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German Pages 1154 [1155] Year 2008
Handbuch der Katholischen Soziallehre Herausgegeben von Anton Rauscher
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Handbuch der Katholischen Soziallehre
Handbuch der Katholischen Soziallehre Im Auftrag der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft und der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle
herausgegeben von Anton Rauscher
in Verbindung mit Jörg Althammer Wolfgang Bergsdorf Otto Depenheuer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Wissenschaftliche Gesamtleitung: Professor Dr. Anton Rauscher Für die Förderung des Projekts gilt der Dank der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung in Essen sowie dem Freundes- und Förderkreis der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-12473-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Einführung Die Entwicklungen, die sich in den zurückliegenden Jahrzehnten auf nahezu allen Gebieten und in vielen Ländern vollzogen, haben die Lebensverhältnisse der Menschen und Völker tief greifend verändert. Wissenschaft und Technik, die wachsende Mobilität und die neuen Möglichkeiten der Kommunikation haben die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen, ebenso die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, religiösen und politischen Strukturen, nicht zuletzt die internationalen Beziehungen umgestaltet. Aber auch im Zeitalter des Internets ist der Bedarf an Information, an Transparenz und an verlässlicher Orientierung bei der Klärung der Sachverhalte und Zusammenhänge sowie bei der Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben und Probleme nicht überflüssig geworden, sondern eher noch gewachsen. Je komplexer die Lebensverhältnisse sind, desto stärker wird allenthalben das Verlangen nach überzeugenden Antworten. Man will den Dingen auf den Grund gehen. Dies ist ein Zeichen dafür, dass sich auch die Menschen heute nicht mit sinnlich erfahrbaren Tatbeständen und mit kausalen und funktionalen Abhängigkeiten zufrieden geben. Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe und Treue, Friede: Die geistig-sittlichen Werte sind nach wie vor die tragenden Fundamente des Lebens und des Zusammenlebens. In einer pluralistischen Gesellschaft, in der eine Vielfalt von Meinungen und Auffassungen besteht, bedarf die Gestaltung und Ordnung der gemeinsamen Angelegenheiten der für alle nachvollziehbaren und zustimmungsfähigen Begründungen. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass in einer Zeit, in der der christliche Glaube und die kirchliche Gebundenheit vieler Menschen in Europa, vor allem in der nachwachsenden Generation, schwächer geworden sind, dennoch die Erwartungen an die Katholische Soziallehre und ihre Orientierungskraft spürbar zugenommen haben. Das Interesse an der Sozialverkündigung der Kirche, wie sie insbesondere von den Päpsten, angefangen von Leo XIII. über Pius XII. bis zu Johannes Paul II. und Benedikt XVI., dargelegt wurde, findet weithin Beachtung. Man erhofft sich davon einen Beitrag zur Bewältigung der brennenden gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart. Nach jahrelangen Vorarbeiten hat der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden auf Drängen Papst Johannes Pauls II. das „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ erarbeitet und 2004 der Öffentlichkeit übergeben. Die deutsche Ausgabe ist zwei Jahre später erschienen. Das Dokument umfasst die Grundsätze des Denkens, die Urteilskriterien und die Richtlinien des Handelns, die es dem Christen ermöglichen, „zu einem umfassenden und solidarischen Humanismus aufzubrechen“ (Nr. 7). Es stützt sich auf die lehramtlichen Aussagen der Kirche über das christliche Menschenbild und die menschenwürdige Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensbereiche, wie sie sich mit ihren Aufgaben und Problemen seit dem 19. Jahrhundert entwickelt haben. Allerdings kann und will das Kompendium nicht die je eigenen Anstrengungen um wirklichkeitsnahe Analysen der sozialen Verhältnisse und die Suche nach konkreten Lösungsmöglichkeiten vor Ort ersetzen. Die Soziallehre ist, um ein Wort Johannes Pauls II. aufzugreifen, „Teil des Verkündigungsauftrages der Kirche“.
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Einführung
In Deutschland reichen die Anfänge der christlich-sozialen Bewegung und der katholischen Sozialwissenschaft ins 19. Jahrhundert zurück. Vor allem war es die im Zuge der Industrialisierung entstandene „soziale Frage“, die das soziale Gewissen vieler Christen wachrüttelte. Der soziale Katholizismus hat in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Zeitströmungen wesentlich dazu beigetragen, dass die Klassenspaltung der Gesellschaft allmählich überwunden wurde und eine auf Gerechtigkeit und Solidarität aufbauende Sozialordnung Gestalt annehmen konnte. Zugleich entstand eine breite christlich-soziale Literatur. Wegweisende Bedeutung kommt dem Staatslexikon der Görres-Gesellschaft zu, dessen erste Auflage in fünf Bänden in den Jahren 1889 bis 1897 erschien. Es sollte die interessierten Leser über die Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft, in Kultur und Staat informieren, die verfügbaren Erkenntnisse der Human- und Sozialwissenschaften vermitteln und in den weltanschaulich und ethisch relevanten Fragen den katholischen Standpunkt darlegen und begründen. Auch der geistig-moralische und der gesellschaftlich-kulturelle Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 war bestimmt von der Besinnung auf das christliche Menschen- und Gesellschaftsverständnis. Die Wertorientierung der Katholischen Soziallehre wurde nicht nur bei der Beratung des Grundgesetzes, sondern ebenso beim Aufbau des sozialen Rechtsstaats, der Sozialen Marktwirtschaft, der gesellschaftlichen Sicherungssysteme, der Verwaltung und des Gerichtswesens wirksam. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West zwang zur geistig-kulturellen Auseinandersetzung mit den sozialistischen Systemen und ihren Rechtfertigungsideologien. Seit Mitte der 1960er-Jahre, beschleunigt durch die Kulturrevolution von 1968, breitete sich allgemein ein Lebensgefühl des „Aufbruchs zu neuen Ufern“ aus. Die rasante wirtschaftliche Entwicklung und die sozialen Wohlstandswellen bildeten die Katalysatoren für ein Klima von Veränderung und Fortschritt, das zusehends die westdeutsche Gesellschaft erfasste. Von den Massenmedien kräftig gefördert, wuchsen die Zweifel, ob die Wahrheiten und Werte, zu denen sich das Grundgesetz als dem Fundament einer menschenwürdigen Gesellschaft bekennt, und die darauf beruhenden Denk- und Verhaltensweisen der Bürger noch zeitgemäß seien. Nicht nur die Naturwissenschaften, in denen die Halbwertzeit auch tragender neuer Erkenntnisse immer kürzer zu werden scheint, auch die Human- und Sozialwissenschaften, in Sonderheit die Medizin, und selbst die Theologie wurden von jenen Bestrebungen erfasst, die die bisherigen Einsichten in das, was man das Wesen des Menschen und der durch Menschen bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse nannte, uminterpretieren und umgestalten wollten. Die fortschrittseuphorische und kulturrevolutionäre Umbruchsituation bedeutete auch für die Katholische Soziallehre, die sich auf die Schöpfungsordnung Gottes bezieht und die an den von der menschlichen Vernunft erkennbaren Wesenseinsichten festhält, eine Herausforderung. Aus den eigenen Reihen wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht die „naturrechtlich“ begründeten Einsichten einer statischen Weltsicht entsprächen, wie sie in der Antike und im Mittelalter vorherrschte, die jedoch unvereinbar sei mit der Dynamik der modernen Entwicklung in Wissenschaft und Kultur, in Gesellschaft und Politik. Ist das „Naturrecht“ – ähnlich wie die Begriffe der vorkantischen Philosophie – im Kern nicht „ungeschichtlich“? Führt nicht die Reduktion der so vielgestaltigen Wirklichkeit auf das „Wesentliche“ dazu, dass die Geschichtlichkeit, die Veränderung des Bestehenden und die tief greifenden Wandlungsprozesse zu leicht gewichtet werden? Würden die
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Christen und die Kirche nicht besser fahren, wenn sie sich an die jeweils neuesten Wissenschaftstrends anpassen und die jeweils herrschenden Interpretationen übernehmen würden, wenn sie die Pluralität der wissenschaftstheoretischen Positionen nicht auch im sozialethischen Diskurs abbilden würden? Sollte sich die Kirche nicht jene Sicht der Wirklichkeit zu eigen machen, die in den Wissenschaften den höchsten Grad an Plausibilität beansprucht – jedenfalls solange, bis eine andere Richtung dominant geworden ist? In der katholischen Sozialwissenschaft mehrten sich die Stimmen, die die Sozialverkündigung der Kirche von Leo XIII. bis Pius XII. eher als eine Fehlentwicklung betrachteten, geboren aus der sozialen Not des kapitalistischen Zeitalters. Bei Licht besehen, gebe es gar keine katholische oder christliche Soziallehre, da das Evangelium auf das ewige Heil der Menschen hin orientiert sei und für die Gestaltung der Welt bestenfalls soziale Impulse und Motivationen biete, aber nichts darüber aussage, in welche Richtung die Gestaltung der Gesellschaft erfolgen solle. Hinzu kamen Strömungen, wie die „Politische Theologie“ und die „Theologie der Befreiung“, die in der Katholischen Soziallehre nur eine Beschwichtigungsformel erblickten und die Überwindung von Armut und Proletarität, von Unrecht und Diskriminierung von der gesellschaftlichen und politischen Revolution erwarteten. Inzwischen mehren sich jedoch die Anzeichen dafür, dass einerseits die Wissenschaften zunehmend an ethische Grenzen stoßen und bei vielen Menschen Besorgnis und Ängste statt Hoffnung und Zuversicht hervorrufen, dass andererseits – trotz allen Fortschritts und der gewaltigen Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen – die Problemsituationen auf vielen Gebieten nicht weniger geworden sind, sondern zugenommen haben. Rationalität und Technik, Forschritt und Effizienz können nicht die Menschenwürde garantieren. Bis in die Massenmedien hinein ist der Ruf nach Wertorientierung und Ethik unüberhörbar geworden. Die Vorstellung, die moderne Gesellschaft bedürfe nicht mehr der Zehn Gebote, hat sich als Illusion erwiesen. Auch kehren manche Probleme in neuem Gewand zurück, die die Wissenschaften als gelöst betrachtet und schon zu den Akten gelegt hatten. In den 1960er-Jahren hatte man gedacht, das Problem der Arbeitslosigkeit, dieses Erzübel der Industriegesellschaft, könne durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen jederzeit in Schach gehalten werden. Und wie fortschrittlich kam man sich vor, als „die Pille“ ihren Siegeszug antrat und die christliche Moral anscheinend mühelos entzauberte? Inzwischen zeichnet sich ein gravierendes demographisches Problem ab, das nicht nur die Funktionsfähigkeit des Sozialstaates, sondern auch die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens beeinträchtigt und gefährden kann. Entpuppt sich die neue Freiheit, die das Verhältnis zwischen Mann und Frau ohne die lebenslange Bindung in der Ehe prägen soll, nicht als Bumerang, wenn dabei das Vertrauen, die wechselseitige Verlässlichkeit und das Füreinander-Dasein in die Brüche gehen? Und wer hätte gedacht, dass Terror und Gewaltprobleme im neuen Jahrtausend den Menschen und den Regierenden Angst und Schrecken einjagen würden? Wohin entwickelt sich die öffentliche Moral, wenn man die skrupellosen Bereicherungen in manchen Chefetagen bedenkt? Diese kritischen Fragen ließen sich ohne Weiteres vermehren. Auch die Kirche war von diesen Entwicklungen in der Gesellschaft betroffen. Von der religiös-geistigen Aufbruchstimmung, die auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) geherrscht hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben. Über weite Teile des Kirchenvolkes und ihrer Hirten hatte sich ein resignativer Schleier gelegt. Es war Johannes Paul II., der nach seiner Wahl zum Papst (1978) die Tore aufstieß, sodass die Christen wieder Mut schöpften. Seinem rastlosen Einsatz bei allen Völkern der Welt ist
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es zu verdanken, dass die Botschaft des Evangeliums und die Sozialverkündigung der Kirche die Menschen und viele Verantwortliche in Wirtschaft und Gesellschaft, in Kultur und Politik wieder erreichte. Den menschenverachtenden Ideologien, die er in seinem Heimatland Polen am eigenen Leib erfahren hatte, setzte er die christliche Sicht des Menschen und der Gesellschaft entgegen. Er wurde nicht müde, gegen Armut und Elend, Not und Unrecht, Hass und Gewalt anzukämpfen und die Christen, alle Menschen „guten Willens“ für die Gerechtigkeit und die Solidarität zu mobilisieren. Die Wissenschaftliche Kommission bei der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle, der Wissenschaftler aus verschiedenen Wissensgebieten angehören, diskutierte im November 2001 die Lage der Katholischen Soziallehre. Professor Dr. Rudolf Morsey überraschte mit dem Hinweis auf die „neue Konjunktur“ der Lexika und Handbücher, die in jüngster Zeit auf den Markt gekommen sind oder sich in der Planung und Vorbereitung befinden. Er stellte die Frage, ob die Kommission nicht eine Neubearbeitung oder Neuauflage des Katholischen Soziallexikons ins Auge fassen sollte. Dieses Lexikon war 1964 im Auftrag der Katholischen Sozialakademie Österreichs erschienen; 1980 folgte eine zweite völlig überarbeitete Auflage. In Deutschland war das Staatslexikon der Görres-Gesellschaft in siebter Auflage in den Jahren 1985 bis 1989 herausgekommen. Seitdem sind, angefangen mit dem Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion und in Mittel- und Osteuropa sowie der im vollen Gange befindlichen Globalisierung, viele neue Problemfelder entstanden. Zwar sind vonseiten der katholischen Sozialwissenschaft und von christlichen Wissenschaftlern in den zurückliegenden Jahren zahlreiche Werke und Publikationen erschienen, bei denen jedoch die fachspezifischen Fragestellungen und Methoden dominieren, wohingegen Grundsatzfragen und die Probleme der Wertorientierung in den verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereichen nicht hinreichend reflektiert werden und zur Sprache kommen. Nach weiteren Beratungen wurde auf der Sondersitzung der Wissenschaftlichen Kommission im August 2003 einstimmig beschlossen, ein „Handbuch der Katholischen Soziallehre“ herauszubringen. Der Präsident der Görresgesellschaft, Professor Dr. Paul Mikat, der an der Sitzung teilnahm, wies auf die inhaltlichen Verbindungslinien des Handbuchs zum Staatslexikon hin, auch auf die Unterschiede. Man war sich einig, dass das Handbuch der christlichen Menschen- und Gesellschaftsauffassung verpflichtet sei, die ihrerseits in der Schöpfungsordnung und ihrer Erkennbarkeit durch die menschliche Vernunft gründe. Angesichts einer fragmentierten Welt stelle sich zwingend die Frage nach den Orientierungsmaßstäben. In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage erörtert, ob der Titel „Handbuch der Katholischen Soziallehre“ oder „Handbuch der christlichen Soziallehre“ oder „Handbuch der christlichen Sozialethik“ lauten soll. „Katholische Soziallehre“ würde die Verbindung mit der Sozialverkündigung der Kirche miteinschließen. „Christliche Soziallehre“ würde stärker die ökumenische Reichweite unterstreichen, zumal es um die Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensbereiche durch die Christen geht. „Christliche Sozialethik“ würde dem Trend entgegenkommen, den Bezug zur Kirche und zum kirchlichen Lehramt auszuklammern. Wenn als Titel „Handbuch der Katholischen Soziallehre“ bevorzugt wurde, so war dafür der Wunsch nach einem unterscheidbaren Profil und klarer Positionierung maßgebend. Dabei wurden mit Bedacht in das Handbuch auch Beiträge aufgenommen, die thematisch und methodisch in einem eher mittelbaren Bezug zur Katholischen Soziallehre stehen.
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Die Wissenschaftliche Kommission erarbeitete die großen Linien des Handbuchs. Außerdem wurde ein Herausgebergremium gebildet, für das die Professoren Dr. Jörg Althammer, Dr. Wolfgang Bergsdorf und Dr. Otto Depenheuer gewonnen werden konnten. Die wissenschaftliche Gesamtleitung lag in den Händen des Direktors der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle, Professor Dr. Anton Rauscher. Der Schwerpunkt der einzelnen Beiträge sollte bei einer wirklichkeitsnahen Analyse der jeweiligen Sachbereiche, bei der problemorientierten Bearbeitung und der Klärung komplexer Zusammenhänge sowie bei der sozialethischen Dimension liegen, die für die Katholische Soziallehre eigentümlich ist. Letzten Endes geht es nicht nur um Information, sondern um Orientierung für das soziale Denken und Handeln. Dieses Vorgehen führt bisweilen zu schwierigen Abgrenzungsfragen. Auch die Kirche kann in sozialen Fragen nicht autoritär bestimmen, was geschehen soll. Jedoch verbürgt die Kirche jene Wahrheiten, die der Mensch mit seiner Vernunft aus der Schöpfungsordnung Gottes erkennen kann und die, weil sie „vernünftig“ sind, die Gestaltung und Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse gemäß den sittlichen Werten und Normen ermöglichen. Hier kommt die Frage des „Naturrechts“ und der naturrechtlichen Argumentation ins Spiel. Die Katholische Soziallehre geht davon aus, dass die „Natur“, also die Schöpfungswirklichkeit, intelligibel ist und dass der Mensch sie mit seiner Vernunft erkennen kann. Wenn von „Natur“ gesprochen wird, dann nicht in dem Sinne, wie sie die Naturwissenschaften verstehen; gemeint ist das „Wesen“ der Dinge, des Menschen, der sozialen Wirklichkeit, wie es Benedikt XVI. im Einklang mit der kirchlichen Tradition betont. „Wesen“ ist irgendwie verwandt mit dem Begriff „unantastbar“, der im Grundgesetz die Würde des Menschen auszeichnet. Das „Wesen“ ist das Gegenstück zum Relativismus, zu einer radikalen Beliebigkeit. Auch die Erkenntnisse der Biomedizin und der Gentechnologie verändern nicht das „Wesen“ des Menschen, aber sie erhöhen die Verantwortung des Forschers, ob die Ziele, ob die Mittel und Wege mit der Würde des Menschen vereinbar sind oder diese bedrohen. Die Orientierung am Wesen des Menschen ist die große Chance, dass sich in einer zusammenwachsenden Welt die Menschen und Völker achten und verstehen lernen. Diese Chancen gilt es zu nutzen. Auf längere Sicht kann sich ein gemeinsamer Wertekodex durchsetzen, der die Zusammenarbeit und den Frieden sichert. Bedenkt man, wie sehr der Kreis der Staaten gewachsen ist, die die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen des Jahres 1948 in der einen oder anderen Weise sich zu eigen gemacht haben, dann ist dies ein ermutigendes Zeichen in einer Welt, in der die Decke der Humanität immer noch dünn ist. Im Rückblick auf den Entstehungsprozess und nach Abschluss des Handbuchs ist vielfacher Dank zu sagen. Der Dank geht in erster Linie an die Autorinnen und Autoren, die die 81 großenteils problemorientierten Beiträge, gegliedert in 14 Kapitel, erarbeitet haben. Ebenso gilt der Dank dem Herausgebergremium und den Mitgliedern der Wissenschaftlichen Kommission für die fruchtbare Zusammenarbeit. Das Handbuch erscheint im Auftrag der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft und der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle. Herrn Professor Dr. Paul Mikat gebührt großer Dank für sein Interesse und seinen Rat, die er dem Handbuch von Anfang an zukommen ließ. Dass die wissenschaftliche Leitung und die redaktionell-organisatorische Durchführung in der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle bewältigt werden konn-
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ten, erwies sich als sehr förderlich. Besonderer Dank gebührt den Wissenschaftlichen Referenten der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle, Herrn Günter Baadte, der bis zu seinem Ausscheiden aus den Diensten der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle die Entstehung und Planung des Handbuchs sachkundig begleitete, Herrn Gerhard Steger und Frau Evelyn Völkel für ihre fachlich kompetente Mitarbeit, ebenso Herrn Wolfgang Kurek, die für die Druckfertigkeit der Beiträge und für die Register Sorge trugen. Große Verdienste erwarben sich Frau Wilma Cremer und Frau Gerda Kunert, die alle mit der Herstellung des Manuskripts verbundenen technischen Arbeiten ausführten. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag Duncker & Humblot, insbesondere mit Frau Birgit Müller, war sehr erfreulich. Alle, die an dem Handbuch mitgewirkt haben, hoffen, dass dieses Werk eine breite Resonanz finden und das Interesse an der Katholischen Soziallehre und ihrem Beitrag zu den Problemlösungen wecken möge. Der Herausgeber Anton Rauscher
Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel Das personale Fundament der Katholischen Soziallehre Das christliche Menschenbild Anton Rauscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die soziale Natur des Menschen Anton Rauscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Menschenwürde und Freiheit Paul Kirchhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Achtung der Menschenwürde in der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation Eberhard Schockenhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit als zentrales Menschenrecht Stefan Mückl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweites Kapitel Grundlinien der Katholischen Soziallehre Der soziale Lehrauftrag der Kirche Anton Losinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Entstehung und Entfaltung der modernen Katholischen Soziallehre Lothar Roos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Die Sozialenzykliken der Päpste Lothar Roos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Die Sozialprinzipien der Katholischen Soziallehre Ursula Nothelle-Wildfeuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Soziale Gerechtigkeit im Verständnis der Katholischen Soziallehre Arnd Küppers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Der politische und soziale Katholizismus Winfried Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Politische Theologie und Theologie der Befreiung Wolfgang Ockenfels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
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Moral im Diskurs. Die Relevanz der Diskursethik für die Katholische Soziallehre Hans-Joachim Höhn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Gesellschaftsethik im Utilitarismus und in den modernen Vertragstheorien Michael Schramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Exkurse Grundlinien der evangelischen Sozialethik Wilfried Härle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Die soziale Verantwortung in der Sicht der Orthodoxen Kirche Vasilios N. Makrides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Drittes Kapitel Ehe und Familie Ehe und Familie zwischen kultureller Normierung und gesellschaftlicher Bedingtheit Franz-Xaver Kaufmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Ehe und Familie in christlicher Sicht Jürgen Liminski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Das kirchliche Leitbild von Ehe und Familie und der Wandel familialer Lebenslagen Eberhard Schockenhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Normativ-rechtliche Vorgaben der Familienpolitik Paul Kirchhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Der Erziehungsauftrag der Familie Volker Ladenthin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Aufgaben und Ziele der Familienpolitik Heinz Lampert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Vereinbarkeit von Familie und Beruf Notburga Ott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
Viertes Kapitel Ethische Grundfragen des Lebens Sozialethische Fragen des Lebensschutzes Manfred Spieker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Der Umgang mit kranken, behinderten und alten Menschen Bernd Kettern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
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Menschenwürdiges Sterben und Hospizbewegung Clemens Breuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Fünftes Kapitel Schöpfung und Umwelt Anthropozentrische und ökozentrische Ethik Eberhard Schockenhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Das Konzept der Nachhaltigkeit Markus Vogt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Umweltschutz, Naturschutz, Tierschutz Markus Vogt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Sechstes Kapitel Arbeit Sinn und Bedeutung der Arbeit Elmar Nass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Arbeit und Kapital Jörg Althammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Wandel der Arbeitsgesellschaft Jörg Althammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Rechte des Arbeitnehmers Bernd Rüthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Die Verantwortung der Arbeitgeber und Gewerkschaften Bernd Rüthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Arbeitsmarktordnung Gerhard D. Kleinhenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Siebtes Kapitel Eigentum Das Eigentum und seine Formen – Philosophische Begründungen Wolfgang Kersting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Die christliche Lehre über das Eigentum Anton Rauscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Eigentums- und Wettbewerbsordnung Ulrich van Suntum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
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Inhaltsverzeichnis Achtes Kapitel Wirtschaftsordnung
Katholische Soziallehre und Soziale Marktwirtschaft Anton Rauscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Wirtschaft als gesellschaftlicher Lebensprozess Alfred Schüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Wirtschaftsordnungspolitik als zentrale Aufgabe des Staates Christian Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Sind freiheitliche und soziale Gestaltungsaufgaben Gegensätze? Christian Watrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Unternehmensethik André Habisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Freiheit und Verantwortung der Unternehmer Nils Goldschmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Betriebs- und Unternehmensverfassung Eduard Gaugler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 Gemeinwirtschaftlicher Sektor / Non-Profit-Unternehmen André Habisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 Kirche als Unternehmen Norbert Feldhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft – Triebkräfte, Chancen und Herausforderungen Alfred Schüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
Neuntes Kapitel Soziale Sicherung Persönliche Daseinsfürsorge und soziale Sicherung Richard Hauser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Soziale Sicherung im Alter Martin Werding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Soziale Sicherung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit Joachim Genosko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 Das caritative Engagement der Kirche Heinrich Pompey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
Inhaltsverzeichnis
XV
Europäische Sozialpolitik / Europäisches Sozialrecht Hans F. Zacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721
Zehntes Kapitel Politische Ordnung Staat Josef Isensee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 Zur Entwicklung des katholischen Staatsdenkens Rudolf Uertz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775 Naturrecht – Menschenrechte – Positives Recht. Der Beitrag der katholischen Kirche zur Rechtskultur in pluralistischer Gesellschaft Markus Graulich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787 Positivität des Rechts und Naturrecht im katholischen Staatsdenken Christoph Schönberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Der moderne Verfassungsstaat des Grundgesetzes Markus Heintzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813 Die Wertorientierung des Grundgesetzes Anton Rauscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845
Elftes Kapitel Demokratie Ethische Grundlagen und Formen der Demokratie Otfried Höffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861 Legitimationsprobleme der Massendemokratie Hans Vorländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871 Transformation Marianne Kneuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 Bürger- und Zivilgesellschaft Antonius Liedhegener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887 Politische Tugenden Bernhard Sutor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 899 Die Mediengesellschaft und ihre ethischen Herausforderungen Wolfgang Bergsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909 Totalitarismus, Extremismus, Radikalismus Manfred Funke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921
XVI
Inhaltsverzeichnis Zwölftes Kapitel Kirche und Staat
Kirche – Staat – Gesellschaft Otto Depenheuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
935
Religionsfreiheit und ihre Grenzen Christian Waldhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
957
Das System des Staatskirchenrechts in Deutschland Stefan Mückl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
975
Staat-Kirche-Beziehungen in Europa Stefan Mückl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
987
Dreizehntes Kapitel Internationale Ordnung Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte Ludger Kühnhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
999
Entwicklung einer Weltfriedensordnung Stefan Fröhlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1011 Bellum iustum und gerechter Friede Wolfgang Ockenfels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1021 Nation, Nationalismus, Patriotismus Jürgen Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1031 Die europäische Integration Dietmar Herz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1043 Migration Klaus J. Bade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1051 Die Herausforderung des Terrorismus Peter Waldmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1061 Kulturkonflikte, Religion und Gewalt Michael Rutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1071
Vierzehntes Kapitel Entwicklungszusammenarbeit Weltwirtschaft und Entwicklungsländer Johannes Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1085
Inhaltsverzeichnis
XVII
„Integrale Entwicklung“ und weltweite Gerechtigkeit Alexander Saberschinsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1095 Kirchliche Entwicklungszusammenarbeit und Entwicklungshilfe Michael P. Sommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1105
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1113
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1117
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1123
Abkürzungsverzeichnis a. a. O. AAS Abs. AdR AFG AGB AGEH AGG Anm. AöR APuZG ArbG ArbSchG Art. ASEM ASS Aufl. BA Bad.-Württ.Verf. BAG BAGE BAGFW BayerVerfGH BayVBl. BayVerf. BdA BDI BDKJ BetrAVG BetrVG BFH BGB BGBl BGHZ BIP BIZ BKU BMFS BMU
am angegebenen Ort Acta Apostolicae Sedis Absatz Ausschuss der Regionen Arbeitsförderungsgesetz Allgemeine Geschäftsbedingungen Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Aus Politik und Zeitgeschichte Arbeitsgericht Arbeitsschutzgesetz Artikel Asia-Europe-Meeting Acta Sanctae Sedis Auflage Bundesanstalt für Arbeit Verfassung des Landes Baden-Württemberg Bundesarbeitsgericht Bundesarbeitsgerichts-Entscheidung Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bayerische Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaates Bayern Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Bundesverband der Deutschen Industrie Bund der Deutschen Katholischen Jugend Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung Betriebsverfassungsgesetz Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Entscheidung des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bruttoinlandsprodukt Bank für internationalen Zahlungsausgleich Bund Katholischer Unternehmer Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
XX BMZ BRD BSHG BSLK BUND BVerfG BVerfGE BVerwGE BVP BvR CA c., can. CDA CDU CEP CERNA CGB CI CIC COMECE CSEL CSR CSU DBK DCE DCV DDP DDR Ders. DFG DGB DH DiCV DKP DNVP DÖV DP DRG d. V. DVBl. DVP E. EAG Ebd. EEA
Abkürzungsverzeichnis Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit Bundesrepublik Deutschland Bundessozialhilfegesetz Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichts-Entscheidungen Bundesverwaltungsgerichts-Entscheidungen Bayerische Volkspartei Aktenzeichen einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht Enzyklika Centesimus annus Canon Christlich Demokratische Arbeitnehmerschaft Christlich Demokratische Union Centrum für Europäische Politik Conférence Episcopale Régionale du Nord de l’Afrique Christlicher Gewerkschaftsbund Deutschlands Caritas International Codex Iuris Canonici Commissio Episcopatuum Communitatis Europensis Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum Corporate Social Responsibility Christlich Soziale Union Deutsche Bischofskonferenz Enzyklika Deus caritas est Deutscher Caritasverband Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Derselbe Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutscher Gewerkschaftsbund Erklärung Dignitatis humanae Diözesancaritasverband Deutsche Kommunistische Partei Deutschnationale Volkspartei Die Öffentliche Verwaltung Displaced Person Diagnose Related Groups Der Verfasser Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Volkspartei Entscheid Europäische Atomgemeinschaft Ebenda Einheitliche Europäische Akte
Abkürzungsverzeichnis EG EGKS EGV EKD EMRK EN Erw. ESS EStG ESVP ETA EU EuGH Euratom EuRH EUV EVV EWG EWGV EZB f. ff. FAZ FG FN / Fn. FR FS GASP GATT GG GRCH GS HdbStKirchR HdbStR (HStR) HDStR (HdbDStR) HeimarbG HRG Hrsg. HWP ICF IG IGO ILO IMIS IRA
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Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Evangelische Kirche in Deutschland Europäische Menschenrechtskonvention Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi Erweitert Europäische Sicherheitsstrategie Einkommensteuergesetz Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik Euskadi ta Askatasuna Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Atomgemeinschaft Europäischer Rechnungshof Vertrag über die Europäische Union Verfassungsvertrag der Europäischen Union Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäische Zentralbank folgend fortfolgend Frankfurter Allgemeine Zeitung Festgabe Fußnote Enzyklika Fides et ratio Festschrift Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik General Agreement on Tariffs and Trade Grundgesetz Europäische Grundrechtscharta Pastoralkonstitution Gaudium et spes Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Handbuch des deutschen Staatsrechts Heimarbeiterschutzgesetz Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Herausgeber Historisches Wörterbuch der Philosophie International Classification of Functioning, Disability and Health Industriegewerkschaft International Governmental Organization International Labour Organization Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien Irish Republican Army
XXII i.V. m. IWF JArbSchG JBTh JCS Jg. JöR JuS JWG JZ KAAD KAB KLB KPD KSZE KZE LDStA LE lit. LThK MAV MEW MHD MM NATO n. F. NGO NJW No. NPO NS NSDAP NSS NVwZ NWVerf. OA OECD o. J. OKW OLG OR OSZE PJZS PLO PMK PP
Abkürzungsverzeichnis in Verbindung mit Internationaler Währungsfonds Jugendarbeitsschutzgesetz Jahrbuch für Biblische Theologie Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften Jahrgang Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Schulung Jugendwohlfahrtsgesetz Juristenzeitung Katholischer Akademischer Ausländer Dienst Katholische Arbeitnehmer Bewegung Katholische Landvolkbewegung Kommunistische Partei Deutschland Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Katholische Zentralstelle für Entwicklungshilfe Martin Luther – Lateinisch-Deutsche Studienausgabe Enzyklika Laborem exercens litera Lexikon für Theologie und Kirche Mitarbeitervertretung Marx-Engels-Werke Malteser Hilfsdienst Enzyklika Mater et magistra North Atlantic Treaty Organization Neue Folge Non-Governmental Organization Neue Juristische Wochenschrift Number Non-Profit-Organisation Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei National Security Strategy Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens Organisation for Economic Co-operation and Development Ohne Jahrgang Oberkommando Wehrmacht Oberlandesgericht Osservatore Romano Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Palestine Liberation Organisation Päpstliches Missionswerk der Kinder in Deutschland Enzyklika Populorum progressio
Abkürzungsverzeichnis PT QA RAF RGG RGW RN Rn. RStGB S. SaarVerf. SächsVerf. SBZ sc. SED SGB S.J. SJZ Slg. Sp. SPD SRS SRU SS StGB StL StThE StVollzG SZ TAZ ThG ThPh TI TRE TRIPS TVG UN UNCED UNCh UNDP UNEP UNESCO UNO UrhG USPD
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Enzyklika Pacem in terris Enzyklika Quadragesimo anno Rote Armee Fraktion Die Religion in Geschichte und Gegenwart Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Enzyklika Rerum novarum Randnummer Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich Seite Verfassung des Saarlandes Verfassung des Freistaates Sachsen Sowjetische Besatzungszone scilicet Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialgesetzbuch Societatis Jesu Süddeutsche Juristenzeitung Sammlung Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Enzyklika Sollicitudo rei socialis Sachverständigenrat für Umweltfragen Enzyklika Spe salvi Strafgesetzbuch Staatslexikon Studien zur theologischen Ethik Strafvollzugsgesetz Süddeutsche Zeitung Die Tageszeitung Theologie der Gegenwart Theologie und Philosophie Tranparency International Theologische Realenzyklopädie Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights Tarifvertragsgesetz United Nations United Nations Conference on Environment and Development United Nations Charta United Nations Development Programme United Nations Environment Programme United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization Untited Nations Organization Urheberrechtsgesetz Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
XXIV Utz / Groner
VELKD VerwRspr. Vol. VR VSSR VVDStRL WA WA DB WBGU WHO WRV WTO WWF ZaöRV ZdK ZEE ZEI ZESAR ZevKR ZfA ZIAS ZParlR ZRG ZRP ZSE
Abkürzungsverzeichnis Arthur-Fridolin Utz / Joseph-Fulko Groner (Hrsg.), Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII., Freiburg (Schweiz) 1954 – 1961 Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands Verwaltungsrechtsprechung Volume Volksrepublik Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe) Weimarer Ausgabe Deutsche Bibel Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen World Health Organization Weimarer Reichsverfassung World Trade Organization World Wild Fund for Nature Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zentralkomitee der Deutschen Katholiken Zeitschrift für evangelische Ethik Zentrum für europäische Intergrationsforschung Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften
Erstes Kapitel
Das personale Fundament der Katholischen Soziallehre
Das christliche Menschenbild Von Anton Rauscher
Jede Kultur wird geprägt von dem ihr zugrunde liegenden Menschen- und Gesellschaftsverständnis, von der daraus erwachsenden Weltsicht einschließlich den Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Geschichte, nach der transzendenten Wirklichkeit und nach Gott. Auch die christliche Kultur, die in einem jahrhundertelangen Entwicklungsprozess zuerst in Europa entstanden ist und nach und nach die Völker dieses Kontinents erfasst hat, baut auf dem christlichen Menschenbild auf. Es hat sich auf die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen und Familien, auf die religiösen und kulturellen, die wirtschaftlichen und sozialen, auch die politischen Verhältnisse ausgewirkt. Dabei wechselten Phasen, in denen der christliche Glaube vital die Überzeugungen und das Zusammenleben der Menschen und Völker bestimmte, mit solchen ab, in denen das Glaubensbewusstsein und die Überzeugungskraft zu erlahmen oder in Sackgassen zu geraten schienen. Von besonderer Bedeutung für die christliche Kultur ist die Kirche, in der die Apostel und ihre Nachfolger, die Bischöfe, einerseits um den Zusammenhalt und die Einheit untereinander und andererseits um die Bodenständigkeit und das lokale Kolorit besorgt waren. Hinzukamen die Ordensgemeinschaften und die Klöster, die für die Entwicklung der verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereiche Maßstäbe setzten und zu Herzkammern christlichen Lebens wurden. Auch die christliche Kultur ist dem Auf und Ab im Lauf der so wechselvollen Geschichte der Völker in Europa unterworfen. Die großen Herausforderungen für das Christentum und die christliche Kultur waren in der Moderne der materialistische Zeitgeist, der das Aufkommen der Naturwissenschaften begleitete, der Agnostizismus bis hin zum Atheismus, die dem Christentum und der Kirche feindselig gegenüberstanden, die großen sozialen Ideologien von rechts und von links mit ihren totalitären Machtsystemen, die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert, die Europa und die Weltgemeinschaft an den Rand des Abgrunds brachten. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs fragten sich die Menschen, ob und wie das Leben überhaupt weitergehe. Es kam zu einer Besinnung auf die Wahrheiten und Werte des Humanums, die verraten worden waren. Man suchte nach tragfähigen Grundlagen für den Wiederaufbau. Die Katholische Soziallehre, die sich in der Auseinandersetzung mit der „sozialen Frage“ in einigen Ländern Europas seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte und die mit den Sozialenzykliken Rerum novarum (1891) und Quadragesimo anno (1931) ihre Geltung für die ganze Kirche erhielt, bot eine bewährte und tragfähige Orientierung. In den schlimmen Jahren des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges zwischen Ost und West setzte Pius XII. alles daran, die Erkenntnisse und Einsichten in die Wertgrundlagen des christlichen Menschenbildes zu stärken und die daraus erwachsenden Prinzipien für das Zusammenleben der Menschen und Völker wieder ins Bewusstsein zu bringen. Der naturrechtliche Kern des christlichen Menschenbildes bot die Chance, seine Inhalte und die
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Anton Rauscher
Wertorientierungen über den Kreis der Katholiken hinaus „allen Menschen guten Willens“ (Johannes XXIII. in der Enzyklika Pacem in terris, 1963) nahezubringen.
I. Die biblischen Wurzeln Für die biblischen Wurzeln des christlichen Menschenbildes ist vor allem der Schöpfungsbericht im Buch Genesis des Alten Testaments aufschlussreich.1 Dabei handelt es sich ursprünglich um Überlieferungen, die im Volk Israel lebendig waren und von Generation zu Generation weitergegeben wurden.2 Die Heilsgeschichte, von der die ganze Bibel handelt, beginnt in den Kapiteln 1 bis 11 des Buches Genesis mit der Urgeschichte. Sie erzählt die Erschaffung des Weltalls und des Menschen, den Sündenfall und seine Folgen, die wachsende Verderbtheit des Menschengeschlechts und dessen Bestrafung durch die Sintflut. Mit der Berufung und dem Bund Gottes mit Abraham (Kapitel 12) bekommt die Erzählung eine geschichtliche Dimension. Als religiöse Überzeugung des Volkes Israel, in die die Offenbarung Gottes eingegangen ist, muss der Schöpfungsbericht ernstgenommen werden. Als Bestandteil der „Heiligen Bücher“ ist er so eigengeprägt, dass er nicht mit längst versunkenen altorientalischen Mythen oder Sagen über die Entstehung der Welt und des Menschen vergleichbar ist. Der Schöpfungsbericht beginnt mit der Feststellung: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Das Alte Testament kennt keinen Götterhimmel wie die antiken Religionen, sondern nur den einen und höchsten Gott, der die Welt erschaffen hat. Gott ist nicht ein abstraktes Prinzip, er offenbart sich, er spricht mit Abraham und hört ihm zu. Als Gott dem Mose im brennenden Dornbusch erscheint und dieser ihn nach seinem Namen fragt, antwortet Gott: „Ich bin der ,Ich-bin-da‘“ (Ex 3,14). Gott schließt einen Bund mit „seinem Volk“. Der Gott der Bibel überlässt die Menschen nicht sich selber, er greift vielmehr in die Geschichte ein. Für das christliche Menschenbild ist die Frage von besonderer Bedeutung, wie das Alte Testament den Menschen sieht. Im Schöpfungsbericht bildet die Erschaffung des Menschen den krönenden Abschluss.3 Dann sprach Gott: „Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde, über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,26 – 27). Der Mensch als „Bild Gottes“ sagt etwas aus über die Sonderstellung, die er in der gesamten Schöpfung einnimmt. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass ihm die Herrschaft über alle Lebewesen zugesprochen 1 Das hebräische Wort „Genesis“ bedeutet „Im Anfang“. Mit diesen Worten beginnt der Text des Buches Genesis, des ersten von den fünf Büchern, aus denen der „Pentateuch“ besteht und die unter dem Begriff „Tora“ (Gesetz, Weisung) zusammengefasst sind. Seit dem 5. / 4. Jahrhundert v. Chr. steht der Pentateuch am Beginn des Kanons der hebräischen Bibel. Vgl. dazu die Erklärungen in: Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel, Freiburg i. Br. 1985, S. 3. 2 Auch wenn Jesus und die Apostel davon ausgehen, dass Mose (um 1250 v. Chr.) der Verfasser des Pentateuch ist (Joh 1,45; 5,45 – 47; Röm 10,5), so dürften die Bücher erst später niedergeschrieben worden sein, worauf auch die verschiedenen Überlieferungsschichten hindeuten. 3 Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung im Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg i. Br. 2006, besonders im Ersten und im Dritten Kapitel: Nr. 20 ff., Nr. 105 ff.
