstehend, weil die laufende Gesetzesflut oft mit der Normierung nicht immer die Motivierung zu verbinden versteht. Auch die Demokratie verlangt eine besondere Kultur im Staat. Die Kirche erkennt dies in ihrer katholischen Soziallehre und Papst J ohannes Paul II. drückt dies in "Centesimus Annus" besonders aus. Dabei wäre es aber falsch anzunehmen, die Kirche will ein für alle Zeiten und Orte allgemein gültiges, gleichsam "patentiertes Rezept" an politischer Staatsordnung vorschlagen oder gar aufzwingen. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Papst Johannes Paul II. betont mit aller Deutlichkeit: "Die Kirche achtet die berechtigte Autonomie der demokratischen Ordnung. Es steht ihr nicht zu, sich zugunsten der einen oder anderen institutionellen oder verfassungsmäßigen Lösung zu äußern. Der Beitrag, den sie zu dieser Ordnung anbietet, ist die Sicht von der Würde der Person, die sich im Geheimnis des Mensch gewordenen Wortes in ihrer ganzen Fülle offenbart."32 VI.

Es wäre eine Überforderung an die katholische Soziallehre und innerhalb dieser an päpstliche Lehräußerungen für jeden Staat die richtige Staats- und Regierungsform mit den geeignetsten Sozial- und Wirtschaftssystemen vorzuschreiben, nicht einmal vorzuschlagen. Aufgabe der Kirche wird es vielmehr sein, unabhängig von zeit- und ortsbedingten Gegebenheiten und Unterschieden die Grundvoraussetzungen des öffentlichen Lebens für eine der Freiheit und Würde des Menschen angepaßte politische Entwicklung, welche dem Gemeinwohl dient, zur Sozialgestaltung den Verantwortlichen in Staat und Völkergemeinschaft zu empfehlen. Nach dem Maß an Bindung im Glauben und im Gewissen werden diese Sozialgestaltungsempfehlungen mit entsprechender Breite und Tiefe angenommen werden oder nicht. Der Kirche geht es um die Anerkennung der sozial-ethischen Dimension des Zusammenlebens der 31 Centesimus Annus Nr. 47. 32 Centesimus Annus Nr. 47; vgl. 11. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes22.

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Menschen im Staat; was konkrete Schritte verlangt, auf die Papst Johannes Paul II. hinweist: "Die Wirtschaft, insbesondere die Marktwirtschaft kann sich nicht in einem institutionellen, rechtlichen und politischen Leerraum abspielen. Im Gegenteil, sie setzt die Sicherheit der individuellen Freiheit und des Eigentums sowie eine stabile Währung und leistungsfähige öffentliche Dienste voraus. Hauptaufgabe des Staates ist es darum, diese Sicherheit zu garantieren, so daß der, der arbeitet und produziert, die Früchte seiner Arbeit genießen kann und sich angespornt fühlt, seine Arbeit effizient und redlich zu vollbringen .... Eine andere Aufgabe des Staates besteht darin, die Ausübung der Menschenrechte im wirtschaftlichen Bereich zu überwachen und zu leiten."33

Papst Johannes PaulII. weiß zugleich auf diese Aufgaben des Staates wie auch auf die Grenzen ihrer Erfüllung hinzuweisen. So betont er die Pflicht des Staates zur Sozial- und Wirtschaftspolitik und damit auch für den Wohlfahrtsstaat, verbindet damit aber die Ablehnung der Tendenzen einer totalen Verstaatlichung und des Fürsorgestaates. Er spricht sich für die Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips in Staat und Gesellschaft aus;34 der Staat soll nur in "stellvertretenden Interventionen, die durch dringende, vom Gemeinwohl geforderte Gründe gerechtfertigt sind" ,35 in die Sozial- und Wirtschaftsentwicklung eingreifen. Auf diese Weise warnt die Kirche vor einer überflüssigen Aufblähung des Apparats der öffentlichen Hand und der damit nicht immer zu rechtfertigbaren vermehrten Staatsausgaben. Papst Johannes PaulII. nennt sogar in diesem Zusammenhang den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen des Staatsapparates, ... "die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen" .36 Ausgehend von der Familie, der Nachbarschaftshilfe, den Interessenverbänden und anderen Repräsentanten der Gesellschaft, nennt sie Papst Johannes Paul II. ausdrücklich "andere gesellschaftliche Zwischenkörper",37 welche "wichtige Aufgaben erfüllen und spezifische Solidaritätsnetze aktivieren".38 Derartige Hinweise sind für Papst Johannes PaulII. deshalb so wichtig, weil sie dem Gemeinwohl dienen und die Chance bieten, das Subsidiaritätsprinzip ausgeführt erleben zu lassen, wenn die individuelle Sphäre des Einzelnen und seiner Familie, der soziale Bereich der Gesellschaft und die imperiale Kompetenz des Staates aufeinander abgestimmt werden. Gerade weil das vorrangige Ziel der Kirche die Heilsfindung des Menschen ist, ist sie deshalb auch an der Herstellung und Aufrechterhaltung jener Lebensumstände interessiert, welche 33 Centesimus Annus Nr. 48. 34 Siehe Centesimus Annus, Nr. 48; vgl. Papst Pius X/. Enzyklika Quadragesimo anno, I. a.a.O., 184 - 186. 35 Centesimus Annus a.a.O. 36 Centesimus Annus Nr. 48. 37 Centesimus Annus Nr. 49. 38 Centesimus Annus a.a.O.

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der Freiheit und Würde des Menschen am besten angepaßt sind und eine Persönlichkeitsentfaltung gestatten, die den gläubigen Menschen auch zur Heilsfindung führen. Die Entwicklungen, Spannungen und Konflikte im politischen Leben der letzten hundert Jahre seit der Verkündigung von "Rerum Novarum" waren so zahlreich und mannigfältig, daß sie gerade für die Kirche Anlaß waren, zu diesem Jubiläum der ersten umfassenden Sozialenzyklika ihre Beurteilung der Zeitentwicklung mit Möglichkeiten, Gefahren und Grenzen des Staates, seines Rechts und seiner Politik immer im Hinblick auf den Menschen, mit dem die Kirche pastoral begleitend unterwegs ist und den sie auch soziale Gerechtigkeit zu vermitteln sucht, zu geben. Mit diesen Sozialgestaltungsempfehlungen hat Papst Johannes Paul H. in Fortsetzung der Tradition der Kirche versucht, zur Anpassung der politischen Bedingungen des Staates an die pastoralen Aufgaben der Kirche beizutragen. Papst Johannes PaullI. leistete damit dem in der heutigen Zeit vielfach gefährdeten Menschen und seiner Kirche einen entscheidenden Dienst, gleichzeitig aber auch dem Staat selbst, dessen Ordnung wie gerade die Ereignisse von 1989 zeigen, nur dann eine Chance auf eine möglichst dauerhafte Geltung erlangt, wenn sie von einer Autorität des Staates getragen ist, welche menschen- und glaubwürdig ist und deshalb den Staat als politische Autorität erleben läßt, die nicht auf Zwang allein, sondern auf einer Anerkennung beruht, welche die Überzeugung des Einzelmenschen miteinbezieht. Dies verlangt in der Zukunft aus der Sicht der Kirche für den Staat und seine Sozialordnung sowohl eine Zustände- wie auch eine Gesinnungsreform, 39 zu beiden hat Papst Johannes Paul H. in "Centesimus Annus" Wegweisendes geleistet, was in dem letzten Jahrzehnt, welches das Erbe eines ganzen Jahrtausends zu bringen hat, besonders erforderlich ist und dankenswert war.

39

Näher dazu Schasching, a.a.O., S. 81.

Der Einzelne in Kirche, Staat und Gesellschaft Die Betrachtung des Begriffes der Kirche, wie er uns durch das Zweite Vatikanum vermittelt wurde, und ihrer Soziallehre sowie ihre Konfrontation mit den "Zeichen der Zeit" in Staat und Gesellschaft, haben uns die große Verantwortung des Einzelnen in der Kirche und als Teil der Kirche im Staat und in der Gesellschaft bewußt werden lassen. Das Konzil hat dem einzelnen Laien ein eigenes Dekret über das Laienapostolat gewidmet. Die Gründe für seine Eigenverantwortung sind ebenso mannigfach wie seine Aufgaben. Der erste Grund für die eigenverantwortliche Tätigkeit des Laien liegt im Auftrag der Kirche selbst. Er ist nämlich keiner der Weltbeherrschung, sondern der Heilsfindung. Die Seelsorge ist daher der vorrangige Aufgaben- und Pflichtenkreis der Kirche, zu deren Schutz und möglichst umfassenden Ausübung die Kirche sich auch mit Fragen der innerweltlichen Ordnung beschäftigen mußte. Dabei hat früher die Kirche der Politik im Staat und der Entwicklung der Gesellschaft gegenüber eine mehr reservierte Haltung eingenommen, und man kann sich heute wirklich nicht des Eindruckes erwehren, daß die Kirche vergangener Zeiten, in diesem Falle die Hierarchie, manche Spannung im Staat und der Gesellschaft hätte beseitigen und manchen Konflikt hätte verhindern können. Wie anders hätte doch auch die politische Entwicklung ausgesehen, hätte die Kirche nicht erst mit Papst LeoXIII. der ausschließlich negativen, d. h. im nachhinein verurteilenden Methode eine Absage erteilt, sondern schon in früheren Jahrhunderten zu einem gesellschaftspolitischen Reformprogramm angeleitet. Durch Jahrhunderte hätte überdies auch die oft zu sehr mit weltlichen, d. h. ganz konkret staatspolitischen Aufgaben beschäftigte Amtskirche Gelegenheit gehabt, die Völker für eine politische Mitsprache im demokratischen Sinn mündig zu machen. Andere Formen der Demokratie hätten sich vielleicht im ausgehenden 18. und hernach im 19. und 20. Jahrhundert gezeigt, und die Sozialrevolutionen unserer Tage wären in manchen uns heute gar nicht mehr frei zugänglichen Ländern wahrscheinlich anders, bestimmt aber milder ausgegangen. Man darf dem noch hinzufügen, daß auch eine frühere Besinnung auf den Volk-Gottes-Gedanken die Trennung der christlichen Brüder nie so vertieft hätte. Die ökumenische Brüderlichkeit hätte der Katholizismus aus diesem Grunde in seiner Geschichte nie verlieren dürfen. Wie anders wäre auch die Geschichte der Welt ausgegangen, hätte eine Brüderlichkeit, die ökumenisch und ökonomisch zugleich ist, das Denken,

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Fühlen und Wollen der Katholiken geprägt! Die Geschichte hat uns jedoch andere Wege geführt und der Herr allein wird wissen, warum. Vielen mag das Ereignis des Zweiten Vatikanums bei Betrachtung dieser Tatsachen unserer Geschichte als ein Wandel erscheinen. Es wurde bereits bemerkt, daß dies keine Auflösung des bisher Bestehenden, sondern vielmehr eine neue Anwendung des Beständigen im Lehrgut der Kirche in einem Sinne ist, den man deshalb auch als konservativ bezeichnen kann, weil er das für wahr Gehaltene bewahren und zur zeit- und ortsgebundenenFolgerung führen will. In ihrer Verkündigung der Lehre ist die Kirche wohl von der negativen, also nachträglich verurteilenden, zur positiv-vorausblickenden Methode übergegangen: einer neuen Form der Lehrverkündigung, die ein besonderes Engagement der Kirche mit sich bringt. Dadurch, daß die Kirche sich am Zeitgeschehen beteiligt, wird sie selbst am Geist der Zeit mitverantwortlich. Sie kann nicht sagen, nicht dabei gewesen zu sein und davon nichts gewußt zu haben. Im Gegenteil, die Dokumente des Zweiten Vatikanums haben erstmals in der Geschichte der Kirche ausdrücklich festgestellt, daß die Kirche von dieser Welt etwas lernen kann, sie hat den Versuch unternommen, die Welt aufzufordern, in die Kirche zu kommen. Wenn man bedenkt, daß das Wort Kirche von Versammlung stammt, in die Gott einladet, dann darf dieser Ruf nicht überraschen. In diesem Sinn ist nicht bloß die Kirche in der Welt, sondern soll auch die Welt in die Kirche kommen. Wenngleich die Kirche eine Veränderung in der Art durchgemacht hat, wie sie ihrer Weltverantwortung nachkommt, darf doch nicht übersehen werden, daß der Kirche weiter Grenzen gesetzt bleiben, die darin begründet sind, daß sie eine Weltkirche ist. Das heißt: nicht bloß Kirche in der Welt, auch nicht Kirche von dieser Welt, sondern vielmehr Kirche für diese Welt in ihrer Gesamtheit. Die Kirche wird im Hinblick auf die Tatsache, daß sie zur Heilsfindung der ganzen Welt aufgerufen ist, auch heute nicht davon abgehen können, nur generell-abstrakte Empfehlungen zu geben. Es wird auch in der Zukunft ein großer Abstand zwischen den sittlichen Prinzipien, welche die Kirche kraft ihres Hirtenamtes für die ganze Welt und nicht bloß für einzelne Erdteile oder Kulturstufen verkündet hat, und jenen konkret bezogenen Imperativen bestehen bleiben, die Leitsätze für den einzelnen staatlichen Gesetzgeber sind. Dieser Abstand wird immer größer werden, weil das Leben unserer Tage immer komplizierter und die Bewältigung der Freiheitssituation immer schwieriger wird. Mit dieser Freiheit wächst aber die Verantwortung des Laien. Er ist nämlich aufgerufen, diesen Raum zwischen sittlichem Imperativ und konkretem Akt in Eigenverantwortung auszufüllen. Zur Erfüllung dieser Eigenverantwortung des Laien wird ein großes Umdenken erforderlich sein. Man wird nämlich erkennen müssen, was bereits

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Papst JohannesXXIII. betont hat, daß es verschiedene Möglichkeiten gibt, in der Gesellschaft eines Staates den Grundsätzen der Soziallehre der Kirche gerecht zu werden, und es wird keiner in der politischen Auseinandersetzung das Recht haben, seinen Lösungsvorschlag als den einzig richtigen auszugeben. Verschiedene Weisen werden mit den Lehrgrundsätzen der Kirche vereinbar und durchführbar sein. In diesem Sinne hat auch die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute betont, was Schillebeeckx besonders hervorhebt, daß es auch in christlicher Hinsicht einen Pluralismus in der politischen und sozialen Stellungnahme geben kann, so daß die einen nicht von den anderen als "weniger gute Christen abgestempelt werden dürfen".1 Diese Tatsache richtet sich auch gegen die Kirche mit ihrer Hierarchie selbst. Keine Bischofskonferenz eines Landes wird durch ihre Vertreter auch nur ein Sozialmodell als ausschließlich vereinbar mit der Lehre der Kirche und mit einem Verbindlichkeitsgrad im Gewissen ausgeben können, wenn daneben noch andere denkbar und vereinbar sind. So kann in verschiedenen Rechten der Freiheit und Würde des Menschen, etwa dem Grundrecht der Subsidiarität, entsprochen werden. Es gibt dabei nicht nur Bereiche - und es sind nicht wenige - die naturrechtlich neutral sind, wie z. B. die Straßenverkehrsordnung, es gibt daneben auch Bereiche, denen keine naturrechtliche Allgemeingültigkeit, sondern eine orts- und zeitgebundene Wandelbarkeit eignet, die einer staatlichen Regelung im positiven Recht bedarf. Ein Naturrechtsbefehl bis zu einer Hausordnung im Staat ist daher unmöglich. Dieser Unterschied zwischen der von der Kirche verkündeten Lehre und der konkret zu bewältigenden Wirklichkeit ist ein Anliegen der Seelsorge in ihrer Hierarchie und ein Risiko für die Kirche in ihrer Laienwelt, denn nur zu oft wird sich die Richtigkeit oder Unrichtigkeit erst im nachhinein und nicht im vorhinein feststellen lassen. Es scheint aber, daß die Freiheit im Dasein des Christen immer inbegriffen ist. Das darf uns aber nicht verzagt sein lassen, denn je komplizierter die Situation, desto größer wird damit der Freiheitsraum und desto aktueller werden die allgemeinen sittlichen Prinzipien sein. Die Bewahrung des allgemeingültigen Charakters der Lehre der Kirche ist daher auch ein Gebot der Stunde, das die Kirche in ihrer Hierarchie und in ihrer Laienwelt in gleicher Weise trifft. Kein Bischof kann konkrete politische Befehle erteilen und kein Laie solche Befehle als Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe erwarten. Jeder hat seine Verantwortung zu tragen, keiner darf seine Möglichkeiten überschreiten. Mit Karl Rahner können wir daher auch sagen: "Sowohl die laikaien Defaitisten, die darüber jammern, daß das Amt der Kirche jämmerlich hinter seinen Gegenwartsaufgaben zurückbleibe, versage, und immer wieder von neuem auf das falsche Pferd setze, als auch die klerikalen Triumphalisten, die 1 Edward Schillebeeckx, Besinnung auf das Zweite Vatikanum. Vierte Session. Bilanz und Übersicht, Wien/Freiburg/Basel1966, S. 31.

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mit glühender Begeisterung die Prinzipien der Kirche verkünden und meinen, der mondo megliore würde strahlend heraufziehen, sobald nur diese Prinzipien allgemein angenommen sind, unterschätzen theoretisch und existentiell die eigentliche, die religiöse Aufgabe der Kirche. Daß das Abendmahl des Herrn gefeiert und sein Tod verkündigt wird, bis er wiederkommt, daß im Namen des dreifaltigen Gottes getauft und Gottes rechtfertigendes Wort verkündigt wird, daß wir im Leben und Tod, und, also in unserem ersten wie in unserem letzten Scheitern, des Herrn sind; daß wir glauben, hoffen und lieben, das zu verkünden und zu vermitteln ist die eigentliche Aufgabe der Kirche. "2

Der Glaube, die Hoffnung und die Liebe sind nicht nur Zustände des Wortes, sondern vielmehr der Tat, und Aufgaben des Laien, dem dieses Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe verkündet wird. Dies ist kein leichter Auftrag, er verlangt eine Eigenständigkeit des Laien, dem wohl das Gebot der Liebe gepredigt, dem aber nicht vorher gesagt werden kann, was alles sich als liebenswert erweisen wird. An ihn, den die Schwere des Liebesgebotes besonders trifft, richtet sich auch das Wort des Thomas von Aquin: Die Sünden der Lieblosigkeit zählen schwerer als die Sünden der Liebe. 3 Kirche in dieser Welt heißt Liebe zu dieser Welt. Man wird aber kaum jemanden bis zum notwendigen Bezug und letzten Vollzug lieben können, wenn man ihn nicht in seiner ganzen existentiellen Situation und seiner essentiellen Position erfahren hat. Dieses Erfahren vermittelt uns das Gespräch, der Dialog.

Wir sind heute alle in diese Zeit des Dialogs eingetreten: in der Kirche durch den Geist der ökumenischen und ökonomischen Brüderlichkeit, im Staat durch den Dialog in der Demokratie, in der Gesellschaft durch die Pluralität, d. h. durch die Vielschichtigkeit der Gruppen, die alle aufeinander angewiesen sind. Wir müssen aber nach den parteipolitischen und kirchenpolitischen Kämpfen um die eine Kirche, die allein seligmachend zu sein beansprucht, nach den Kämpfen um die Demokratie, die unseren Staaten den Stempel aufdrückt und dem Reiben der Schichten in der pluralistischen Gesellschaft, im Hinblick auf die Tatsache, daß sich alle in jeder Weise so nahegerückt sind, erkennen, daß wir uns keine weltweiten Auseinandersetzungen mehr leisten können, ohne eine weltweite Katastrophe hervorzurufen. Wir müssen uns vielmehr um einen echten Dialog in dieser Welt und mit dieser Welt bemühen. Papst Paul VI. hat zu diesem Dialog der Kirche mit der Welt bereits 1964 in seiner Enzyklika "Ecclesiam suam" aufgerufen. Wie soll dieses Gespräch gestaltet sein? Es wird, wie bereits betont, ein Dialog und keine Diskussion sein müssen. Das soll heißen, daß unter Aner2 Karl Rahner, Grenzen der Amtskirche, in: Katholizismus und Kirche, Würzburg 1965, S. 36. 3 Siehe Thomas von Aquin, Summa Theologica, 111, qu.73 art. 5, 11 11 qu. 23 art. 6, 11 11 qu. 141 art. 8, 11 11 qu. 152 art. 5, sowie 111 qu. 62 art. 4, qu. 66 art. 6.

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kennung des Rechtes jedes Gesprächspartners auf eine sanktionslose eigene Meinung ein Gespräch zum Zwecke des gegenseitigen Verstehens und der Aufdeckung des gemeinsam Verbindenden - weniger des gegenseitigen Überzeugens mit dem Ziel der Selbstaufgabe - zu führen ist. Der Dialog soll ja eine Wechselrede sein, die zu einer Verbindung führt.

Anders die Diskussion, die schon nach der Herkunft ihres Namens aus dem Lateinischen das Zerschneiden eines Gemeinsamen ist. Der Dialog soll verbinden, die Diskussion trennen, was aber nicht heißen soll, daß nicht auch ein Dialog zu einer Diskussion ausarten und eine Diskussion sich zu einem Dialog wandeln kann. Es ist aber sicher, daß nur der Dialog die einzig mögliche Form der Existenz, nämlich der Koexistenz in unseren demokratischen Staaten mit ihren pluralistischen Gesellschaften ist. Das soll aber nicht falsch in dem Sinne verstanden werden, als sei es notwendig, daß der eine der beiden Gesprächspartner seinen eigenen Standpunkt aufgibt, um eine Einigung zustande zu bringen. Das wäre dann keine Einigung im Sinne der Bewältigung eines Problems, sondern eine Überwältigung, wenn auch eine friedliche. Dieses Ergebnis des Dialogs ist nicht gemeint; es wäre auch falsch in dem Sinne, daß kein Dialog bestünde, sondern ein Monolog entstünde. Der Dialog verlangt seinen Teilnehmern viel Disziplin ab, daß er nicht auf die Überwältigung oder Missionierung des Gegners abgestellt, sondern vielmehr als die wichtigste Möglichkeit der Selbstfindung im Gespräch mit dem Nächsten anerkannt wird, der, ob gläubig oder nicht, der Bruder ist und bleibt. Es kann auch durch den Dialog der Einzelne sich am anderen erleben, prüfen und sogar erkennen. Er ist ihm Partner, in diesem Fall nicht nur des Gesprächs, im Staat und in der Gesellschaft, sondern auch Partner - hier Begleiter - um die gewollte oder ungewollte, bewußte oder unbewußte Heilsfindung geworden. Das ist aber nur im Dialog, nicht aber durch die Diskussion möglich. Dieser Dialog, der heute immer mehr zu der Form des Daseins in und mit der Kirche, im Staat und in der Gesellschaft wird, kann aber nur dann sinnvoll geführt werden, wenn er von einer Gesinnung echter Toleranz getragen ist. Diese ist dann gegeben, wenn wir den anderen mit seiner Meinung auch dann bestehen lassen, wenn sie nicht die unsere ist und wir den anderen nicht überzeugen konnten. Toleranz ist dann nicht ein Ausdruck der Schwäche, des Nichtüberwältigenkönnens des Nächsten, sondern vielmehr ein Zeichen der Stärke, die schon nach der Übersetzung des Wortes aus dem Lateinischen eine Stärke des Geduldens, Erduldens und Ertragens ist. Diese Toleranz ist eine christliche Tugend, weshalb wir den Pluralismus, gleich ob in Kirche, Staat und Gesellschaft, als eine heils geschichtliche Notwendigkeit bezeichnen möchten. Der Pluralismus als Aufgabe scheint mit zum Heilsplan Gottes zu gehören. Übersehen wir es auch nicht, die Kirche war in dieser Welt immer in der Minderheit und wird es auch bleiben. Diese Diasporasituation ist zudem eine Aufgabe, die bei der Stiftung der Kirche scheinbar mitgegeben worden ist.

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Beurteilen wir daher den Pluralismus nicht negativ und sehen wir in der Diasporasituation der Kirche die Chance ständiger Übung der christlichen Tugend der Toleranz im Sinne einer Erfüllung der Freiheit. Der Christ hat daher auch zu der Erweiterung der Freiheit, die in jeder Weise - sei es durch vermehrte Demokratisierung im Staat oder durch zunehmende Verschichtung in der Gesellschaft - eintreten mag, ein Ja zu sagen, denn jeder dieser Freiheitsräume bewirkt eine Mehrung der Chance der Selbstfindung und damit der Heilsgewährung. Man kann daher Karl Rahner nur zustimmen, wenn er erklärt: "Wenn sich also der Freiheitsraum weitet, selbst unter Schuld der Menschen, so braucht das den Christen grundsätzlich nicht zu schrecken. Ist er weiter und so auch unvermeidlich gefährlicher geworden, dann kann der Christ das ruhig und unbefangen zur Kenntnis nehmen als die Verfügung des Herrn der Geschichte. Er kann sich sagen, daß es früher relativ zur Gesamtwirklichkeit der menschlichen Kultur und Gesellschaft vielleicht mehr objektiv Christliches gegeben habe, daß es darum aber noch lange nicht ausgemacht sei, daß es darum allein schon auch so mit dem frei getanen Christlichen bestellt gewesen sein müsse. Darauf aber kommt es letztlich allein an. Eine äußerlich homogene christliche Gesellschaft in Sitte, Recht, öffentlich verlautbarter Überzeugung, die der Freiheitstat als Raum vorgegeben ist, ist noch längst keine eindeutige Ursache und kein sicheres Argument dafür, daß dieses Christliche auch wirklich im freien Glauben, Hoffen und Lieben getan wird und so wirklich Ewigkeit zeitigt. Es kann auch sein, daß solches Christliche nur wirkt wie eine Art Dressur, fast als eine Weise subtiler Gehirnwäsche, als soziologischer Zwang und Routine, die bürgerliches Christentum, aber keine christliche Freiheitstat bewirken und letztlich darum vor Gott belanglos bleiben. Eine weltanschaulich pluralistische Gesellschaft mag, christlich gesehen, gefährlich sein, dem objektiven Bestand an Christentum und Kirche Abbruch tun; ob aber Gott auf diesem Acker nicht ebenso viele Früchte frei getaner Ewigkeit gewinnt wie auf dem Acker der guten alten Zeiten, das kann Er allein schließlich wissen. Er hat uns weder dies noch das Gegenteil mitteilen wollen". 4 Dies sind fortschrittliche Gedanken, die manche Tat der Kirche vergangener Jahrhunderte als verfehlt erscheinen lassen. Papst Paul VI. hat dafür auch auf dem Konzil deutliche Worte der Entschuldigung gesprochen. Es waren klare Worte, aber auch notwendige Worte, notwendig deshalb, weil allzuviel

in der Kirchengeschichte zweier Jahrtausende im Namen des Herrn für den Herrn politisch verlangt und verdammt wurde, was nicht Ihm, sondern dem weltlichen Ausdruck der von Ihm gestifteten Kirche zugedacht war. Der Weg von den Verbrennungen bis zum Schema 13 war ein weiter, sowohl für die Hierarchie als auch für die Laien in der Kirche.

Hat aber die Kirche in der heute von ihr vertretenen Soziallehre - und diese steht in unseren Betrachtungen im Vordergrund - die Glaubwürdigkeit für 4 Karl Rahner, Ursprünge der Freiheit, in: Über die Freiheit, Stuttgart und Berlin 1965, S. 38f.

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sich, den Dialog in dem Geist der Toleranz zu suchen, oder handelt es sich um eine von vielen Ideologien? Eine Ideologie ist eine Lehre, die von der Erfahrung einer Teilwirklichkeit aus den gesamten Bereich des Innerweltlichen zu erklären sucht. In diesem Sinne sind z. B. der Liberalismus, der von der Erfahrung des eigenen und einzig scheinenden Ichs, und der Marxismus, der von dem Erleben der kollektiv gefaßten Gemeinschaft ausgehen, Ideologien. Viele andere Ideologien ließen sich noch hinzuzählen. Die Lehre der Kirche ist aber keine Ideologie, sondern die Lehre von einer umfassenden Seinsordnung, welche nicht bloß die Formen des Seins, sondern vielmehr auch den Grund des Seins - die Schöpfung selbst - zu erklären sucht. Sie ist eine Religion, eine Lehre, die keinen Teilaspekt absolut setzt und sich mit der Erfahrung des Innerweltlichen nicht begnügt, sondern die Erfahrungen des Innerweltlichen vielmehr mit der Erfahrung des Überweltlichen, der Transzendenz, konfrontiert. Die Lehre des Christentums könnte sich auch mit einer Ideologie schon deshalb nicht "messen", weil jede Ideologie in ihrer Wirkkraft auf ein angebbar Fühl- und Spürbares abgestellt ist. In dieser Weise ist die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen und der Heilsauftrag der Christen wohl unvergleichbar etwa mit der Blut- und Bodenlehre des Nationalsozialismus und der auf Pläne und Daten abgestellten Lehre des Kommunismus, nach welcher Freiheit die Kenntnis der ökonomischen Gesetzmäßigkeit ist. Die Kirche hat nämlich in ihrer Soziallehre die "innere" Freiheit des Einzelnen ständig als Wirkgrund in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen über Staat und Gesellschaft gestellt und alle Erscheinungsformen "äußerer" Freiheit als Reflex sozialer Institutionen daran gemessen. Die Kirche hat eine Lehre entwickelt, die allumfassend zu sein sucht. Das drückt sich z. B. in bezug auf den Staat in seiner Auffassung als societas naturalis, completa und perfecta ebenso aus wie in bezug auf all die Gliederungsmöglichkeiten der Gesellschaft aus dem Grundsatz der Subsidiarität, der Autorität und der Solidarität. Es sei aber nicht geleugnet, daß manche Vertreter der Kirche diesen allumfassenden Charakter der Lehre übersehen haben und einerseits durch die Absolutierung von Einzelgrundsätzen die christliche Gesellschaftslehre verideologisiert und andererseits dadurch, daß sie verschiedene Möglichkeiten in jenem Raum als Naturrecht ausgegeben haben, von dem Papst PiusXII. im Hinblick auf die mögliche Einsicht in die wesenhaften Strukturen seiner Ordnung sagte, daß hier die Natur schweige, die Lehre vom christlichen Naturrecht um einen Großteil ihres Ansehens gebracht haben. In derselben Weise, in der die Anerkennung des Naturrechts für die dauernde Geltung des positiven Rechts erforderlich ist, ist auch die Anerkennung der Grenzen der Möglichkeiten des Naturrechts ein Gebot für seine dauernde Autorität. Zu dieser Unterscheidung der Lehre des Christentums von den Ideologien unserer Tage tritt noch ein Umstand hinzu, der den Vollzug des Auftrags all10 Schambeck

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umfassender Seinsbetrachtung, Seinserfahrung und Seinsgestaltung bestärkt, nämlich die Tatsache, daß die Gesellschaftslehre der Kirche erkenntnistheoretisch auf dem Boden des kritischen Realismus steht, der eine Einbeziehung aller Real- und Idealgegebenheiten verlangt. Während die Ideologien sich nun gegenseitig ausschließen, bemüht sich die Kirche in ihrer Lehre, all diese Momente - von der Blut- und Bodenlehre des Nationalsozialismus, über den Eigenwert der menschlichen Person des Liberalismus bis zum Kollektiv des Marxismus - in der ihr eigenen Weise wesensbezogen zu ordnen. So steht die Kirche als Lehre über den Ideologien, als Institution nicht zwischen den Verbänden, sondern über den Verbänden, die sie in ihrer Lehre vom Gemeinwohl zu ordnen trachtet. "Darum wendet sich die Kirche mit der ihrem Sendungs auftrag gemäßen Verkündigung", wie es Johannes Messner ausdrückt, "auch nicht an die Parteien und Verbände, sondern an die Menschen aller Parteien und Verbände".5 Das ist aber nicht bloß eine politologisch zu beachtende Tatsache, sondern auch eine Verpflichtung für die Kirche, sich an dem Kampf der Pluralität der Verbände in einem Staat nicht zu beteiligen. Aus demselben Grund, aus dem einerseits für einzelne Exponenten der Hierarchie in der Politik ein Maß an Selbst be scheidung schon aus dem Grund zu empfehlen sein wird, daß nicht der Seelsorgeauftrag der Kirche in die politische Auseinandersetzung geführt wird, ist umgekehrt als Folge dessen das vermehrte Engagement des Laien in Eigenverantwortung so notwendig geworden. Ihm obliegt in derselben Weise, in der die Kirche aus ihrer grundsätzlichen Neutralitätshaltung gegenüber den Staatsformen, den Staaten selbst die Wahl ihrer Staatsform läßt und ihre Sozialgestaltungsaufträge allgemein faßt, die Inhaltserfüllung dieser Grundsätze. Diese Inhaltserfüllung der gesellschaftspolitischen Grundsätze der Kirche wird eine vermehrte Heranziehung aller Bereiche der Profanwissenschaften - ob es die Naturwissenschaften oder die Geisteswissenschaften sind - verlangen. Der Laie wird auch kraft Auftrags der Kirche sich am Gespräch der Wissenschaften zu beteiligen haben, und das nicht lenkend von einem gleichsam ideologisierenden Einflußstreben getragen, sondern vielmehr als dankbar Empfangender, als Zuhörer, der geduldig die Pluralität der Meinungen und die Unmöglichkeit, in kurzer Zeit eine Synthese zu erarbeiten, erträgt. Franz Kardinal König hat dazu bemerkt: "Nichts wäre verhängnisvoller, als wollte man - vielleicht unter Zuhilfenahme theologischer Aussagen - gleich wissen, wohin alles führt und wie die Einheit zu erreichen wäre. Wir dürfen die Vielgestaltigkeit nicht vorschnell überspringen; sie nicht mit der Berufung auf etwas Letztes kurzsichtig abtun".6 5 Johannes Messner, Der Staat, in: Die Kirche und die Mächte der Welt, Wien 1961, S.109. 6 Franz Kardinal König, Rede beim Te Deum im Wiener Stephansdom anläßlich der 600-Jahrfeier der Wiener Universität am 10. Mai 1965, zitiert nach Kathpress-Dokumentation Nr. 109/e/b.

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Genau so wie die Bedeutung der Sachlichkeit der Wissenschaft für die Ordnung der Gesellschaft nicht übersehen und unterschätzt werden darf, darf sie aber auch andererseits in der Weise nicht überschätzt werden, wollte man meinen, daß durch eine lückenlose Institutionalisierung aller Interessen und Versachlichung aller Anliegen eine Harmonie besonderer Art und Sicherheit besonderer Qualität erreicht werde. Das ist unmöglich. Aus der Erkenntnis von Tatsachen allein lassen sich noch keine Postulate ableiten; es bedarf des geordneten Denkens des Menschen. Es käme dem Verfolgen eines positivistischen Leitbildes gleich, wollte man meinen, daß in einer zukünftigen Gesellschaft die Sachnotwendigkeiten und die Vernünftigkeiten eine so zwingende Macht ausüben werden, daß sie aus sich heraus imstande seien, den Gesellschaftsprozeß in seinen wesentlichen Bereichen zu steuern. Das vor allem dann, wenn auf Grund der fortschreitenden Wissenschaft und der allgemeinen Bildung der Menschen die wirtschaftlichen und sozialen Prozesse eine größere Transparenz erhalten. Dies stellt Johannes Schasching klar und fügt noch hinzu: "Wir wissen aber ebenso aus der Erfahrung des individuellen Erlebens und aus der Geschichte der menschlichen Gesellschaft: Obwohl von der Sache her bestimmte Handlungen der menschlichen Vernunft geradezu aufgetragen wurden, wurden sie von der Emotion oder vom Willen beiseite geschoben und durch andere ersetzt ... Von den Sachen her sind absolut keine zuverlässig wirkenden Ordnungsgarantien gegeben. Sie sind für mehrere Zwecke verwendbar. Es bedarf ganz wesentlich der Ordnungsimperative, die nicht materiell-technischer, sondern geistiger Art sind. "7

Wären diese geistigen Ordnungsimperative nicht erforderlich, würde der Mensch einem Automatismus von ausschließlich sachlich begründeten Vorgängen ausgeliefert sein, der keinen Raum mehr für jene Freiheit ließe, aus der der Mensch allein zu leben vermag. Dies muß man heute bei der Zunahme eines immer mehr um sich greifenden naiven Intellektualismus, der auch in der Politik Platz greift, erkennen. Ralf Dahrendorf hat schon bemerkt, "daß der Sozialwissenschaftler, wenn er seinen Untersuchungen des Wirklichen nicht ebenso gründliche Untersuchungen des Wünschbaren hinzutut, sich eines Tages in der Gesellschaft finden mag, die er selber vorausgesagt hat, sich aber nie in der Gesellschaft finden wird, in der er gerne leben möchte".s

In diesem Sinne möchten wir auch diese Betrachtungen schließen. Der Kirche in der Welt von heute ist nicht dadurch entsprochen, daß man einerseits ihre Geschichte kritisiert und die Autorität des unvergänglichen Teiles ihres Glaubensgutes leugnet, oder andererseits ihre Geschichte so behandelt, wie sie nur die Zukunft verdient, und es nicht wagt, die Tradition im echten Sinn als Auftrag anzusehen, nämlich als Auftrag zur Wahrheitsweitergabe. Dem 7 Johannes Schasching, Soziologische Aspekte der gesellschaftlichen Verflechtung, in: Fragen des sozialen Lebens - Vergesellschaftung und Freiheit, Wels 1966, S. 102. 8 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, München 1961, S. 358.

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Staat unserer Tage ist nicht dadurch entsprochen, daß man sich, abgeschreckt oder ermüdet von den Strapazen seiner demokratischen Staatsform, resignierend in die Katakomben und das Labyrinth des Privatlebens zurückzieht; in diesem Fall geht nämlich die Freiheit in der Demokratie verloren. Es ist aber auch letztlich nicht der fluktuierenden Pluralität unserer Gesellschaft und ihrer Dynamik dadurch Rechnung getragen, daß man sie bloß registriert. Die Verantwortung beginnt ja erst in dem Augenblick, in dem der Prozeß des Erkennens abgeschlossen ist. Wissen heißt ja Mitwissen von etwas, das man weiß und für das es nun gilt, Verantwortung zu tragen. Verantwortung tragen heißt aber: Antwort geben auf den Ruf der Zeit.

11. Fragen der Verwirklichung

Die Kirche - Gottes Volk in der WeIt Fragen wir nach der Kirche in der heutigen Welt, gilt es zunächst, ihr Wesen aufzudecken. Der Jurist kann sich die Beantwortung dieser Frage verhältnismäßig leicht machen. Er fragt nach dem Begriff der Kirche im Rechtssinn, d. h. nach ihrem Rechtscharakter, also nach dem Rechtswert, der ihr in der Rechtsordnung verliehen wird. Die Antwort ist nicht allzu schwer zu geben, sie kann gleichsam aus der Rechtsordnung des jeweiligen Staates abgelesen werden. Danach kann die Kirche entweder ein Verein oder eine Körperschaft öffentlichen Rechtes sein. Sie ist damit in bestimmter Weise dem Staat, in dem sie wirkt, unterworfen und auch von ihm abhängig. Das Reich Christi, von dem der Herr selbst sagt, es sei nicht von dieser Welt, ist mit dieser juristischen Feststellung aber nicht gemeint. Sie erlaubt ja auch keine allgemeingültige, d. h. für alle Staaten in gleicher Weise geltende Beantwortung, sondern nur die Vermittlung von Bestimmungen des Kultusrechtes des jeweiligen Staates. Ihre Geltungsdauer hängt sehr vom Willen des staatlichen Gesetzgebers ab und ist mit unserer Frage nicht gemeint. Sie ist vielmehr auf die für alle Staaten in gleicher Weise gültige Wesenheit der Kirche, wie sie uns heute nach dem Zweiten Vatikanum einsichtig ist, gerichtet. In ihrer allgemein gültigen Wesenheit ist die Kirche die von Jesus Christus gestiftete Heilsgemeinschaft der Menschen, die in der Welt gegenwärtig ist. Die Kirche ist schon im Sinne des Wortes ein Ausdruck des Aufrufes Gottes an die Welt. Das Wort Kirche leitet sich nämlich aus dem griechischen Wort ExxAwLa ab, was Versammlung bedeutet. Kirche ist danach die Versammlung, in die Gott einlädt. Dieser Ruf in die ecclesia erging zunächst an sein Volk Israel. Hernach wurde er hinausgetragen von den zwölf Aposteln in die ganze Welt. Dieser Kirche überträgt er die Binde- und Lösegewalt auf Erden: "Was immer ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein" (Mt 18, 18).

In diesem Satz wird nicht die Einzahl, sondern die Mehrzahl gebraucht. Nicht ein Einzelner oder Einzelne, sondern alle sind angesprochen, sie sind Erben Jesu Christi. So werden auch in der dogmatischen Konstitution über die Kirche nicht mehr wie seit dem 8. Jahrhundert nur der Papst, sondern vielmehr alle Bischöfe "als Stellvertreter und Gesandte Christi", als "vicarii Christi"!, bezeichnet. Christus gegenüber soll die ganze universale Kirche als 1 Dogmatische Konstitution über die Kirche, in: Konzilsdekrete 1, 2. Aufl., Recklinghausen 1966, S. 50ff.