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wird. Diese Herrschaft des Menschen darf jedoch nicht despotisch oder gegen die Vernunft ausgeübt werden; der Mensch muss im Gegenteil die von Gott geschaffenen Güter bebauen und hüten (Gen 2,15): Güter, die der Mensch nicht geschaffen, sondern als kostbares Geschenk erhalten hat, das der Schöpfer in seine Verantwortung legt. Aber auch als „Bild Gottes“ bleibt der Mensch Geschöpf. Das, was die griechische Philosophie mit den Begriffen „Leib“ und „Seele“ zum Ausdruck bringen will, findet sich auch im Schöpfungsbericht: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen“ (Gen 2,7). Da der folgende Abschnitt vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse handelt, ist mit „Lebensatem“ das geistig-sittliche Wesen des Menschen ausgesprochen. Eindrucksvoll hat dies Michelangelo im Deckenfresko der Kapella Sixtina festgehalten. Einerseits ist der Mensch Teil der Natur, der materiellen Welt, andererseits ist der „Odem“, den Gott ihm einhaucht, also die „Seele“, das, was ihn lebendig macht, was den Menschen zum Menschen macht und ihm eine Sonderstellung in der ganzen Schöpfung sichert. Von Gott, dem Ursprung des Lebens, springt der Funke des Lebens auf Adam über, der sich seinem Schöpfer zuwendet und ihn erkennt. Das Alte Testament bezeugt, dass der Mensch, und zwar jeder einzelne, ob Mann oder Frau, sein Leben unmittelbar von Gott empfängt und nicht wie die anderen Lebewesen auf der Erde Ergebnis natürlicher Abläufe und Prozesse ist. Der Mensch ist nicht Ergebnis der Evolution, auch nicht Produkt des Zufalls; er ist auch keine Kopie oder nur Teil eines „großen Menschen“, Teil der Menschennatur. Jeder Mensch ist einmalig und auf seine Weise „Bild Gottes“. An verschiedenen Stellen im Alten Testament wird gesagt, dass Gott den Menschen bei seinem Namen gerufen hat. Das Leben des Menschen gilt, weil es von Gott kommt, als „heilig“, und nur Gott kann darüber verfügen. Der Mensch kann sich nicht heraussuchen, in welche Zeit er hineingeboren wird, in welcher Gegend er auf die Erde kommt, wer seine Eltern sind, in welchen familiären und gesellschaftlichen Verhältnissen er aufwächst, mit welchen körperlichen, seelischen sowie geistigen Anlagen und Fähigkeiten er ausgestattet ist, welche Interessen und Neigungen er hat: All das verdankt er seinem Schöpfer, der ihm auch seine Lebensspanne zumisst. Trotz dieser Vorgegebenheiten bleibt dem Menschen ein weiter Spielraum der Gestaltung seines persönlichen und sozialen Lebens. Und er muss sich Gott gegenüber für sein Denken und Handeln verantworten. Zum Menschenbild der Bibel gehört die Erzählung über den Sündenfall der Stammeltern. Als geistig-sittliches Wesen erkennt der Mensch, was „gut“ und was „böse“ ist. Er kann sich, weil er in Freiheit geschaffen ist, für oder gegen das Gute entscheiden. Das Gebot Gottes, nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, unterläuft der Teufel durch die Lüge: Wenn ihr davon esst, werdet ihr wie Gott (Gen 3,5). Es ist der Ungehorsam gegen den Schöpfer, der den Bruch des Menschen mit Gott bewirkt: Der Mensch will nicht Geschöpf sein und sein Leben von Gott empfangen, er will selbst „Schöpfer“ sein. Damit beginnt das Unheil in der Geschichte der Menschheit. Angriffe gegen das Gute verstoßen gegen Gott, der der Garant alles Guten ist. Zu dem Sündenfall gehört auch der Brudermord des Kain, der seinen Bruder Abel aus Neid und Missgunst erschlägt. Es ist ein radikaler Verstoß gegen die Ordnung Gottes: Du sollst nicht morden! Die Ordnung Gottes reicht so weit, dass selbst Kain, als er seine furchtbare Tat bedenkt und sich nicht mehr unter die Menschen traut, durch das „Kainsmal“, das Gott ihm einprägt, gegen „Rache“ geschützt wird. Das von Gott dem Menschen eingestiftete
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Gewissen drängt den Menschen, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Die Herrschaft des Bösen ist bis heute in der Geschichte der Menschheit erfahrbar. Aber Gott hat den sündigen Menschen sich nicht selbst überlassen, sondern der Welt den Retter verheißen. Bei allem sittlichen Versagen, unter dem die Menschen und Völker leiden, ist die Heilsperspektive der Bibel wesentlich, die das christliche Menschenbild zuinnerst bestimmt. Aufschlussreich ist der Schöpfungsbericht auch hinsichtlich der Erklärung der Sozialität des Menschen. Weil es nicht gut ist, dass der Mensch allein bleibt, will Gott dem Adam eine „Hilfe“ machen. Unter allen Lebewesen (Tieren), die Gott dem Menschen zuführt und denen der Mensch einen Namen gibt, fand sich keines, das ihm entsprach. Deshalb entnimmt Gott dem Menschen eine Rippe, fügt daraus die Frau und führt sie dem Adam zu. „Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen“ (Gen 2,23). Diese Erzählung ergänzt die bereits erwähnte Kernaussage: Gott schuf „den Menschen“, als „Mann und Frau“ schuf er sie. „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch“ (Gen 2,24). Auch wenn diese Aussagen über das Verhältnis von Mann und Frau nicht dazu geführt haben, dass sich im Volk Israel schon ein größeres Bewusstsein um die Einehe und um die Unauflöslichkeit der Ehe durchgesetzt hätte, so sind es doch erstaunliche Zeugnisse für eine Sicht der ehelichen Verbindung von Mann und Frau, die erst im Christentum ihre volle Gestalt erhält. Jesus greift diese Aussage auf und fügt hinzu: „Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“ (Mt 19,5 – 6). In Verbindung mit dem Schöpfungsauftrag an Mann und Frau: „Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen“ (Gen 1,28) ist der Mensch berufen, am Schöpfungswerk Gottes mitzubauen und für die Generationenfolge Mitverantwortung zu tragen. In der Verbundenheit von Mann und Frau wird in ursprünglicher Weise sichtbar, dass das Soziale eine eigene Qualität besitzt und nicht auf die Konstruktion eines Summenbegriffs noch auf eine Vertragsbasis reduziert werden kann. Die Redeweise von „einem Fleisch“ bringt unmissverständlich zum Ausdruck, wie sehr Mann und Frau eine Einheit sind, wie sehr mit der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau und dem Auftrag „seid fruchtbar“ die Geschlechtlichkeit des Menschen und die Miturheberschaft an der Generationenfolge der Menschheit vom Schöpfer intendiert und gewollt ist. In der Erfahrungswelt des Alten Testaments sind Ehe und die familiären Verwandtschaftsverhältnisse (Sippe, Stamm) die Kernzelle des gesellschaftlichen Lebens und seiner vielfältigen Netzwerke und Verzweigungen. Die Heiligen Bücher beschreiben in volkstümlicher Weise den Ursprung des Menschengeschlechts und die Grundwahrheiten, die Voraussetzungen der Heilsordnung sind. „Als sichere Glaubenswahrheiten schließen sie (nicht wort-, aber sinngetreu) Tatsachen ein, die wirklich sind, auch wenn wir deren Umrisse unter dem mythischen Gewand, das um sie entsprechend den Lebensverhältnissen und Denkweisen jener Zeit gelegt wurde, nicht näher bestimmen können.“4 4
Vgl. Neue Jerusalemer Bibel, a. a. O., S. 8.
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Während das Alte Testament darauf gerichtet war, dass der Glaube des Volkes Israel an den einen Schöpfer-Gott und den verheißenen Messias im Lauf einer höchst wechselvollen Geschichte lebendig blieb, ist das Neue Testament in Jesus Christus die Erfüllung. Das Menschenbild, wie es im Schöpfungsbericht des Buches Genesis und in den übrigen Schriften des Alten Testaments gezeichnet ist, wird im Evangelium bestätigt, in erster Linie durch die nur im Glauben fassbare Wahrheit von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. In seiner Existenz, durch seine Lehre und sein Wirken hat Jesus dieses Menschenbild und damit die Schöpfung Gottes bezeugt. Ebenso war die Botschaft Jesu darauf gerichtet, dass der Mensch seine Situation als Sünder erkennt, von seinem verkehrten Weg ablässt und mit Gott versöhnt wird. Dass die Überwindung von Sünde und Tod nicht nur ein individuelles Ereignis ist, sondern auch das, was man die „sozialen Strukturen der Sünde“ nennt, betrifft, ist für die soziale Dimension des christlichen Menschenbildes von großer Bedeutung. Es ist Aufgabe der Theologie und im Besonderen der katholischen Sozialwissenschaft, die biblischen Wurzeln des christlichen Menschenbildes immer neu zu reflektieren und sie so aufzubereiten, dass die Kirche im Dialog mit der Gesellschaft und mit den Wissenschaften diese Erkenntnisse im Wandel der Geschichte überzeugend ins Bewusstsein der Menschen und Völker rücken kann.5
II. Die Vernunfterkenntnis Ist das christliche Menschenbild, auch wenn es universalen Anspruch erhebt, nur für diejenigen von Bedeutung, die sich zur jüdisch-christlichen Offenbarungsreligion bekennen? Ist das Menschenbild, das in den „heiligen Schriften“ des Alten und des Neuen Testaments enthalten ist, nur für gläubige Juden und für Christen relevant, nicht aber für Andersgläubige oder Andersdenkende? Man kann die Frage auch so formulieren: In welchem Zusammenhang stehen die göttliche Offenbarung und die Vernunfterkenntnis des Menschen? Handelt es sich um jeweils getrennte Wirklichkeiten oder gibt es zwischen ihnen einen inneren Bezug? Einen ersten Schritt zur Klärung dieser Frage bietet die Überlegung, dass die Erfahrungs- und Begriffswelt der Bibel sozusagen nicht vom Himmel gefallen ist. Gott offenbart sich dem auserwählten Volk in der Sprache, die von den Menschen gesprochen und verstanden wird. Die Patriarchen und Propheten, an die die Offenbarung Jahwes ergeht, waren Menschen, die diese in ihrer eigenen Sprache – wenn auch auf unerklärbare und in diesem Sinne „wunderbare“ Weise – vernommen haben. Auch der Messias, der „Retter“, den das Alte Testament ankündigt und der, wie das Neue Testament es sagt, das „Reich Gottes“ den Menschen verkündet und zur Umkehr aufruft, tut dies ebenfalls in der Sprache, die im Volk Israel gesprochen und verstanden wird. Der Inhalt der Offenbarung erfolgt in Worten und Begriffen, die die Menschen vermöge ihrer Vernunft erfassen können. Dies bedeutet, dass die biblischen Wurzeln des christlichen Menschenbildes eng mit den Vernunfterkenntnissen zusammenhängen. Das Leben der Menschen war seit jeher geprägt von ihren Sinneserfahrungen und von ihren Vernunfterkenntnissen. Die Weitergabe dieser Erfahrungen und Erkenntnisse voll5 Vgl. Anton Rauscher (Hrsg.), Christliches Menschenbild und soziale Orientierung (Mönchengladbacher Gespräche, Bd. 13), Köln 1993.
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zog sich in vorgeschichtlicher Zeit durch mündliche Überlieferung von Generation zu Generation. Erst die Entwicklung der Schrift in den alten Kulturen hat es möglich gemacht, die Erfahrungen und das erworbene Wissen ohne größere Verluste festzuhalten und an die jeweils folgende Generation weiterzugeben. Es bildeten sich Anschauungen und Sichtweisen über die sichtbare und erfahrbare Natur. Schon früh bewegten die Menschen auch die Fragen nach der nicht sichtbaren Wirklichkeit. Religiöse Vorstellungen und Fragen, vor allem nach dem Sinn des Lebens, nach dem Woher und nach dem Wohin des Menschen reichen weit in vorgeschichtliche Zeiträume zurück, wovon alte Kultstätten Zeugnis geben. Es bildeten sich erste Zentren der Reflexion über die Natur, über den Menschen und über das Zusammenleben der Menschen in der Polis meist dort, wo Stammesfürsten und Könige ihre Herrschaft ausübten. Eine eigentümliche Ausprägung fand dieser Reflexionsprozess in der griechischen Philosophie, im Kult und in den freien Künsten. Die Erkenntnisse und Einsichten, wie sie Platon und Aristoteles schöpften und in ihren Schriften der Nachwelt hinterließen, sind erste Höhepunkte. Sie waren bemüht, die Wirklichkeit zu erfassen und zu erklären, und sie beeinflussten die Vorstellungswelt der Menschen und Völker im griechischrömischen Kulturraum. Es entsteht ein Bild vom Menschen, der einerseits der materiellsichtbaren Natur zugehörig ist, der andererseits, weil vernunftbegabt, diese Natur übersteigt. Die Vorstellung, dass der Mensch aus „Leib“ und „Seele“ besteht, bestimmt dieses Bild – eine Auffassung, die sich in der Geschichte bis heute durchhält, auch wenn wir inzwischen den Bauplan und die Struktur des Menschen sehr viel besser und genauer kennen. Das Leib-Seele-Verständnis des Menschen war jedoch immer wieder auch Anlass für eine dualistische Sicht und Deutung des Menschen und der Welt, als ob der Mensch von einem materiell-körperlichen und von einem geistig-seelischen Prinzip bestimmt wäre, die gegeneinander streiten. Der Schwerpunkt des antiken Menschenbildes liegt allerdings auf dem „nous“, auf der Vernunft, die den Menschen befähigt, die Natur, die Wirklichkeit zu erkennen und als sittliches Wesen zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Weil der Mensch denken und der Wahrheit auf den Grund gehen kann, überragt er alle übrige Wirklichkeit wesentlich und besitzt eine Sonderstellung in der Natur. Freilich, während Platon in der Welt nur die Schatten ewiger Ideen erblickte, gelangte Aristoteles zu der Einsicht, dass alle Vernunfterkenntnis mit der Erfahrung beginnt. Diesem Ansatz entspricht die Sicht des Menschen als „animal rationale“, als vernunftbegabtes Lebewesen. Aristoteles entdeckte auch, dass der Mensch ein „Zoon politikon“ ist, ein soziales Wesen, das in der „Stadt“ lebt, in Gemeinschaft sich entfaltet. Die griechischen Philosophen haben auch die Frage nach der jenseitigen, transzendenten Wirklichkeit, nach Gott gestellt. Die antiken Völker lebten in der Überzeugung, dass die Welt von überirdischen „Gottheiten“ begleitet werde. Die meist mythologischen Vorstellungen knüpften an Naturgewalten an, die als vom Menschen nicht beeinflussbar galten. Die alten Tempel bezeugen noch heute die religiöse Grundhaltung, die in der griechischen Kultur lebendig war. Aber kann der Mensch mit seiner Vernunft eine transzendente Wirklichkeit erkennen? Gibt es eine natürliche Gotteserkenntnis? Es waren vor allem Platon und Aristoteles, die von ihren philosophischen Ansätzen her die Grenzen des Kosmos auszuloten suchten. Die Beobachtung, dass alles auf dieser Erde und im Weltall in Bewegung und in ständiger Veränderung begriffen ist, und die Bemühungen, das, was wir „Zeit“ nennen, zu begreifen, öffnen den Blick für das Unveränderliche, für das, was Aristoteles den „unbewegten Beweger“ nennt. Gott ist vollkommen unver-
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änderlich.6 Auch wenn der griechische Götterhimmel die überirdischen Wesen in Menschengestalt erscheinen lässt, so war sich die Philosophie doch bewusst, wie wenig die menschliche Vernunft über Gott aussagen kann. Hier liegt auch der fundamentale Unterschied zwischen Offenbarung und Vernunfterkenntnis. Letztere verbleibt im AbstraktPrinzipiellen, auch wenn sie Gott als den Grund allen Seins und des Guten erfasst. Von welcher Art sind die Vernunfterkenntnisse? Wenn wir den Erkenntnisprozess reflektieren, dann stellen wir fest, dass wir Dinge und Menschen wahrnehmen, und zwar so, wie sie einzeln und konkret unseren Sinnen und unseren Erfahrungen zugänglich sind. In dem Augenblick jedoch, in dem wir das, was wir konkret sehen, hören, fühlen, in Begriffe bringen, vollzieht sich eine Abstraktion. Unsere Begriffe und die Einsichten, die wir damit erfassen, sind „allgemein“. Die Erkenntnis: „Das ist ein Mensch“ gilt nicht nur für den Menschen, der uns konkret begegnet, vielmehr bringt er das zum Ausdruck, was das Menschsein im Kern ist und ausmacht. Ohne dass wir uns in einem längeren Prozess heranarbeiten müssten, ist uns evident, dass das Wort und der Begriff „Mensch“ etwas aussagt über das, was für jeden Menschen zutrifft, was also für alle Menschen gilt, die mit uns leben, auch für diejenigen, die schon vor uns gelebt haben und die in Zukunft noch geboren werden – unabhängig von den Verschiedenheiten, ob sie groß oder klein, alt oder jung, gesund oder krank, von weißer oder schwarzer Hautfarbe, Mann oder Frau, theoretisch oder praktisch veranlagt sind. In gleicher Weise können wir Ursachen und Zusammenhänge, kausale und funktionale Abhängigkeiten erkennen. Und ebenso fragen wir, wenn wir etwas tun, etwas bewegen wollen, wenn wir vor Entscheidungen stehen: welchen Zweck, welches Ziel wir erreichen wollen, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen dies geschehen soll. Und so, wie die Sprache uns befähigt, überhaupt miteinander zu kommunizieren, ist dies nur möglich, wenn alle Menschen, auch wenn die Worte verschieden sind, damit jeweils dieselben Begriffe und dieselben Inhalte verbinden und keine babylonische Sprachverwirrung dafür sorgt, dass wir ständig aneinander vorbeireden. Auch die Wissenschaftler müssen sich um eine verständliche Sprache bemühen, wenn sie ihre Erkenntnisse mitteilen wollen. Es ist hier nicht der Ort, auf die metaphysischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und Grundlagen näher einzugehen, die auf dem Höhepunkt der griechischen und römischen Philosophie entwickelt wurden und die auch die Denkweisen vieler christlicher Philosophen und Theologen, vor allem in der mittelalterlichen Scholastik, befruchtet haben. Unabdingbar sind jedoch zwei Voraussetzungen, ohne die eine Vernunfterkenntnis gar nicht möglich wäre. Die erste Voraussetzung ist, dass die Wirklichkeit, und zwar die sichtbare und die nicht sichtbare, „erkennbar“ ist, dass also das Sein intelligibel ist. Die zweite Voraussetzung ist, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt zu erkennen. Nur wenn er Vernunft besitzt, die die Wirklichkeit erkennen und erfassen kann, nur dann kommt der Erkenntnisprozess zustande. Auch das christliche Menschenbild ist darauf angewiesen, dass diese beiden Voraussetzungen gegeben sind, dass also die Wirklichkeit erkennbar ist und dass sie vom Menschen mit Hilfe seiner Vernunft erkannt werden kann. Die Erkenntnis der Wirklichkeit ist allerdings meist ein mühsamer Prozess, weil nur wenige fundamentale Wahrheiten dem Menschen unmittelbar einleuchten und evident 6 Vgl. dazu Leo J. Elders, Die Naturphilosophie des Thomas von Aquin (Schriftenreihe der Gustav-Siewerth-Akademie, Bd. 17), Weilheim-Bierbronnen 2004, S. 96 ff.
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sind. Nicht umsonst befinden sich die Naturwissenschaften und ebenso die Human- und Sozialwissenschaften auf den Wegen des „trial and error“. Selbst wenn nach vielen Diskussionen der verschiedenen Aspekte und Auffassungen und nach langen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen die dann vorliegenden Erkenntnisse als „gesichert“ gelten, kann man nie darauf bauen, dass auch diese Erkenntnisse nicht wieder falsifiziert oder korrigiert werden müssen, weil neue Tatbestände und Zusammenhänge entdeckt werden. Ähnliche Prozesse der Wahrheitssuche und der -findung spielen sich auch in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen ab. Die Vernunft drängt den Menschen, sich niemals mit den erreichten Erkenntnissen und Einsichten zufrieden zu geben und zu meinen, jetzt sei alles durchschaut. So gewaltig auch die Wissensfülle ist, über die heute die Wissenschaften und die Menschheit verfügen, so ist zugleich die Einsicht gewachsen, wie groß die noch nicht erkannte Wirklichkeit ist. Dies gilt für die „natürlichen“ Phänomene und für die Erforschung ihrer Ursachen, Abhängigkeiten und Zusammenhänge, dies gilt nicht weniger für die Human- und Sozialwissenschaften. Ständig stoßen die Wissenschaftler auf neue noch nicht bekannte Tatbestände, die die bisher als „gesichert“ geltenden Erkenntnisse modifizieren, erweitern oder gar in einem ganz neuen Licht erscheinen lassen. Die interdisziplinäre Forschung, die in der christlichen Tradition unter dem Mantel von Philosophie und Theologie eine beachtliche Rolle spielte, ist heute nötiger denn je.
III. Zur Entwicklung des naturrechtlichen Denkens Im Hinblick auf das christliche Menschenbild spitzt sich die Frage darauf zu, ob wir die „Natur“ der Dinge und das „Wesen“ des Menschen erkennen und erfassen können. Für die Philosophen in der Antike und für die christlichen Theologen stand diese Fragestellung mit im Zentrum ihres Interesses, wenngleich es zu allen Zeiten immer auch Skeptiker und Agnostiker gegeben hat. In der Moderne haben das empirische und zweckrationale Denken und die Konzentration auf die Innerweltlichkeit dazu geführt, dass die metaphysische Fragestellung mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt und als „unwissenschaftlich“ abgetan wurde. Dabei kommt es zu einer merkwürdigen Bewusstseinsspaltung. Während viele Wissenschaftler geneigt sind, schon die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht mehr zu stellen, ist es für die meisten Menschen nach wie vor selbstverständlich, nach dem Wesen der Dinge und des Menschen zu suchen und der Wahrheit, wenn irgendwie möglich, auf den Grund zu gehen. Je mehr die Wirklichkeit in ihrer Komplexität gesehen wird, um so stärker wächst das Verlangen, die Frage nach dem Wesen der Dinge in neuer Weise zu stellen. Die Liebe zur Wahrhaftigkeit kann die Suche nach der Wahrheit nicht ersetzen. Denkverbote, wie sie im Hinblick auf metaphysische Fragestellungen heute geltend gemacht werden, sollten im Interesse der Wissenschaften selbst wieder überwunden werden. Man kann Wahrheitsfragen nicht einfach als „erledigt“ oder als veraltet erklären. Irgendwann kommen sie mit Macht zurück. Jede Gesellschaft steht vor der Aufgabe, wie das Zusammenleben der Menschen organisiert und geordnet werden muss, damit die Zwecke und Ziele, um derentwillen sich die Menschen zusammenschließen, auch erreicht werden. Dies hängt nicht zuletzt von den Normen ab, die von allen als verbindlich angesehen und eingehalten werden müssen. Die Normen sind rechtlicher Natur. Sie umfassen die Rechte, die dem Einzel-
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nen als das „Seine“ und der Gesellschaft als das „Ihre“ zustehen. Sie sagen auch etwas aus über die Pflichten, die den Einzelnen und der Gesellschaft obliegen. Überall auf der Welt, wo Gemeinschaften bestehen oder entstehen, ist dieser Prozess der Rechts- und Normbildung im Gange. Im abendländischen Kulturkreis waren die griechischen Philosophen die ersten, die sich über die Voraussetzungen und Grundlagen der sozialen Ordnung Gedanken machten. Sie beschäftigten sich mit dem Problem, von welcher Art die in der damaligen Polis geltenden Rechtsnormen waren. Die Unterscheidung zwischen dem „natürlich Gerechten“ und dem „durch menschliche Satzung Gerechten“ geht auf Heraklit zurück. Aristoteles entwickelt in der Nikomachischen Ethik den Grundsatz, wonach das natürlich Gerechte allgemein und unveränderlich ist, wohingegen das durch Satzung Gerechte bei den Völkern verschieden und veränderlich in der Zeit ist (fünftes Buch). Diese Unterscheidung zwischen dem von Natur aus Rechten und dem positiven Gesetz greift später die römische Stoa auf (Cicero, Seneca) und erweitert sie: Der Kosmos wird durchwaltet von der Weltvernunft; für die Menschheit wiederum gilt das „natürliche Gesetz“, das auf der allgemeinen Vernunftnatur des Menschen beruht und als „recta ratio“ erfasst wird; das menschliche Gesetz hingegen bezieht sich auf die positive Regelung der sozialen Angelegenheiten. Das natürliche Gesetz (oder „Naturrecht“) ist das Fundament und der kritische Maßstab des menschlichen Gesetzes, das vom Schöpfer in die Schöpfung hineingelegt wurde und die Macht hat zu regeln, „was gerecht und ungerecht ist“. Das Naturrechtsdenken fügte sich in das christliche Verständnis der Welt und des Menschen ein. Während im Alten Testament wegen des am Sinai dem jüdischen Volk gegebenen (göttlichen) Gesetzes die Frage der natürlichen Sittlichkeit in den Hintergrund trat, fand der universale Charakter des Evangeliums und der Sendung der Kirche durchaus eine Entsprechung im natürlichen Sittengesetz. Dem Apostel Paulus gelang es im Anschluss an die Terminologie der Stoa das Naturrecht in das christliche Gedankengut einzubürgern: Es gibt eine natürliche Gotteserkenntnis (Röm 1,19 – 21) und damit verbunden eine natürliche Erkenntnis des Sittengesetzes, weil den Heiden, die das (mosaische) Gesetz nicht haben, dieses Gesetz in ihre Herzen geschrieben ist (Röm 2,14 – 15). Die Kirchenväter waren mit den Fragestellungen und Erkenntnissen der griechischen und römischen Philosophen vertraut. Jetzt kam es darauf an, die christliche Sicht der Schöpfung und des Menschen mit diesen aus Erfahrung und Vernunft gewonnenen Einsichten zusammenzuführen. Augustinus übernimmt von Cicero den Begriff der lex aeterna, die der Weltordnung zugrunde liegt. Ihre Erfassung durch die menschliche Vernunft ist die lex naturalis, die als Abglanz der lex aeterna im Bewusstsein der Menschen aufleuchtet. Aber erst Thomas von Aquin gelingt es, ein einheitliches System der Naturrechtslehre zu entwerfen, das die Schöpfungsordnung und die Erlösungsordnung, aber auch die beiden Erkenntniswege des Naturrechts und der Offenbarung im Blick hat. Die Schöpfungsordnung umfasst das ewige Gesetz, das sittliche Naturgesetz und das positive Gesetz in ihrer je eigenen Bedeutung, aber auch in ihrer unlöslichen Verbundenheit (Johannes Messner). Wenn Thomas von „Natur“ spricht, hat er nicht die physische Natur vor Augen, wie sie das Forschungsobjekt der modernen Naturwissenschaften bildet, sondern die meta-physis, also das, was heute – um Missverständnisse zu vermeiden – mit dem Begriff „Wesen“ ausgesagt wird. Was die Erkenntnisquellen betrifft, betont Thomas von Aquin: Das Licht der Vernunft und das Licht des Glaubens kommen beide von Gott; sie können daher einander nicht widersprechen (Summa contra Gentiles, I, VII).
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Ähnlich spricht Pius XII. davon, dass „die Grundsätze des Naturrechts und der Offenbarungswahrheiten wie zwei keineswegs entgegengesetzte, sondern gleichgerichtete Wasserläufe beide ihre gemeinsame Quelle in Gott haben“.7 Bei der Bedeutung, die dem Naturrecht in der Geistesgeschichte der Menschheit und des Christentums zukommt, überrascht es nicht, dass diese Denkansätze von Anfang an auch gegenteilige Auffassungen hervorriefen und auf Kritik, ja auf Ablehnung stießen. Bei den Griechen waren es die Sophisten, die alles Recht als Ausfluss des menschlichen Willens, aber nicht der Vernunfterkenntnis zu erklären suchten. Wenn es aber von Natur aus keine „recta ratio“ gibt, dann wird das positive Gesetz, das jederzeit verändert werden kann, zum alleinigen Maßstab für Recht und Gerechtigkeit. Im Unterschied zu den Glaubenswahrheiten, für die sich die Kirche auf den Ökumenischen Konzilien verbürgte, weisen die Auffassungen und Begründungen des Naturrechts auch bei christlichen Denkern eine große Bandbreite auf. Selbst in der Hochscholastik gab es unterschiedliche Ansätze, je nachdem, ob das Naturrecht stärker in der ratio oder in der voluntas angesiedelt wurde. Allerdings war der Begründungszusammenhang hinsichtlich des Naturrechts so stark ausgeprägt, dass die verschiedenen philosophischen und theologischen Richtungen nicht auseinanderbrachen, sondern die gemeinsame Grundlage bewahrten. Dies wird besonders deutlich in der schöpferischen Synthese, die Thomas von Aquin entwickelt.8 Er bestimmt das Naturrecht in der Summa theologiae theologisch als Teilhabe am ewigen Gesetz, im Sentenzenkommentar philosophisch als Teil des natürlichen Sittengesetzes. Ebenso wie der Franziskaner-Theologe Bonaventura geht Thomas von der von Ulpian gegebenen Definition des Naturrechts aus: quod natura omnia animalia docuit. Es sind die „inclinationes naturales“, die im Naturrecht wirksam werden und im Unterschied zum positiven Gesetz stehen.9 Der Mensch hat eine angeborene Neigung hin zu seinen naturgegebenen Zielen. Dieses mit seinem Wesen gegebene Streben des Willens ist das Naturgesetz. Freilich, auch der Wille, das Streben des Menschen, ist eine rationale Fähigkeit und lässt sich nicht ohne Hilfe der Vernunft betätigen. Sie lässt den Willen das Gute erkennen, das der menschlichen Natur entspricht. Diese Erkenntnis vermittelt die theoretische Vernunft. Darüber hinaus lenkt die Vernunft den Willen zum Guten hin; dies ist die Aufgabe der praktischen Vernunft. Das gute Handeln des Menschen korrespondiert mit dem Wesen der menschlichen Natur. Was nun die Unveränderlichkeit des Naturrechts angeht, so unterscheidet Thomas die ersten Prinzipien, die allgemein und unwandelbar sind, weil sie sich aus der natürlichen Vernunft herleiten, und die daraus abgeleiteten Konsequenzen, die der Veränderlichkeit in der Zeit unterworfen sind. Diese Unterscheidung zwischen „primärem“ und „sekun7 Pius XII., Radiobotschaft vom 1. Juni 1941, in: Arthur-Fridolin Utz / Joseph-Fulko Groner (Hrsg.), Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII., Bd. I, Freiburg (Schweiz) 1954, Nr. 498. – Vgl. Ursula Nothelle-Wildfeuer, „Duplex ordo cognitionis“. Zur systematischen Grundlegung einer Katholischen Soziallehre im Anspruch von Philosophie und Theologie (Abhandlungen zur Sozialethik, Bd. 31), Paderborn u. a. 1991. 8 Vgl. dazu den Artikel „Naturrecht“ (IV 1 und 2), in: Staatslexikon, Bd. V, 6. Aufl., Freiburg i. Br. 1960, Sp. 945 – 953. 9 Neuerdings hat sich Eberhard Schockenhoff mit dem universalen Anspruch des Naturrechts und mit der Bedeutung der „natürlichen Neigungen“ eingehend auseinandergesetzt; ders., Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, Mainz 1996, besonders S. 143 ff. und 169 ff.
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därem“ Naturrecht ist grundlegend. Nur die „principia communissima“ sind unveränderlich. Es sind nur wenige, allerdings von fundamentaler Bedeutung für das Gemeinwesen und von universaler Reichweite. Wenn diese Unterscheidung nicht oder nicht hinreichend beachtet wird, kann eine naturrechtliche Argumentation ins Gegenteil umschlagen und einem offenen oder verkappten Rechtspositivismus mit all den möglichen Folgen den Weg bereiten. Durch das ganze Mittelalter hindurch war das naturrechtliche Denken in Europa nicht ernsthaft bestritten. Dieser Tatbestand trug dazu bei, dass man die in der Hochscholastik ausgebildeten Positionen immer neu wiederholte und fortschrieb. Man unterzog sich immer weniger der Mühe, kritische Anfragen, Einwände und Positionen gegen das Naturrecht ernst zu nehmen und Lösungen für neue Problembereiche zu suchen und zu finden. So konnte sich im 14. und 15. Jahrhundert der Nominalismus ausbreiten, der die bisherigen Grundlagen und Begründungen der christlichen Ethik und des Naturrechts aushöhlte und einen geistigen Niedergang einleitete. Es gab eine rühmliche Ausnahme: die spanische Spätscholastik im 16. Jahrhundert. Es war eine Zeit des Umbruchs: In Deutschland breitete sich die Reformation aus. In Spanien konnten die Reste der Fremdherrschaft des Islam abgeschüttelt werden. Die Wissenschaften blühten auf, und es kam zu einer schöpferischen Synthese von scholastischer und humanistischer Denkweise. In Salamanca wetteiferten die Gelehrten des Dominikanerordens und des Jesuitenordens. Die Entdeckung der Neuen Welt warf eine Fülle neuartiger Probleme auf. Die Staaten und Völker Amerikas mussten auf den überkommenen mittelalterlichen orbis christianus bezogen werden. Konnten die Rechtsprinzipien der politischen und religiösen Ordnung in Europa auch in der Neuen Welt und im Verhältnis zu nichtchristlichen Völkern Anwendung finden? Die spanischen Missionare, allen voran der Dominikaner Bartolome de las Casas (1474 – 1566), wollten die Indianer für den christlichen Glauben gewinnen, wohingegen viele Conquistadores auf Eroberung der neuen Länder, auf Ausbeutung und brutale Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung sannen. Es gab Theologen, die ein solches Vorgehen rechtfertigten. Andererseits kam es zu einer Besinnung auf die Grundlagen des Naturrechts. Der Dominikaner Francisco de Vitoria wurde zum „Vorkämpfer der Menschenwürde“ und zum „Begründer der Völkerrechtswissenschaft“.10 Das Naturrecht besitzt nach Vitoria in sich selbst seine Gültigkeit, während das Ius gentium erst durch menschliche Übereinkunft seine Rechtskraft erhalten hat. Es ist also vom Naturrecht verschieden, hängt aber doch so eng mit ihm zusammen, dass das natürliche Recht nur unter großen Schwierigkeiten erhalten werden könnte, wenn es kein Ius gentium gäbe. Joseph Höffner gelangt zu dem bemerkenswerten Urteil: „Die kolonialethischen Normen, die von den Scholastikern aus dem Naturrecht und aus dem Ius gentium abgeleitet worden sind, können der Kritik standhalten. Man wird dasselbe nicht in allen Stücken von den Grundsätzen behaupten können, die von der christlichen Offenbarung aus aufgestellt worden sind.“11 Die Besinnung auf das Wesen des Menschen, in dem das Naturrecht verankert ist, hat die An10 Vgl. Joseph Höffner, Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1947. – Dazu Christoph Schönberger, Die Entdeckung der Neuen Welt, der Aufstand des christlichen Gewissens und die Anfänge des modernen Völkerrechts. Überlegungen zu Joseph Höffners Hauptwerk „Christentum und Menschenwürde“ (Vortrag am 15. Juni 2007 in Freiburg i. Br.; im Druck). 11 Ebd. S. 303. – Dazu Anton Rauscher, Orientierung in Zeiten des Umbruchs. Im Gedenken an Kardinal Joseph Höffner (Reihe „Kirche und Gesellschaft“, Nr. 337), Köln 2007.
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erkennung der gleichen Würde aller Menschen und ihrer Gleichheit vor dem Gesetz vorbereitet. Neben der Neuorientierung der Kolonialethik hat die spanische Spätscholastik – unter Wiederaufnahme der Ansätze in der Hochscholastik – die Sicht des Menschen als Person und als Subjekt des Handelns angebahnt. Hier sind vor allem die Jesuiten Francisco Suarez und Luis de Molina zu nennen, deren anthropologische Ansätze später von den Vertretern des christlichen Solidarismus wieder aufgegriffen werden. Die Naturrechtslehre der spanischen Spätscholastik wurde auch an den protestantischen Universitäten Mitteleuropas rezipiert (Grotius, Althusius, Pufendorf).
IV. Gegenströmungen in der Moderne 1. Der Rationalismus
Das Naturrechtsdenken und damit auch das christliche Menschenbild gerieten in der Moderne in Bedrängnis. Schon vor der Französischen Revolution (1789), die das Ende der alten Ordnung des orbis christianus besiegelte und eine Zeit des Umbruchs auf fast allen Gebieten des gesellschaftlichen und politischen Lebens einläutete, brachte die Aufklärung eine ganz neue Art des Denkens mit sich. Sie stand zwar auf den Schultern der spanischen Spätscholastik, aber sie interpretierte das Naturrecht als Vernunftrecht. Die Grundströmung des Rationalismus drängte das Bewusstsein um den Schöpfer-Gott als den Urheber des natürlichen Sittengesetzes und des Naturrechts immer mehr zurück. Aus der von Gott geschaffenen Vernunft des Menschen wird die ratio zur Quelle des Denkens und Verstehens. Das Vernunftrecht wird zur Autonomie des sittlichen Bewusstseins.12 Damit erübrigt sich eigentlich ein Naturrecht; denn schon die Frage nach dem Schöpfer-Gott würde die Autonomie des Menschen beeinträchtigen. Dies gilt auch für alle Fragen, die mit der „Metaphysik“ zusammenhängen: die Fragen nach dem „Wesen“ der Dinge und des Menschen, nach dem Zusammenhang von Sein und Sollen, nach der Wahrheit, nach den Grenzen zwischen gut und böse. Die sogenannte Kant’sche Wende in der Philosophie hat die Metaphysik hinter sich gelassen und die genannten Fragen ins Reich der „Postulate“ verwiesen. Eigentlich hätte man erwarten können, dass mit der Aufklärung ein neues Kapitel der Geistesgeschichte aufgeschlagen würde. Die Aufklärung hat den Menschen als Subjekt und Träger der Freiheit, des Handelns und der Geschichte entdeckt. Das bisherige Weltbild, das immer noch stark von der Scholastik des Mittelalters geprägt war, änderte sich. Die christlichen Zentren der Philosophie und Theologie hätten – ähnlich wie dies in der spanischen Spätscholastik hinsichtlich des Völkerrechts geschehen ist – die neue Geistigkeit mit der christlichen Sicht der Welt und des Menschen zusammenbringen sollen. Dabei hätten einerseits eher zeitbedingte Traditionen abgestreift werden können wie zum Beispiel jene Vorstellungen, die aus einer weithin stationären Gesellschaft erwachsen waren. Dazu gehörte auch jenes Ganzheitsdenken im Mittelalter, wonach das 12 Vgl. Alexander Hollerbach, Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens, in: Franz Böckle / Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik, Mainz 1973, S. 23 f.
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Soziale in der Teilhabe des Einzelnen an der allgemeinen Menschennatur besteht. Andererseits hätte gezeigt werden können, dass die biblische Wahrheit des Menschen als „Bild Gottes“ und die Erkenntnis, dass der Mensch Person ist, sich durchaus mit den Ansätzen der Aufklärung vertragen. Zugleich hätten aber auch die Vorstellungen über die Autonomie des Menschen der Korrektur und Eingrenzung bedurft. Denn auch als Person und Subjekt des Geschehens bleibt der Mensch Geschöpf, bleibt er gebunden an die Voraussetzungen des Daseins und die sittlichen Grundnormen, die er sich nicht selbst gegeben hat. Leider war es im 18. Jahrhundert um die christliche Wissenschaft nicht sonderlich gut bestellt. Man begnügte sich lieber mit der Weitergabe der überkommenen Denkformen, ohne auf die neuen Ansätze und Herausforderungen einzugehen und sie mit der christlichen Kultur zu verbinden. Die Sterilität der damaligen Theologie hat wesentlich dazu beigetragen, dass die neue Geistigkeit und die modernen Wissenschaften als gegen das Christentum und die Tradition gerichtet an Einfluss gewannen. Und die Kirche, die schon durch die Reformation geschwächt war, klammerte sich an das noch bestehende religiös-politische System, anstatt die Zeichen der Zeit zu erkennen und neue Wege zu beschreiten, um das Evangelium und das christliche Menschenbild den Menschen nahezubringen. Ganz anders ist die Entwicklung in Amerika verlaufen. Die Virginia Bill of Rights und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776) knüpfen an das christliche Menschenbild an und begreifen die Menschenrechte als vom Schöpfer-Gott jedem Einzelnen verliehen. Ihre Formulierung geht auf Thomas Jefferson zurück, der im Hinblick auf die Allgemeinverbindlichkeit der Menschenrechte und ihre naturrechtliche Fundierung „an die wahren Quellen unserer Einsicht, den Verstand und das Herz jedes vernünftigen und ehrlichen Menschen (appellierte). In sie hat die Natur ihre Sittengesetze geschrieben und dort mag jeder Mensch sie für sich selbst finden“.13 Auch wenn die zugrunde liegende Sichtweise auf deistische Vorstellungen der aus Großbritannien eingewanderten Anglikaner und Protestanten zurückgeht, so hat sie doch den Kern des christlichen Menschenbildes und des Naturrechts bewahrt und mit der im Aufbau befindlichen demokratischen Ordnung in Einklang gebracht. Demgegenüber geht die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution davon aus, dass die Menschenrechte Ergebnis des Fortschritts sind, den die Menschen sich selbst verdanken. Aus dieser Perspektive wird verständlich, warum man vom „finsteren Mittelalter“ spricht, aus dem sich der Mensch befreien musste. Bis heute sind diese grundverschiedenen Sicht- und Deutungsweisen wirksam und bestimmen das Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft. Im Gefolge der Französischen Revolution waren es verschiedene Strömungen, die die noch vorhandenen Restbestände des naturrechtlichen Denkens immer stärker an den Rand drängten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts breiteten sich die Historische Rechtsschule und der Deutsche Idealismus aus. Sie beherrschten das Feld an den damaligen Universitäten, auch wenn vereinzelt Rechtsphilosophen wie Friedrich A. Trendelenburg sich für eine Wiederbelebung des aristotelisch-christlichen Naturrechtsdenkens einsetzten. Für den Mainstream war das Naturrecht nur noch ein geschichtlich überlebtes Phänomen, mit dem man die neue Zeit und die dynamische Entwicklung der Gesellschaft nicht mehr erfassen konnte. 13 Zit. nach Walter Grossmann (Hrsg.), Thomas Jefferson. Auswahl aus seinen Schriften, Cambridge 1945, S. 65.
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Anton Rauscher 2. Die materialistische Weltanschauung
Eine andere Strömung geht von den Naturwissenschaften aus. Die gewaltigen Fortschritte in der Erkenntnis der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten ermöglichen zunehmend die Herrschaft des Menschen über die Natur, deren Kräfte er sich dienstbar macht. Der Begriff „Natur“, der bisher nicht nur die sichtbare, sondern auch die nicht-sichtbare Wirklichkeit umfasste, wird zusehends auf die materielle Wirklichkeit reduziert. Die nicht-materielle Wirklichkeit wird ausgeklammert. Um die Natur zu erklären, bedarf es nicht mehr eines Schöpfer-Gottes. Dieser Bruch mit der christlichen Tradition, auch mit der griechischen Philosophie öffnet den Weg zu einer materialistischen Weltanschauung, in der auch die Unterschiede zwischen der anorganischen und organischen Natur, zwischen der Pflanzen- und Tierwelt als Entwicklungsstufen der materiellen Evolution gesehen werden. Selbst der Mensch, der sozusagen am Endpunkt der Entwicklung hervortritt, gilt als denkende Materie. Bis heute bemüht man sich herauszufinden, an welcher Stelle des menschlichen Gehirns etwa das Gen der Freiheit seinen Sitz habe. Die moderne Sinnkrise, die vor allem in den westlichen Gesellschaften viele Menschen befallen hat, hängt mit dieser Wendung zusammen, die nicht nur Gott, sondern auch die „Seele“ oder den geistigen Kern des Menschen, auch das geistig-sittliche Leben leugnet. Es sind nicht eigentlich die Erkenntnisse über die Natur, die einen unüberbrückbaren Graben zwischen den Naturwissenschaften und der christlichen Religion aufreißen, sondern die materialistische Welterklärung, die zur neuen Religion, zum Atheismus mutiert. In diesem Zusammenhang steht auch der historische und dialektische Materialismus von Karl Marx und den von ihm inspirierten sozialistischen Bewegungen. Gleichzeitig wuchs in „aufgeklärten“ und „fortschrittlichen“ Kreisen das Interesse für den „wissenschaftlichen Atheismus“, wie ihn Ludwig Feuerbach oder Friedrich Nietzsche verfochten. Es war der materialistische Grundzug, der auch eine biologistisch-rassistische Auffassung des Menschen begünstigte, die schon vor dem Ersten Weltkrieg in verschiedenen Ländern Europas grassierte und später dem Antisemitismus und der Blut- und BodenIdeologie des Nationalsozialismus den Weg bereitete. Wenn man heute in Büchern und Zeitschriften nachliest, was damals im ausgehenden 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert als „wissenschaftliche Erkenntnis“ über den Menschen angepriesen wurde, über Selektion und Kreuzung der Menschenrassen usw., dann greift man sich unwillkürlich an den Kopf. Wie konnte es geschehen, dass der geistig-sittliche Kern des christlichen Menschenbildes, das die Entwicklung der Kultur in Europa geprägt hat, von den Wissenschaften gar nicht mehr reflektiert wurde? Es ist schon erstaunlich, dass in dem Augenblick, als die Menschenrechte propagiert wurden, ihnen der geistig-sittliche Grund, der die Sonderstellung des Menschen begründet, entzogen wurde.
3. Der Rechtspositivismus
Parallel zur materialistischen Grundierung der Naturwissenschaften entwickelte sich in den Rechts- und Sozialwissenschaften ein unheilvoller Positivismus. Die dritte Strömung gegen das Naturrecht ist entstanden als Reaktion gegen gewisse Aufklärungsjuristen im 18. Jahrhundert, die alles, was ihnen „vernünftig“ schien, als Naturrecht ausgaben und damit das naturrechtliche Anliegen diskreditierten. Als Beispiel verweist Jo-
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seph Höffner auf Christian Wolff (1679 – 1754), der von einem natürlichen Recht des Menschen auf Schmuck und kosmetische Artikel sprach; andere stellten die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches oder das Feudalsystem oder die französische Revolutionsverfassung als naturrechtlich hin. Auch vorher schon haben manche Theologen sich nicht an die Regel gehalten, die der hl. Thomas aufstellte, wonach nur die principia communissima das überzeitliche Naturrecht ausmachen. Diese Art des Vorgehens hat den Unterschied zwischen dem Naturrecht und dem positiven Recht völlig verwischt, bisweilen verfälscht. In der abendländischen Geschichte bildete das positive Recht die Grundlage für die Gestaltung und Ordnung der gesellschaftlichen Lebensbereiche. Nicht umsonst haben die großen Kodifikationen einen hervorragenden Beitrag zur Rechtssicherheit und zum Frieden geleistet. Das Naturrecht ist auch nicht ein dem positiven Recht sozusagen übergeordnetes Recht. Es ist der Maßstab des Rechts und der Gerechtigkeit. Es ist immer dann gefragt, wenn bestimmte Rechte und Rechtsnormen, Gesetze und Urteile zu Zweifeln Anlass geben, ob sie mit dem Grundmaß der Gerechtigkeit übereinstimmen. Dies ist die entscheidende Frage, die schon Aristoteles und die Stoiker bewegte, die auch die Bemühungen der Scholastik und die damals verfassten Traktate „De iure et iustitia“ bestimmten. Ganz auf dieser Linie stellte Joseph Höffner fest: „Positive Gesetze, die eine eindeutige Verletzung naturrechtlicher Grundnormen darstellen, sind ungültig. Ein Gesetz, das z. B. einem bestimmten Volk das Lebensrecht abspricht (etwa die Ermordung jüdischer Kinder anordnet), ist ungültig, und ein Richter, der nach diesem Gesetz ,Recht‘ spricht, oder ein Scharfrichter, der ein solches Urteil vollstreckt, sind Verbrecher, und zwar zu allen Zeiten und in jedem Kulturkreis.“14 Vor und nach dem Ersten Weltkrieg erreichte der Rechtspositivismus seine größte Wirkung. „Überall“, schrieb Leonhard Nelson15, „ist der Positivismus zur Herrschaft gelangt, überall ist man gleichmäßig bestrebt, die Forschung auf die Feststellung der sinnlich wahrnehmbaren Tatsachen zu beschränken, alle Annahmen dagegen, die über das anschaulich Vorfindbare hinausgehen, auszumerzen und sich damit, wie man es nennt, von allen metaphysischen Voraussetzungen frei zu machen“. Richard Thoma sprach von der „legislatorischen Omnipotenz der staatlichen Gesetzgeber“16. Nichts wäre beim Aufbau der Demokratie in Deutschland nach 1918 nötiger gewesen als die kritische Begleitung dieses politischen Prozesses durch die Jurisprudenz. Sie hätte diese Aufgabe nur leisten können, wenn die naturrechtliche Tradition lebendig geblieben wäre. Der Rechtspositivismus, der eine falsche Staatsfrömmigkeit förderte, war nicht in der Lage, den revolutionären Veränderungen, die der Weimarer Demokratie von links und von rechts drohten, entgegenzuwirken. Wenn es keinen Maßstab dafür gibt, ob ein Gesetz, das der Staat beziehungsweise die demokratisch gewählte Mehrheit erlässt, auch „Recht“ ist, dann können die Dämme gegen Unmenschlichkeit und Diktaturen brechen.
14 Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, Neuausgabe 1997, S. 75. – Vgl. Rudolf Henning, Der Maßstab des Rechts im Rechtsdenken der Gegenwart, Münster 1961. – Anton Rauscher, Zum Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht in der christlichen Denktradition, in: ders., Kirche in der Welt. Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung. Bd. III, Würzburg 1998, S. 11 – 23. 15 Leonhard Nelson, Die Rechtswissenschaft ohne Recht, Leipzig 1917, S. 2. 16 Albrecht Langner, Der Gedanke des Naturrechts seit Weimar in der Rechtsprechung der Bundesrepublik, Bonn 1959, S. 26.
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Anton Rauscher 4. Strukturprobleme des Kapitalismus
In welcher Weise sich die skizzierten Gegenströmungen gegen das Naturrechtsdenken und gegen das christliche Menschenbild auf die weitere Entwicklung der geistigkulturellen, der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland auswirken sollten, konnte man in der allgemeinen Fortschrittseuphorie des 19. Jahrhunderts nicht vorausahnen. Auf einem Gebiet allerdings kam es schon sehr bald zu einer kritischen Ernüchterung. Adam Smith und die klassischen Nationalökonomen waren sich sicher, dass die neue Wirtschaftsweise – Arbeitsteilung, Einsatz von Maschinen (Kapital), Marktwirtschaft und Wettbewerb – zur Überwindung von Hunger und Elend, von Not und Armut in der Bevölkerung führen würde. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis die industrielle Wirtschaft voll entwickelt sei und erstmals in der Geschichte der Menschheit „Wohlstand für alle“ schaffen werde. Leider hatten die Nationalökonomen und der Paläo-Liberalismus die Strukturprobleme des „Kapitalismus“ nicht erkannt. Die Arbeiter, die nur einen Hungerlohn erhielten und keine soziale Sicherheit hatten, wandten sich vielfach revolutionären Bewegungen zu, zunächst dem Frühsozialismus, dann den Verheißungen des „kommunistischen Manifests“. Kirchlicherseits wuchs bei Seelsorgern und Laien, die in den Wohnvierteln mit den Lebensverhältnissen vieler Arbeiter und ihrer Familien konfrontiert wurden, die Sorge, dass die sozialen Verhältnisse viel schlimmer seien als zur Feudalzeit und die „soziale Frage“ nicht hingenommen werden dürfe. Woran lag es, dass die „kapitalistische Wirtschaft“ trotz der viel höheren Produktivität von Absatzkrise zu Absatzkrise stolperte und das Verteilungsproblem nicht in den Griff bekam? Die Arbeiterfrage beschäftigte Bischof Ketteler ebenso wie den späteren Papst Leo XIII., der als Nuntius in Belgien die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiter in den Bergwerken und Eisenhütten kennengelernt hatte. Um besseren Einblick in den Zusammenhang von Arbeit und Eigentum zu gewinnen, holten sich beide bei Thomas von Aquin Rat. Die Französische Revolution hat im Privateigentum ein „heiliges“ und „unantastbares“ Recht gesehen. Dies war ein radikaler Bruch mit der christlichen Sicht, die von der Gemeinbestimmung der Erdengüter für alle Menschen ausgeht und seit den Kirchenvätern die soziale Pflichtigkeit des Eigentums eingefordert hat. Auch wache Christen und katholische Sozialwissenschaftler fragten sich, wie die Ungerechtigkeiten im Früh- und Hochkapitalismus bei so viel Fortschritts- und Freiheitsgetöse überhaupt entstehen konnten. Von diesem Ansatz her entdeckten sie wieder den Zugang zu dem lange Zeit verschütteten Naturrecht. Es ist der Maßstab des Rechts, der in Krisenzeiten wie damals in der „sozialen Frage“ das Gewissen der Menschen schärft für die ungerechten und unmenschlichen Zustände in der Arbeitswelt und die soziale sowie politische Gleichberechtigung der Arbeiter fordert. Das Naturrecht ist ja keine Spielwiese für theoretische Alternativen, sondern Hoffnung für die Unterdrückten, um ein Stück Gerechtigkeit in die Gesellschaft zurückzuholen.17 17 Schrittmacherdienste bei der Wiederentdeckung des Naturrechts leistete das Werk des italienischen Jesuiten Luigi Taparelli, Saggio teoretico di diritto naturale appoggiato sul fatto, 5 Bde., Palermo 1840 – 1843. Bereits fünf Jahre später erschien die deutsche Übersetzung: Versuch eines auf Erfahrung begründeten Naturrechts, 2 Bde., Regensburg 1845. Der Hinweis auf die „Erfahrung“ betont die Abgrenzung gegenüber dem Vernunftrechtsverständnis der Aufklärung. – Das lateinische Werk von Theodor Meyer, Institutiones iuris naturalis (2 Bde., Freiburg i. Br. 1885 / 1900) hatte großen Einfluss auf die Hochschulen und Bildungszentren, die von Jesuiten in aller Welt
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V. Die Würde der menschlichen Person als Fundament der Katholischen Soziallehre Auch wenn das christliche Menschenbild und das naturrechtliche Denken, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur im katholischen Raum wieder erstarkten, so war dies doch von größter Bedeutung für die Auseinandersetzung der Kirche mit den großen sozialen Ideologien und den totalitären Machtsystemen im 20. Jahrhundert. Das Rundschreiben Pius’ XI. Mit brennender Sorge gegen den Nationalsozialismus (1937) bildet den Beginn der Übernahme menschenrechtlichen Denkens, das im angelsächsischen Raum eine lange Tradition hat, in die kirchliche Soziallehre.18 Die Menschenrechte sind im Naturrecht verankert: „Menschliche Gesetze, die mit dem Naturrecht in unlösbarem Widerspruch stehen, kranken an einem Geburtsfehler, den kein Zwangsmittel, keine äußere Machtentfaltung sanieren kann. Mit diesem Maßstab muß auch der Grundsatz: ,Recht ist, was dem Volke nützt‘ gemessen werden.“19 Für das christliche Menschenbild wurde frühzeitig der Begriff „Person“ von Bedeutung. Dieser Begriff reicht in das dritte und vierte Jahrhundert zurück, als in der damaligen Christenheit die trinitarischen und christologischen Meinungsverschiedenheiten ausgetragen wurden. Nur mit Hilfe der Begriffe „Natur“ und „Person“ gelang es, scheinbare Widersprüchlichkeiten zu klären, auch wenn die Glaubensgeheimnisse des einen Gottes in der Dreiheit der Personen und des Mensch gewordenen Sohnes Gottes Jesus Christus, der in seiner Person die göttliche und die menschliche Natur vereint, für die menschliche Vernunft nicht entschlüsselbar sind. Während Natur alles, was zum Menschsein gehört, meint, bezeichnet Person (griechisch: Hypostase) den konkreten Menschen, der existiert, der das „In-sich-Sein“ besitzt, der in Freiheit entscheidet und handelt, der selbständig ist und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung hat. Thomas von Aquin hat in der Hochscholastik die Definition des Menschen durch Boethius sich zu eigen gemacht und die Unterscheidung zwischen der natura humana, die allen Menschen gemein ist, und der persona, die einmalig und unwiederholbar ist, herausgearbeitet: „Persona est substantia individua rationalis naturae“; oder: „Persona significat id quod est perfectissimum in tota natura, scilicet subsistens in rationali natura“.20 Diese Erkenntnis über den Menschen als Person gehört intellektuell zu den Höhepunkten scholastischen Denkens, auch wenn sie die realen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse damals kaum beeinflusste. Und diese Einsicht ist für das christliche Menschenbild entscheidend. In der Antike war vom Menschen als „Person“ noch nicht die Rede, weil die tagtägliche Erfahrung für das Leben und Überleben der Menschen von der Gemeinschaft – sei es die Großfamilie, die Sippe oder die Wohnbevölkerung einer Stadt – geprägt war. Auch im Mittelalter ist die Abhängigkeit und die Eingebundenheit der Menschen in soziale Ganzheiten – zu den genannten tritt noch die Zugehörigkeit zu „Ständen“ – in der Praxis und in der Reflexion dominant. geführt wurden. Es hat wesentlich zur Besinnung auf das Naturrecht im katholischen Deutschland beigetragen und das katholisch-soziale Denken sowie die Grundlinien des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft, wie es von Georg von Hertling konzipiert wurde, bestimmt. 18 Vgl. Albrecht Langner, Menschenrechte, Staat, Gesellschaft, Köln 1975, S. 2. 19 Pius XI., Enzyklika „Mit brennender Sorge“, 1937 (Emil Marmy, Mensch und Gesellschaft in christlicher Schau. Dokumente, Freiburg (Schweiz) 1945, Nr. 311). 20 Zur thomistischen Anthropologie vgl. Leo J. Elders, a. a. O., S. 296 f. Hier auch die Angabe der einschlägigen Stellen in den Orginaltexten.
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An einer Stelle gebraucht Thomas die Wendung: „magna dignitas est subsistere in natura rationali“ (De pot. 9,1 ad 3). Es ist die Rede von der „großen Würde“ der Person. Sie beruht auf der Bestimmung zu freier sittlicher und eigenverantwortlicher Lebensgestaltung. Der Begriff „Würde“ taucht in der Antike gelegentlich auf, vornehmlich im religiös-kultischen Bereich. In der Liturgie der katholischen Kirche stoßen wir auf Texte, die dem Menschen Würde zuschreiben. Josef Isensee hat kürzlich darauf aufmerksam gemacht, dass die tridentinische Messe bei der Darbringung von Brot und Wein das Gebet enthält: „Gott, Du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer erneuert: Laß uns durch das Geheimnis dieses Wassers und Weines teilnehmen an der Gottheit dessen, der sich herabgelassen hat, unsere Menschennatur anzunehmen, Jesus Christus, Dein Sohn, unser Herr“.21 Die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils hat dieses Gebet ausgesondert; es ist aber noch Teil der Weihnachtsliturgie. Es zeichnet die Katholische Soziallehre aus, dass sie in einer Zeit, in der die materialistische Weltanschauung, eine liberale, auf das Marktgeschehen verkürzte Wirtschaftsauffassung und ein geradezu dogmatischer Rechtspositivismus weithin das Feld beherrschten, das Naturrechtsdenken und seine kritische Potenz erneuerte und die Einsichten der Hochscholastik über das Wesen des Menschen als Person, dem deshalb Würde zukommt, wieder entdeckte. In der Sozialenzyklika Rerum novarum (1891) geht Leo XIII. bei der Analyse der „sozialen Frage“ und bei der Suche nach Lösungen vom christlichen Menschenbild aus: „Was den Menschen adelt und zu der ihm eigenen Würde erhebt, das ist der vernünftige Geist; dieser verleiht ihm seinen Charakter als Mensch und trennt ihn seiner ganzen Wesenheit nach vom Tier (Nr. 5) . . . Die Arbeiter dürfen nicht wie Sklaven angesehen und behandelt werden; ihre persönliche Würde, welche geadelt ist durch die Würde als Christen, werde stets heilig gehalten“ (Nr. 6). Dies ist ein ganz anderer Ansatz, als ihn die Klassiker der Nationalökonomie vertraten, für die der Arbeiter ein „Produktionsfaktor“ und die Arbeit eine „Ware“ wie alle anderen Waren, die auf dem Markt gehandelt werden, waren. Wenn Karl Marx vom Warencharakter der Arbeit und von der Entfremdung des Menschen spricht, dann ist dies genau der Bezugsrahmen, dem Leo XIII. seine Auffassung entgegensetzte. In Quadragesimo anno (1931) wird diese Linie nicht unmittelbar fortgeführt. Anstelle der Begriffe „Person“ und „Würde“ steht die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung im Mittelpunkt. Auch wenn das Subsidiaritätsprinzip eine geeignete Plattform geboten hätte, das personale Fundament der Katholischen Soziallehre offenzulegen, so greift Pius XI. unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise die Ordnungsfrage auf. Auch in der zeitgenössischen katholischen Sozialwissenschaft werden vorrangig Fragen nach dem Verhältnis von Einzelmensch und Gemeinschaft, von Einzelwohl und Gemeinwohl, von Individual- und Sozialnatur der Arbeit beziehungsweise des Privateigentums behandelt. Der Durchbruch geschah unter Pius XII. Er hatte die Kirche in einer Zeit zu führen, in der die Völker Europas durch die totalitären Systeme aufs äußerste gefährdet waren. Er griff die menschenrechtlichen Ideen seines Vorgängers auf und löste sich von den Reflexionen über das Verhältnis von Einzelmensch und Gemeinschaft. Noch in der Zeit des Nationalsozialismus und mitten im Zweiten Weltkrieg bekannte er sich zum personalen 21 Josef Isensee, Die bedrohte Menschenwürde. Betrachtungen zur höchsten Norm des Grundgesetzes (Vortrag auf der Jahrestagung der Joseph-Höffner-Gesellschaft am 17. Oktober 2004 in Köln), hrsg. vom Presseamt des Erzbistums Köln, S. 8.
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Fundament der Katholischen Soziallehre: „Ursprung und Wesensziel des gesellschaftlichen Lebens ist die Wahrung, Entfaltung und Vervollkommnung der menschlichen Person; es soll ihr helfen, die Maßstäbe und Werte des religiösen und kulturellen Lebens richtig zu verwirklichen, welche der Schöpfer jedem einzelnen Menschen sowie der Menschheit insgesamt und in ihren natürlichen Verzweigungen gesetzt hat.“22 Im Zusammenhang mit der Anerkennung des Privateigentums sagte der Papst: diese „steht und fällt mit der Anerkennung der persönlichen Würde des Menschen, mit der Anerkennung der unveräußerlichen Rechte und Pflichten, die der freien Persönlichkeit unzertrennbar innewohnen und die sie von Gott empfangen hat. Nur wer dem Menschen die Würde der freien Persönlichkeit abspricht, kann die Möglichkeit zugeben, daß das Recht auf Privateigentum (und folglich auch das Privateigentum selbst) durch irgendein System von gesetzlichen Versicherungen oder Garantien des öffentlichen Rechts abgelöst wird“ (Ansprache vom 20. Mai 1948). Ähnlich hatte sich Pius XII. schon in seiner Radiobotschaft vom 1. Juni 1941 geäußert. „Den unantastbaren Lebenskreis der Pflichten und Rechte der menschlichen Persönlichkeit zu schützen und seine Verwirklichung zu erleichtern, ist wesentliche Aufgabe jeder öffentlichen Gewalt. Dies ist der eigentliche Sinn des von ihr zu wahrenden ,Gemeinwohls‘.“23 Aus dieser Perspektive ist es nur konsequent, wenn Pius XII. erklärt, dass die Grundrechte der Person, die dem Gemeinwohl vorgegeben sind, zum „Kostbarsten im Gemeinwohl“ gehören.24 Die gesamte Lehrverkündigung Pius’ XII. ist von einer beeindruckenden Konsistenz.25 Die Herausarbeitung des personalen Fundaments der Katholischen Soziallehre durch Pius XII. geht der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (1948) voraus. Auch Johannes XXIII. bezeichnet in der Sozialenzyklika Mater et magistra (1961) es als den „obersten Grundsatz“ der Soziallehre, die die katholische Kirche verkündet, dass der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein muss (Nr. 219 f.). „Dieses oberste Prinzip trägt und schützt die unantastbare Würde der menschlichen Person“ (Nr. 220). Die Besinnung auf das christliche Menschenbild erreicht in der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils einen weiteren Höhepunkt. Das erste Kapitel im I. Hauptteil trägt die Überschrift: „Die Würde der menschlichen Person“. Die Zusam22 Pius XII., Rundfunkbotschaft vom 24. Dezember 1942. – Die Vorlagen zu den Weihnachtsansprachen und zu den Äußerungen des Papstes zu gesellschaftlichen Fragen erarbeitete der Jesuit Gustav Gundlach. Er führte das Werk seines Ordensbruders Heinrich Pesch fort, der den „christlichen Solidarismus“ begründete. Gesellschaft ist nicht die Summe von Individuen, auch nicht die Teilhabe am „großen Menschen“ oder an der „allgemeinen Menschennatur“, sondern das solidarische Miteinander der Personen, von denen jede „Bild Gottes“ ist, in der Verwirklichung der „Menschtumswerte“, also der gemeinsamen Ziele und Zwecke, die die beteiligten Personen einen. Gundlach schrieb den Kommentar zu der hier zitierten Weihnachtsansprache Pius’ XII., abgedruckt in dem posthum erschienenen Werk: Gustav Gundlach S. J., Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft (hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach), Bd. I, Köln 1964, S. 108 – 127. 23 Pius XII., Radiobotschaft vom 1. Juni 1941; Utz / Groner, Nr. 508. 24 Pius XII., Ansprache vom 25. September 1949; Utz / Groner, Nr. 369. 25 Die Dokumente sprechen für sich selbst. Besonders eindrucksvoll kommt dies in dem Gedächtnisband zum Ausdruck, der aus Anlass des 100. Geburtstages Pius’ XII. mit zahlreichen Beiträgen aus verschiedenen wissenschaftlichen Fachrichtungen erschien: Herbert Schambeck (Hrsg.), Pius XII. zum Gedächtnis, Berlin 1977. Darin u. a. Wilhelm Weber, Die Sozialidee von Pius XII., S. 327 ff., und Heribert Franz Köck, Das Naturrecht und die Menschenrechte bei Pius XII., S. 471 ff.
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menschau der biblischen Wurzeln und der Vernunfteinsichten wird vervollständigt durch den Abschnitt über die Würde des sittlichen Gewissens (Nr. 16) und die hohe Bedeutung der Freiheit des Menschen (Nr. 17). Während sich die katholische Sozialwissenschaft vornehmlich mit den personalen Grundlagen und der Gestaltung der gesellschaftlichen Strukturen des menschlichen Zusammenlebens befasst, spricht das Konzil auch davon, dass der Mensch unter dem Einfluss des Bösen seine Freiheit missbrauchen kann und sich weigert, Gott als seinen Schöpfer anzuerkennen. Als Sünder ist der Mensch der Erlösung bedürftig. Aber der Sünder verliert nicht seine Menschenwürde, gerade weil und solange er sein Unrecht erkennen und „umkehren“ kann von dem Weg, der ins Verderben führt. Nach katholischer Auffassung gibt Gott auch Schwerverbrechern und selbst Massenmördern die Gnade der Umkehr; er weist niemanden zurück und ist bereit zu vergeben, so wie Jesus den Sündern verziehen hat, die zu ihm gekommen sind. Das christliche Menschenbild ist für jeden, der schuldig geworden ist, eine Quelle der Befreiung und der Hoffnung. Dies gilt auch für alle diejenigen, die öffentliche Verantwortung für die gesellschaftlichen Strukturen übernommen und es zugelassen haben, dass ungerechte Strukturen, „Strukturen der Sünde“, entstehen konnten. In dem Apostolischen Schreiben „Reconciliatio et paenitentia“ (1985) sagt Johannes Paul II.: „Wenn die Kirche von Situationen der Sünde spricht oder bestimmte Verhältnisse und gewisse kollektive Verhaltensweisen von mehr oder weniger breiten sozialen Gruppen oder sogar von ganzen Nationen und Blöcken von Staaten als soziale Sünden anklagt, dann weiß sie und betont es auch, daß solche Fälle von sozialer Sünde die Frucht, die Anhäufung und die Zusammenballung vieler personaler Sünden sind . . . Die wirkliche Verantwortung liegt also bei den Personen. Eine Situation – ebenso wie eine Institution, eine Struktur, eine Gesellschaft – ist an sich kein Subjekt moralischer Akte; deshalb kann sie in sich selbst nicht moralisch gut oder schlecht sein.“26 Es war Johannes Paul II., der die Christen in der Sozialenzyklika Centesimus annus (1991) dazu einlädt, die Enzyklika Leos XIII. „wiederzulesen“ und sich bewusst zu werden, wie sehr im Laufe der Geschichte immer neu „die Tatkraft von Millionen von Menschen, die angeregt und geleitet vom sozialen Lehramt der Kirche, sich dem Dienst in der Welt zur Verfügung gestellt haben. Im persönlichen Einsatz oder in Form von Gruppen, Gemeinschaften und Organisationen werden sie zu einer Großbewegung zur Verteidigung und zum Schutz der Würde des Menschen. Dadurch haben sie in den Wechselfällen der Geschichte zum Aufbau einer gerechteren Gesellschaft beigetragen und dem Unrecht eine Grenze gesetzt“ (CA Nr. 3). Die „Würde des Arbeiters und damit die Würde der Arbeit“ stellt den Schlüssel für das Verständnis des Rundschreibens Leos XIII. dar (CA Nr. 6). Zusammenfassend stellt Johannes Paul II. fest: „[D]as, was das Herzstück der Enzyklika ausmacht und was sowohl sie als die ganze Soziallehre der Kirche zuinnerst bestimmt, [ist] die richtige Auffassung von der menschlichen Person und ihrem einzigartigen Wert, insofern der Mensch . . . auf Erden das einzige von Gott um seiner selbst willen gewollte Geschöpf ist. In ihm hat er sein Bild und Gleichnis eingeprägt (vgl. Gen 1,26) und ihm damit eine unvergleichliche Würde verliehen . . . 26 Auch Aniela Dylos hat dieses Anliegen in der Verkündigung von Johannes Paul II. betont: dies., Die christliche Gesellschaftsethik in Polen nach dem Systemwandel von 1989. Inspirationen Johannes Pauls II., in: Christoph Böhr (Hrsg.), Eine neue Ordnung der Freiheit. Die Sozialethik Johannes Pauls II. – eine Vision für das vereinte Europa, Osnabrück 2007, S. 155 f.
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Jenseits aller Rechte, die der Mensch durch sein Tun und Handeln erwirkt, besitzt er Rechte, die nicht im Entgelt für seine Leistung bestehen, sondern seiner wesenhaften Würde als Person entspringen.“ (CA Nr. 11) Wenn das christliche Menschenbild und die Katholische Soziallehre heute in weiten Teilen der Welt bekannt sind, dann verdankt die Kirche dies dem unermüdlichen Einsatz von Johannes Paul II. Er hat nicht nur die Lehre vom Menschen als Bild Gottes, seiner personalen Würde, seiner Freiheitsrechte und sittlichen Pflichten, sondern ebenso die Aufgabe und Verpflichtung der Gesellschaft und des Staates, der Entfaltung der menschlichen Person zu dienen, verkündet. Er war überall darum bemüht, dass die Christen und alle Menschen guten Willens diese Wahrheiten begreifen und dadurch fähig werden, an der Lösung der vielen Fragen und Herausforderungen mitzuwirken.27
27 Vgl. Johannes Paul II., Gewissen der Welt. Mit einer Einleitung von Ernst-Wolfgang Böckenförde, hrsg. von Ulrich Ruh, Freiburg i. Br. 2002.
Die soziale Natur des Menschen Von Anton Rauscher
Es gehört zu den Urerfahrungen des Menschen, dass er nicht allein und für sich auf der Welt ist. Bei allen Völkern entdecken wir soziale Tatbestände und auch entsprechende Begriffe wie Familie, Partnerschaft, Haus, Gemeinschaft, Gesellschaft, Dorfoder Stadtgemeinde, Kirche, Nation, Staat. Die Menschen leben in aller Regel nicht einzeln nebeneinander her, vielmehr bestehen zwischen ihnen vielfältige Kontakte und Beziehungen. Das praktische Leben zeigt uns, dass der Mensch nicht ein Individuum ist, das sich selbst genügen könnte. Der Mensch ist vielmehr von Natur aus ein „ens sociale“ (ein soziales Wesen), der offen ist für den anderen, der das Gespräch sucht mit seinesgleichen, der fähig ist zur Zusammenarbeit und zur Bildung von Gemeinschaft, auch wenn die Qualität, die Dichte und die Dauer der Verbundenheit sehr verschieden sein können. I. Die Erfahrung des Sozialen Seine soziale Natur erfährt der Mensch unmittelbar in der Abhängigkeit und im Angewiesensein auf seine Eltern, auf Vater und Mutter, die ihm das Leben schenken. Auch kann der Mensch weder den Zeitpunkt noch den Ort noch die Verhältnisse bestimmen, in die er hineingeboren wird. Seine Abhängigkeit zeigt sich vor und nach der Geburt, insofern seine körperliche, psychische und geistige Entwicklung zunächst im Mutterleib, dann in der elterlichen Gemeinschaft und im Familienkreis erfolgt. Der bekannte Psychiater Thomas Fuchs spricht davon, dass sich die Gattung Mensch durch einen „grundlegenden Primat kooperativer Sozialität“ auszeichnet.1 Kein Lebewesen ist in den ersten Jahren so sehr auf andere angewiesen wie der Mensch, dem – im Unterschied zum Tier – die Sicherheit angeborener Instinkte fehlt. Das Tier wird durch seine Naturanlagen und durch die Umwelt, in die es instinktsicher eingebettet ist, geformt. Das Überleben des Menschen sichern die biologisch angelegten und im sozialen Verband reifenden Bindungs- und Empathiesysteme. Der Mensch reicht durch Überlieferung, Erziehung und Lehre seine Erfahrungen und Erkenntnisse von Generation zu Generation weiter.2 Der Mensch kann sich nur in einer Atmosphäre des Vertrauens und der Geborgenheit entwickeln, die sich am ehesten im Zusammenleben in der Familie bildet. Dies setzt sich fort, wenn das Kind heranwächst und der junge Mensch seinen Standort in der Gesellschaft sucht. Dazu gehören die Schul- und Bildungseinrichtungen, die erst seit dem 19. Jahrhundert nach und nach allen jungen Menschen offen stehen und die die 1 Thomas Fuchs, Das Böse aus psychiatrischer Sicht, in: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern, 37. Jg., München 2007, S. 2. 2 Dazu: Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, hrsg., bearb. und erg. von Lothar Roos, Kevelaer 1997, S. 35.
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Familie unterstützen und es ermöglichen sollen, dass jeder seine eigenen Fähigkeiten und Kräfte zu entfalten lernt. Für die Selbstfindung des Menschen ist die Entwicklung des sittlichen Bewusstseins von besonderer Bedeutung.3 Jeder Mensch hat die Fähigkeit, zwischen „gut“ und „böse“ unterscheiden zu können; was dies jedoch konkret bedeutet, lernt er an den Verhaltensweisen der Eltern, der Geschwister, im Verwandtenund Bekanntenkreis. Nicht umsonst hat man die Familie die Urzelle der Gemeinschaft beziehungsweise der Gesellschaft genannt. Der amerikanische Vertreter der politischen Soziologie Robert M. MacIver hat schon früh darauf hingewiesen, dass die Familie nicht, wie oft angenommen werde, der Regelung der Sexualbeziehungen entstamme, sondern die an das Kind gebundene „Natur der Familie“ die Regelung der Sozialbeziehungen notwendig mache: „[T]he child makes the first coherent society“. In der Familiengemeinschaft lerne das Kind, was recht und unrecht, was gut und böse ist. Es sei leicht zu zeigen, wie die Familie für das Kind Kleinbild des politischen Lebens werde.4 Wenn der Mensch erwachsen und selbstständig geworden ist, tritt die Abhängigkeit von seinen Eltern und von der Ursprungsfamilie zurück. Das heißt aber nicht, dass die sozialen Kontakte und Beziehungen abnehmen oder auslaufen und der Mensch zum „Individuum“ würde. Im Gegenteil: Jetzt muss er selbst in Freiheit und Verantwortung die Zusammenarbeit mit anderen auf den verschiedenen Lebensgebieten aufbauen und gestalten. In diesem Stadium ist es weniger die existentielle Abhängigkeit und Angewiesenheit, die das Soziale ausmacht, sondern die Erkenntnis und die Fähigkeit, Kontakte anzubahnen und sich mit anderen zusammenzutun, um gemeinsame Zwecke und Ziele zu erreichen. Dazu gehören die Versorgung mit wirtschaftlichen Gütern und mit Dienstleistungen, Bildungs- und Informationsziele, die Teilhabe an den Kommunikations- und Mobilitätsstrukturen, die Nutzung von Sicherheitsvorkehrungen und medizinisch-technischen Möglichkeiten, die gemeinsame Verwirklichung der gesellschaftlichen, politischen, religiösen und kulturellen Wertbereiche. Auch diejenigen, die in der modernen Gesellschaft als „Singles“ leben, haben in ihrer Lebensgestaltung die Möglichkeiten, dass sie an der Zusammenarbeit und am Zusammenleben in vielfältiger Weise teilhaben. Es sind die Wertbereiche und Kultursachgebiete, die nur in sozialer Verbundenheit entstehen. Die Dorf- und Stadtkultur, die Schrift- und Buchkultur, die Rechtskultur, die politische Kultur, die religiöse Kultur sind Ausfluss der Sozialnatur des Menschen. Der Soziologe Arnold Gehlen sprach vom Menschen als einem „Mängelwesen“, der auf soziale Ergänzung angewiesen sei. Aber dies ist nur die eine Seite. Die soziale Natur des Menschen ist nicht nur Ausdruck des Mangels, sondern sehr viel mehr Zeichen des Reichtums, weil die Menschen in sozialer Verbundenheit Wertbereiche aufbauen und gestalten können, die ein Einzelner aus sich allein nicht schaffen könnte. II. Erklärungsversuche Auch wenn der Tatbestand des „Sozialen“ und der „Sociabilität“ des Menschen von niemandem bezweifelt wird und in allen Kulturen wirksam ist, so ist damit noch nicht die Frage beantwortet, was das Soziale, was die soziale Verbundenheit der Menschen ausmacht, was Gemeinschaft und Gesellschaft begründet, welches die Voraussetzungen 3 Vgl. Johannes Messner, Notwendigkeit und Leistungsfähigkeit sozialethischer Normen, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Das Humanum und die christliche Sozialethik, Köln 1970, S. 83 – 123. 4 Robert M. MacIver, The Web of Government, New York 1948, S. 28 ff.
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und ihre Grundlagen, welches die Wirkweisen sind. Wie bei allen derartigen Grundfragen gibt es hier verschiedene theoretische Ansätze und Interpretationen, die, soweit dies möglich ist, geklärt werden müssen. In der antiken Philosophie, die noch nicht den Begriff der Person kennt, hängt die Auffassung des Sozialen mit anderen erkenntnistheoretischen Ansätzen zusammen. Ausgangspunkt ist der Mensch. Was aber ist das Soziale, die Gemeinschaft, die als solche nicht sichtbar und nicht greifbar ist? Handelt es sich hierbei um einen Summenbegriff, weil mehrere Menschen eher zufällig nebeneinander leben, oder handelt es sich um Menschen, die miteinander verbunden sind, um gemeinsame Ziele zu verwirklichen. Im letzteren Fall ist das Soziale oder die Gemeinschaft eine Beziehungs- und Ordnungseinheit. Aber was ist es, das die Menschen zusammenhält? Woher kommt die Gemeinsamkeit und die Einheit der Menschen in kleinen und größeren Gemeinschaften? Wer oder was garantiert ihren Bestand? An dieser Stelle kommen drei Begriffe ins Spiel, die in der antiken Philosophie eine große Bedeutung bei dem Bemühen haben, die Wirklichkeit zu erfassen und zu erklären. Der eine Begriff ist das Individuum, der einzelne Mensch, der „ungeteilt“ und „unteilbar“ ist. Jeder Mensch ist ganz eigen geprägt, einmalig, nicht wiederholbar. Der andere Begriff ist der Gattungsbegriff der Natur beziehungsweise der „natura humana“, der das bezeichnet, was das Wesen des Menschen ausmacht und allen, die Menschen sind – unabhängig von ihren individuellen Besonderheiten –, zukommt. Der einzelne Mensch hat Teil an der allgemeinen Menschennatur, als Individuum aber ist er konkret und einmalig. Die Menschen sind nicht Kopien der Menschennatur. Der dritte Begriff stellt darauf ab, dass mehrere Menschen, die eine Gemeinschaft bilden, der Autorität bedürfen, die sie zusammenhält und bestimmt, was in gemeinsamer Anstrengung erreicht werden soll. Was nun das Soziale betrifft, so kann es nicht einfach als Vielheit oder als Summe von Individuen deklariert werden, weil die bloße Addition von Individuen und ihres Wirkens im Quantitativen verbliebe, aber nicht die Qualität des Sozialen erfassen würde, die mit der Beziehungs- und Ordnungseinheit ins Spiel kommt. Schon bei Platon spielt deshalb der Gedanke eine Rolle, ob die Zuordnung zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft sich nicht ähnlich verhalte wie die Zuordnung zwischen Teil und Ganzem. Der einzelne Mensch ist sozusagen Teil, die Gemeinschaft ist das Ganze oder der „große Mensch“. Der einzelne Mensch hat Teil an der „natura humana“, aber erst alle Menschen zusammen bilden das „Ganze“ des Menschseins. Die soziale Verbundenheit der Menschen erweist sich in der Teilhabe des Einzelnen an der „natura humana“; sie wird zum Grund, der die Einzelnen zusammenhält und bindet, zur Grundlage der Gemeinschaft. Je größer und umfassender die Gemeinschaft, umso mehr verkörpert sie die Fülle des Menschseins. Dies gilt in besonderer Weise für die umfassende Gemeinschaft, die wir heute Staat nennen. Mit dieser Erklärung des Sozialen verbindet sich ein weiterer Gedanke: Je mehr der Einzelne in die Gemeinschaft integriert ist, umso mehr hat er Anteil am Menschsein. Um diese Argumentation zu verstehen, müssen wir das sogenannte Ganzheitsdenken berücksichtigen, das in der Antike die Weltsicht bestimmte und sich in der Scholastik fortsetzte. Die Betrachtungsweise geht vom Ganzen zum Teil, von „oben“ nach „unten“, von Gott zum Kosmos und von da zur Erde, von der Menschheit zu den Gemeinschaften, und zwar von den je größeren zu den je kleineren bis hin zu den einzelnen Menschen, die alles haben, was zum Menschsein gehört, die aber infolge der Individuation
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dieses Menschsein nur jeweils in konkreter, individueller Weise besitzen. Das Ganzheitsdenken war im Altertum bedingt durch die Lebensverhältnisse und den Stand der kulturellen Entwicklung der Menschen. Nur in Gemeinschaft konnte der einzelne Mensch überleben und sich entfalten. Wer nicht einer Großfamilie – damals mit patriarchalischer Struktur – angehörte, hatte wenig Chancen, am Leben zu bleiben. Diese Weltsicht geht nicht von der Auffassung aus, die sich in der Moderne durchgesetzt hat, wonach die Person im Mittelpunkt steht und die Gesellschaft subsidiär ihrer Entfaltung dient. Dennoch wäre es abwegig, das Ganzheitsdenken als eine Art Vorstufe einer kollektivistischen Betrachtungsweise der Wirklichkeit anzusehen. Einer derartigen Interpretation steht der Begriff des Individuums entgegen. Auch das christliche Menschenbild, wonach jeder Mensch „Bild Gottes“ ist, knüpft an die Einsicht der Antike über das Individuum an und verstärkt sie noch. III. Das Gemeinwohl Das Ganzheitsdenken hat auch die Sichtweise des Gemeinwohls (bonum commune) beeinflusst, die vor allem in der römischen Rechtstradition herausgearbeitet wurde. Weil der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen und auf Zusammenarbeit und Gemeinschaft angelegt ist, kann auch das Gemeinwohl nicht als Summe des Privatwohls der einzelnen Menschen gedeutet werden. Vielmehr sagt es etwas aus über den Aufbau und die Verbundenheit der Vielen, ob die Einzelnen bei der Verwirklichung der gemeinsamen Aufgaben ineinandergreifen und die gemeinsamen Ziele erreichen. Wenn das Gemeinwohl nicht gesichert ist, dann ist es auch um das Privatwohl der Einzelnen nicht gut bestellt. Man kann das Gemeinwohl nicht gegen das Privatwohl und umgekehrt ausspielen. „Man kann also vom Einzelmenschen her weder das Gemeinwohl utilitaristisch veräußerlichen, noch das Privatwohl zum bloßen Mittel oder Instrument für das Gemeinwohl machen“.5 Dem Gemeinwohl wurde im Altertum der Vorrang vor dem Privatbeziehungsweise Einzelwohl gegeben; aber dies führte weder zu kollektivistischen noch zu individualistischen Ansätzen, weil in der Antike und im Mittelalter die Menschen und die Großfamilien weit verstreut siedelten und ihre Aufgaben selbstständig zu erfüllen hatten, ohne dass sich die anderen oder gar die Herrschenden viel einmischen konnten. Die Frage, ob bezüglich des Gemeinwohls nicht zu differenzieren sei zwischen dem, was wir heute die Grundrechte der Person oder die Menschenrechte nennen, und dem, was der Einzelne der Gemeinschaft schuldig ist, diese Frage stellte sich früher in dieser Form nicht. Die Soziallehre der Kirche versteht unter Gemeinwohl „die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen“.6 Dazu heißt es im Kompendium der Soziallehre der Kirche: „Das Gemeinwohl besteht nicht in der einfachen Summe der Einzelgüter eines jeden Subjekts im sozialen Gefüge. Als Wohl aller und jedes Einzelnen ist und bleibt es gemeinsam, weil es unteilbar ist und nur gemeinsam erreicht, gesteigert und auch im Hinblick auf die Zukunft bewahrt werden kann“ (Nr. 164). 5 Gustav Gundlach, Gemeinwohl, in: ders., Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, Bd. I, Köln 1964, S. 158. 6 Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 26.
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Vom Gemeinwohl ist der Gemeinsinn zu unterscheiden. Er sagt etwas aus über die innere Einstellung der am gesellschaftlichen Leben beteiligten Menschen und Gruppen, den Erfordernissen des Gemeinwohls nachzukommen und das Zusammenleben zu fördern. Das Gemeinwohl setzt ein notwendiges Maß an Gemeinsinn voraus. Dort, wo der Gemeinsinn der Bürger und die Bereitschaft, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, fehlt, wird das Gemeinwohl geschädigt. Wenn in einer Gesellschaft Sand im Getriebe ist und das Gemeinwohl Schaden leidet, so bedarf es in der Regel sowohl der Zuständereform als auch der sittlichen Erneuerung (Quadragesimo anno, Nr. 77 f. und Nr. 127). Was das Ganzheitsdenken betrifft, so sollte seine reale Auswirkung auf die Menschen und die Gestaltung des Gemeinschaftslebens in der Antike und im Mittelalter nicht überschätzt werden. Dies schon deshalb nicht, weil unterschiedliche Ansätze und Vorstellungen meist auf philosophisch-theologische Denkschulen beschränkt waren, aber kaum die Lebensverhältnisse der Menschen beeinflussten. Selbst die Entdeckung der Person zuerst bei Boethius und dann in der Hochscholastik bei Thomas von Aquin hat die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen und die sozialen Verhältnisse nicht sonderlich berührt.