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gegenwärtig dargestellt werden. Wenngleich auch jedem Bischof eine Teilkirche zugewiesen wird, sind die Ortsbischöfe doch durch den einen Aufruf und Auftrag verbunden, der jeden Partikularismus verbietet, weil der Auftrag nur durch den ständigen Hinblick auf das Ganze erfüllt werden kann. Wir erfahren aber in dem uns durch das Konzil aufgedeckten Begriff der Kirche nicht allein eine Erweiterung der Aufgaben der Stellvertretung Christi auf Erden, sondern ebenso eine Erweiterung der Zugehörigkeit zur Kirche. Bis zu den Nichtgläubigen sind alle, die im Sinne des Wortes des Herrn guten Willens sind, Glieder der einen Kirche. Sie alle gehören zum Volk Gottes. Auch diejenigen, "die das Evangelium noch nicht angenommen haben, sind auf das Gottesvolk auf verschiedene Weisen hingeordnet"2. Sogar diejenigen werden einbezogen, "die in Schatten und Bildern den unbekannten Gott suchen, denn ihnen ist dieser Gott nicht ferne, da er allem Leben und Atem und alles gibt (vgl. Apg 17,25 - 28) und als Erretter alle Menschen heilrnachen will (vgl. 1 Tim 2, 4). Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne seine Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, unter dem Einfluß der Gnade seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen in der Tat zu erfüllewtrachtet, kann das ewige Heil erlangen"3.

Diese Weite des Kirchenbegriffs, darf uns nicht wundern. Denn schon bei Markus 16,16 lesen wir den Befehl des Herrn: "Predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung". Wer wollte heute noch leugnen, daß auch die Nichtgläubigen ein Teil der Schöpfung Gottes sind. "Was nämlich an Gutem und Wahrem bei ihnen sich findet, wird von der Kirche als Vorbereitung für die Frohbotschaft geschätzt und als Gabe dessen, der jeden Menschen erleuchtet, daß er schließlich das ewige Leben habe"4. Das Konzil betont auch, daß alle über den Erdkreis hin verbreiteten Gläubigen mit den übrigen im Heiligen Geist in Gemeinschaft stehen, und so weiß - um mit Johannes Chrysostomus zu sprechen - "der, welcher zu Rom wohnt, daß die Inder seine Glieder sind"5. Die Weite des Kirchenbegriffs ist deshalb gegeben, weil der "Volk Gottes"Gedanke wieder eingeht in das katholische Denken. In der dogmatischen Konstitution über die Kirche lesen wir: "Zum neuen Gottesvolk sind alle Menschen berufen. Darum muß dieses Volk - ein eines und einziges bleiben - sich über die ganze Welt und durch alle Zeiten hin ausbreiten. So soll sich das Ziel des Willens Gottes erfüllen, der die menschliche Natur am Anfang als eine gegründet und beschlossen hat, seine Kinder aus der Zerstreuung wieder in eins zu versammeln"6. 2 Konzilsdekrete, S. 47; vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica 111, Qu. 8, a. 3. ad 1. 3 Konzilsdekrete, S. 48. 4 A.a.O., S. 48. 5 Konzilsdekrete, S. 44; vgl. loh. Chrysostomus, In Jo Horn. 65, 1; PG 59,361.

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Dies ist keine revolutionäre neue Lehre der Kirche, denn schon bei Johannes 11, 5lf. erfahren wir, daß Kaiphas als Hoherpriester jenes Jahres weissagte, "daß Jesus für das Volk sterben werde, und das nicht bloß für das Volk, sondern er sollte auch die zerstreuten Kinder Gottes zu einer Gemeinschaft vereinen". Mit dieser Betonung, daß die Kirche in erster Linie das Gottesvolk ist, wurde den viel bekrittelten Bildern vergangen er Tage, welche die Kirche nur in der Stufenpyramide der Hierarchie beheimatet sehen, eine deutliche Absage erteilt. Der Gedanke der Identifizierung der Hierarchie mit der Kirche ist als unchristlich deshalb abzulehnen, weil er dem Volk Christi, das seinen Heils-

auftrag in all seinen Gliedern zu erfüllen hat, gleichsam eine Grenze setzt und es so daran hindern würde, als Volk Gottes ein "messianisches Volk" zu sein; ein Wesensmerkmal des katholischen Kirchenbegriffes, der durch seine Christozentrik gleichsam die Erfüllung der ökumenischen Aufgabe des Katholizismus dadurch erleichtert, daß er alle, alle Christen, auch die Nichtkatholiken zu verbinden vermag.

Die Weite des Kirchenbegriffes darf nicht als selbstverständlich hingenommen werden, sondern muß als eine verdienstvoll neue Stufe des durch das Konzil möglich gewordenen Denkens bezeichnet werden. Man halte sich nur vor Augen, daß man etwa noch 1848 im Konversationslexikon, wie Franz Martin Schmölz7 aufgezeigt hat, für das katholische Deutschland erklärte: "Die Kirche besteht nur durch die Hierarchie; weit entfernt, daß sie aus der Gemeinde hervorgegangen ist, hat sie selbst vielmehr die Gemeinden gebildet"8. Dieser überholten Wertung der Kirche steht die zukunftsweisende Erklärung Karl Rahners geradezu entgegen: Die Kirche ist "nach ihrem eigenen Selbstverständnis nur eine Wirklichkeit neben anderen Gesellschaften, Staaten, Mächten des Geistes usw. in einer pluralen Welt. In dieser pluralen Welt kann es keine amtlich verfaßte innerweltliche, greifbare Hierarchisierung dieser Pluralität durch die Kirche geben, keinen innerweltlich greifbaren Punkt (und sei es die Kirche selbst), von dem aus in dessen eigener Vollmacht auch nur grundsätzlich alles gesteuert werden könnte. Denn dies ist das exklusive Privileg Gottes als des alleinigen Herrn dieser ganzen in sich wesentlich plural bleibenden geschichtlichen Wirklichkeit. Die Geschichte hat mit anderen Worten auch nicht einmal de iure in der Kirche eine innerweltlich totalitäre Spitze. Es gibt also eine echte, immer unvollendete dialogische Situation zwischen Kirche und Welt. Diese Freigabe der Welt zu ihrem echten Eigensein, das sie nicht als Lehen der Kirche durch eine von dieser selbst vorgenommene Konzession, sondern von Haus her, d. h. von Gott allein hat, ist somit jedenfalls im Grund (wenn auch nicht faktisch-historisch) nicht der Kirche 6

Konzikdekrete, S. 44.

Franz-Martin Schmälz, Neue Welt - neue Kirche?, in: Deutscher Katholizismus nach 1945, hrsg. v. Hans Maier, München 1964, S. 20. 8 Allgemeine Realencyclopädie oder Conversationslexicon für das katholische Deutschland, hrsg. v. W. Binder, Bd. VI. 1848, S. 184. 7

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abgetrotzt und bedeutet für die Kirche selbst (in dem geschichtlichen Prozeß, den diese Freigabe hatte) eine wachsende Selbstfindung ihres eigenen Wesens, das nicht von dieser Welt ist. Nur so kann dieses Wesen über-weltlich sein, wenn es diese Welt von eigener Gültigkeit gibt und darum zwar alles von Gott, aber nicht alles von der Kirche ist, diese Kirche aber doch auch in der Welt ist und darum im Namen Gottes fordern kann, daß von der Welt auch der Raum in der Welt für sie freigelassen und auch von der Welt her eine echte dialogische Situation wirklich angenommen wird"9.

Diese in Liebe und allumfassendem Verständnis erfolgende Einbeziehung aller Menschen, die guten Willens sind, in die Kirche Christi, darf aber nicht übersehen lassen, daß der katholischen Kirche die Lehrautorität hinsichtlich der bindenden Aussagen über die verborgenen Mysterien zusteht. Würde diese Lehrautorität der katholischen Kirche nicht mehr zustehen, hätte diese mangels Legitimation nicht den geringsten Grund gehabt, ein Konzil einzuberufen und in Anwesenheit der Vertreter so vieler nichtkatholischer Religionsgemeinschaften, die nach dem Kirchenbegriff des Zweiten Vatikanums alle der einen Kirche Christi angehören, ihre Lehre im Hinblick auf die Forderungen der Zeit neu zu durchdenken und überprüft zu verkünden. Wenn in unserer Zeit ein echter Wandel im Begriff der Kirche eintritt, dann erhebt sich die Frage, ob diese Kirche durch den Wandel eine andere, nämlich eine neue Kirche geworden ist. Diese Frage ist wohl zu verneinen. Aus der Tatsache, daß der Kreis der Zugehörigen der Kirche erweitert wurde, ist eine Vermehrung ihrer Aufgaben eingetreten, aber keine Selbstaufgabe erfolgt. Das macht schon der heute immer mehr gebrauchte Ausdruck des Wandels der Kirche deutlich. Wandeln kann sich nämlich nur ein Bleibendes. Was nicht bleibend ist, kann sich nicht wandeln, sondern muß vergehen. Das Konzil war kein Prozeß der Selbstaufgabe des Katholizismus, sondern vielmehr ein Ausdruck des Bemühens des Katholizismus, sich mit all den Forderungen der Mitte des 20. Jahrhunderts in den Bezügen, die von der Seelsorge wahrgenommen werden müssen, auseinanderzusetzen. Dabei haben viele in dieser Auseinandersetzung, die kein Streit, sondern ein Dialog war, die Haltung einiger Konzilsväter als konservativ bezeichnet. Die Kirche ist ihrem Wesen und ihrem Auftrag nach ebenso fortschrittlich wie konservativ. Fortschrittlich: auf den Entwicklungsstufen in der Welt und der Kultur ihren Heilsauftrag erfüllend. Konservativ: die Heilswahrheit unverfälscht erhaltend. Beides ist aufeinander bezogen. Die Kirche kann nicht fortschrittlich sein, ohne den Grundbestand ihrer Lehren unverfälscht zu bewahren; sie wird aber auch nicht wahrhaft konservativ sein, ohne diesen Grundbestand immer neu fruchtbar zu machen in den Wandlungen von Gesellschaft und Kultur, gesehen auf die einzelnen Länder und auf den Ablauf der Zeit. Man wird daher die 9

Kart Rahner, Staatslexikon, Bd. IV, S. 862f.

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beiden Worte konservativ und fortschrittlich nicht unbesehen gebrauchen dürfen, ohne sich der Gefahr, sich ins Ideologische zu verlieren, auszusetzen.

In diesem durch das Konzil deutlich gewordenen Wandel hat die katholische Kirche sich als "konservativ" in der eben aufgedeckten Bedeutung des Wortes gezeigt: Sie hat das Wort ihres Stifters Jesu Christi zu bewahren gesucht, um es einer zeitbezogenen Anwendung zuzuführen. In dieser Weise ist der durch das Konzil geleistete Dienst zur Wahrung der Lehre positiv zu werten, weil in dem Wandel selbst die Kontinuität erhalten bleibt. Worauf bezieht sich aber dieser Wandel im Katholizismus unserer Tage? Dieser Wandel erfolgt im Bereich des positiven kirchlichen Rechtes, von dem das unwandelbare göttliche Recht unberührt bleibt. Wer also glaubt, daß die Kirche die Lehre von der Unauflöslichkeit der einmal gültig eingegangenen Ehe aufgegeben hat oder aufgeben wird, der irrt. Das soll nicht heißen, daß nicht in jenem Bereich des positiven kirchlichen Rechtes, der sich auf die Ehe bezieht, wie z. B. betreffend gewisse Ehehindernisse, eine Veränderung eintreten kann. Dasselbe bezieht sich etwa auf die Lehre von der apostolischen Sukzession und auf das Lehr- und Hirtenamt der katholischen Kirche. Ein bestimmtes Maß an Amtskirche, die Rechte verleihen, Pflichten auferlegen und Dispensen erteilen kann, muß es geben, weil sonst weder ein kirchliches Gemeinschaftsleben möglich ist, noch die Ausführung des Stifterwillens des Herrn des Hirtenamtes. Karl Rahner hat daher auch treffend festgestellt: "Wenn die Kirche solche Gesetze ändert, sich darin wandelt, wandelt sie sich nur innerhalb der Unwandelbarkeit eines grundlegenden Prinzips, nämlich, daß sie das Recht und die Pflicht hat, wandelbare Normen zum geistigen Heil ihrer Glieder zu schaffen" 10. Sie erfüllt damit ihre auf die jeweilige Zeit situation bezogene Aufgabe des Hirtenamtes, das eine Ausrichtung der Welt auf die in der Lehre Christi als allgemein gültig und unwandelbar geoffenbarten Normen göttlichen Rechtes verlangt. Diese gehören zur Glaubenslehre der Kirche, zu ihren Dogmen. Die Dogmen, wie z. B. über die Dreifaltigkeit Gottes, die Unfehlbarkeit des Papstes, wenn er in Fragen des Glaubens und der Sitte ex cathedra spricht, oder die Aufnahme der Gottesmutter Maria mit Leib und Seele in den Himmel, sind Glaubenssätze, die ein für allemal feststehen, die auch nicht mehr revidiert werden können, auch wenn sie vielleicht nicht von Anbeginn an, sondern erst im Zuge eines tieferen Verständnisses des Glaubensgutes aufgedeckt wurden. Die Wahrheit der von Christus geoffenbarten Lehre ist in einzelnen ihrer Folgen erst nach Jahrhunderten klar geworden. Hier gibt es keinen Rückschritt in der Erkenntnis, wohl aber einen Fortschritt in der Folgerung. 10

Karl Rahner, Kirche im Wandel, Kevelaer 1965, S. 9.

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Daher ist im Katholizismus eine legitime Dogmenentwicklung deutlich erkennbar und berechtigt. Es ist ein Ausdruck des Ringens um ein den natürlichen oder übernatürlichen Wesenswirklichkeiten entsprechendes Glaubensbewußtsein. In dieser Weise ist ein Wandel des Unwandelbaren im Glauben, nämlich ein Wandel in seiner Einsicht möglich. Wer wollte etwa die Heilsnotwendigkeit der von Christus gestifteten Kirche leugnen; und trotzdem muß sie stets neu durchdacht werden, damit diese Heilsmöglichkeit der gesendeten Kirche zur Heilswirklichkeit des einzelnen Gläubigen wird. Gottes Wahrheit bleibt gleich, nur die Einsicht in sie hat Geschichte. Diese Dogmen, die vornehmlich einen Wandel in der Einsicht ihres Wesensgehaltes und ihrer Folgerungen durchmachen, sind daneben noch von einem Wandel abhängig, der sie zwar selbst nicht berührt, wohl aber jene Sätze des Glaubens, die dem Wandel unterliegen und zum Verständnis und zur Darlegung der Dogmen selbst erforderlich sind. Hier drückt sich die nicht zu beseitigende Spannung zwischen den unveränderlichen Grundsätzen des christlichen Glaubensgutes und ihrer wandelbaren Anwendung aus, die situationsorientiert sein muß, um die Ausübung des Hirtenamtes der Kirche zu ermöglichen. Die Weite des Kirchenbegriffes und der Wandel im Glauben und Recht der Kirche mag von vielen als eine wohltuende Offenheit und eine Freiheit in der Kirche angesehen werden, über die man sich nicht mehr Gedanken macht, als daß man diese als den Bereich einer errungenen Freiheit stolz in Besitz nimmt. Man übersieht aber dabei, daß mit der Weite des Kirchenbegriffs, d. h. mit dem neuen Umfang der Kirche Christi, eine neue Brüderlichkeit, nämlich eine ökumenische Brüderlichkeit erforderlich ist, die verlangt, daß man dem Nächsten, ob Katholik oder nicht, als Bruder begegnet. Vergessen wir doch nicht: Nur der wird zum Herrn Vater sagen dürfen, dem jeder Nächste Bruder ist! Das Konzil verlangt von allen, im besonderen von Katholiken, die Religionsfreiheit selbst zu praktizieren, d. h. die Freiheit zur Religion allen zu gewähren. Diese Freiheit kennt verschiedene Wege, die alle jetzt in einer Weise anerkannt werden, die noch vor einem Jahrzehnt undenkbar war. Die Menschen werden aber nicht allein in ihrem Dasein anerkannt, sondern daraus ergeht an alle die Aufforderung, Verständnis für einander zu haben. Ausdrücklich heißt es in der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen,' "Nichts von alledem, was in Religionen wahr und heilig ist, wird von der katholischen Kirche verworfen. Überall werden von ihr jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren aufrichtig ernst genommen, die, wenngleich sie von dem, was sie selber für wahr hält und lehrt, in vielem abweichen, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit widerspiegeln, die alle Menschen erleuchtet" 11. 11

Konzilsdekrete, S. 30.

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Das Konzil weist aber nicht allein auf diese verschiedenen geistigen und sozialen Wertungen hin; die Kirche verlangt auch von den Katholiken, daß sie die Vertreter dieser Wertungen, gegen die früher Kreuzzüge unternommen wurden, die man verfolgt und vertrieben hat, nun sogar fördern. "So mahnt sie ihre Söhne, daß sie mit Klugheit und Liebe durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Anhängern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des Glaubens und des christlichen Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozialkulturellen Werte anerkennen, wahren und fördern, die sich bei ihnen finden" 12.

Mit dieser Forderung nach ökumenischer Haltung, die auch in anderen Konzilsdokumenten ihren Ausdruck findet, ist der Monopolanspruch christlicher Kirchlichkeit fallen gelassen worden. An die Stelle dieses Anspruches auf Ausschließlichkeit tritt die universale Brüderlichkeit, die jede Diskriminierung ausschließt. Die Mahnung der Schrift: "Wer keine Liebe hat, kennt Gott nicht" (1 Joh 4, 8) wird in den Vordergrund gestellt. Diese Freiheit im Glauben schließt die Exklusivität der Formen der westlichen Welt aus. Der Kirche Christi und somit auch der katholischen Kirche kann ein Asiate ebenso wie ein Afrikaner eingegliedert werden, ohne seine angestammte Kultur aufzugeben. Er soll ja keinen Selbstverzicht durch das Christentum erleiden, sondern vielmehr eine Selbstfindung in der Selbstvollendung erleben. Dies ist eine der Hauptforderungen des ökumenischen Konzils geworden, welches als solches sich ganz besonders mit der Heilssituation der von der Kirche Getrennten beschäftigt. Neben dieser Erweiterung der Verantwortung des Katholizismus im Bereich der Kirche durch Aufdeckung neuer Teile des Reiches Christi ist eine Vermehrung der Verantwortung dadurch erfolgt, daß das Konzil mit aller Deutlichkeit nicht allein einen Wandel in der Glaubensanwendung und im Recht der Kirche deutlich gemacht, sondern auch den Einzelnen, der Glied der Kirche ist, aufgerufen hat, die im Hinblick auf konkrete Erfordernisse der Zeit erkannte Wandlung mitvollziehend auszuführen. Genau so wie Julius Kardinal Döpfner 13 in seinen Überlegungen zum Zweiten Vatikanischen Konzil im Hinblick auf die drei Wesenseigenschaften der Kirche, die von ihm genannte Menschlichkeit der Kirche, ihre Geschichtlichkeit und ihre Sündhaftigkeit, die Reform als das Wesenselement der Kirche nennt, könnte man die Dynamik als das erforderliche Wesenselement des nunmehr mit vermehrter Verantwortung ausgezeichneten Laien bezeichnen. Er hat Konzilsdekrete, a.a.O. Julius Kardinal Döp!ner, Reform als Wesenselement der Kirche, Würzburg 1964, S.lOff. 12 13

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als Teil der Kirche diese Reform in den Staat und in die gesellschaftliche Welt hinauszutragen. Die Kirche kann in ihren für die ganze Welt bestimmten Lehräußerungen die konkreten Erfordernisse nicht vorhersehen. Die Anwendung ihrer Lehrsätze bleibt dem einzelnen Laien, der ja zur Freiheit berufen ist, überlassen.

Der politische Auftrag des Katholiken heute Kennzeichen unserer Zeit sind das stete Bemühen des Einzelnen, aber auch des Staates und der Gesellschaft, übernommene Strukturen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und allenfalls neue Wege zu gehen. Was für die Politik zu sagen ist, kann auch für den Bereich des Glaubens festgestellt werden. Sehr deutlich drückt sich dies im lI. Vatikanischen Konzil aus, einer Kirchenversammlung, die von epochemachender Bedeutung war. Hat durch sie die Weltverantwortung der Katholiken ab- oder zugenommen und steht die Kirche der Politik indifferent oder engagiert gegenüber? Dies sind Fragen, die sich heute nicht allein gläubigen Menschen, sondern jedem stellen, dem an einer Politik im Dienste des Einzelnen und einer vernünftigen Beziehung von Politik und Moral gelegen ist, ist doch die Kirche mit ihren Gläubigen eine mobilisierende Kraft, die - gewollt oder nicht - Geschichte gemacht hat. Diese geschichtliche Bedeutung der Kirche als auch politisch relevanter Kraft hat in den vergangenen Jahrhunderten zugenommen. Sie beeinflußte teils durch den Kirchenstaat selbst, teils aber auch durch ihre Diplomatie und die katholische Hierarchie in den einzelnen Staaten der Welt den jeweiligen Gang der Politik. Dies ist heute anders geworden, nachdem die katholische Kirche den Kirchenstaat 1870/71 verloren hatte, kommt dem Katholizismus nicht als politisch relevanter Organisation, sondern als einer das Gewissen eines Teiles der Weltbevölkerung motivierender Glaubenslehre in der Gegenwart Bedeutung zu. Wie ist dies aber möglich? Hat sich der Stifter der Kirche, nämlich Jesus Christus, auch mit Politik beschäftigt? wird sich die eine oder der andere dabei fragen. I. Jesus Christus hat sich nicht in rein politische Auseinandersetzungen eingelassen. Er hat sowohl gegenüber seinen Jüngern als auch gegenüber seinem Richter den Einsatz politischer Macht zur Herbeiführung des Gottesreiches abgelehnt. Das soll aber nicht heißen, daß Jesus Einrichtungen des Staates nicht wahrnehmen wollte und sich nicht mit ihnen auseinandergesetzt hat. So spricht Christus z. B. vom Steuerzahlen (Mat. 17, 24) und verweist im Erbstreit auf die bürgerliche Rechtsordnung (Lk. 12, 13). Jesus ist dadurch mit Fragen der öffentlichen Ordnung in Berührung gekommen, daß er den einzelnen Menschen. an den sich seine Botschaft richtet, nicht als isoliertes, sondern

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als soziales Wesen ansieht, d. h. als ein Wesen, das einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeitserfüllung in einem Leben in der Gemeinschaft findet. Obgleich die Heilige Schrift keine eigene Staatslehre enthält, beinhaltet sie doch Ansatzpunkte zu einer solchen. Sie anerkennt die staatliche Ordnung und führt die Herrschaftsgewalt auf den Willen Gottes zurück (Röm. 13, 1). Der Staat wird als eine der Art des Menschen gemäße Ordnung betrachtet, die deshalb den Menschen im Gewissen verpflichtet, ihrer Autorität Gehorsam zu leisten. "So gebt denn jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, wem Steuer, Zoll, wem Zoll, Ehrfurcht, wem Ehrfurcht, Achtung, wem Achtung gebührt" (Röm. 13, 7). Der Staat wird als Helfer für die Ordnung der Gerechtigkeit angesehen, weshalb auch das Gebet für die Obrigkeit empfohlen wird (1 Tim. 2, 1 - 3). Die Heilige Schrift kennt aber auch den Antichrist und die sittliche Entartung des Staates als ein politisches Phänomen. "Jenes tritt in satanischer Macht mit allerlei trügerischen Krafttaten, Zeichen und Wundern und mit allem sündhaften Trug auf" (2 Thess. 2, 9). Es ist "der Mensch der Gesetzlosigkeit". "Er setzt sich sogar in den Tempel Gottes und gibt sich für Gott aus" (2 Thess. 2, 4). Es ist die dämonische Selbstvergiftung der Staatsgewalt. Dieser Mißbrauch der Staatsgewalt hat seinen Ursprung nicht in Gott, sondern im Satan (Geh. Off. 13, 2). Dieser apotheosierte Staat bildet das Thema der Geheimen Offenbarung, die bereits den totalen Staat kennt. "Alle, groß und klein, reich und arm, frei und unfrei, brachte das Tier (= Satan) dazu, auf ihrer rechten Hand oder an ihrer Stirne ein Zeichen zu tragen. Keiner sollte kaufen oder verkaufen dürfen, der nicht das Zeichen trug: den Namen des Tieres oder den Zahlenwert seines Namens" (Geh. Off. 13, 16f.). Dieser Staat hat keinen Bezug mehr zur christlichen Welt, die Gläubigen sollen auch an ihm nicht teilhaben. "Zieht aus ihr weg, ihr, mein Volk, damit ihr an ihren Sünden nicht teilnehmt und von ihren Plagen nicht mitbetroffen werdet" (Geh. Off. 18, 4). Dies bedeutet eine sehr kritische Haltung gegenüber dem Staat und keine Bejahung des Typs der Feigen und Lauen, denn es heißt "Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, so will ich dich aus meinem Munde ausspeien" (Geh. Off. 3, 16) und "Die Feigen - und alle Lügner sollen im brennenden Feuer- und Schwefelpfuhl ihren Anteil erhalten" (Geh. Off. 21, 8). Diese Ablehnung der Resignation gegenüber dem totalen Staat ist nur deshalb möglich, weil das Letzte nicht die Herrschaft des Satans, sondern die "Heilige Stadt" ist, die aus der Herrlichkeit Gottes (Geh. Off. 21, lOf.) herabkommt. Die Heilige Schrift enthält die Darstellung zweier miteinander unvereinbarer Erscheinungsformen des Staates, die beide in der Heilsgeschichte deshalb ihren erforderlichen Platz haben, weil sie die Entwicklungsmöglichkeit des Staates erkennen lassen. Dem Einzelnen verbleibt die Entscheidung, welcher Staatstyp im Einzelfall entsteht. An ihn ist die Mahnung Jesu gerichtet: "Gebt also dem Kaiser, was dem Kaiser gebührt" (Mk. 12,17).

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11.

Mit dieser Frage des Zinsgroschengleichnisses hat sich die Kirche vor allem in der Soziallehre der Päpste beschäftigt. Diese Lehre ist nach Anfängen unter den Kirchenvätern und auf der Grundlage der Lehren von Augustinus und Thomas von Aquin beginnend im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Sozialansprüche der jeweiligen Zeitsituation entwickelt worden. Den deutlichsten Ausdruck fand diese neue Form der Verantwortung der Kirche für ihre Zeit in der von Papst Leo XIII. verkündeten Enzyklika "Rerum novarum" vom 15. Mai 1891 - die Arbeiterfrage, zu deren 40-jährigem Jubiläum Papst Pius XI. die Enzyklika "Quadragesimo anno" - die Errichtung und Vollendung der Gesellschaftsordnung nach dem Evangelium, und zur 70. Wiederkehr ihrer Verkündigung Papst JohannesXXlI1. die Enzyklika "Mater et magistra" - über die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens der Gegenwart im Sinne der christlichen Gebote erließ. Am 14. April 1963 hat Papst Johannes XXIII. eine eigene Enzyklika über den Frieden unter allen Völkern in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit, "Pacem in terris", verkündet, in der er auch auf die Pflichten der Staaten in der Völkergemeinschaft hinweist. Außer durch den Erlaß von Enzykliken haben die Päpste grundlegende Gedanken zur öffentlichen Ordnung im Staat bei den sich ihnen bei verschiedenen Anlässen bietenden Gelegenheiten in Botschaften, apostolischen Briefen, schlichten Briefen, bloßen Ansprachen, Radio- und Fernsehreden geäußert. In all diesen Enunziationen wird der Versuch unternommen, von den "Zeichen der Zeit" (Mt. 16, 4) ausgehend auf der Grundlage der christlichen Heilsordnung eine Möglichkeit aufzudecken, den christlichen Werten in der öffentlichen Ordnung zu entsprechen. Darum bemüht sich auch Papst Paul VI. in den letzten Jahren. So widmete er den Erfordernissen echter Dialogführung 1964 die Enzyklika "Ecc1esiam Suam" und den Anliegen der Entwicklungshilfe 1967 die Enzyklika "Populorum progressio". Zum 80-jährigen Jubiläum von "Rerum novarum" verfaßte er 1971 das Apostolische Schreiben "Octogesima adveniens", in dem er sich sehr kritisch mit den Ideologien unserer Zeit auseinandersetzt. Dieser Stand der päpstlichen Lehräußerungen muß am Hintergrund der Ergebnisse des 11. Vatikanischen Konzils, vor allem im Hinblick auf die Aussagen der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes", "Die Kirche in der Welt von heute", verstanden werden. Wer von dieser Soziallehre der Kirche hört und ihre jahrhundertelange Entwicklung verfolgt, wird sich fragen: Handelt es sich bei dieser katholischen Soziallehre um eine der vielen Ideologien unserer Zeit oder um etwas anderes? Eine Ideologie ist eine Lehre, die von der Erfahrung einer Teilwirklichkeit aus den gesamten Bereich des Innerweltlichen zu erklären sucht. In diesem Sinne sind z. B. der Liberalismus, der von der Erfahrung des eigenen und einzig scheinenden Ichs, und der Marxismus, der von dem Erleben der kollektiv 11 Schambeck

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gefaßten Gemeinschaft ausgehen, Ideologien. -Viele andere Ideologien, wie z. B. der Konservativismus, ließen sich noch hinzuzählen. Die Lehre der Kirche ist aber keine Ideologie, sondern die Lehre von einer umfassenden Seinsordnung, welche nicht bloß die Formen des Seins, sondern vielmehr auch den Grund des Seins - die Schöpfung selbst - zu erklären sucht. Sie ist eine Religion, eine Lehre, die nicht wie eine Ideologie einen Teilaspekt absolut setzt und sich mit der Erfahrung des Innerweltlichen nicht begnügt, sondern die Erfahrungen des Innerweltlichen vielmehr mit der Erfahrung des Überweltlichen, der Transzendenz, konfrontiert. Die Lehre des Christentums könnte sich auch mit einer Ideologie schon deshalb nicht "messen", weil jede Ideologie in ihrer Wirkkraft auf ein angebbar Fühl- und Spürbares abgestellt ist. In dieser Weise ist die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen und der Heilsauftrag der Christen wohl unvergleichbar etwa mit der Blut- und Boden-Lehre des Nationalsozialismus und der auf Pläne und Daten abgestellten Lehre des Kommunismus, nach welcher Freiheit die Kenntnis der ökonomischen Gesetzmäßigkeit ist. Die Kirche hat nämlich in ihrer Soziallehre die "innere" Freiheit des Einzelnen ständig als Wirkgrund in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen über Staat und Gesellschaft gestellt und alle Erscheinungsformen "äußerer" Freiheit als Reflex sozialer Institutionen daran gemessen. III.

Welche Grundsätze kennzeichnen nun heute die katholische Soziallehre. Es sind dies die Grundsätze der Autorität, der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohls, die Empfehlung leistungsgemeinschaftlicher oder berufsständischer Ordnung und die Anerkennung der Autonomie der irdischen Wirklichkeit, sie seien hervorgehoben. In der Besprechung dieser Grundsätze können wir die Lebensnähe der katholischen Soziallehre und die Ablehnung aller Utopien erkennen. Wer wollte nämlich nicht anerkennen, daß jede Ordnung zu ihrem dauernden Bestand von Autoritäten getragen sein muß und dieser Grundsatz gerade in einer Zeit von größter Bedeutung ist, in der die Anarchie offen und verdeckt in verschiedenen Formen eine früher nicht für möglich gehaltene Renaissance feiert. Dabei darf nicht angenommen werden, daß die Autoritäten immer gleich bleiben können. Auch diese entwickeln sich mit den Ordnungen, die sie tragen und zu sichern haben, weiter. So gehen wir den Weg von den hierarchischen zu den partnerschaftlichen Ordnungen, in welchen es auch Autoritäten geben muß. Waren diese früher bloß in den Positionen begründet, werden sie in Zukunft auch in den Argumentationen gelegen sein müssen. So erwartet man sich Autoritäten, die befragbar als partnerschafts- und antwortsfähig sind. Diese Partnerschaft wird in Ehe, Familie, Gesellschaft und Staat, im Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschehen der Natur der jeweiligen Sache ent-

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sprechend verschieden sein. Man halte sich das Erfordernis unterschiedlicher Partnerschaft von Kindern und Eltern in der Familie, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Betrieb und von lernender und lehrender Seite in den Schulen der 6- bis 10-, der 10- bis 14- und der 14- bis 18-jährigen und der Studenten und Professoren an den Hochschulen vor Augen. Es wird jeder in einer partnerschaftlichen Ordnung nur so viel an Aufgaben übernehmen können, als er verantworten kann, und verantworten kann man nur das, was man auch versteht. Diese Form der Autorität läßt die Solidarität als ihren gleichsam bedingten Grund erkennen. Sie ist aus der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen religiös erklärlich und in Grundrechten des Einzelnen rechtlich gesichert. Diese Grundrechte sind in Freiheitsrechten auf den Schutz der Privatsphäre des Einzelnen und in politischen Rechten auf seine Mitwirkung an der Staatswillensbildung gerichtet. Neben diesen mehr auf ein Unterlassen des Staates gerichteten Grundrechten haben sich in letzter Zeit zwei neue Gruppen von Grundrechten entwickelt, die auf ein Tun des Staates ausgerichtet sind, nämlich die im Dienste der sozialen Sicherheit stehenden sozialen Grundrechte und die den Umweltschutz bezweckenden sogenannten existentiellen Grundrechte. So findet der von der Freiheit und Würde des Menschen getragene Grundsatz der Solidarität seinen Ausdruck in dem Streben, dem Einzelnen nicht allein die Freiheit zu gewähren, sondern auch zu ihrer Nutzung zum Zweck der vollen ,Entfaltung seiner Persönlichkeit in Eigenverantwortung auch die politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zu leisten, die heute auch den Schutz verlangen, diese so ermöglichte Freiheit auch als physisch und psychisch gesunder Mensch erleben zu können. Dieser vermehrte Einsatz des Staates ist mit dem 3. Leitsatz der katholischen Soziallehre, nämlich dem Prinzip der Subsidiarität als dem Grundsatz der ersatzweisen Hilfeleistung, zu konfrontieren. Dieser Grundsatz hat in verschiedener Weise eine Ausprägung gefunden. Es sei im Staatsrecht an die Bundesstaatlichkeit und in der Wirtschafts- und Sozialpolitik an die Formen der paritätischen Politik der Sozialpartner erinnert, in welcher der Gedanke der Leistungsgemeinschaft seide zeit- und ortsbezogene Ausführung erfahren hat. Während durch den Föderalismus eine Aufteilung der Ausübung der Staatsfunktionen auf Bund und Länder erfolgt, kann die paritätische Politik dem Staat die Mühen um eine Lösung wichtiger sozial- und wirtschaftspolitischer Probleme dadurch ersparen, daß die Interessenverbände als freiwillige oder gesetzliche Selbstschutz- und Selbsthilfeeinrichtungen der Sozialpartner, die sie betreffenden Fragen in Eigenverantwortung einer Lösung zuzuführen suchen, damit den Staat entlasten und dem Gemeinwohl dienen. Das Gemeinwohl hat ja die Aufgabe, dem Einzelnen jene Werte zu sichern, die er in kultureller, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Sicht braucht, um seine Persönlichkeitsentfaltung zu erfahren. Dieses Gemeinwohl wird 11*

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heute nicht allein innerstaatlich, sondern auch zwischenstaatlich verstanden und die Forderung nach weltweiter Entwicklungshilfe erhoben. Daher darf nicht jedes in Rom gesprochene Wort immer nur auf Europa bezogen werden, es muß ökumenisch, nämlich weltweit verstanden werden. Wurde jahrzehntelang die Forderung nach einer ausgewogenen Sozialordnung des Staates und der Gesellschaft erhoben und dafür nach einzelnen Berufen auch die gemeinsame Organisation der Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein und desselben Berufes verlangt, so wird nach Erfüllung dieser Forderung in der heutigen bewährten Sozialpartnerschaft Österreichs die internationale Zusammenarbeit verlangt. Fühlt sich auch die Kirche berufen, eine Brüderlichkeit erleben zu lassen, die ökumenisch und ökonomisch zugleich ist. Nach der Gemeinwohlverpflichtung der Sozialpartner soll die Gemeinwohlverpflichtung der Völkergemeinschaft treten. Die Kirche erfüllt damit nicht allein eine Repräsentations-, sondern eminent eine Sozialfunktion. Diese Aufgaben der katholischen Soziallehre werden nicht im Einsatz monologischer Macht - die die Ideologien der Politik kennzeichnet -, sondern vielmehr im Erleben des Dialoges zu erfüllen möglich sein. In seiner Enzyklika "Ecclesiam Suam" hat Papst Paul VI. als Eigenschaften dieses Dialogs: die Klarheit, den Sanftmut, das Vertrauen und die Klugheit angegeben. Diese Dialogbereitschaft der Kirche, die sich auch in den Reisen des Papstes nach Nord- und Südamerika, nach Indien und in das Heilige Land zeigte, kann als ein Zeichen der Weltverantwortung und Weltbejahung gewertet werden. Dabei werden aber auch die Gefahren gesehen, die mit jedem Dialog gegeben sind. So erklärte auch Papst Paul VI. : "Die Kunst des Apostolats ist ein Wagnis. Die Sorge, den Brüdern näherzukommen, darf nicht zu einer Abschwächung und Herabminderung der Wahrheit führen. Unser Dialog kann uns nicht von der Verpflichtung gegenüber unserem Glauben entbinden. Das Apostolat darf keinen doppelseitigen Kompromiß eingehen bezüglich der Prinzipien des Denkens und Handeins, die unser christliches Bekenntnis kennzeichnen."

Hier gibt Papst Paul VI. selbst Möglichkeiten und Grenzen des Dialogs an, den er weltweit führen will. Dieses weltweite Gespräch sucht heute die Kirche nach dem Konzil besonders durch eine Anerkennung der Eigengesetzlichkeit der irdischen Sachbereiche und damit der Wissenschaft. Ein Fall Galileo Galilei wäre daher heute nur mehr schwer möglich. Betont doch auch das Konzil, daß niemand in seinem Streben nach Ausführung der Soziallehre das Wort "christlich" gleichsam monopolisierend in Anspruch nehmen kann.

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IV.