IV. Von der stationären zur evolutorischen Gesellschaft Im 16. und 17. Jahrhundert bahnten sich Entwicklungen an, die zu neuen Einsichten über den Menschen und seine soziale Natur führten. Die stationäre Gesellschaft des Mittelalters geriet in Bewegung. Auslösendes Moment waren die zahlreichen Entdeckungen und Erfindungen wie z. B. die Buchdruckerkunst. Im Zeitalter der Renaissance und des Humanismus hielt man Ausschau nach neuen Ideen, Freiheitsräumen und Möglichkeiten. Die Aufklärung bestärkte das Vertrauen in die eigene Vernunft, Gott und die Natur zu begreifen; Wissenschaft und Forschung lösten sich von der Offenbarung und von der kirchlichen Autorität. Die Intellektuellen sahen sich nicht mehr an das mittelalterliche Weltbild gebunden. Der Mensch wurde sich als Subjekt des Denkens, Verstehens und Handelns bewusst. An die Stelle der Metaphysik und einer religiösen Weltdeutung trat ein Naturalismus, der sich auch auf die Erklärung der Gesellschaft erstreckte. Typisch dafür ist die Vorstellung bei Hugo Grotius, der den Ursprung des Staates in einem „Naturzustand“ erblickte, der aus isolierten Individuen besteht. Das Soziale wird nicht mehr in der „natura humana“ gesehen, so wie auch die Menschen nicht mehr durch sittliche Bindungen zusammengehalten werden. Es sind die „Individuen“, die, um dem von Thomas Hobbes diagnostizierten Kampf aller gegen alle zu entgehen, einen „Vertrag“ schließen. In seiner Schrift „Le droit naturel“ (1765) schrieb der Vorkämpfer der physiokratischen Freiheitslehre François Quesnay (1694 – 1774): „Der mit Vernunft ausgestattete Mensch hat den Vorzug, die natürlichen Gesetze zu betrachten und zu erfassen, um aus denselben den größtmöglichen Vorteil zu ziehen, ohne diesen Gesetzen und höchsten Regeln zu widerstreben. Daraus folgt, daß ein jeder das natürliche Recht hat, von allen seinen Fähigkeiten Gebrauch zu machen, die ihm durch die Natur verliehen wurden . . . unter der Bedingung, weder sich selbst noch anderen zu schaden.“7 7 Auf diese Stelle weist Heinrich Pesch hin in seinem Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. I: Grundlegung, 3. u. 4. Aufl., Freiburg 1924, S. 287.
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In dieser Auffassung spiegelt sich eine Geisteshaltung, die unter dem Einfluss der deistischen Philosophie der Aufklärung, die sich im 18. Jahrhundert zunächst in England ausbreitete und dann auf den europäischen Kontinent ausstrahlte, an den „natürlichen“ Menschen, an die „natürlichen“ Kräfte und an die „natürliche“ Ordnung der Gesellschaft glaubte.8 An die Stelle der geistig-sittlichen Werte, Ziele und Aufgaben, die der Mensch einzeln und in sozialer Verbundenheit erstrebt und zu verwirklichen trachtet, tritt die Steuerung des Menschen durch seine natürlichen Fähigkeiten und Interessen sowie durch die ihm innewohnenden natürlichen Trieb- und Bedürfnisstrukturen. Eine besondere Zuspitzung erfuhr dieses Denken im Bereich der Wirtschaft durch den Begründer des ökonomischen Liberalismus Adam Smith (1723 – 1790). Wie der Kosmos von Ordnung und Harmonie durchwaltet sei, so besitze auch die Wirtschaft eine ihr vorgegebene natürliche Ordnung, eine „prästabilierte Harmonie“, in der alles von selber richtig laufe, wenn man die natürlichen Kräfte sich entfalten lasse. Der Mensch dürfe in dieses System nicht eingreifen, sonst gerate alles in Unordnung. Das Grundprinzip der natürlichen Wirtschaftsordnung sei die volle Freiheit des Einzelnen und seines Eigentums, des Vertrages und des Wettbewerbs, des Handels und des Gewerbes. Die natürliche Antriebskraft in der Wirtschaft sei der Eigennutz. Wenn jeder „sein eigenes Interesse“ verfolge, so fördere er „das der Nation weit wirksamer, als wenn er dieses wirklich zu befördern die Absicht hätte“. Smith vertritt die Ansicht, dass „die natürlichen Interessen und Neigungen des Menschen auf das genaueste mit den Interessen der Allgemeinheit übereinstimmen“. Dies bewirke die „invisible hand“.9 Weil jedoch das Gegengewicht der sozialen Verantwortung fehlte, konnte das „Eigeninteresse“ und der „Eigennutz“ rasch zum „Egoismus“ werden. Die neue Geistigkeit, die in der Französischen Revolution zum Durchbruch kam, sah den Menschen nicht mehr als Teil eines Ganzen, sondern als souveränes Individuum, als Subjekt, das vermöge seiner Vernunft die Wirklichkeit durchschaut, selbstmächtig entscheidet und handelt, das seine Welt und das öffentliche Leben gestaltet. Der Einzelne ist nicht mehr eingebunden in ein soziales System, vielmehr kann er seine Fähigkeiten, seine Kräfte und Interessen selbstständig und frei entfalten, ohne jemanden dafür um seine Zustimmung bitten zu müssen. Von dieser neuen Freiheit des Einzelnen haben die Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, dann auch die Human- und Sozialwissenschaften profitiert, und die Fortschritte kamen der Menschheit in vielfältiger Weise zugute. Die neue Freiheit des Einzelnen hat auch die wirtschaftlichen Verhältnisse tiefgreifend verändert. Nach Abschaffung der alten und großenteils veralteten sozialen Bindungen, die in der Agrar- und Ständegesellschaft das Zusammenleben der Menschen regulierten, war die Grundlage für den Prozess der Industrialisierung und die moderne Marktwirtschaft gelegt. Ein rasanter Aufschwung der Wirtschaftstätigkeit begann, wie ihn heute Länder wie China und Indien erleben. Schließlich trug die liberale Bewegung im 19. Jahrhundert dazu bei, dass der freiheitliche Rechtsstaat allmählich Gestalt annahm, dass die Ideen der Menschenrechte breite Zustimmung fanden und sich auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensbereiche und der Politik auswirkten und dass die Demokratie auf dem europäischen Kontinent Einzug hielt. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass auch der „liberale“ Staat im 19. Jahrhundert gemäß den Lehren der Vgl. hierzu: Joseph Höffner, a. a. O., S. 188 – 194. Adam Smith, Der Reichtum der Nationen (Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations [1776 / 78]), Leipzig 1924, Buch 4, Kap. 2. 8 9
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Staatsräson und der uneingeschränkten Souveränität einem „aufgeklärten“ Absolutismus huldigte, der auch vor „Gewissenstyrannei“ (Oswald von Nell-Breuning), zum Beispiel im Kulturkampf, nicht zurückschreckte. Die eigentliche Problematik, die die individualistische Geistigkeit heraufbeschwor, ging von der im Umbruch befindlichen Wirtschaft aus. Der Glaube des ökonomischen Liberalismus, dass, wenn nur jeder sein eigenes Interesse verfolge, dies allen zugute komme, erwies sich als Irrglaube. Die „prästabilierte Harmonie“ blieb eine Illusion. Denn trotz der gewaltigen Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität durch den Einsatz von Maschinen (Kapital) und damit des wirtschaftlichen Ertrages waren große Teile der Arbeiterschaft und ihrer Familien von Verelendung bedroht. Die Löhne und Einkommen der Arbeiter reichten nicht aus, um auch nur die lebensnotwendigen Güter kaufen zu können, wohingegen es auf den Märkten immer wieder zu Absatzkrisen kam. V. Das individualistische Vertragsmodell Wenn in der Antike und im Mittelalter vom „Individuum“ die Rede ist, dann ist damit weder ein Vorbehalt noch eine Leugnung der Sozialität des Menschen beziehungsweise seiner sozialen Natur verbunden. Im 18. Jahrhundert ändert sich der Begriffsinhalt: Das Individuum wird zum autonomen Individuum. Der Mensch wird nicht mehr als ein von Natur aus soziales Wesen gesehen, so wie Gott ihn erschaffen hat. Als Individuum hat der Mensch keine ursprüngliche soziale Bindung, vielmehr ist er von Natur aus nur sich selbst verpflichtet. Ob er sich mit einem anderen oder mit mehreren Menschen zusammenschließen und eine „Gemeinschaft“ bilden will, dies hängt ganz von ihm und seinem Willen ab. Das „Soziale“ erscheint jetzt als Ergebnis eines „Vertrages“, den zwei oder mehrere Individuen zur Erreichung selbst gewählter Ziele miteinander schließen. In dieser Konstruktion ist kein Raum mehr für das, was früher unter der sozialen Bindung und Verantwortung verstanden worden war. Mit der Vorstellung vom autonomen Individuum lassen sich soziale Pflichten wie Solidarität und soziale Gerechtigkeit nicht vereinbaren. Unter diesen Umständen verliert auch das Gemeinwohl seinen alle Glieder einer Gemeinschaft bindenden und verpflichtenden Charakter. Das Gemeinwohl wird zu einer Frage der Rationalität, die die Funktionsfähigkeit des von den Individuen eingegangenen Vertrages gewährleistet. Alles Soziale ist aus den gesellschaftlichen Lebensbereichen ausgeschaltet; es gibt nur noch eine Maxime für die Individuen: Verträge sind zu halten („pacta sunt servanda“). Der Vertrag, der die Individuen einen soll, steht, was den Inhalt und die Bedingungen angeht, ganz im Ermessen der Beteiligten. Der Vertrag hat von jeher in der Wirtschaft eine dominante Rolle gespielt. Auf den verschiedenen Märkten wurden die Waren getauscht. Der geschriebene und in den meisten Fällen ungeschriebene Vertrag zwischen Käufer und Verkäufer hat den Warenaustausch, den freien Handel und damit die Versorgung der Menschen mit Gütern geregelt. Auch heute wären die Tauschgeschäfte und der nationale und internationale Handel nicht möglich ohne das Instrument des Vertrages. Die wirtschaftlichen Vorstellungen der klassischen Nationalökonomen kennen nur den Vertrag, aber keine soziale Gerechtigkeit, keine Solidarität. Wenn Adam Smith von Schranken der Selbstliebe spricht, die durch Klugheit, Gerechtigkeit und Wohlwollen gezogen werden10, dann gehen sie nicht 10
Adam Smith, Theorie der moralischen Empfindungen (Theory of Moral Sentiments [1770]).
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über das wohlverstandene Interesse der eigenen Person oder individuelle Nützlichkeitsrücksichten hinaus. Unter diesen Umständen konnte sich ein ungebändigter Egoismus ausbreiten. Der Kaufvertrag erstreckte sich auf Sachen. Im römischen Recht fielen auch Sklaven darunter, weil sie als Sachen galten, über die der Eigentümer völlig frei verfügen konnte. Je mehr sich das Christentum in Europa durchsetzte, war es bemüht, den Menschen- und Sklavenhandel zurückzudrängen, auch wenn er in bestimmten Regionen noch lange praktiziert wurde – selbst von gewissenlosen christlichen Händlern.11 Der Kaufvertrag war rechtens, wenn er die Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit einhielt. Die Moraltheologie musste sich immer wieder mit den Betrügereien kleinen und großen Stils auseinandersetzen, mit denen unbedachte und wenig geschulte Käufer hereingelegt wurden. Eine neue Situation entstand mit der modernen Industriegesellschaft. Auf der einen Seite kam es seit 1750 in Europa zu einem großen Anwachsen der Bevölkerung. Die damalige Landwirtschaft und das Handwerk waren nicht in der Lage gewesen, den Menschen ausreichend Arbeit und Brot zu geben. Auf der anderen Seite entwickelten sich Unternehmen, die auf viele Arbeiter angewiesen waren. Der „Arbeitsvertrag“ sollte das Verhältnis zwischen dem Fabrikherrn, der über die Produktionsmittel verfügte, und dem Lohnarbeiter regeln. Für den Wirtschaftsliberalismus kam ein Arbeitsvertrag zustande, wenn beide Seiten, der Fabrikherr und der Arbeiter, zustimmten und sich einig wurden über die zu erbringende Arbeit und über den zu zahlenden Lohn. Diese Auffassung vom Arbeitsvertrag wurde zum Problem der Industriegesellschaft. Die Tatsache, dass die Lebenssituation des Fabrikherrn und des Arbeiters grundverschieden war, dass der eine über materielle Ressourcen und über seine Arbeit verfügte, der andere allein auf seine Arbeitskraft angewiesen war, spielte dabei keine Rolle. Die Frage nach dem „gerechten Lohn“ wurde in der Phase des Früh- und Hochkapitalismus zum Stein des Anstoßes. Schon der Gedanke, als ob die Arbeit, also die persönliche Leistung eines Menschen, wie eine „Ware“ behandelt werden könne, die auf dem Markt gehandelt und deren Preis sich als Gleichgewichtspreis von Angebot und Nachfrage ergeben sollte, war abenteuerlich. Was nützen die hochgelobten Menschenrechte, wenn der Arbeiter wie eine Ware, wie eine Sache betrachtet wird? Für Karl Marx wurde der „Warencharakter“ der Arbeit zum revolutionären Hebel. Aber nicht nur die verschiedenen sozialistischen Strömungen, sondern ebenso die christlich-soziale Bewegung und die Katholische Soziallehre traten der Vermarktung des Arbeiters vehement entgegen. Der Arbeitsvertrag ist nur dann akzeptabel, wenn die Würde des arbeitenden Menschen geachtet, wenn der Lohn der erbrachten Arbeitsleistung entspricht und wenn die Arbeitsbedingungen menschenfreundlich gestaltet werden. Dies sind die naturrechtlich humanen und sozialen Grundbedingungen, ohne deren Beachtung der Arbeitsvertrag nicht rechtens sein kann. Der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital und das Eintreten für die Würde und Rechte des Arbeitnehmers prägen die großen Linien der Sozialenzykliken, angefangen von Rerum novarum (1891), über Quadragesimo anno (1931), Mater et magistra (1961), Laborem exercens (1981) bis zu Centesimus annus (1991). 11 Joseph Höffner sprach vom „Aufbruch des christlichen Gewissens“ gegen die Knechtung der indianischen Rasse in Mittel- und Südamerika, das sich in der spanischen Kolonialethik gegen die furchtbare Entrechtung und Zertretung der Menschenwürde zur Wehr setzte: ders., Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1947, Einleitung.
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Individualistische Gesellschaftsmodelle räumen dem Individuum den Vorrang vor den Gemeinschaftswerten ein, der individuellen Freiheit vor der sozialen Bindung, der Gleichheit der Individuen vor der Ein- und auch Unterordnung der eigenen Interessen unter das Wohl der Allgemeinheit. In dieser Atmosphäre entwickelte sich die Überzeugung von der Macht des Fortschritts durch die ungebundenen Initiativen der isolierten Individuen. Der grenzenlose Optimismus, der vor allem die führenden Schichten befiel, erwartete den Sieg der Menschheit über Hunger, Not und Elend, sobald die industrielle Gesellschaft voll entwickelt sein würde. VI. Kollektivistische Reaktionen Die Wirklichkeit der im 19. Jahrhundert ablaufenden wirtschaftlichen und sozialen Prozesse sah jedoch ganz anders aus. Gerade die kapitalistische Wirtschaftsweise, die die Güterproduktion und die Produktivität enorm steigerte, hätte in der Lage sein müssen, die wachsende Bevölkerung mit den notwendigen Gütern ausreichend zu versorgen. Stattdessen bahnte sich eine krisenhafte Zuspitzung der Verhältnisse an, die Oswald von Nell-Breuning so beschreibt: Der Individualismus gehe vom „wohlverstandenen“ Interesse des Einzelnen aus; aber kennt dieser wirklich sein wohlverstandenes Interesse? Wenn er nicht ideologieblind wäre, dann würde er erkennen, dass er kein freischwebend, auf sich allein gestelltes Einzelwesen ist, sondern ein gesellschaftliches Wesen, dass er deshalb auch nicht Träger von Interessen sein kann, wie sie einem für sich allein bestehenden Einzelwesen auf den Leib geschnitten wären. Die zwei Jahrhunderte, die seit der Aufstellung der Lehre von der „harmonia praestabilita“ verflossen sind, „haben den erdrückenden Erfahrungsbeweis erbracht, daß die weitgehend ungehemmte Verfolgung dessen, was die Menschen für ihr ,wohlverstandenes Interesse‘ halten, nicht zur Wahrung der Interessen aller, zum ,größten Glück der größten Zahl‘, sondern zu grenzenloser Unordnung, zur Auflösung der menschlichen Gesellschaft, zu ihrer Zersetzung in das, was wir die Klassengesellschaft nennen, diesem Zerrbild einer gesellschaftlichen Ordnung, führt.“12 Noch mehr: Der individualistische Wettbewerb, der das „regulative Prinzip“ der Wirtschaft sein sollte, habe zu seiner Selbstaufhebung geführt und zu einem zügellosen Machtstreben.13 Der Individualismus ist wider seinen Willen zum Vater des Kollektivismus geworden, der im 20. Jahrhundert in verschiedenen Formen und Bewegungen Europa und viele Teile der Welt erfasste. Der grundlegende Wert ist ein Kollektiv, so dass das Individuum, die Freiheit und die eigenverantwortlichen Aktivitäten und Initiativen völlig zurücktreten. Entsprechend der zeitlichen Abfolge, in der sie an die Macht gelangten, sind zu nennen der Kommunismus, der in der Revolution von 1917 in Russland die Herrschaft eroberte und dessen Zentralwert das „Proletariat“ beziehungsweise die „Klasse“ ist; der Faschismus, der 1923 in Italien die Regierung übernahm und dessen Zentralwert die 12 Oswald von Nell-Breuning, Artikel: Individualismus, in: Hermann Sacher / Oswald von NellBreuning S. J. (Hrsg.), Wörterbuch der Politik, Heft V: Gesellschaftliche Ordnungssysteme, Freiburg i. Br. 1951, S. 131 ff., hier S. 133. 13 Pius XI., in: Quadragesimo anno (1931), Nr. 88. – Im Übrigen findet die kritische Analyse der kapitalistischen Klassengesellschaft eine interessante Parallele, insofern der Begründer des „Neoliberalismus“ Walter Eucken ebenfalls zu dem Schluss kommt, dass dem freien Wettbewerb, wenn er sich selbst überlassen bleibt, die Tendenz zu seiner Selbstauflösung innewohne. Nur eine rechtliche Rahmenordnung, für die der Staat zuständig sei, könne den Wettbewerb sichern.
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„Nation“ ist; schließlich der Nationalsozialismus, der 1933 legal an die Macht kam und dessen Zentralwert die „Rasse“ ist, dessen Herkunft in einem weitverbreiteten Antisemitismus zu suchen ist.14 In allen drei Formen ist das Kollektiv die eigentliche Wirklichkeit, die das gesamte gesellschaftliche Leben bestimmt. Der einzelne Mensch ist nur Teil, Baustein des Kollektivs, und zwar in dem Maße er im Kollektiv aufgeht. Kollektive Gesellschaftsformen sind gänzlich anderer Art als das Ganzheitsdenken im Mittelalter, das einerseits am christlichen Menschenbild festhielt (jeder Mensch ist auf seine Weise „Bild Gottes“) und deshalb nicht in Gefahr war, den Einzelnen im Ganzen aufgehen zu lassen. Mit dem christlichen Menschenbild ist der Kollektivismus unvereinbar, der die Freiheit und die Rechte des Menschen als Person leugnet. Andererseits kennt der Kollektivismus auch nicht eine Verbundenheit der Menschen in einer sozialen Einheit (Vielheit in geordneter Einheit), auch keine soziale Pflichtigkeit, die die Anerkennung der sittlichen Persönlichkeit voraussetzt. Das Kollektiv wird hypostasiert; symbolische Formen wie Massenaufmärsche, säkularisierte Liturgien, Mythisierung des Führers sollen das Kollektiv gleichsam transparent werden lassen. An die Stelle einer individualistisch verstandenen Gleichheit aller tritt die Idee der „Elite“ als einer Schicht von Menschen, die in besonderer Weise von dem zugrunde liegenden Kollektivwert erfasst und erfüllt ist und die in der Lage ist, die „Masse“ der Menschen zu regieren. Alle Formen des Kollektivismus haben die Tendenz, eine totalitäre Herrschaft aufzurichten. Es gibt keine Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Staat, keine Eigenständigkeit der gesellschaftlichen Lebensbereiche, keine Selbstverwaltung, keine öffentliche Meinung, keine Beteiligung der Bürger an der politischen Willensbildung. Das gesamte gesellschaftliche Leben ist der zentralen Kontrolle unterworfen, ebenso das gesamte Bildungssystem, das dem Kollektiv zu dienen hat. In der Geistesgeschichte der Menschheit hat es immer wieder auch kollektivistische Ansätze gegeben. Der griechische Philosoph Platon wollte neugeborene Kinder ihren Eltern wegnehmen und sie in öffentlichen Einrichtungen erziehen lassen, um auf diese Weise die Gleichheit der Menschen zu sichern. Aber erst in der Moderne konnte der Kollektivismus zum Totalitarismus werden, weil die Naturwissenschaften und die Technik die Voraussetzungen für eine totale Kommunikation schaffen, sodass die Machtzentren die Anweisungen und Befehle jederzeit im gesamten Herrschaftsbereich durchsetzen, überwachen und kontrollieren können. Überall, wo die totalitären Machtsysteme zerfielen und untergingen, atmeten die Menschen auf, auch wenn die ungeheueren Verluste an Menschenleben – sie waren weit größer als die Millionen Toten, die im Zweiten Weltkrieg zu beklagen waren –, die radikale Zerstörung der Grundlagen des Zusammenlebens und des geistig-sittlichen Bewusstseins in vielen Ländern noch lange zu spüren sein werden. Leider gab es nicht genügend politische Kräfte, die von Anfang an entschlossen gewesen wären, die kollektivistischen Ideologien wirksam zu bekämpfen. Auch in den Wissenschaften, die sich heute meist kritisch gebärden, gab es mehr geistiges Mitläufertum als unbeugsame Mahner. 14 Vgl. dazu die Überlegungen von Gustav Gundlach, die er zu Beginn seiner Lehrtätigkeit in den 1930er-Jahren in der Ordenshochschule Valkenburg / NL und in Frankfurt / St. Georgen den Theologen vortrug: ders., Grundzüge der Gesellschaftslehre, in: ders., a. a. O., Bd. I, S. 66 – 107, hier S. 92 – 101. – Die Kritik an den einseitigen gesellschaftlichen Ordnungssystemen findet sich auch in dem posthum herausgekommenen Sammelwerk: Gustav Gundlach S. J., Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, Bd. II, Köln 1964, S. 11 – 190.
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Es spricht für die Katholische Soziallehre, dass in Quadragesimo anno (1931) nicht nur die durch den Wirtschaftsliberalismus ausgelöste Vermachtung der Wirtschaft und der dadurch herbeigeführte Zerfall der Gesellschaft beim Namen genannt wurden, sondern frühzeitig auch die Irrtümer der kollektivistischen Ideologien und die totalitären Machtsysteme verurteilt wurden. Schon in Rerum novarum (1891) stellte Leo XIII. fest, dass die Sozialisten mit der Forderung, das Privateigentum abzuschaffen, und indem sie die Besitzlosen gegen die Reichen aufstacheln und den Klassenkampf propagieren, die „soziale Frage“ nicht lösen können (Nr. 2). Pius XI. lehnte den „kommunistischen Sozialismus“ als „gottlos und ungerecht“ ab (QA Nr. 112). Aber auch die „gemäßigte Richtung des Sozialismus“, die eine gemilderte Version des Klassenkampfes und der Eigentumsfeindlichkeit befürworte, vertrete eine Gesellschaftsauffassung, die mit der christlichen Auffassung nicht vereinbar sei (QA Nr. 118 – 120). Während die Olympischen Spiele in Berlin (1936) in den USA für eine eher günstige Einschätzung des Nazi-Regimes sorgte15, erließ Pius XI. im Jahre 1937 zwei Enzykliken: Mit brennender Sorge gegen den Nationalsozialismus (14. März 1937) und Divini redemptoris gegen den internationalen Kommunismus (19. März 1937). Der Papst machte deutlich, dass beide Systeme nicht nur gegen das Christentum und die Kirche, sondern auch gegen die Humanität und die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens radikal verstoßen. Ein Jahr später erfolgte die schärfste Verurteilung des Antisemitismus in einem Reskript vom 13. April 1938, das als „Syllabus gegen den Rassismus“ (Konrad Repgen) bezeichnet werden kann und am 3. Mai 1938 – während Hitlers Staatsbesuch in Rom vom 3. bis 19. Mai – auf der ersten Seite des „Osservatore Romano“ veröffentlicht wurde.16 VII. Die Wende zum Solidarismus In der Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Liberalismus und mit der „sozialen Frage“, aber auch mit dem aufstrebenden Sozialismus, haben Bischof Ketteler, die Päpste seit Leo XIII. und die katholischen Sozialwissenschaftler auf die Naturrechtstradition und auf die Lehre von der Sozialnatur des Menschen zurückgegriffen. Der Individualismus und ebenso der Kollektivismus waren Abstraktionen und konnten die soziale Wirklichkeit nicht fassen. Es waren „Einseitigkeitstheorien“. Auf der Suche nach einem Begriff, der sowohl den individualistischen als auch den kollektivistischen Ansatz der Erklärung der Gesellschaft vermeidet, stieß der Jesuit Heinrich Pesch auf den Begriff „Solidarismus“.17 Er fand sich bei französischen Schriftstellern und den sogenannten Frühsozialisten (Sismondi, Léon Bourgeois, Emile Durkheim, Charles Gide). In ihrer Kritik an den sozialen Verwerfungen der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft und am wirtschaftsliberalen Denken gingen sie von einer „natürlichen Solidarität“ aus. Bei Donoso Cortés entdeckte Pesch einen engen Zusammenhang zwischen dem Solidaritätsprinzip und der christlichen Schöpfungslehre, wo Solidarität 15 Das Time-Magazin wählte Adolf Hitler in der ersten Nummer des Jahres 1937 zum „Man of the Year“. 16 Abgedruckt in: Wider den Rassismus. Entwurf einer nicht erschienenen Enzyklika (1938). Texte aus dem Nachlaß von Gustav Gundlach S. J., hrsg., eingel. und kommentiert von Anton Rauscher, Paderborn u. a. 2001, S. 60 ff. 17 Vgl. Heinrich Pesch, a. a. O., S. 408 – 455.
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im Sinne der sozialen Gerechtigkeits- und Liebespflichten verstanden wurde. Beeindruckt war Pesch auch von dem christlichen Nationalökonomen Charles Périn, der das Prinzip der Solidarität in seinem Schrifttum breit darlegte und sowohl die wechselseitige Abhängigkeit als auch die gegenseitige Durchdringung der Einzelnen und der Gemeinschaft betonte. Mehr und mehr verdichtete sich bei Pesch die Überzeugung, dass der Begriff „Solidarismus“ geeignet sei, die mit der sozialen Natur des Menschen gegebene christliche Gesellschaftsauffassung zu bezeichnen. Pesch wurde zum Begründer des „christlichen Solidarismus“. Er hoffte, dass sich diese Bezeichnung gegenüber dem Liberalismus, der einseitig vom Individualprinzip, und dem Sozialismus, der ebenso einseitig vom Sozialprinzip ausgeht, durchsetzen werde. Pesch prägte die Kurzform: Der Mensch inmitten der Gesellschaft. Sie verknüpft den Kern der christlichen Anthropologie, wonach Gott jeden Menschen als Person, als „Bild Gottes“ ins Dasein ruft, mit der christlichen Gesellschaftsauffassung, die die soziale Natur des Menschen nicht als Ergebnis der Evolution erblickt, sondern auf Gott selbst zurückführt. Gott stattet den Menschen mit der ursprünglichen Würde und mit Grundrechten aus, und er will den Menschen in seiner Sozialität, die ihn in die Gesellschaft einbindet und ihn auf die anderen Menschen hin verpflichtet. Deshalb verfehlen Vorstellungen und Deutungen die Wirklichkeit, die den Menschen als autonomes Individuum ohne soziale Verankerung begreifen und die Gesellschaft als Produkt eines von den Individuen geschlossenen Vertrages sehen möchten. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es in Deutschland und in Österreich zu einem ausgeprägten antiindividualistischen Gemeinschaftsbewusstsein. Dies nährte den Verdacht, der Solidarismus sei ein „verkappter Individualismus“, wozu auch der von Othmar Spann entwickelte „Universalismus“ neigte. Gustav Gundlach spürte die Gefährlichkeit dieser Geisteshaltung, die die Abwehrfähigkeit des Katholizismus gegen die kollektivistischen Ideologien, vor allem gegen den Nationalsozialismus, schwächen musste. Deshalb war er bemüht, in der fünften Auflage des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft Inhalt und Tragweite des „Solidarismus“ herauszuarbeiten, um die Verdächtigungen und Unterstellungen zu entkräften. „Solidarismus ist das Gesellschaftssystem, das die solidarische Verbundenheit jeder Gemeinschaft mit ihren Gliedern und der Glieder mit ihrer Gemeinschaft zum beherrschenden Prinzip menschlichen Zusammenlebens macht.“18 Auch wenn der Begriff „Solidarismus“ oder „Solidarität“ in der Sozialenzyklika Quadragesimo anno nicht vorkommt – in Nr. 88 ist von „sozialer Gerechtigkeit“ und „sozialer Liebe“ als den Prinzipien der Gesellschaft die Rede –, so sind die Ideen des Solidarismus der Sache nach sehr wohl enthalten.19 Die Enzyklika verbleibt nicht bei dem bisher üblichen Bezugsrahmen: Einzelmensch und Gemeinschaft, Einzelwohl und Gemeinwohl. Das Subsidiaritätsprinzip (Nr. 79 f.) und seine Qualifizierung als „principium gravissimum“ bedeutete eine Wende hin zu einer Gesellschaftsauffassung, in deren Mittelpunkt die menschliche Person steht.20 18 Art. Solidarismus, Bd. IV, Freiburg i. Br. 1931, Sp. 1613 ff. – Abgedruckt in: Gustav Gundlach S. J., a. a. O., Bd. I, S. 172 – 178. 19 Vgl. Oswald von Nell-Breuning, Der Königswinterer Kreis und sein Anteil an „Quadragesimo anno“, in: J. Broermann / Ph. Herder-Dorneich (Hrsg.), Soziale Verantwortung. Festschrift für Götz Briefs, Berlin 1968, S. 571 ff. 20 Anton Rauscher, Subsidiaritätsprinzip und berufsständische Ordnung in Quadragesimo anno, Münster 1958. Ders., Personalität, Solidarität, Subsidiarität, Heft 1 der Reihe „Katholische Sozial-
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Dessen ungeachtet lebten die Gegenläufigkeiten, die zwischen dem Dominikanerorden und den Jesuiten eine Rolle spielten, in dem von Eberhard Welty 1935 veröffentlichten Buch „Gemeinschaft und Einzelmensch“ wieder auf. Er gelangte zu dem Schluss, im Solidarismus drohe die „Selbstzwecklichkeit“ der Gemeinschaft zu verschwinden, ihre Aufgabe zur bloßen Nutzenfunktion für die Individuen zu werden und das Verhältnis von Einzelmensch und Gemeinschaft nur noch als eines von Zweck und Mittel verstanden zu werden.21 Allerdings waren die katholischen Kritiker des Solidarismus nach 1931 darauf bedacht, nicht in Konflikt mit der Aussage in Quadragesimo anno (1931) zum Subsidiaritätsprinzip zu geraten. Erst unter Pius XII. (1939 – 1958) konnte sich der personale Ansatz des Solidarismus in der Sozialverkündigung der Kirche durchsetzen. Die furchtbaren Verbrechen des Nationalsozialismus in Deutschland und des Kommunismus in der Sowjetunion haben der Welt vor Augen geführt, wozu kollektivistische Ideologien und totalitäre Machtsysteme fähig sind. Wie konnte eine solche Entartung der Politik und der Gesellschaft verhindert werden? Der Berater Pius’ XII. in sozialen Fragen war Gustav Gundlach, der schon das Subsidiaritätsprinzip in Quadragesimo anno formuliert hatte. Er knüpfte an den Kerngedanken des Solidarismus von H. Pesch „Der Mensch inmitten der Gesellschaft“ an und suchte ihn sozialphilosophisch zu vertiefen mit der Formulierung: „Die menschliche Person ist Ursprung, Träger und Ziel allen gesellschaftlichen Lebens“. Pius XII. machte sich diesen Grundsatz zu eigen, in dem das personale Fundament der Katholischen Soziallehre voll zur Geltung kommt.22 Es wurde von Johannes XXIII. in Mater et magistra (Nr. 219 f.) und vom Zweiten Vatikanischen Konzil in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (Nr. 25) bekräftigt. Es sind die Personen, die dem gesellschaftlichen Leben Gestalt und Vitalität geben, die Verantwortung tragen und die durch das Zusammenwirken die gemeinsamen Ziele erreichen. In derselben Weise, in der die Heilige Schrift vom Menschen als „Bild Gottes“ spricht, sieht die Katholische Soziallehre in der menschlichen Person das Fundament des Sozialen. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Person in ihrer Würde und mit ihren Rechten und Pflichten zu den Grundwerten gehört, die integraler Bestandteil des Gemeinwohls sind und die die Gemeinschaft, vor allem der Staat, in erster Linie zu achten und zu schützen hat. Dies ist auch der Grund dafür, dass das Wesen des Sozialen nicht die Integration des Einzelnen in die Gemeinschaft ausmacht, sondern in der Koordination der Personen in der Verwirklichung der gemeinsamen Zeile und Zwecke besteht. Das, was die Personen verbindet und eint, sind nicht die Teilhabe an der „natura humana“, auch nicht die Autorität, die jede Gemeinschaft und im besonderen der Staat nötig hat, sondern die Ziele und Zwecke, die die Kristallisationskerne des sozialen Handelns bilden. Gundlach spricht von „Menschtumswerten“, Johannes Messner von „exislehre in Text und Kommentar“, Köln 1975, abgedruckt in: ders., Kirche in der Welt, Bd. I, Würzburg 1988, S. 253 – 295. 21 Eberhard Welty, Gemeinschaft und Einzelmensch. Eine sozial-metaphysische Untersuchung, Salzburg u. a. 1935. – Gustav Gundlach schrieb eine Entgegnung, in der er das personale Fundament des Solidarismus darlegt: ders., Solidarismus, Einzelmensch und Gemeinschaft (1936), wieder abgedruckt a. a. O., Bd. I, S. 179 – 201. 22 Pius XII., Rundfunkbotschaft vom 24. 12. 1942; in: Utz-Groner Nr. 227. Vgl. auch Kompendium (Nr. 125). – Pius XII. sprach meist von den „Personrechten“; der Begriff der „Menschenrechte“ in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 ist von Johannes XXIII. in der Enzyklika Pacem in terris (1963) in die Sozialverkündigung der Kirche übernommen worden.
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tentiellen Zwecken“23. Es sind diejenigen Ziele und Zwecke, ohne die das Leben und Überleben der Menschen nicht möglich ist. Davon muss jene unbegrenzte Zahl von Zwecken und Zielen aller Art unterschieden werden, die nicht für alle lebensnotwendig sind, deren Verwirklichung im freien Ermessen und Wollen der Einzelnen liegt und die die bunte Vielfalt des gesellschaftlichen Miteinander ausmacht. Im gesellschaftlichen Denken und Handeln hat sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung und der Erfahrungen das Gewicht von der „natura humana“ zu den Personen als den Subjekten des geschichtlichen Handelns und Gestaltens verlagert. Auch das Moment der Autorität wird in der Gesellschaft nicht überflüssig, aber sie kann erfolgreich nur wirken, wenn sie die Personen dafür gewinnt und mobilisiert, sich selbst für das Gemeinwohl aller einzusetzen. Insofern verändert sich auch die Tonlage in der Gesellschaft: Statt zu befehlen müssen die leitenden Instanzen dazu in der Lage sein, die Menschen im Hinblick auf die gemeinsamen Ziele zu überzeugen und sie womöglich aus ihrer Zurückhaltung herauszuholen. Diejenige Gesellschaft wird am besten fahren, bei der möglichst viele Personen aktiv für diese Zwecke und Ziele einstehen. Dies entspricht voll dem Subsidaritätsprinzip, dem in der modernen Massengesellschaft eine wachsende Bedeutung zukommt. VIII. Neuere Entwicklungen Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die freiheitlichen Gesellschaften in Europa damit beschäftigt, die individualistischen und kollektivistischen Fehlentwicklungen und Restbestände zu überwinden. Der Wiederaufbau freier Märkte ging Hand in Hand mit dem Ausbau der Wirtschaftsordnung und des „Sozialstaats“. 24 Freiheit und soziale Gerechtigkeit sind die sittlichen Grundwerte der Sozialen Marktwirtschaft. Die ungeheuere Dynamik, die zunächst durch den Prozess der europäischen Einigung und nach 1989 / 90 durch die wachsende „Globalisierung“ alle Lebensbereiche erfasste, lässt immer neue Probleme und Herausforderungen entstehen. Übrigens hat der sich abzeichnende Niedergang des Kommunismus etwas bewirkt, was sich Heinrich Pesch immer gewünscht, aber niemals erreicht hatte. Die Gründung der ersten freien Gewerkschaft in Polen im Jahre 1979 erfolgte unter dem Namen „Solidarnos´c´“. Es war nicht eine revolutionäre Bewegung, sondern die Wahrnehmung des Grundrechts der Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer, die das totalitäre System in Polen erschütterte. Die Medien der freien Welt haben dies schnell erkannt. Solidarität war jetzt in aller Munde und auch die politischen Gruppierungen und Parteien entdeckten zunehmend die Bedeutung der Solidarität für eine vitale Gesellschaft, die sich nicht mehr gängeln lässt. „Solidarität“ wurde zum Kennzeichen der sozialen Verbundenheit und der wechselseitigen Verpflichtung der Menschen. „Solidarität“ wurde zum Symbol des Miteinander, das mehr beinhaltet und aussagt als der Begriff „Sozialstaat“: Es sind die Bürger selbst, die für das Soziale die Verantwortung tragen. Johannes Messner, Das Naturrecht, 5. Aufl., Innsbruck 1966, S. 43 ff. Eine gute Information, auch über die breite Literatur, bietet Manfred Spieker, Legitimitätsprobleme des Sozialstaats. Konkurrierende Sozialstaatskonzeptionen in der Bundesrepublik Deutschland, Bern / Stuttgart 1986. – Ders., Menschenbild und Sozialstaat, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Christliches Menschenbild und soziale Orientierung (Mönchengladbacher Gespräche, Bd. 13), Köln 1993, S. 95 – 120. 23 24
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Natürlich unterliegen auch Begriffe wie „sozial“ und „Solidarität“ Wandlungen, wenn sich die Verhältnisse und die Denk- und Verhaltensweisen der Bürger ändern. In der Nachkriegszeit war es selbstverständlich, dass man in den noch bewohnbaren Häusern zusammenrückte, um denen, die ausgebombt waren, eine Unterkunft zu geben. Desgleichen teilte man das Wenige, was geblieben war, mit denen, die alles verloren hatten. Die gegenseitige Hilfe wurde großgeschrieben, auch als der Wiederaufbau allmählich in Gang kam. Die Soziale Marktwirtschaft war erfolgreich und hat Wohlstand und soziale Sicherheit für die breiten Schichten des Volkes geschaffen. Allerdings änderten sich seit den 1970er-Jahren auch die Vorstellungen und Erwartungen vieler Bürger, auch vieler Unternehmer. Es setzte eine Prozess der Individualisierung ein. Die sozialen Ressourcen verloren an Kraft. Auch die Begriffe „sozial“ und „Solidarität“ wurden einseitig im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit interpretiert. Der Sozialneid und auch die Unzufriedenheit nahmen in der Bevölkerung zu. Es kam auch zu Gegenbewegungen wie dem „Kommunitarismus“ in den USA.25 In Deutschland sind es Begriffe wie Chancengerechtigkeit oder Teilhabegerechtigkeit, die größere oder kleinere Konflikte oder Defizite des sozialen Miteinanders markieren.26 Die Katholische Soziallehre ist herausgefordert, ihren Beitrag zur Analyse und zur Lösung dieser Spannungen und Spaltungen beizutragen und dafür zu sorgen, dass der Maßstab der Solidarität in den Menschen, auch in der nachwachsenden Generation, lebendig bleibt und Fehlentwicklungen nach der einen wie nach der anderen Seite vermieden werden. Weiterführende Literatur von Hayek, Friedrich A.: Wahrer und falscher Individualismus, in: ders., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach u. a. 1952, S. 9 – 48. Kurz, Edelbert: Individuum und Gemeinschaft beim hl. Thomas von Aquin, München 1933. Macpherson, Crawford B.: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke, Frankfurt a. M. 1967. Mill, John St.: Über die Freiheit, Stuttgart 1974. Minnerath, Roland: Gegen den Verfall des Sozialen. Ethik in Zeiten der Globalisierung, Freiburg i. Br. 2007. von Nell-Breuning, Oswald / Sacher, Hermann (Hrsg.): Wörterbuch der Politik, Heft I: Zur christlichen Gesellschaftslehre, Freiburg i. Br. 1947; Heft V: Gesellschaftliche Ordnungssysteme, Freiburg i. Br. 1951. Ortega y Gasset, José: Der Aufstand der Massen, Stuttgart 1947; neue Ausg. Reinbek 1984. Röpke, Wilhelm: Die Krise des Kollektivismus, München 1952. 25 Amitai Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus (Titel der Original-Ausgabe: „The Spirit of Community. Rights, Responsibilities, and the Communitarian Agenda“, New York 1993), Stuttgart 1995. 26 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hannover / Bonn 1997. – Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik (Die deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, 28), Bonn 2003.
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Schaff, Adam: Marxismus und das menschliche Individuum, Wien 1965. Spieker, Manfred: Art. Kollektivismus, in: Staatslexikon, Bd. III, 7. Aufl., Freiburg i. Br. 1987, Sp. 570 – 573. Utz, Arthur F.: Sozialethik (mit internationaler Bibliographie), Bd. 3: Die soziale Ordnung, Heidelberg 1986.
Menschenwürde und Freiheit Von Paul Kirchhof I. Ursprungsgedanke allen Verfassungsrechts Das Recht regelt Beziehungen unter Menschen. Deshalb bestimmt das Bild vom Menschen, das einer Rechtsordnung zugrunde liegt, deren Inhalt. Das Recht anerkennt und verteilt persönliche Berechtigungen und Güter im jeweiligen Verständnis des Rechtssubjekts:1 Es kann vorgefundene Unterschiede der Abstammung und des Reichtums bestätigen oder einebnen, Rechte und Güter nach Verdienst oder Tugend zuteilen, den Tausch von Gabe und Gegengabe organisieren, Ehrbewusstsein und Sittlichkeit für Spende und Zuwendung nutzen, einen allgemeinen oder besonderen Bedarf befriedigen. Das moderne Recht stützt die Verteilung von Rechten und Gütern heute überwiegend auf das Prinzip der Freiheit, das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen in der Gestaltung seines Lebens, öffnet damit die rechtliche Ordnung für eine stetige Erneuerung im individuellen Wollen und in persönlicher Verantwortung. Das Grundgesetz folgt diesem Freiheitsprinzip und macht dessen gedankliche Voraussetzung ausdrücklich bewusst. Am Anfang dieser Verfassung steht der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1 Abs. 1 Satz 1). Diese Unantastbarkeitsgarantie regelt ein Tabu, das nicht berührt werden darf,2 wenn die Rechtsordnung nicht zusammenbrechen soll.3 Die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen ist das Axiom dieser Rechtsordnung, nicht mehr hinterfragbarer Ausgangspunkt, Denkgrundlage, ohne die das Denken in dieser Verfassung nicht möglich ist. Selbstverständlich mag jemand diese Verfassungsgrundlage in Frage stellen. Er wird aber ohne sie die Verfassungsordnung nicht verstehen. Wenn die Würde des Menschen unantastbar „ist“, macht diese Formulierung deutlich, dass das Recht etwas Vorgefundenes aufnimmt, nicht etwas bisher noch nicht Geltendes anordnet. Die Menschenwürde wird als dem Menschen zugehörig erkannt und deshalb rechtlich anerkannt. An diese Erkenntnis knüpft sich ein Bekenntnis. Das deutsche Volk „bekennt“ sich „darum“ zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten (Art. 1 Abs. 2 GG), bekundet also in diesem Bekenntnis eine Wahrheit, die innerhalb dieser Rechtsordnung nicht widerlegt werden kann. Selbst eine Verfassungsänderung, durch welche dieser in Art. 1 niedergelegte Grundsatz „berührt“ wird, ist unzulässig (Art. 79 Abs. 3 GG). Jeder Mensch hat, allein weil er existiert und wie er existiert, eine 1 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, 1131a (übersetzt von Franz Dirlmeier, 1956, S. 100 f.). 2 Vgl. Jakob Grimm, Von der Poesie im Recht, 1816, S. 9 f. 3 Vgl. auch Josef Isensee, Menschenwürde: Die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR 131, 2006, S. 173 (179); ders., Tabu im freiheitlichen Staat, 2003, S. 35.
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Würde.4 Ob Nobelpreisträger oder Taugenichts, ob bewusst handelnd oder ohne Bewusstsein, jedem Menschen kommt um seiner Selbst willen Würde zu.5 Diese Garantie einer unantastbaren Würde stimmt mit der Idee des christlichen Menschenbildes überein. Das Grundgesetz übernimmt die Früchte der naturrechtlichen Tradition und verwandelt sie in positives Recht, ohne das in seinen Auswirkungen unübersehbare Naturrecht insgesamt zu übernehmen.6 Der säkulare Staat stützt sich auf Ergebnisse christlicher Lehren, ohne sich die Lehren des Christentums zu eigen zu machen.7 Die griechische Antike kennt keinen allgemeinen Würdebegriff, anerkennt vielmehr Verdienst, Ruhm, persönliche Ehre und Ansehen, die erworben werden mussten.8 Auch das Römische Reich begegnet eher dem Würdenträger als der Würde; „dignitas“ meint eine nach Amt, Rang und persönlicher Bedeutung erworbene Stellung im öffentlichen Leben. Nur die Stoa spricht schon von der „menschlichen Würde“, die allen Menschen zusteht.9 Das Christentum lehrt ein Bild des Menschen, der durch Geist, Verstand und freien Willen eine einzigartige Sonderstellung einnimmt und einen eigenen Auftrag empfängt: Der Mensch ist zwar auch ein Vernunftwesen – animal rationale –, wird aber wesentlich durch seine Eigenschaft als Geschöpf und Ebenbild Gottes bestimmt.10 Der Mensch hat – als Gottes Ebenbild und Gleichnis erschaffen – eine unsterbliche Seele und führt ein Dasein um seines Heils willen. In dieser Lehre von der Würde des Menschen liegt ein radikaler Gleichheits- und ein ebenso entschiedener Freiheitssatz. Zugleich wird dem Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit die Natur anvertraut; der Mensch kann von der Natur Besitz ergreifen, sie zur Entfaltung seiner Würde und Freiheit nutzen.11 Diese Lehre bestimmt bis heute die freiheitliche Verfassungsordnung, in der ein Mensch selbstbestimmtes Subjekt in jeder Rechts- und Herrschaftsordnung ist: „Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich die Umwelt zu gestalten“12. Das Christentum ist somit Ursprung und Anstoß einer Aufklärung, die aus einer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“13 beBVerfGE 88, 203 (252) – Schwangerschaftsabbruch II. BVerfGE, a. a. O.; BVerfGE 39, 1 (37) – Schwangerschaftsabbruch I. 6 Josef Isensee, a. a. O., S. 176; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Bleibt die Menschenwürde unantastbar?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (2004), S. 1216 (1223 f.); vgl. auch Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde / Robert Spaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde, 1987, S. 295 (297). 7 Isensee, a. a. O., S. 199 f. 8 Victor Pöschl, Artikel Würde (I), in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhard Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, 1992, S. 637 f. 9 Marcus Tullius Cicero, De Officiis, in: Michael Winterbottom (Hrsg.), M. Tulli Ciceronis De officiis, 1994, S. 105 f. 10 Genesis 1,26 und 27; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2002, S. 164 f. 11 Genesis 1,28; Böckenförde, a. a. O., S. 176. 12 Günter Dürig, in: Theodor Maunz / ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 29. Aufl., 1993, Art. 1 Abs. 1 Rn. 18. 13 Immanuel Kant, in: Jürgen Zehbe (Hrsg.), Was ist Aufklärung, Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, 1967, S. 55. 4 5
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freit. Das Licht führt die Weisen aus dem Morgenland zu einem Kind, nicht zu Göttern, die Naturgewalten – die Meere, die Erde, das Feuer, den Himmel, die Unterwelt – beherrschen, auch nicht zu Göttern mit menschlichen Anliegen und Leidenschaften, die für Kriegsglück, Fruchtbarkeit, wirtschaftlichen Erfolg oder Wissenschaft zuständig wären. Die Welt ist entgöttlicht, säkularisiert, dem Menschen zur freiheitlichen Gestaltung anvertraut. Diese Würde des freien Menschen in einer säkularen Welt bestimmt die Begegnung von Mensch zu Mensch, gipfelt in der Forderung der Brüderlichkeit, dem dritten Ideal moderner Demokratien. Die Gleichheit der Würde jedes Menschen in der rechtlichen Begegnung begründet „unverletzliche und unveräußerliche“ Menschenrechte (Art. 1 Abs. 2 GG), ist also eine Rahmenbedingung der Freiheit, für die Freiheit selbst unverfügbar. Das Menschenbild des Grundgesetzes ist Ursprung und rechtliche Grenze der Freiheit. Auf diese Sicherheit eines legitimierenden Ursprungsgedankens ist die moderne Gesellschaft angelegt. „Keine Verfassung garantiert sich selbst“.14 Die Verfassungsgemeinschaft ist auf andere, von ihr unterschiedene Legitimationsinstanzen, insbesondere die Kirchen, als „Überlebensbedingung“ angewiesen,15 die diesen Humus des Verfassungsrechts pflegen und erneuern. Sie stützt sich auf den Humanismus, den deutschen Idealismus, die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts und insbesondere die Verfassungsstaaten, die das Bild vom Menschen in Würde und Freiheit zu Freiheitsund Gleichheitsrechten weiterentwickelt haben.
II. Die Positivität der Würdegarantie 1. Offensichtlichkeit des Undefinierten
Wenn der Mensch in der Mitte der Rechtsordnung steht, er der Berechtigte für Würde, Freiheit und Gleichheit ist, drängt juristische Handwerklichkeit dazu, den Menschen möglichst klar zu definieren. Rechtliche Klugheit hingegen weist dieses Vorhaben zurück. Würden wir den Menschen nach seinem aufrechten Gang, seiner Sprache, seinem Gedächtnis, seiner Fähigkeit zur Selbstvergewisserung oder seiner Kultur definieren, nähmen wir all jene Menschen von dem rechtlichen Schutz aus, die nicht gehen, nicht sprechen, sich nicht erinnern, sich nicht selbst bestimmen oder Mindestfertigkeiten der Kultur nicht erwerben können. Der rechtliche Schutz versagte dort, wo er am dringendsten benötigt wird. Ähnlich verhält es sich mit der Würde, die dem Menschen garantiert ist. Wert und Würde haben semantisch eine gemeinsame Wurzel, anerkennen und schätzen das, was dem Menschen in seiner Individualität, seiner Fähigkeit zur Freiheit, seiner Persönlichkeit als verantwortlicher Mensch in der Gemeinschaft zukommt. Im Parlamentarischen Rat wurde deshalb der Vorschlag, die Würde des Menschen am Anfang des Grundgesetzes zu schützen, als „nicht interpretierte These“ vorgelegt.16 14 Joseph von Eichendorff, Preußen und die Konstitutionen (1832), in: Jost Perfahl (Hrsg.), Werke Bd. V: Politische und historische Schriften, Streitschriften, 1988, S. 129. 15 Walter Kasper, Die theologische Begründung der Menschenrechte, Festschrift für Paul Mikat, 1989, S. 99 ff. 16 Der Abgeordnete Dr. Heuss, JöR NF 1, zu Art. 1, S. 48 (49).
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Diese Ausgangsnorm des Grundgesetzes enthält eine Besinnung auf das Fundament der Zivilisation, betont den Eigenwert jedes Menschen und damit seine Freiheit, hebt die Gleichheit der Rechte und damit die Gemeinverträglichkeit der Freiheitsausübung hervor, stellt den Menschen als Individuum in die Gemeinschaft seiner Mitmenschen und der Generationen.17 Dieses Menschenbild bestimmt auch die Staatsorganisation, die Herrschaft mit Kontrolle verbindet, beeinflusst die Staatsaufgaben des Friedens, der Freiheitssicherung und des sozialen Ausgleichs, fördert entschiedene Gegenwehr gegen Verächter und Verachtung der Menschenwürde. Die Menschenwürde als Schlüsselbegriff des Staatsrechts schützt den Menschen davor, unter vollständige Verfügungsgewalt eines anderen Menschen zu geraten, als Rädchen im Räderwerk behandelt, jeder eigenen geistig-moralischen oder physischen Existenz beraubt zu werden. Die juristischen Kommentierungen des Art. 1 Abs. 2 GG vermeiden es bewusst, die Menschenwürde in eine allgemein definierte Formel zu fassen. Stattdessen stellen sie die typischen Anwendungsfälle der Menschenwürdegarantie dar: Art. 1 Abs. 1 schützt den einzelnen Menschen vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnliche Handlungen durch Dritte oder durch den Staat.18 Daraus folgen Eingriffsverbote für das Strafen, das Strafverfahren, den Strafvollzug, für Wehrpflicht und Ersatzdienst, Beamtenrecht, Sicherheits- und Polizeirecht, Ausländer- und Asylrecht, das Recht der Privatheit und Sexualität, auch für Techniken der Biomedizin und Biowissenschaft, den Ehren- und Persönlichkeitsschutz. Schutzgebote entwickeln sich für das Leben, das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Ehre, die Privatheit, den Intimbereich, das Recht am eigenen Bild und den Arbeitsplatz.19 Verletzt wird die Würde durch Maßnahmen, die den Menschen wie ein Tier oder eine Sache behandeln, durch Folter, Sklaverei, Massenvertreibung, Genozid, Ächtung, Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, „Menschenversuche“, Bruch der Intimsphäre, systematische Ehrverletzung, psychotechnische Praktiken der Strafjustiz, grausame Strafen.20 Grundanliegen des Rechts – wie der Schutz der Menschenwürde, der Erziehungsauftrag oder die Gesundheitspflege – lassen sich kaum positiv definieren; wohl aber ist es möglich, negativ festzustellen, wann diese Ziele verfehlt werden. Der Arzt wird kaum die Gesundheit definieren können, weiß aber sehr genau, was eine Krankheit ist und welche Heilmittel er dagegen einsetzen muss. Der Staat darf und kann den Eltern ihr Erziehungsziel nicht vorgeben, tritt aber als Wächter auf, wenn ein Kind zu verwahrlosen droht. Der Jurist weiß nur schwer zu sagen, was Gerechtigkeit ist, weiß aber sehr prägnant zu bestimmen, wann jemandem Unrecht zugefügt worden ist. Diese Sicht des Rechts ist geprägt von einer Idee der Freiheit: Die Zehn Gebote begründen vor allem Verbote, sagen also, was nicht sein darf, und überlassen alles andere dem Erlaubtsein, der Freiheit. 17 Christian Starck, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10 f. 18 BVerfGE 1, 97 (104) – Hinterbliebenenrente I; 107, 275 (284) – Schockwerbung II; 109, 279 (312) – Großer Lauschangriff; 115, 118 (153) – Luftsicherheitsgesetz. 19 Starck, a. a. O. Art. 1 Abs. 1 Rn. 48 f.; Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR), Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 22 Rn. 5 f.; Horst Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 1 Abs. 1 Rn. 62 f. 20 Dürig, a. a. O., Art. 1 Abs. 1 Rn. 19 f., 29 f.
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2. Das Konstitutionsprinzip
Recht allerdings meint die rationale Ordnung, deren Inhalte durch die Rechtswissenschaft vermittelt, durch die Rechtsbeteiligten nachvollzogen, durch die Gerichte kontrolliert werden können. Deswegen nimmt die Undefinierbarkeit einer Regel den Charakter als Rechtssatz. Ließe sich z. B. das Eigentum, die Presse oder die Religion nicht definieren, wären deren rechtliche Garantien zumindest jenseits eines offensichtlichen Kernbereichs gefährdet. Doch nimmt die Garantie der Menschenwürde in der Verfassung eine Sonderstellung ein. Sie steht außerhalb der Regeln, die in Zusammenspiel und Gegenläufigkeit der Rechte anderer gesetzlich näher ausgestaltet werden müssen,21 die mit anderen Rechten zu einem schonenden Ausgleich zu bringen sind,22 die durch verfassungsimmanente Schranken und das Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt, beschränkt, auf Gegenrechtspositionen abgestimmt werden können.23 Das „Konstitutionsprinzip“ des Art. 1 Abs. 1 GG24 steht systematisch vor den „nachfolgenden Grundrechten“ (Art. 1 Abs. 3 GG), gibt der Freiheit und der Gleichheit Begründung und einen Inhalt, definiert sie aber nicht. Die Menschenwürde – das Bild des würdebegabten und deswegen zur Freiheit fähigen Menschen – gibt den Grundrechten eine rechtliche Orientierung, ohne an deren Konkretheit – und damit deren Kollisionen und Konkurrenzen – teilzuhaben. Die Garantie der Menschenwürde wirkt „absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs“25. Die aus der Menschenwürde folgenden Freiheits- und Gleichheitsrechte hingegen unterliegen der Güterabwägung, wirken nur insoweit absolut und entziehen sich jedem Güterausgleich, als sie unmittelbar Ausfluss der Menschenwürde sind.26 Dieser Absolutheitsanspruch nimmt die Würdegarantie aus der Gestaltungsmacht des Gesetzgebers aus, lässt gegenläufige Rechte an dieser unbedingten Gewährleistung abprallen, drängt in seinen religiösen und philosophischen Ursprüngen in die Universalität weltumspannender Menschenrechte, ist in seiner Unabänderlichkeit (Art. 79 Abs. 3 GG) resistent gegen Zeitgeist und Gesetzgeberwille. Die Entstehensquelle für den Rechtssatz des Art. 1 Abs. 1 GG ist überpositiv, die Erkenntnisquelle im Text des Grundgesetzes positiv. Das Grundgesetz öffnet in der Garantie der Menschenwürde ein Fenster unmittelbar zu der Rechtskultur, der es seine Entstehung verdankt. Für die Rechtsquellenlehre 27 21 Peter Lerche, Grundrechtsschranken, in: HStR Bd. V, 2. Aufl., 2000, § 122 Rn. 29 f.; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rn. 332 f. 22 Lerche, a. a. O., Hesse, a. a. O. 23 Dreier, a. a. O., Art. 1 Abs. 1 Rn. 21; Martin Nettesheim, Die Garantie der Menschenwürde zwischen metaphysischer Überhöhung und bloßem Abwägungstopos, AöR, 2005, S. 71 (81). 24 BVerfGE 45, 187 (227) – Lebenslange Freiheitsstrafe I; 72, 105 (115) – Lebenslange Freiheitsstrafe II; 79, 256 (268) – Kenntnis der eigenen Abstammung; 87, 209 (228) – „Tanz der Teufel“; 95, 220 (241) – Aufzeichnungspflicht; 102, 370 (389) – Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas; dazu auch Häberle, a. a. O., § 22 Rn. 7. 25 BVerfGE 75, 369 (380) – Persönlichkeitsschutz, Strauß-Karikatur, unter Bezugnahme auf Starck, a. a. O., 3. Aufl., Art. 5 Abs. 3 Rn. 209. 26 BVerfGE 75, 369 (380) – Strauß-Karikatur. 27 Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: HStR Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 21 Rn. 1 ff., 13 ff.; Paul Kirchhof, Recht Sprechen ist Sprechen über das Gesetz, in: Festschrift für Günter Hirsch, 2008, S. 583 ff.
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und die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt28 macht Art. 1 GG bewusst, dass Verfassungsrecht weitgehend kulturell vorgefundenes Recht ist, dieses Recht bei der Verfassunggebung in der Rationalität des Sprachlichen gefasst und mit institutionell gestützter Verbindlichkeit ausgestattet wird, der Kern der Verfassung aber nicht durch einen originären Willensakt eines demokratischen Verfassunggebers erdacht und hervorgebracht wird. 3. Die Garantie der Würde in definierten Rechten
Sobald die Garantie der Menschenwürde Bestandteil eines Verfassungstextes, einer Verfassungsurkunde wird, greifen die Grenzen des positiven Rechts aber auch für die positivrechtliche Handhabung dieser Gewährleistung. Der Geltungsanspruch der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes ist durch die Reichweite dieses Gesetzes und des sie tragenden Staates bedingt und begrenzt.29 Vor allem aber wirkt die Menschenwürde in ihren konkreten Folgen, den einzelnen Freiheits- und Gleichheitsrechten, definiert, beschränkt und beschränkbar. Art. 1 Abs. 1 GG nimmt ein Bild vom Menschen auf, das ihn als selbstbestimmte Person, als zur Sittlichkeit fähige Persönlichkeit versteht, ihm Würde und Freiheit zuspricht, in dieser Eigenheit jedem einzelnen Menschen Gleichheit vor dem Gesetz und ein soziales Willkommen in der Rechtsgemeinschaft zusichert. Die wichtigste Folge dieses Menschenbildes ist die rechtliche Garantie der Freiheit, die jedem Menschen die selbstbestimmte Gestaltung seines Lebens erlaubt, ihm anbietet, sein Glück selbst zu definieren und zu suchen, ungestört vom Staat und gelegentlich gestützt durch staatliche Hilfsangebote. Diese Freiheit ist für jedermann gleich, endet also als rechtliche, definierte Freiheit dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Die Freiheit des Grundstückseigentümers erstreckt sich bis zur Grenze des Nachbareigentums, die Freiheit des Berufstätigen achtet die gleiche Freiheit der Berufskollegen, aber auch der durch die Berufsausübung Betroffenen, die Freiheit des Elternrechts berechtigt zur selbstbestimmten Erziehung und Pflege des Kindes, begründet aber nicht Herrschaft, sondern dient der Entfaltung des Kindes. Freiheit unterscheidet sich von Willkür durch seine Schranken. Die Verfassung garantiert deshalb nicht Freiheiten, sondern Freiheitsrechte. Gerade die vom Bild des würdebegabten Menschen geprägten Verfassungsstaaten sehen den Menschen deshalb in der Zugehörigkeit zu einer Rechtsgemeinschaft, in der jeder Mensch in diese Gemeinschaft eingebettet ist, auch auf die Gemeinschaft hin lebt. Dieses Menschenbild ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums, sondern das der gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Person.30 Aus der Menschenwürde folgt deshalb das Freiheitsrecht, das die individuelle Freiheit als Teil der Gesamtrechtsordnung versteht und die freiheitliche Demokratie als Staatsform der Zugehörigen ausgestaltet.31
Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: HStR Bd. II, a. a. O., Rn. 22 ff. Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, 1993, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 104 (117 f.); dazu Isensee, a. a. O., S. 179. 30 BVerfGE 4, 7 (15 f.) – Investitionshilfe; ständige Rechtsprechung. 31 Paul Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat – die Staatsform der Zugehörigen, in: HStR Bd. IX, 1997, § 221. 28 29
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Allerdings haben die Menschenrechte historische Bedeutung vor allem als Freiheit vom Staat gewonnen, wenn der Mensch sich aus einer bisherigen Gemeinschaft löst oder Distanz zu ihr sucht. Nach der Glaubensspaltung in Europa, der Erfahrung übermäßiger Steuerlast, willkürlicher Verhaftung und Zwangsrekrutierung war es das Anliegen der Menschen, die bisherige Gemeinschaft und die bestehenden Abhängigkeiten zu verlassen und in der Emigration Dienst- und Vasallenpflichten zu entfliehen.32 Von diesem Ausgangspunkt aus wurde das Recht einer Person „die der einzelnen Person zustehende Macht: Ein Gebiet, worin ihr Wille herrscht“33. Der Mensch beansprucht Freiheit von der ihn bindenden Macht. So entwickelt sich der rechtlich freie, in seiner Ausgangschance gleiche Mensch, der erwerbstätig ist, sich selbst ernährt und Eigentum bildet. Leitbild dieses Rechts ist das selbstbestimmte Individuum, dessen Rechte allerdings wiederum definiert, deshalb begrenzt sind. So begegnen sich in der Gewährleistung der Menschenwürde das noch nicht konstituierte Konstitutionsprinzip und die daraus folgenden konstitutionellen Einzelgewährleistungen. Die Verfassung baut auf die Vorstellung eines Menschen, der mit Würde begabt, zur Freiheit bestimmt und zur Verantwortlichkeit fähig ist. Jeder Mensch beansprucht in dieser Würde Achtung und Schutz. Er ist, weil er existiert und wie er existiert, in der Rechtsgemeinschaft willkommen, gehört ihr als zur Freiheit befähigte, seine eigenen Angelegenheiten selbst gestaltende Person an, entwickelt als verantwortliche Persönlichkeit Selbstbewusstsein, Urteilskraft und Gemeinsinn. Der Tatbestand „Mensch“ begründet einen Gleichheitssatz und fordert für jeden Menschen als Individuum die Sicherung seiner Existenz und eine Chance zur Entfaltung. Die „Person“ beansprucht Teilhabe in Gesellschaft und am Rechtsverkehr, bestimmt sich selbst vor anderen durch die Maske, in der ein Schauspieler seine Rolle vor dem Publikum darstellt.34 Die „Persönlichkeit“ ist der zur Sittlichkeit und verantwortlichen Selbstbestimmung fähige Mensch,35 der die individuelle Selbstbestimmung in der Mitverantwortung für andere wahrnimmt. Die Garantie der Menschenwürde wird in den geltenden Rechtstexten zunächst festgestellt, als vorgefunden anerkannt.36 Die Würde „ist“ unantastbar. Das Recht bekräftigt den „Glauben“ an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit,37 versteht die Achtung der Menschenwürde als einen der „Werte, auf die sich die Europäische Union gründet“38, „bekennt sich“ zu den aus der Würde folgenden unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten.39 32 Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 4. Aufl., 1927, S. 46 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vom Wandel des Menschenbildes im Recht, 2001, S. 8. 33 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, § 4, S. 7. 34 Vgl. Michael Welker, Person, Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit, JBTh 15 (2000), S. 247 (251). 35 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants Werke, herausgegeben von der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. V, 1913, S. 1, 3 (71 ff.); Otto von Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. I, 1895, S. 702. 36 Vgl. Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948; Präambel des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966. 37 Präambel der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945. 38 Art. 1 Abs. 1, Teil I des Entwurfs des Verfassungsvertrages für die Europäische Union, vgl. auch Präambel des Teiles II, daselbst. 39 Art. 1 Abs. 2 des Deutschen Grundgesetzes vom 23. Mai 1949.
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Wenn diese auf Rationalität, Voraussehbarkeit und Kontrolle angelegten Rechtstexte mit einem Bekenntnis beginnen, macht diese Gewährleistung bewusst, dass die Menschenwürde vorgegebene Ausgangsnorm, juristisches Axiom eines Verfassungskonzeptes ist, das letztlich nicht begründet oder widerlegt, sondern nur in der Kontinuität philosophischer, ethischer und rechtlicher Überlieferungen40 verstanden und gehandhabt werden kann. Diese Anerkennung von Vorgegebenem, dieses Bekenntnis zu einer Wertetradition wirkt als Basis eines Rechtssatzes. Aus dem realen Ist folgt ein Soll: Die Rechtsgemeinschaft findet den Menschen in seiner Würde vor, soll ihn deshalb in seinem Dasein und Sosein willkommen heißen, ihn in seiner Würde und den daraus folgenden unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten achten und schützen.41 Die Würde kann dem Menschen nicht genommen werden; Achtung und Schutz kann verletzt werden, ist dem Recht deshalb aufgegeben.
III. Menschenwürde als entwicklungsleitendes Prinzip 1. Verbindlicher Rechtsgedanke
Die Garantie der Menschenwürde sieht den Menschen als selbstbestimmte, um ihrer selbst willen lebende und handelnde Person, als zur Freiheit geboren und begabt. Die Menschenwürde ist einerseits ein im Religiösen wurzelndes Geheimnis – „Würde bedeutet Gottesnähe“42 – andererseits Ausdruck des Menschen als „Zweck an sich selbst“, „nicht nur als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen“43. Der Mensch ist Person, die im Unterschied zu den Sachen nicht nur einen relativen Wert (Preis) hat, sondern einen absoluten Wert, die Würde.44 Die Garantie der Würde wird erst in den Erfahrungen von Krieg und Unrechtsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg45 zu einem rechtlich greifbaren Grundsatzmaßstab, der es verbietet, den einzelnen Menschen „zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe“ herabzuwürdigen.46 Der Mensch hebt sich kraft seines Geistes von der unpersönlichen Natur ab, ist „befähigt, seiner selbst bewusst zu werden“47. In dieser grundsätzlichen Fähigkeit jedes Menschen 40 Vgl. im einzelnen Christian Starck, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 1 Abs. 1 Rn. 3 ff.; Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HStR Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 22, Rn. 5 f., 84 f. 41 Für eine Übersicht über die nationalen Verfassungen vgl. Christian Starck, a. a. O., S. 30; Peter Häberle, a. a. O., § 22 Rn. 1 f.; Horst Dreier, in: ders., Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 1 Abs. 1 Rn. 26 f. 42 Isensee, a. a. O., S. 200. 43 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1. Aufl., 1785, S. 64, in: ders., Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. IV, 1966, S. 7 (59 ff.); dazu Rolf Gröschner, Menschenwürde als Konstitutionsprinzip, in: Anne Siegetsleitner / Nikolaus Knoepfler (Hrsg.), Menschenwürde im interkulturellen Dialog, 2005, S. 17 (32 f.). 44 Kant, a. a. O., S. 68; dazu Josef Isensee, a. a. O., S. 184 f. 45 Isensee, a. a. O., S. 175 f., 186 f. 46 Günter Dürig, in: Theodor Maunz / ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 Rn. 28. 47 Dürig, a. a. O., Art. 1 Abs. 1 Rn. 18.
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liegt seine Würde; sie kommt auch dem Geisteskranken zu, der individuell nicht zur freien Selbstbestimmung fähig ist, auch dem Verbrecher, der der „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens“, das allein dem Gesetz gehorcht, „das es zugleich selbst gibt“48, zuwiderhandelt, und dem einwilligenden Opfer, das sich mit seiner Entwürdigung einverstanden erklärt.49 Aus der Idee der Würde jedes Menschen erwächst ein verbindlicher Rechtsgedanke, der wiederum das Unrecht, die Verletzung der Würde, sichtbar, offensichtlich macht. Dies bestätigt das Bundesverfassungsgericht. Es gehöre „zum Wesen des Menschen“, „in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten“. Der Einzelne könne verlangen, „in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden“50. Die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 2 GG) schließe es „generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen“51. Der öffentlichen Gewalt ist jede Behandlung des Menschen verboten, „die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt“52, „indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen kraft seines Personseins zukommt“53. Diese Würde ist Eigenschaft jedes Menschen, verlangt Selbstachtung und Fremdachtung, kann weder durch eine staatliche Macht, noch durch gesellschaftliche Kräfte, noch durch den Berechtigten selbst genommen werden. Die Menschenwürde ist ein offener Begriff,54 der den Ausgangsgedanken der Verfassungsordnung begreift, die elementaren Schutz- und Achtungsgebote des Verfassungsstaates beschreibt, der den Wert benennt, aus der die anderen Werte folgen. Diese Ausgangs- und Basisnorm des Verfassungsrechts gibt dem Interpreten nicht die Verlässlichkeit eines im Gesetzestext begrifflich vorgezeichneten Einzelfallergebnisses, sondern einen Wertungsgrund, der Ungewissheiten belässt, damit aber die Suche nach dem rechtfertigenden Wert auch für den Einzelfall fordert. Wertungsungewissheit eröffnet nicht eine Interpretation in Beliebigkeit, verweist die Interpretation vielmehr auf die gewachsenen und bewährten Werte, die das Recht in seiner Sprache aufnimmt und verbindlich an die Zukunft weitergibt. Die Würde des Menschen ist der „Fixstern“, auf dem man nicht leben kann, dessen „fernes Licht“ aber „die Richtung in der Nacht“ weist, der „hilft, die unvermeidliche Unsicherheit auszuhalten“55.
Kant, a. a. O., S. 67. Dürig, a. a. O., Art. 1 Abs. 1 Rn. 19; Isensee, a. a. O., S. 185. 50 BVerfGE 45, 187 (227) – Lebenslange Freiheitsstrafe I; 115, 118 (143) – Luftsicherheitsgesetz. 51 BVerfGE 27, 1 (6) – Mikrozensus; 45, 187 (228) – Lebenslange Freiheitsstrafe I; 118 (153) – Luftsicherheitsgesetz. 52 Vgl. BVerfGE 30, 1 (26) – Abhörurteil; 87, 209 (228) – „Tanz der Teufel“; 115, 118 (153) – Luftsicherheitsgesetz. 53 BVerfGE 30, 1 (26) – Abhörurteil; 109, 279 (312 f.) – Akustische Überwachung von Wohnungen; 115, 118 (153) – Luftsicherheitsgesetz. 54 Kritisch deshalb zur Dürig’schen Objektformel insbesondere Horst Dreier, a. a. O., Art. 1 Abs. 1 Rn. 53: „Passepartout für subjektive Wertungen aller Art“. 55 Isensee, a. a. O., S. 217. 48 49
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Paul Kirchhof 2. Die Bedeutung des „gemeinsamen Wissens“ von Staat und Religion
Die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG baut somit darauf, dass eine Rechtsidee die Rechtsentwicklung leiten, formen, vor Fehlleistungen bewahren kann. In der europäischen Geschichte des Rechts entfaltet insbesondere die christliche Religion die Wirkkraft eines geistigen Impulses, der das „gemeinsame Wissen“ von Staat und Gesellschaft bereichert und eine Gesellschaft, die sich auf Ungewissheit eingelassen hat, nachhaltig festigt.56 Die Vorstellung von einem menschgewordenen Sohn Gottes vermittelt ein Verständnis vom Menschen, in dem Gott eine Heimat finden kann, und begründet damit die Vorstellung von Individuum und Menschenrechten. Der Gedanke, der Mensch sei Ebenbild Gottes, anerkennt die Würde jedes Menschen, auch einen Auftrag zur Bildung,57 zur Anstrengung für das Wissen und die Entfaltung des individuellen Charakters. Die Lehre vom „allwissenden“ Gott macht das Wissen zum Ideal; diese Religion ist ihrer Lehre und ihrer Geschichte nach ein Ansporn zu wissenschaftlichem Denken. Die Lehre von einem Gott, dessen Verheißungen sich nicht an bestimmte Gruppen – die Griechen, die Römer, die Juden, das „Auserwählte Volk“ – richten, vielmehr einen universalen Anspruch des Christentums an alle Menschen meinen, relativiert das Recht als eine vorletzte Ordnung, betont die Verantwortung des Menschen in seinem Gewissen, leitet eine Entwicklung ein, in der Staat und Kirche sich voneinander trennen. Das auf den einzelnen Menschen und sein Seelenheil ausgerichtete Christentum öffnet das Recht für die Anliegen der einzelnen Person, hat eine „prinzipielle Verinnerlichung und Moralisierung des Rechtsdenkens“ zur Folge,58 stellt dem allgemeinen und gleichen Recht den individualisierenden Gedanken der Billigkeit gegenüber.59 Nach christlicher Vorstellung ist die Gleichheit aller Menschen in Würde und Freiheit unentziehbar.60 Die Hinwendung zu Armen, Schwachen, Unfreien lässt Institutionen des Sozialen und des Ausgleichs entstehen.61 Die Wahl der Päpste und Bischöfe entwickelt ein Verfahren, wie man politische Ämter durch Wahl besetzen kann.62 Der kanonische Prozess einer Rationalisierung des Verfahrensrechts und einer Hierarchie der Normen führt zur rechtlichen Bindung des Staates.63 In dem christlichen Gedanken der gleichen Würde und Freiheit jedes Menschen wandelt sich die Ehe von einem Übereinkommen des Bräutigams mit der Sippe der Braut 56 Gerd Roellecke, Religion – Recht – Kultur und die Eigenwilligkeit der Systeme, 2007, S. 21 f.; Axel Freiherr von Campenhausen, Christentum und Recht, in: Peter Antes (Hrsg.), Christentum und europäische Kultur, 2002, S. 96 f. 57 Roellecke, a. a. O., S. 21. 58 Axel Freiherr von Campenhausen, Christentum und Recht, a. a. O., S. 108. 59 Alexander Hollerbach, Artikel Billigkeit, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 1, 7. Aufl., 1985, Sp. 810 f. 60 Herbert Schambeck, Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 8, Rn. 11. 61 Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl., 1980. 62 Roellecke, a. a. O., S. 21. 63 Roellecke, a. a. O.
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(Muntehe) zu einer auch vom Willen der Braut abhängigen Konsensehe,64 entwickelt sich das Strafrecht von der Sanktion und Rache für die Verbrechenstat zu einem Recht von Schuld und Sühne, das eine Strafe je nach Zurechenbarkeit und Schuld beurteilt;65 stellt neben die Vergeltung auch die Besserung.66 Die urchristliche Gleichheit aller Menschen hat die Gegenwehr gegen Leibeigenschaft und Versklavung bestärkt, sich nach langen Phasen des Zögerns und der Rückschläge auch weitgehend durchgesetzt.67 Christliche Individualisierung wirkt auch auf das Recht von Eigentum und Erbrecht, auf das Prozessrecht und das gesamte Familienrecht ein.68 Der einzelne Mensch ist – aus Familienverband, Sippe, Berufsstand und Nation herausgetreten – zur Ehe mündig, zur Verfügung berechtigt, zur Wahrnehmung eigener Recht befugt. Vor allem belebt das Christentum das Geschichtsbewusstsein des Menschen, ein Wissen um den eigenen Tod. Der Mensch erlebt ein „Selbstbewusstsein, das mit den eigenen Grenzen zu kämpfen hat“69. Das, was für den menschlichen Körper unerreichbar, für menschliches Erkennen nicht erkennbar ist, wird nicht geleugnet, sondern ist Ausgangspunkt von Religion und Kirchlichkeit. Dabei geht es nicht um ein bloßes Erkenntnisproblem, sondern um eine Ungewissheit, die das zum Tod bestimmte Schicksal des Menschen betrifft, seine bei bloßer Rationalität von Zufälligkeiten geprägte Entwicklung und Geschichte in universalen Aussagen – einer Offenbarungsreligion – deutet, seine Perspektiven und Visionen, die Voraussichten des Weitsichtigen, nicht in Kausalität, Kalkül und Berechenbarkeit einzufangen sucht, sondern in die Weite einer religiösen Gewissheit führt.
3. Ideelle Prinzipien und historische Anlässe
Die Erfolgsgeschichte der Menschenrechte wird durch ein allgemeines Menschenbild befördert, erlebt ihre wesentlichen Zäsuren aber im Kampf um konkrete Rechtsverbesserungen für einzelne Gruppen. Die Magna Charta Libertatum (1215)70 ist das Ergebnis königlicher Zugeständnisse, die geistige und weltliche Feudalherren König Johann von England abgetrotzt hatten. John Locke bemühte die Lehre von der natürlichen Freiheit des Menschen und der vertraglichen Begründung jeder Herrschaft, um gegen den Absolutismus der Stuarts kämpfen und eine konstitutionelle Fassung der Königsmacht begründen zu können.71 Auch die Virginia Bill of Rights72 vom 12. Juni 1776 folgte 64 Hans-Wolfgang Strätz, Artikel Kebsehe, in: Adalbert Erler (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, 1978, Sp. 695 f. 65 Gerald Göbel, Der Beitrag des kanonischen Rechts zur europäischen Rechtskultur, Archiv für katholisches Kirchenrecht, 159 (1990), S. 19 f. 66 Gerald Göbel, a. a. O., S. 30. 67 Axel Freiherr von Campenhausen, a. a. O., S. 111 f. 68 Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, 104 (1987), S. 296 (301 f.). 69 Roellecke, a. a. O., S. 26. 70 Magna Charta Libertatum von 1215, bearb. von H. Wagner, 1951. 71 John Locke, in: Two treatises of government (1690), in: Peter Laslett (Hrsg.), A critical edition with an introduction and apparatus criticus, 2. Ausg., 1967.
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konkreten politischen Anliegen und beantwortete Gefährdungslagen menschlicher Freiheit.73 In dieser Perspektive wird verständlich, dass die Verkünder dieser Menschenrechte zugleich Sklavenhalter sein konnten: Die Sklaven waren zwar Menschen, aber keine Bürger. Die bürgerliche Revolution Frankreichs führte zwar zu der „Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers“ vom 26. August 1789, konnte aber die Benachteiligung der Frauen, die Judenemanzipation und die Lage der Farbigen in den französischen Kolonien zunächst kaum verbessern.74 Die Erklärung der Menschenrechte beendete die ständische Sozialstruktur, betonte die Gleichheit und die gleiche Freiheit aller Franzosen, hat aber mit dieser staatsbürgerlichen Gleichheit das Gemeinwesen nur langfristig erneuert. Das Wort der Freiheit für jedermann war dem Menschenbild vorausgeeilt, hat dieses dann aber bald nachgezogen. Der Kampf um mehr individuelle Freiheit fördert die Idee der gleichen Würde jedes Menschen. Diese Idee stützt und stärkt den Kampf um die Freiheitsrechte. Die aus der Garantie der Menschenwürde folgenden Freiheitsund Gleichheitsrechte werden als Grundrechte gewährleistet,75 bewahren aber den Anspruch, für jeden Menschen in allen Teilen der Welt rechtlich wirksam zu werden. Dieser universale Ausgangsbefund moderner Verfassungen ist in seinen kulturellen Wurzeln zu verstehen und zu deuten. Diese Verfassungsvoraussetzungen76 werden von den Verfassungstexten nicht als Entscheidung für eine philosophische, religiöse oder historische Idee aufgenommen, bauen aber auf gesellschaftliche Kräfte, die diese Wurzeln lebendig halten und damit den Humus bereitstellen, aus dem der Verfassungsbaum erwächst. 4. Unverletzliche Würde und konfliktreiche Begegnung
Die unantastbare Würde eines jeden Menschen erwartet für die Begegnung unter Menschen, dass jeder den anderen in seinem Dasein und Sosein achtet und schützt. Wenn dieser Grundsatz im Verhältnis von staatlichem Hoheitsorgan und Gewaltunterworfenem, gesellschaftlich Mächtigen und Abhängigen, Wettbewerbern und Konkurrenten, Familien, Nachbarn und Sippen beachtet wäre, hätte das Recht seine Aufgabe der Friedenssicherung und Entfaltungshilfe erfüllt. Doch die Menschen verfolgen im Bemühen um Ernährung, Fortpflanzung, Selbstbehauptung, Ansehen, Herrschaft, Wissen 72 Abgedruckt in: Herbert Schambeck / Helmut Widder / Marcus Bergmann (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, 1993. 73 Horst Dreier, in: ders., Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Vorbem. vor Art. 1 GG Rn. 7; Hasso Hofmann, Die Entdeckung der Menschenrechte, 1999, S. 8. 74 Hasso Hofmann, a. a. O. 75 Zur Unterscheidung zwischen Grund- und Menschenrechten vgl. Klaus Stern, Die Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: HStR Bd. V, 1. Aufl., 1992, § 108, Rn. 3 f.; Gerhard Ritter, Ursprung und Wesen der Menschenrechte, in: Roman Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. 202 f. 76 Zur Unterscheidung zwischen Verfassungsinhalten und Verfassungsvoraussetzungen vgl. Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Horst Ehmke / Josef H. Kaiser / Wilhelm A. Kewing / Karl Matthias Meessen / Wolfgang Rüfner (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, 1973, S. 285 f.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 37; Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzung und Verfassungserwartungen, in: HStR Bd. V, 1992, § 115; Paul Kirchhof, Grundrechtsinhalte und Grundrechtsvoraussetzungen, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 21, Rn. 7 f.