Wer diese Entwicklung verfolgt, wird sich fragen: ist durch sie der Katholizismus leichter oder verantwortungsvoller geworden? Im Hinblick auf die verschiedenen, die einzelnen Gebiete der Politik, wie Wirtschafts-, Sozial-, Kultur-, Rechts- und Staatspolitik betreffenden Sozialgestaltungsempfehlungen ist der Katholizismus leichter geworden, weil sie in einer Lehrtradition von Jahrzehnten ausgeführt wurden; im Hinblick aber auf die Vielheit der politischen Schwierigkeiten und Probleme ist die Aufgabe schwerer geworden. Sie verlangen die Einsicht, daß das christliche Apostolat ohne politische Verantwortung unvollständig ist. Ist nicht auch Gegenstand der Glaubensverkündigung die katholische Lehre mit allen ihren Folgerungen, "die sie für das sittliche Verhalten des Menschen im persönlichen, im häuslichen und sozialen, im öffentlichen, auch politischen Leben nach sich zieht ... Die katholische Kirche wird sich nie in die vier Wände ihres Gotteshauses einschließen lassen, die Trennung von Religion und Leben, von Kirche und Welt widerspricht dem christlichen und katholischen Denken". Dies erklärte Papst PiusXII. schon in einer am 16. März 1946 über die Aufgaben des Seelsorgers in der heutigen Gesellschaft gehaltenen Ansprache und gab damit einen ganz deutlichen "christlichen Begriff von der Welt". Wie könnte denn Gott auch eine Welt ablehnen, die er so sehr geliebt hat, "daß er Seinen eingeborenen Sohn dahingab". Wie es nun nach der Lehre der katholischen Kirche keine Trennung in einen diesseitigen und einen jenseitigen Bezug der Welt gibt, so gibt es auch keine Trennung von Religion und öffentlicher Ordnung, PiusXII. beglückwünscht sogar zu dem Widerstand "gegen das selbst bei Katholiken herrschende unheilvolle Bestreben, die Kirche auf die sogenannten rein ,religiösen Fragen' beschränken zu wollen". Man übersehe auch nicht: Jesus Christus selbst bete im Hohepriesterlichen Gebet für die Apostel: "Ich bitte nicht: Nimm sie aus der Welt, sondern: Bewahre sie vor dem Bösen." (Joh. 17, 15)

v. Diese Forderung nach der Bewahrung verlangt heute den Katholiken gegenüber dem öffentlichen Leben ein Mehrfaches ab: vorerst gilt es, die vielen Aufgaben zu erkennen, die sich dem Laien an Mitverantwortung gerade in der nachkonziliaren Zeit heute stellen. Diese Aufgaben verlangen eine Unterstützung des Priesters in seiner seelsorglichen Aufgabe und eine Entlastung in seiner Verwaltung. Oft wird hier das Wort von "der Demokratisierung der Kirche" gesprochen. Sicherlich ist dieser Vorgang insofern begrüßenswert, als der Meinungsbil-

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dungsprozeß in der Kirche brüderlicher und einsichtiger in manchen Bereichen gestaltet werden könnte, andererseits sollte man aber nicht übersehen, daß die Demokratie ein politischer Begriff ist, der nicht unverändert, etwa aus dem Parlament mit seinen Parteien auf die Kirche, die nicht demokratisch, sondern christokratisch in ihrem Ursprung ist, übertragen werden kann. So sehr die Kirche auch in ihrer inneren Ordnung dem heutigen Zeitverständnis anzupassen ist, kann schon gesagt werden, daß die Bedeutung der Autorität der Kirche in der modernen Demokratie abnimmt, je mehr man ungeprüft und unbesehen die Kirche nach politischen Vorstellungen zu demokratisieren sucht. Die Kirche würde mehr Kräfte im Inneren verkraften als in der Auseinandersetzung mit der Welt verbrauchen. Die Demokratie in der Kirche zum Selbstzweck geworden, würde die Kirche in dieser Zeit wertlos machen. Der Abbau der Autorität in der Kirche hat in tragischer Weise aber mit unerbittlicher Konsequenz eine Verminderung der Autorität der Kirche nach außen zur Folge gehabt, denn je mehr man mit sich selbst beschäftigt ist, desto mehr übersieht man die Aufgaben in der Welt. Je mehr die Kirche ihre Konfession verpolitisieren würde im Inneren, desto mehr würde sie sich neutralisieren gegenüber der Politik in der Welt nach außen. Die Kirche wird sehr wohl, getragen von der Lehre ihrer Moral des Einzelnen und der Gesellschaft, Position zu beziehen haben; sei es, daß kirchliche Autoritäten, wie z. B. Bischofskonferenzen zu Gesetzentwürfen Stellung beziehen und dies zu rechter Zeit und in einer Form, die alle verstehen, sei es aber auch, daß Laien die Position der katholischen Soziallehre und ihrer Grundsätze in Eigenverantwortung in der öffentlichen Meinungsbildung zum Tragen bringen. Kann doch klar und deutlich erkannt werden, daß die Lehre der Kirche von der sozialen Ordnung weder mit dem liberalen Kapitalismus noch mit dem kollektivistischen Marxismus vereinbar ist. So erklärte erst vor kurzem Papst Paul VI. in seinem apostolischen Schreiben "Octogesima adveniens": "Wenn man im Marxismus, so wie er konkret gelebt wird, diese verschiedenen Aspekte und die Fragen unterscheiden kann, die sich daraus für die Reflexion und das Handeln der Christen stellen, so wäre es töricht und gefährlich, dahin zu gelangen, daß man das innere Band vergißt, das sie grundsätzlich miteinander verbindet, daß man die Elemente der marxistischen Analyse übernimmt, ohne ihre Beziehungen mit der Ideologie zu erkennen, und sich am Klassenkampf beteiligt und sich dessen marxistische Interpretation aneignet, indem man es unterläßt, den Typ der totalitären und gewalttätigen Gesellschaft wahrzunehmen, zu dem diese Verfahrensweise führt. Auf der anderen Seite sind wir Zeugen eines Wiederauflebens der liberalen Ideologie. Diese Strömung behauptet sich, sei es im Namen einer wirtschaftlichen Effektivität, sei es, um den einzelnen gegen die immer häufiger werdenden Übergriffe der Organisationen zu verteidigen oder sei es als Gegensatz zu den totalitären Bestrebungen der politischen Mächte. Sicherlich ist die persönliche Initiative zu erhalten und zu

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entwickeln. Haben aber die Christen, die sich in diesem Bereich einsetzen, nicht ihrerseits die Tendenz, den Liberalismus zu idealisieren, der somit ein Aufruf zur Freiheit wird? Sie möchten ein neues Modell, das den gegenwärtigen Verhältnissen mehr entspricht, wobei sie jedoch leicht vergessen, daß der philosophische Liberalismus schon in seinem Ansatz eine irrige Lehre über die Autonomie des einzelnen in seinem Handeln, seinen Beweggründen und der Wahrnehmung seiner Freiheit ist. Daraus folgt, daß auch die liberale Ideologie ihrerseits eine besonnene Unterscheidung erfordert. Bei dieser erneuten Annäherung der verschiedenen Ideologien wird der Christ die erforderlichen Prinzipien und geeigneten Kriterien aus den Quellen seines Glaubens und dem Lehramt der Kirche schöpfen, um den drohenden Versuchungen zu entgehen und sich nicht schließlich in ein System hineinzwingen zu lassen, dessen Grenzen und Totalitätsanspruch ihm zu spät bewußt zu werden drohen, wenn er sie nicht in ihren Wurzeln erkennt. Indem er jedes System hinter sich läßt, ohne jedoch den konkreten Einsatz im Dienst an seinen Mitbrüdern zu vergessen, wird er aus seiner inneren freien Entscheidung heraus die Besonderheit des christlichen Beitrages für eine positive Umwandlung der Gesellschaft bekräftigen. Heute erkennt man übrigens besser die Schwächen der Ideologien in den konkreten Systemen, in denen sich diese zu verwirklichen suchen. Der bürokratische Sozialismus, der technokratische Kapitalismus und die autoritäre Demokratie zeigen, wie schwer es ist, das große Problem des menschlichen Zusammenlebens in Gerechtigkeit und Gleichheit zu lösen. Wie könnten sie in der Tat dem Materialismus, Egoismus oder Zwang entgehen, die sie verhängnisvoll begleiten?"

Diese mahnenden Worte Papst Paul VI. sollen am Hintergrund des Zweiten Vatikanums heute verstehen lassen, daß es weder genügen kann, wenn sich die einen mit bloßen Bezeichnungen des Christlichen politisch etikettieren noch wenn die anderen als humanisierte Kollektivisten ideologisch programmieren. Hier gilt der Satz: "An den Taten werdet ihr sie erkennen."

Es wäre aber falsch - und dies sei abschließend und abgrenzend betont - zu meinen, es bestünde der politische Auftrag des Katholiken in einer bloßen Konfrontation mit den politisch Mächtigen seiner Zeit allgemein und der Beeinflussung der öffentlichen Interessen gegenüber dem Gesetzgeber. All dies wäre vom Wort des Herrn her sinn- und zwecklos, wollte man dabei die Anliegen, Sorgen und Nöte des Einzelnen übersehen; ihn, der heute umgeben von lauter Garanten der äußeren Sicherheit innerlich immer unsicherer wird. Daher verlangt heute die Politik auch den Einsatz der Katholiken für die äußerlich Gesicherten, aber innerlich verunsicherten Menschen, nämlich den menschlichen Zuspruch bei zerrütteten Ehen, versagenden Kindern, bei Rauschgiftsüchtigen, Trinkern, Neurotikern, bei Kranken, Alten, Verlassenen, kurz, bei all den Einsamen in lauter Welt.

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Der politische Auftrag des Katholiken heute

Der Ordnungsauftrag des mündigen Christen besteht daher nicht in lautstarken Proklamationen, sondern in konkreten Aktionen für den Nächsten, sie ermöglichen erst die Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses. Wer wollte leugnen, daß dies heute nicht vonnöten ist, damit in unserer Zeit Staat und Gesellschaft menschlicher und die Menschen gottebenbildlicher werden.

Der rechtsphilosophische und staatsrechtliche Gehalt der Lehre Papst Pius' XII. Den Anspruch der Sittenordnung an Recht und Staat aus der Sicht des Katholizismus seiner Zeit geltend zu machen, war das Anliegen Papst Pius' XII. in dem rechts- und staatsphilosophischen Gehalt seiner Lehre!. Er betonte, die katholische Kirche sei sich dessen bewußt, "daß ihr göttlicher Gründer ihr den religiösen Bereich anvertraut und ihr die religiöse und sittliche Führung der Menschen in vollem Umfang - unabhängig von der staatlichen Gewalt - übertragen hat. Seit dieser Zeit gibt es eine Geschichte der Beziehungen zwischen Kirche und Staat"2. Papst PiusXII. hat immer konkrete Anlässe genützt, um zu Fragen des individuellen und sozialen Lebens Stellung zu nehmen. Die Lehräußerungen Papst Pius' XII. sind gleich einem Großteil der päpstlichen Lehre überhaupt vor allem auf das konkrete Ereignis, das er ansprechen will, zu verstehen und daher auch mittels der historischen Methode zu erklären sowie zu verstehen. Es gibt dabei ebenso eine beachtenswerte Breite der behandelten Themen 3 wie der Arten der Dokumente. In Ansprachen, Apostolischen Briefen, Apostolischen Ermahnungen, Briefen, Botschaften, Breven, Bullen, Apostolischen Konstitutionen, Enzykliken, in Motuproprien, Predigten, Radio- und Fernsehansprachen äußerte sich Papst Pius XII. ; bisweilen ließ er seine Meinung auch durch seine Substituten, nämlich Monsignore Domenico Tardini und Monsignore Giovanni B. Montini, dem heutigen Papst Paul VI., und später durch Monsignore Angelo dell'Acqua mitteilen4 • Beachtet man die Sachregister in dem dankenswerten Sammelwerk von Utz I Groner, so sieht man sehr deutlich, daß Papst PiusXII. die Weite der Sozialordnung in ihren rechtlichen, staatlichen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Belangen wahrgenommen hat und deren Probleme in der jeweiligen Tiefe ihrer Sachanliegen, konfrontiert mit ihrer sittlichen Relevanz, auszu1 Dazu beachte die Sammlung Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe PiusXII., hrsg. von Arthur-Fridolin Utz und Joseph-Fulko Groner, 3Bde., 2. Aufl., Freiburg Schweiz 1954 und 1961. 2 Pius XII., Das geschichtliche Selbstverständnis der Kirche, Ansprache an die Teilnehmer des 10. Internationalen Historikerkongresses am 7. September 1955; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 5903. 3 Siehe Utz / Groner, a.a.O., S. 2194ff. und S. 3912ff. 4 Über den Rang der päpstlichen Inunziationen im Lehrgebäude der Kirche siehe Fidelis M. Gallati O. P., Wenn die Päpste sprechen, Wien 1960 und Herbert Schambeck, Der rechtsphilosophische und staatsrechtliche Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen, in: Im Dienste des Rechts in Kirche und Staat, Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz Arnold, Wien 1963, S. 59ff.

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loten suchte. Jeder seiner Lehräußerungen muß daher auch ein entsprechendes Detailstudium von nicht geringem Ausmaß vorangegangen sein. Diese Feststellung gilt für alle sozialrelevanten Lehräußerungen Papst Pius' XII. im allgemeinen, auf dem Gebiet des Rechtes und Staates im besonderen. Bei Papst PiusXII. steht in all seinen Lehräußerungen immer die pastorale Aufgabe seiner Seelsorge im Vordergrund, ohne sich dabei in eine bestimmte augenblickliche Kulturstufe und deren Politik einbinden zu lassen; darum bemüht er sich auch in seinen rechts- und staatsrelevanten Lehräußerungen, Feststellungen zu treffen, die über den einzelnen Anlaßfall hinaus von grundsätzlichem Wert sind. "Uns ist es wichtig, daß die Kirche sich bewußt ist, daß sie ihre Mission und ihre Aufgabe für alle Zukunft und für alle Menschen übertragen erhielt, und daß sie infolgedessen an keine bestimmte Kultur gebunden ist. "5 Auf Grund des Wahrheitsanspruches des katholischen Glaubens sind auch die Lehräußerungen Papst Pius' XII. nicht auf Aktualitäts-, sondern auf Dauereffekt abgestellt; dabei geht es ihm nicht um die Lösung von Sozial- und Rechtsproblemen als wissenschaftlichen Selbstzweck, sondern stets um die Darstellung ihrer sittlichen Bedeutung. Gustav Gundlach SJ, der langjährige enge Mitarbeiter Papst Pius'XII., bemerkte schon: "Wenn der Papst als Lehrer auftritt, dann beabsichtigt er keineswegs, uns irgendwie nur Anweisungen zu geben, wie wir uns seelsorglich zu verhalten haben. Er will eine Lehre über das geben, was sittlich erlaubt oder nicht erlaubt ist. "6 Papst Pius XII. sah dies auch als einen Beitrag der Kirche zu der Schaffung der sozialen Ordnung an, denn die Kirche hat immer betont, "daß es zum Aufbau einer haltbaren sozialen Ordnung neben der Reform der Zustände auch der Gesinnungspflege bedarf: der Ausrichtung der Gewissen an einem unbedingt gültigen Ordnungsbild und der sittlichen Kräfte, um immer dem Gewissen entsprechend zu handeln"7; dabei erklärte Papst Pius XII. auch realistisch, daß die Kirche die soziale Frage lösen könnte, "hat sie nie vermeint. Sie darf aber erhobenen Hauptes hinweisen auf die Werte, die sie zu deren Lösung bereitgestellt hat und bereithält. Ein solcher Wert ist ihre Soziallehre, bis zum Letzten orientiert am Naturrecht und am Gesetz Christi"8.

Utz / Graner, a.a.O., S. 5909. Gustav Gundlach SJ, Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, 1. Bd., Köln 1964, S. 642. 7 Papst Pius XII., Die Erneuerung der Welt durch die Kirche, Radiobotschaft an den 77. Deutschen Katholikentag in Köln am 2. September 1956, Utz / Graner, a.a.O., Nr. 4370. 8 Utz / Graner, a.a.O., Nr. 4369. 5

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I. Die Rechtsbegründung

Papst Pius XII. war bemüht, seiner Gesellschaftslehre eine klare Rechtsbegründung aus seiner Sicht zu geben, und ohne sich in einzelne erkenntnistheoretische Überlegungen einzulassen, sieht er diese in doppelter Weise gegeben: im Naturrecht und in der Offenbarung: "Denn die Grundsätze des Naturrechts und die Offenbarungswahrheiten haben, wie zwei keineswegs entgegengesetzte, sondern gleichgerichtete Wasserläufe, beide ihre gemeinsame Quelle in Gott. "9

Dabei ist es bemerkenswert, daß Papst Pius XII. Naturrecht und Naturgesetz geradezu synonym verwendet. Das Naturgesetz ist für ihn "die feste, gemeinsame Grundlage jeden Rechts und jeder Pflicht, die allgemeine, für jegliche Verständigung notwendige Sprache; es ist jenes oberstes Berufungsgericht, das die Menschheit immer ersehnt hat, um den vorkommenden Zwisten ein Ende zu setzen"lO.

Als Voraussetzung für die richtige Anwendung der allgemeinen Naturrechtsbedingungen bzw. des Naturgesetzes gibt Papst PiusXII. die Vernunft an und fügt die Warnung hinzu: "Man muß sich bei dieser Aufgabe vor bloßen Annahmen und Vermutungen hüten. Die großen Richtlinien sind durch die klare Kenntnis und die Betrachtung der Natur des Menschen, der Natur der Dinge sowie der sich daraus ergebenden Beziehungen und Erfordernisse gegeben." 11

Er bezeichnet auch das Naturgesetz "als das Fundament, auf dem die Soziallehre der Kirche ruht"12, und Gott wieder als das Fundament, auf dem dieses natürliche Gesetz beruht 13. Konkreter im Ansatz wird Papst Pius XII., wenn er im Zusammenhang mit Betrachtungen über gewisse Grundlagen des Strafrechtes als ersten Punkt der Grundsätze der Rechtsprechung feststellt, daß das positive Recht notwendigerweise im letzten Grunde auf der ontologischen Ordnung, in ihrer Festigkeit und ihrer Unwandelbarkeit gegründet ist. "Sind die Menschen und Völker nicht überall, wo sie in Rechtsgemeinschaften leben, eben Menschen mit einer wesentlich gleichen menschlichen Natur? Diese Forderun9 Papst Pius XII., Die soziale Frage heute, Radiobotschaft an Pfingsten 1. Juni 1941; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 498. 10 Papst Pius XII., Koexistenz und Zusammenleben der Völker in der Wahrheit und in der Liebe, Ansprache an das "Centro Italiano di studi per la Riconciliazione Internazionale", 13. Oktober 1955; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 6284. 11 Utz / Graner, a.a.O., Nr. 6285. 12 Papst PiusXII., Das Grundgesetz als Grundnorm, Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses für humanistische Studien, 25. September 1949; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 359. 13 Papst Pius XII., Rundschreiben Summi Pontificatus vom 20. Oktober 1939, Utz / Graner, a.a.O., Nr.19.

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gen, die sich aus der Natur ableiten, sind die letzten Normen des Rechts. So verschieden auch die Formulierung dieser Forderungen im positiven Recht je nach Zeit und Ort, nach dem Entwicklungs- und Kulturstand sein mag, ihr innerster Kern ist doch, weil er die ,Natur' ausdrückt, überall derselbe. "14

Papst PiusXII.15 verweist auf den Ausspruch Ciceros, daß die Natur des Rechts von der Natur des Menschen abzuleiten ist 16 , und warnt daher auch vor der folgenschweren Entwicklung des Rechtspositivismus : Man muß "wohl weit in der Geschichte zurückgehen, um ein sogenanntes gesetzliches Recht zu finden, das dem Menschen jede persönliche Würde nimmt, das ihm jedes Grundrecht auf Leben mit Unantastbarkeit seiner Glieder entzieht und das eine wie das andere der Willkür der Partei und des Staates ausliefert" 17. Für Papst PiusXII. genügt die bloße Tatsache, "daß etwas von der gesetzgebenden Macht zur verpflichtenden Norm des Staates erklärt worden ist, ... allein und an sich noch nicht, um wahres Recht zu schaffen"18, die rechtliche Ordnung muß sich vielmehr wieder "an die sittliche Ordnung gebunden fühlen und darf sich nicht erlauben, deren Grenzen zu überschreiten" 19. In seiner Begründung des Rechts erweist sich Papst Pius XII. klar und deutlich als Thomist. Er erklärte auch selbst: "Die Wissenschaft vom Recht und Unrecht setzt daher eine Weisheit voraus, die in der Erkenntnis der geschaffenen Ordnung und folglich ihres Ordners besteht. Das Recht, so lehrt der Aquinate, - ,est objectum iustitiae' - ,ist das Objekt der Gerechtigkeit'20 - ist die Norm, in der sich die große und fruchtbare Idee der Gerechtigkeit zu greifbarer Wirklichkeit verdichtet. "21

Papst PiusXII. sieht die Kirche zwar nicht zur Setzung des positiven Rechtes des Staates berechtigt, wohl aber zur Erkenntnis des Naturrechtes, an dem das positive Recht zu messen ist. Zur Begründung dieser Autorität der Kirche in naturrechtlichen Fragen bemerkte Papst Pius XII. : "Die Gewalt der Kirche ist keineswegs an die Grenzen der, wie sie es nennen, rein religiösen Angelegenheiten gebunden; vielmehr unterliegt ihrer Zuständigkeit auch 14 Papst Pius XII., Vereinheitlichung des Strafrechts, Ansprache an die Teilnehmer des sechsten Internationalen Kongresses für Strafrecht, 3. Oktober 1953; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 462. 15 Papst Pius XII., Richter und Recht, Ansprache an katholische Juristen, 4. November 1949; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 398. 16 Cicero, De legibus, L. I cap.5 § 17: "Natura iuris ab homine repentenda est natura." 17 Papst Pius XII., Der Rechtspositivismus und das richtige Recht, Ansprache an die S. Romana Rota anläßlich der Eröffnung des neuen Gerichtsjahres, 13. November 1949; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 384. 18 Utz / Groner, a.a.O., Nr. 382. 19 Utz / Groner, a.a.O., Nr. 388. 20 Thomas von Aquin, Summa Theologica, 11-11, qu. 57a.1. 21 Utz / Groner, a.a.O., Nr. 400.

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der ganze Bereich des Naturgesetzes, dessen Verkündigung, Deutung und Anwendung, soweit deren sittlicher Charakter in Betracht kommt"22; für ihn· gibt es daher im letzten ohne Religion auch keine Sicherheit in der Gesellschaft : "Wenn wir nun aufmerksamen Geistes untersuchen, was die Ursachen so vieler gegenwärtiger und künftiger Gefahren sind, so erkennen wir leicht, daß menschliche Entscheidungen, menschliche Kraft und menschliche Institutionen notwendigerweise in dem Maße fragwürdiger und schwankender werden, wie die Autorität Gottes, die erleuchtet, befiehlt und verbietet, die Ursprung und Garant der Gerechtigkeit, Quelle der Wahrheit und Fundament des Gesetzes ist, zurückgesetzt, nicht an den ihr zukommenden Platz eingeordnet oder völlig übergangen wird. "23 Pius XII. sieht aber das Naturrecht nicht bloß negativ begrenzend, sondern auch positiv wegweisend: "Das letzte Wort steht denen zu, für die das Naturrecht etwas anderes ist, als eine rein negative Regel, als eine dem Zugriff der positiven Gesetzgebung gezogene Grenze, als eine einfache technische Anpassung an die zufälligen Umstände, sondern die in ihm die Seele der positiven Gesetzgebung vernehmen. "24 Wenngleich es nun die seelsorgliche Aufgabe Papst Pius' XII. nicht zuließ, daß er sich konkret mit erkenntnistheoretischen Positionen der Naturrechtslehre beschäftigte, wußte er, wie der Vielzahl der von ihm gegebenen Sozialgestaltungsempfehlungen entnommen werden kann, doch deren sittliches Postulat auf eine Reihe von Ordnungsfragen des Einzelmenschen, seiner Gesellschaft und seines Staates zur Anwendung zu bringen. Dabei war sich Papst PiusXII. trotz seiner ständigen Hinweise auf die Existenz des Naturrechts beziehungsweise des Naturgesetzes klar auch deren Grenzen und Möglichkeiten bewußt gewesen. So ist es bemerkenswert, daß sich die das Naturrechtsdenken begrenzenden Feststellungen in Äußerungen zu einem Zeitpunkt finden, der, nämlich im Jahre 1955 gelegen, nach Beendigung des 2. Weltkrieges zu einer Epoche des Beurteilens des Erfolges der Bemühungen um eine neue Form der Menschlichkeit überleitet. Damals bemerkte Papst PiusXII. am 13. Oktober 1955 in einer Ansprache über "Koexistenz und Zusammenleben der Völker in der Wahrheit und in der Liebe", daß es nicht weniger lehrreich sei, zu sehen, "wie man immer das Bedürfnis erkannt hat, durch internationale Verträge und Vereinbarungen das festzulegen, was nach den Grundsätzen der Natur nicht mit Sicherheit feststand, und das zu ergänzen, worüber die Natur schwieg"25. Damit hat Papst PiusXII. mit einmaliger, 22 Papst Pius XII., Die Autorität der Bischöfe in öffentlichen und kirchlichen Fragen, Ansprache an das Kardinalskollegium und den Episkopat, 2. November 1954; Utz / Groner, a.a.O., Nr.4315. 23 Papst PiusXII., Rundschreiben Meminisse iuvat vom 14. Juli 1958; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 4327. 24 Papst PiusXII., Sinn und Grenzen der staatlichen Eingriffe, Ansprache an Verwaltungswissenschaftler, 5. August 1950; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 3456.

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oft viel zuwenig beachteter Deutlichkeit festgestellt, daß es für das positive Recht einen Bereich gibt, der nicht durch ein naturrechtlieh begründetes präpositives Recht bedingt ist; hier ist auch nach Papst Pius XII. ein Bereich der politischen Entscheidung eröffnet. Papst Pius XII. fügte seinem Hinweis auf die Grenzen des naturrechtlieh Erkennbaren auch unmittelbar den Hinweis auf die Möglichkeit des naturrechtlieh Wandelbaren hinzu: "Das Studium der Geschichte und Rechtsentwicklung seit ferner Zeit lehrt, daß eine Umwandlung der wirtschaftlichen und sozialen (manchmal auch der politischen) Verhältnisse neue Formen jener naturrechtlichen Postulate verlangt, denen die bis dahin herrschenden Systeme nicht mehr gerecht werden. "26

Zwei Monate später, nämlich in seiner Weihnachtsbotschaft am 24. Dezember 1955, kam Papst PiusXII. nochmals auf die Möglichkeit des wandelbaren Naturrechts zu sprechen, als er feststellte: "Es gibt eine Naturordnung, wenn ihre Formen sich auch mit den geschichtlichen und sozialen Entwicklungen wandeln. "27

Hier kommt es darauf an, mit dem Wandel derartiger geschichtlicher und sozialer Entwicklung auch die Naturrechtslehre selbst in ihrer Sinngebung und ihrer Anwendung zeit- und ortsorientiert weiterzuentwickeln. Papst Pius XII. scheint mit dieser Unterscheidung in unveränderliches und wandelbares Naturrecht28 der scholastischen Naturrechtslehre des Thomas von Aquin mit seiner Unterscheidung in primäres und sekundäres Naturrecht gefolgt zu sein, das zu seiner Ausführung des positiven Rechtes und damit auch des Staates bedarf. 29 11. Die Staatsordnung

Gleich dem Recht erklärt Papst Pius XII. auch den Staat in der ihm eigenen scholastischen Sicht. Für ihn ist "außer der Familie keine andere soziale Einrichtung so naturnotwendig und so wesentlich wie der Staat. Er hat seine Wurzeln in der Schöpfungsordnung und er stellt selbst eines der konstitutiven Elemente des Naturrechts dar" 30; geradezu aristotelisch sieht Papst Pius XII. den Utz I Groner, a.a.O., Nr. 6286. Utz I Groner, a.a.O., Nr.6286. 27 Papst Pius XII., Der Weg zur Sicherheit und Frieden, Weihnachtsbotschaft 24. Dezember 1955; Utz I Groner, a.a.O., Nr. 6349. 28 Dazu beachte auch Eberhard Welty, Veränderliches Naturrecht? Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht 1964, Bd. XIII, S. 132ff. 29 Siehe Alfred Verdross, Primäres Naturrecht, sekundäres Naturrecht und positives Recht in der christlichen Rechtsphilosophie, in: Ius et lex, Festgabe für Max Gutzwiller, Basel 1959, S. 447ff. 30 Papst Pius XII., Sinn und Grenzen der staatlichen Eingriffe, Ansprache an Verwaltungswissenschaftler, 5. August 1950; Utz I Groner, a.a.O., Nr. 3450. 25

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Staat in der Sozialnatur des Menschen begründet, ist doch der "Staat ein lebendiges Gebilde, eine normale Ausstrahlung der menschlichen Natur"31. Auch die Elemente des Staates versteht Papst PiusXII. aus seinem Naturrechtsdenken; was er für den Staat bemerkt, der für ihn nicht weniger natürlichen Ursprungs als die Familie ist, das heißt "im Kern eine vom Schöpfer gewollte und gegebene Einrichtung. Dasselbe gilt von seinen wesentlichen Bestandteilen, wie der Staatsgewalt und der Autorität, die aus der Natur und aus Gott hervorgehen. Denn von Natur und somit von ihrem Schöpfer wird der Mensch dazu gedrängt, sich gesellschaftlich zusammenzuschließen, durch den Austausch von Dienstleistungen und Gütern auf gegenseitige Integration hinzuwirken, sich gemäß den verschiedenen Veranlagungen und Fähigkeiten der einzelnen organisch zu einem Körper zusammenzufügen und auf das gemeinsame Ziel hinzuarbeiten, das in der Schaffung und Erhaltung des wahren Allgemeinwohls durch das Zusammenwirken der einzelnen Tätigkeiten besteht"32.

Trotz seiner Anerkennung der Notwendigkeit des Staates weiß ihn Papst Pius XII. klar und deutlich gegenüber der Kirche abzugrenzen. Anerkennend weist er auf Papst LeoXIII. und sein Rundschreiben Immortale Dei vorn 1. November 1885 hin, das "die Grenzen der beiden Gesellschaften auf Grund ihres verschiedenen Zieles klar unterschied und feststellte, daß dem Staat zunächst und in erster Linie die Sorge für die irdischen Interessen, der Kirche die Bemühung um die himmlischen und ewigen Güter der Menschen zustehe, soweit nämlich die Menschen der Sicherung und Unterstützung bedürfen, und zwar von seiten des Staates für die irdischen Belange und seitens der Kirche für die ewigen"33.

Auf Grund seiner langjährigen erfolgreichen Erfahrung als Diplomat weiß Papst PiusXII. aber auch um das Erfordernis und die Möglichkeiten der rechtlichen Abgrenzung der Aufgaben von Staat und Kirche, nämlich in Konkordaten. In seiner am 27. November 1957 an den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Prof. Dr. Theodor Heuß, gehaltenen Rede anläßlich dessen Staatsbesuchs hat Papst Pius XII. klar zum Sinn des Konkordates zwischen Kirche und Staat festgestellt: "Konkordate sind Rechtsinstrumente. Allein, unter der Rücksicht des wahren Besten von Volk und Staat gesehen, wollen sie den Raum bereit stellen, in dem die katholische Kirche oder die Katholiken des betreffenden Landes ihre Weltanschauung frei und ruhig zur Entfaltung und Wirkung bringen können. "34

Papst PiusXII. hat die Möglichkeit eines Konkordates nicht als Gelegenheit zu einer einseitigen Herrschaftsausübung der Kirche, sondern zu einer koordinierten Zusammenarbeit gesehen. Die Konkordate sind für ihn 31 Utz / Groner, a.a.O., Nr. 3456. 32 Utz / Groner, a.a.O., Nr. 5270. 33 Utz / Groner, a.a.O., Nr. 2747. 34 Papst PiusXIl., Der Sinn des Konkordates zwischen Kirche und Staat, Zweiter Teil aus der Rede an den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Prof. Dr. Theodor Heuss, 27. November 1957; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 6274.

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"ein Ausdruck der Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat. Sie kann prinzipiell, d. h. gemäß der Thesis, die völlige Trennung der beiden Mächte nicht gutheißen. Die Konkordate müssen der Kirche also sichere rechtliche und tatsächliche Lebensbedingungen in dem Staat, mit dem sie abgeschlossen sind, sichern und ihr die völlige Unabhängigkeit in der Erfüllung ihrer göttlichen Aufgaben garantieren. Es ist möglich, daß Kirche und Staat im Konkordat ihre gemeinsame religiöse Überzeugung zum Ausdruck bringen; aber es kann auch der Fall sein, daß das Konkordat unter anderem den Zweck hat, Streitigkeiten über prinzipielle Fragen zuvorzukommen und vom Anfang an den Konfliktstoff aus dem Weg zu räumen. Wenn die Kirche ihre Unterschrift unter ein Konkordat gesetzt hat, gilt dieses für seinen ganzen Inhalt. Aber sein innerer Sinn kann unter gegenseitiger Kenntnis der beiden hohen vertragschließenden Parteien abgestuft sein; er kann eine ausdrückliche Bewilligung bedeuten, aber er kann auch eine einfache Toleranz besagen, gemäß jenen beiden Prinzipien, welche die Norm für das Zusammenleben der Kirche und ihrer Gläubigen mit den Mächten und Menschen anderer Überzeugung bilden"35.

Den Staat behandelt Papst Pius XII. zwar nicht aus der Sicht einer umfassenden Staatslehre, geht aber seinen rechtlichen Möglichkeiten und deren Problematik nicht aus dem Weg; so, wenn er sich mit den Aufgaben von Gesetz und Verfassung auseinandersetzt. Was nützen nämlich "die besten Gesetze, wenn sie tote Buchstaben bleiben würden. Ihre Wirksamkeit hängt zum großen Teil von denen ab, die sie anwenden müssen. In den Händen von Menschen, die nicht von ihrem Geist beseelt sind, die innerlich vielleicht ganz anders denken, als sie verfügt, oder nicht geistig und sittlich fähig sind, sie in die Tat umzusetzen, verliert auch die vollkommenste gesetzgeberische Arbeit viel von ihrem Wert. Eine gute Verfassung ist zweifellos von sehr hoher Bedeutung. Was aber der Staat unbedingt braucht, sind zuständige und erfahrene Männer in Politik und Verwaltung, die sich, geführt von klaren und gesunden Grundsätzen, mit allen Kräften für das größere Wohl der Nation einsetzen"36.

In seiner Befassung mit den Aufgaben der im Staat tätigen Persönlichkeiten hat Papst PiusXII. seine Gedanken zur Staatsethik entwickelt. Er betonte, "daß die menschliche Freiheit ihre Grenzen hat im göttlichen Gesetz und in den vielfachen Pflichten, die das Leben bringt ... Die Kirche verspricht nicht jene absolute Gleichheit, die andere verkünden, weil sie weiß, daß das menschliche Gemeinschaftsleben immer und notwendig Abstufungen und Unterschiede der körperlichen und geistigen Fähigkeiten, der inneren Veranlagungen und Neigungen, der Beschäftigungsarten und des Verantwortungsgrades mit sich bringt. Aber sie lehrt gleichzeitig, daß alle Menschen ganz gleich sind in ihrer Würde und ganz gleich auch im Herzen dessen, der sie alle zu sich ruft ... "37. 35 Papst Pius XII., Die religiöse Toleranz in einer Staatengemeinschaft, Ansprache an den Verband der katholischen Juristen Italiens, 6. Dezember 1953; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 3985. 36 Utz / Graner, a.a.O., Nr. 3218. 37 Papst Pius XII., Die Kirche als Wegweiser zur naturgerechten Gesellschaftslehre, Ansprache an Arbeiter der FIAT-Werke von Turin, 31. Oktober 1943; Utz / Graner, a.a.O., Nr.136.

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Papst Pius XII. hat sich damit für eine austeilende Gerechtigkeit, nicht aber für eine nivellierende Gleichmacherei ausgesprochen; sein Ziel ist daher auch die Wahrung der Freiheit und Würde des Menschen, deshalb "lehnt die Kirche jeden Staatstotalitarismus ab"38. Er vertritt vielmehr eine christliche Staatsauffassung und Staatswirklichkeit,

"die aufgebaut wird auf zuchtvoller Vernunft, edler Menschlichkeit und verantwortungsbewußtem christlichem Geiste"39, denn "keine Politik, weder Innen- noch Außenpolitik, kann Menschenrechte schützen und Menschenfrieden mit wahrer Freiheit verbürgen, wenn sie ihre Eingebungen nicht aus der [ewigen] Wahrheit schöpft und sich leiten läßt vom Geist ihrer allumfassenden Liebe"40.

Als Ursachen der Krise des Rechtslebens sieht Papst PiusXII. den Rechtspositivismus und den Absolutismus des Staates mit seinem Streben, "alle Dinge

seiner Willkür zu unterwerfen und das Recht seinen eigenen Zwecken dienstbar zu machen"41. Diesen Entwicklungstendenzen stellt er die sozialrechtliche Forderung des Gemeinwohls42 entgegen. Noch 1954 betonte Papst Pius XII. in einem Brief: "Die Aufgabe des Staates - so brachten Wir zu Beginn Unseres Pontifikates in Erinnerung - besteht darin, ,die privaten und individuellen Tätigkeiten des Lebens zu kontrollieren, zu unterstützen und zu regeln, um sie in harmonischer Weise auf das Gemeinwohl auszurichten'43. "44 Diese Forderung des Gemeinwohls stellt er umfassend für die Gemeinschaft: "Zu diesen Gemeinschaften gehören an erster Stelle die Familie, der Staat und auch die Gemeinschaft der Staaten; denn das Gemeinwohl, der Wesenszweck eines jeden von ihnen, kann weder bestehen noch gedacht werden ohne deren innere Beziehung zur Einheit des Menschengeschlechts. "45

Papst Pius XII. hat damit die innen- und zwischenstaatlichen, also auch die internationalen Beziehungen des Gemeinwohlprinzips angesprochen, wie er 38 Utz / Graner, a.a.O., Nr. 137. 39 Papst Pius XII., Die Grundelemente des Gemeinschaftslebens, Rundfunkbotschaft, 24. Dezember 1942; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 263. 40 Papst PiusXIl., Christentum und Menschenrechte, Ansprache an Mitglieder des Kongresses der USA, 4. Dezember 1949; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 363. 41 Papst Pius XII., Der Rechtspositivismus und das richtige Gesetz, Ansprache an die S. Romana Rota anläßlich der Eröffnung des neuen Gerichtsjahres, 3. November 1949; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 376. 42 Siehe dazu Jahannes Messner, Das Gemeinwohl, 2. Aufl., Osnabrück 1968. 43 Papst Pius XII. , Enzyklika Summi Pontificatus. AAS XXXI (1939), 433. 44 Papst Pius XII., Die Krise der Staatsgewalt, eine Krise der staatsbürgerlichen Gesinnung, Brief an Charles Flory, den Vorsitzenden der 41. Sozialen Woche Frankreichs (Rennes), 14. Juli 1954; Utz / Graner, a.a.O., Nr.4302. 45 Papst PiusXII., Der Beitrag der Kirche zur Sache des Friedens, Weihnachtsbotschaft, 24. Dezember 1951; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 4198.

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sie besonders innerstaatlich im Hinblick auf die Probleme der Kultur-, Sozialund Wirtschaftspolitik dargelegt und in seinen Ausführungen über die Berufsstände und deren Wirkbereich näher ausgeführt hat 46 • In einer Vielzahl von Stellungnahmen hat Papst Pius XII. dementsprechend auch Beiträge zur Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsethik und damit letztlich auch zur Entwicklung des sozialen Rechtsstaates geleistet, wobei ihn stets das Bemühen um eine Vereinbarkeit von Freiheit und Sicherheit geleitet hat, die der Würde des Menschen gerecht wird. Wenngleich Papst Pius XII. die verschiedenen genannten Begriffe der Staatlichkeit unter eigenschaftswörtlicher Voranstellung ihrer sachethischen Bezüge nicht verwendet hat, wußte er doch deren Sinngehalt aufzudecken; für Papst Pius XII. waren dies durch die Herrschaft von autoritären Regimen und den 2. Weltkrieg aktuell gewordene Notwendigkeiten. Darum betont er: "Vom Gemeinschaftsleben und seinen gottgewol\ten Zielen untrennbar ist eine Rechtsordnung, die ihm als äußerer Halt, als Schirm und Schutz dient. Solche Rechtsordnung ist nicht um des Herrschens, sondern um des Dienens willen da. "48 Daß der Staat die Gewalt braucht, um seinen Zweck erreichen zu können, war Papst PiusXII. ebenfalls geläufig: "Dieser Rechtsordnung ist zur Sicherung des Bestandes, des Gleichgewichts und der inneren Einheit der Gemeinschaft auch die Gewalt in die Hand gegeben gegen solche, die nur auf diesem Wege in der hehren Zucht des Gemeinschaftslebens gehalten werden können"49; zur Wiederherstellung einer gemeinwohlgerechten Rechtsordnung bedarf es aber auch einer Beschränkung und Qualität dieser Gewalt, nämlich einer Rechtsordnung, "die ihre schützende und rächende Hand auch über die unverlierbaren Menschenrechte breitet und sie dem Zugriff jeder menschlichen Macht entzieht"50; er betont auch "das unveräußerliche Recht des Menschen auf Rechtssicherheit und damit auf einen greifbaren Rechtsbereich, der gegen jeden Angriff der Willkür schützt"51. Diese Gewalt und Sicherheit des Rechtsstaates sieht Papst Pius XII. aber nicht als Selbstzweck, sondern im Dienst des Gemeinwohls; deshalb soll der Staat, "dessen Pflicht die Förderung des Gemeinwohls ist, mit sozialen EinrichtunSiehe dazu Utz / Graner, III. Bd., S. 2875ff. 47 Entfäl\t. 48 Papst Pius XII., Die Grundelemente des Gemeinschaftslebens, Rundfunkbotschaft, 24. Dezember 1942; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 233. 49 Utz / Graner, a.a.O., Nr. 233. 50 Utz / Graner, a.a.O., Nr. 260. 51 Utz / Graner, a.a.O., Nr. 261. 46

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gen, wie Versicherungen und sozialen Hilfswerken, helfend unterstützen und ergänzend"52 tätig sein. So sehr Papst PiusXII. in verschiedenen Zusammenhängen und mit mannigfachen Ausdrücken die Wohlfahrtsfunktion des Rechtsstaates betonte, wußte er auch gleichzeitig um deren Grenzen und Gefahren Bescheid; so warnte er vor einem "Versorgungsstaat, der jedem seiner Bürger für alle Wechselfälle des Lebens Ansprüche auf letzten Endes unerfüllbare Leistungen gewähren soll" 53 , diese Entwicklung würde ja schließlich die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen verkümmern, was auch eine Erziehungsfrage ist. Es ist daher auch Aufgabe des Staates im Dienste seiner Gemeinwohlfunktion, die dem Einzelnen zu seiner Persönlichkeitsentfaltung erforderliche Bildung zu vermitteln. So erklärte Papst PiusXII. auch, daß die Kirche grundsätzlich und praktisch "die Rechte des Staates auf die Schule, abgeleitet aus seiner gottgegebenen Aufgabe, für das Gemeinwohl zu sorgen", anerkennt. "Die Schule soll an Bildung und staatsbürgerlicher Erziehung leisten, was der Staat unter den jeweiligen Verhältnissen von seinen Angehörigen zu verlangen befugt ist. "54 Papst Pius XII. hat aber nicht allein aus katholischer Sicht Forderungen zur Verwirklichung des Gemeinwohlgrundsatzes für die verschiedenen Gebiete der Politik und damit auch für die jeweiligen Tätigkeitsbereiche erhoben, er hat gleichzeitig auch der Tatsache der Existenz der Kirche in einer aus mehrfachen Gründen pluralistischen Gesellschaft Rechnung getragen und bemerkt: "Die immer häufigeren Begegnungen und die Vermischungen der verschiedenen Konfessionen in den Grenzen desselben Volkes haben die Staatsbehörden veranlaßt, den Grundsatz der Toleranz und der Gewissensfreiheit zu befolgen. Es gibt in der Tat eine politische, bürgerliche und gesellschaftliche Toleranz gegenüber von Anhängern anderer Bekenntnisse, die auch für die Katholiken in solchen Verhältnissen eine sittliche Pflicht ist. "55

Dieser Feststellung fügte Papst PiusXII. - gleichsam die Geschichte zur Festigung seiner Glaubwürdigkeit heranziehend - den Hinweis hinzu: 52 Papst PiusXII., Lösung der Arbeiterfrage in Eintracht und Ordnung, Ansprache an etwa 20000 italienische Arbeiter, die dem Heiligen Vater zum 25. Bischofsjubiläum gratulierten, 13. Juni 1943; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 691. 53 So Papst PiusXII., Wirtschaftliche Neuordnung, Ansprache an die Teilnehmer des internationalen Kongresses für Sozialwissenschaft, 3. Juni 1950; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 3270 54 Papst Pius XII., Unerschütterliches Festhalten der Kirche an der Katholischen Schule, Brief vom 15. April 1958; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 4999. 55 Papst Pius XII., Der Unterschied zwischen weltlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit, aufgezeigt an deren je eigentümlichen Gegenstand, Ansprache an die Mitglieder der Sacra Romana Rota anläßlich der Eröffnung ihres Gerichtsjahres, 6. Oktober 1946; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 2730.