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und Eigentum Ziele, die sie mit anderen in Konflikt bringen, die Streit und Kampf verursachen. Die Unantastbarkeit der Würde trifft so auf die Relativität der Freiheitsrechte: Freiheitsrechte können gegenläufig ausgeübt werden, müssen deshalb schonend gegeneinander ausgeglichen, also relativiert werden. Die Forschungsfreiheit des Arztes wird durch den Gesundheitsanspruch des Patienten begrenzt, die Eigentümerfreiheit des Unternehmers muss auf die Berufsfreiheit seiner Arbeitnehmer abgestimmt werden, die Wahrnehmung des Elternrechts hat dem Wohl des Kindes zu dienen, die Kunstfreiheit des Dichters die persönliche Ehre des von ihm beschriebenen Menschen zu achten. Auch der einzelne Mensch hat Konflikte zwischen dem Menschenbild und seinem individuellen Willen zu lösen. Darf er seine vorgefundene Normalität verändern, sein altersbedingt nachlassendes Gehör durch ein medizinisches Implantat verbessern, eine Schönheitsoperation vornehmen, seine Leistungsfähigkeit durch Doping steigern, seine Erlebnisfähigkeit durch Droge vermehren? Darf der Suizidwillige an der Selbsttötung gehindert, der Patient entgegen seinem Willen zu medizinisch notwendigen Eingriffen gezwungen, die Heilungschance nach seinem Willen durch einen genetischen Eingriff verbessert werden? Das Menschenbild bestimmt die Perspektive, wenn über den Schutz des menschlichen Lebens beim Ungeborenen, über die Hilfe beim Sterben des Schwerkranken, über die Grenzen des wissenschaftlichen Humanexperiments zu bestimmen ist. Der Würdeschutz ist absolut, seine konkrete Ausprägung in Einzelgrundrechten relativ. Das zeigt sich insbesondere beim Recht des Einzelnen auf Leben. Theoretisch wird die Rechtsordnung das Leben, ohne das der Mensch nicht existiert und weitere Rechte nicht in Anspruch nehmen kann, absolut schützen wollen. In der Wirklichkeit einer konfliktreichen Welt muss das Recht anerkennen, dass das Leben eines Angreifers bei Notwehr und Nothilfe nicht unbedingt geschützt ist, das Leben eines Feuerwehrmannes oder Rettungssanitäters zum Schutz anderer bewusst gefährdet, das Leben von Soldaten in einem Krieg planmäßig aufs Spiel gesetzt wird. Das Leitprinzip der Menschenwürdegarantie will diese Konfliktlagen vermeiden. Das Grund- und Menschenrecht auf Leben muss sich im dennoch real werdenden Konfliktfall soweit als möglich – relativiert – durchsetzen. Die Verfassungsrechtsprechung bewahrt deshalb die Menschenwürde als unantastbare Regel, löst den konkreten Konflikt aber erst im schonenden Ausgleich, in praktischer Konkordanz der besonderen Grundrechte. Diese Abstufung macht das Prinzip bei der Lösung des individuellen Falles sichtbar, bezieht es aber nicht in die Abwägung gegenläufiger Rechte ein. Das Bundesverfassungsgericht77 hat seine Entscheidungen in den würde- und freiheitserheblichen Sachverhalten stets auf das Basisrecht der unantastbaren Würde ge77 Zur Privat- und Intimsphäre: BVerfGE 6, 32 (41) – Elfes; 38, 312 (320) – berufsbezogenes Zeugnisverweigerungsrecht; zum strafrechtlichen Schuldprinzip: BVerfGE 20, 323 (331) – nulla poena sine culpa; 45, 187 (259 f.) – Lebenslange Freiheitsstrafe; zur Unschuldsvermutung: BVerfGE 74, 358 (370 ff.) – Unschuldsvermutung I; 82, 106 (114 f.) – Unschuldsvermutung II; zum Verbot eines Zwangs zur Selbstbezichtigung: BVerfGE 38, 105 (114 f.) – Rechtsbeistand; 56, 37 (41 ff.) – Bremer Modell; 95, 220 (241) – Aufzeichnungspflicht; zum Anspruch des Straftäters aus Resozialisierung: BVerfGE 35, 202 (235 f.) – Lebach; zum Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung: BVerfGE 90, 263 (270 f.) – Ehelichkeitsanfechtung; 96, 56 (63) – Vaterschaftsauskunft; zum Recht
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stützt, die konkrete Abwägung dann aber im Rahmen der besonderen Freiheitsrechte vorgenommen. Die Würdegarantie gibt der Verfassungsauslegung ein prinzipielles Maß, die konkreten grundrechtlichen Gewährleistungen weisen den Weg zu Einzelfolgerungen und setzen diese dem Gesetzesvorbehalt, dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, dem schonenden Ausgleich aus. Die unterschiedliche Rechtsfolge von absolutem Würdeschutz und relativen Freiheitsrechten zeigt sich insbesondere, wenn elementare Grundrechte so miteinander kollidieren, dass es einen schonenden Ausgleich nicht gibt. Das Bundesverfassungsgericht78 hat über die gesetzliche Ermächtigung entschieden, durch unmittelbare staatliche Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, um einen terroristischen Angriff abzuwehren. Das Gericht stellt zu Recht fest, dass die als Geiseln genommenen Flugzeuginsassen zum Objekt nicht nur der Täter, sondern auch des Staates würden, sie wehr- und hilflos, ausweglos und unentrinnbar dem Handeln des Staates ausgeliefert seien, sie dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht würden.79 Wenn der Staat über ihr Leben einseitig verfügt, werde den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.80 Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb die Ermächtigung zum Abschuss als mit dem Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar erklärt, soweit tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen sind.81 Richtet sich hingegen der Blick auf die gleichermaßen wehr- und hilflosen Menschen in dem Hochhaus, auf das ein Flugzeug seinen terroristischen Angriff richtet, verpflichtet der Auftrag zum Schutz von Menschenwürde und Leben den Staat, diese Menschen zu retten. Der Staat hat gleiche Herrschaft über die Menschen im Flugzeug wie im Hochhaus, die staatlichem Handeln jeweils ausweglos und unentrinnbar ausgeliefert sind. Diese „Objektstellung“ hat der Staat nicht hergestellt; der Staat macht diese Menschen nicht zum Objekt, vielmehr begründet die vorgegebene Objektstellung den staatlichen Schutzauftrag. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG gebietet dem Staat und seinen Organen, sich schützend und fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen, es vor rechtswidrigen An- und Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren.82 Das Verbot, einen Menschen wehr- und hilflos zu machen, trifft hier den terroristischen Angreifer, nicht den Staat. Die Rechtsfrage stellt sich deshalb anders: Darf der Staat, der nur einen Teil der unmitam eigenen Namen: BVerfGE 78, 38 (49) – Gemeinsamer Familienname; zum Recht am eigenen Bild: BVerfGE 35, 202 (220) – Lebach; BVerfGE 101, 361 (392) – Caroline von Monaco II; zum Recht am eigenen Wort: BVerfGE 54, 148 (155) – Eppler; zum Grundrecht auf Datenschutz: BVerfGE 65, 1 (42 ff.) – Volkszählung; zum Schutz der persönlichen Ehre: BVerfGE 54, 208 (217 f.) – Böll; zum Recht auf schuldenfreien Eintritt in die Volljährigkeit: BVerfGE 72, 155 (170 ff.) – ererbtes Handelsgeschäft; zur Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz: BVerfGE 82, 60 (85) – Steuerfreies Existenzminimum; 99, 246 (259 ff.) – Kinderexistenzminimum; zur körperlichen wie geistig-seelischen Identität und Integrität: BVerfGE 56, 54 (75) – Fluglärm. 78 BVerfGE 115, 118 f. – Luftsicherheitsgesetz. 79 BVerfGE 115, 118 (154) – Luftsicherheitsgesetz. 80 BVerfGE, a. a. O. 81 BVerfGE 115, 118, Leitsatz 3 – Luftsicherheitsgesetz. 82 So zutreffend BVerfGE 115, 118 (152) – Luftsicherheitsgesetz.
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telbar vor dem Tod stehenden Menschen im Flugzeug und im Hochhaus retten kann, das Flugzeug abschießen, also aktiv töten, um aktiv zu retten? Maßstab ist nicht der Würdeschutz, den der Staat keinem der betroffenen Menschen abspricht. Maßstab ist der Lebensschutz, der unter dem Vorbehalt des Gesetzes steht, deswegen für die Unterscheidung zwischen rechtswidrigem Angriff und rechtmäßigem Verhalten zugänglich ist. Der schutzverpflichtete Staat wehrt den rechtswidrigen Angriff ab.83 Die Menschenwürdegarantie drängt den Staat nicht, zukünftigen Terroristen anzukündigen, der Verfassungsstaat sei ihnen gegenüber von vornherein wehrlos. Etwas anderes gilt für die Folter.84 Auch die Folter, durch die der schützende Staat einer drohenden Verletzung von Menschen zuvorkommen will, betrifft die Rechtsbeziehung zwischen Staat, Störer und Opfer. Hier verbietet Art. 1 Abs. 1 GG kategorisch die den Betroffenen entwürdigende Folterhandlung. Der Hinweis auf die Gegenrechtsposition, der Staat dürfe das Leben der Geisel nicht durch Untätigkeit opfern, verfängt nicht, weil insoweit die Menschenwürde abwägungsresistent ist. Hier macht das rechtliche Tabu in Art. 1 Abs. 1 GG bewusst, dass nicht alle Anfragen an den Verfassungsstaat rechtlich vorgezeichnet und beantwortet sind. Das Staatsorgan darf nicht foltern, ebenso aber nicht die ihm anvertrauten Menschen durch Untätigkeit töten. Dieser Konflikt dürfte einer weiteren rechtlichen Klärung nicht zugänglich sein. Das Staatsorgan entscheidet in einer Verantwortlichkeit jenseits des Rechts.
IV. Freiheitsrecht und individuelle Beliebigkeit Eine Rechtsordnung, die den Menschen als Freiheitsberechtigten, als demokratischen Wähler, als den Maßstabgeber für Verfassungsrecht und staatliches Handeln in den Mittelpunkt rückt, baut auf den Einzelnen als Person, der eigene Rechte hat, am Rechtsverkehr teilnimmt und insbesondere im Vertrag Rechtsverbindlichkeiten hervorbringen kann. In einem demokratischen Verfassungsstaat ist der Mensch zugleich Teil einer Nation, eines Wahlvolkes, von dem die Staatsgewalt ausgeht und vor dem die Ausübung der Staatsgewalt gerechtfertigt werden muss. Der Mensch ist Teil der Verfassungsgemeinschaft, ihr rechtlich zugeordnet und verantwortlich, bleibt aber als Individuum Berechtigter, unabhängig von einer Zugehörigkeit zu Familie, Sippe, Stand, Religion oder Staatsangehörigkeit. Die Staatsangehörigkeit begründet demokratische Rechte und traditionell auch demokratische Folgerechte, wie Versammlungs-, Vereinigungs- oder Berufsfreiheit. Die Menschenrechte aber stehen jedem Menschen unabhängig von seinen besonderen Eigenheiten, Zugehörigkeiten und Qualifikationen zu.
1. Berechtigung des Einzelnen, nicht der Gruppe
Das Bild eines würdebegabten, zur Freiheit fähigen Menschen wird zu einem verfassungsdirigierenden Programmsatz,85 der den Einzelnen berechtigt und in neueren Ver83 Zur Problematik, die tatsächliche Lage voll zu überblicken und richtig einzuschätzen, vgl. BVerfGE 115, 118 (154 ff.) – Luftsicherheitsgesetz. 84 Vgl. dazu Christian Starck, a. a. O, Art. 1 Abs. 1 Rn. 79; Peter Häberle, HStR Bd. II, § 22, Rn. 83; Horst Dreier, a. a. O., Art. 1 Abs. 1 Rn. 131 f.; Isensee, a. a. O., S. 190 ff.
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fassungen durch Verfassungsbeschwerde vor Gericht geltend gemacht werden kann.86 Er entwickelt sich von einer Entstehens- zu einer Erkenntnisquelle für Recht. Die Verpflichtung des Staates, die Würde jedes Menschen zu achten und zu schützen, bewahrt den Einzelnen vor Verachtung und Erniedrigung, schützt seine körperliche Integrität, sichert ihm menschengerechte Lebensgrundlagen, wahrt seine personale Identität und Ehre, bietet die Mindestbedingungen zur Entfaltung seiner Freiheit, gewährleistet elementare Rechtsgleichheit. Der einzelne Mensch wird zur Mitte und zum Maß des Verfassungsstaates. Die menschen- und staatsrechtliche Grundsatzfrage, ob der rechtliche Schutz einer Gruppe – der Familie, der Sippe, eines Berufsstandes, einer Nation – oder aber dem einzelnen Menschen zugesprochen wird, ist nach dem Menschenbild der Verfassungsstaaten entschieden: Berechtigter ist der einzelne Mensch, der mit seinen Grundrechten Verletzungen durch den Staat, neuerdings aber zunehmend auch durch gesellschaftliche Gruppen und andere Menschen abwehrt.87 Ideengeschichtliche Entwicklungslinien und praktische Rechtsbedürfnisse weisen auf Schutz und Entfaltung des einzelnen Menschen: Das Christentum, die „Religion der Freiheit“88, begegnet jedem einzelnen Menschen als Geschöpf Gottes. Die Philosophie der Neuzeit versteht den Menschen als Zweck an sich selbst, der mit autonomem Willen Schöpfer seiner eigenen Gesetze ist.89 Auf dieser Grundlage antworten die staatlichen Verfassungen und auch völkerrechtliche Verträge auf erlebte Menschenrechtsverletzungen mit Grundrechtsgarantien für den einzelnen Menschen, die individuell vor Gericht durchsetzbar sind.
2. Rechtliche Garantie und ideelle Übersteigerung
Der verfassungsrechtliche Schutz des Menschen ist deswegen für den Menschen, seine Würde, Freiheit und Entwicklung offen, bleibt aber in seinem Ausgangspunkt – dem Dreiklang von Mensch, Person und Persönlichkeit – gebunden und damit rechtlich handhabbar. Das Menschenbild des Grundgesetzes und die Garantie der Menschenwürde verlören ihre Rechtlichkeit, wenn sie subjektivierend in den Traum, in das Gefühl, in die Formlosigkeit subjektiver Schöpfung entlassen würden. Das Begreifen des Menschen als autonome Person ist also in der Nüchternheit des Rechts Ausgangstatbestand für Eingriffsverbote, Schutzpflichten und rechtliche Entfaltungsvorkehrungen. In anderen Lebensbereichen, insbesondere in der Kunst und in der Ökonomie, erlebt es hingegen Übersteigerungen und Abflachungen, die sich deutlich vom rechtlichen Ausgangstatbestand unterscheiden.
85 Brun-Otto Bryde, Programmatik und Normativität der Grundrechte, in: Detlev Merten / HansJürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, § 17 Rn. 26. 86 Victor Pöschl, Artikel Würde (I), in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhard Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, 1992, S. 637 f. 87 Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 15 Rn. 90 f. 88 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion, Bd. II, 1986, S. 207 f. 89 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV, 1973, S. 434 f., 439 f.
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a) Kunstfreiheit Wenn der Dichter zum Höhenflug der Phantasie und der Gedankenkühnheit ansetzt, nimmt er sein Recht auf Kunstfreiheit wahr, das insoweit nicht mit gegenläufigen Rechten kollidiert. Er entfaltet „Genie“ und „Herz“, Genie als die rätselhafte Kraft, mit der man an das Erhabene rührt; Herz als das Subjektive, daran „alle Bilder der Einbildungskraft erwachen“, „alle Gedanken größer denken“90. Ein Genie findet nicht, sondern erfindet, bringt etwas Neues, „Originelles“ ans Licht der Welt. Shakespeare habe sich, so sagt Johann Wolfgang von Goethe,91 nicht an Regeln gehalten, sondern Regeln gegeben, die der eigenen schöpferischen Natur entstammen.92 Eine junge Generation, die dem freien, schönen Geist zugetan war, formuliert im Selbstbildnis des Genies ein neu erwachtes Selbstbewusstsein gegen die hierarchische, starre und beschränkte Welt des Herkommens, gegen kleinbürgerliche Unterwerfungsbereitschaft, Anpassung an Konventionen, Verengung auf Beruf, Amt und Erwerb, auch gegen einen trockenen Rationalismus, der kein Geheimnis übrig lassen wollte.93 Diese Freiheit will nicht „von etwas“ frei sein, sondern bedeutet ein freies Hervorbringen, das sich von der Enge der Kausalität und Vorhersehbarkeit löst und schöpferisch wirkt.94 In dieser Genialität allerdings hebt sich nicht der Dichter von anderen Menschen ab; vielmehr steckt in jedem Menschen ein Genie, dessen individuellen Lebenskeim die Gesellschaft entfalten muss. In der Regel allerdings erstickt sie das Genie und macht aus ihm eine „Fabrikware Mensch“95. Dieser Höhenflug des Denkens und Empfindens, dieser Sturm und Drang der Freiheitsidee, diese Naivität für Natur und Instinkt,96 ist Ausdruck der Freiheit des Denkens und der Kunst, die sich in Ideen und Formensprache äußert, deswegen mit den Rechten anderer kaum kollidiert. Der Gedanke des Erhabenen, des Grenzenlosen, des Genialen gehört zum Menschen. Das Recht schützt dieses Denken und Schöpfen gegen eine staatliche Beeinflussung und Störung, erlaubt aber die Grenzenlosigkeit nur im Ideellen, nicht im Gegenüber gegenläufiger Rechte anderer.97 Rechte regeln die Begegnung von Menschen, sind deshalb stets begrenzt.
90 Friedrich Gottlob Klopstock (1755), in: Karl-August Schleiden (Hrsg.), Ausgewählte Werke, 3. Aufl., 1969, S. 997 und S. 1004. 91 Johann Wolfgang von Goethe, in: Karl Richter u. a. (Hrsg.), Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. I, 1985, S. 414. 92 Vgl. auch Immanuel Kant, Kritik an der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Werke, Bd. V, 1957, S. 242: Im Genie gibt „die Natur der Kunst die Regel“. 93 Rüdiger Safranski, Schiller oder Die Erfindung des deutschen Idealismus, 2004, S. 48. 94 Johann Gottfried Herder, in: Wolfgang Pross (Hrsg.), Werke, Bd. I, 1984, S. 359 f. 95 Arthur Schopenhauer, zitiert nach Rüdiger Safranski, a. a. O., S. 51. 96 Friedrich von Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Peter-André Alt / Albert Meyer / Wolfgang Riedel, Sämtliche Werke, Bd. 5, 2004, S. 704. 97 Vgl. BVerfGE – Mephisto 30, 173 (194); 67, 213 (228) – Anachronistischer Zug; Beschluss des Ersten Senats – 1 BvR 1783 / 05 – 13. Juni 2007.
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b) Wirtschaftsfreiheiten Eine ersichtliche Fehlentwicklung hingegen leitet ein Freiheitsverständnis ein, das für die wirtschaftlichen Rechte aus der Berufs- und Eigentümerfreiheit das Prinzip der Gewinnmaximierung ableitet, eines Wettbewerbs, das keine Kultur des Maßes pflegt. Während die Lehren vom Privateigentum im Liberalismus des 19. Jahrhunderts noch eine „Höhenlinie“ für die erwünschten Eigentumskumulierungen definierten98, ein Wettbewerbs- und Kartellrecht eine Individualisierung von Kapital und Marktmacht zu bewahren hoffte, lehrt die Realität moderner Großkapitalgesellschaften und Kapitalfonds, dass Eigentümermacht auch in die Anonymität, in die schwindende Verantwortlichkeit für den Einsatz von Kapital führen kann. Wenn der Fondsanleger seine Kapitalmacht um der Rendite willen einsetzt, möge mit ihr Weizen oder Waffen produziert werden, so löst sich Eigentümermacht von Eigentümerverantwortlichkeit. Das Freiheitsrecht hat seine Bindung zur Idee der Menschenwürde verloren, entfernt sich aus der Verfassungsordnung und verliert insoweit seine Legitimation. Darüber hinaus bedroht eine Verallgemeinerung des ökonomischen Prinzips des Wettbewerbs die Menschenrechte substantiell. Wenn die Staaten in einen Leistungswettbewerb – des Angebots von Subventionen, Steuervergünstigungen und Strukturhilfen an den Meistbietenden – getrieben werden, müssen sie den sozial Schwachen und Bedürftigen vernachlässigen, verlieren also ihr Gesicht als sozialer Staat und vielfach auch als gleichheitsorientierte Demokratie. Wenn die Medien, die Kunst und auch die wissenschaftliche Lehre wettbewerblich um die Gunst von Nachfragern buhlen, droht der Kampf um die Nachfrager die Qualität zu verderben. Fernsehprogramme und andere Massenmedien steigern ihre Quote durch Kulturverzicht und Stilverlust. Zuwendung und Erziehung für das Kind, Treue, religiöse Gemeinschaft, wissenschaftliche Offenheit, der Schutz der Privatsphäre, Gemeinnützigkeit, insbesondere auch der Gleichheitssatz dürfen nicht in den Sog eines Wettbewerbs geraten, soll nicht das Recht auf Stille, Nachdenklichkeit, Zusammengehörigkeit, Begegnung, Selbstlosigkeit und Ausgleich zerstört werden. c) Zivilgesellschaftliche Selbstgewissheit Die Garantie der Menschenwürde und die Freiheitsrechte regeln Beziehungen unter den Menschen, verstehen den Menschen also als ein auf den anderen Menschen angewiesenes Wesen. Er übt seine Freiheitsrechte in mitmenschlicher Begegnung, in einer arbeitsteiligen Wirtschaft, in einer offenen Mediengesellschaft aus, erwartet inneren und äußeren Frieden, setzt in der sozialen Zugehörigkeit zu einer Rechtsgemeinschaft auf Beistand in der Not und Hilfe zu ökonomischer, kultureller und rechtlicher Normalität. Diese Zugehörigkeit des freien Menschen zum Staat hat zur Folge, dass der Mensch als Bürger (Staatsangehöriger) in Wahlen und Abstimmungen die Geschicke seines Staates mitbestimmt. Der Zeitgenosse der westlichen Welt versteht sich jedoch oft weniger als mitverantwortlicher Bürger und mehr als freies Mitglied einer Gesellschaft. Er entfaltet teilweise eine zivilgesellschaftliche Selbstgewissheit, die Bindungen an den Staat lockert, 98 Carl von Rotteck, in: ders. / Carl Welcker (Hrsg.), Das Staats-Lexikon, Enzyklopädie der sämtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 4, 1846 (Nachdruck 1990), S. 215 f.
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möglichst die Steuer vermeidet und Wahlen fernbleibt. Dieser Mensch ohne Bürgersinn übersteigert die Erwartungen an den Staat – auf gutes Recht und gutes Geld –, überfordert den Staat und wendet sich sodann enttäuscht vom Staat ab. Die Zivilgesellschaft selbst scheint politisch-moralisch überfordert. Sie scheut die langfristige Bindung, verharrt in den kurzfristigen Gegenwartsfreiheiten und verfehlt oft die Freiheitsräume der Ehe und Familie, der Verantwortlichkeit für eine Firma, der langfristigen wissenschaftlichen Forschung, künstlerischen Stilbildung, religiösen Zugehörigkeit. Diese Gesellschaft scheut die Institutionen und sucht ihre Gegenwart in spontaner Sinngebung zu managen. Sie pflegt den Diskurs und flieht die Wertebindung. Sie tanzt zwischen Konfliktbereitschaft und Solidarität, globaler Offenheit und heimatlicher Sicherheit, verlässlicher Erwerbsquelle und tagesaktuellem Genuss. Demgegenüber zielt das Bild von der Menschenwürde auf die langfristige Zugehörigkeit, eine stetige Mitverantwortlichkeit, die freiheitliche Kraft zur Bindung, wie sie insbesondere in einer unkündbaren und unscheidbaren Elternschaft oder einer beruflichen Verantwortlichkeit für andere zum Ausdruck kommt. Demokratie und Freiheit bauen auf die Offenheit des Einzelnen für das Neue, das Andere, das Ungewohnte, auch das noch nicht Erprobte, setzen dabei aber eine innere Zugehörigkeit und Bindung in der jeweiligen Rechtsgemeinschaft voraus. Der einzelne Mensch darf und soll seinem Erwerbsstreben, seinem Ehrgeiz und seinem Machtwillen nachgehen, darf diese Ziele aber nicht in Optimierungsstrategien übersteigern, sondern nur in den klar vorgezeichneten Korridoren des Rechts verfolgen. 3. Freiheit und Kultur des Maßes
Dieser Kampf zwischen Freiheit und Kultur des Maßes, gegen Natur und Determination, mit der Enge von Konvention und Erfahrung, wider Obrigkeit und Willkür findet im Recht eine Stütze, soweit die Garantie von Würde und Freiheit vor äußeren Einwirkungen durch andere Menschen schützt. Gegenstand des aus der Menschenwürde abgeleiteten Freiheitsrechts ist der Anspruch der einzelnen Person, in seiner Autonomie vom Staat, von gesellschaftlichen Mächten, von anderen Menschen nicht verletzt zu werden. Thema dieser Freiheit ist die Freiheit von Sklaverei, von Inhaftierung, von Tötung und Körperverletzung, von Enteignung und Berufsverbot, von Ausweisung und Einreiseverbot, von Bevormundung in Religion, Meinungsäußerung und Publikation, Kunst und Wissenschaft. Hinzu tritt das Recht, in Freiheit anderen Menschen zu begegnen und mit ihnen zu leben, in Ehe und Familie, in Kirche und Weltanschauungsgemeinschaften, in Versammlungen, Vereinigungen und Parteien. Verstärkt wird diese äußerliche Freiheit durch den eigenen, gegen andere abgeschirmten räumlichen und ökonomischen Lebensbereich, die eigene Wohnung, den eigenen Erwerbsbetrieb, das eigene Vermögen, das selbst hervorgebrachte Gut, das Eigentum an geistigen Schöpfungen. Dieses Rechtsverständnis von Menschenwürde und Freiheitsrechten dient einer Rechtsfolge: Es fordert die Achtung und den Schutz jedes Menschen in der staatlichen Gemeinschaft, der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und der individuellen Begegnung. Eine solche Verfassungsordnung ist nicht nach Inhalten einer Religion, einer Philosophie oder Dichtung zu interpretieren, braucht aber diese Verfassungsvoraussetzungen als Humus für einen Verfassungsbaum, der ohne diese Wirkungs- und Erneuerungsquellen nicht wachsen und seine Samen für neue Bäume nicht aussäen könnte.
Die Achtung der Menschenwürde in der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation Von Eberhard Schockenhoff
Das Wort „Menschenwürde“ hat seit einigen Jahrzehnten eine steile Karriere im öffentlichen Sprachgebrauch zurückgelegt. Es gilt als eine prägnante Kurzformel, die der Vergewisserung der moralischen Grundlagen einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung und der Selbstverständigung des Menschen in Philosophie, Recht und Ethik dient. Zugleich ist „Menschenwürde“ ein Schlüsselwort der kirchlichen Verkündigung und der theologischen Anthropologie geworden, das aus den Stellungnahmen des kirchlichen Lehramtes oder der Argumentation katholischer Moraltheologen zu umstrittenen gesellschaftlichen Problemen von Abtreibung und Embryonenforschung über Todesstrafe und Folter bis zur Sterbebegleitung und Euthanasie nicht mehr wegzudenken ist. Hinter dem gemeinsamen Gebrauch des anthropologischen Zentralbegriffs der Menschenwürde verbergen sich jedoch tiefgreifende Bedeutungsunterschiede, ohne deren Klärung die Berufung auf die unantastbare Würde jedes Menschen ein stumpfes Schwert ohne überzeugende Kraft bleibt. Kann die notwendige argumentative Verständigung über den exakten Bedeutungsgehalt des Begriffes gelingen? Oder bleibt er ein emphatisches Wort, eine bloße Leerformel, die nur dazu beschworen wird, den schwindenden Wertekonsens moderner Gesellschaften zu verdecken? Ist der Terminus „Menschenwürde“ gar zu einem gefährlichen Kampfbegriff der katholischen Kirche geworden, durch den sie die säkularen Ursprünge des modernen Staates usurpiert? In der Tat beargwöhnen nicht wenige Historiker und Rechtswissenschaftler den inflationären Gebrauch des Wortes „Menschenwürde“, weil sie darin ein trojanisches Pferd vermuten, unter dessen Vorwand die Kirche unerkannt ihre religiösen Überzeugungen in die staatliche Rechtsordnung einschmuggeln möchte. Die kritischen Vorbehalte, die hinter diesen Fragen stehen, lassen sich auf ein doppeltes Misstrauen zurückführen, das der Verwendung des Begriffes „Menschenwürde“ in der theologischen Reflexion und der kirchlichen Verkündigung entgegenschlägt. Dieses Misstrauen speist sich aus entgegengesetzten Motiven, kommt aber in dem Urteil überein, dass die Menschenwürde als Ausgangspunkt ethischer Verständigung in den moralischen Konflikten einer säkularen Gesellschaft ungeeignet sei. Der erste Einwand ist historischer Natur: Er knüpft an der unleugbaren Tatsache an, dass sich das moderne Menschenrechtsethos gegen den erbitterten Widerstand vor allem der katholischen Kirche durchgesetzt hat. Daher wird ihr das Recht bestritten, ein ehemals abgelehntes und bekämpftes Grundwort der Moderne in einem gewandelten geschichtlichen Kontext selbst zu benützen. Der zweite Einwand folgt einer systematischen Argumentation, die in die entgegengesetzte Richtung zielt: Diese sieht den Begriff „Menschenwürde“ als eine Art säkularer Ersatzformel für die religiöse Konzeption des Menschen und seines göttlichen Ursprungs, die in der biblischen Vorstellung von der Gottebenbild-
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lichkeit des Menschen (vgl. Gen 1,26 f.) ausgedrückt ist. Unter dieser Prämisse gelangt dieser Einwand zu der umgekehrten Schlussfolgerung, in einem säkularen Kontext dürfe der Begriff „Menschenwürde“ keine Verwendung mehr finden, da er seine religiösen Wurzeln nicht abstreifen könne. In der deutschen Rechtswissenschaft bezeichnen kritische Stimmen den Begriff „Menschenwürde“ in diesem Sinn auch als „Verfassungslyrik“, der wegen der religiösen Konnotationen der Menschenwürde-Formel und ihrer allgemeinen Ideologieanfälligkeit nur deklamatorische Bedeutung zukomme. I. Der historische und systematische Kontext Bereits vor 20 Jahren legten Ernst-Wolfgang Böckenförde und Robert Spaemann – beides herausragende katholische Intellektuelle in Deutschland – einen viel beachteten Sammelband vor, der die historischen Voraussetzungen und das christliche Verständnis des Begriffes „Menschenwürde“ untersuchte. Darin bringen sie die kirchliche Rezeption des modernen Menschenrechtsethos auf die provozierende Formel, diese gleiche der nachträglichen Adoption eines zunächst verstoßenen Kindes.1 Trotz dieser verspäteten Anerkennung, die der Begriff vonseiten der Kirche erfuhr, arbeiten die Beiträge dieses Bandes heraus, dass die Rolle des Christentums in der Entwicklung der neuzeitlichen Rechtskultur und in der Entstehung des freiheitlich-demokratischen Staates historisch nicht wegzudenken ist. Der Begriff der Menschenwürde, der sich in der Anerkennung unverlierbarer Menschenrechte entfaltet, die im deutschen Recht wiederum den verfassungsmäßig geschützten Grundrechten vorangehen, verdankt sich dieser Analyse zufolge dem Zusammenwirken mehrerer ideengeschichtlicher Entwicklungslinien. Deren jeweiliger Beitrag lässt sich im Einzelnen wohl unterschiedlich gewichten, aber kaum grundsätzlich bestreiten. Im Allgemeinen werden die Einflussfaktoren, die der modernen Vorstellung von Menschenwürde und Menschenrechten zugrunde liegen, auf eine Trias von klassischer Philosophie, christlicher Ethik und europäischer Aufklärung zurückgeführt, wobei den einzelnen Strömungen durchaus spezifische Gedankenanstöße zuzuordnen sind. In der griechischen Philosophie vollzieht sich der erste Schritt der Selbstbefreiung des Menschen aus dem Eingebundensein in eine durch den Mythos garantierte Ordnung von Kosmos und Sitte. Später führt die sophistische Fragestellung der Grundlagen von Recht und Moral zu der Erkenntnis, dass staatliche Gesetze und moralische Gebote ihren Anspruch nicht aus dem Recht des Stärkeren oder ihrem gesellschaftlichen Nutzen, sondern aus einer hinter ihrer unvollkommenen Realisierung aufscheinenden Idee der Gerechtigkeit herleiten. Der Gedanke der natürlichen Gleichheit aller Menschen verbindet sich in der Botschaft des Christentums mit der Vorstellung, dass vor Gott jedes einzelne Individuum die Würde des Menschengeschlechts repräsentiert. Die Auszeichnung eines besonderen göttlichen Ursprungs wird nun nicht mehr von der Menschheit als generische Gesamtgröße, sondern von der menschlichen Person als einem geschöpflichen Ebenbild Gottes ausgesagt. Der spezifische Beitrag der europäischen Aufklärung liegt zum einen in der Erneuerung des Gedankens der sittlichen Autonomie, zum anderen in der Erkenntnis, dass die Freiheit und Würde des Einzelnen zu ihrem wirksamen Schutz der politisch-rechtlichen Absicherung bedürfen. Bei aller Verschie1 E.-W. Böckenförde / R. Spaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, S. 9.
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denheit dieser Ansätze und Begründungen ergibt der historische Vergleich, dass die ideengeschichtlichen Wurzeln des modernen Rechtsbegriffs und der ihn tragenden Menschenwürde-Vorstellung von einer starken Affinität und Konvergenz bestimmt sind. Diese legt es nahe, die Genese des Begriffs der Menschenwürde und seiner ideengeschichtlichen Bedeutung aus den aufgezeigten Wechselwirkungen zu erklären.2 Aus historischen Gründen allein lässt sich daher nicht begründen, warum eine argumentative Verwendung dieses Begriffs unzulässig sein solle, die das Ziel verfolgt, den normativen Anspruch gemeinsam geteilter Wertüberzeugungen einzufordern. Der Satz aus dem ersten Schöpfungsbericht der Bibel, wonach Gott den Menschen auf sein Bild hin geschaffen hat (vgl. Gen 1,26), führt keineswegs zu einer Privilegierung des religiösen Menschen, die für ein säkulares Denken unannehmbar wäre. Dieser fundamentale Satz der biblischen Anthropologie hat vielmehr das Menschsein als solches im Auge und nicht etwas am Menschen (z. B. seine aufrechte Gestalt oder seine Vernunftbegabung) oder etwas über das Menschsein Hinausgehendes (z. B. eine besondere religiöse Anlage). Die fundamentale Aussage des biblischen Schöpfungsglaubens von der Gottebenbildlichkeit des Menschen beansprucht daher das Menschsein jedes Menschen. Sie gilt mit gleichem Ernst für alle, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrem sozialen Stand, ihrer intellektuellen Entwicklung, ihrem äußeren Aussehen oder ihrer religiösen Überzeugung. Durch den Begriff des Bildes Gottes tönt von Anfang an ein polemischer Unterton hindurch, der auf die Überwindung aller Grenzziehungen zielt, die die Menschen in Höhere und Niedere, Mächtige und Schwache, gesellschaftlich Anerkannte und Rechtlose unterteilt. Ein wichtiger Unterschied der biblischen Rede vom Bild-Gottes-Sein des Menschen im Vergleich zur ägyptischen Königstheologie besteht gerade darin, dass nicht mehr der Herrscher, der herausgehobene Ausnahmemensch, sondern jeder Mensch, auch der ärmste und schwächste nach dem Bild Gottes geschaffen ist.3 Ebenso ist auch Psalm 8 als ein „Gegenentwurf gegen die Erniedrigung von Menschen“ zu verstehen, die im kulturellen Gedächtnis Israels mit der Zerstörung des Tempels, der Vernichtung des Staates, dem Ende des Königtums und der Deportation ins babylonische Exil verbunden war.4 In poetischer Sprache schreibt dieser Psalm die dem Menschen von Gott verliehene königliche Würde ausnahmslos zu. Sie gilt dem neugeborenen Kleinkind ebenso wie dem zu voller Kraft herangereiften Erwachsenen und dem kranken, hinfälligen und sterbenden Adamskind. Psalm 139 erweitert diesen umfassenden Zeithorizont nochmals, indem er auch das Leben des Menschen im Mutterschoß einbezieht. Zwar steht im Alten Testament die Vorstellung eines religiösen Bundesethos im Vordergrund, in dem sich die Erwählung Israels durch Jahwe manifestiert. Dessen Inhalte und Forderungen können daher nicht einfach zur Grundlage eines allgemeinen Menschheitsethos gemacht werden.5 Doch wirkt gerade die priesterschriftliche Theologie der 2 Vgl. dazu A. Schwan, Ethos der Demokratie. Normative Grundlagen des freiheitlichen Pluralismus, Paderborn 1992, S. 41 – 49. 3 Vgl. dazu G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. I: Der Glaube an Gott den Schöpfer der Welt, Tübingen 1979, S. 379. 4 H. Irsigler, Die Frage nach dem Menschen in Psalm 8. Zu Bedeutung und Horizont eines kontroversen Menschenbildes im Alten Testament, in: ders., Vom Adamssohn zum Immanuel (Arbeiten zu Text und Sprache im Alten Testament, Bd. 58), St. Ottilien 1997, S. 1 – 48, hier: S. 39. 5 Vgl. F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992.
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Genesis auf die Entgrenzung einer partikularen Stammesmoral zu einem universalen Menschheitsethos hin, wie sie sich später auch in der stoischen Philosophie vollzieht. Neben der nachexilischen Prophetie stellt die Bild-Gottes-Theologie der Priesterschrift die wichtigste Traditionslinie für eine derartige Ausweitungstendenz dar.6 Sie erinnert bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. daran, dass die Geschichte Jahwes mit seinem Volk im Horizont der ganzen Schöpfung verläuft und somit auf ein Geschehen verweist, das alle Menschen einschließt. Der Bibelwissenschaftler Claus Westermann fasst die universale Blickrichtung von Gen 1,26 in dem Anspruch zusammen: „Jeder Mensch in jeder Religion und in jedem Bereich, in dem die Religionen nicht mehr anerkannt werden, ist nach dem Bild Gottes geschaffen“.7 Die Behauptung eines systematischen Gegensatzes zwischen der christlichen Gottebenbildlichkeits-Vorstellung und der säkularen Menschenwürde-Formel ist daher wenig plausibel. Auch wenn zwischen beiden keineswegs eine bruchlose Kontinuität waltet, findet die eine doch in der anderen eine Fortsetzung. Dies erlaubt eine sachliche Anknüpfung, ohne dass eine völlige Deckungsgleichheit beider Vorstellungen behauptet werden müsste. Während die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen diesen von seiner transzendenten Beziehung zu Gott als seinem Schöpfer her in den Blick nimmt, geht der Begriff „Menschenwürde“ von dem unhintergehbaren Selbstbezug des Menschen aus, der in seiner Freiheit und moralischen Verantwortung gegeben ist. Beides widerspricht sich nicht. Vielmehr verhalten sich der Gottesbezug und der Selbstbezug des Menschen wie die beiden Seiten einer Medaille zueinander. Deshalb kann auch der Atheist, der die Wirklichkeit der Rückseite dieser Medaille, also die Abhängigkeit des Menschen von Gott als der alles bestimmenden Wirklichkeit nicht anerkennt, doch die humanen Intentionen anerkennen, die mit der Bild-Gottes-Theologie verbunden sind. Ohne einem vorschnellen Brückenschlag zwischen der theologisch-biblischen Kategorie und dem philosophisch-ethischen Konzept der Menschenwürde das Wort zu reden, können wir doch festhalten: Die biblische Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen steht zur Idee der Menschenwürde im Verhältnis einer sachlichen Entsprechung, die weder eine einseitige historische Abhängigkeit noch eine bestimmte systematische Begründung impliziert.8
II. Der Zusammenhang von Menschenwürde, sittlichem Subjektsein und biologischer Artzugehörigkeit 1. Der doppelte Begriff der Menschenwürde
Die gegenwärtige Debatte um das Verständnis der Menschenwürde bezeugt, dass ein öffentliches Bedürfnis nach gemeinsamer Sinnorientierung erst dann aufbricht, wenn diese nicht mehr fraglos gelebt, sondern als Problem empfunden wird. Die herausgehobene Stellung, die der Gedanke der Würde des Menschen in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen und in modernen Verfassungen ein6 Vgl. dazu E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart u. a. 1994, S. 258 und S. 267. 7 C. Westermann, Genesis I / 1, Neukirchen-Vluyn 21976, S. 218. 8 Vgl. K. Hilpert, Die Menschenrechte. Geschichte – Theologie – Aktualität, Düsseldorf 1991, S. 189.
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nimmt, sichert noch kein einheitliches Verständnis, an dem sich gesellschaftliche Auseinandersetzungen orientieren könnten. Dazu ist vielmehr eine Unterscheidung im Begriff der Menschenwürde unerlässlich, deren strikte Beachtung diesen erst zu einem zwingenden Argument macht, das von jedem Standpunkt aus rational anerkennungsfähig ist. Der Gedanke der Menschenwürde kann, sofern er eine normative Funktion in dem Sinn haben soll, dass ihr Schutz auch rechtlich einklagbar und durch Sanktionen geschützt ist, nur ein Minimalbegriff sein.9 Er enthält keinen erschöpfenden Hinweis auf alle Bedingungen, unter denen sich gelingendes Menschsein darstellt, sondern steckt nur den letzten, gegenseitig unverfügbaren Lebensraum ab, den Menschen einander zugestehen müssen, die sich gegenseitig als freie Vernunftwesen achten wollen. Dieser normative Kern der Menschenwürde-Vorstellung besteht in nichts anderem als in dem, was den Menschen zum Menschen macht: der Fähigkeit zum freien Handeln und zur eigenverantwortlichen Lebensführung. Nur das letzte unhintergehbare „Residuum des Selbstseins“10 begründet, warum der Mensch nicht nur ökonomischen Wert und gesellschaftlichen Nutzen, sondern auch „Würde“ besitzt, die ihm als „Zweck an sich selbst“ zukommt. „Also ist Sittlichkeit“ – so heißt es bei Immanuel Kant (1724 – 1804) – „und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.“11 Von der strikten Beschränkung auf die Fähigkeit zur Moralität bleibt eine zweite Bedeutung des Wortes „Menschenwürde“ zu unterscheiden, wie sie sich seit der Französischen Revolution im öffentlichen Sprachgebrauch herausgebildet hat. Wenn wir von „menschenwürdigen Zuständen“ und der menschenwürdigen Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse oder auch individueller Lebensbereiche wie dem der Sexualität sprechen, gewinnt der Begriff „Menschenwürde“ einen anderen Sinn. Er erweitert sich dann zu einer Maximaldefinition und wird zu einem sprachlichen Erinnerungszeichen, zu einer Abbreviatur unterschiedlichster anthropologischer Sinngehalte, die sich in seinem Gewand verbergen. Beide Vorstellungen, die sich in unserer alltagssprachlichen Rede von der Würde des Menschen überlagern, können sich im Blick auf die moralische Aufgabe des Einzelnen ergänzen, sie schließen sich in einem Punkt aber geradezu aus. In seinem strikten Sinn benennt der Gedanke der Menschenwürde eine kategorische Grenze, die jedem Versuch ihrer Verwirklichung in der zweiten, erweiterten Bedeutung gesetzt ist. Gerade weil wir uns in unseren offenen Gesellschaften über verpflichtende Inhalte eines menschenwürdigen Lebens nicht mehr verständigen können, müssen wir die Würde umso entschiedener respektieren, die nicht von unserer Übereinkunft abhängt, sondern die jedem gegenüber jedem unverfügbar gegeben ist. Keiner von uns verdankt seine menschliche Würde dem Einverständnis und der Zustimmung der anderen; sie wird in einer humanen Rechtsordnung nicht gegenseitig zuerkannt und gewährt, sondern als das allen vorausliegende Fundament anerkannt. Um alle sprachliche Zweideutigkeit auszuschließen, müssen wir geradezu sagen: In ihrem eigentlichen Sinn kann Menschenwürde nicht „verwirklicht“ oder „befördert“, sondern nur geachtet und als bereits wirklich anerkannt werden. Nur in Bezug auf das freie 9 Vgl. dazu R. Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: ders., Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, S. 107 – 122, bes. S. 115 ff. 10 Ebd., S. 117. 11 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Akademieausgabe Bd. 4, S. 435. Vgl. dazu bes. W. Wolbert, Der Mensch als Mittel und Zweck. Die Idee der Menschenwürde in normativer Ethik und Metaethik, Münster 1987, S. 15 – 26.
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Selbstsein des Einzelnen und seine Lebensaufgabe gibt es überhaupt einen Sinn, von der Realisierung der Menschenwürde zu sprechen. Im Blick auf kollektive Programme und ihre Legitimation durch gesellschaftliche Mehrheiten umschreibt „Menschenwürde“ nicht das Ziel, sondern die Grenzklausel, unter der aller politische und wissenschaftliche Einsatz für das Wohl der Menschen und eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse steht. An diese einschränkende Bedingung erinnert die Rede von der Selbstzwecklichkeit des Menschen: Er ist immer um seiner selbst willen zu achten und darf niemals um eines anderen willen – auch nicht um der Zukunft und Gesundheit künftiger Generationen willen – ausschließlich als Mittel zum Zweck geopfert werden.
2. Die naturale Basis der Menschenwürde
Die strikte Beschränkung auf den normativen Kerngehalt der Menschenwürde schließt aus, sie an das Vorhandensein bestimmter Eigenschaften oder das Erreichen einer erforderlichen Entwicklungsstufe zu binden. Wenn wir kraft eigenen Rechts als Menschen existieren und nicht durch den Willen der anderen zu Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft berufen werden, dann kann allein die naturale Zugehörigkeit zur biologischen Spezies, das Merkmal menschlicher Abstammung, den Ausschlag geben. Deshalb lässt sich auch die scharfe Trennungslinie nicht aufrechterhalten, die von den Vertretern eines empiristischen Personbegriffs zwischen dem biologischen Faktum des menschlichen Lebens und dem Personsein als „spezifischer Rollenkompetenz in moralischen Interaktionen“12 gezogen wird. Wer die Zuerkennung unbedingter Achtung einem solchen Kompetenzurteil unterwirft, der bindet den Gedanken der Menschenwürde an das, was ein Mensch in den Augen der anderen, nicht allein von sich aus, aufgrund seines bloßen Daseins ist – und hat ihn damit bereits im Ansatz eliminiert. Er verfehlt das merkwürdige anthropologische Urdatum, dass unser Menschsein in einer unhintergehbaren Weise an die Einheit unseres geistigen und leiblichen Lebens gebunden bleibt. Es ist dies, wie Augustinus und nach ihm Descartes gesehen haben, ein mit der menschlichen Natur selbst gegebenes und gleichwohl unerklärliches Faktum, das dem wissenschaftlichen Zugriff und allem erklärenden Eindringen in das Geheimnis des Menschseins eine Grenze setzt. „Die Weise, in der ein Geist mit einem Leib verknüpft ist, ist gänzlich wunderbar und kann vom Menschen nicht begriffen werden – und doch ist gerade dies der Mensch.“13 Weil seine geistig-leibliche Einheit zu der anthropologischen Grundaussage gehört, die der Mensch selber ist, lässt sich die unbedingte Achtung, die wir dem Menschen als zu Freiheit und Verantwortung fähigem Vernunftwesen schulden, nicht von dem Respekt trennen, den wir seinem leiblichen Dasein entgegenzubringen haben. Für ein christliches Menschenbild, das sich aus seinen biblischen Wurzeln und auf dem Boden der aristotelisch-thomanischen Anthropologie als ganzheitliches Denken versteht, kann es keinen Zweifel daran geben, dass auch die leibliche Daseinsweise des 12 H. T. Engelhardt, Entscheidungsprobleme konkurrierender Interessen von Mutter und Fötus, in: V. Braun / D. Mieth (Hrsg.), Ethische und rechtliche Fragen der Gentechnologie und der Reproduktionsmedizin, München 1987, S. 152. Vgl. auch sein Hauptwerk: The Foundation of Bioethics (Oxford 1986), wo es heißt, Personsein und Menschenwürde seien an die Fähigkeit gebunden, Mitglied einer „moral community“ oder der „community of all peaceable moral agents“ (S. 44) zu sein. 13 De civitate Dei XXI, 10.
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Menschen an der Würde seiner Gottebenbildlichkeit teilhat. Aber auch im Gang der Philosophiegeschichte seit der europäischen Aufklärung ist der Gedanke immer schärfer hervorgetreten, dass freie Menschen, die sich in ihrem sittlichen Subjektsein achten, einander solche Achtung zuallererst in der Weise des Respekts vor der Unverletzlichkeit ihres körperlichen Daseins entgegenbringen müssen. In seinem „Opus postumum“ stößt Kant, der den Menschen im Bannkreis der reinen Metaphysik zunächst nur als Bürger zweier Welten denken kann und seine Zugehörigkeit zur natürlichen Welt scharf von seiner moralischen Bestimmung als Vernunftwesen trennen muss, zur Einsicht vor, dass die Leiblichkeit des Subjekts im Begriff des Menschen immer schon mitgedacht ist. Der Organismus seines natürlichen Lebens erscheint dabei als der notwendige Außenraum des Denkens, der diesem den Zugang zur Welt eröffnet. Die philosophische Vernunft kann nun nicht mehr hinnehmen, woran sie sich seit Descartes gewöhnt hatte: dass der Leib des Menschen ganz mit den materiellen Dingen der natürlichen Welt auf eine Seite gestellt wird. Der Leib muss vielmehr auch nach der neuzeitlichen Wende zum Subjektstandpunkt des Denkens als eine Erscheinungsweise der Subjektivität gedacht werden, wie es Kant im Begriff der notwendigen „Vernunftorgane“ des Erkennens und Handelns erstmals versucht.14 Später führt dieser aus den Ursprüngen der aufgeklärten Vernunft hervorgehende Denkweg bei Fichte zur Konzeption des Leibes als einer „Tatsache des Bewusstseins“, durch die sich das Ich das Medium seiner Weltbegegnung und seiner Wirksamkeit auf die materielle Welt „bildet“.15 Der Leib wird so als Ausdruck der Subjektivität des Menschen, als seine Mitteilung und Sichtbarmachung in der körperlichen Welt verstanden. Am Ende kehrt dieser Gedanke bei Hegel aus seinen transzendentalphilosophischen Höhen wieder in die praktische Ethik und Rechtsphilosophie zurück: Weil das Ich in der realen Welt nicht anders denn als „Leib“ existiert, erscheint in ihm das konkrete „Dasein der Freiheit“, ihr notwendiger Schutzraum, in dem sie der Welt der anderen gegenübertritt. Ich selbst kann mich von meinem Körper distanzieren, kann versuchen, ihm die Richtung meines moralischen Wollens aufzuprägen und ihn in freier Selbstaneignung „in Besitz nehmen“. Der andere aber kann nicht in dieser Weise zwischen mir und meinem Leib unterscheiden, für ihn bin ich nur in meinem Körper gegeben und nur durch ihn frei. „Ich kann mich aus meiner Existenz in mich zurückziehen und sie zur äußerlichen machen, die besondere Empfindung aus mir hinaushalten und in den Fesseln frei sein. Aber dies ist mein Wille, für den anderen bin ich in meinem Körper.“ Deshalb gilt, im Gegensatz zu der Einschränkung, die ich meinem Körper auferlege, für die anderen der strikte Grundsatz: „Meinem Körper von anderen angetane Gewalt ist Mir angetane Gewalt“.16 Aus der Perspektive der anderen ist das Im-Leib-Sein die unhintergehbare Grundsituation meiner Freiheit, ihre konkrete Repräsentation in unserer gemeinsamen Welt, so dass wir untereinander den Respekt vor unserer Freiheit nicht anders denn als Achtung vor unserer körperlichen Existenz zum Ausdruck bringen können.
14 Vgl. F. Kaulbach, Art. „Leib / Körper“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter u. a., Bd. V, Basel 1980, Sp. 180 – 182. 15 J. G. Fichte, Die Tatsachen des Bewusstseins, in: Fichtes Werke (hrsg. von I. H. Fichte), Berlin 1971, Bd. 2, S. 596 – 609. 16 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 48.
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III. Die Anerkennung der Menschenwürde als moralisches Fundament des Rechtsstaats Von dieser fundamentalen Würde der menschlichen Person, die auch die leibliche Dimension ihrer geschichtlichen Existenz umfasst, ist anzunehmen, dass sie auch in einer pluralen Gesellschaft von allen Menschen guten Willens anerkannt werden kann. Genauer müsste man vielleicht sagen: Die Menschenwürde wird von allen beim Versuch ihrer kulturellen Selbstauslegung schon immer vorausgesetzt. Denn nur unter dieser Bedingung kann sich eine plurale Gesellschaft überhaupt als eine humane Gesellschaft verstehen. Die tragende moralische Einsicht, die das Fundament der modernen Kultur bildet, besagt: Der Mensch hat nicht nur Nutzen und Wert – in der Sprache Kants: einen „Preis“ –, sondern auch „Würde“. Diese kommt ihm als Subjekt, aufgrund seiner Fähigkeit zu sittlichem Handeln, zur freien Selbstbestimmung und zur verantwortlichen Lebensführung zu. Diese Einsicht lässt sich vernünftig nicht bestreiten, denn jedermann kann einsehen, dass eine plurale Gesellschaft nur unter dieser Voraussetzung zur humanen Konfliktaustragung fähig ist. Die gegenseitige Anerkennung der Menschenwürde, die sich inhaltlich in einzelnen Menschenrechten konkretisiert, ist deshalb die Grundlage unserer humanen Rechtsordnung. Diese Einsicht liegt auch der gegenwärtigen Diskursethik zugrunde, was freilich im Blick auf die moralischen Herausforderungen durch die modernen Lebenswissenschaften nicht immer gesehen wird: Die Anerkennung der Würde jedes Menschen kann nicht erst durch einen diskursabhängigen Konsens begründet, sondern muss im Diskurs vorausgesetzt werden, wenn dieser eine herrschaftsfreie Kommunikation aller Betroffenen antizipieren soll. Menschliche Würde wird von einer demokratischen Rechtsgemeinschaft ihren Mitgliedern nicht zuerkannt, sondern von ihnen als ihr vorausliegendes Fundament anerkannt. Der Philosoph Robert Spaemann hat dieses unumkehrbare Konstitutionsverhältnis auf eine einprägsame Formel gebracht: Wir sind nicht kooptierte, sondern geborene Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft. Keiner verdankt seine fundamentalen Rechte den anderen oder einer wie auch immer zustande gekommenen Mehrheit. Menschliche Würde ist auch nicht an einen bestimmten Zustand, ein aktuelles Leistungsvermögen oder eine erforderliche Entwicklungsstufe gebunden. Sie kommt jedem menschlichen Individuum schon durch seine biologische Zugehörigkeit zur Spezies „Mensch“ zu.17 Die aus dieser Würde hervorgehenden Rechte sind ihm allein aufgrund dessen geschuldet, dass er Mensch ist und als Mensch geboren wurde. Im Blick auf die modernen Fertilisationstechniken müssten wir ergänzen: weil er als menschliches Wesen erzeugt wurde. Das bedeutet in umgekehrter Richtung zugleich, dass sein sittliches Subjektsein, das seine Würde begründet, nicht von dem naturalen Entwicklungsprozess ablösbar ist, aus dem es hervorgeht. Mit der Vorstellung einer der Rechtsgemeinschaft vorausliegenden Würde ihrer Mitglieder verbinden sich in der philosophischen Anthropologie und in der modernen Verfassungsauslegung eine Reihe weiterer Aussagen. Diese verdanken sich zum Teil einer 17 Der Vorwurf Peter Singers, dies beruhe auf einem „speziesistischen“ Vorurteil, das in moralischer Hinsicht ähnlich abscheulich sei wie die diskriminierenden Fehlhaltungen von Rassismus und Sexismus, beruht auf einem logischen Klassifikationsfehler: Die interspezifische Differenzierung zwischen einzelnen Arten ist mit der Missbilligung einer intraspezifischen Diskriminierung innerhalb von Mitgliedern derselben Art (aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechtes) durchaus vereinbar.
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bestimmten Entwicklungsstufe unseres moralischen Bewusstseins – so etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf den Schutz der Privatsphäre, auf Religionsfreiheit und Toleranz oder auf das Verbot von Sklaverei und Folter. Zum Teil benennen sie aber auch anthropologische Sachverhalte, die mit dem Menschsein des Menschen selbst gegeben sind. Dazu gehören vor allem die Personalität, Sozialität und Naturalität des Menschen, seine Sonderstellung gegenüber den anderen Lebewesen im Kosmos, sein offener Transzendenzbezug und schließlich die Geschichtlichkeit seiner Existenz. Diese anthropologischen Grundaussagen schlagen sich in wichtigen Bestimmungen des deutschen Grundgesetzes nieder; bis vor kurzem waren sie auch in der Verfassungsauslegung als unmittelbar an den Gedanken der Menschenwürde gebunden anerkannt. Artikel 1 GG schützt einer bekannten Formulierung des Bundesverfassungsgerichtes zufolge die Gemeinschaftsbezogenheit und den Eigenwert der Person. Artikel 2 GG bezieht in die Anerkennung der unveräußerlichen Menschenwürde ausdrücklich den Schutz ihrer vitalen Basis, des körperlichen Lebens, mit ein. Der Verfassungsrechtler Günter Dürig stellt die anthropologischen Implikationen der Rede von der Menschenwürde heraus: „Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten.“18 Das Gleiche versucht in einer noch offener gehaltenen Formulierung der Medizinrechtler Adolf Laufs: „Die Würde des Menschen besteht in der Einheit seines geistigen und leiblichen Seins, die ihn zu seinem geschichtlichen Dasein befähigt.“19 Diesem normativen Verständnis der Menschenwürde, das die unhintergehbaren Mindestbedingungen des Menschseins umschreibt, entspricht auch der anerkannte Grundsatz der Verfassungsinterpretation, wonach ihr inhaltlicher Schutzbereich negativ von konkreten Verletzungsvorgängen her (Folter, Sklaverei, Euthanasie) zu umschreiben ist. In Dürigs bekannter Objekt-Formel heißt es daher: „Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“20 Gemäß diesem objektiv-naturrechtlichen Verständnis ist die Menschenwürde unteilbar; sie gilt unterschiedslos allen, den Geborenen wie den Ungeborenen, den Erfolgreichen wie den Schwachen, vor allem aber denen, die sich gegen ihre Verletzung selbst nicht wirksam zur Wehr setzen können. Wenn Kirche und Theologie unbedingte Achtung der Menschenwürde einfordern und sich schon den Anfängen widersetzen, ihren Schutzbereich durch selektive Zuerkennungskriterien einzuschränken, verstehen sie sich darin als Anwälte des humanen Erbes unserer modernen Kultur. In der jüngeren verfassungsrechtlichen Diskussion mehren sich die Stimmen, die den Begriff der Menschenwürde von allen anthropologischen und ethisch-naturrechtlichen Begründungen ablösen wollen. Stattdessen soll ihm eine angebliche „Entwicklungsoffenheit“ zukommen, die ihn für „eine wertend-bilanzierende Konkretisierung offen“ macht.21 War die Menschenwürde aufgrund ihrer Unantastbarkeit dem bisherigen Ver18 G. Dürig, Der Grundsatz von der Menschenwürde, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 81 (1956), S. 117 – 157, hier: S. 129. 19 A. Laufs, Die künstliche Befruchtung beim Menschen – Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, in: V. Braun / D. Mieth / K. Steigleder (Hrsg.), Ethische und rechtlichen Fragen der Gentechnologie und der Reproduktionsmedizin (Gentechnologie. Chancen und Risiken 13), München 1987, S. 188. 20 G. Dürig, a. a. O., S. 127. 21 So M. Herdegen, in: Th. Maunz / G. Dürig, Grundgesetzkommentar, München 2005, Rdnr. 30 und 43.
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ständnis nach jeder konkreten Abwägung entzogen, so soll es nunmehr von der „wertenden Gesamtwürdigung eines weiteren Rasters relevanter Umstände“ abhängen, ob die Menschenwürde im konkreten Fall tatsächlich verletzt ist.22 Ähnlichen Bestrebungen folgt eine rein subjektive Bedeutungstheorie, die den Begriff der Menschenwürde ebenfalls ihres objektiven und allgemeingültigen Inhalts entleert. Nach ihr lassen sich konkrete Verletzungshandlungen, die gegen das Achtungsgebot der Menschenwürde verstoßen, nur dort erkennen, wo die Betroffenen subjektive Empfindungen ausbilden können, durch die sie auf eine herabsetzende und erniedrigende Behandlung reagieren. Extrakorporale oder im Mutterleib heranwachsende Embryonen, Neugeborene und Kleinkinder bis zu einem bestimmten Lebensalter, aber auch altersdemente Personen in einem fortgeschrittenen Erkrankungsstadium werden auf diese Weise definitorisch aus dem Schutzbereich der Menschenwürde ausgeklammert, da sie derartige Verletzungsempfindungen noch nicht oder nicht mehr entwickeln können. Eine Interpretation der Menschenwürde, die ihre Unantastbarkeit infrage stellt und sie der Abwägung mit anderen Grundrechten und Verfassungsgütern zugänglich machen möchte, stellt einen epochalen Bruch in der modernen Rechtsgeschichte dar. Wenn die Anerkennung der Menschenwürde und der aus ihr folgenden menschlichen Grundforderungen nicht voraussetzungslos gegenüber jedermann und unter allen Umständen geboten ist, wird ihre verfassungsrechtliche Schutzgarantie ihres eigentlichen Sinnes beraubt. Sie stellt dann keine verlässliche Schranke gegen eine letztlich willkürliche Ausübung staatlicher Gewalt mehr dar, da das Ergebnis der geforderten Konkretisierung und Abwägung von vorherrschenden gesellschaftlichen Wertungen und individuellen Angemessenheitsvorstellungen abhängt. Die juristische, moralphilosophische und politikwissenschaftliche Diskussion bestimmt dann zusammen mit parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen oder Gerichtsurteilen darüber, wann und wo die Menschenwürde verletzt ist. Die Anerkennung eines Unbedingten als absoluter Grenze des eigenen Handelns, wie sie vom klassischen Verständnis der Menschenwürde gefordert wird, kann nicht von Voraussetzungen abhängig gemacht werden, die selbst nochmals infrage gestellt werden können. Dies gilt nicht nur für das staatliche Handeln gegenüber den einzelnen Bürgern, der ursprünglichen Domäne des Menschenrechtsethos, sondern auch für das private Handeln der Bürger untereinander. Wenn die zur Anerkennung Aufgeforderten selbst ein Urteil über das Vorliegen der dazu erforderlichen Voraussetzungen zu treffen hätten, würde bereits der Akt der Anerkennung eines Unbedingten den Keim der Relativierung in sich tragen. Da dies ein pragmatischer Selbstwiderspruch wäre und die Anerkennung der Menschenwürde von kontingenten Ermessensüberlegungen abhängig machen würde, laufen derartige subjektive und situative Abwägungstheorien auf die Preisgabe des Gedankens der Menschenwürde in seinem bisherigen Verständnis hinaus. Gegenüber einem solchermaßen umdefinierten Verständnis der Menschenwürde wäre die Kritik dann tatsächlich im Recht, die in ihm nur eine inhaltsarme Leerformel sieht, die für eine beliebige subjektiv-private oder kulturell-gesellschaftliche Bedeutungszuschreibung offen ist. Die neueren Interpretationsversuche, die auf eine Abkehr von einem anthropologisch gehaltvollen, in seinem normativen Kernbereich verbindlichen Verständnis der Menschenwürde hinarbeiten, werden auch dem historischen Entwicklungsprozess nicht gerecht, aus dem das Menschenrechtsethos hervorging, das der freiheitliche Rechtsstaat 22
Ebd., Rdnr. 45.
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als seine moralische Legitimationsbasis voraussetzt. Diesem universalen Menschenrechtsethos liegt der Gedanke zugrunde, dass Menschenwürde und Menschenrechte unterschiedslos allen Menschen zukommen. Weder soziale Statuseigenschaften noch biologische Differenzmerkmale wie Hautfarbe, Geschlecht, Rasse oder Alter können eine Einschränkung rechtfertigen. Würde dem menschlichen Embryo allein deshalb, weil er sich noch in der Anfangsphase seiner Existenz befindet oder weil er seine spätere Gestalt noch nicht ausgebildet hat, nur eine graduelle, anfangs eingeschränkte Schutzwürdigkeit zugestanden, käme dies einem Rückschritt gleich, weil die lange Reihe ethnischer, rassistischer oder geschlechtsbezogener Diskriminierungen durch eine neuartige entwicklungsbedingte Benachteiligung abgelöst würde, die auf die embryonale Existenz des Menschen zielt. Daran ändert auch die terminologische Unterscheidung nichts, die dem Embryo zwar human life zuspricht, ihn aber nicht als ein human being anerkennt.23 Denn unleugbar ist der Embryo ein Lebewesen von der Art des Menschen; die genannte sprachliche Unterscheidung verbleibt auf einer rein terminologischen Ebene. Sie gibt hingegen keinerlei Begründung dafür, warum wir dem Embryo die jedem Menschen kraft seines bloßen Menschseins geschuldeten Rechte vorenthalten dürften. Die Ausweitung von Menschenwürde und Menschenrechten auf die Schwachen und bis dahin Rechtlosen, welche die statusverleihenden Merkmale nicht besaßen, die ihnen vor dem kulturellen Plausibilitätshintergrund ihrer Zeit hätten gesellschaftliche Anerkennung verleihen können, folgte immer derselben Logik: Hinter allen moralischen, geistigen und statusbedingten Qualifizierungen, welche die Menschen in Stärkere und Schwächere, Gute und Böse, Weiße und Schwarze einteilten, trat als gemeinsame Grundlage das nackte biologische Menschsein hervor. Auch diejenigen, die zuvor als Hexen, Verbrecher und Volksschädlinge verfolgt oder als Schwarze, Behinderte und Angehörige einer religiösen Minderheit benachteiligt wurden, waren Menschen: aufgrund ihres gesellschaftlichen Status von den anderen verschieden, aber im entscheidenden Merkmal der biologischen Abstammung diesen gleich.24 Dagegen entspricht die Unterscheidung von biologischer Artzugehörigkeit und der erst durch einen kulturellen Zuschreibungsakt erfolgenden Anerkennung als Mensch exakt der Argumentationsweise, die in früheren Epochen dazu verwandt wurde, bestimmten Angehörigen der menschlichen Spezies das volle Menschsein im Sinne eines normativen Würdeprädikates abzusprechen. Die genannte Unterscheidung, die zu den unhinterfragten Selbstverständlichkeiten der neueren Bioethik zählt, beruht daher nicht nur auf einem fragwürdigen anthropologischen Dualismus, der die naturhaften Voraussetzungen des Personseins verkennt. Sie stellt auch einen Rückfall hinter eine entscheidende Einsichtsschwelle dar, der das moderne Menschenrechtsethos seine Überlegenheit gegenüber allen Formen 23 Die Unterscheidung zwischen dem menschlichen Leben als einer rein biologischen Artbezeichnung und einem normativen Schutz- und Würdebegriff geht im angelsächsischen Sprachraum auf den sogenannten Warnock-Report zurück, der die Empfehlungen einer im Auftrag der britischen Regierung tätigen Untersuchungskommission zu Fragen der Fortpflanzungsmedizin und der Embryonenforschung erläuterte und seit seinem Erscheinen im Jahre 1984 die internationale Bioethik-Debatte wesentlich beeinflusste. Wegen der vorherrschenden pragmatischen Sichtweise und dem Nebeneinander unterschiedlicher Begründungsansätze stieß der Bericht von Anfang an auf Kritik, was seiner Breitenwirkung indessen kaum Abbruch tat. 24 Vgl. dazu M. Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimationsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Opladen 51994, S. 214.
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partikulärer Diskriminierung verdankt. Auch in früheren Zeiten konnte den im damaligen kulturellen Deutungshorizont durchaus plausiblen Ausgrenzungsversuchen nur eine schlichte, unbestreitbare Tatsache entgegengehalten werden: dass auch diese „Wesen“ aus keinem anderen Grund als nur deshalb, weil sie im biologischen Sinn Menschen sind, an der einen unteilbaren Würde der Menschheit teilhaben und daher Träger derjenigen Rechte sind, die dem Menschen als solchem zukommen. Sollte sich das gebieterische Postulat der Anerkennung von Menschenwürde und Menschenrechten dagegen nur auf einen Kreis von Berechtigten beziehen, denen wir die Trägerschaft dieser Würde und dieser Rechte zuvor in einem kulturellen Zuschreibungsakt verliehen hätten, so wäre bereits der Grundakt der Anerkennung eines unbedingten Verpflichtetseins, um den es im Gedanken der Menschenwürde geht, durch diskriminierende Einschränkungen relativiert. Die Rede von der Menschenwürde wäre dann um ihren Sinn gebracht, denn sie könnte die entscheidende Funktion, die sie in der Vergangenheit, im Zeitalter der Biopolitik und der modernen Lebenswissenschaften hatte, nicht mehr erfüllen: das Menschsein der Schwachen und Hilfsbedürftigen ungeachtet aller Nützlichkeitserwägungen der Stärkeren zu schützen.
IV. Der Schutz der Menschenwürde in bioethischen Konfliktsituationen Soweit sie die Verpflichtung zu Gewaltlosigkeit, Toleranz und Achtsamkeit gegenüber anderen einschärfen, stoßen menschenrechtliche Grundforderungen in den westlichen Gesellschaften auf hohe Zustimmung. Auf sozialethischem Gebiet wird den christlichen Kirchen ein moralisches Wächteramt und eine glaubwürdige Sensibilität für verborgene Menschenwürdeverletzungen durch gesellschaftliche Fehlentwicklungen über den Kreis ihrer Gläubigen hinaus zugestanden. Die Erinnerung an ethische Grundgebote, die der persönlichen Lebensführung Grenzen auferlegen, weil sie die Beachtung der unveräußerlichen Rechte anderer einfordern, wird dagegen häufig mit dem Einwand zurückgewiesen, eine pluralistische Gesellschaft könne religiöse Moralauffassungen nicht zur Grundlage ihrer Gesetzgebung machen. Seit den Auseinandersetzungen um die Reform des Abtreibungsrechtes in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts gehört ein derartiger Vorwurf zum Standardrepertoire liberaler Argumentation. Er verkennt indessen, dass es sich bei vielen bioethischen Konflikten nicht nur um Fragen des persönlichen Lebensstils handelt, über die aufgeklärte Individuen frei von staatlicher Bevormundung oder fremder Einmischung entscheiden können. Insofern im Fall von Abtreibung, Embryonenforschung und manchen Verfahren der modernen Fortpflanzungsmedizin (z. B. der Präimplantationsdiagnostik, bei der Embryonen unter Vorbehalt und auf Probe erzeugt werden) die fundamentalen Rechte Dritter betroffen sind, konfrontieren sie den Rechtsstaat mit elementaren Gerechtigkeitsproblemen, die dieser nicht dem Belieben einzelner Bürger oder wechselnder gesellschaftlicher Mehrheiten anheimstellen kann. Anders als Fragen der individuellen Lebensführung lassen sich ethische Konflikte, die strikte Gerechtigkeitsfragen berühren, nicht nach einer verbreiteten liberalen Konfliktlösungsstrategie umgehen. Dieser zufolge soll jeder der eigenen Überzeugung folgen, ohne diese einem anderen aufzuzwingen. Wenn jedoch in den Konflikten um Leib und Leben unterschiedliche Moralauffassungen aufeinanderstoßen, geht es nie nur um diese selbst, sondern immer auch um den Anspruch der Gerechtig-
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keit gegenüber Dritten, der durch Großzügigkeit und Toleranz nicht aus der Welt zu schaffen ist. Wo daher die Kirche ihre Stimme gegen Abtreibung und Euthanasie erhebt oder in bioethischen Konflikten an die Rechte menschlicher Embryonen erinnert, fordert sie nicht staatlichen Schutz für ein religiöses Binnenethos, sondern den Schutz des Menschen vom Anfang seiner individuellen Existenz an. Weder tritt sie in eigener Sache auf noch versucht sie, irgendwelche Privilegien für sich in Anspruch zu nehmen. Sie übernimmt vielmehr eine advokatorische Funktion zugunsten der Schutzlosen und Schwachen, die über keine eigene Stimme verfügen, um ihre Rechte einzuklagen. Die Aufgabe dieser notwendigen Anwaltsfunktion zugunsten der Schwachen kann auch nicht durch den Hinweis unterlaufen werden, dass in zahlreichen bioethischen Konflikten eine Abwägung zwischen der Menschenwürde der einen und der Menschenwürde der anderen vorgenommen werden müsse. Unheilbare Krankheiten und das Schicksal der Kinderlosigkeit können sicherlich schweres menschliches Leid hervorrufen. Krankheit, Kinderlosigkeit und Tod führen in existentielle Grenzsituationen, von denen niemand weiß, wie er sie bestehen wird. Aber derartige Grenzsituationen stellen keine Verletzung der Menschenwürde dar, zu deren Abwehr die von solchen Schicksalen Betroffenen ihrerseits die Rechts- und Schutzansprüche anderer verletzen dürften. Sicherlich verfolgen Ärzte und Forscher hochrangige Zielsetzungen, deren Verwirklichung ein würdevolles Leben im Sinne der zweiten erweiterten Definition von Menschenwürde erleichtern könnte. Sie handeln, um Krankheitsursachen zu erforschen, um neue Therapien zu entwickeln oder Eltern mit einem behinderten Kind die Geburt eines gesunden eigenen Kindes zu ermöglichen. Die ethische Beurteilung dieser Forschungsansätze kann jedoch nicht allein von den Intentionen der Forscher oder Ärzte her erfolgen; vielmehr müssen die Belange aller von ihren Handlungen Betroffenen Berücksichtigung finden. Dabei gilt die Präferenzregel, dass im Konfliktfall der Wahrung elementarer Rechte von Individuen der Vorrang vor allgemeiner Fürsorge und Hilfeleistung zukommt. Die Unterscheidung zwischen einem engen Begriff der Menschenwürde, der ihren normativen Kerngehalt anspricht, und der weiteren Bedeutung des Begriffs im Sinne einer Kurzformel für alle wünschenswerten Voraussetzungen eines guten Lebens meint in diesem Fall: Der Schutz fundamentaler Rechte – vor allem des Rechts auf Leben, dessen Achtung jedem menschlichen Leben strikt geschuldet ist – wiegt schwerer als die erhofften positiven Folgen für andere. Die verbrauchende Embryonenforschung, als deren Unterfall die embryonale Stammzellforschung anzusehen ist, verstößt gegen die Menschenwürde, weil sie eine unzulässige Instrumentalisierung menschlichen Lebens für fremde Zwecke voraussetzt. Im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik erfolgt die künstliche Erzeugung menschlicher Embryonen nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Zwecke ihrer genetischen Untersuchung und ihrer vorhersehbarer Aussonderung bei entsprechendem Ergebnis. Die einzelnen durch ärztliches Handeln erzeugten Embryonen werden nicht um ihrer selbst willen gewollt, wie es die Menschenwürde erfordert, sondern nur zu einem ihrer Existenz äußeren Zweck benötigt. Im Falle der gezielten Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken, wie es in einigen Ländern in privaten Labors bereits praktiziert wird, ist der Verstoß gegen die Selbstzwecklichkeit menschlichen Lebens besonders klar erkennbar: Da bereits der Entschluss zur Erzeugung dieser Embryonen von einer vorgefassten Vernichtungsabsicht geleitet ist, handelt es sich um jene vollständige Instrumentalisierung, von der in Kants Postulat die Rede ist, der Mensch dürfe niemals bloß als Mittel zum Zweck gebraucht werden.
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Trotz ihrer hochrangigen Zielsetzungen können die genannten biotechnologischen und fortpflanzungsmedizinischen Verfahren daher nicht durch die Überlegung gerechtfertigt werden, in derartigen Grenzfällen sei es unumgänglich, die Menschenwürde der einen gegen die Menschenwürde der anderen abzuwägen. Selbst wenn eine solche Abwägung statthaft sein sollte, wie es die Theorie von der Gesamtwürdigung aller Umstände annimmt, ist nicht ersichtlich, warum die Menschenwürde des Embryos und sein Recht auf Leben und ungehinderte Entwicklung hinter den Interessen des Kranken zurücktreten sollte. Dessen Menschenwürde erfordert, dass ihm durch medizinische Forschung, ärztliche Kunst und staatliche Gesundheitsfürsorge mit moralisch zulässigen Mitteln geholfen wird. Niemand hat jedoch einen Anspruch darauf, seine vitalen Interessen – der Wunsch, von schwerer Krankheit geheilt zu werden ist zweifellos von elementarer Dringlichkeit – auf Kosten der fundamentalen Rechte anderer durchzusetzen. Auch die seelische oder körperliche Notlage, in der sich unheilbar Kranke oder Eltern mit einem behinderten Kind befinden, gibt diesen kein Verfügungsrecht über fremdes menschliches Leben. Der Zugang zu medizinischen Heilverfahren und die reproduktive Autonomie von Paaren finden eine Grenze an dem Anspruch des Embryos, um seiner selbst willen geachtet zu werden. Auf seiner Seite geht es um alles oder nichts, um die Zukunft seines noch ungelebten Lebens, auf die Chance ungehinderter Entfaltung seiner Existenz. Der menschliche Embryo ist zudem ein unschuldiges Wesen, das niemanden bedroht und erst durch menschliches Handeln in die prekäre Situation seiner extrakorporalen Existenz gebracht wurde. Die entgegengesetzte Schlussfolgerung, die aus der existentiellen Bedrohung des Kranken durch seine Krankheit ein Verfügungsrecht über das Leben menschlicher Embryonen ableitet, beraubt den Embryo seines notwendigen Schutzes und degradiert menschliches Leben zur freien Verfügungsmasse in der Hand seiner Erzeuger. Wird dagegen der Vorrang der Unterlassungspflichten (das Verbot, den Embryo zu töten) vor den positiven Handlungspflichten (das Gebot, Kranken zu helfen) beachtet, so erkennen wir den Grund, warum wir als moralisch handelnde Personen nicht alles tun dürfen, was uns technisch möglich wäre. Der Verzicht auf die Realisierung an sich wünschenswerter Ziele kann aus moralischen Gründen geboten sein, weil niemand das Recht besitzt, die eigenen existentiellen Interessen auf Kosten unbeteiligter Dritter durchzusetzen. Die Hilfeleistung für die einen – so sehr wir sie für sich betrachtet wünschen müssen – stößt dort an eine Grenze, wo fundamentale Rechte anderer verletzt werden. Diese moralische Unmöglichkeit, die unserem Handeln Grenzen auferlegt, gilt zumal dann, wenn es sich um die Schutzansprüche schwacher und daher besonders schutzbedürftiger Subjekte handelt, die ihre Rechte nicht aus eigener Kraft geltend machen können.
V. Was heißt menschenwürdig leben? Die Aufgabe der Kirche Die bislang diskutierten Anwendungsfelder hatten eine ethische Beurteilung konkreter biomedizinischer Techniken zum Ziel, die bereits praktiziert werden oder in naher Zukunft zur Verfügung stehen können. Dabei muss das ethische Urteil durch die Rasanz des technischen Fortschritts und sein unaufhaltsames Vordringen in bislang unverfügbare Bereiche des menschlichen Lebens oft auf eine kategorische Grenzziehung hinauslaufen. Sie richtet absolute Schranken des in einer humanen Rechtsordnung nicht mehr
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Hinnehmbaren auf und fordert ihre bedingungslose Anerkennung. Die ethische Reflexion darf sich jedoch, vor allem im Raum von Kirche und Theologie, nicht auf eine defensive Gefahrenabwehr beschränken, will sie gleich Hegels Eule der Minerva nicht immer zu spät kommen und in eine Argumentslage geraten, in der ihr nur mehr die Alternative zwischen aussichtsloser Verweigerung und nachträglicher Sanktionierung bleibt. Es ist vielmehr auch Aufgabe der Ethik, prospektiv Haltungsbilder zu entwerfen, die in Zukunft notwendiger denn je sein werden, wenn die Menschheit überhaupt eine Chance zur Beherrschung ihrer wachsenden biotechnologischen Macht haben soll. Die ethische Reflexion nimmt dabei einen prophetisch-mahnenden Zug an, der nicht im Nachhinein anklagt, wohl aber antizipatorisch das künftig Unerlässliche einklagt. Die Idee der Menschenwürde kommt hier nicht in ihrem eisernen normativen Kernbestand, sondern als umfassende anthropologische Zielvorstellung ins Spiel. Leitbilder gelingenden Lebens zu entwerfen, die den zukünftigen Herausforderungen gewachsen sind, ist nicht die einzige, aber doch eine ursprüngliche Aufgabe der christlichen Ethik. Es ist ihr prophetischer Dienst an der Gesellschaft, den sie nicht durch den Rückzug auf einen jeweils gültigen gesellschaftlichen Minimalkonsens verweigern darf. Sie wird nicht nach dem Büttel des Staates rufen, um heimlich die bleibenden Sinngehalte ihrer christlichen Vision des Menschen sanktionieren zu lassen. Sie muss aber den Mut aufbringen, den gesellschaftlich herrschenden Konsens in Frage zu stellen, seine Verschleierungen zu denunzieren und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Position herauszufordern. Im Sinne dieser kritischen Funktion der christlichen Ethik seien zum Schluss drei Basissätze einer theologischen Lehre vom Menschen formuliert, die zugleich die schleichenden Plausibilitäten in Frage stellen, die sich im Umgang moderner Gesellschaften mit den wachsenden biotechnologischen Möglichkeiten herausbilden. Menschliches Leben achten heißt, es auch in seiner Schwäche und Verletzbarkeit annehmen. Eine Haltung, die das eigene Leben und das der anderen nur dann als „menschenwürdiges“ Dasein akzeptiert, wenn es den gängigen Idealen von Schönheit, Bildung, Karriere und Erfolg nahekommt, ist inhuman. Die gesellschaftliche Solidarität gegenüber denen, die solchen Erwartungen nicht gewachsen sind, insbesondere gegenüber behinderten, kranken und schwachen Menschen, droht noch weiter ausgehöhlt zu werden, wenn infolge der vielfach propagierten gentechnologischen Verheißungen oder auch der raschen Gewöhnung an ihre bereits praktizierten Möglichkeiten die Toleranzschwelle der Bevölkerung gegenüber dem gefährdeten Leben weiter sinkt. Die Sorge, dass behindert geborene Menschen ihr pures Dasein einem Rechtfertigungszwang ausgesetzt sehen und in der Angst leben müssen, der Solidargemeinschaft zur Last zu fallen, ist keineswegs unbegründet. Langfristige Schwellenabsenkungen und Einstellungsänderungen vollziehen sich nicht abrupt und der nachträglich als Dammbruch erkennbare Einschnitt kann selten im Voraus eindeutig prognostiziert werden. Deshalb ist aufseiten von Gesellschaft und Politik die Versuchung groß, diesen sich abzeichnenden Entwicklungen nicht ins Auge zu sehen. In sozialethischer Perspektive gehören solche Gefährdungen des gesellschaftlichen Bewusstseins aber ebenso zu den Langzeitrisiken des Fortschritts wie die rein technischen Sicherheitsaspekte, auf die sich die vorgenommene Folgenabschätzung meist beschränkt. Menschliches Leben achten heißt, es in seinen Gestaltungsmöglichkeiten und seinen Begrenzungen annehmen. Der Mensch ist das Wesen der „Selbstverfügung und Verfügbarkeit“ (Alfons Auer) zugleich. Er verfügt über sich selbst, indem er seine biologischen,
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geschichtlichen und sozialen Lebensgrundlagen gestaltet und die Grenzen seiner Herrschaft über die Natur ausweitet. Als „biologisches Mängelwesen“ (Arnold Gehlen) muss er planend und forschend in seine Umwelt eingreifen, der Traum, wie ein unschuldiges Tier im Frieden mit der Natur zu leben und von der ihm aufgetragenen Kulturanstrengung in den Naturzustand zurückzukehren, ist von seinen naturalen Lebensgrundlagen her keine anthropologische Möglichkeit. Der Mensch ist in fundamentaler Weise aber auch das Wesen der bleibenden Unvollkommenheit und Begrenztheit. Nicht nur, dass er die Natur überragt, sondern auch, dass er, ohne vollkommen zu sein, als fehlerhaftes Wesen in seinen Grenzen leben darf, gehört zur Würde des Menschen. In Geburt und Tod, am Beginn und am Ende seines Lebens, erfährt er die allem eigenen Planen entzogene Verfügung über sein Dasein in grundlegender Passivität. Dazwischen liegt die „Werdegestalt“ (Romano Guardini) seines von ihm entworfenen Lebens. Aber auch dabei begegnet er in seinen biologischen, sozialen und kulturellen Vorprägungen immer wieder Grenzen, deren redliche Annahme zum Gelingen seines Lebens und damit zur Aufgabe seiner ethischen Existenz gehört. Die Verfügtheiten seines Daseins, allen voran die Last der Krankheit und das Schicksal des Todes einmal ganz aufheben zu können und der Notwendigkeit des Verzichts auf Dauer enthoben zu sein, bleibt ein vergeblicher Traum. Es kann deshalb auch kein sinnvolles Ziel sein, Leid unbedingt und um jeden Preis zu vermeiden. Menschliches Leben achten heißt, es in Ehrfurcht als Geschenk annehmen. In der Solidarität seiner Mitmenschen, in der liebenden Zuwendung der anderen, in den guten Stunden seines Lebens erfährt der Mensch, wie sehr er sich anderen verdankt. Dem entspricht seine natürliche Bereitschaft, selbst Verantwortung für andere zu tragen und auch ihnen das beglückende Wissen des Sich-Verdanken-Dürfens zu schenken. Am ursprünglichsten, und bis in die Ausdrucksgebärden unserer leiblichen Existenz hinein sichtbar, kommen das Verdanktsein des Menschen und die spontane Verantwortungsübernahme im Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern zur Geltung. Kinder verdanken ihr leibliches Dasein der Liebe ihrer Eltern; diese empfangen das Leben ihrer Kinder als das Geschenk ihrer körperlichen Liebe – als ein Geschenk, das sie zur Verantwortung in Dienst nimmt. Die Absichtslosigkeit, in der sie das Leben gezeugt haben, entspricht der Vorbehaltlosigkeit, mit der sie es in ihrer Mitte aufnehmen sollen. Die Natur kennt kein Rückgaberecht bei Nichtgefallen des neu entstandenen Lebens, sondern nur das kategorische Gebot, alles lebensfähige Leben in Ehrfurcht anzunehmen. Der Mensch, der sich anschicken dürfte, mit Hilfe künstlicher Fortpflanzungstechniken das gelegentliche Versagen der Natur zu beheben, müsste sie auch darin übertreffen können.