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"Die Kirche selbst hat im Can.1351 des Kirchlichen Gesetzbuches dem Grundsatz Gesetzeskraft verliehen: ,Ad amplexandam fidem catholicam nemo invitus cogatur' - ,Niemand darf gegen seinen Willen zur Annahme des katholischen Glaubens gezwungen werden'. Dieser Kanon, der die Worte Unseres großen Vorgängers Leos XIII. in der Enzyklika Immortale Dei vom 1. November 1885 wiedergibt, ist ein Widerhall der von der Kirche seit den ersten Jahrhunderten des Christentums vorgetragenen Lehre. Es genüge, das Zeugnis von Lactantius anzuführen, das ungefähr in den Jahren 305 bis 310 geschrieben wurde: , ... Zwang und Überwältigung sind nicht notwendig, da die Religion nicht aufgezwungen werden kann. Die Willigkeit muß mehr mit Überredung als mit Züchtigung herbeigeführt werden ... So werde auch niemand von uns gegen seinen Willen zurückgehalten, denn wer der Frömmigkeit und des Glaubens entbehrt, ist für den Gottesdienst unnütz ... Nichts ist nämlich so freiwillig wie die Religion. Ist der Geist des Opfernden widerspenstig, dann ist sie bereits aufgehoben und nichtig ... '. "56,57

Papst PiusXII. hat dazu eine eigene religiös-sittliche Toleranzformel geprägt: ,,1. Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht

auf Dasein, Propaganda und Aktion. 2. Nicht durch staatliche Gesetze und Zwangsmaßnahmen einzugreifen, kann trotzdem im Interesse eines höheren und umfassenderen Gutes gerechtfertigt sein. "58

Diesem Prinzip der Toleranz entspricht auch das der Neutralität der Kirche gegenüber den Staatsformen, das Papst PiusXII. im Anschluß an seine Vorgänger vertreten hat. So hat schon Papst Leo XIII. in der Enzyklika Diuturnum illud am 29. Jänner 1881 unter anderem erklärt: "Wenn die Gerechtigkeit gewahrt bleibt, ist es den Völkern freigestellt, sich jene Staatsform zu wählen, die ihrer Veranlagung oder den Einrichtungen oder Gebräuchen ihrer Vorfahren besser entspricht. "59

In dem Rundschreiben Immortale Dei vom 1. November 1885 verkündigte er: "Das Befehlsrecht ist an und für sich mit keiner Staatsform notwendigerweise verbunden. "60

In der Enzyklika Libertas praestantissimum vom 20. Juni 1888 setzte Papst Leo XIII. fort: "Die Kirche verwirft keine jener verschiedenen Staatsformen, solange sie aus sich geeignet sind, das Gemeinwohl zu fördern. "61 Divinae institutiones, v 19; Corpus Script. Eccles. Lat., XIX 463 - 465. Utz / Groner, a.a.O., Nr. 2731. 58 Papst Pius XII., Die religiöse Toleranz in einer Staatengemeinschaft, Ansprache an den Verband der katholischen Juristen Italiens, 6. Dezember 1953; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 3978. 59 Emil Marmy, Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, hrsg. von Emil Marmy, Freiburg 1945, Nr. 808. 60 Marmy, a.a.O., Nr. 840. 61 Marmy, a.a.O., Nr.137. 56

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Im Anschluß an Papst LeoXIII. zitiert auch Papst Pius XII. , daß "die Kirche keine von den verschiedenen Regierungsformen ablehnt, vorausgesetzt, daß sie in sich geeignet sind, dem Wohl der Bürger zu dienen"62.

Auch in der Frage der Anerkennung der Staatsform stehen nicht die Anliegen des Staatsrechts, sondern praktische Anliegen im Vordergrund. Dementsprechend meint auch Papst Pius XII. , "daß die Sorge und Bemühungen der Kirche nicht so sehr auf ihren Aufbau und ihre äußere Organisation gerichtet, - Dinge, die von den jedem Volk eigentümlichen Neigungen abhängen, - als vielmehr auf den Menschen als solchen, der, weit entfernt nur Gegenstand und gleichsam ein passives Element des sozialen Lebens zu sein, vielmehr dessen Träger, Grundlage und Ziel ist und sein muß"63.

Zu diesem auch von ihm vertretenen traditionellen Standpunkt der Neutralität gegenüber den Staatsformen hat Papst PiusXII. insoferne eine Modifikation zur Demokratie vorgenommen, als er in seiner Weihnachtsansprache vom 24. Dezember 1944 unter dem Eindruck der Wirren seiner Zeit erklärte: "Die Völker selbst - und das ist vielleicht der wichtigste Punkt - im grellen Schein des Krieges, der ihre Augen schmerzt, in der kochenden Glut des Feuerofens, in den sie eingeschlossen sind",

sind "wie von einer langen Betäubung erwacht. Sie haben gegenüber dem Staat, gegenüber den Staatsmännern eine neue fragende, kritische, mißtrauische Haltung angenommen. Durch bittere Erfahrung belehrt, widersetzen sie sich mit großem Nachdruck den ausschließlichen Befugnissen einer diktatorischen, unkontrollierbaren und unantastbaren Macht und fordern ein Regierungssystem, das mehr im Einklang steht mit der Würde und der Freiheit der Bürger ... Ist es bei einer solchen Verfassung der Gemüter vielleicht zu verwundern, wenn die Neigung zur Demokratie die Völker ergreift und weithin Unterstützung und Zustimmung derer findet, die wirksamer mitarbeiten möchten an den Geschicken der einzelnen und der Gemeinschaft?"64

DI. Das demokratische System

Die Tatsache der durch Papst PiusXII. in der Weihnachtsansprache 1944 erfolgten Hervorhebung der Demokratie bei gleichzeitiger Unterscheidung der Staatsformen der Monarchie und Republik65 läßt deutlich werden, daß er die Demokratie als politisches Ordnungssystem von den Staatsformen unterscheiden will. Er betont nur, daß bei den derzeitigen politischen Verhältnis62 Papst Leo XIII., Enzyklika Libertas praestantissimum, 20. Juni 1888, Schluß Utz / Groner, a.a.O., Nr. 3471. 63 Papst PiusXII., Grundlehren über die wahre Demokratie, Radiobotschaft an die Welt, 24. Dezember 1944; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 3472. 64 Utz / Groner, a.a.O., Nr. 3469f. 65 Siehe Utz / Groner, a.a.O., Nr. 3473.

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sen, wie Rechtspositivismus und Staatsabsolutismus66 , die Demokratie noch am besten der Freiheit und Würde des Menschen zu entsprechen vermag, da sie dem Einzelmenschen im Staat die Möglichkeit eröffnet, sein Schicksal wenigstens mitzubestimmen. 67 Da die katholische Kirche auch dem politischen Ordnungssystem lange eher reserviert gegenüberstand68 , kommt dieser Modifikation der klassischen Neutralität der katholischen Kirche gegenüber den Staatsformen eine besondere Bedeutung69 zu; sie soll aber nicht übersehen lassen, daß sich die Demokratie als politisches Ordnungs system sowohl in einer Staatsform der Monarchie als auch der Republik verwirklichen läßt 7o • Papst Pius XII. bemerkte auch in dem an die Weihnachtsansprache folgenden Jahr 1945: "Ohne Zweifel erfüllt eine wahre theoretische und praktische Demokratie jene Lebensnotwendigkeit einer jeden gesunden Gemeinschaft, von der wir gesprochen haben. Aber diese erfüllt sich, oder kann sich wenigstens unter gleichen Bedingungen auch in anderen Regierungsformen erfüllen. "71

Zu seiner Zeit erschien Papst Pius XII. die moderne Demokratie als Gegenpol zum sogenannten "Totalitarismus und Autoritarismus"72. Bemerkenswert ist, daß Papst PiusXII. in seinen die Demokratie bevorzugenden Äußerungen diese stets in Beziehungen zur Ordnung des Staates und nicht zu der der Gesellschaft gedacht hat. Papst Pius XII. verwendete daher nicht, wie es heute oft der Fall ist, unkritisch das Wort Demokratie oder Demokratisierung73 • Demokratisierung des Staates74 , der Gesellschaft, der Utz / Groner, a.a.O., Nr. 137 und 376. Siehe, warum Papst Pius XII. über die Demokratie geschrieben hat, Gundiaeh, a.a.O., S. 597ff. 68 Beachte Herbert Schambeck, Die Demokratie in der Lehre der katholischen Kirche, in: Convivium utriusque iuris, Alexander Dordett zum 60. Geburtstag, Wien 1976, S. 27ff. Neudruck in diesem Band. 69 Franz Klüber, Katholische Gesellschaftslehre, I. Bd., Osnabrück 1963, S. 348, ist sogar der Meinung: "Die Demokratie hat aber gegenüber den anderen Staatsformen einen grundSätzlichen Wertvorrang, weil sie von ihrer Struktur her der Selbstverantwortung und Initiative der Person die größeren Chancen der Selbstentfaltung und Bewährung einräumt. Vom Prinzip der Subsidiarität her spricht die praesumtio iuris immer für die Demokratie, die also bei der Wahl der Staatsform stets bevorzugt auf die Möglichkeit ihrer geschichtlichen Realisierung zu prüfen ist." 70 Vgl. Utz / Groner, a.a.O., Nr. 3473. 71 Papst Pius XII., Der Unterschied zwischen der kirchlichen und der staatlichen Gerichtsbarkeit, aufgezeigt an deren je verschiedenen Ursprung und Wesen, Ansprache an die Sacra Romana Rota anläßlich der Eröffnung des neuen Gerichtsjahres, 2. Oktober 1945; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 2713. 72 Utz / Groner, a.a.O., Nr.2706. 73 Siehe diesbezüglich vor allem Wilhelm Hennis, Die mißverstandene Demokratie, Freiburg 1973. 74 Dazu Herbert Schambeck, Der Staat und die Demokratie, in: Geschichte und Gesellschaft, Festschrift für Kar! R. Stadler, Wien 1974, S. 419ff. 66

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Schule, der Hochschule, des Betriebes oder aber auch der Kirche 75 verlangt jeweils die Beachtung anderer eigener Sachzusammenhänge oder Sinnbeziehungen; Papst PiusXII. hat das in seinen Lehräußerungen bedacht und hat so diesen heute häufig vorkommenden Fehler vermieden. Dabei waren Papst PiusXII. diese Möglichkeiten der Demokratisierung geläufig, denn im Zusammenhang mit Betrachtungen über das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer kam er auf die "Nationalisierung oder Sozialisierung des Betriebes und Demokratisierung der Wirtschaft"76 zu sprechen, wobei er auch in diesem Zusammenhang empfehlend auf den seinerzeit 1931 von Papst PiusXII. in der Enzyklika "Quadragesimo anno" gemachten Vorschlag von der berufständischen Ordnung verwies 77 • In der die Demokratie im Staat bevorzugenden Auffassung Papst Pius' XII. verdeutlicht sich neuerdings der Vorrang seiner seelsorglichen Haltung78 . In jeder Demokratie, gleichgültig in welcher Staatsform sie sich verwirklicht, geht es Papst Pius XII. um die verantwortungsbewußte Gesinnung des Einzelnen im Staat und um die feste Begründung der Autorität der öffentlichen Gewalt. Papst Pius XII. unterscheidet zwischen Volk und Masse. "Das Volk lebt und bewegt sich durch Eigenleben, Masse ist in sich träge und kann nur von außen bewegt werden, ... die Masse - wie Wir sie soeben gekennzeichnet haben - ist der Hauptfeind der wahren Demokratie und ihres Ideals von Freiheit und Gleichheit. "79

Er warnte auch vor der Anwendung eines falschen Realismus in der heutigen demokratischen Struktur; nach ihm hängt "auch der Staat und seine Form von dem moralischen Charakter der Bürger ab, ganz besonders heute, wo der moderne Staat im hohen Gefühl der technischen und organisatorischen Möglichkeiten nur zu sehr geneigt ist, durch öffentliche Einrichtungen dem einzelnen das Denken und die Verantwortung für sein Leben abzunehmen. Eine so beschaffene moderne Demokratie muß also fehlgehen, sobald sie sich nicht mehr an die sittliche Verantwortlichkeit der einzelnen Bürger wendet oder wenden kann"8O. 75 Beachte Herbert Schambeck, Kirche und Demokratie, in: Kirche und Staat, Fritz Eckert zum 65. Geburtstag, Berlin 1976, S. 103ff. 76 Papst Pius XII., Die Aufgaben der christlichen Arbeitervereine, Ansprache an die Delegierten der italienischen christlichen Arbeitervereine, 11. März 1945; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 2918. 77 Utz / Graner, a.a.O., Nr.2921; vgl. auch weiters Utz / Graner, a.a.O., Nr.3266 und 3346; dazu siehe Karl Karinek, Die Prinzipien des österreichischen Systems der Sozialpartnerschaft und ihre Fundierung in der Katholischen Soziallehre, in: Kirche und Staat, S. 369ff. 78 Siehe Utz / Graner, a.a.O., Nr. 3472. 79 Utz / Graner, a.a.O., Nr. 3476f. 80 Papst Pius XII., Die sittlichen Forderungen an den Menschen in der Gesellschaft, Weihnachtsbotschaft, 23. Dezember 1956; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 4393.

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Eine sittliche Begründung bedarf aber nicht allein die Stellung der Einzelmenschen, sondern auch die Autorität im demokratischen Staat. "Der demokratische Staat, ob Monarchie oder Republik, muß wie jede andere Regierungsform mit wahrer und wirksamer Autorität ausgestattet sein"81; diese Autorität sieht Papst Pius XII. in "ihrer Teilnahme an der Autorität Gottes"82 begründet. Dabei erkennt Papst PiusXII. in der Demokratie der modernen Massengesellschaft für die Autorität des Staates besonders auch die parlamentarische Verantwortung, von welcher er erklärte: "Wer in unseren Tagen dazu berufen ist, beim Werk der Gesetzgebung mitzuarbeiten, übernimmt damit zugleich eine Aufgabe, von der oft Leben oder Tod, Zufriedenheit oder Verbitterung, Fortschritt oder Verfall von unzähligen Menschen abhängt. Vom Augenblick an, wo sie ihren Stimmzettel in die Urne werfen, legen Tausende von Wählern ihr Schicksal in Eure Hände. Für die Dauer der Legislaturperiode hängt ihr Glück oder Unglück, ihr wirtschaftliches, soziales, kulturelles, geistiges Wohl mehr oder weniger endgültig von Ja oder Nein Eurer Stimme ab, die ihr den Gesetzesvorschlägen gebt, welche den Gegenstand Eurer Erörterungen und Überlegungen bilden83 ." Man fordert daher "als Tugend der Harmonie und des Ausgleichs zwischen den Extremen des Totalitarismus und dem Wirrwarr der Anarchie - die beide in gleicher Weise den Menschen verachten und vernichten - ... die staatsbürgerliche Gesinnung ... Sie verlangt, daß unentwegt freier Umgang herrsche zwischen den Gliedern der Volksgemeinschaft und deren Führern. Den Regierenden trägt dieser Umgang den klaren und vertrauensvollen Ausdruck einer reifen und wohlunterrichteten öffentlichen Meinung ein; die Bürger hingegen gewinnen dadurch einen Einblick in den Aufbau einer als solche verstandenen und akzeptierten Ordnung zum Wohle aller"84. Mit diesen Äußerungen zeigte Papst Pius XII., daß er die Realfaktoren der heutigen Politik moderner Demokratien kennt, daß er sich aber für eine im

Dienst des Einzelmenschen sowie seiner Freiheit und Würde stehenden gemeinwohlgerechten Nutzung einsetzt; sie dürfen gleich dem Staat nicht Selbstzweck sein; in diesem Sinne betont er Grundsätze christlicher Politik und versucht, einen christlichen Begriff der Staatsmacht zu geben: "Der Staat ist kein Letztes, und es gibt keine Staatsallmacht, wohl aber eine Staatsmacht, und die ,christliche Politik' hat einen starken Sinn für sie. Denn ohne Macht kann der Staat sein Ziel, durch eine von allen eingehaltene Rechts- und Sozialordnung das Gemeinwohl zu sichern und zu fördern, nicht erreichen. "85

Utz / Graner, a.a.O., Nr.3480. Utz / Graner, a.a.O., Nr. 3481. 83 Papst Pius XII., Parlamentarische Verantwortung, Ansprache an italienische Parlamentarier, 13. Dezember 1950; Utz / Graner, a.a.O., Nr. 3520. 84 Die sittliche Pflicht zur Pflege staatsbürgerlicher Gesinnung, Päpstlicher Brief des Substituts des Staatssekretariats Seiner Heiligkeit, Angelo Dell'Acqua, an den Vorsitzenden der Sozialen Woche Kanadas 1955: 29. September 1955; Utz / Graner, a.a.O., Nr.6247. 81

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Was für den Staat und die ihm eigene und für die Erfüllung seiner Aufgaben notwendige Staatsmacht im allgemeinen gilt, gilt auch für die christliche Pflichterfüllung im besonderen, es bedarf eines bestimmten technischen Könnens als Voraussetzung für die Erfüllung der Aufgaben des Einzelnen. "Ohne technische Fähigkeit würde kein noch so ehrlicher Wille genügen. "86

Papst PiusXII. hat seine Worte zur sittlich gerechtfertigten Pflichterfüllung im heutigen Staat und seiner Demokratie nicht bloß an die Politiker einerseits und die Bürger andererseits, sondern auch an einzelne Berufsstände gerichtet 87 , wobei er auf die Berufsausübung der Beamten88 und der Richter89 , wie auf Grundprobleme des Strafgesetzes90 ebenso einging, wie er um eine naturrechtliehe Begründung des Privatrechts91 sowie um die internationale Vereinheitlichung des Privat-92 und Strafrechts93 bemüht war. Stets ist dabei Papst Pius XII. um eine Rechtsgestaltung durch den Einfluß der menschlichen Persönlichkeit 94 bemüht, wobei er den Rechtspositivismus verwirft, "der dem Recht eine eigene autonome ,Heiligkeit' zuspricht" 95 • Mit aller Deutlichkeit zeigt sich, daß es Papst Pius XII. in Vertretung der thomistischen Rechts- und Staatslehre um die Veranschaulichung des Dienstes von Recht und Staat an der Sicherung der Freiheit und Würde des Menschen zu tun war; deshalb weist er in verschiedensten Zusammenhängen immer wieder auf die Bedeutung der Menschenrechte 96 und des Gemeinwohls97 für die 85 Papst Pius XII., Grundsätze der christlichen Politik, Ansprache an eine Gruppe der "Jungen Union" der Christlichen-Demokratischen Union von West-Berlin, 23. März 1957; Utz I Groner, a.a.O., Nr. 6250. 86 Papst Pius XII., Der Christ in der Gemeinde und Provinzverwaltung, Ansprache an italienische Bürgermeister und Präsidenten der Provinzverwaltungen, 22. Juli 1956; Utz I Groner, a.a.O., Nr. 6269. 87 Siehe Utz / Groner, a.a.O., S. 798ff. 88 Beachte Utz / Groner, a.a.O., Nr. 2661 ff. , 4479 und 6258ff. 89 Dazu Utz I Groner, a.a.O., Nr. 392ff. 90 Utz I Groner, a.a.O., Nr. 4556ff. 91 Papst Pius XII., Naturrechtliche Begründung des Privatrechts, Ansprache an Mitglieder des Internationalen Instituts für Vereinheitlichung des Privatrechts, 20. Mai 1948; Utz I Groner, a.a.O., Nr. 411ff. 92 Papst Pius XII., Zur internationalen Vereinheitlichung des Privatrechts, Ansprache an die Teilnehmer des ersten Internationalen Kongresses für Privatrecht, 15. Juli 1950; Utz I Groner, a.a.O., Nr. 419ff. 93 Papst Pius XII., Internationale Vereinheitlichung des Strafrechts, Ansprache an die Teilnehmer des sechsten Internationalen Kongresses für Strafrecht, 3. Oktober 1953; Utz I Groner, a.a.O., Nr. 432ff. 94 Utz I Groner, a.a.O., Nr.416. 95 Utz I Groner, a.a.O., Nr. 422. 96 Siehe u. a. Papst Pius XII., Die soziale Frage heute, Radiobotschaft an Pfingsten, 1. Juni 1941; Utz I Groner, a.a.O., Nr. 515; Papst Pius XII., Grundsätze der christlichen Politik, Ansprache an eine Gruppe der "Jungen Union" der Christlich-Demokratischen Union von West-Berlin, 28. März 1957; Utz I Groner, a.a.O., Nr. 6251; Papst Pius XII., Die Verteidigung der Menschenrechte im Lichte des christlichen Optimismus, Anspra-

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Rechts- und Sozialordnung hin; Papst Pius XII. hat damit Ziele, aber auch Grenzen demokratischen Wo liens und staatlicher Autorität verdeutlicht, was die Relativität der Souveränität des Staates erkennen läßt. IV. Die relative Staatssouveränität

Die katholische Soziallehre geht zwar von einem Staatsbegriff aus98 , der die Souveränität des Staates und damit seine Kennzeichnung als societas perfecta insoferne einschließt, als Papst Pius XII. auch betonte, daß die Menschheit "gemäß der von Gott eingerichteten natürlichen Ordnung in gesellschaftliche Gruppen, Nationen und Staaten geteilt" ist, "die unabhängig sind in bezug auf Gestaltung und Leitung ihres Eigenlebens; zugleich ist sie aber auch durch gegenseitige sittliche und rechtliche Bindungen zu einer großen Gemeinschaft zusammengeschlossen, deren Ziel das Wohl aller Völker ist und die ihre Einheit und ihren Fortschritt durch besondere Gesetze schützt"99. Die Souveränität des Staates ist daher weder nach innen noch nach außen eine absolute, sondern eine relative Souveränität. Das Wollen des Staates ist ethisch gebunden. Papst Pius XII. wies auf "die Bindung der Rechtsordnung in einer Staatengemeinschaft und der Souveränität der Einzelstaaten durch das Naturgesetz" 100 hin; und meinte: "Es ist nun klar, daß die angebliche absolute Autonomie des Staates zu dieser naturgegebenen Rechtsordnung in offenem Widerspruch steht, sie geradezu leugnet, indem sie die Dauerhaftigkeit internationaler Beziehungen dem Ermessen der Regierungen überläßt und dadurch eine gesicherte Einigung und fruchtbare Zusammenarbeit zum gemeinsamen Wohl unmöglich macht. "101

Nach Papst PiusXII. ist der Staat innen- und zwischenstaatlich in eine ihn umschließende Naturrechtsordnung, welche auch das Fundament der Völkergemeinschaft gleichsam als präpositives Regulativ bildet, eingebunden. "In dieser Völkergemeinschaft ist also jeder Einzelstaat in die internationale Rechtsordnung und damit in die Ordnung des Naturrechts, das alles schützt und krönt, eingebettet. Auf diese Weise ist er nicht mehr - und ist es übrigens niemals gewesen che an die Mitglieder des "NATO Defence College", 16. Mai 1958; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 6402ff.; beachte dazu den ausführlichen Beitrag von Heribert F. Köck, Das Naturrecht und die Menschenrechte bei PiusXII., in: PiusXII. zum Gedächtnis, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1977, S. 471 ff. 97 UIZ / Groner, a.a.O., Nr.508. 98 Siehe Herbert Schambeck, Der Staat in der katholischen Soziallehre, in: Katholisches Soziallexikon, 1. Aufl., Innsbruck 1964, Sp. 1147ff. 99 Papst Pius XII., Rundschreiben Summi Pontificatus, 20. Oktober 1939; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 53. 100 Papst Pius XII., Die religiöse Toleranz in einer Staatengemeinschaft, Ansprache an den Verband der katholischen Juristen Italiens, 6. Dezember 1953; Utz / Groner, a.a.O., Nr. 3966f. 101 Utz / Groner, a.a.O., Nr. 54.

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souverän im Sinne absoluter Schrankenlosigkeit. ,Souveränität' im echten Sinne des Wortes bedeutet Autarkie und ausschließlich Kompetenz in bezug auf die Dinge und den Raum gemäß der Substanz und der Form der Tätigkeit, jedoch im Rahmen des internationalen Rechts - aber in Abhängigkeit von der Rechtsordnung irgendeines anderen Staates. Jeder Staat ist unmittelbar der Ordnung des internationalen Rechts unterworfen. Staaten, denen diese Kompetenzfülle fehlte oder denen das internationale Recht die Unabhängigkeit von jedem Machteinfluß eines anderen Staates nicht gewährleisten würde, wären nicht souverän. Kein Staat jedoch könnte wegen einer Begrenzung seiner Souveränität Klage erheben, wenn man es ihm verwehrte, willkürlich und ohne Rücksicht auf die anderen Staaten vorzugehen. Souveränität ist nicht Staatsvergötterung oder Staatsallmacht im hegeischen Sinn oder im Sinn eines absoluten Rechtspositivismus. "102

Neben allgemeinen Feststellungen über die Stellung der Staaten und ihre Souveränität befaßt sich Papst Pius XII. aus der Sicht katholischer Rechtslehre auch mit konkreten Rechtsfragen der Beziehungen von Kirche und Völkergemeinschaft, die sich unter anderem mit Fragen der Friedenssicherung, der Kriegsmoral, des Kriegsrechts, der Versöhnung und der Auswanderung beschäftigen !03; auf diese Weise weiten sich die Sozialgestaltungsempfehlungen Papst Pius XII. von einer Rechts- und Staatslehre zu einer solchen von der internationalen Ordnung 104 • V. Würdigung

Betrachtet man abschließend den rechts- und staatsphilosophischen Gehalt der Lehräußerungen Papst Pius XII., wie er in der Vielzahl der vorliegenden Dokumente nur in einer Auswahl skizziert werden konnte, zeigt sich darin zwar nicht eine systematisch entwickelte Rechts- und Staatstheorie, wohl aber das Bemühen des Papstes, jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um einen Beitrag zu leisten, der nach der katholischen Sittenordnung dem Gemeinwohl und damit letztlich der Sicherung der Freiheit und Würde des Einzelmenschen zu dienen vermag. Anders als seine Vorgänger und Nachfolger hat Papst PiusXII. das Schwergewicht seiner Lehräußerungen nicht bloß auf Enzykliken gelegt, sondern neben derartigen Rundschreiben auch eine Vielzahl von anderen Gelegenheiten, wie z. B. die Weihnachtsansprache vom 24. Dezember 1944 "Grundlehren über die wahre Demokratie" zeigt, genützt, um aus einem aktuellen Anlaß Grundlegendes zu Fragen der Individual- und Sozialmoral zu verkünden. Wenngleich Papst PiusXII. als Oberhaupt der katholischen Kirche primär seelsorgliche Anliegen vorrangig zu vertreten hatte, sind seine Ausführungen Utz / Graner, a.a.O., Nr.3967. Dazu Utz / Graner, a.a.O., S. 1813ff. und S. 3774ff. 104 Dazu siehe ausführlich den Beitrag von Alfred Verdross, Erneuerung und Entfaltung der klassischen Völkerrechtslehre durch Pius XII., in: Pius XII. zum Gedächntnis, S. 613ff. 102

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für die Rechts- und Staatslehre insofern auch von Bedeutung, als er ein namhafter Vertreter des Neuthomismus ist, der auch bestrebt war, praktisch zu denken. Papst Pius XII. hat nämlich weniger die Haltung nachträglicher Kritik an eingetretenen Zuständen, sondern die der vorausblickenden Wegweisung bezogen; diese konzeptive Grundhaltung Papst Pius' XII. ist auch ein Ausdruck seiner pastoralen Einstellung. Die rechts- und staatsphilosophisch relevanten Aussagen Papst Pius' XII. sind immer auch im Gesamtzusammenhang mit seinen übrigen Lehräußerungen zu sehen, vor allem jener, die auf die Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsethik bezogen sind; das Recht und der Staat sind für Papst Pius' XII. ja nicht Selbstzweck, sondern haben eine dienende Funktion; in der Weise ist auch Papst Pius XII. ein um die Bewältigung seiner Zeit bemühter Baumeister der lebensnahen katholischen Soziallehre, die auch nach seinem Pontifikat von Wirksamkeit ist; in diesem Zusammenhang sei unter anderem auf den Grundrechtsteil der Enzyklika Pacem in terris Papst Johannes' XXIII. vom 11. April 1963 105 und auf das Bemühen Papst Pauls VI. um die Aufdeckung des Beitrages, den das Gemeinwohlprinzip zur internationalen Ordnung der Völkergemeinschaft leisten kann, in der Enzyklika Populorum progressio vom 26. März 1967 verwiesen 106 • Bei Papst Paul VI. wird Entwicklung ein anderes Wort für Friede 107 , womit, gleich Papst Pius XII., einmal mehr der Beweis für die Dynamik katholischer Sozial/ehre erbracht wird. All diese, das heutige katholische Sozialdenken prägenden Themen finden sich voll im Ansatz in der Sozialen Summe Pius' XII., deren sie betreffende Aussagen deshalb bis heute aktuell geblieben sind, weil sie lebensnahe formuliert wurden 108 • Vieles, was später das 11. Vatikanische Konzil in der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" ausdrückte, findet sich im Grundsätzlichen bereits in der Lehre Papst Pius' XII., deren rechts- und staatsphilosophischer Gehalt ein Beweis mehr für die Anerkennung der richtigen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten ist, so wie sie die Pastoralkonstitution für die Kirche in der Welt von heute verlangt 109 und sie schon Papst PiusXII. wegbereitend vorausgedacht hat. 105 Beachte besonders Papst Johannes XXIII., Pacem in terris, Nr.11 - 27, vor allem in der von Arthur-Fridolin Utz kommentierten Ausgabe Die Friedensenzyklika Johannes XXIII., 2. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 1965, bezüglich PiusXII., S. 55ff. 106 Siehe Herbert Schambeck, Populorum progressio und das Zweite Vaticanum, in: Soziale Verantwortung, Festschrift für Goetz Briefs, Berlin 1968, S. 587ff. 107 Über 10 Jahre Päpstlicher Weltfriedenstag beachte Herbert Schambeck, Willst du den Frieden, dann schütze das Leben, L'Osservatore Romano, Deutsche Ausgabe vom 27. Mai 1977, S.8f. 108 Beachte dazu Wol/gang Waldstein, Das Recht auf Leben bei Pius XII., in: Pius XII. zum Gedächtnis, S. 525ff. und zum Problemkreis der sogenannten Euthanasie bei Papst PiusXII. Utz I Groner, a.a.O., Nr. 5442 und 5548. 109 Pastoralkonstitution Die Kirche in der Welt von heute, Nr. 36.

Kirche und Staat in Österreich Wie in kaum einem anderen Land und kaum einem anderen Rechtsgebiet wird in der Beziehung von Kirche und Staat in Österreich die Entwicklung des öffentlichen und religiösen Lebens von zwei Jahrhunderten in einer geltenden Rechtsordnung deutlich, die heute im ganzen gesehen überwiegend als ausgewogen in ihrer Ordnung zwischen Kirche und Staat angesehen werden kann. Was in dieser Weise am Vorabend des Besuchs von Papst Johannes PaullI. in Österreich im Hinblick auf die Rechtsbeziehung von Kirche und Staat bemerkt werden kann, war beim bisher ersten und letzten Papstbesuch in Österreich, nämlich 1782 nicht der Fall, als Papst Pius VI. nach Wien kam, um zu versuchen, Kaiser Joseph II. von Maßnahmen der Beschränkung kirchlicher Aktivität abzubringen, was aber vergeblich war. In Österreich gilt für jedermann die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit, die im Art. 14 Staatsgrundgesetz über die Allgemeinen Rechte der Staatsbürger (StGG) 1867 verankert ist. Art. 63 Abs. 2 des Staatsvertrages von St. Germain 1919 gewährleistet allen Einwohnern Österreichs das Recht, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis frei zu üben, sofern deren Übung mit der öffentlichen Ordnung oder mit den guten Sitten vereinbar ist. Die in Österreich im Verfassungsrang stehende Europäische Menschenrechtskonvention (MRK) hat im Art.9 Abs. 1 jedermann einen Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit eingeräumt, und der Art. 2 des 1. Zusatzabkommens zur MRK den Staat verpflichtet, bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben auf dem Gebiet des Erziehungs- und Unterrichtswesens das Recht der Eltern zu achten, um "die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen". Was die Zugehörigkeit zu einem Religionsbekenntnis betrifft, so steht nach einem Gesetz von 1868 jedermann die Wahl des Religionsbekenntnisses nach freier eigener Überzeugung zu. Der Eintritt erfolgt beim jeweiligen Seelsorger, zur Rechtsgültigkeit des Austritts ist die Erklärung gegenüber der Bezirksverwaltungsbehörde erforderlich, die den Austritt der Kirche anzeigt. Gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften haben nach Art. 15 StGG, neben dem Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsausübung, das Recht der Selbstverwaltung ihrer inneren Angelegenheiten; sie sind im Besitz und Genuß ihrer für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds.

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Die Anerkennung ist in einem Gesetz vom 20. Mai 1874 geregelt und erfolgt jetzt durch Verordnung des Bundesministeriums für Unterricht. Voraussetzung für den Rechtsanspruch auf diese Anerkennung ist, daß Religionslehre, Gottesdienst, Verfassung und gewählte Benennung nichts Gesetzwidriges oder sittlich Anstößiges enthalten, sowie der Bestand wenigstens einer Kultusgemeinde. Für die katholische Kirche wird angenommen, daß Sie "historisch anerkannt" sei; ihre Stellung ist durch das Konkordat 1933 und andere hernach abgeschlossene völkerrechtliche Vereinbarungen geregelt, die innerstaatlich auf der Stufe von Bundesgesetzen stehend, zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich abgeschlossen wurden. Was die Beziehungen von Religion und Schule betrifft, so besteht in Österreich nach Art. 17 StGG der Grundsatz der staatlichen Unterrichtshoheit. Die öffentlichen Schulen sind ohne Unterschied des Bekenntnisses allgemein zugänglich. Jeder Kirche steht es frei, aus ihren Mitteln Schulen für den Unterricht der Jugend ihres Glaubensbekenntnisses zu errichten und zu erhalten. Näheres regelt das Privatschulgesetz 1962, nach dem u. a. für die Privatschulen der gesetzlich anerkannten Kirchen der Rechtsanspruch auf staatliche Subventionierung des Personalaufwandes besteht. Der katholischen Kirche ist diese Privatschulregelung auch konkordatär garantiert. Für den Religionsunterricht in der Schule ist von der Kirche selbst Sorge zu tragen. Er ist Pflichtgegenstand an öffentlichen und mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schulen für alle einer gesetzlich anerkannten Kirche angehörigen Schüler. Alle Religionslehrer, also auch die nicht vom Staat, sondern von der Kirche bestellten Religionslehrer, werden vom Staat bezahlt. Wo die Mehrzahl der Schüler einem christlichen Bekenntnis angehören, ist in den Klassenzimmern ein Kreuz anzubringen. Den kollegial organisierten Schulaufsichtsbehörden des Bundes, nämlich den Bezirks- und Landesschulräten, gehören Vertreter der gesetzlich anerkannten Kirchen mit beratender Stimme an. In bezug auf die katholisch-theologischen Fakultäten wurde deren innere Einrichtung sowie der Lehrbetrieb der vom Staat erhaltenen katholisch-theologischen Fakultäten bisher grundsätzlich nach Maßgabe der Apostolischen Konstitution "Deus Scientiarum Dominus" 1931 und nach den jeweiligen kirchlichen Vorschriften geregelt. Die Ernennung oder Entlassung der Professoren oder Dozenten an den katholisch-theologischen Fakultäten wird nur nach erfolgter Zustimmung der zuständigen kirchlichen Behörde erfolgen. Die von den päpstlichen Hochschulen verliehenen akademischen theologischen Grade sind in Österreich hinsichtlich aller ihrer kirchlichen und staatlichen Wirkungen anerkannt. Nicht unerwähnt soll auch bei dem Hinweis auf äußere Angelegenheiten der gesetzlich anerkannten Kirche sein, daß das geistliche Amtsgeheimnis vor Gerichten und Verwaltungsbehörden gesetzlichen Schutz genießt, und Prie-

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ster zum Amt eines Geschworenen oder Schöffen nicht zu berufen sind. Was das Bundesheer betrifft, sind Priester von der Stellungspflicht nach dem Wehrgesetz befreit, ist die religiöse Betätigung im Bundesheer ungeschmälert erlaubt und auch eine eigene katholische Militärseelsorge eingerichtet. Wie bereits betont, ist die Stellung der katholischen Kirche im besonderen durch das Konkordat 1933 geregelt. Das österreichische Konkordat, dessen 50jähriges Jubiläum in dieses Jahr fällt, war in der Zwischenkriegszeit besonders aufgrund der eingetretenen Entwicklung auf dem Gebiet des staatlichen Eherechtes notwendig geworden. Die Initiative zu Konkordatsverhandlungen war 1929 von Bundeskanzler Dr. Johannes Schober, der den Großdeutschen nahestand, ausgegangen und am 5. Juni 1933 von Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli für den Heiligen Stuhl und von Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß und Bundesminister Dr. Kurt von Schuschnigg, die beide aus der christlichsozialen Partei hervorgegangen waren, im Vatikan unterzeichnet worden. Kirchlicherseits erfolgte die Ratifikation durch Papst Pius XI. am 24. April 1934 und österreichischerseits durch Bundespräsident Wilhelm Miklas in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1934. Das Konkordat 1933 garantiert u. a. der katholischen Kirche die freie Ausübung ihrer geistlichen Aufgaben, die freie und öffentliche Ausübung des Kultus, die freie innerkirchliche Rechtssetzung, den freien Verkehr zwischen dem Heiligen Stuhl und Bischöfen, Klerus und Kirchenvolk und den staatlichen Schutz für die Erfüllung der geistlichen Amtspflichten. Die katholische Kirche besitzt öffentlich-rechtliche Stellung; ihre einzelnen Einrichtungen, die nach kanonischem Recht Rechtspersönlichkeit haben, besitzen diese auch für den staatlichen Bereich, soweit sie bei Inkrafttreten des Konkordats bereits bestanden haben oder wenn sie unter konkordatärer Mitwirkung des Staates noch entstehen. Die Veränderung der Kirchenprovinzen und Diözesen erfolgen einvernehmlich. Die Auswahl der Erzbischöfe und Bischöfe steht dem Heiligen Stuhl aufgrund einer von den Diözesanbischöfen vorgelegten, nicht bindenden Namensliste zu. Die Bundesregierung kann in einem streng vertraulichen Verfahren gegen den vorgesehenen Kandidaten Einwände "allgemeiner politischer Natur" innerhalb von 15 Tagen geltend machen; sollte hernach aber ein Einvernehmen nicht hergestellt werden können, ist der Heilige Stuhl in der Besetzung des Bischofsstuhles frei. Zusätzlich zum Konkordat 1933 ist es zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zum Abschluß einer Reihe von Verträgen gekommen, welche eine Harmonisierung im Verhältnis von katholischer Kirche und Staat in Österreich herbeigeführt haben. So erhielt die katholische Kirche u. a. als Entschädigung für die in der NS-Zeit entzogenen Vermögen und Rechte jährlich einen Betrag von 100 Millionen Schilling in einem Vertrag zur Regelung vermögensrechtlicher Beziehungen 1960, und kam es in weiteren Verträgen zur Errichtung der Diözesen Eisenstadt 1960, Innsbruck 1964 und Feldkirch 1968.

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1962 wurde ein Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zu Schulfragen abgeschlossen, dem 1971 ein Zusatzvertrag folgte, in welchem die Übernahme des 100%igen Personal aufwandes der katholischen Schulen mit Öffentlichkeitsrecht statt bisher 60% erfolgte, so daß jeweils alle Lehrerdienstposten zur Verfügung gestellt werden, die zur Erfüllung des Lehrplans erforderlich sind. Die Anerkennung der Rechtsgültigkeit des Konkordates nach 1945 und ihre innerstaatliche Durchführung im Hinblick auf das weiterentwickelte österreichische Recht erfolgte unter Papst Pius XII. sowie unter den Apostolischen Nuntien Erzbischof Giovanni Dellepiane und seit 1961 Erzbischof Opilio Rossi, der heute als Kurienkardinal Präsident des päpstlichen Laienrates ist. In den fünfzehn unvergeßlichen Jahren seines Wirkens als Vertreter des Heiligen Stuhles in Österreich hat Opilio Rossi der Entwicklung der Beziehungen von Heiligem Stuhl und Österreich besondere Impulse gegeben, was sich bis 1976 in einer Reihe wegweisender und sich bewährender Zusatzverträge äußerte. Eine Materie ist in der österreichischen Rechtsordnung aber noch nicht konkordatsgemäß geregelt, nämlich das Eherecht, in dem noch nach Jahrzehnten das aus der NS-Zeit stammende Ehegesetz mit seiner obligatorischen Ziviltrauung gilt. Wenngleich die Beziehungen zwischen katholischer Kirche und Staat in Österreich als ein grundlegend geordnetes Verhältnis in staats- und völkerrechtlicher Sicht bezeichnet werden kann, soll nicht übersehen werden, daß die Lehre der katholischen Kirche mit ihren ethischen Ansprüchen in der Pluralität der Gesellschaft, die heute auch den Staat prägt, eine Aufforderung nach sittlicher Ordnung des privaten und öffentlichen Lebens ist, die in der Parteilandschaft nicht von allen ohne Widerspruch zur Gänze angenommen wird. So ist etwa die von der Sozialistischen Partei Österreichs im Rahmen der Strafrechtsreform 1974 initiierte und im österreichischen Parlament mehrheitlich beschlossene sogenannte "Fristenlösung", welche das ungeborene Leben in den ersten drei Monaten nach der Zeugung rechtlich ungeschützt läßt, mit der katholischen Lehre nicht vereinbar. Unabhängig von den sich wechselnden parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen besteht der Gewissensanspruch vor dem Seinsverständnis der Lebensgestaltung, der Weltverantwortung und der Sozialordnung durch die römisch katholische Kirche, die damit auch in unserer Zeit zur Wahrung der in der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen begründeten Freiheit und Würde der Einzelnen aufruft, um die sich Papst Johannes Paul 11. in all seinen Lehräußerungen, besonders deutlich in seinen Enzykliken "Redemptor Hominis" und "Laborem exercens" annimmt. Geregelte Verhältnisse zwischen Kirche und Staat bieten zur Wirksamkeit der Lehre der römisch-katholischen Kirche die Voraussetzung, sie entsprechen, wie Opilio Rossi am 9. Jänner 1976, damals noch als Apostolischer Nuntius anläßlich seiner letzten Unterzeichnung eines Vertrages zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich erklärte,

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dem Völkerrecht, "dienen aber gleichzeitig auch dem Gemeinwohl, das für Staat und Kirche ein Maßstab für den Dienst am Menschen ist" . Literatur Gampl, Inge: Österreichs Staatskirchenrecht, Wien 1971 Klecatsky, Hans: Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Republik Österreich, in: Grundriß des nachkonziliaren Kirchenrechts, hrsg. von Joseph List! u. a., Regensburg 1980, S. 882ff. Kostelecky, Alfred: Anerkennung und Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates vom 5. Juni 1933 durch die Zusatzverträge mit dem Heiligen Stuhl in den Jahren 1960 bis 1976, in: Kirche und Staat, Fritz Eckert zum 65. Geburtstag, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1976, S. 215ff. Primetshofer, Bruno: Offene Fragen des österreichischen Staatskirchenrechts, in: Kirche und Staat, S. 169ff.

13 Schambeck

Die Verantwortung des Gesetzgebers und der Schutz des ungeborenen Lebens Der Staat der Gegenwart ist in einem wachsenden Maße, das immer deutlicher wird, von einer Verrechtlichung seiner Beziehungen gekennzeichnet; das gilt sowohl für die Organisation und Tätigkeit des Staates wie für die Beziehungen der Einzelmenschen untereinander und zum Staat selbst. Als demokratischer Rechtsstaat 1 ist das Handeln des Staates und seiner Organe an Gesetze gebunden, welche auch Maßstab für das Wollen des Einzelnen sind. Die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Geschehens im Staat zu verschaffen, ist heute ein allgemeines Anliegen, in welchem sich das Bemühen um Rechtssicherheit ausdrückt. Der Gesetzgeber wird für die Vermittlung dieser Rechtssicherheit verantwortlich angesehen; er ist daher der Transformator, durch den die Wünsche des Einzelnen, die Interessen der Gesellschaft und die Zwecke des Staates, die mehr oder weniger deutlich im Verfassungsrecht erkennbar vorgeschrieben sind, aus dem Bereich des politischen Wollens in den des rechtlichen Sollens gewandelt werden. Durch den Rechtssetzungsakt des Gesetzgebers tritt an die Stelle der verschiedenen Möglichkeiten des Handeins die gesollte Pflicht, deren Nichteinhaltung mit einer Unrechtsfolge verbunden ist. Der auf dem Wege parlamentarischer Staatswillensbildung zustandegekommene sanktions beschwerte Gesetzesbeschluß ist das Motivationsmittel des Staates, dem in der heutigen Demokratie, der in verschiedener Sicht ein pluralistischer Charakter eignet, eine besondere Bedeutung zukommt. Der Weg der Gesetzgebung mit all seinen Auseinandersetzungen repräsentiert die geistige Situation einer Gesellschaft im Staat, und der Gesetzesbeschluß dokumentiert die Integration des Staatswillens, wie er für die Rechtsvollziehung vorgeschrieben ist. Die politische Willensbildung und der Gesetzesbeschluß des Parlaments verdeutlichen in einem besonderen Maße die Rangordnung der Werte in einem Staat und seiner Gesellschaft; sie zeigen den ethischen Gehalt einer Rechtsordnung sowie das sittliche Wollen eines Volkes und die Verantwortung des Gesetzgebers. Verantwortung tragen heißt Antwort geben, das verlangt aber wiederum ein Verstehen des Wortes und setzt somit Zeitverständnis voraus. 2 1

Siehe Hans R. Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, Wien 1967.

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Zu dem Verstehen der Verantwortung des Gesetzgebers zählt seine auf demokratischer Legitimation beruhende Stellung. Jeder Akt des Parlaments ist ein Ausdruck der Staatswillensbildung aufgrund der Verfassung und in Konfrontation mit der öffentlichen Meinungsbildung, der sich auf die Erreichung und Erhaltung von Mehrheiten bezieht. In jedem Staat wird nach dem ethischen Gehalt seines Volkes und dessen Einfluß auf das politische Wollen seiner Gesellschaft die Rangordnung der Werte mehr oder weniger deutlich im Verfassungsrecht 3 erkennbar und so Rahmen, Maßstab, Ziel und Weg für die Staatswillensbildung sein. Es ist in unserer Zeit bedauerlich, daß der Gesetzgeber in den Jahrzehnten österreichischer Rechtsentwicklung4 sich in einer Vielzahl von Gesetzesreihen um kulturellen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit bemüht hat, den Schutz des Lebens, beginnend aber mit dem ungeborenen Leben, nicht entsprechend ausgedrückt hat.

Das Recht auf Leben,5 und lassen Sie es mich betonen, beginnend mit dem Recht des ungeborenen Lebens, müßte denk- und rechtslogisch jeder Rechtsordnung im allgemeinen, der Grundrechtsordnung im besonderen vorausgesetzt werden, was aber in Österreich nicht der Fall ist. 6 Was die diesbezügliche österreichische Rechtssituation betrifft, hat schon Ludwig Adamovich in seinem "Handbuch des österreichischen Verfassungsrechtes" festgestellt: "Das Staatsgrundgesetz enthält keine Bestimmung, in der das Recht auf Leben gegenüber dem Staat ausdrücklich gewährleistet wird; der Art. 8 StGG, der die Freiheit der Person gewährleistet, setzt aber das Recht auf Leben als das weitergehende

Beachte Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, 5. Aufl., Berlin 1960. Dazu Herbert Schambeck, Der Verfassungsbegriff und seine Entwicklung, in: Festschrift Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, Wien 1971, S. 211ff. 4 Vgl. Ernst C. Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 7. Aufl., Wien 1974; Herbert Schambeck, The Development of Austrian Administrative Law, Revue Internationale des sciences administratives, Vol. XXVIII, Brüssel 1962., S.215ff.; und ders., Auf dem Weg zum sozialen Rechtsstaat, Wiener Zeitung, 7.4. 1970, Festnummer 25 Jahre 2. Republik, S. 4f. 5 Siehe meinen anläßlich des 84. Deutschen Katholikentages am 14. September 1974 auf der Veranstaltung der katholischen Akademikerarbeit Deutschlands in Mönchengladbach gehaltenen Vortrag, in erweiterter Fassung veröffentlicht: Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, Berlin 1976, S. 445ff., bes. S.480ff.; schon vorher aber ders., Das Leben ist ein Grundrecht, in: Die Furche, 7. April 1973; ders., Whose rights are to be protected?, Parliamentary conference of human rights, Straßburg 1972., S.57ff.; und ders., The ethical and moral basis of human rights, in: Protection of human rights in the light of scientific and technological progress in biology and medicine, WHO, Genf 1974, S. 21ff. 6 §97 (1) Ziffer 1 des StGB 1974. 2

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13*

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Recht offenbar stillschweigend voraus. Gemäß Art. 2 Abs. 1 MRK wird das Recht jedes Menschen auf Leben ausdrücklich geschützt. "7

Dieses Recht auf Leben nach Art. 2 MRK wurde aber vom österreich ischen Verfassungsgerichtshofim Zusammenhang mit der sogenannten Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch so ausgelegt, daß die Gewährung eines Schutzes gegenüber Eingriffen von nichtstaatlicher Seite damit insofern nicht umfaßt sei, als dieses Grundrecht nach Meinung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes nur vor dem Staat und nicht vor Eingriffen Privater schützt.8 Die Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes drückt bezüglich der Grundrechte eine - ich möchte sagen - veraltete liberale RechtsauffassunFf aus; sie wird leider auch vom österreichischen Gesetzgeber bezogen, nachdem in Verlängerung der Sicht der Dezemberverfassung 1867 die Grundrechte nur als Abwehrrechte gegen den Staat angesehen werden und ein Anspruch für die Ordnung zwischen den Privaten sowie als Sozialgestal7 Ludwig Adamovich, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 6. Aufl., Wien 1971, S. 521f. 8 VfGH Erk. vom 11. 10. 1974, Sig. Nr. 7400. 9 Zu diesem VfGH Erk. Slg.7400 siehe Erwin Melichar, Das Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes über die sogenannte "Fristenlösung", in: Convivium utriusque iuris, Festschrift für Alexander Dordett Wien 1976, S. 91; und kritisch Richard Novak, Das Fristenlösungs-Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, in: EuGRZ 1975, S. 200: "So ist das Erkenntnis des VfGH Ausdruck eines, wenn nicht wertindifferenten, so doch wertfemen und in diesem Sinn formalen Grundrechtsverständnisses. Zweifellos ist die~es Verständnis bedingt durch die historisch gegebene Situation der Grundrechte in Osterreich. Es ist bedingt auch durch das traditionelle Selbstverständnis eines Verfassungsgerichtes, das die Grenzen zwischen richterlichem Erkenntnisakt und rechtssetzendem Willensakt streng, vielleicht allzu streng zu wahren sucht." Beachte auch weiters Wolfgang Waldstein, Rechtserkenntnis und Rechtssprechung, Bemerkungen zum Erkenntnis des VfGH über die Fristenlösung, JBl 1976, S.505ff. und 574ff., bes. 577ff.; sowie ders., Zur Rechtsstellung ungeborener Kinder, in: Kirche und Staat, Fritz Eckert zum 65. Geburtstag, herausgegeben von Herbert Schambeck, Berlin 1976, S. 477ff.; Hans Spanner, Lebendiges Verfassungsrecht, JBI 1977, S. 23f.: "Es ist eine ,wahrhaft versteinerte Grundrechtstheorie' (Grimm, JB11976, S. 79), von der das Erkenntnis ausgeht. Ob das Gericht von einer heute auch in Österreich vertretenen Auffassung der Grundrechte als Ausdruck einer grundsatzlichen, die Verfassung beherrschenden Wertordnung und einer differenzierten Auslegung der einzelnen Grundrechte aus möglicherweise zum gleichen oder einem entsprechenden Ergebnis hätte kommen können oder vielleicht gekommen wäre, entzieht sich natürlich völlig jeder Erörterung. Der VfGH hat in diesem Erkenntnis die Gelegenheit nicht wahrgenommen, umfassend und grundsätzlich zur heutigen Bedeutung der Grundrechte Stellung zu nehmen und damit einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung des Verfassungsrechts zu geben und zugleich damit aber auch die Grundlage für eine überzeugende Entscheidung zu schaffen." Siehe auch Wolfgang Groiss / Gemot Schantl / Manfried Welan, Der verfassungsrechtliche Schutz des menschlichen Lebens, ÖJZ 1978, S.14: "Wir können nicht finden, daß diese Leistung geeignet ist, den Anforderungen an die Qualität eines höchstgerichtlichen Urteils gerecht zu werden."

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tungsauftrag an den einfachen Gesetzgeber als nicht gegeben angenommen wird. Anders ist die Grundrechtsauffassung der Bundesrepublik Deutschland und ihres Bundesverfassungsgerichtes, nach welcher Rechtslage und Rechtsprechung die Drittwirkung der Grundwerte anerkannt ist. 10 In einem weiteren Unterschied zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs der Bundesrepublik Deutschland hat der österreichische Verfassungsgerichtshof bei ungleichem Rechtsschutz des ungeborenen Lebens durch die Fristenlösung auch keine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes festgestellt, obgleich, wie Heribert Bergerll in seiner später berühmt gewordenen Inaugurationsrede einmalig gezeigt hat, die kontinuierliche Entwicklung des menschlichen Lebens im Mutterleib mit der Zeugung beginnend, medizinisch nachgewiesen, gegeben ist, was ich im österreichischen Parlament auch seinerzeit in meiner Rede gegen die Fristenlösung betont habe. 12 Heribert Berger ist nämlich beizupflichten, wenn er in dieser seiner Rektoratsrede die Frage nach dem Beginn des Lebens deutlich beantwortet: "Frage 1: Ist das, was bei der Befruchtung menschlicher Keimzellen entsteht, wirklich Leben? Ja, es ist wirkliches, organisches Leben, zunächst in Form einer einzigen Zelle, bestehend aus den drei Hauptstücken einer lebenden Zelle, dem Zellkern, dem Zelleib und der Zellwand, und ausgestattet mit allen für das Leben dieser Zelle notwendigen Substrukturen, einschließlich der Fähigkeit, sich durch Teilung zu vermehren ... Frage 2: Ist dieses so entstandene Leben individuelles Leben? Ja, es ist neues, einzigartiges, individuelles Leben. In der kurzen Zeitspanne, in der im Eileiter der geschlechtsfähigen, empfangen habenden Frau die Verschmelzung der weiblichen Eizelle mit einer männlichen Samenzelle erfolgt, entsteht neues, individuelles Leben dadurch, daß die mütterliche Eizelle und die väterliche Samenzelle je ihre genetische Aussteuer dem Kinde weitergeben. .. Frage 3: Ist dieses individuelle Leben der ersten neuen Zelle und der folgenden auch wirklich menschliches Leben? Ja, im biologischen Sinne unbestreitbar, da aus menschlichen Keimzellen nur wieder eine neue menschliche Zelle entstehen kann. "13

Der Gesetzgeber früherer Zeiten hat in dieser Frage des Lebensschutzes eine andere Haltung eingenommen, wenn wir etwa im § 22 ABGB 1811 lesen : "Selbst ungeborene Kinder haben vom Zeitpunkt ihrer Empfängnis an einen Anspruch auf den Schutz der Gesetze. "

Der heutige österreichische Gesetzgeber und die diesbezügliche Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nimmt aber in dieser Grundrechtsfrage eine andere, nämlich libertinistische Haltung ein. Er sieht das Leben als Schutzgut nur vom Staat her zu schützen an. Anders als in der Bundesrepublik Siehe Urteil des BVfG vom 25.2. 1975, BVfGE 39,1. Heribert Berger, Die Heimatlosigkeit des Menschen, Innsbruck 1974, siehe bes. S.20f. 12 Steno Prot. der 326. Sitzung des Österreichischen Bundesrates vom 6.12. 1973, 10

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S. 9812 - 9821. 13

Berger, a.a.O.

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Deutschland wird in Österreich nicht eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates angenommen, Vorkehrungen zum Schutz des Lebens zu treffen, wenn dieses nicht vom Staat selbst, sondern von dritter Seite bedroht ist. Eine solche negative Haltung zum Schutz des ungeborenen Lebens empfinde ich mit dem heutigen Staats- und Gesellschaftsverständnis nicht vereinbar. Der Staat, welcher seit Jahrzehnten seine Hellebarde ins Eck gestellt und seine Nachtwächterrolle abgelegt hat, um - wie bereits betont - u. a. für kulturellen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit zuständig zu sein, müßte im umfassenden Sinn das Leben von Anbeginn und nach allen Seiten hin schützen. Die Verantwortung des Gesetzgebers wäre in Österreich in der Weise und Richtung weiter zu entwickeln, daß der Gesetzgeber auch durch ein Unterlassen Grundrechte verletzen kann, weshalb er zur Erlassung grundrechtsschützender Gesetze zu verpflichten wäre. Es ist als widersprüchlich, geradezu als schizophren zu bezeichnen, einerseits z. B. in der Sozial- und Wirtschaftsordnung als allgemein zuständiger Staat mit Mehrzweckverwendung reglementierend aufzutreten, in bezug auf den Schutz des elementarsten aller Rechte, des Rechtes auf Leben, eine Zurückhaltung an den Tag zu legen, die hinter die Zeit des ABGB des Vormärzes zurückfällt. In einer Zeit, in der vom Staat alles verlangt wird, sieht man ihn als für den Schutz des Lebens von dessen Anbeginn nicht für zuständig an. In bestimmter Weise erweist sich die sogenannte Fristenlösung und die für diese Zeit erlaubte Abtreibung als eine Form des Egoismus der Geborenen gegenüber bloß gezeugten Ungeborenen. Bemerkenswert ist auch die in der Erklärung der päpstlichen Kongregation für die Glaubenslehre über den Schwangerschaftsabbruch getroffene Feststellung, zu deren Richtigkeit ich mich sowohl als Wissenschaftler als auch als Parlamentarier vollinhaltlich bekenne: "In der Tat kann man nur staunen, wie gleichzeitig der uneingeschränkte Protest gegen die Todesstrafe, gegen jede Fonn von Krieg und die Forderung nach Freigabe des Schwangerschaftsabbruches, sei es in vollem Umfang oder auf Grund immer weiter gefaßter Indikationen, zunehmen. "14

Auch die päpstlichen Lehräußerungen der letzten Jahrzehnte haben das Recht auf Leben besonders wieder hervorgehoben. Papst Pius XII .15 schon hat das Recht auf Leben als "eines der Grundgesetze" genannt, "ohne die ein 14 Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre über den Schwangerschaftsabbruch vom 17. November 1974. 15 Siehe ausführlich Walfgang Waldstein, Das Recht auf Leben bei PiusXII., in: PiusXII. zum Gedächtnis, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1977, S. 520ff.

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sicheres menschliches Zusammenleben unmöglich ist" ,16 wozu er 1956 näher ausführte: "Ohne in lange theoretische Betrachtungen abzuschweifen, möchten wir Ihnen das wiederholen und bestätigen, was wir schon häufig erklärt haben und was unsere Vorgänger einzuprägen niemals unterlassen haben: das Recht auf das Leben, das Recht auf die Integrität des Körpers und des Lebens, das Recht auf die hiezu erforderliche Sorge, das Recht auf Schutz gegen Gefahren, die diese bedrohen, empfängt der einzelne Mensch unmittelbar von seinem Schöpfer, nicht von einem anderen Menschen noch vom Staat noch von einer Gruppe von Staaten, noch von irgendeiner politischen Macht." 17

Dieses Recht auf das Leben anerkennt Papst Pius XII. vom Augenblick der Empfängnis an, denn er betont, daß das "schuldlose menschliche Leben, ganz gleich in welchem Zustand es sich befindet ... vom ersten Augenblick seiner Existenz an jedem direkten Angriff entzogen" ist.1 8

Auch Papst Johannes XXIII. rief zur Achtung der Lebensgesetze auf, zu welcher er in seiner Enzyklika Mater et Magistra 1961 erklärt: ,,193. In dieser Sache erklären wir feierlich: Die Weitergabe des menschlichen Lebens ist das Vorrecht der Familie; diese ist auf die eine unauflösliche Ehe gegründet, die für den Christen den Rang eines Sakramentes hat. Diese Weitergabe des menschlichen Lebens ist ein personaler Akt; damit ist sie gebunden an Gottes heilige unerschütterliche und unantastbare Gesetze. Niemand darf sie mißachten oder übertreten. Darum sind hier Mittel und Wege schlechterdings unerlaubt, die bei der pflanzlichen und tierischen Fortpflanzung bedenkenfrei sind. 194. Das Menschenleben hat jedermann als heilig zu gelten. Sein Ursprung nimmt die Mitwirkung der Schöpfermacht Gottes in Anspruch. Wer daher von diesen göttlichen Gesetzen abweicht, beleidigt nicht nur die Majestät Gottes, sondern entwürdigt sich selbst und das Menschengeschlecht; er schwächt auch die innersten Kräfte des Volkes" 19

Er verlangt die Erziehung zur Verantwortung: ,,195. Darum kommt viel darauf an, daß der jungen Generation nicht nur eine sorgfältige menschliche und religiöse Erziehung zuteil wird - dies ist Recht und die Pflicht der Eltern -, sondern daß sie in allen ihren Lebensäußerungen höchstes Verantwor16 Papst Pius XII., Ansprache an die Mitglieder des Verbandes katholischer Hebammen Italiens über Fragen der Ehemoral vom 29. Oktober 1951, in: Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII., hrsg. von Arthur-Fridalin Utz O. P. und Jaseph-Fulka Graner O. P., 2. Aufl., Freiburg/Br. 1954 - 1961, Nr.1054. 17 Papst Pius XII., Der Arzt und das Recht, Radioansprache an die Teilnehmer des VII. Internationalen Kongresses katholischer Ärzte: 11. September 1956, in: Utz / Graner, a.a.O., Nr.5379. 18 Papst Pius XII., Ansprache an die Teilnehmer des Kongresses der "Front der Familie" und des Verbandes der kinderreichen Familien vom 26. November 1951, in: Utz / Graner, a.a.O., Nr. 1112. 19 Die Sozialenzyklika Papst Jahannes XXIII., Mater et Magistra, kommentiert hrsg. von Eberhard Welty O. P., 2. Aufl., Freiburg/Br. 1962, S. 18lf.

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tungsbewußtsein an den Tag legt, folglich auch bei der Gründung einer eigenen Familie und bei der Zeugung und Erziehung von Kindern";20 und betont den Dienst am Leben: ,,196. Den ersten Wesen, denen Gott selbst, wie wir im Buch Genesis lesen, die menschliche Natur verlieh, gab er zwei Gebote, die sich gegenseitig ergänzen. Als erstes befahl er nämlich: ,Wachset und mehret euch!' (Gen 1,28). Dann gebot er: ,Erfüllet die Erde und machet sie euch untertan!' "21

Das Zweite Vatikanische Konzil hat den Schutz des menschlichen Lebens von Anbeginn hervorgehoben: "Das Leben muß von der Empfängnis an mit äußerster Sorgfalt gehütet werden; die Abtreibung und der Kindesrnord sind verabscheuungswürdige Verbrechen."22 Es sollte weiters auch nicht übersehen werden, daß Papst Paul VI., der sich immer für den Schutz des ungeborenen Lebens ausgesprochen hat, zum 10. päpstlichen Weltfriedenstag als Thema die Forderung gewählt hat: "Wenn du den Frieden willst, verteidige das Leben" ,23 ein Motto, das Papst Johannes Paul H. auch in seiner letzten Reise, nämlich nach Asien, verdeutlichte: "Ja, jedes menschliche Leben ist heilig vom Augenblick der Empfängnis an und alle folgenden Entwicklungsphasen hindurch, denn es ist nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen. Menschliches Leben ist kostbar, weil es ein Geschenk Gottes ist, dessen Liebe keine Grenzen kennt; und wenn Gott Leben schenkt, dann schenkt er es für immer. Wer immer versucht, menschliches Leben im Mutterschoß zu töten, der verletzt nicht nur die Unantastbarkeit eines lebenden, wachsenden und sich entwickelnden Menschen und widersetzt sich damit Gott; er richtet sich auch gegen die Gesellschaft, indem er die Achtung vor jedem menschlichen Leben untergräbt. Ich möchte hier wiederholen, was ich beim Besuch meiner Heimat gesagt habe: ,Wenn man das Recht des Menschen auf Leben im Mutterschoß verletzt, dann stellt man sich damit indirekt gegen die gesamte sittliche Ordnung, die doch der Sicherung der unantastbaren Güter des Menschen dienen soll. Unter diesen ist das Leben das erste Gut. Die Kirche verteidigt das Recht auf Leben nicht nur mit Rücksicht auf die Majestät des Schöpfers, der der erste Geber dieses Lebens ist, sondern auch aus Respekt vor dem fundamentalen Gut des Menschen' (Ansprache vom 8. Juni 1979)".24

In Osterreich hat der Gesetzgeber diese Mahnungen des Christentums in bezug auf den Schutz des ungeborenen Lebens als Anspruch der Sittenordnung 20 Welty, a.a.O., S.182. 21 Welty, a.a.O., S.183. 22 Pastoralkonstitution Die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes, Nr.51, in: Karl Rahner / Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 2. Auf!., Freiburg/ Br. 1967, S. 503. 23 Botschaft Papst Pauls VI. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Jänner 1977, siehe dazu Herbert Schambeck, in: Die Weltfriedensbotschaften Papst Pauls VI., eingeleitet und herausgegeben von Donato Squicciarini, Berlin 1979, S. 179ff. 24 Johannes Paul Il., Gottes Vorsehung ist wunderbar, Predigt des Papstes beim Gottesdienst mit den Familien in Cebu City, Philippinen, am 19. Februar 1981, in: L'Osservatore Romano in deutscher Sprache, 27. Februar 1981, S. 17.

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nicht beachtet. In der Erfahrung der Verantwortung des österreichischen Gesetzgebers war es vielmehr bemerkenswert, daß gerade jene politischen Kreise, die in der Sicht ihrer Ideologie am lautesten und konsequentesten für die Demokratisierung in Staat und Gesellschaft eintreten, das Volksbegehren zum Schutz des menschlichen Lebens in der Weiterführung ihrer Gesetzgebungsarbeit nicht beachtet, sondern effektiv negiert haben, obgleich es mit über 800000 Unterschriften die stärkste plebiszitäre Unterstützung hatte. Hans Kelsen, selbst keinesfalls ein Vertreter des Naturrechts, sondern ein Rechtspositivist, hat schon 1925 in seiner Schrift "Das Problem des Parlamentarismus" erklärt, daß es Aufgabe von Einrichtungen der direkten Demokratie ist, das freie Mandat der Abgeordneten zu ergänzen. 25 In seinem später sehr bekannt gewordenen Buch "Vom Wesen und Wert der Demokratie" hat Kelsen, der ein Atheist war, die Frage nach der Weltanschauung der Demokratie mit dem Relativismus beantwortet und auf das 18. Kapitel des Johannesevangeliums verwiesen. 26 Als Pilatus nämlich fragte, wen wollt ihr frei haben, da riefen sie Barabbas! Mit diesem Hinweis wollte ich in bezug auf die Verantwortung des Gesetzgebers verdeutlichen, daß sich diese in der Beziehung von Recht und Mora127 ereignet. Ein Gesetzesbeschluß ist Ausdruck einer parteipolitischen Stärke, der mit dem moralisch Richtigen übereinstimmen kann, aber nicht muß. Dabei möchte ich nicht falsch verstanden werden. Ich bin dagegen, daß mittels des Rechts moralisiert wird und der Staat als Voyeur, als Spitzel also, im Privatleben des Einzelnen auftritt. Ich bin aber auch dagegen, daß mittels des Rechts die Demoralisierung der Gesellschaft vorangetrieben wird! Ich bin auch der Auffassung, daß wir in einer Zeit sogenannten Wohlstandes jenes Maß an Moral, das wir in einer Zeit der Not anerkannt haben, beibehalten sollten! Lassen Sie mich diese Feststellungen noch genauer ausführen. Ich möchte nicht unkritisch behaupten, daß wer immer für die Fristenlösung ist, auch damit für die Abtreibung ist. Ich kenne Damen, die dafür gestimmt haben, aber an sich solche nie vornehmen lassen, während bisweilen in manchen Fällen andere dagegen gesprochen und aufgetreten sind und in ihrem Bereich sich selbst Ausnahmen zuerkannt haben mögen. Gerade in derartigen Grenzsituationen muß man erkennen, daß der Einzelfall zu beurteilen ist und nicht generalisiert werden kann. Wer aber für die Fristenlösung ist, muß erkennen, daß er einem höchsten Gut, wie es zweifellos das werdende Leben ist, den Rechtsschutz entzieht, um 25 Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, Wien und Leipzig 1925, Neudruck, in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl und Alfred Verdross, 2. Band, Wien 1968, S. 1667f.; siehe hiezu auch Herbert Schambeck, Das Volksbegehren, Tübingen 1971. 26 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S.104. 27 Dazu Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, Tübingen 1964.

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es willkürlich in den ersten drei Monaten seines Werdens zur Disposition zu stellen. Wer für die Fristenlösung und damit für die Straffreiheit der Abtreibung innerhalb einer bestimmten Zeit ist, nimmt auf diese Weise einem sehr wichtigen Teil der Ordnung des Staates die Richtlinienfunktion des Rechtes. Der Gesetzgeber enthält sich im Staat und gegenüber der Gesellschaft und dem Einzelnen der wichtigsten Wertentscheidung. Die Fristenlösung stellt auch keine sogenannte Befreiung der Frau gegenüber dem Mann dar, wie manche im Sinne einer falsch verstandenen, nämlich ideologisierten Form der Emanzipation meinen, sondern verstärkt vielmehr im Gegenteil dadurch die Abhängigkeit der Frau vom Mann, daß der Mann im Hinblick auf die Straffreiheit der Abtreibung die Frau leichter dazu veranlassen könnte, sich das Kind, das sie, aber nicht er haben will, nehmen zu lassen; im anderen Fall schützt das Recht im Dienste des ungeborenen Lebens die Frau vor dem Mann. Wer von der Verantwortung des Gesetzgebers und dem Schutz des ungeborenen Lebens spricht, muß sich aber auch der Grenzen des gesetzgeberischen Wollens und der Möglichkeiten des Rechtsstaates bewußt werden. Wir müssen nämlich heute mit Zunahme der rechtlichen Erfassung und Regelung unseres Lebens erkennen, daß die Beziehungen des Einzelnen zu außerrechtlichen Kategorien, die kein noch so guter Gesetzgebungsakt ersetzen kann, abnehmen und verkümmern. So erklärte auch vor einigen Jahren, also schon in einer Zeit, in welcher jeder Schicksalsschlag als einklagbarer Rechtsanspruch angesehen wird, der damalige Präsident des Deutschen Bundesverwaltungsgerichts Fritz Werner, "daß Erbarmen, Liebe, Barmherzigkeit, Demut und manches andere rechtlich nicht zu Fassende unser Leben gestalten, ist eine Vorstellung, die mehr und mehr entschwindet. "28

Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, daß mit der Verrechtlichung unserer Lebensbeziehungen der ethische Bezug abnimmt. Das verlangt in bezug auf unser Anliegen, den Schutz des ungeborenen Lebens, daß wir uns bemühen sollten, Verständnis, Liebe, Hilfe und Entgegenkommen Müttern in Grenzsituationen und deren Kindern gegenüber zu erweisen, auch dann, wenn sie unehelicher Geburt sind. Wie oft wurden Mädchen und Frauen aus Hartherzigkeit und Unverständnis in Konfliktsituationen getrieben, nur weil es an diesem menschlichen Verstehen fehlte. Das Recht zum Leben hat auch den Vorrang gegenüber diesen Denkkategorien. Auch in solchen Fällen von sogenannten ungewollten Kindern ist eine Hilfe außerhalb der Abtreibung mög28 Fritz Werner, Wandelt sich die Funktion des Rechts im sozialen Rechtsstaat?, in: Die modeme Demokratie und ihr Recht, Festschrift für Gerhard Leibholz, II. Band, Tübingen 1966, S. 162.

Verantwortung des Gesetzgebers und Schutz des ungeborenen Lebens

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lich. Mutter Teresa führt uns dies seit Jahrzehnten in Kalkutta, wo ich sie selbst am 2.12. 1979 besucht habe, vor, wenn sie im Rahmen ihrer Betreuung ungeliebter und ungewollter Kinder das Motto vertritt: nicht abtreiben, sondern adoptieren !29 Diese Ausnahmesituationen sind ebenso zu beachten, wie die gerade heute bei der Neuordnung unseres Ehe- und Familienrechtes dringende Notwendigkeit, Ehe und Familie als Grundlagen von Staat und Gesellschaft anzuerkennen, ihre Bedeutung zu beachten und schützen zu lassen.

Zur Rechtspolitik muß auch eine Rechtserziehung treten. Gerade in einer demokratischen Republik ist der Gesetzgeber auf die öffentliche Meinungsbildung angewiesen, er darf sich allerdings nicht zum Spielball derselben degradieren lassen, sondern sollte besonders in einer pluralistischen Gesellschaft bemüht sein, Grundsätze im Denken mit Toleranz im Handeln zu verbinden. Toleranz dürfte aber nicht Gleichgültigkeit sein, sondern sollte die Möglichkeit des Sichfindens in Übereinstimmung der gemeinsam anerkannten Grundwerte des öffentlichen und privaten Lebens beinhalten. Um das zu erreichen, wird von den verschiedenen Bereichen der Wissenschaft, insbesondere auch der Theologie, weiters von der Politik eine Erziehungsarbeit für das Wissen um die Entstehung und den Wert des Lebens zu leisten sein, damit der einzelne Mensch noch mehr aufgerufen ist, über dieses sein Wissen sich auch ein Gewissen zu machen. So mündet die Frage nach der Verantwortung des Gesetzgebers und dem Schutz des ungeborenen Lebens in die Forderung nach sittlicher Erneuerung der Menschen. Aus dieser Sicht bekenne auch ich mich zu den kürzlich von Heribert Berger getroffenen Feststellungen in seinen Gedanken über "Die inhumane Gesellschaft": Wir würden die "Situation in der Frage der Abtreibung und des ,Schutzes des Lebens' nicht richtig einschätzen, wenn wir uns, so wichtig es ist, nur eine Lösung von einem staatlichen Gesetz erwarten. Ich bin überzeugt, daß nur die sittliche Festigung der Menschen, ihre bessere Einsicht in die Zusammenhänge und eine gerechte und wenigstens faire Einstellung zum Kind eine richtige Entscheidung herbeiführen kann. "30

29 Mutter Teresa, Durch Liebe zum Frieden, in: Apostolat und Familie, Festschrift für Opilio Kardinal Rossi, herausgegeben von Herbert Schambeck, Berlin 1980, S.XVf. 30 Heribert Berger, Die inhumane Gesellschaft, in: Apostolat und Familie, S. 462.

"Centesimus annus" und die neue Ordnung in Europa Gedanken unter besonderer Bezugnahme auf das III. Kapitel der Enzyklika

Es ist kein bloßer Zufall, sondern eine besondere Fügung, daß in diesem Jahr 1991, welches in vielen Staaten verschiedener Erdteile einen weiteren Wandel bis zur tiefgreifenden Änderung politischer Systeme brachte, die vor Jahren noch unvorstellbar waren, das Gedenken der Verkündigung der Sozialenzyklika "Rerum novarum" durch Papst Leo XIII. vor hundert Jahren Papst Johannes Pauill. den Anlaß zu einer kritischen Betrachtung unserer Zeitsituation in einer neuen Sozialenzyklika bot. Ein Jahrhundert katholischer Sozial/ehre

Die in hundertjähriger Lehrtradition erarbeiteten Grundsätze katholischer Soziallehre werden mit den Entwicklungen der Gegenwart konfrontiert und weitergeführt. Dabei geht Papst Johannes Paul II. zwar vom sozialen Leben der Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus, er prüft aber gleichzeitig auch die gesamte Entwicklung innerhalb des öffentlichen Lebens der Staaten sowie den Weg der Gemeinschaft der Völker überhaupt.

In all diesen Bereichen ist Papst Johannes Paul II. der Schutz der Freiheit und Würde des Menschen und der Dienst am Gemeinwohl zielführendes Anliegen und Maßstab der Beurteilung unserer Zeitsituation. Verschiedene Richtlinien

Die Wahrung der Menschenrechte und des Gemeinwohls ist von Erdteil zu Erdteil und innerhalb dieser von Staat zu Staat verschieden. Unser heutiges Symposion gibt zu dieser Beurteilung Gelegenheit, und ich möchte Seiner Exzellenz Renato Martino für die Ehre der Einladung zu dieser Konferenz danken. Als Österreicher habe ich diese Einladung zu dieser Zeitbetrachtung, noch dazu im Rahmen der UNO, auch deshalb gerne angenommen, weil mein Heimatland Österreich an der Nahtstelle zwischen West und Ost im Herzen Europas den Rhythmus der Geschichte besonders zu spüren bekam und in den Jahren der Besetzung durch fremde Mächte die Bedeutung von Freiheit und Souveränität außerordentlich zu schätzen wußte.

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Die Völkerrechtliche Stellung Österreichs

Die nach dem Zustande kommen des österreichischen Staatsvertrages am 15. Mai 1955 und der Erklärung der dauernden Neutralität Österreichs am 26. Oktober 1955 gesicherte neue Stellung unseres Landes haben wir nicht zur Selbstzufriedenheit genutzt, sondern vielmehr in das Bemühen gestellt, im Herzen Europas Mittler und Brücke zwischen West und Ost zu sein. Wir haben auch unsere volle Souveränität 1955 genutzt, um einem langjährigen Wunsch zu entsprechen und Mitglied der UNO und des Europarates zu werden. In beiden Organisationen haben wir an der Verwirklichung neuer Ziele vor allem zur Wahrung der Menschenrechte und zur Sicherung des Weltfriedens beizutragen freudig mitgearbeitet. Erfahrungen aus der Geschichte

Jeder Staat nimmt an der Entwicklung der Völkergemeinschaft je nach seiner geopolitischen Situation Anteil und hat damit ein Volk mit seinen Aufgaben und seinem Schicksal fertig zu werden, das betrifft das eigene Schicksal, aber auch das in der Verbundenheit der Nachbarschaft. Uns in Österreich ist dies im Herzen Europas gelegen besonders bewußt. Nach der Okkupation durch das Hitlerregime 1938 waren wir von 1945 bis 1955 durch die vier Großmächte besetzt und haben in der Folgezeit durch vier Jahrzehnte die Teilung Europas in nächster Nähe miterlebt. So sind über 900 Kilometer des Eisernen Vorhanges im Grenzverlauf zu Österreich errichtet worden, die Konfrontation mit sogenannten Volksdemokratien haben wir in den Bundesländern Oberösterreich, Niederösterreich, Burgenland, Steiermark und Kärnten erlebt und unsere Beziehungen zur Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien direkt mitgeprägt. Förderung des Friedens und der Menschenrechte

Aber auch zu den übrigen früheren kommunistischen Staaten ist Österreich als ein Staat des freien demokratischen Westens in Beziehung gestanden, was nicht problemlos war. Bis zur Stunde waren wir stets bereit, Flüchtlingen zu helfen, was besonders nach dem Ungarnaufstand 1956, den Ereignissen des Prager Frühlings 1968 und in den letzten Jahren für Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien notwendig wurde. Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, daß der Flüchtlingsstrom von dem früheren kommunistischen Ostdeutschland 1989 über Ungarn und Österreich in den Westen gelangte. Ich betone dies deshalb, um zu zeigen, wie sehr Österreich seine wiedererlangte Freiheit und seine freiwillig erklärte Neutralität nicht als Distanzierung

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von der Verantwortung in der Völkergemeinschaft nutzte, sondern im Gegenteil als Verpflichtung, das ihm Mögliche zum bon um commune humanitasum einen Begriff der Schule von Salamanca bewußt zu gebrauchen, der in unserem Jahrhundert von dem berühmten österreichischen Völkerrechtslehrer Alfred Verdroß weiterentwickelt wurde - und zur Friedenssicherung beizutragen. In diesem Zusammenhang verweise ich gerade in diesem Haus auf die Beiträge Österreichs zur Friedenstruppe der UNO im Kongo, in Zypern oder im Mittleren Osten; auch während der Golfkrise hat Österreich sich an den Maßnahmen zur kollektiven Sicherheit, wie sie einstimmig von dem UNO-Sicherheitsrat Anfang 1990, auch unter dem Vorsitz Österreichs, beschlossen wurden, beteiligt. Nicht unerwähnt möchte ich auch das Wirken unseres heutigen mit überwältigender Mehrheit vom österreichischen Volk gewählten österreichischen Bundespräsidenten Dr. Kurt Waldheim in zwei Perioden als Generalsekretär der UNO lassen. Ich möchte auch nicht die Leistungen meines bereits eben genannten unvergeßlichen Lehrers Professor Dr. Alfred Verdroß in der International Law Commis si on der UNO und meines hochgeschätzten Kollegen im parlamentarischen und akademischen Leben, Professor Dr. Felix Ermacora, in der Menschenrechtskommission der UNO unerwähnt lassen.

"Centesimus annus"; Rückschau und Ausblick Aufgrund der Schicksalserfahrungen Österreichs in unserem Teil Europas, des Bemühens unseres Landes, Brücke und Mittler zwischen West und Ost zu sein, sowie unseres Engagements in verschiedenen Grenzsituationen unserer politischen Breiten in Mittel- und Osteuropa wissen wir in Österreich die Enzyklika "Centesimus annus" von Papst Johannes Pauill. in ihrer wegweisenden Bedeutung als Empfehlung für die Gestaltung des sozialen, staatlichen und internationalen Lebens sehr zu schätzen.

Die Untersuchung Worin liegt die besondere Bedeutung von "Centesimus annus" in unserer Zeit? Zu allererst in der verständnisvollen Lebensnähe ihrer Zeitbeurteilung, der weiteren Ausführung der in mehr als hundert Jahren entwickelten Grundsätze der katholischen Soziallehre sowie vor allem auch in der naturrechtlichen Grundlage des Menschenbildes und der Sozialbetrachtung der Enzyklika, die daher für alle Menschen in allen Erdteilen einsichtig sein kann.

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Der ehemalige Osten

Diese Feststellung von der allgemeinen anzuerkennenden Bedeutung von "Centesimus annus" gilt für alle Teile dieses Sozialrundschreibens, mit dessen Zeitanalyse im AbschnittIlI: "Das Jahr 1989" ich mich besonders auseinandersetzen möchte. Er beschäftigt sich mit den Vorgängen in den ehemals kommunistischen Staaten Osteuropas, von denen manche Nachbarn Österreichs sind; sie haben den Niedergang des realen Sozialismus dokumentiert, nachdem es jahrzehntelang zuvor zu willkürlichen Massenvernichtungen von Menschen gekommen war. Immer mehr wird auch die Bilanz der Zeit des kommunistischen Machtmonopols, vor allem vom Regime der Gewaltherrschaft bis zur Periode der Stagnation unter Breschnew, deutlich. Es ist von 25 bis 40 Millionen Opfern die Rede. Nach einer vom KGB selbst veröffentlichten Statistik gab es allein zwischen 1930 bis 19533,77 Millionen politische Verurteilungen und davon fast 800000 Erschießungen, die anderen sind vergast, verhungert, erschlagen oder sonst umgekommen. Ihnen gilt heute hier im Haus der UNO mein besonderes Gedenken. Eines von den Millionen Opfern möchte ich nennen, und da ich hier gegenüber dem Ministerpräsident der Slowakei, lan Cavnogursky, sitze, möchte ich den prominenten Repräsentanten der ungarischen Minderheit in seinem Land, den Grafen Janos Esterhazy, nennen, der auch als märtyrerhafter Glaubenszeuge nach jahrelanger Kerkerhaft in Moskau und der Tschechoslowakei 1957 sein Leben ließ. Ein solches Märtyrertum ist auch heute noch, Jahrzehnte später, von Wichtigkeit, weil ein solches Glaubenszeugnis wegweisend für die Menschheit sein kann. Wie sagte schon der frühere Erzbischof von Prag, Kardinal Frantisek Tomasek: "Für die Kirche zu arbeiten, ist wichtig, für die Kirche zu beten, ist wichtiger, für die Kirche zu leiden, ist am allerwichtigsten. "

Hier gilt mein Gedenken auch in diesem besonderen Rahmen unserer Tagung dem Märtyrer J ozef Kardinal Mindszenty, vor dessen Gefängnis in Andnissy ut 60 in Budapest ich erst vorgestern noch selbst gestanden habe. Von ihm sagte ein ungarischer Landsmann anläßlich seiner Heimholung nach Esztergom am 4. Mai d. J. zu mir: "Weil er nicht gefallen ist, können wir heute so aufrechtstehen. "

Mit Entsetzen haben wir von Österreich aus, soweit dies möglich war, diese Verletzung der Menschenrechte geahnt, und wenn sich Gelegenheit bot, auch offiziell und inoffiziell zu intervenieren und zu helfen versucht. Höchst dankens- und anerkennenswert waren auch die Aktivitäten des Heiligen Stuhls in Menschenrechtsfällen, besonders bei Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit, zu helfen. Viele dieser Aktivitäten konnten wir von Österreich aus verfolgen.

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Die Politik des Heiligen Stuhls dem Osten gegenüber

Wir in Österreich waren ja in den letzten Jahrzehnten, besonders seit dem Pontifikat Papst Johannes XXIII. bis in die unmittelbare Gegenwart, Ausgangspunkt für die sogenannte vatikanische Ostpolitik, die vor allem mit dem Namen Agostino Casaroli verbunden bleibt. Seine Predigten, Reden und Aufsätze habe ich in deutscher Übersetzung schon 1981 unter dem Titel "Der Heilige Stuhl und die Völkergemeinschaft" und 1989 unter der Überschrift "Glaube und Verantwortung" in Berlin im Verlag Duncker und Humblot veröffentlicht. Seit dem Frühjahr 1963 unternahm Agostino Casaroli viele Kontaktreisen in die volksdemokratischen Staaten, die viele Besserungen der Lage der katholischen Kirche zur Folge hatten. Diese diplomatischen Bemühungen Casarolis standen, wie übrigens seine gesamte Lebensarbeit, im Dienst der Seelsorge. Diesen Weg suchten auch später die Monsignori Giovanni Cheli, Luigi Poggi und Francesco Colasuonno bis heute fortzusetzen. Viele Einzelabkommen zwischen dem Heiligen Stuhl und früheren sozialistischen Staaten waren Erleichterungen für das religiöse Leben der Gläubigen in den einzelnen Ländern. Die Rolle der KSZE

In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa verweisen, von deren Schlußakte, die unter Vorsitz von Agostino Casaroli in Helsinki am 1. August 1975 unterzeichnet wurden, und besonders auch von Korb 111, der vom österreichischen Botschafter Dr. Helmut Liedermann entscheidend mitgeprägt wurde, wegweisende Einflüsse ausgingen. Die Nachfolgekonferenzen der KSZE , die Dissidentenund Bürgerrechtsbewegungen und die Familienzusammenführungen zählten mit zu den Folgen dieses Korb 111. 1989 - ein Meilenstein in der Geschichte Das, was sich aber 1989 und in der Folge ereignet hat, ist geradezu ein Wunder. Mit Recht ist Papst Johannes Paulll. in "Centesimus annus" überzeugt, daß das Wunder des Friedens 1989 durch "den Herrn der Geschichte, der das Herz der Menschen in seinen Händen hält" ("Centesimus annus", 25) geschah. In ähnlicher Weise sagte Präsident Vaclav Havel anläßlich des Papstbesuches in Prag 1990: "Ich weiß nicht, was ein Wunder ist, aber ich glaube ein Wunder zu erleben, weil ich als einer, der vor wenigen Monaten noch Häftling war, heute den Papst empfangen kann."

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Der Niedergang der Regime

Die Gründe für diese Umwälzung sind mannigfaltig. Sie sind nicht von Politikern und Diplomaten ausgegangen, sondern von der Jugend und der Arbeiterschaft. Sie, welche das Ziel des Sozialismus waren, lehnten diesen ab. Sie lehnten es auf den Straßen und Plätzen ihrer Heimat immerfort demonstrierend ab, gegen den Anspruch ihrer Freiheit und Würde weiter beherrscht und unterdrückt zu werden. Die Gründe für das Scheitern

Am 2. Juni 1990 hat es der damalige Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli in seiner in Krakau gehaltenen Rede richtig diagnostiziert, als er sagte: "Der Irrtum jener Ideologien war die Mißachtung von nicht zu unterdrückenden Bedürfnissen des Menschen. Bedürfnisse, gebunden an das Bewußtsein seiner Personenwürde ... Noch schwerwiegender war zweifellos der Eingriff in die intimste und eifersüchtig gehütete Sphäre des Menschen, ins Heiligtum seines sittlichen und religiösen Gewissens, das auch in jenen Menschen pocht, die es anscheinend nicht hören wollen, jedoch nicht ertragen, wenn andere - Staaten oder Parteien - darüber verfügen wollen" (0. R., dt., vom 27. 7. 19901Nr. 30/31, S.ll).

Friedliche Veränderungen

Diese Umwälzungen waren sowohl ihrem Grund als auch ihrer Form nach besonders beachtenswert und sind von anderen derartigen Umbrüchen zu unterscheiden. Sie sind nämlich nicht ein Schlagabtausch zum Machtwechsel, sondern eine Staats- und Gesellschaftserneuerung aus sittlichen Gründen, zum Zweck der Anerkennung ewig gültiger Menschenrechte. Weiters hat es zwar Konfrontationen in den einzelnen Staaten mit den Ordnungsorganen der jeweiligen Machthaber, aber keine blutige Revolution gegeben. Als Staatsrechtslehrer möchte ich auch hervorheben, daß der Wandel der politischen Systeme unter Wahrung der Staatskontinuität erfolgte. Der Staat und seine Funktionen blieben meist gleich, nur die Staatsrepräsentanten und die Funktionsträger wurden gewechselt. Wenngleich es ein meist kontinuierliches Verfassungssystem gab, wurden dessen Verfassungsrechtswege mit neuen Zielen und Zwecken versehen! Perspektiven der Zukunft

Diese neuen Zielsetzungen in Staat und Gesellschaft gilt es zu bedenken, mit ihnen setzt sich daher zu Recht Papst Johannes Pauill. auseinander. Unser Heiliger Vater ist hierzu wie kein anderer berufen. Ist er doch selbst 14 Schambeck

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früher ein Arbeiter gewesen. Er schreibt nicht bloß über die Arbeit, er hat sie selbst in einer Chemiefabrik und einem Steinbruch geleistet. Er hat die Partnerschaft von manueller und intellektueller Arbeit nicht allein empfohlen, sondern selbst praktiziert. Papst Johannes Paulll. beschreibt nicht bloß die Gefahren autoritärer und totalitärer Regime und ihrer Ideologien, er hat sie unter dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus auch stalinistischer Prägung am eigenen Leib verspürt, besonders als er am 13. Mai 1980 fast das Opfer eines heimtückischen Attentats auf dem Petersplatz in Rom wurde, dessen Initianten bis heute noch nicht aufgedeckt worden sind. Er ist daher als ein Verkünder einer solch beurteilenden, verurteilenden und wegweisenden Sozialenzyklika besonders glaubwürdig.

Die Jugend in der Gesellschaft Nach diesen Erlebnissen spricht Papst Johannes Paulll. seine Hochachtung vor dem Aufstand der Jugend und der Arbeiterschaft für die Achtung der religiösen, kulturellen und sittlichen Dimension unseres Daseins unter Ablehnung ihrer ausschließlich wirtschaftlichen Beurteilung aus. Er sagt zu Recht: "Man kann den Menschen nicht einseitig von der Wirtschaft her begreifen und auch nicht aufgrund der bloßen Zugehörigkeit zu einer Klasse. Der Mensch wird am umfassendsten dann erfaßt, wenn er im Kontext seiner Kultur gesehen wird, das heißt, wie er sich durch die Sprache, die eigene Geschichte und durch die Grundhaltungen in den entscheidenden Ereignissen des Lebens, in der Geburt, in der Liebe, im Tod, darstellt."

Im Mittelpunkt Gott "Im Mittelpunkt jeder Kultur steht die Haltung, die der Mensch dem größten Geheimnis gegenüber einnimmt: dem Geheimnis Gottes. Die Kulturen der einzelnen Nationen sind im Grunde nur verschiedene Weisen, sich der Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz zu stellen; wird diese Frage ausgeklammert, entarten die Kultur und Moral der Völker. Deshalb hat sich der Kampf für die Verteidigung der Rechte der Arbeit spontan mit dem Kampf für die Kultur und die Rechte der Nation verbunden. Die wahre Ursache der jüngsten Ereignisse ist jedoch die vom Atheismus hervorgerufene geistige Leere." ("Centesimus annus", 24).

Der Kampf gegen die geistige Leere Dieser geistigen Leere gilt es aber heute zu begegnen, und zwar durch Vermittlung eines christlichen Menschenbildes, einer menschlichen Gesellschaft, die eine Verbundenheit von Freiheitsfindung und Interessenvertretung kennt

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und in gleicher Weise ein wirtschaftliches Wachstum, einen kulturellen Fortschritt und eine soziale Sicherheit anstrebt. Ökosoziale Marktwirtschaft

Die Allmacht des Staates in der Wirtschaft wird zurückzustellen und der Privatinitiative in der Wirtschaft mehr Raum zu eröffnen sein. Um all den damit heute zu beantwortenden Ansprüchen gerecht zu werden, wäre ein Weg zu empfehlen, der die Ökonomie mit der Ökologie und beide mit der Sozialverantwortung verbindet; wir sprechen in Österreich von der ökosozialen Marktwirtschaft. Die Umwelt soll gesund dem Menschen zugänglich gemacht werden. Schutz der Umwelt ist Schutz der göttlichen Schöpfungsordnung! Wiederaufbau der Gesellschaft

Das ist aber alles nur möglich, wenn der Mensch erkennt, daß er nicht alles, was er tun kann, auch tun darf; dies verdeutlicht die Grenzen menschlichen Wollens im Hinblick auf die Sittenordnung. All diese Forderungen unseres Heiligen Vaters in "Centesimus annus" verlangen in gleicher Weise einen moralischen und wirtschaftlichen Aufbau. Zu Recht betont daher Papst Johannes Paul H., daß grundlegende Tugenden des Wirtschaftslebens, wie Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit und Fleiß, entwürdigt wurden ("Centesimus annus", 27). Es bedarf daher neuer, großer Anstrengungen und Initiativen. Dabei müßten nach Papst Johannes Paul H. die Länder Mittel- und Oste uropas zwar "die ersten Baumeister ihrer Entwicklung sein" ("Centesimus annus", 28), aber all das "kann nur mit Hilfe der anderen Länder geschehen" ("Centesimus annus", 28); sind doch die Länder Mittel- und Osteuropas nicht aus eigenem Verschulden an der Tragödie ihres Schicksals schuld; der Lauf der Geschichte hat sie ihnen aufgezwungen. Notwendige Hilfe

Darum, schreibt Papst Johannes Paul H., entspricht die Hilfe der übrigen europäischen Länder, "die an dieser Geschichte teilgenommen haben und dafür Mitverantwortung tragen, einer Verpflichtung der Gerechtigkeit" ("Centesimus annus", 28). Damit verbindet unser Heiliger Vater zu Recht die Warnung: "Europa wird nicht in Frieden leben können, wenn die vielfältigen Konflikte, die als Folge der Vergangenheit aufbrechen, sich durch wirtschaftli14*

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chen Niedergang, geistige Unzufriedenheit und Verzweiflung verschärfen" ("Centesimus annus", 28). Wir sollten vielmehr von den Fehlern der Vergangenheit lernen und gemeinsam den Weg in die Zukunft beschreiten. Erfahrungsaustausch

Dieser gemeinsame Weg in die Zukunft verlangt, daß die westlichen Demokratien den neuen Demokratien ihre Erfahrungen mit den Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen der demokratischen Verfassung zugänglich machen, daß ein technologischer Erfahrungsaustausch und eine wirtschaftliche Zusammenarbeit Platz greift, die von einer Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern begleitet wird. Die neue Solidarität

Es muß neue Solidaritätsformen geben, damit kein neuer Kollektivismus oder ein Anarchismus der Hoffnungslosigkeit Platz greift. Es wäre nämlich auch falsch, würde sich die frühere Zweiteilung von freien und unfreien Staaten im Europa von gestern in eine von armen und reichen Staaten fortsetzen. Es bedarf einer neuen Solidarität! Diese Solidarität soll nach Papst Johannes Pauill. bei Ehe und Familie beginnen und sich in Gesellschaft, Staat und Völkergemeinschaft fortsetzen. Es wäre aber falsch, wollten wir nur einer Institutionen- und Zuständereform das Wort reden, nicht aber auch einer Reform der Gesinnung. Dies verlangt mehr als bisher zwischen den Menschen und Völkern ein Bemühen, nicht bloß nebeneinander zu leben, sondern aufeinander zuzugehen. Gegenseitige Achtung der gemeinsamen Freiheit

Zu erkennen, daß die Freiheit des einen dort endet, wo die des anderen beginnt: auch das gilt für Menschen und Staaten in gleicher Weise. Daher sollte die Freiheit nicht zum Libertinismus und das nationale Heimatbewußtsein nicht zum Chauvinismus ausarten. Wir sollten aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und aus der verstandenen und bewältigten Geschichte den Weg in die Zukunft antreten. Das verlangt gegenseitiges Verstehen und verstehende Toleranz. Was zwischen Menschen gilt, sollte auch zwischen Religionen, Staaten und Nationalitäten gelten.

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Darum ist auch die gegenseitige Achtung der Kirchen, Religionsgemeinschaften und ideologischen, weltanschaulichen, sowie ethnischen Gruppen ein Gebot der Erneuerung. Individuelle und kollektive Freiheit

Die neue Ordnung in Europa sollte daher nicht mit einem neuen Fundamentalismus verbunden werden, sondern von einer Brüderlichkeit getragen sein, die eine ökonomische, ökumenische, rassische und ethnische zugleich ist. Wie traurig ist es daher, wenn man kürzlich als eine vermeintliche Art von Entschuldigung für Massenvergasungen von Menschen in der NS-Zeit vor 1945 die entsetzlichen Worte hörte, man hätte irrtümlich angenommen, es wären bloß Angehörige einer ethnischen Minderheit gewesen, die zur Nationalität des Nachbarstaates gehört. Traurig ist auch der Bruderkrieg innerhalb des jugoslawischen Staatsgebietes zwischen Serben und anderen Nationalitäten, wie Slowenen und Kroaten. Die Bedrohung des Nationalismus

Wir sollten die Fehler von gestern auf dem Weg zum Europa von morgen nicht wiederholen. Darum wiederhole ich auch heute, zum Schluß kommend, hier in diesem besonderen Rahmen die mahnenden Worte, die Papst Johannes Paul 11. am 17. August 1991 während seines Pastoralbesuches inUngarn in seiner Ansprache an das diplomatische Korps in Budapest gerichtet hat und die ich am vergangenen Freitag in einer Rede in der Universität Pecs schon zitiert hatte: "Wir dürfen die Lektionen der so kontrastreichen Geschichte dieses Kontinents nicht vergessen. Europa ist so manches Mal ein Schlachtfeld gewesen, wo sich Reiche, Nationen und sogar Religionen gegenüberstanden. Die beiden Weltkriege sind in Europa ausgebrochen, Katastrophen, deren Folgen noch immer auf den Völkern lasten. Man muß sich sehr genau der Gründe bewußt werden, die diese Spannungen und Konflikte ausgelöst und aufrechterhalten haben, und sich hüten, die Rivalitäten egoistischer Interessen zu verschleiern, die man allzuoft zum Schaden der Rechte der anderen verteidigt hat. Dagegen muß man die gemeinsamen und schöpferischen Werte deutlich ans Licht bringen, die einen gerechten und dauerhaften Frieden ermöglichen. Dieser Friede ist die Vorbedingung für die harmonische Zukunft eines Kontinents, der gerade dabei ist, unter dem aufmerksamen Blick der Völker der ganzen Welt einen Zusammenhalt zu finden."

"Centesimus annus": eine Wegweisung

Papst Johannes Pauill. hat mit seiner Enzyklika "Centesimus annus" zu diesem neuen Zusammenhalt in Europa und mit Europa in der ganzen Welt

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eine Wegweisung gegeben, weil er bei aller Bejahung der Pluralität unserer Demokratien und ihrer Gesellschaften die Grundrechte des Einzelnen sowie die möglichen gemeinsamen Grundwerte des privaten und öffentlichen Lebens der Menschen in den einzelnen Staaten und mit diesen Staaten in der Völkergemeinschaft verdeutlichte und Möglichkeiten ihrer Verwirklichung aufzeigte: Mit der neuen Ordnung im wiedervereinigten Europa könnte dieser Erdteil ein Beispiel für eine neue Form der Friedenssicherung für die übrige Welt geben, und "Centesimus annus" könnte für die Herbeiführung dieser neuen Ordnung vor allem auch in Osteuropa eine wertvolle Wegweisung sein. Die Vereinten Nationen, die schon Papst Benedikt XV. herbeigesehnt hat, die Papst PiusXII. und Papst JohannesXXlI1. mit Botschaften sowie Papst Paul VI. und Papst Johannes Paulll. mit ihren Besuchen beehrten, geben mit ihrer Organisation und ihren Zielsetzungen die stete Gelegenheit, diese Empfehlungen des Papstes in ihrer Verwirklichung zu unterstützen. Ich wünsche Ihnen dazu den verdienten Erfolg.

Aspekte des Friedens Jeder geht seinen Weg nach Kevelaer. Mein Weg nach Kevelaer geht auf den letzten Wunsch der ehrwürdigen Mutter Pascalina Lehnert 1 zurück, einen Sammelband zum Gedenken an Papst Pius XII. herauszugeben, wozu in Kevelaer in verdienstvoller Weise der Verlag Butzon & Bercker bereit war.2 Diese Verlagsbesprechung führte mich erstmals an diese Gnadenstätte und hat eine Verbundenheit zustande kommen lassen, die mir viel bedeutet. Auch mein Heimatland Österreich besitzt viele Marienwallfahrtsstätten, die in den einzelnen Bundesländern die Tradition der Verehrung der Gottesmutter bewahren. Ich erinnere u. a. vor allem an Mariazell in der Steiermark, Loreto im Burgenland und Maria Roggendorf in Niederösterreich, wo unser heutiger Erzbischof von Wien Hans Hermann Kardinal Groer eine alte Marienverehrung mit großem Erfolg wieder aufgenommen hat. Im Unterschied zu meinen Vorrednern komme ich nicht aus dem Bereich Europas, der - sei es militärisch in der NATO oder wirtschaftlich in der EWG - in einer Staatengemeinschaft organisiert ist. Ich komme aus Österreich, das sich in einem Bundesverfassungsgesetz am 26. Oktober 19553 freiwillig für dauernd neutral erklärt hat. Wie es in diesem Bundesverfassungsgesetz heißt, erklärt Österreich aus freien Stücken zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes seine immerwährende Neutralität. "Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrecht erhalten und verteidigen." Österreichs Neutralität 4 ist daher eine militärische Neutralität, woraus sich bestimmte Konsequenzen auch für andere Gebiete der Politik ergeben. Mit dieser Neutralitätserklärung Österreichs ist aber keine Einstellung des Wertindifferentismus und Gesinnungsneutralismus verbunden, welche zu einer Gleichgültigkeit der Gesinnung führt. Beginnend mit Julius Raab 5 als Bundeskanzler und Leopold Figl 6 als Außenminister , die beide. übrigens große Marienverehrer waren, haben seit 1955 alle Spitzenrepräsentanten ÖsterBeachte Pascalina Lehnert, Ich durfte ihm dienen, Würzburg 1982. Pius XII. - Friede durch Gerechtigkeit, hrsg. von Herbert Schambeck, Kevelaer 1986. 3 BGBI Nr. 211/1955. 4 Siehe Heribert F. Köck, Änderung und Aufhebung eines völkerrechtlichen Sonderstatus, in: Verantwortung in unserer Zeit, Festschrift für Rudolf Kirchschläger, Wien 1990, S. 103ff. 5 Dazu Julius Raab, Verantwortung für Österreich, Wien 1961, bes. S. 39f. 6 Beachte Leopold Figl, Reden für Österreich, Wien 1965, bes. S. 133ff. 1

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reichs immer wieder betont, daß Österreich, wie es im Art. 1 (2) dieses Bundesverfassungsgesetzes heißt, "zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten nicht zulassen" wird, daß Österreich sich aber unabhängig davon nach wie vor der freien Welt westlicher Prägung zugehörig fühlt. Verbunden mit diesem Bekenntnis, war Österreich stets bestrebt, eine BTÜcken- und Mittlerfunktion zu erfüllen und bei Krisen in seinen Nachbarländern schon 1956 bezüglich Ungarn, später 1968 gegenüber der Tschechoslowakei und 1982 gegenüber Polen, u. a. Flüchtlingen Asyl gewährend, zu helfen. Als Mitglied der UNO und des Europarates hat sich Österreich immer für die Wahrung der politischen Freiheit und damit auch der Menschenrechte eingesetzt. Wenngleich also Österreich, etwa zum Unterschied von anderen europäischen Staaten, bestimmten Staatenbündnissen im Hinblick auf seine dauernde Neutralität nicht angehören kann, besteht doch über die Grenzen derartiger Organisationen hinaus eine Gemeinschaft, die in der abendländischen Kultur Europas 7 begründet ist, zu welcher unser Glaube zählt, der auch das Gebot des Friedens mitumfaßt. Wie sagte es doch der HERR selbst: "Den Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch! Nicht wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch." (Joh. 14,27)

Kaum ein Wort ist in unseren Tagen soviel gebraucht und mißbraucht worden wie das Wort Friede. Es begleitet, ausgesprochen und unausgesprochen, die Geschichte der Menschheit und drückt unsere Sehnsucht aus. Wenn wir in diesen Tagen des Marianischen und Mariologischen Weltkongresses hier in Kevelaer Einkehr halten, bei der Mutter unseres HERRN und damit auch der Mutter der Kirche überhaupt, ist es in einer Zeit vielfacher Formen der Auseinandersetzung und des Streites verständlich, daß dieser Wunsch und diese Sehnsucht nach dem Frieden Ausdruck findet.

Der Friede zählt dreizehn Jahre vor der Zeitenwende des Jahres 2000 zu jenen Zielen und Werten, die wir aus einer Geschichtserfahrung in einer Gegenwartsverantwortung und im Hinblick auf unsere Zukunftserwartung in gleicher Weise bedenken, erfassen und weitergeben sollten! So faszinierend das Wort Friede ist, so gefährlich kann seine utopische Verwendung werden. So hat Agostino Casaroli erklärt: "Zweifellos gibt es eine Rhetorik des Friedens. Schlimmer noch, es ist schon zu oft in der Geschichte vorgekommen - und die Gefahr besteht immer -, daß die Friedenssehnsucht der Völker mißbraucht wird, um das Unrecht leichter durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. 7

Näher Joseph Ratzinger, Christlicher Glaube und Europa, München o. J.

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Dennoch bleibt der Name des Friedens einer der edelsten, und noch edler sind seine Bedeutung und die Verpflichtung, die er birgt. Wer also dem Frieden dienen will, setzt sich ebenso leicht Lob wie Tadel, Dankbarkeit wie Argwohn aus, er wird großherzig gefeiert oder als Dummkopf verspottet. "8

Vom Frieden zu sprechen verlangt daher Besinnung und Mut sowie Ausdauer und Realismus. Ohne geduldige Nüchternheit würden die Erfordernisse und der Gehalt des Friedens nicht erkannt werden können. Der Friede läuft nämlich wie selten ein anderer Begriff Gefahr, sich zu einer Leerformel zu verlieren. Dieser Gefahr kann aber dadurch begegnet werden, daß man den Frieden in Beziehung zu den Lebensbereichen setzt, in welchen er sich zu bewähren und zu verwirklichen hat; etwa im Frieden zu Gott, zu sich selbst, zu den Mitmenschen, in der Ehe, der Familie, der Nachbarschaft, der Gemeinde, im Staat, in der Kirche, in der Gesellschaft und in der Völkergemeinschaft. In negativer Form bedeutet Friede Nicht-Krieg und in positiver Prägung die Verwirklichung von Werten. Diese positive Prägung meint das alte hebräische Wort "schalom", das die Bibel gebraucht.

Auch das II. Vatikanische Konzil hat diese positive Form gemeint, als es in Nr.78 der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" feststellte: "Der Friede besteht nicht darin, daß kein Krieg ist. Er läßt sich auch nicht bloß durch das Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte sichern; er entspringt ferner nicht dem Machtgebot eines Starken; er heißt vielmehr mit Recht und eigentlich ein Werk der Gerechtigkeit (Is. 32, 17). Er ist die Frucht der Ordnung, die ihr göttlicher Gründer selbst in die menschliche Gesellschaft eingestiftet hat und die von den Menschen durch stetes Streben nach immer vollkommenerer Gerechtigkeit verwirklicht werden muß."

Der Weg ZU diesem Frieden im Sinne des HERRN und des Evangeliums ist kein kurzer, sondern ein langer, er besteht nicht allein im Verzicht auf Gewalt und der Koexistenz, sondern verlangt wechselseitiges Verständnis und Entgegenkommen. Er setzt nicht Angst voraus, sondern Vertrauen. Friede in dieser positiven Sicht besteht nicht in einem Gleichgewicht angedrohten Schreckens, sondern sollte ein Werk der Gerechtigkeit sein. In dieser Sicht hat Papst Pius XII., in dessen Pontifikat von 1939 bis 1958 auch der 2. Weltkrieg mit sehr vielen Friedensbemühungen und stillen Rettungsaktionen für Verfolgte und die Zeit des sogenannten "Kalten Krieges" fiel, die Worte "Opus iustitiae pax", der Friede ist das Werk der Gerechtigkeit, treffend als Wappenspruch gewählt.

Auch den folgenden Päpsten war der Friede ein Hauptanliegen ihres Wirkens. Papst JohannesXXIII. erließ 1963 eigens die Friedensenzyklika "Pacem in terris", die einen wegweisenden modernen Grundrechtskatalog an Gerech8 Agostino Casaroli, Der Heilige Stuhl und die Völkergemeinschaft, Reden und Aufsätze, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1981, S. 26.

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tigkeitsmaßstäben beinhaltet, und Papst Paul VI. begann mit jährlichen Weltfriedenstagen, die Papst Johannes Paul H. fortsetzt, der sich darüber hinaus besonders auch auf seinen Pastoralreisen jeweils für Friedensanliegen engagiert. Papst Johannes Paul H. hat besonders den Dialog in den Dienst des Friedens gestellt. Der Friede ist dabei einerseits ein Anliegen geblieben, die Kriegsgefahr zu vermeiden, andererseits aber auch ein Erfordernis geworden, Gerechtigkeit auf den einzelnen Sachgebieten des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, staatlichen und internationalen Lebens herzustellen; auf diesem Weg mehrdimensionaler Gerechtigkeitserfordernisse und somit Friedensverwirklichungsmöglichkeiten sind auch neue Dimensionen erkennbar geworden. So erklärte Papst Paul VI. 1967 in seiner Enzyklika "Populorum progressio" "Entwicklung ist der neue Name für Friede" (Nr. 76). Die Hilfe für notleidende Völker verschiedener Erdteile ist ebenso zum Friedens- und Gerechtigkeitspostulat unserer Zeit geworden, wie die Sozialhilfe für Behinderte und all die Einsamen in unserer Welt. Wer wollte leugnen, daß nicht auch die Verteilung des Volkseinkommens, das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie der Generationen untereinander und heute besonders die Beziehung von Ökonomie und Ökologie Fragen und Probleme des Friedens und der Gerechtigkeit geworden sind. Sicher sind alle diese Friedens- und Gerechtigkeitsanliegen begleitet von solchen der Wehrpolitik; denn immer noch gilt der Satz "Jeder Staat hat eine Armee, entweder die eigene oder eine andere". Auch das H. Vatikanische Konzil hat die Wehrfähigkeit zur Selbstbehauptung anerkannt, alles andere wäre auch unreal und utopisch. Es kommt nur darauf an, ein friedliches Gleichgewicht der Kräfte zu erreichen, das jede Hegemonialpolitik verhindert und jene wechselseitige Abrüstung ermöglicht, die den Krieg unmöglich macht. In seinem beachtenswerten Buch "Vom Frieden" hat der ehemalige bundesdeutsche Verteidigungsminister Georg Leber festgestellt: "Krieg zwischen zivilisierten Völkern ist in unserer Zeit keine Alternative zum Frieden. Unter den heute gegebenen Voraussetzungen ist Krieg auch nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Mit dem, was die technische Entwicklung den industriellen Mächten an Mitteln der Zerstörung in die Hände gegeben hat, wäre Krieg zwischen ihnen das Ende nicht nur der Politik. Deshalb muß unser Hauptinteresse der Sicherung des Friedens und dem Leben in Frieden gelten. Der Friede, um den es geht, der bedeutet weder im Inneren der Völker noch in den Beziehungen zwischen ihnen ein Leben in windstiller Atmosphäre. Soweit sie die Möglichkeit dazu haben, findet in ihrem Inneren vielmehr ein ständiges Ringen der von der Freiheit entfachten und freigesetzten Kräfte statt. Wenn daraus etwas Gutes werden soll, muß dieser Auseinandersetzung immer auch der Wille zum Miteinander beigegeben sein. Das gilt auch für das Zusammenleben der Völker. "9

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Dieser Friede im Miteinander, sei es im Bereich des Mitmenschlichen, sei es im Staat und in der Völkergemeinschaft, setzt die Beachtung bestimmter Ordnungsprinzipien für die Entwicklung der Friedensordnung voraus. Es sind dies, wie es bereits die päpstliche Soziallehre verdeutlichte: die Liebe im Sinne tätiger Solidarität, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und die Freiheit. Niemals kann durch Terror und Gesinnungsdruck Friede auf Kosten der Menschenrechte begründet werden, dies wäre die Stille der Grabesruhe, die in der Politik abzulehnen ist. Wo die Grundrechte verletzt werden, sind alle Friedensappelle unglaubwürdig, denn allen Menschen, nicht nur den Mächtigen, kommt die gleiche Würde zu, die von allen zu achten ist. Eine Friedenssicherung auf Kosten der Freiheit ist daher für Christen unannehmbar. Der Friede muß nämlich auf gegenseitiger Achtung aufbauen. Der Friede darf sich nicht, wie schon Papst Paul VI. hervorhob, auf Selbstinteresse und eigenen Ehrgeiz beschränken lO , denn der Friede ist weder genußhungriger Egoismus noch gleichgültige Interesselosigkeit 11. Schon Papst Pius XII. hat die erforderlichen Eigenschaften für diesen wahren Frieden genannt: "Den Sieg über das Mißtrauen zwischen rivalisierenden Nationen, den Sieg über den Mythos der Macht sowie den Sieg über den Geist kalter Selbstsucht. "12 Diese Forderungen für die Sicherung des Friedens gelten sowohl für das öffentliche wie für das private Leben, für das zwischen- wie innerstaatliche Leben der Völker. Anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat 1958 Karl Jaspers in seiner Rede dazu erklärt: "Der Friede beginnt im eigenen Haus. Der Weltfriede beginnt mit dem inneren Frieden der Staaten. Im innenpolitischen geistigen Kampf um die Herrschaft muß die Gesinnung der Friedlosigkeit, die die Gewalt wollen würde, wenn sie nur könnte, verschwinden. Denn die Friedlosigkeit in der Innenpolitik macht auch den Frieden in der Außenpolitik unmöglich." 13 In dieser wichtigen Sicht muß daher der, der den Frieden in der Welt will, bei sich selbst beginnen. Er muß in und mit sich selbst Friedensstifter sein, dies in seiner Familie und seinen sonstigen Gemeinschaften fortsetzen. Was man von anderen verlangt, soll man selbst tun. Daher schreibt Karl Jaspers zu Recht: 9

Georg Leber, Vom Frieden, Stuttgart 1979, S. 9.

Herder Korrespondenz, 20. Jg., S. 75. Herder Korrespondenz, 20. Jg., S. 503. 12 Herder Korrespondenz, l.Jg., S.472; dazu Heinrich B. Streithofen / Wolfgang Ockenfels, Diskussion um den Frieden, Stuttgart 1974, bes. S. 35ff. und S. 80f. 13 Karl Jaspers, Wahrheit und Bewährung, München, Zürich 1983, S. 159f. 10 11

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"Die Frage des Friedens ist nicht zuerst eine Frage an die Welt, sondern für jeden an sich selbst." 14

Dieser an den Einzelnen gerichtete Friedensappell verlangt nicht bloß vom Frieden zu reden, sondern für ihn zu handeln. Rudolf Kirchschläger hat dies im Anschluß an die Forderung von Karl Jaspers betont, als er einmal verlangte: "Friedfertig zu sein, dadurch die Art des Lebens, die Überzeugung zu vermitteln, daß Friede möglich ist, die Standhaftigkeit im Grundsätzlichen mit dem Respekt vor dem Andersdenkenden zu vereinen und immer aufs neue zu versuchen, der Gerechtigkeit zu dienen, dies alles heißt zum Frieden erziehen. "15

Den Hinweis auf die Ziele dieser Ichbezogenheit des Friedens 16 vermag das Christentum zu geben. Das Leben Jesu Christi und seine Lehre waren ein Aufruf zum Einsatz für den Frieden im Dienste der Gerechtigkeit; daher auch im Dienste der Armen, Behinderten, Verfolgten, Hungernden, Rechtlosen und Mißverstandenen. Dieser Friede erschöpft sich nicht in der Entspannung, sondern in der Anspannung für den Nächsten. In dieser Sicht verlangt Friede nicht Zurückhaltung, sondern Engagement. Klar hat dies Franz Alt in seinem Buch "Friede ist möglich - die Politik der Bergpredigt" geschrieben: Die Lehre Jesu Christi "ist keine Vertröstungsideologie, sondern eine Seligpreisung der Friedensstifter, ein Angebot für eine bessere Welt".J7

Diese bessere Welt wäre im Dienste des Friedens erreichbar, wenn das Verständnis anstelle von Mißtrauen zwischen Menschen und Staaten Platz greift, wenn dafür die Gelder des Wehrbudget immer mehr in das Kultur-, Wirtschafts- und Sozialbudget wandern, vermehrte Bildungschancen eröffnet, Technologien verbessert, Umweltschutz vervollkommnet und Arbeitsplätze gesichert würden. Dieser äußere Friede ist aber nicht erreicht, solange der Einzelne nicht erkennt, daß seine Freiheit dort endet, wo die Freiheit des Nächsten beginnt. Nur in einem Miteinander der einzelnen Freiheitsräume ist Friede möglich. Die Entscheidung hierfür trifft der Einzelne für sich selbst und damit auch für den Frieden der Welt.

Jaspers, a.a.O., S.I71. Rudolf Kirchschläger, Der Friede beginnt im eigenen Haus, Gedanken über Österreich, Wien/München/ZürichlInnsbruck 1980, S. 20. 16 Kirchschläger, a.a.O., S. 18. 17 Franz Alt, Friede ist möglich - die Politik der Bergpredigt, München, Zürich 1986, S. 25; siehe dazu auch Anton Vögtle, Was ist Frieden?, Orientierungshilfen aus dem Neuen Testament, Freiburg 1983, bes. S. 109ff. 14

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Der Heilige Stuhl und die Völkergemeinschaft Die anerkannte Präsenz des Heiligen Stuhls in der Völkergemeinschaft ist Ausdruck des ständigen Aufrufs der katholischen Kirche an die Staaten und internationalen Organisationen, zum Gemeinwohl im Dienst des Menschen beizutragen; ein Bemühen, das über den Kreis der Gläubigen hinaus wirkt und dem deshalb sowohl eine pastorale wie eine politische Bedeutung zukommt. I.

Unter dem Heiligen Stuhl versteht man entweder den Papst allein oder zusammen mit jenen kirchlichen Ämtern, durch welche er die Leitung der katholischen Kirche ausübtl. Seine Völkerrechtssubjektivität besitzt der Heilige Stuhl kraft seiner geistlichen Souveränität 2 ; sie ermöglicht es ihm seit Jahrhunderten, auch auf der gleichen Stufe mit den einzelnen Staaten und internationalen Organisationen zu verkehren. Zum Unterschied von anderen Völkerrechtssubjekten vertritt der Heilige Stuhl heute keine eigene machtpolitisch orientierte Außenpolitik; er hat vielmehr 1929 im Lateranvertrag seine Unparteilichkeit gegenüber den Staaten klar und deutlich zum Ausdruck gebracht3, wodurch von einer dauernden Neutralität des Heiligen Stuhls geredet werden kann. Diese Unabhängigkeit seiner Stellung in der Völkergemeinschaft sieht der Heilige Stuhl nicht als Selbstzweck an, sondern er bemüht sich, seinen Beitrag zum Frieden in der Welt zu leisten. Außer in den Fällen, in welchen Streitparteien den Heiligen Stuhl um seine Vermittlung ersuchen4 und so an seine frühere Schiedsfunktion erinnern, ist heute das internationale Engagement des Heiligen Stuhls neben der diplomatischen Friedensfunktion auf seine Aufgabe als Mahner und Postulator des Friedens unter den Völkern gerichtet. In dieser Weise hat auch die katholische Kirche ihre klassische Lehre vom Bonum commune zu einer solchen vom Weltgemeinwohl fortentwickelt und verdeutlicht. Dem hohen Ziel der Verwirklichung des Weltgemeinwohls müssen alle Staaten in allgeCan. 361 des Codex Iuris Canonici 1983. Siehe dazu ausführlich Heribert Franz Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls, Berlin 1975, bes. S. 16ff. und derselbe, Aktuelle Probleme der völkerrechtlichen Präsenz des Heiligen Stuhls, in: Pro Fide et Justitia, Festschrift für Agostino Kardinal Casaroli, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1984, S. 301ff. 3 Siehe Art. 24, Satz 1, Lateranvertrag 1929. 4 Eine solche Vermittlertätigkeit übte der Heilige Stuhl, für den Antonio Kardinal Samore tätig war, über Ersuchen von Argentinien und Chile aus. I

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meiner Weise, einige Völkerrechtssubjekte, die unbelastet sind von nationalen Schranken und Vorbehalten, aber in besonderer Weise dienen, erklärte Robert Prantner; vor allem sind jene Völkerrechtssubjekte zu nennen, die überhaupt keine Sonderinteressen zu verfolgen haben, sondern ausschließlich religiösen, sozialen und humanitären Aufgaben kraft ihrer inneren Bestimmung verpflichtet sind. An erster Stelle ist dabei der Heilige Stuhl zu nennen, der ausschließlich im Dienste der ganzen Staatengemeinschaft wirkt und daher ein integrierender Bestandteil derselben ist 5 . Papst PiusXII. hat bereits bezüglich der völkerumspannenden Einheit der Kirche betont: "So besteht der vornehmliche Sinn der Übernationalität der Kirche darin, über alle Unterschiede, über alle Grenzen von Raum und Zeit hinweg dauernd am Fundament der menschlichen Gesellschaft zu gestalten und zu formen. Ein hartes Werk, besonders heute, wo das gesellschaftliche Leben für die Menschen zu einem Rätsel, zu einem unentwirrbaren Knäuel geworden zu sein scheint 6 ."

In einer Zeit weltweiter politischer Auseinandersetzungen, die in diesem Jahrhundert, abgesehen von einer traurigen Vielzahl von längeren und kürzeren militärischen Konfrontationen in zwei Weltkriegen ihren schmerzlichen Ausdruck gefunden haben, kommt der Stellung des Heiligen Stuhls in der Völkergemeinschaft durch seine Bemühungen um die Erhaltung des Weltfriedens und dem damit geradezu seismographischen Einsatz zur Wahrung der Ethik des internationalen Lebens eine unersetzliche Bedeutung zu. Ohne dem Vorwurf des Ringens um Machtpositionen ausgesetzt zu sein, ist dem Heiligen Stuhl der Einsatz für die der gesamten Menschheitsfamilie zugrundeliegenden Werte, vor allem im Dienste der Freiheit und Würde des Menschen, das vordringliche Anliegen; den Menschen in der Vielvölkerfamilie sollen auch von der internationalen Ordnung her die Voraussetzungen ihrer Heilsfindung geboten werden. Der Heilige Stuhl setzt sich daher besonders für die Wahrung der im Dienste der Freiheit und Würde des Menschen stehenden Grundrechte, wie etwa Glaubens-, Gewissens-, Meinungs- und Religionsfreiheit, ein. Diese Bemühungen des Heiligen Stuhls sind über die Grenzen der Kontinente, der Wirtschaftssysteme und Militärblöcke hinaus in unserer Zeit besonders wichtig, um für die Erfordernisse der Humanität im Völkerrecht einzutreten 7 ; sie waren aber schon immer Anliegen in der Lehre der katholischen Kirche. Aurelius Augustinus verdeutlichte eine organische Gliederung der Menschheit, aus der sich ergibt, daß die Familie in den Staat und der Staat in 5 Robert Prantner, Das Völkergemeinwohl und die besondere Rolle des Heiligen Stuhls, in: derselbe, Malteserorden und Völkergemeinschaft, Berlin 1974, S. 17f. 6 Papst Pius XII., Ansprache an das Heilige Kollegium aus Anlaß der Kreierung der neuen Kardinäle am 20. Februar 1946, in: Soziale Summe Pius' XII., Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, hrsg. von Arthur-Fridolin Utz / Joseph-Fulko Graner, 11. Bd., 2. Aufl., Freiburg 1954, S. 2118, Nr. 4107. 7 Beachte hierzu Alfred Verdross / Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, Theorie und Praxis, Berlin 1976, S. 61 ff.

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die Völkergemeinschaft eingegliedert ist, weshalb auch das Recht nicht beim Staat aufhört, sondern die Staaten in ihren Beziehungen untereinander dem Recht unterworfen sind. Auf diese Weise zählte schon Aurelius Augustinus im 5. Jahrhundert zu den Kritikern einer imperialistischen Großmachtpolitik und trat für ein friedliches Nebeneinander der Staaten in der Völkergemeinschaft ein 8 . Die christliche Lehre vom Staat und der internationalen Ordnung hat auch in der folgenden Zeit das Völkerrecht in bestimmten Werten fundiert 9 ; vor allem die klassische Naturrechtslehre des 16. und 17. Jahrhunderts, besonders mit Francisco de Vitoria, Francisco Suarez und Hugo Grotius, hat die Lehre von der Staatengemeinschaft im Völkerrecht wesentlich beeinflußt. So schrieb Suarez 1612: "Obgleich die Menschheit in verschiedene Völker und Königreiche gegliedert ist, so besitzt sie doch eine gewisse nicht nur physische, sondern auch eine moralische und eine politische Einheit, die sich aus dem natürlichen Gebot der Liebe und des gegenseitigen Mitleids ergibt, das sich auf alle Menschen, auch auf die Ausländer, welchen Volkes auch immer, erstreckt. Daher ist jeder Staat, mag er eine Republik oder ein Königreich sein, zwar an sich eine vollständige und eine dauernde Gemeinschaft seiner Bürger, zugleich aber in gewissem Sinne auch ein Glied jenes Universums, welches das Menschengeschlecht umfaßt lO ."

Im 20. Jahrhundert war es Alfred Verdross, der sich, anknüpfend auch an die spanische Moraltheologie und die Schule von Salamanca, um die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung bemühtell. Er erklärte: Wir ersehen, "daß die Staaten eine doppelte Rolle spielen. Sie sind einerseits Machtkomplexe, die das Völkerrecht als Mittel der Politik verwenden, um ihre eigenen Interessen und die Interessen ihrer Angehörigen zu wahren. Die Staaten sind aber zugleich Organisationsformen der Völker, also bestimmter menschlicher Gruppen, die zusammen die große Familie der Menschheit bilden. Daher ist das Völkerrecht zwar im Lichte einer historischen Betrachtung zwischenstaatliches Recht, seiner Idee nach strebt es aber darüber hinaus auf das Ziel, die Rechtsordnung der ganzen Menschheit zu werden. Eine solche Rechtsordnung setzt die Anerkennung bestimmter Werte voraus, ohne welche eine universelle Friedensordnung nicht möglich ist I2 ."

Aurelius Augustinus, De civitate Dei, XIX, c. 5 und IV, c. 15. Siehe ausführlich Al/red Verdross, Die Entstehung der christlichen Völkerrechtslehre und ihre Entfaltung durch die Päpste sowie durch das Zweite Vatikanische Konzil, in: Der Einfluß des katholischen Denkens auf das positive Recht, Bd.8 der CVSchriftenreihe Ruf und Antwort, hrsg. von Theodor Tomandl, Wien 1970, S. 9ff. 10 Francisco Sudrez, Tractatus de legibus ac Deo legislatore, 1612; siehe auch Joseph Höf!ner, Christentum und Menschenwürde, Trier 1947. 11 Beachte Al/red Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, Tübingen 1923. 12 Al/red Verdross, Aufgaben und Grenzen des Völkerrechts, Inaugurationsrede, Wien 1952, Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans 8

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Die Anerkennung der Werte des zwischenstaatlichen Lebens auf dem Boden eines universellen Völkerrechts im Dienste der Freiheit und Würde des Menschen war ein besonderes, weil ständiges Anliegen des Heiligen Stuhls. Österreichs Bundespräsident Rudolf Kirchschläger hat schon festgestellt: "Noch niemals seit dem Verlust der weltlichen Herrschaft war der Stuhl Petri in der internationalen Gemeinschaft der Staaten und Völker so gegenwärtig wie in diesen Jahrzehnten. Ein Blick in die Delegationslisten aller bedeutenden internationalen Konferenzen gibt hierfür ebenso Beweis wie die Erklärungen des Heiligen Stuhls zu fast allen brennenden Fragen unserer Zeit!3."

Diesen Weg der katholischen Kirche im Dienste der Völkergemeinschaft dokumentieren päpstliche Lehräußerungen der letzten Pontifikate besonders deutlich. 11.

Schon Papst Pius XII., dessen Pontifikat auch die Zeit des 2. Weltkrieges und die Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit mit ihren Blockbildungen umfaßte, hat sich um die Erneuerung und Entfaltung der klassischen Völkerrechtslehre bemüht 14 und in einer Vielzahl von Friedensbemühungen sowie Einzelinterventionen im Dienste der Menschenrechte zu helfen gesucht 15. Diese Bemühungen wurden im folgenden Pontifikat von Papst Johannes XXIII. im Rundschreiben Pacem in terris 1963 durch eine eigene Friedensenzyklika fortgesetzt 16 , in welcher er den Beziehungen zwischen den einzelnen politischen Gemeinschaften und der Völkergemeinschaft einen eigenen Teil gewidmet hat 17 , nachdem er in seiner Sozialenzyklika Mater et magistra schon Kelsen, Adolf Merkl und Alfred Verdross, hrsg. von Hans Klecatsky, Rene Marcic und Herbert Schambeck, 2. Bd., Wien/Salzburg 1968, S. 2186. !3 Rudolf Kirchschläger, Die Präsenz des Heiligen Stuhls in der internationalen Gemeinschaft als Faktor des Friedens, in: Die Weltfriedensbotschaften Papst Pauls VI. , eingeleitet und herausgegeben von Donato Squicciarini, Berlin 1979, S.17. 14 Dazu Alfred Verdross, Erneuerung und Entfaltung der klassischen Völkerrechtslehre durch Pius XII., in: Pius XII. zum Gedächtnis, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1977, S.613ff., und Herbert Schambeck, Der rechts- und staatsphilosophische Gehalt der Lehre PiusXII., in: PiusXII. zum Gedächtnis, S. 466f. 15 Ausführlich hierzu die nachstehend genannten Beiträge von Robert A. Graham, in: PiusXII. zum Gedächtnis. PiusXII. und seine Haltung zu den Kriegsrnächten, S.141ff., Die diplomatischen Aktionen des Heiligen Stuhls für die Juden in Ungarn im Jahre 1944, S.19lff., sowie PiusXII. und seine Zeit, S. 227ff.; beachte auch ebenda Antonio Kardinal Samore, PiusXII., mutiger Diener des Friedens, S.169ff., und die Sammlung der diesbezüglichen Lehräußerungen PiusXII., in: Utz / Groner, a.a.O., 11. Bd., S.1813 - 2192, und a.a.O., III. Bd., S. 3774 - 3909. 16 Siehe die Friedensenzyklika Pacem in terris Papst Johannes XXIII., mit einer Einführung und einem Kommentar von Arthur-Fridolin Utz, 2. Aufl., Freiburg im Breisgau 1965. 17 Beachte diesbezüglich besonders Nr. 80 - 172, welche sich mit den Beziehungen zwischen den politischen Gemeinschaften und der Völkergemeinschaft beschäftigen und pastorale Weisungen beinhalten.

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1961 einer wirtschaftlichen und sozialen Zusammenarbeit auf Weltebene das Wort geredet hatte 18 • Das 11. Vatikanische Konzil, von Papst PiusXII. als Idee bereits erfaßt 19 und von Papst Johannes XXIII. 1962 eröffnet, hat sich in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes mit der christlichen Gestaltung der internationalen Ordnung, besonders mit deren Konfliktsmöglichkeiten, dem Wesen des Friedens, dem Rüstungswettlauf sowie den Erfordernissen der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auseinandergesetzt 20 • Ein sichtbares Zeichen für die Verbundenheit des Heiligen Stuhls mit der Völkergemeinschaft setzte der das 11. Vatikanum zu Ende führende und über religiöse und weltanschauliche Grenzen hinweg stets gesprächs bereite Papst Paul VI. durch seinen am 4. Oktober 1964 erfolgten Besuch bei den Vereinten Nationen in New York wie durch seinen Beginn der päpstlichen Reisetätigkeit, verbunden mit einem vermehrten Engagement des Heiligen Stuhls in internationalen Organisationen, insbesondere bei den Spezialorganisationen der UNO. Da für Papst Paul VI. Entwicklung nur ein anderes Wort für Friede ist, widmete er 1967 dem Fortschritt der Völker in Populorum progressio eine Entwicklungsenzyklika21 und unterstützte stark die Hilfe für die Dritte Welt. Den politischen Gegensätzlichkeiten suchte er mit laufenden Friedensaufrufen und diplomatischen Aktionen verschiedener Art zu begegnen. Schon zur Tradition geworden ist die 1968 durch Papst Paul VI. erfolgte Einführung eines jährlichen Päpstlichen Weltfriedenstages zum Jahresersten, zu dem er jeweils eine einem besonderen Thema gewidmete Friedensbotschaft verkündete 22 • "Um zum Frieden zu gelangen, zum Frieden erziehen" war das letzte Thema, das Papst Paul VI. für 1979 formulierte und das gleichsam als Vermächtnis von Papst Johannes Pauill. in seiner ersten Weltfriedensbotschaft ausgeführt wurde. Papst Paul VI. hat durch seine pastorale Lehre und diplomatischen Aktionen dem Heiligen Stuhl eine zeitgemäße Grundlage für seine Bestrebungen um den Weltfrieden zwischen Staaten und Völkern sowie für die Sicherung 18 Dazu: Die Sozialenzyklika Mater et Magistra Papst Johannes XXI/I., mit Kommentar und einer Einführung von Eberhard Welty, Freiburg im Breisgau 1961, bes. Nr. 200 - 211. 19 Beachte ausführlich Giovanni Caprile, PiusXII. und das Zweite Vatikanische Konzil, in: PiusXII. zum Gedächtnis, S. 649ff. 20 Siehe 11. Hauptteil, Fünftes Kapitel, Nr. 77 - 90 von Gaudium et spes. 21 Siehe: Die Entwicklungsenzyklika Populorum progressio Papst PaulsVI., mit einem Kommentar sowie einer Einführung von Heinrich Krauss, Freiburg im Breisgau 1967. 22 Siehe dazu die mit Kommentaren verbundene Sammlung Die Weltfriedensbotschaften Papst Paul VI., eingeleitet und herausgegeben von Donato Squicciarini, Berlin 1979 und fortsetzend Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes PaullI., eingeleitet und herausgegeben von Donato Squicciarini, Berlin 1992.

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der Grundrechte des Einzelmenschen geschaffen. Die Glaubenssubstanz der katholischen Kirche, verbunden mit der Vermittlungsinstanz des Heiligen Stuhls, sind bei Papst Paul VI. besonders deutlich geworden; man merkt, daß Papst Paul VI. viele Jahre Papst Pius XII., der für ihn sehr prägend war, erlebt hat 23 • Das besondere Kennzeichen des Pontifikats Pauls VI. war sein Bemühen um den Dialog mit und in der Welt im Dienste des Friedens. Dem Dialog hat Papst Paul VI. 1964 eine eigene Enzyklika, Ecclesiam suam, gewidmet, wobei das von ihm in diesem Rundschreiben über Voraussetzungen, Fähigkeiten und Grenzen des Dialogs Ausgeführte auch für die Gespräche des Heiligen Stuhls in Fragen der Völkergemeinschaft, nämlich in der Außenpolitik24, gilt. So hat Papst Paul VI. als Eigenschaften des Dialogs die Klarheit, die Sanftmut, das Vertrauen und die Klugheit angegeben 2s • Mit den Möglichkeiten des Dialogs, den Papst Paul VI., sei es bei seinen Reisen nach Nord- und Südamerika, in das Heilige Land und nach Asien sowie bei Begegnungen im Vatikan selbst führte oder über seine Vertreter mit verschiedenen Persönlichkeiten in einzelnen Staaten führen ließ, sah der Papst stets auch die Gefahren, die durch jeden Dialog mit gegeben sind. So warnte Papst Paul VI. : "Die Kunst des Apostolates ist ein Wagnis. Die Sorge, den Brüdern näher zu kommen, darf nicht zu einer Abschwächung oder Herabminderung der Wahrheit führen. Unser Dialog darf keinen doppelseitigen Komprorniß eingehen bezüglich der Prinzipien des Denkens und HandeIns, die unser christliches Bekenntnis kennzeichnen 26 ."

Diese Grundsätze, die es in den Bemühungen um die internationale Ordnung einzusetzen gilt, hatte auch sein Nachfolger, Papst Johannes PaulI., im Auge, als er in dem so kurzen Pontifikat von nur 33 Tagen schon die Rundfunkbotschaft vom 27. August 197827 nützte, um alle Schichten der verschiedenen Völker aufzurufen, zu mehr Gerechtigkeit und Frieden in der Welt beizutragen. Dieses Anliegen drückt sich ebenfalls in der Enzyklika Papst Johannes 23 Dazu näher Herbert Schambeck, PiusXII. und der Weg der Kirche, Würzburg 1979, sowie derselbe, Populorum progressio und das Zweite Vaticanum, in: Soziale Verantwortung, Festschrift für Goetz Briefs, hrsg. von Johannes Broermann und Philipp Herder-Dorneich, Berlin 1968, S. 587ff. 24 Siehe hiezu Robert Prantner, Die auswärtige Politik der Staaten und das Interesse der Kirche, in: Kirche und Staat, Fritz Eckert zum 65. Geburtstag, hrsg. von Herber! Schambeck, Berlin 1976, S.523ff. sowie grundlegend Heribert F. Köck, Christliches Apostolat und internationale Ordnung, in: Apostolat und Familie, Festschrift für Opilio Kardinal Rossi, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. 295ff. 25 Art. 76 der Enzyklika Ecclesiam suam. 26 Papst Paul VI., Enzyklika Ecclesiam suam vom 6. August 1964 über die Kirche, ihre Erneuerung und ihre Sendung in der Welt, Luzern/München 1964, S. 35. 27 Siehe L'Osservatore Romano, deutsche Ausgabe 1978, Nr. 35 vom 1. September 1978. S. 3f.

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PaullI. Redemptor hominis vom 4. März 1979 aus28 , in der unter anderem besonders die Menschenrechte betont werden. Die Kirche, erklärte darin Papst Johannes Paulll., hat "immer gelehrt, daß es die grundlegende Verpflichtung der staatlichen Autorität ist, für das Gemeinwohl der Gesellschaft Sorge zu tragen; hiervon leiten sich ihre Grundrechte ab. Gerade wegen dieser Voraussetzungen, die der objektiven ethischen Ordnung angehören, können die Rechte der staatlichen Gewalt nicht anders verstanden werden als auf der Grundlage der Achtung der objektiven und unverletzlichen Menschenrechte. Jenes Gemeinwohl, dem die Autorität im Staate dient, ist nur dann voll verwirklicht, wenn alle Bürger ihrer Rechte sicher sind". (Nr. 17) Die Verwurzelung der Freiheit im Menschen und die Erkenntnis der Freiheit als Recht, aber auch als Pflicht, die man anderen gegenüber auf sich nimmt, war Papst Johannes Pauill. auch in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 1981 ein besonderes Anliegen; deshalb erklärte er auch die Achtung der Freiheit der Völker und Nationen zu einem wesentlichen Bestandteil des Friedens und rief zur Schaffung eines Klimas des Vertrauens und der Verantwortung zwischen den Menschen und Völkern auf29 • Soweit der Heilige Stuhl außenpolitische Initiativen ergreift und entsprechende Aktionen setzt, sind diese auf die Verantwortung der Staaten für das Gemeinwohl ihrer Völker und die Wahrung der Grundrechte gerichtet. Deren Achtung ist auch eine wesentliche Voraussetzung für die Heilsfindung durch den einzelnen Menschen. Der Heilige Stuhl sieht sich von der Sendung der katholischen Kirche her verpflichtet, an der Verwirklichung des Weltgemeinwohls und der Wahrung der Grundrechte mitzuwirken 3o . Die Kirche ist in dieser Welt und mit dieser Welt konfrontiert; ihre Aufgabe ist es, die Menschheit zu lehren, "die zeitlichen Güter so zu gebrauchen, daß sie die ewigen nicht verliert"31. In Erfüllung dieses ihres Gründungsauftrags leistet die Kirche einen Dienst an der Welt, von dem Papst Paul VI. erklärte: "Wir betrachten die Welt mit großem Verständnis. Wenn sich die Welt dem Christentum gegenüber fremd fühlt, so fühlt sich das Christentum der Welt gegenüber 28 Beachte L'Osservatore Romano, deutsche Ausgabe 1979, Nr. 12 vom 23. März 1979, Dokumentationsbeilage, Hf. 29 Siehe Nr. 5,7,8 und 10 der Weltfriedensbotschaft 1981. 30 Robert Prantner, a.a.O., S.552: "So kann also das geistige Fundament für einen Interessenbezug der Kirche zur auswärtigen Politik der Staaten in dem aus der menschlichen Vernunft erkennbaren Gemeinwohl und aus dem sittlichen Rechts- und Ordnungsbewußtsein in der Welt begründet werden ... Das Weltgemeinwohl erfährt in der Erhöhung der christlichen Heilsbotschaft als einziges außenpolitisches Interesse der Kirche Vorstellungen, deren Realisierung teils mittelbar, teils auch unmittelbar die Verkündigung des Evangeliums tangieren." 31 Papst Johannes XXIII. , Botschaft Ecclesia lumen gentium vom 11. September 1962.

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nicht fremd, unter welchem Aspekt auch immer die Welt erscheint und welche Haltung sie auch zum Christentum einnehmen mag. Daß die Welt es denn wisse: Die Vertreter und die Förderer der Religion schätzen sie und lieben sie mit höherer und unauslöschlicher Liebe 32 ."

Diese Weltverantwortung und Dialogbereitschaft der Kirche hat ihren letzten Grund in der Offenbarung selbst, die klar macht, "daß der Zweck der menschlichen Geschichte die erlösende Begegnung zwischen Gott und den Menschen in der Person und im Werk Christi ist 33 ."

In Erfüllung dieses Auftrags hat die Kirche den Weg durch die Geschichte angetreten, die Entwicklung der Welt teils begleitend, teils sich ihr konfrontierend, vor allem dann, wenn der Friede in der Welt und die Grundrechte des Einzelmenschen gefährdet waren. Die Kirche stellt sich in einer Zeit der Vielheit der Auffassungen und Überzeugungen dieser Pluralität; weder sich aufgebend, noch die anderen überwältigend, wohl aber das Gespräch zum Meinungsaustausch und Interessenausgleich führend. Auch der Atheismus wird aus diesem Bemühen nicht ausgeschlossen, was Papst Johannes XXIII. in seinen Enzykliken Mater et magistra und Pacem in terris, das 11. Vatikanische Konzil in seiner Konstitution Gaudium et spes und Papst Paul VI. in Ecclesiam suam betont haben. Wie sehr Papst Johannes Pauill. diesen Dialog offen über alle Grenzen zu führen bereit ist, hat er, beginnend mit seiner Reise nach Polen im Juni 1979, ständig deutlich gemacht. Papst Johannes PaullI. ist kein Weg zu lang und kein Ziel zu weit, keine Situation zu gefährlich sowie kein Thema zu problematisch, daß er sich nicht diesen Aufgaben gestellt hätte. Ganz deutlich zeigt sich dies in vielen Ansprachen34 , Reisen und in vielen diplomatischen Aktionen des Heiligen Stuhls im Auftrag des Heiligen Vaters. Besonders seien die erfolgreichen Vermittlungsbemühungen des Heiligen Stuhls, weiters die wirksame Mitarbeit des Heiligen Stuhls im Rahmen der europäischen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) genannt, was sich vor allem auch auf den Schutz der Grundrechte im Korb 111 bezog. Eigens seien die päpstlichen Weltfriedensbotschaften, welche beginnend mit Papst Paul VI. 1968 und fortgesetzt von Papst Johannes Pauill. bis heute jedes Jahr am 1. Jänner unter einem jeweils anderen Thema einen wichtigen Aspekt der Friedenssicherung behandelt haben, hervorgehoben. 35 32 Papst Paul V/., Ansprache gehalten am 6. Jänner 1964 in Bethlehem, L'Osservatore Romano vom 7.18. Jänner 1964. 33 Giovanni Benelli, Die Kirche und der Dialog mit der Welt, in: Kirche und Staat, S.XV. 34 Beachte L'Osservatore Romano und die regelmäßige Veröffentlichung der Ansprachen, Predigten und Botschaften des Papstes: Der Heilige Stuhl, Libreria Editrice. 35 Siehe dazu Die Weltfriedensbotschaften Papst Pauls VI., und Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Pauls 11., beide eingeleitet und herausgegeben von Donato Squicciarini.

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Der Anteil Papst Johannes PaulII. an der Beendigung der Teilung Europas durch Beendigung des Kommunismus in der Weise des Niederganges des realen Sozialismus zählt bereits zum allgemein anerkannten Teil der Zeitgeschichte. Die natürlichen Rechte der Menschen, mit denen sie geboren werden, erwiesen sich stärker als alle autoritären und totalitären Regime; gleich seinen Vorgängern hat sich Papst Johannes Paul 11. für diese Grundrechte - im wahrsten Sinne des Wortes - der Menschen sehr eingesetzt und von seiner polnischen Heimat aus, in welcher er die christliche Gewerkschaft Solidarnoc entsprechend unterstützte, gelang es Papst Johannes Paul 11., die Ordnung Europas und damit auch eines wesentlichen Teiles der Welt zu verändern. Agostino Kardinal Casaroli, enger Mitarbeiter von fünf Päpsten durch nahezu fünf Jahrzehnte, als Sekretär des Rates für die öffentlichen Angelegenheiten der Kirche der Außenminister des Papstes und als Staatssekretär dessen Regierungschef überhaupt, hat die Situation des kommunistischen Systems richtig erkannt, mit dem er sich als Experte für die vatikanische Ostpolitik lange Jahre auseinanderzusetzen hatte 36 , als er schon im April 1967 anläßlich eines Besuches mit dem damaligen Erzbischof Karol Wojtyla der alten Jagellonen Universität in ihr Gästebuch schrieb: "Vincat rationis vis sine ratione vim". (Möge die Kraft der Vernunft über die vernunftlose Gewalt siegen)37. Zu diesem Sieg der Vernunft im Dienste der Menschenrechte hat der Heilige Stuhl mit seinen Bemühungen um den Schutz der Menschenrechte um eine gemeinwohlgerechte Ordnung im Staat und in der Völkergemeinschaft entscheidend mit beigetragen. Im 111. Kapitel seiner Sozialenzyklika, Centesimus annus hat Papst Johannes Pauill. diese Entwicklung zur Wende und danach selbst dargestellt: (Nr.24) "Der Marxismus hatte versprochen, das Verlangen nach Gott aus dem Herzen des Menschen zu tilgen. Die Ergebnisse aber haben bewiesen, daß dies nicht gelingen kann, ohne dieses Herz selber zu zerrütten .... (Nr. 26) Die Krise des Marxismus beseitigt nicht die Situationen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung in der Welt; von ihnen holt sich der Marxismus seinen Zulauf, indem er sie als sein Werkzeug benutzte. Allen denen, die heute auf der Suche nach einer neuen und authentischen Theorie und Praxis der Befreiung sind, bietet die Kirche nicht nur ihre Soziallehre und überhaupt ihre Botschaft über den in Christus erlösten Menschen, sondern auch ihren konkreten Einsatz und ihre Hilfe für den Kampf gegen die Ausgrenzung und das Leiden an ....

36 Näher beachte Agostino Kardinal Casaroli, Der Heilige Stuhl und die Völkergemeinschaft, eingeleitet und herausgegeben von Herbert Schambeck, Berlin 1981 und derselbe, Glaube und Verantwortung, herausgegeben von Herbert Schambeck, Berlin 1989. 37 Agostino Kardinal Casaroli, Warum der reale Sozialismus gescheitert ist, L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 27. Juli 1990, S.ll.

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Der Heilige Stuhl und die Völkergemeinschaft

(Nr. 27) Es ist zu wünschen, daß vor allem in den Herzen jener, die für die Gerechtigkeit kämpfen, nicht Haß und Gewalt triumphieren und in allen der Geist des Friedens und der Vergebung wachse. "38

Auf diese Weise wird einmal mehr und erneut die Absicht des Heiligen Stuhls deutlich, das Mögliche zur Herbeiführung und Aufrechterhaltung des Friedens in der Staatengemeinschaft leisten zu können. In diesem Sinne ist auch das aktuelle Gespräch des Kadinalstaatssekretärs Angelo Kardinal Sodano mit Papst Johannes PaulII. über Bosnien-Herzegowina im Sommer 1992 zu verstehen, in dem dieser feststellte: " Die europäischen Staaten und die Vereinten Nationen haben die Pflicht und das Recht sich einzumischen, um jemanden zu entwaffnen, der töten will. Dies bedeutet nicht den Krieg anzuheizen, sondern ihn zu stoppen". Nach Ansicht von Kardinal Sodano ist es "eine Pflicht, die Hand des Angreifers aufzuhalten", andernfalls werde man teils zum Komplizen; er betonte, es sei eine "Unterlassungssünde zu schweigen und nicht alles Mögliche zu unternehmen - und zwar mit allen Mitteln, die die internationalen Organisationen in der Lage sind zur Verfügung zu stellen, um den Agressor gegen ein wehrloses Volk aufzuhalten".39 So zeigt sich auch aus diesem aktuellen Anlaß der Grund für das Engagement des Heiligen Stuhls in der Völkergemeinschaft; es ist die Sicherung der Freiheit und Würde der Menschen, des Friedens im inner- und zwischenstaatlichen Leben, ein Dienst am bonum commune humanitatis nicht als Selbstzweck für die Staatenorganisation, sondern vielmehr in allen der Beweis, daß der Mensch der Weg der Kirche auch in der Völkergemeinschaft ist. 40

38 39

S.l.

Papst Johannes Paul Il. , Enzyklika Centesimus annus. L 'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 14. August 1992,

40 Näher siehe Papst Johannes PauLII., Enzyklika Centesimus annus, VI. Kapitel sowie hiezu grundlegend und wegweisend Unterwegs mit den Menschen, Kommentar zur Enzyklika "Centesimus annus" von Johannes Schasching, Wien - Zürich 1991.

Was sagt Maria der Politik? Maria und die Lehre von den politischen Tugenden

I. "Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott Seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit Er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen" (GaI4, 4 - 6).

Diese Worte aus dem Galaterbrief des Heiligen Apostels Paulus stellen eine zeitliche, aber gleichzeitig heilsgeschichtliche Standortbestimmung in Gottes Weltenplan und in der Menschheitsgeschichte dar. Christi Geburt durch und aus Maria ist im Endlichen der Menschen ja auch der Beginn einer unseren Alltag mitbestimmenden Zeitrechnung. Der Hinweis auf die Zeit, den der zitierte Galaterbrief schon mit dem dritten Wort gibt, sei auch deshalb gegeben, weil wir in einer Zeit vieler Jubiläen nicht übersehen sollten, daß wir uns im vorletzten Jahrzehnt eines Jahrhunderts befinden, welches das Erbe eines ganzen Jahrtausends einzubringen hat. Gerade in der Zeit vor dem Abschluß des zweiten Jahrtausends seit der Geburt Christi durch Maria kommt es in gläubiger Sicht des Geschichtsverlaufes darauf an, die besondere Verbindung der Menschheit mit der Mutter des Herrn zu überdenken, nämlich Maria als Mutter Gottes und der Menschheit. Aus dieser Sicht ist das Gedenken Mariens eine Wegweisung, und wir sollten Papst Johannes PaullI. dankbar sein, daß er uns mit der Ausrufung eines eigenen Marianischen Jahres dazu besondere Gelegenheit gibt und uns in seiner am 25. März 1987 verkündeten Enzyklika "Redemptoris mater" eine Anleitung zum marianischen Denken vermittelt. Das Bild Mariens hat die zwei Jahrtausende zunächst abendländischer und später weltumfassender Geschichte begleitet. Marianisches Denken besitzt so eine mehrdimensionale Sicht und eine Verpflichtung auch für die Zukunft. In diesem Sinne hat Papst Johannes PaullI. in seiner Enzyklika festgestellt: "So wird die ganze Kirche durch dieses Marianische Jahr dazu aufgerufen, sich nicht nur an all das zu erinnern, was in der Vergangenheit das besondere mütterliche Mitwirken der Gottesmutter am Heilswerk Christi, des Herrn bezeugt, sondern auch ihrerseits für die Zukunft die Wege für dieses Zusammenwirken zu bereiten: Denn das Ende des zweiten christlichen Jahrtausends eröffnet zugleich einen neuen Blick auf die Zukunft." (Nr. 49).

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Was sagt Maria der Politik?

Joseph Kardinal Ratzinger hat dementsprechend festgestellt: "Das neue Marianische Jahr will nicht nur erinnern, sondern vorbereiten." 1

Maria "geht uns voraus, wie der Papst immer wieder unterstreicht. Sie deutet uns unsere Geschichtsstunde nicht durch Theorien, sondern handelnd, indem sie den Weg nach vorne weist. In diesem Handlungsgeflecht wird dann freilich auch sichtbar, wer sie ist, wer wir sind, aber doch nur dadurch, daß wir uns auf den dynamischen Sinn ihrer Gestalt einlassen ... Der Vorblick auf das Jahr 2000, auf das große Gedenken an Christi Geburt in der ,Fülle der Zeit' (GaI4, 4)",

soll "ein Advent der Geschichte und der Menschheit vorangehen. "2

Wir haben so "die Möglichkeit, in der zerfallenden und zerfließenden Zeit Grund zu finden und im Vergehen das Beständige zu wirken. "3

In dieser eschatologischen Sicht der Geschichte wird die Zeit zum Grund der Verantwortung, und wen trifft diese Verantwortung im öffentlichen Leben mehr als die Politiker, nämlich die Menschen, die verpflichtet sind, die Polis zu gestalten. Da die Politik immer mehr Einfluß auf das gesamte Leben, auch auf das private Leben, der Menschen nimmt, ist die Erkenntnis der Dimensionen politischer Verantwortung' eine Schicksalsfrage der Menschheit geworden. Verantwortung tragen verlangt Antwort geben, und Antwort geben setzt Wort- und damit Zeitverständnis voraus. Verantwortung ist in dieser Sicht ein Ausdruck ethischer Verbundenheit von Wissen und Gewissen - beides wird besonders vom Politiker erwartet.

11. Wer die Tätigkeit der Politiker betrachtet, wird sie von der sie umgebenden Staatsform, nämlich der Monarchie oder Republik oder des politischen Ordnungssystems, je nachdem, ob es demokratisch oder autoritär ist, mitgeprägt finden. Jede Zeit und in ihr jeder Staat hat den entsprechenden Politikertyp, 1 Hinführung von Joseph Kardinal Ratzinger, in: Maria - Gottes Ja zum Menschen, Papst Johannes Pauill. Enzyklika "Mutter des Erlösers", Freiburg im Breisgau 1987, S.125. 2 Ratzinger, a.a.O., S.113f. 3 Ratzinger, a.a.O., S. 115. 4 Siehe dazu Alois Mock und Herbert Schambeck (Hrsg.), Verantwortung in Staat und Gesellschaft, Wien 1977 und Bernhard Vogel (Hrsg.), Wie wir leben wollen Grundsätze einer Politik von morgen, Bonn 1986.

Was sagt Maria der Politik?

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denken wir z. B. an die Adelsgesellschaft der Monarchie mit ihrem Weg vom Schwert- zum Geburts- und schließlich Beamtenadel. An ihre Stelle ist in der heutigen demokratischen Republik die Funktionärsgesellschaft des Parteienund Verbändestaates getreten. Auf Orts-, Bezirks-, Landes- und Bundesebene tritt uns in unseren "politischen Breitegraden" der Parteifunktionär und Verbänderepräsentant organisierter Interessen entgegen. Wie sehr dieser Weg des öffentlichen Lebens mit einer ernüchternden Entmythologisierung verbunden ist, hat Johannes Schasching SJ einmal deutlich mit dem Bemerken hervorgehoben: "Starb man früher noch für Gott, Kaiser und Vaterland, so heute nicht für die Textilarbeitergewerkschaft, den Milchwirtschaftsfonds und das Glühlampenkartell ". Jede Zeit hat ihre jeweilige Rangordnung der Werte,5 daneben gibt es aber allgemeingültige Wertmaßstäbe, die den Zeitenlauf unberührt begleiten, dazu zählt für den Christen - ausgehend von der abendländischen Geschichte - der Glaube. Wer den Glauben und Maria als Gottesmutter und Glaubensspenderin mit dem Politiker in Beziehung setzen will, scheint bei oberflächlicher Betrachtung Gegensätzliches vereinbaren zu wollen. Der Glaube setzt für manche kontemplative Besinnlichkeit voraus; diese scheint der Politikertyp heute nicht zu besitzen.

Die Politiker haben heute in einem Mit- und Gegeneinander persönliche Wünsche, lokale Anliegen, berufliche Interessen und geistige Positionen, seien sie religiös, ideologisch oder weltanschaulich bedingt, zu beachten. Wie immer man die Arbeit und den durch sie geformten Typ des Politikers betrachtet, darstellt und beurteilt, er ist auch Ausdruck des Zeitgeistes und der Aufgaben des Staates. So entspricht etwa der Mehrzweckeverwendung des Staates der Mehrzweckefunktionär unserer Politikergeneration. Er steht in gleicher Weise im Dienste des Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsstaates, der alle diese Ziele als Rechtsstaat erreichen soll. In einem Gemeinwesen mit demokratischer, nämlich parlamentarischer Staatswillensbildung ist der Politiker sowohl für die Bestimmung der Rechtsziele wie für die Nutzung der Rechtswege zuständig. Er kann durch sein Engagement im öffentlichen Leben, das der parlamentarischen Entscheidung jeweils vorausgeht, die allgemeine Meinungs-, Urteils- und Willensbildung mitbeeinflussen. Da jeder Politiker selbst Bürger seines Staates ist, erlebt er in seiner eigenen Person die Subjekt- und Objektrolle der Politik.

5 Siehe näher Herbert Schambeck, Ordnung und Geltung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1961, NP Bd. XI, Heft 3 - 4, S. 470ff. und derselbe, Ethik und Staat, Schriften zum öffentlichen Recht, Band 500, Berlin 1986, S.64ff., bes. S.70ff.

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Was sagt Maria der Politik?

Gleich dem Gesetz 6 , das der Politiker als Parlamentarier mitzuformen und zu besch)ießen sowie als Regierungsmitglied auszuführen hat, erfüllt er eine Repräsentations-, Integrations-, Antwort- und Sozialkorrekturfunktion. Der Politiker hat nämlich in seiner Person bestimmte politische Einstellungen zu repräsentieren, die politische Meinungsbildung zu einer staatlichen Willensbildung zu integrieren; dabei hat er auf Anliegen des Volkes, als dessen Mandatar er sein Beauftragter ist, eine Antwort zu geben, die bei dem Wohlfahrtszweck des heutigen Staates bisweilen eine Sozialkorrektur beinhaltet. Dem Inhalt seiner Tätigkeit nach umfaßt die Politikerarbeit u. a. das Zettelverteilen, das Versammlungenabhalten, das Sitzungenleiten und das Ideenhaben, das Entscheidungenfällen in gleicher Weise. Oft agiert und repräsentiert der Politiker am selben Tag; er erlebt Freud und Leid neben- und miteinander. So pflege ich den Politiker gerne mit einem Stein in der Wüste zu vergleichen, der untertags die Hitze und des Nachts die Kälte aushalten muß, ohne zu zerfallen und sich so· aufzulösen; er muß allen Temperaturschwankungen standhalten, um bestehen zu können. Julius Raab und mit ihm sein enger Mitarbeiter Fritz Eckert, beide übrigens große Marienverehrer, sagten oft und oft: "Im Leben eines Politikers ist das Hosianna und das Cruzifige dicht nebeneinander. " III.

Wer wollte leugnen, daß dieses Hosianna und das Cruzifige nicht bloß beim Politiker, der heute umjubelt und morgen verdammt wird, sondern auch bei Maria der Fall war. Auch sie hat die große Freude erlebt, die sie so großartig in ihrem Magnifikat zum Ausdruck brachte und tiefstes Leid anläßlich der Kreuzigung ihres Sohnes erfahren. Es wäre wahrlich eine Blasphemie, die Ebenen des Wirkens der Gottesmutter Maria und der Politiker gleichzusetzen; sie sind verschieden und Welten liegen dazwischen; sie haben aber eines gemeinsam, nämlich den Dienst für den Menschen, den der gläubige Politiker als am Weinberg des Herrn gegeben ansieht. In bestimmter Weise ist mit der Frage nach der Vorbildfunktion M ariens für die Politik auch die Frage nach Kirche und Welt gestellt. Die Kirche hat in den bald zweitausend Jahren ihrer Geschichte nie eine "Weltflucht" von ihren Gläubigen verlangt, vielmehr hat sie erklärt, daß Gegenstand der Glaubensverkündigung die katholische Lehre mit allen ihren Folgerungen ist, die sie, wie Papst Pius XII. in seiner Ansprache am 16. März 1946 erklärte, "für das 6 Näher Herbert Schambeck, Das Gesetz und seine Funktionen heute, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart, Festschrift für Ernst C. Hellbling zum 80. Geburtstag, Berlin 1981, S. 45ff.

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sittliche Verhalten des Menschen im persönlichen, im häuslichen und sozialen, im öffentlichen, auch politischen Leben nach sich zieht ... Die katholische Kirche wird sich nie in die vier Wände ihres Gotteshauses einschließen lassen. Die Trennung von Religion und Leben, von Kirche und Welt widerspricht dem christlichen und katholischen Denken. "7 Das II. Vatikanische Konzil, das, wie Bischof Petrus Canisius van Lierde8 deutlich nachzuweisen wußte, an 168 Stellen den Pacellipapst, der übrigens als erster Papst die Idee eines derartigen Zweiten Vatikanischen Konzils hatte 9 , zitierte, hat in seiner Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" die Beziehung von der Kirche in der Welt von heute verdeutlicht. Damit ist weder einer Verweltlichung der Kirche noch einer Verkirchlichung der Welt das Wort geredet, jeder Bereich hat seine Eigenständigkeit 10 als Schöpfung Gottes, sie sind aber nach seinem Heilsplan aufeinander bezogen; Maria kommt dabei eine besondere Mittlerschaft zwischen Kirche und Welt ebenso zu wie zwischen Gott und den Menschen. Papst Johannes PaullI. hat das in einer am 25. März 1981 in Rom gehaltenen Ansprache so ausgedrückt: "Gott ist mit Maria, dem Glied der Menschheitsfamilie, das auserwählt ist, die Mutter des Immanuel zu werden, des ,Gott mit uns'''.1 1

Mit der Erwählung eines Menschen, nämlich Maria zur Mutter Jesu Christi ist eine besondere Verbindung von Gott und Mensch im göttlichen Heilsplan begründet worden, die heute noch für immer fortdauert. In einer Zeit der Planung und Berechnung sowie der Computer und der Weltraumfahrt wird die Schöpfung immer geheimnisvoller und die eschatolgische Sicht der ersten und letzten Fragen unseres Lebens immer wichtiger. Es ist Wernher von Braun daher zuzustimmen, wenn er sagt: "Die Menschheit bedarf der Kraft des Gebetes heute mehr als jemals zuvor in der Geschichte. "

Mathematische Berechnungen und demokratische Abstimmungen scheinen für manche fälschlicherweise einsichtiger zu sein als der Glaube. Trotzdem läßt die menschliche Erfahrung im Weltenlauf, vor allem rückblickend erken7 Papst Pius XII., Aufgaben des Seelsorgers in der Gesellschaft heute, Ansprache: gehalten am 16. März 1946, in: Soziale Summe Pius' XII., hrsg. von Arthur-Fridolin Utz OP und Joseph-Fulko Groner OP, 11. Band, 2. Aufl., Freiburg 1962, Nr. 2805, S.1399. 8 Petrus Canisius Johann van Lierde, Eindrücke von Person und Wirken Pius' XII., in: PiusXII. - Friede durch Gerechtigkeit, hrsg. von Herbert Schambeck, Kevelaer 1986, S. 82. 9 Siehe näher Giovanni Caprile, PiusXII. und das Zweite Vatikanische Konzil, in: Pius XII. zum Gedächtnis, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1977, S. 649ff. 10 Beachte etwa Nr. 36 (Die richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeiten) der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes". 11 Papst Johannes Paul II. , Unter Deinem Schutz, Mariengebete und Betrachtungen, Freiburg/Basel/Wien 1983, S. 76.

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nen, daß jeden Menschen, seine Gesellschaft, den Staat und die Völkergemeinschaft eine Fügung begleitet, die es zu bedenken gilt. Wie sagte doch Jesus Christus selbst am Ölberg: "Nicht mein Wille, Dein Wille geschehe" (Lk 22, 42)

und Maria erklärte in Nazareth: "Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe wie du es gesagt hast." (Lk 1,26 - 28).

Wie für unser Leben, und zwar im privaten wie im öffentlichen, dieses "Dein Wille geschehe" verstanden und ausgeführt werden kann, hiefür gibt uns Maria in zeitloser Gültigkeit ein Beispiel, das Politiker, die für andere Verantwortung tragen, besonders in unserer Zeit nötig haben. Wer die Kunstgeschichte betrachtet, wird in vielen bedeutenden Kunstwerken Maria mit dem Jesukind am Arm dargestellt finden, umgeben von Repräsentanten der Kirche und der Politik dieser Zeit, meist Adeligen und Herrschern als andächtig Anbetende. Ich denke z. B. an die Schutzmantelmadonna von Sixt von Staufen im Münster Unserer Lieben Frau in Freiburg i. Br., die 1521 - 1524 entstanden ist und ausschnittsweise auf dem Umschlag einer Herderpublikation mit Mariengebeten und Betrachtungen Papst Johannes Paul 11. abgebildet ist. Mir sind in der heutigen Zeit keine derartigen Mariendarstellungen in der Kunst der Gegenwart bekannt, wo Volk und Politiker unserer Tage in dieser frommen Haltung Darstellung finden. Das soll aber nicht heißen, daß es diese Frömmigkeit nicht gibt; sie ist aber scheinbar nicht genügend transparent, um auch künstlerische Darstellung zu finden. Maria besitzt in der Bewältigung ihrer Lebensaufgabe im Heilsplan Gottes eine wegweisende Vorbildfunktion auch für das öffentliche Leben und damit für den Politiker. Papst Johannes Pauill. sagte es in seiner Enzyklika "Redemptoris mater": "Maria ist also im Geheimnis der Kirche gegenwärtig als Vorbild." (Nr. 44).

Maria ist mehrfach als Vorbild gegeben: Sie ist es in ihrem Glauben und in den Eigenschaften sowie Fähigkeiten der Bewältigung ihres Heilsauftrages, der auch ihr Schicksal an der Menschheitsgeschichte wurde; nämlich was sie tat und wie sie es tat. Maria hat nämlich als erste geglaubt,12 Maria ist daher eine Hilfe zum Glauben und damit zur Vertiefung der Wahrheit über die Kirche, was auch Papst Paul VI. betonte, als er am 21. November 1964 zu der vom Konzil approbierten Konstitution "Lumen gentium" sprach 13. Maria hat nicht diskutiert, gehadert, sich mit anderen auseinandergesetzt, was in der Politik meist profilneurotisch kontroversieIl erfolgt, sondern hat den Ruf des Herrn angenommen und gläubig ein Beispiel gegeben. Joseph Kardinal Ratzinger hat es veranschaulicht: 12 13

Enzyklika "Redemptoris mater", Nr. 26 und 46. AAS 56 (1964) 1015.

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"Glaube ist bei ihr wie bei Abraham ein Gott-Trauen und -Gehorchen, auch auf einem dunklen Weg. Er ist ein Sich-Fallen-Lassen, Sich-Freigeben und Sich-Überantworten an die Wahrheit, an Gott."14

Dieser Glaube hat Maria ihre Aufgabe im Heilsplan erfüllen lassen, den Weg zur Geburt Jesu Christi und hernach zu seiner Kreuzigung. Die Schwierigkeiten ihres Lebensweges bewältigte sie aus der Stärke ihres Glaubens.

IV. Wer als Politiker im öffentlichen Leben steht, hat in seinem Bereich ebenfalls mit Schwierigkeiten fertig zu werden; sie sind von anderer Art und auf anderer Ebene wie im Leben Mariens gelegen, sie sind aber auch für den Politiker von existentieller Bedeutung. Wer fest im Glauben ist, wird gestärkt manche Grenzsituation anders bewältigen als ein Ungläubiger. So hat Leopold Figl, der österreichische Politiker, der nach 1945 Bundeskanzler wurde und hernach als Außenminister am 15. Mai 1955 den österreichischen Staatsvertrag unterzeichnet hat, in den schrecklichen Jahren seiner KZ-Zeit ein besonderes Zeugnis seines Glaubens gegeben und so Mut und Kraft vermittelt; etwa als er in der österlichen Zeit von einem Mithäftling zum anderen ging, um ihm zu sagen: "Auch für dich ist Jesus Christus auferstanden". Dieser Christusglaube , verbunden mit einer großen Marienverehrung, ließ ihn die Zeiten der Verfolgung durchstehen und das neue Österreich grundlegen . Die Marienverehrung, stellt Joseph Kardinal Ratzinger fest, "sichert so dem Glauben seine volle menschliche Dimension" 15; Maria hat nämlich als Mensch in Erfüllung des Heilsplans Gottes Eigenschaften entwickelt, die vorbildlich wegweisend für jeden Sendungsauftrag und so auch für den in der Politik sind. So hatte Maria ihren Glauben mit einem großen Gottvertrauen verbunden. In diesem Sinne nahm sie auch die Botschaft des Engels an: "Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort".16 In Maria ist daher das Wort Fleisch 17 geworden. Betrachtet man die einzelnen auf Maria bezogenen Bibelstellen, so ist Maria qualifiziert durch das "Hören, Bewahren und Tun von Jesu Wort".1 8 Dabei kannte und erlebte sie auch die Grenzsituationen menschlichen Daseins wie das Nichtverstanden- und Verfolgt-werden; man denke nur an die Suche Joseph Kardinal Ratzinger, in: Maria - Gottes Ja zum Menschen, S. 116. Joseph Kardinal Ratzinger, Zur Lage des Glaubens, München/Zürich/Wien 1985, S.109. 16 Lk 1, 38. 17 Joh 1, 14. 18 Ratzinger, in: Maria - Gottes Ja zum Menschen, S.123. 14

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der Herberge, und als sie dem Sohn Gottes die Geborgenheit des Heims in Nazareth schenken wollte, mußte sie mit ihm nach Ägypten fliehen. Übersehen wir aber auch nicht, daß sie später selbst von Jesus Christus Fragen, ja Enttäuschungen erlebte, etwa als sie ihn nach dreitägigem Suchen im Tempel fand und seine Antwort nicht verstand 19 und ihr Hilfeersuchen an ihn bei der Hochzeit von Kana abgewiesen zu werden schien. 20 Als sie dann noch eine Frau selig pries, schien Jesus dieses Wort auf die Jünger hin abzulenken. 21 Franz Hengsbach ist daher zuzustimmen, als er dazu schrieb: "Der Glaube Mariens war bis hin zum Kreuz ein Glaube in der Prüfung. Immer wieder ging er dem Verstehen voraus. Und auch wir werden nur dann verstehen, wenn wir zuerst glauben ... Der Glaube Mariens steht also unserer eigenen Situation sehr nahe. "22

v. Wer hat in der Politik solche Situationen des Nichtverstandenwerdens im öffentlichen Leben, sogar von Nahestehenden, nicht schon erlebt? Maria gibt ein Beispiel für ihre Bewältigung. Beim Politiker können sie in der erlebten Agression, Ablehnung und Abwahl liegen. Dies verlangt dann das Annehmen und Verkraften einer überraschenden, nicht gewollten Situation. In der Demokratie zwingt dies zum Akzeptieren von Entscheidungen. Auch das läßt die Demokratie als ein politisches Ordnungssystem des Dialogs erleben, das Hinhören voraussetzt und Verstehen verlangt. Maria zeigt uns die Dimension des Gehorsams; in der heutigen Zeit der vielfachen Proteste wäre dies so wichtig, von Politikern und Bürgern erkannt zu werden. Franz Hengsbach hat es in seinem Buch "Warum Maria" betont: "Gegen den Gehorsam gibt es so viel Protest wie gegen keine andere Tugend. Gehorsam, so sagt man, macht unmündig, hemme die Entfaltung des eigenen Ich. Trifft nicht genau das Gegenteil zu? Wer nur auf sich selber hört, der wächst nie über sich selbst hinaus. Der wird zum Gefangenen seiner eigenen Ideen, wird eingesperrt in seine eigenen Grenzen. Letzter Gehorsam ist freilich keine Hörigkeit. Es geht nicht darum, äußerlich eine Anordnung zu befolgen, äußerlich eine Vorlage zu kopieren, sondern mit der innersten Kraft der Persönlichkeit im Vollzug des Gehorsams ein Wort anzunehmen und Gestalt werden zu lassen, das nicht wir selbst uns sagen können. Sagen kann es nur einer, der größer ist als wir. In allem Gehorsam muß eine Antwort liegen auf das Wort des liebenden Gottes, der in Christus für uns gehorsam geworden ist bis zum Tod am Kreuze (Phil2, 8). Darin liegt die Größe des Gehorsams."23 19 20

21 22 23

Lk 2, 50. Joh 2, 4. Mt 12, 49. Franz Hengsbach, Warum Maria?, 2. Auf!., Essen 1976, S. 23. Hengsbach, a.a.O., S. 27.

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Betrachtet man Maria in ihrer Gesamthaltung, ist sie gehorsam und dienend. Gehorsam ohne Hörigkeit und dienend ohne Unterwürfigkeit. All das sollte auch ein Politiker in Erfüllung seines Verfassungsauftrages im Dienste am Volk sein. Bei Lukas 1, 46 - 55 können wir diese Haltung Mariens, die Freud und Leid in gleicher Weise umfaßt, in ihrem Magnifikat erleben: Maria war zu ihrer Base Elisabeth gegangen, die sich im sechsten Monat der Schwangerschaft befand. Maria, die selbst in Erwartung war, nahm eine längere Wanderung auf sich, ungefähr vier bis fünf Tage. In dieser Zeit scheint jenes Magnifikat bei ihr innerlich ausgereift zu sein, das übrigens unter starkem Einfluß der Psalmen stand,24 In diesem Magnifikat spricht Maria von ihrer Niedrigkeit als Magd, auf die der Herr schaut, was ihre Demut einmal mehr dokumentiert, gleichzeitig preist ihre Seele die Größe des Herrn, und ihr Geist jubelt über Gott, ihren Retter. Die Freude verbindet sie also mit einem Bekenntnis. Wie wenigen Politikern gelingt es doch in Zeiten von besonderen Erfolgen und Höhepunkten des Lebens diese Bescheidenheit und Bodenständigkeit zu bewahren. Maria nutzt ihr Magnifikat gleichzeitig zu einem Bekenntnis der Größe und des Wollens des Herrn. "Er zerstreut die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und läßt die Reichen leer ausgehen."

Maria verdeutlicht die Relativität der Macht und ruft zur Bescheidenheit sowie zur Nächstenliebe auf Daraus für die Politik zu lernen, verlangt die Betonung des Realismus und des Sozialengagements im öffentlichen Leben. Eine Sozialhilfe, die sich nicht in gönnerhafter Gabenverteilung erschöpft, sondern sich als Ausdruck der verständnisvollen, tätigen Nächstenliebe erweist; d. h. die im sozialen Rechtsstaat der Gegenwart Legalität mit Humanität zu vereinen versteht und damit nicht nur das menschliche Leben in seiner Existenz sichert, sondern auch die Sinnhaftigkeit dieses Lebens zu vermitteln versteht. Das Magnifikat ist auch Ausdruck der Glaubwürdigkeit, weil Maria das ausdrückt, was sie ja selbst erlebt hat, und genauso soll auch das Bekenntnis des Politikers stets Ausdruck des persönlichen Erlebens und der Eigenerfahrung sein; er soll nicht vorreden, sondern vorleben! In diesem Dienst am Nächsten ist Maria stets für die stille Hilfe eingetreten. Papst Johannes Paul H. hat dementsprechend während seiner Mexikoreise in seinem Gebet in Guadalupe am 27. Jänner 1979 gesagt: 24 Siehe z. B. Psalm 58, 31; 33, 4 im Buche des Propheten Habakuk 3, 18; Psalm 94, 1; Buch der Könige 1, 11; Psalm30, 8; Buch der Sprichwörter 11, 1/12; Psalm70, 19; Psalm 110,9; Psalm 102,17; Psalm 88, 11; Sirach 10,14 und Psalm 146,6.

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"Mutter der Barmherzigkeit, die Du uns das stille, verborgene Opfer lehrst" .25

Es sei zugegeben, daß ein Politiker, der auf die Zustimmung und Wahl der Massen angewiesen ist, sich in seiner Wirkung und seiner Propaganda auf diese Massen einstellen sollte, denn diese sollen ihn ja wählen und ihn damit zu und in seiner politischen Funktion legitimieren. Diese Öffentlichkeitsbezogenheit des Politikers in der Massengesellschaft der Demokratie pluralistischer Prägung darf aber nicht übersehen lassen, daß persönliche Glaubwürdigkeit und Menschlichkeit im Handeln des Politikers vor allem darin liegt, was er im Stillen und auch im Kleinen für den Mitmenschen im Sinne des Satzes des Herrn leistet: "Was Du dem geringsten Deiner Brüder getan hast, das hast Du mir getan".26

Dieses Tun für den Nächsten ist Maria so am Herzen gelegen, daß sie sogar ihren Sohn Jesus Christus einmal, es war bei der Hochzeit von Kana, zu diesem Dienst der Hilfe am Nächsten still mahnte. Bei Johannes2, 1 - 12 lesen wir, als bei der Hochzeit zu Kana, an der Jesus mit seiner Mutter und seinen Jüngern teilnahm, der Wein ausging, sagte die Mutter zu Jesus: "Sie haben keinen Wein mehr". Jesus erwiderte ihr: "Was willst Du von mir? Meine Stunde ist noch nicht gekommen." Seine Mutter sagte zu den Dienern: "Was er euch sagt, das tut" ... Jesus sagte zu den Dienern: "Füllt die Krüge mit Wasser". Diese bekannte Geschichte der Hochzeit von Kana zeigt, daß Maria das hatte, was jeder Politiker sein eigen nennen sollte, sie hatte, wie Carlo M. Kardinal Martini kürzlich in seiner Publikation "Seht die Frau - Lebenswege mit Maria" ausführte, einen "Blick für das Ganze, ... die Gesamtübersicht" und sie hat "erfaßt, was da im Grunde vorgeht und wo es an Wesentlichem fehlt" ,27 Diese Gesamtschau war bei Maria mit einem Sinn für das tägliche Leben und einem Sozialverständnis verbunden, auf das sie Jesus geradezu erinnernd hinführte. Diese Art, eine Grenzsituation wahrzunehmen und korrigierend Abhilfe zu schaffen, ohne zu verletzen, war sicher von Maria vorbildlich auch für Politiker in der Mehrzweckeverwendung des heutigen Staates - gelöst worden. Zwischen ihr und Jesus war nämlich auch nicht gleich das entsprechende Einverständnis gegeben, und doch ist ihr durch ihre hinführende, klärende und helfende Art das Musterbeispiel einer Konfliktvermeidung gelungen.

Papst Johannes Paul Il. , Unter Deinem Schutz, S. 50. 26 Mt 25, 31ff. 27 Carlo M. Martini, Seht die Frau - Lebenswege mit Maria, Freiburg/Basel/Wien 1987, S. 35. 25

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VI.

Diese noch in weiteren Stellen der Heiligen Schrift erkennbaren Haltungen Mariens28 sind Beweise der Selbstidentifikation mit den Sorgen und dem Leid der Menschen, denen sie mit helfendem Bewußtsein begegnet, in dem sich eine unverzagte Selbsthingabe ausdrückt. Maria hat so in einer entscheidenden Phase der Heilsgeschichte auch im Stillen ein Beispiel gegeben, das sich besonders in ihrer Teilnahme am Leidensweg ihres Sohnes dokumentiert, als ihr Wirken unter dem Kreuz Jesu Christi ihre Vollendung fand und sie zur Schmerzensmutter wurde. Während in der Politik nach außen nur der Erfolg - sei es in der persönlichen Wahl oder in der sachlichen Entscheidung - auf Dauer existenzsichernd ist, und gerade in der heutigen Zeit der Massenmedien nur das Zeitgemäße publikumswirksam scheint, ist der Weg Mariens ein umgekehrter gewesen. Der Weg Mariens von der Krippe bis zum Kreuz, diese Stationen des Weges scheinen, wie Franz Hengsbach hervorgehoben hat, "Stationen des Verlierens zu sein. Zuerst verliert Maria nur die Geborgenheit des Heimes auf der Flucht nach Ägypten, dann verliert Maria den Sohn selber - die drei Tage, da sie ihn schmerzlich in Jerusalem suchen muß -, schließlich verliert sie ihn, da sie ihn hergeben muß, für seinen Dienst an den anderen - er hat für sie keine Zeit mehr, er empfängt sie nicht, sondern weist hin auf die Jünger, die ihm Bruder, Schwester und Mutter sind. Und ganz am Ende verliert sie ihn als die Schmerzensmutter unter dem Kreuz. Sie tauscht, wie ein Kirchenvater sagt, den Sohn Gottes ein gegen den Sohn des Zebedäus, gegen Johannes. Auch nach der Auferstehung und der Himmelfahrt hat sie ihren Sohn so wenig, wie wir Jesus haben. Die Gemeinschaft mit ihm ist Gemeinschaft mit seinen Jüngern, mit der Kirche, die uns oft so schwer fällt und die im Vergleich mit ihrem Sohn auch Maria nicht selten schwer gefallen sein mag. Wer Maria verstehen will, muß den Weg ihres Verlierens verstehen. Aber gerade die Geschichte des Verlierens ist für Maria die Geschichte ihrer Vollendung. "29

In bestimmter Weise gilt diese Feststellung des Ruhrbischofs über den Weg Mariens auch für den Politiker. Wenngleich nach außen nicht erfüllte Wünsche und Pläne als Niederlagen erscheinen mögen, können sie beim einzelnen Politiker rein menschlich in seiner Persönlichkeitsstruktur zu seiner eigenen Reife und zu einer Entwicklungsphase in Staat und Gesellschaft führen, die längerfristig zu einem gemeinwohlgerechten Ergebnis beiträgt. In dieser Sicht gehört auch eine Niederlage bisweilen zur Eschatologie der Geschichte. Dies kann sich im Großen in der Entwicklung eines ganzen Volkes und eines Staates oder im Kleinen im Lebensweg eines Einzelmenschen zeigen. 28 Siehe etwa, die Magd des Herrn Lk 1,26 - 38; der Verlust Jesus im Tempel Lk2, 41 - 52. 29 Hengsbach, a.a.O., S. 6Of.

16 Schambeck

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Dabei denke ich in diesem Augenblick an meinen niederösterreichischen Politikerkollegen, den Landtagsabgeordneten Johann Wildt, den wir gestern in Seibersdorf nach einer langen schweren Krankheit im 50. Lebensjahr verabschiedet haben. Er war nicht allein erfolgreich im politischen Leben, sondern auch stark im Glauben gewesen. Er hatte eine marianische Haltung, die ihn demütig im Erfolg und tapfer im Leid sein ließ. Er mußte sich durch viele Jahre regelmäßig Operationen unterziehen, die später in immer kürzer werdenden Abständen erfolgten, was ihn - so lange es möglich war - nicht daran hinderte, seinen Aufgaben nachzugehen. Als er schon schwerst erkrankt war, überreichte ich ihm zu seinem 50. Geburtstag wenige Wochen vor seinem Ableben, eine Statue Mariens mit dem Jesukind. Er nahm diese mit einern Blick entgegen, der wie aus einer anderen Welt war und eine innige Verbundenheit mit den Dargestellten ausdrückte. Vor seinem Ableben sagte er zu seiner Familie, ihr dürft nach mir nicht weinen, denn ich bin nach meinem Tod von meinen Schmerzen erlöst und zum Herrn eingegangen. Seiner gerade heute nach seiner gestrigen Beisetzung hier an diesem Mariengnadenort zu gedenken, ist mir ein Anliegen, denn er war ein Mensch, der Maria in der Ethik seines Lebens persönlich, aber auch als Politiker, gefolgt ist; er hatte ihr Vorbild angenommen. Gerade im Zusammenhang mit Maria und der Offenbarung zeigt sich, daß sie, wie es Hans Hermann Groer kürzlich in seiner Predigtreihe zur Vorbereitung des Marianischen Jahres betonte, Teil einer" Theologie der Niedrigkeit" ist, "ein Stück Lehre der Liebe Gottes zum Niedrigen, zum Kleinen; zu dem, was die Menschen gering achten, was schwach ist, was nichts ist. Gott liebt das Kleine".3o Auch im Kleinen hat Maria ein Zeugnis als Glaubende abgegeben und wurde als Mutter Jesu Christi auch die Mutter der Kirche, ein Titel, den ihr schon Papst Paul VI. feierlich zugesprochen hat. 31 In Erfüllung ihres Auftrages im Heilsgeschehen hat Maria eine gläubige Grundentscheidung getroffen, die sie in missionarischem Bewußtsein still erfüllte. Die von Maria vorgelebte Hingabe an ihren Auftrag ohne Verzagtheit, auch in vielen Dingen des einfachen Lebens, kann sowohl Politikern in gehobener Position als auch Politikern auf Ortsebene, die sehr wichtig sind, weil sich dort die Politik in ihrer Lebensnähe zeigt, Vorbild sein. Maria ist das Musterbeispiel an Glaubwürdigkeit: "Ihr Glaube an das Wort macht sie fruchtbar, läßt sie zur Mutter des Wortes werden, das Fleisch annimmt. Im Glauben Mariens sind Vertrauen und Für-wahr-halten zwei Seiten eines und desselben."32 30 Hans Hermann Groer, Maria in der Offenbarung, Maria Roggendorf 1987, S. 24. 31 Siehe dazu, Joh 19, 26f.

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Maria läßt beide Seiten der Glaubwürdigkeit erkennen, die für jeden anderen Menschen auch gelten sollten: sie war einerseits selbst würdig für den Glauben und andererseits würdig, daß andere über sie den Weg zum Glauben finden.

In diesem Sinne sollte jeder Mensch um eine bessere Ordnung der Welt auf Erden und um die Heilserkenntnis seiner Mitmenschen bemüht sein. In diesem Zusammenhang sei auch an die Worte des Heiligen Ambrosius erinnert, die Papst Johannes Pauill. am 15.8. 1980 in Castel Gandolfo zitierte33 , nämlich: "In jedem von uns preist Maria den Herrn, in jedem jubelt der Geist Mariens zu Gott. Wenn dem F1eisch nach nur eine die Mutter Christi war, im Glauben gebären alle Seelen Christus. Jede nimmt in Wahrheit das Wort Gottes auf. "34

Auf diese Weise hat jeder Mensch und so auch der mehr im öffentlichen Leben stehende Politiker die Chance, um erneut Papst Johannes Pauill. zu zitieren, mit Maria zu sagen: "Großes hat er an mir getan. Denn was er an ihr getan hat, das hat er für uns und an uns getan. Für uns ist er Mensch geworden, an uns hat er Gnade und Wahrheit gewirkt. "35 VII. Manch einer mag sich zum Abschluß fragen, ob eine derartige Hinwendung zum Glauben auch für Politiker überhaupt notwendig ist. Beantwortend sei festgestellt, daß jeder Mensch von einem Vorbild als einer glaubwürdigen Wegweisung nur lernen kann. Maria ist ein solches Vorbild der Wegweisung; sie ist "ein Mensch, an dem sich Gottes und des Menschen Größe ablesen läßt".36 Franz Hengsbach hat es so ausgedrückt: "Worauf es ankommt, ist die Erkenntnis der wahren Armut und der wahren Größe des Menschen. Der Mensch muß wieder mit dazugewinnen, ein Geschöpf zu sein, das den Sinn, das Maß und die Macht seines Daseins nicht sich selbst verdankt, sondern dem Schöpfer."3?

Aus diesem Grund, und das gilt für alle Menschen und damit besonders auch für den Politiker, sollte jeder Mensch ein demütiger und dienender Mensch sein; demütig seine eigenen Grenzen erkennend und dienend sich einem Höheren verpflichtet wissend. Jeder Mensch hat die Freiheit, diese Möglichkeit der Entscheidung zu treffen, auch der Politiker; ihn trifft eine Hengsbach, a.a.O., S. 54. Johannes Paulli., Unter Deinem Schutz, S. 82. 34 Exp. ev. sec. Lucam 11,26. 35 Johannes Paul II., Unter Deinem Schutz, S. 82. 36 Hengsbach, a.a.O., S. 10. 3? Hengsbach, a.a.O., S. 13. 32 33

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besondere Verantwortung, in deren Erfüllung er wegweisendes Vorbild für andere sein soll. In einer Zeit, in welcher mit der Mehrzweckeverwendung des Staates und damit der Vielzahl der Politikeraufgaben die materielle Inanspruchnahme der Politik zugenommen und deren ethischer Gehalt 38 abgenommen hat, kann die Besinnung auf Maria über den religiösen Bereich hinaus zu einem Neubeginn an ethischem Gehalt in der Politik und so zu einer neuen Form politischer Kultur führen. In welchem Spannungsfeld sich die Politik bisweilen zu befinden scheint, hat schon der evangelische Theologe Walter Künneth verdeutlicht, als er sein 1954 erschienenes Buch über eine christliche Ethik des Politischen mit den Worten betitelte: "Politik zwischen Dämon und Gott". Die Möglichkeit dieser Alternativsituation gilt es auch heute zu bedenken, und dies nicht bloß allgemein, sondern von jedem einzelnen Menschen auch im öffentlichen Leben. Es ist nämlich, und das wollte ich mit meinen Ausführungen verdeutlichen, etwas mehr an Ethik auch im öffentlichen Leben durch einen Politiker verwirklich bar , als man gemeinhin annimmt. Man kann erfolgreich sein und anständig bleiben. Man kann Berufungen in Positionen erhalten, ohne eingebildet zu werden. Man kann Macht erhalten, ohne ihren Versuchungen zu erliegen. Man kann Geld verdienen, ohne ein Materialist zu werden. Man kann Einfluß erhalten, ohne ihn zu bloßen Eigenzwecken und gemeinwohlwidrig zu mißbrauchen. Man kann sich um all das bemühen, ohne sich als ein Ausbund an Tugend und Tüchtigkeit zu präsentieren und andere abzustoßen. 39 Man kann nämlich auch das Vollkommene und die Glaubensüberzeugung nicht erzwingen; wer dies versuchen wollte, wird selbst unmenschlich und unglaubwürdig. Das Vorbild Mariens führt in dieser Sicht in gleicher Weise zu Persänlichkeitsentfaltung und Glaubensfindung. Dies kann auch in einer Zeit so vieler Gegensätzlichkeiten und so vielen Unfriedens im Zwischenstaatlichen und Zwischenmenschlichen zu einer Befriedung führen. Die zu beachtenden Beispiele am Weg zu dieser Friedensstiftung hat die Heilige Schrift deutlich angegeben. Hans Urs von Balthasar hat in seiner Schrift "Maria heute" hervorgehoben: "Die Waffenrüstung Gottes, die Paulus ausführlich beschreibt (Eph 6, 13 - 18), legt nur deutlicher dar, womit Christen sich wehren: Wahrheit, Gerechtigkeit, Bereitschaft, die Frohbotschaft zu künden, Glaube, Heilszuversicht, geistiges Schwert des Wortes Gottes, ständiges Gebet. Lauter göttliche, keinerlei irdische Waffen, Siehe näher Herbert Schambeck, Ethik und Staat, Berlin 1986. So auch Al/red A. Häsler, in seiner Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Schrift Friedrich Traugott Wahlen, Politik aus Verantwortung, Reden und Aufsätze, Basel 1974, S. 10. 38

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Trugschlüsse werden zerstört nicht fremde Länder und Kulturen erobert und gewaltsam christianisiert". 40

Die Kirche hat auch im Verhältnis von Kirche und Staat41 ihre Entwicklung durchgemacht und nimmt keine weltliche Macht zur Herbeiführung des Glaubensbekenntnisses in Anspruch. Maria gibt auch hiefür ein Beispiel. Ihr Mittel der Hinführung zum Glauben und zur Kirche war nicht Machteinsatz und Gewaltanwendung, sondern das Beispiel, das sie gegeben hat - und es sei betont, das Beispiel, wie Maria still gekommen, still ihre Aufgabe erfüllt hat und still wieder gegangen ist; so still, daß die Heilige Schrift leider nichts über den Zeitpunkt und den Ort ihres Heimganges ausgesagt hat. Darauf käme es auch bei einem Politiker an, daß er nämlich ohne überflüssige Herausstellung seiner Person still seine Aufgaben erfüllt, und wenn die Zeit seiner Funktion be endet ist, sich wieder still in das normale Leben der Mitbürger einreiht. Die letzte verbürgte Nachricht, die wir über Maria aus der Heiligen Schrift 42 haben, ist, daß sie nach der Kreuzigung und Auferstehung Christi bei den Jüngern im Abendmahlsaal weilt, als diese nach Apg 1, 14 den Heiligen Geist für die junge Kirche gemeinsam erfahren, nämlich nach dem segensreichen Wirken Mariens, von der Verkündigung der Botschaft des Engels bis zur Kreuzigung und Auferstehung des Herrn, der ihr, der trauernden Mutter, am Ostermontag zu allererst erschienen ist, hören wir also, daß sie für die von ihr mitbegründete Kirche gebetet hat. So sollte auch nach seiner Zeit der unmittelbaren Verantwortung die Haltung des nicht mehr gewählten Politikers sein, er zieht sich still zurück und begleitet seine Gemeinschaft, wenn es verlangt wird, mit Rat und Tat, sonst aber mit aufrichtigen Wünschen, aber er mischt sich nicht mehr ein. Ob dies alles einem Politiker wirklich gelingt, ist im Einzelfall eine Gnade; der gläubige Politiker sollte sich darum bemühen. Sie, die Mutter des Herrn, die für uns alle sagte: "Mir geschehe nach Deinem Wort" (Lk 1,3.8), hat uns ein Beispiel auf den Weg gegeben, der auch der unsere ist und für den die Mahnung Mariens gilt: "Alles, was er euch sagt, das tut". (Joh2, 5), und zwar, lassen Sie es mich hinzufügen, in der Kirche und in der Politik!

Hans Urs von Balthasar, Maria heute, Freiburg/BasellWien 1987, S. 18. Dazu, Kirche und Staat, Festschrift für Fritz Eckert, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1976. 42 Siehe allgemein u. a. Franz Michel Willam, Das Leben Marias der Mutter Jesu, Wien 1936. 40

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Quellenverzeichnis I. Grundsatzfragen

1. Der rechtsphilosophische und staatsrechtliche Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen. Erweiterte Fassung des am 16. November 1961 in der Österreichischen Gesellschaft für Kirchenrecht gehaltenen Vortrages, in: Im Dienste des Rechts in Kirche und Staat, Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz Amold, Wien 1963, S. 55ff. 2. Recht und Staat im Licht der Kirche, in: Herbert Schambeck, Kirche Staat - Gesellschaft, Wien 1967, S. 43ff. 3. Zur Staatsordnung, in: Bleibendes und Veränderliches in der Katholischen Soziallehre, Anton Burghardt zum Gedächtnis, hrsg. von Alfred Klose und Gerhard Merk, Berlin 1982, S. 95ff. 4. Kirche und Staat in ethischer Sicht. Schriftlicher Beitrag für die von o. Univ.-Prof. P. Dr. Dr. h. c. A. F. Utz O. P. geleitete Tagung über "Die Katholische Soziallehre und die Wirtschaftsordnung" in Fribourg, 21. - 23. März 1991. 5. Die Demokratie in der Lehre der katholischen Kirche, in: Convivium Utriusque iuris, Alexander Dordett zum 60. Geburtstag, hrsg. von Audomar Scheuermann, Rudolf Weiler und Günther Winkler, Wien 1976, S. 27ff. 6. Kirche und Demokratie. Erweiterte Fassung des vor dem Forum academicum des Südtiroler Kulturinstituts am 6. April 1972 in Bozen und am 7. April 1972 in Meran gehaltenen Vortrages, in: Kirche und Staat, Fritz Eckert zum 65. Geburtstag, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1976, S.103ff. 7. Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat . Vortrag gehalten auf der Veranstaltung der katholischen Akademikerarbeit Deutschlands anläßlich des 84. Deutschen Katholikentages am Samstag, 14. September 1974, in Mönchengladbach. 8. Die Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche. Vortrag gehalten in der Wiener Katholischen Akademie am 29. 1. 1986, in: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 5. September 1986, Nr. 36, S. 5. 9. Das staatliche Ordnungsbild in "Centesimus annus".

Quellenverzeichnis

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10. Der Einzelne in Kirche, Staat und Gesellschaft, in: Herbert Schambeck, Kirche - Staat - Gesellschaft, Wien 1967, S. 95ff. 11. Fragen der Verwirklichung

1. Die Kirche - Gottes Volk in der Welt, in: Herbert Schambeck, Kirche Staat - Gesellschaft, Wien 1967, S. 19ff.

2. Der politische Auftrag des Katholiken heute. Vortrag gehalten auf der Bundestagung der Österreichischen Gemeinschaft in Linz a. d. Donau am 22. Juli 1972, in: Die österreich ische Nation, Tagungsreferate 1972, Heft 7/8,1972, S.105ff. 3. Der rechts- und staatsphilosophische Gehalt der Lehre Pius' XII., in: Pius XII. zum Gedächtnis, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1977, S. 447ff. 4. Kirche und Staat in Österreich, in: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 12. August 1983, S. 6. 5. Die Verantwortung des Gesetzgebers und der Schutz des ungeborenen Lebens. Erweiterte und mit Anmerkungen versehene Fassung des Vortrages, den der Autor am 16.3.1981 auf dem anläßlich des 60. Geburtstages von o. Univ. Prof. Dr. Heribert Berger im Kongreßhaus in Innsbruck stattgefundenen internationalen pädiatrischen Symposion "Die Gefährdung des Kindes heute" gehalten hat, in: Arzt und Christ, 27. Jg., Heft 211981, S. 98ff. 6. "Centesimus annus" und die neue Ordnung in Europa. Vortrag gehalten am 14. Oktober 1991 im Rahmen der UNO in New York bei der von der Ständigen Mission des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen veranstalteten Tagung über "Centesimus annus", in: L'Osservatore Romano, Wochen ausgabe in deutscher Sprache vom 20. Dezember 1991, Nr. 51/52, S.7f. 7. Aspekte des Friedens. Vortrag gehalten auf dem 17. Marianischen und 10. Mariologischen Weltkongreß am 17. September 1987 in Kevelaer, in: Maria Mutter der Glaubenden, hrsg. von German Rovira, Essen 1989, S. 294ff. 8. Der Heilige Stuhl und die Völkergemeinschaft. Auszug aus der ergänzten Einleitung zu: Der Heilige Stuhl und die Völkergemeinschaft, Reden und Aufsätze von Agostino Kardinal Casaroli, eingeleitet und herausgegeben von Herbert Schambeck, Berlin 1981, S. IXff. 9. Was sagt Maria der Politik? Maria und die Lehre von den politischen Tugenden. Vortrag gehalten auf dem 17. Marianischen und 10. Mariologisehen Weltkongreß am 18. September 1987 in Kevelaer, in: L'Osservatore Romano - Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 29. Januar 1988, Nr. 5, S. 6 und in: Maria Mutter der Glaubenden, hrsg. von German Rovira, Essen 1989, S. 353ff.