Die Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit als zentrales Menschenrecht Von Stefan Mückl I. Historische Entwicklung Die Freiheit des Gewissens, des Glaubens und der Religion gehört heute zum elementaren Bestand menschenrechtlicher Gewährleistungen, verbürgt in nahezu allen Staatsverfassungen und gleichfalls festgeschrieben in regionalen wie universalen Menschenrechtspakten. Was sich auf den ersten Blick als ein weltweiter „Siegeszug“ der Idee der Religionsfreiheit ausnimmt, verhält sich bei genauerem Zusehen differenzierter und vielschichtiger. Zum einen liegt der juristischen Normierung – selbst bei im wesentlichen gleichen oder ähnlichen Formulierungen – noch nicht zwangsläufig ein universal konsentiertes Verständnis zugrunde (am deutlichsten wird dies im Vergleich zwischen westlichen und islamischen Vorstellungen). Zum zweiten folgt der rechtlichen Gewährleistung nicht in jedem Fall auch die staatliche Praxis bzw. die gesellschaftliche Akzeptanz seitens der Mehrheitsreligion. Die Religionsfreiheit heutigen Zuschnitts hat sich in Deutschland und Europa in einem langen, keineswegs linear verlaufenden Prozess des Ringens zwischen weltlicher und geistlicher Macht herausgebildet. Konzentriert man die Betrachtung auf den heute bestehenden freiheitlichen Verfassungsstaat in Europa und Nordamerika, erweist sich dieser Prozess als Ausfluss einer überaus komplexen geistes-, kultur- und rechtsgeschichtlichen Entwicklung1. Maßgeblicher geistlicher Akteur war das Christentum; für die geistesgeschichtliche Auseinandersetzung und Begründung spielen andere Religionen keine ins Gewicht fallende Rolle. Charakteristisch für das Christentum ist die schon im Neuen Testament2 aufscheinende Spannungslage zwischen weltlich-staatlicher und geistlich-kirchlicher Macht, welche – jedenfalls im lateinisch geprägten Westen – eine prägende Konstante in der historischen Entwicklung bildet: Wohl gehen weltliche Macht und Kirche seit dem Konstantinischen Zeitalter eine enge Bindung ein, die dann im Mittelalter im Leitbild des unum corpus Christianorum ihren Kulminationspunkt findet. Doch gleichwohl ist diese Einheitsvorstellung (anders als im vorchristlichen Römischen Weltreich und gleichfalls anders als im oströmischen Kaiserreich sowie im Islam) nicht identitär, son1 Zur historischen Entwicklung Uhle, S. 87 ff.; unverändert lesenswert Hermann Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit nach seiner geschichtlichen Entwicklung und heutigen Geltung in Deutschland, 1891 (Nachdruck 1975). 2 Locus classicus ist die bei allen Synoptikern tradierte „Zinsgroschenparabel“ („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“; Mt 22,15 – 22; Mk 12,13 – 17; Lk 20,20 – 26); des Weiteren: einerseits Apg 5,29 („Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“) und andererseits Röm 13,1 – 7 („Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam“).
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dern bipolar – das gesamte Mittelalter ist durchzogen vom Grundkonflikt zweier christlicher Ordnungsgrößen mit jeweils universalem Anspruch, der „Heiligen Römischen Kirche“ und des „Heiligen Römischen Reiches“. Die Frage nach einer (gegen die weltliche Macht gerichteten) „Freiheit“ von Glauben und Gewissen stellt sich erst in der Neuzeit, zumal seit dem Zeitalter der Glaubensspaltung. Freilich wäre es ein Missverständnis, die Reformation und ihre Protagonisten als Exponenten von Glaubensfreiheit zu sehen: Die „Freiheit eines Christenmenschen“ war ihnen ein streng theologisches Programm, Gewissens- und Glaubensfreiheit im modernen Sinne weder ihr Gegenstand noch ihr Ziel3. Mit Recht hat Gerhard Anschütz, einer der maßgeblichen Staatsrechtslehrer der Weimarer Zeit, vermerkt, Resultat der Reformation sei die „Glaubenszweiheit“ gewesen, nicht aber die Glaubensfreiheit4. Für die sachgerechte Behandlung der Thematik müssen zwei Ebenen sorgfältig voneinander geschieden werden – diejenige des Staatsrechts und der Staatsphilosophie auf der einen und diejenige der Theologie auf der anderen Seite.
1. (Staats-)Rechtliche und (staats-)philosophische Perspektive
Die römisch-rechtliche Idee von den religiösen Belangen als res publicae entfaltete bis weit in die Moderne hinein ihre langfristige Wirksamkeit: Für Staat und Gesellschaft war bis in das späte 18. Jahrhundert Religion mitnichten „Privatsache“, weder das Bekenntnis des Einzelnen noch dessen gemeinschaftliche Ausübung. Gerade die frühe Neuzeit mit der Herausbildung von Staaten im heutigen Sinn des Wortes führte – unbeschadet aller philosophischen Hinwendung zum Subjektivismus – zunächst nicht zu religiöser Freiheit, sondern im Gegenteil zur Konfessionalisierung5. Für den Staat stellte sich Religion als eminenter Faktor nationaler Identitätsbildung dar – sei es in Deutschland („cuius regio eius religio“), in Frankreich („un roi, une loi, une foi“) oder England (der König als „the only supreme head in earth of the Church of Christ of England, called Anglicana Ecclesia“) –, weshalb die cura religionis zu seinen vornehmsten Aufgaben zählte. Religionsfreiheit im modernen Sinn hatte in diesem Konzept keinen Platz, der religiöse Dissenter war tendenziell Agent auswärtiger Mächte, Staatsfeind. Sein Los war im Regelfall die Emigration, in Deutschland seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 immerhin durch das Reichsverfassungsrecht gewährleistet. Unter den großen europäischen Mächten schlug Deutschland einen bemerkenswerten Sonderweg ein: Im Ausgangsland der Reformation vermochte diese ebenso wenig den vollständigen Sieg erringen wie es dem überlieferten Glauben römischer Observanz gelang, sie mittels der hergebrachten Instrumente von Acht und Bann zu bezwingen. Somit erwies sich im konfessionell gespaltenen Reich das weitere Zusammenleben als eine Frage des Friedens, was nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges im Westfälischen Frieden zu einer entsprechenden politischen Ordnung mit ersten bescheidenen Elementen der „Gewissensfreiheit“ führte: Zwar konnte der Landesherr unverändert 3 Punt, S. 58 ff.; Heckel, S. 647 (659 f.); Axel Frhr. von Campenhausen, Entwicklungsstufen der Religionsfreiheit in Deutschland, ZevKR 47 (2002), S. 303 (304 f.). 4 Gerhard Anschütz, Die Religionsfreiheit, in: HDStR II, 1932, S. 675 (676). 5 Horst Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, JZ 2002, S. 1 ff.
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Andersgläubige des Landes verweisen. Tat er es aber nicht, so war er verpflichtet, ihnen religiöse Mindestrechte zu gewähren: Die Duldung als solche sowie die einfache Hausandacht als Ausprägung der Gewissensfreiheit. Religionsfreiheit im heutigen Sinne war dies freilich nicht – die Rechtspositionen waren den Einzelnen nur indirekt, über ihre jeweiligen „Religionsparteien“ vermittelt, in deren Genuss überhaupt nur drei von ihnen (Katholiken, Lutheraner, Reformierte) kamen, was zudem nur als Interimslösung bis zur Wiederherstellung der Einheit im Glauben konzipiert war. Die seit dem späten 17. Jahrhundert einsetzende, durch Philosophie wie Staatslehre der „Aufklärung“ beeinflusste Säkularisierung von Staatszweck wie Staatszielen beförderte in der langfristigen Perspektive die Ausformung der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit 6. Allerdings klingt nur langsam die etatistische Indienstnahme der Religion durch den Staat ab. Wie sehr auch (oder: gerade?) der „aufgeklärte“ Staat die Religion als moralische Anstalt zur Beförderung der Moral seiner „Untertanen“ funktionalisiert, zeigt sich deutlich in der preußischen Gesetzgebung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Das Wöllner’sche Religionsedikt von 1788 gewährt allein den drei christlichen Hauptkonfessionen volle Freiheit. Andere (christliche!) Sekten bleiben auf den Schutz der inneren Gewissens- und der privaten Kultusfreiheit beschränkt. Der Wechsel der Konfession ist dem Staat anzuzeigen, der gänzliche Abfall vom Glauben schlichtweg nicht vorgesehen. Erst in mehreren Entwicklungsstufen gelangen die (meisten) Verfassungen der deutschen Einzelstaaten im 19. Jahrhundert zur Gewährleistung der vollen Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit. Auf Reichsebene wird dieser Rechtszustand erst mit der Weimarer Verfassung von 1919 erreicht. 2. Theologische Perspektive
Seit der Spätantike haben christliche Autoren die Fragen der Freiheit zum und im Glauben von der theologischen Warte aus beleuchtet. Indes fanden ihre Gedanken im historischen Verlauf in durchaus unterschiedlichem Ausmaß auch Beachtung; generell muss zwischen christlich geprägtem Gedankengut, den Lehraussagen und Handlungsanweisungen christlicher Institutionen und schließlich der tatsächlich geübten Praxis unterschieden werden. Bei allen Irrungen und Wirrungen, Verwerfungen und widerstrebenden Entwicklungslinien verbleibt der unabweisbare Befund, dass der Gedanke der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit auf christlichem Humus entstanden ist7: In den vom Christentum geprägten Ländern Europas und Nordamerikas, gefordert und erstritten von Christen, gestützt mit christlich inspirierten Argumenten (freilich auch, teilweise erbittert, bekämpft von christlichen Institutionen). Deutlich zeigt sich der Kontrast bei universaler Betrachtung: In keiner anderen Weltreligion und in keiner anderen Weltregion wurde über die Freiheit des Gewissens und des Glaubens eine vergleichbar lang andauernde wie tiefgehende intellektuelle Reflexion angestellt und diese letztlich in vergleichbarem Umfang realisiert8. 6 Wertvoll zum gesamten Komplex Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, S. 533 ff.; Matthias Fritsch, Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung, 2004. 7 Abgewogene und unaufgeregte Bilanz des christlichen Erbes: Angenendt, insbes. S. 122 ff., 190 ff., 232 ff., 391 ff., 460 ff. 8 Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 2. Aufl. 1991, S. 119 ff., 133 ff., 229 ff.; instruktiv auch Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, 2003, S. 152 ff.
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Gegen Zwang in Sachen des Gewissens und des Glaubens wurden und werden aus christlicher Sicht vor allem zwei Argumentationslinien vorgetragen, von denen eine anthropologisch-individuell, die andere geistlich-strukturell akzentuiert ist: – Gott hat den Menschen als freies Wesen geschaffen und ihn mit einem freien Willen ausgestattet. Er hat, endgültig in Jesus Christus, dem Menschen seinen Bund angeboten, um ihn auf ewig zu retten. Dies will Gott aber mit und nicht ohne (oder gar gegen) den Menschen erreichen. Eben deshalb wäre es ein Selbstwiderspruch Gottes, wollte er den Menschen mit Zwang oder Gewalt zu sich führen. Er will vielmehr, dass sich der Mensch aus freien Stücken Ihm zuwendet und die Antwort auf Seinen Ruf – den Glauben – als eigene und freie Entscheidung gibt. Also: Der erzwungene Glaube hat vor Gott keinen Wert. – Hinsichtlich des Glaubens – erst recht des Gewissens – kommt der weltlichen Macht keine Bestimmungsbefugnis zu: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18, 36). Die Kirche der Spätantike verwahrt sich wiederholt gegen die Bestrebungen des bereits christlich gewordenen (west)römischen Kaiserreiches zur Regelung genuin kirchlicher Angelegenheiten, dezidiert und historisch nachwirkend in der von Papst Gelasius I. (492 – 496) formulierten Zwei-Schwerter-Lehre.
Durch lange Jahrhunderte hindurch vermochten beide Argumentationslinien indes nur beschränkte Wirksamkeit zu behaupten: Noch die früheren christlichen Autoren, etwa Tertullian und Laktanz9, hatten mit durchaus naturrechtlicher Begründung die notwendig freie Gesinnung bei der Gottesverehrung verfochten und der weltlichen Macht (dem heidnischen Rom) Einwirkungsrechte abgesprochen. Später, zumal unter den Vorzeichen einer christlich mutierten weltlichen Macht, brach sich vielfach die Versuchung Bahn, geistliche Zielsetzungen mit weltlichen Mitteln durchzusetzen. Sowohl für die ursprüngliche wie für die entgegengesetzte Sicht wurde das Neue Testament herangezogen – auf der einen Seite das Gleichnis vom Unkraut und vom Weizen10, auf der anderen Seite das Gleichnis vom Festmahl11. Überdies firmierte bis weit in die Neuzeit hinein der Staat als weltlicher Arm (bracchium saeculare) der Kirche, der es (auch im Zuge zunehmender Säkularisierungsprozesse) als seine ureigene Aufgabe ansah, mit weltlichen Mittel sicherzustellen, dass seine Untertanen die wahre Religion beobachteten12. Diesen engen Konnex mit dem Staat aufzugeben, vermochten sich die christlichen Kirchen lange nicht durchzuringen: Wohl hatte das kanonische Recht seit dem frühen 12. Jahrhundert den urchristlichen Grundsatz, demzufolge niemand zum Glauben gezwungen werden dürfe (ad fidem nullus est cogendus) zum Rechtssatz erhoben13. Das bedeutete aber mitnichten Gewissens- und Glaubensfreiheit im heutigen Sinne: Wohl bestand damit Schutz gegen eine erzwungene Bekehrung, aber es existierte kein Recht, entsprechend seinem Gewissen in einer andersgläubigen Gesellschaft gleichberechtigt und ohne Diskriminierung zu leben14. Hinzu kam, dass sich das kirchliche Lehramt im 9 Näher Joseph Lecler, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation, Bd. I, 1965, S. 94 ff. 10 Mt 13,24 – 30 („Lasst beides wachsen bis zur Ernte“). 11 Lk 14,16 – 24 („Nötige die Leute zu kommen“). 12 Hierzu der bekannte wie bedeutende Aufsatz von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (zuletzt in: ders., Der säkularisierte Staat, 2007, S. 43 ff.). 13 Gratian, Decretum, pars II, c. 23 q. 5, c. 33. 14 Rhonheimer, S. 111 (130).
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späten 18. und 19. Jahrhundert gestützt auf die Erwägung, nur die Wahrheit, nicht aber der Irrtum besäße ein (auch und gerade vom Staat zu schützendes) Existenzrecht, prononciert gegen die Gewährung dieser Rechtspositionen wandte15. Bemerkenswerterweise wurde gerade im gemischtkonfessionellen Deutschland die konträre Position artikuliert: Wilhelm Emmanuel Frhr. von Ketteler, seit 1850 Bischof von Mainz (sowie Abgeordneter des Paulskirchenparlaments und des Reichstags 1871), propagierte die von der Staatsgewalt zu gewährende „volle Religionsfreiheit“ 16.
II. Die Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae des Zweiten Vatikanischen Konzils Die Auseinandersetzungen speziell des 19. Jahrhunderts sind heute historische Reminiszenz. Von Seiten der christlichen Theologie erfährt die Idee der Gewissens-, Glaubensund Religionsfreiheit inhaltliche Bekräftigung und praktische Unterstützung. Zentraler Text für die Katholische Kirche ist die vom Zweiten Vatikanischen Konzil am 7. Dezember 1965 verabschiedete „Erklärung über die Religionsfreiheit“ (Dignitatis humanae)17. In ihm greift die Kirche den altchristlichen Gedanken vom Wert des freien und der Wertlosigkeit des erzwungenen Glaubens abermals auf und verankert überdies die Freiheit des Gewissens und des Glaubens dezidiert in der „Würde der menschlichen Person“18. Die auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil eingenommene, indes von diversen Erklärungen der Päpste Pius XII. und Johannes XXIII. vorbereitete Position kontrastiert ersichtlich mit den vorgängigen lehramtlichen Verurteilungen. Prominente Autoren haben den Wandel als eine „Kopernikanische Wende“ charakterisiert, welche in der Abwendung von einem „Recht der Wahrheit“ und der Zuwendung zu einem „Recht der Person“ bestehe19. Nicht minder bedeutsam ist in staatsrechtlicher wie staatstheoretischer Perspektive die (wohl endgültige) Absage an eine Vermischung von geistlicher und weltlicher Macht in Gewissens- und Glaubensfragen: Die Kirche trennt unzweideutig zwischen moralischer Wahrheit und rechtlicher Freiheit. Indem sie erstere (unverändert) für sich in Anspruch nimmt20 und letztere bejaht, ist früheren Verschränkungen durch den Mechanismus der weltlichen Durchsetzung religiöser Wahrheit der Boden entzogen. Eben jene Trennung zwischen moralischer Wahrheit und rechtlicher Freiheit (die das Lehramt im 19. Jahrhundert jedenfalls nicht in dieser Klarheit vorgenommen hatte21) 15 Zentrale Dokumente: Pius VI., Breve Quot aliquantum v. 10. März 1791; Gregor XVI., Enzyklika Mirari vos v. 15. August 1832; Pius IX., Enzyklika Quanta cura v. 8. Dezember 1864 (mit Anhang: Syllabus errorum – Zusammenstellung zeitgemäßer Irrtümer); abgeschwächt bereits Leo XIII., Enzyklika Libertas praestantissimum v. 20. Juni 1888. – Eingehende Darstellung und Analyse: Isensee, ZRG 104 Kan. Abt. 73 (1987), S. 296 ff. 16 Wilhelm Emmanuel Frhr. von Ketteler, Freiheit, Autorität und Kirche, 1862, S. 132 ff. – Zusammenfassend dazu Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 164 ff. 17 Abdruck: AAS 58 (1966), S. 929 ff. 18 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 2 sowie 9. 19 So Isensee, ZRG 104 Kan. Abt. 73 (1987), S. 296 (336). – Eingehend Listl, S. 208 ff.; Punt, S. 209 ff.; sowie (der bereits 1965 erschienene Beitrag von) Böckenförde, S. 197 ff.; siehe ferner Uertz (FN 16), S. 480 ff. 20 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 1. 21 Rhonheimer, S. 111 (119).
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gilt es gegenüber allen (integralistischen wie relativistischen) Fehldeutungen zu betonen: Das Bekenntnis der Kirche zur Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit betrifft ausschließlich die Beziehungen des Einzelnen wie der religiösen Gemeinschaften zu Staat und Gesellschaft. Schon der (kaum zitierte) Untertitel der Erklärung („Das Recht der Person und der Gemeinschaften auf gesellschaftliche und bürgerliche Freiheit in religiösen Dingen“) lässt ebenso wie ihr Text keinen Zweifel daran, dass der dogmatische Wahrheitsanspruch der Kirche nicht nur nicht aufgegeben, sondern im Gegenteil bekräftigt wird22: Wie schon in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche wird ausdrücklich festgehalten, dass die „einzige wahre Religion ( . . . ) in der katholischen, apostolischen Kirche (verwirklicht ist)“23. Konsequenz dessen ist, dass die Erklärung über die Religionsfreiheit „die überlieferte katholische Lehre von der moralischen Pflicht der Menschen und der Gesellschaften gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi unangetastet“ lässt24. Nichts bringt die Trennung beider Ebenen deutlicher zum Ausdruck als die Feststellung der Erklärung, „das Recht auf religiöse Freiheit (bleibt) auch denjenigen erhalten, die ihrer Pflicht, die Wahrheit zu suchen und daran festzuhalten, nicht nachkommen“25. Aus alledem ergibt sich also: Der systematische Ort der Religionsfreiheit ist die Soziallehre26, nicht hingegen die Metaphysik oder die Dogmatik27. Das Zweite Vatikanische Konzil bekräftigt den tradierten Grundsatz, demzufolge niemand gegen seinen Willen zur Annahme des Glaubens gezwungen werden dürfe28 und weitet ihn dahin aus, dass allen Menschen und Gemeinschaften „das bürgerliche Recht“ zukommen muss, „dass sie nach ihrem Gewissen leben dürfen und nicht darin gehindert werden“29. Die Religionsfreiheit ist sowohl Recht der (einzelnen) Person wie der religiösen Gemeinschaften. Im letzteren Fall umfasst sie die Kultus- und Unterrichtsfreiheit, das Recht der ungehinderten Auswahl der eigenen Amtsträger sowie der ungehinderten Verkündigung und Lehre30. Für die staatsrechtliche Ordnung posEbd., S. 111 (125); Uhle, S. 24. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, Nr. 8; Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 1; wortgleich der nach den Lehraussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils neu gefasste Codex Iuris Canonici (can. 204 § 2). – Zum Verständnis der Wendung „ist verwirklicht“ grundlegend Alexandra von Teuffenbach, Die Bedeutung des subsistit in (LG 8), 2002. 24 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 1; erneut Nr. 14: „Bei ihrer Gewissensbildung müssen jedoch die Christgläubigen die heilige und sichere Lehre der Kirche sorgfältig vor Augen haben. Denn nach dem Willen Christi ist die katholische Kirche die Lehrerin der Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren“. 25 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 2. 26 Für die prominente Bedeutung in der heutigen kirchlichen Soziallehre siehe nur: Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (Hrsg.), Kompendium der Soziallehre der Kirche, 2006, Nr. 97 und 155. 27 Benedikt XVI., Ansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie beim Weihnachtsempfang v. 22. Dezember 2005, AAS 98 (2006), S. 50. 28 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 10; ferner Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes, Nr. 13. – Für die Mission hatte das Kirchenrecht den Grundsatz bereits in can. 1351 CIC / 1917 positiviert; can. 748 § 2 CIC / 1983 schreibt ihn für den gesamten Verkündigungsdienst der Kirche fest. 29 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 13. – Siehe bereits oben Text zu FN 14. 30 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 4; erläuternd Uhle, S. 25. 22 23
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tuliert die Erklärung den Erlass entsprechender Gesetze sowie den Einsatz anderer geeigneter Mittel, um auch die tatsächliche Ausübung der Religionsfreiheit zu gewährleisten. Die Wertigkeit des Rechts kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass die Kirche es für alle Bürger und religiöse Gemeinschaften auch dort fordert, wo lediglich eine religiöse Gemeinschaft in der staatlichen Rechtsordnung eine besondere Anerkennung genießt31.
Exkurs: Die Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit aus außerkatholischer Sicht
Speziell im gemischtkonfessionellen Deutschland lohnt ein Blick auf die Position des Protestantismus. In den wesentlichen Linien ergeben sich hierbei – sowohl in historischer wie in zeitgenössischer Perspektive – vergleichbare Grundaussagen. Im Zeitalter der Glaubensspaltung war unter den Bedingungen des „landesherrlichen Kirchenregiments“ weder die individuelle noch gar die gemeinschaftliche oder korporative Religionsfreiheit von Andersgläubigen vorgesehen. War äußerer Zwang durch die weltliche Macht auch theoretisch gebannt („sine vi, sed verbo“), wurde er doch praktisch ausgeübt wie eingefordert: Sowohl Luther wie Melanchthon galt die cura religionis als vornehmste Pflicht des Fürsten, der seine Machtmittel sowohl zur Unterdrückung der katholischen Religion wie zur Bekämpfung der Wiedertäufer einsetzen sollte32. Im 19. Jahrhundert herrschten auch in der protestantischen Theologie und Soziallehre zumindest ambivalente Stellungnahmen vor33. Erfolgte die systematische Befassung mit der Thematik zwar vergleichsweise spät34, gelangte der deutsche Protestantismus nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu einer vorbehaltlos positiven Einschätzung der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit. Bestehen im einzelnen durchaus verschiedene Begründungs- und Argumentationsansätze 35, finden diese doch letztlich ihren Grund in der jedem Menschen zukommenden, ihm von Gott geschenkten Würde36. Schon aus rechtstatsächlichen Gründen verdient auch die Sicht des Islam zur Religionsfreiheit Aufmerksamkeit (die sie bisher nicht immer gefunden hat). Als repräsentativer Rechtstext dazu darf die am 5. August 1990 von der „Organisation der Islamischen Konferenz“37 verabschiedete „Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam“ gel31 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 6. – Der Passus wird in seiner Dimension noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass der Katholizismus 1965 noch in zahlreichen Staaten Staatsreligion war. 32 Lecler (FN 9), S. 241 ff., 247 ff.; Klaus Schreiner, in: GGB VI, 1990 S. 445 (476 ff.); Johannes Heckel, Melanchthon und das heutige deutsche Staatskirchenrecht, in: FG Erich Kaufmann, 1950, S. 83 (97 f.). 33 Martin Heckel, Die Menschenrechte im Spiegel der reformatorischen Theologie, in: ders., Gesammelte Schriften II, 1989, S. 1122 (1159 f.); Gerhard Robbers, Menschenrechte aus Sicht des Protestantismus, in: HRG I, 2004, § 9 Rn. 27 ff., 31 ff. 34 Zum Befund wie zu den Gründen Robbers, in: HRG I (FN 33), § 9 Rn. 34; Hermann Gröhe, Art. „Religionsfreiheit (Th.)“, in: Werner Heun / Martin Honecker / Martin Morlok / Joachim Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 2006 ff. 35 Zu ihnen näher Robbers, in: HRG I (FN 33), § 9 Rn. 41 ff. 36 So die für Deutschland programmatische „Demokratie-Denkschrift“ der EKD von 1985 („Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“, S. 26 f.).
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ten, die sich als islamischer Gegenpart zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 versteht. Auf den ersten Blick schlägt die Erklärung hinsichtlich der Religionsfreiheit versöhnliche Töne an38, was sie aber mit der Unterordnung unter die islamische Scharia sogleich entscheidend relativiert39: Religionsfreiheit bedeutet nach islamischen Verständnis allein, sich zum Islam bekehren zu dürfen. Der Glaubenswechsel vom Islam weg zu einer anderen Religion hingegen ist Glaubensabfall und damit todeswürdiges Verbrechen40. In islamischen Ländern kommt allein den Muslimen volles Bürgerrecht zu; Gläubige der anderen „Buchreligionen“ (Juden, Christen) sind tributpflichtige Schutzbürger (dhimmis), denen allein die Freiheit des Gewissens und der privaten Religionsausübung zugestanden wird und die im übrigen zahlreichen Diskriminierungen unterworfen sind41. III. Folgerungen für Staat und Gesellschaft Glaube und Gewissen sind fundamentale anthropologische Gegebenheiten. Mit der rechtlichen Gewährleistung, solche überhaupt haben zu können, sie zu bekennen und auszuüben42, nimmt sie der Staat nicht nur einfach zur Kenntnis. Noch weniger liegt darin eine konstitutive „Zuerkennung“ jener Freiheit von Gewissen, Glauben und Religion durch eine rechtlich verfasste Gemeinschaft. Vielmehr wird durch die verfassungskräftige Verbürgung etwas Vorgegebenes in verbindliche Rechtsform gefasst: Ausgangswie Bezugspunkt einer Verfassungsordnung, die den Anspruch der Freiheitlichkeit erhebt, ist die menschliche Person. Damit ist zweierlei über das dergestalt konzipierte Gemeinwesen ausgesagt, in negativer Hinsicht die Absage an Staatszentriertheit und Staatsomnipotenz und in positiver Beziehung die Legitimität des glaubens- und gewissensgeleiteten Handelns im öffentlichen Raum. Mit der Gewährleistung der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit (einerlei, ob diese das „Urgrundrecht“ schlechthin darstellt43) bringt der freiheitliche Verfassungsstaat zum Ausdruck, dass er sich selbst auf weltliche Angelegenheiten und Zwecke beschränkt. Um das Seelenheil seiner Bürger kümmert er sich ebenso wenig wie darum, 37 Dieser 1969 in Rabat gegründeten zwischenstaatlichen Organisation gehören gegenwärtig 57 Staaten an, sie hat ihrem Sitz im saudischen Dschidda. Als wichtigste Aufgabe der Organisation sahen die Gründungsmitglieder die „Befreiung“ der Al-Aqsa-Moschee sowie von ganz Jerusalem. 38 Art. 10: „Der Islam ist die Religion der reinen Wesensart. Es ist verboten, irgendeine Art von Druck auf einen Menschen auszuüben oder seine Armut oder Unwissenheit auszunutzen, um ihn zu einer anderen Religion oder zum Atheismus zu bekehren.“ – Allgemein Heiner Bielefeldt, Facetten der islamischen Menschenrechtsdiskussion, in: Andreas Zimmermann (Hrsg.), Religion und Internationales Recht, 2006, S. 83 ff. 39 Art. 24 (Unterordnung) und 25 (Scharia als „einzig zuständige Quelle“ für die Auslegung) der Erklärung. 40 Näher Adel Theodor Khoury, Abfall vom Glauben im Koran und im Rechtssystem, in: ders. / Peter Heine / Janbernd Oebbecke, Handbuch Recht und Kultur des Islams in der deutschen Gesellschaft, 2000, S. 237 ff. 41 Adel Theodor Khoury, Frieden, Toleranz und universale Solidarität, ebd., S. 259 (266 f.). 42 Näher zur juristischen Struktur der grundgesetzlichen Gewährleistung in Art. 4 Abs. 1 und 2 Christian Waldhoff, Religionsfreiheit und ihre Grenzen, in diesem Handbuch. 43 So die bekannte These von Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 3. Aufl. 1919, S. 42 ff.; skeptisch Martin Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 64 ff.
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ob sie im rechten Glauben sind. Er ist „sektoraler Staat“44, für den der geistlich-religiöse Bereich von vornherein außerhalb seines Befugniskreises liegt. Seine Zielsetzung ist geradezu demütig: Es will in dieser sektoralen weltlichen Ordnung das gedeihliche Zusammenleben der Menschen organisieren, befriedend, regelnd, integrierend. Es nimmt den Menschen so, wie er ist, nicht, wie er – nach wessen Maßstäben auch immer – sein soll. Es weiß um die Grenzen seiner Möglichkeiten und überlässt die Schaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde anderen Instanzen. Gerade dadurch schafft der Staat Freiräume für den Menschen, um dessentwillen er besteht, und eröffnet ihm das weite Feld der Erprobung und Bewährung seiner Werte, sofern sie nicht schlechthin gemeinschaftsschädlich sind. Der Staat als solcher hat nicht nur keine Religion, er ist auch selbst nicht Religion oder deren Surrogat. Einer prominenten Formulierung des BVerfG zufolge ist der Staat „Heimstatt aller Staatsbürger“45. Eben deshalb verbietet sich gleich wie die Staatsreligion auch die „Staatsweltanschauung“46. Eine solche läge nicht erst dann vor, wenn der Staat zur Entwicklung, Verkündung und Durchsetzung eigener „Wahrheiten“ schritte. Da – wie bei allen Grundrechten – primärer Adressat auch der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit der Staat ist, liegt darin zugleich die Möglichkeit begründet, dass diese Faktoren „Gewissen“, „Glauben“ und „Religion“ im Einzelfall auch gegenüber dem Staat durchgreifen. Dies gilt für den engeren Bereich der persönlichen Lebensführung ebenso wie für den Bereich des Öffentlichen: Es ist geradezu Ausdruck eines freiheitlichen Staates wie einer offenen Gesellschaft, dass unterschiedlich fundierte und akzentuierte Positionen auf dem Forum der Öffentlichkeit dargeboten und in ihm wirksam werden können. Genau in dieser Offenheit für das legitime Wirken von Gewissen, Glauben und Religion über den rein privaten Bereich hinaus hebt sich der freiheitliche Verfassungsstaat entscheidend von den doktrinären Konzepten des Altliberalismus („Religion ist Privatsache“) wie des Totalitarismus („Religion ist Opium für das Volk“) ab. Speziell in seiner grundgesetzlichen Konzeption erfährt die Leitnorm der Verfassung ihre Bekräftigung: Die Würde des Menschen47. Idee wie juridische Form der Gedanken-, Glaubens- und Gewissensfreiheit sind noch in weit tiefer gehender Weise mit der verfassungsmäßigen Ordnung des Staates verflochten. Ihr Anspruch wie ihre Gewährleistung waren in Vergangenheit wie Gegenwart ein maßgebliches Moment für die Entwicklungen hin zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. In historischer Sicht illustriert namentlich die nordamerikanische Verfassungsentwicklung im ausgehenden 18. Jahrhundert eindrucksvoll den Zusammenhang zwischen der von der gewissens- und glaubensgeleiteten Ablehnung eines strikten Staatskirchentums im britischen Mutterland48 und der Konstituierung einer freiheitlich(er)en politischen Ordnung49. Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR I, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 69, 75 ff. BVerfGE 19, 206 (219). 46 Statt aller Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VI, 2. Aufl. 2001, § 138 Rn. 113. 47 Dazu zuletzt eingehend Josef Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR 131 (2006), S. 173 ff. 48 Knappe Zusammenfassung der Ausprägungen des anglikanischen Staatskirchentums mit sukzessiven Lockerungen durch diverse „Toleranzgesetze“ bei Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 81, 83 (m. FN 55). 44 45
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Noch mehr vor Augen stehen zwei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit: Spanien war in den Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts – von zwei kurzfristigen Ausnahmen abgesehen – stets als konfessioneller, d. h. als katholischer Staat konzipiert gewesen. Andere Bekenntnisse als der Katholizismus waren bestenfalls geduldet, denen höchstens die private Hausandacht, nicht aber die öffentliche Religionsausübung zugestanden wurde. Einen ebenso grundsätzlichen wie spektakulären Wandel bewirkte just die vom Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedete Erklärung Dignitatis humanae mit ihren Aussagen zur Religionsfreiheit als notwendiger Bestandteil der politischen Ordnung: Dem spanischen Staat, seit 1953 durch ein Konkordat in enger Symbiose mit der Kirche verbunden, war es schlechthin unmöglich geworden, gegen die ausdrückliche Soziallehre der Kirche nur einem Bekenntnis volle Freiheit zu gewährleisten. So wurde 1967 auch den nichtkatholischen Bekenntnissen volle Religionsfreiheit gewährt50, wenige Jahre später erfasste der Prozess der transición auch die Umgestaltung der gesamten Verfassungsordnung zu einem freiheitlichen Rechtsstaat. Nicht minder evident ist der Zusammenhang beim Fall des Kommunismus in Mittelund Osteuropa in den späten 1980er Jahren. Die im Rahmen der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ verabschiedete Schlussakte von Helsinki hatte 1975 in ihrem „Korb 1“ (Fragen der Sicherheit in Europa) „Prinzipien“ benannt, „die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten“. Unter Punkt VII wurde allgemein die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten aufgeführt und dabei allein die Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit51 ausdrücklich hervorgehoben. Wie sehr diese Erklärung die zu diesen Positionen konträre kommunistische Parteiund Staatsideologie delegitimiert hat, ist offenkundig52, zumal sie durch das Wirken von Papst Johannes Paul II. in seiner polnischen Heimat wie im ganzen kommunistischen Machtbereich gleichsam personalisiert wurde53. Was als Kampf um die Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit begann, endete auch hier in einem grundlegenden Wandel der staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen und im Aufbau freiheitlicher Verfassungsstaaten nach westlichem Muster. Rechtliche Zubilligung wie praktische Verwirklichung der Gewissens-, Glaubensund Religionsfreiheit entfalten überdies positive Rückwirkungen auf die Ebene der Gesellschaft. Alle Bürger genießen unabhängig von ihrem Glauben und Bekenntnis die gleichen Rechte und vermögen so Staat und Gesellschaft als die ihrigen zu betrachten. Konsequenz dieser erfahrbaren und erfahrenen Integration ist zum einen der politische 49 Theoretische Durchdringung bei Alexis de Tocqueville; dazu Michael Novak, Religion at the Time of American Founding, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft, 2004, S. 71 ff. 50 Ley 44 / 1967 de Libertad Religiosa vom 28. Juni 1967; dazu María Blanco, La primera ley espan˜ola de libertad religiosa, 1999. 51 Näher Otto Kimminich, Religionsfreiheit als Menschenrecht, 1990, S. 158 ff.; Alexander Hollerbach, Religions- und Kirchenfreiheit im KSZE-Prozess, in: FS Ernst Benda, 1995, S. 117 ff. 52 Helmut Liedermann, Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), in: FS Agostino Cardinal Casaroli, 1984, S. 489 ff.; ders., Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit, in: FS Rudolf Weiler, 1988, S. 141 ff. 53 Würdigung aus juristischer Sicht durch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfechter der Religionsfreiheit, in: Aldo Loiodice / Massimo Vari (Hrsg.), Giovanni Paolo II. Le vie della giustizia, 2003, S. 487 ff.
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und gesellschaftliche Friede, zum anderen die Bereitschaft der einzelnen Bürger, für Staat und Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Kurzum, die Gedanken-, Glaubens- und Religionsfreiheit befruchtet und stärkt die Werte der Gerechtigkeit und des Friedens54. Speziell die in die Öffentlichkeit gerichtete Ausübung von Glauben und Religion führt zu für die Gesellschaft insgesamt förderlichen Auswirkungen: Dergestalt erfahren kontrovers geführte Sachdebatten, zumal in den Grenzbereichen menschlicher Existenz (etwa: Schutz des Lebens, Fragen der Bioethik) regelmäßig einen grundsätzlichen Zugriff, der vor allzu schnellen Machbarkeitslösungen des tagespolitischen Pragmatismus zu bewahren vermag. Dass gerade die Gesellschaft selbst am meisten davon profitiert, wenn die Bürger von ihren Freiheiten auch positiv Gebrauch machen, ist wiederholt mit den Erkenntnismitteln der empirischen Sozialforschung belegt worden: Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen Glaubensbindung und bürgerlicher Loyalität55, die sich in der Akzeptanz von Normen und Regeln ebenso manifestiert wie in der Bereitschaft zu Mitmenschlichkeit und Solidarität56. Eben deshalb liegt es auch im eigenen Interesse des Staates wie der Gesellschaft, wenn die Entfaltung der Freiheit von Rechts wegen Förderung erfährt. Bekannte Beispiele dafür sind die Einbeziehung der Kirchen und Religionsgemeinschaften als institutionelle Träger von Religion in die schulische Ausbildung (Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach, Art. 7 Abs. 3 GG) oder das Gemeinnützigkeitsrecht mit der steuerlichen Begünstigung von Zuwendungen für religiöse Zwecke. Soweit es um derartige Förderung geht, ist es freilich zulässig, auch nach dem von der betreffenden Religion bzw. der sie tragenden Gemeinschaft erbrachten Beitrag für Staat und Gesellschaft zu differenzieren57.
IV. Religionsfreiheit in der Kirche? Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit sind Rechtspositionen, die dem Einzelnen gegenüber der staatlichen Ordnung zustehen. Nun sind in den vergangenen Jahrzehnten gelegentlich Stimmen laut geworden, die deren Geltung auch für den innerkirchlichen Raum gefordert haben. Nicht selten wurde dieses Ansinnen mit der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit „begründet“ oder auf das „Argument“ gestützt, die Kirche könne für den Staat kein Prinzip verlangen, das sie selbst im Inneren nicht verwirkliche. Eine derartige Sicht vermengt mehrere Gesichtspunkte, die unterschieden werden müssen. Alleiniges Objekt der Erklärung Dignitatis humanae ist, wie oben dargelegt, in der Tat die Religionsfreiheit als „gesellschaftliche und bürgerliche Freiheit“ (so der 54 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 6; aufgegriffen von Papst Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1988 („Religionsfreiheit, Bedingung für friedliches Zusammenleben“), Abdruck in: Donato Squicciarini (Hrsg.), Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Pauls II. 1992, S. 211 ff. 55 Andreas Püttmann, Ziviler Ungehorsam und christliche Bürgerloyalität, 1994, insbes. S. 251 ff.; ders., Sind Christen anders?, in: Henryk Krzysteczko (Hrsg.), Europa christlich gestalten, 2005, S. 53 ff. 56 Darauf hebt besonders Papst Johannes Paul II. (FN 54) ab. 57 Paul Kirchhof, Die Freiheit der Religionen und ihr unterschiedlicher Beitrag zu einem freien Gemeinwesen, in: Essener Gespräche 39 (2005), S. 105 ff.
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Untertitel). Damit stellt die Kirche – die in, aber nicht von der Welt ist – in Wahrnehmung ihres Verkündigungsdienstes ein zentrales Element einer gerechten Staats- und Gesellschaftsordnung im Diesseits als vorzugswürdig und wünschenswert dar. Sie postuliert aber kein allgemeingültiges Prinzip einer Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit, welche für jedwede Gemeinschaften gelten würde: Nach ihrer Lehre ist die Kirche eben nicht nur (menschliche) Rechtsgemeinschaft, sondern gleichermaßen (göttliche) Heilsgemeinschaft, welche gemeinsam eine „komplexe Wirklichkeit“ bilden58. Schon vor diesem ekklesiologischen Hintergrund hat eine unterschiedslose, für Staat und Kirche gleichermaßen geltende Freiheit keinen Raum. Diese Sichtweise entspricht dem Geltungsanspruch des weltlich-staatlichen Rechts: Grundrechte binden die staatliche Gewalt in allen ihren Ausprägungen (Art. 1 Abs. 3 GG), nicht aber Private. Die in den 1950er- und erneut in den 1970er-Jahren mitunter vertretene These, Träger „gesellschaftlicher Macht“ seien ebenfalls Bindungsadressaten der Grundrechte, hat sich zu Recht nicht durchgesetzt. Vielmehr gilt nach allgemeinen staatsrechtlichen Grundsätzen, dass für die Sphäre des Staates grundrechtliche Bindung und für diejenige der Gesellschaft grundrechtliche Freiheit gilt. Nur für den Ausnahmefall, dass ein der gesellschaftlichen Ebene zugehöriges Rechtssubjekt aufgrund eines staatlichen Übertragungsakts hoheitliche Aufgaben wahrnimmt („Beleihung“), gilt anderes. Entsprechend diesen Grundsätzen sind die Kirchen (sowie andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften) nicht durch die staatlichen Grundrechte, auch nicht diejenige der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit, gebunden, sondern im Gegenteil aus ihnen berechtigt: Im säkularen Verfassungsstaat rechnen sie zur Sphäre der Gesellschaft, nicht zu derjenigen des Staates. Das gilt auch für diejenigen unter ihnen, denen der Rechtsstatus einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts zukommt: Dadurch werden sie zwar aus der Sphäre der Privatheit in diejenige der Öffentlichkeit erhoben, ohne aber in diejenige der Staatlichkeit eingegliedert zu werden. Anders als die übrigen öffentlich-rechtlichen Körperschaften (im Sinne des Allgemeinen Verwaltungsrechts) nehmen sie keine staatlichen Aufgaben und Befugnisse wahr59. Damit fehlt jeder positivrechtliche Anhalt und jeder theoretische Grund, ihnen eine Grundrechtsbindung aufzuerlegen60. Anders verhält es sich, den allgemeinen Grundsätzen folgend, in den Bereichen, in denen den Kirchen durch den Staat hoheitliche Aufgaben übertragen worden sind, vor allem im Kirchensteuer-61, Friedhofs-62 und Privatschulrecht63. Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution Lumen gentium, Nr. 8. BVerfGE 18, 385 (386 f.); 42, 312 (321 f.); 55, 207 (230); 53, 366 (387); 66, 1 (19 f.). 60 Zuletzt ausdrücklich BVerfGE 102, 370 (392 f.) – Verfehlt aber die dem angeschlossene These, die öffentlich-rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften „verfügen . . . über besondere Machtmittel und einen erhöhten Einfluss in Staat und Gesellschaft“, weshalb „ihnen . . . die besonderen Pflichten des Grundgesetzes zum Schutz der Rechte Dritter näher (liegen) als anderen Religionsgemeinschaften (S. 393). 61 BVerfGE 18, 392 (396); 19, 206 (217 f.); 30, 415 (422); 73, 388 (398 ff.); BVerfG, NVwZ 2002, S. 1496 (1497); eingehend Felix Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, 2002, S. 140 ff., 221 f. 62 BVerwGE 25, 364, 366. Dabei ist zu differenzieren, ob der betreffende Friedhof ein Monopolfriedhof ist, oder nicht; siehe Axel Frhr. von Campenhausen / Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, S. 188 f. 63 BVerfGE 27, 195 (203 f.); 37, 314 (323 f.); BVerwGE 45, 117 (119); 68, 185 (187 f.); 112, 263 (270 f.). 58 59
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Folglich verschafft die Berufung auf das (staatliche) Grundrecht der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit dissentierenden Mitgliedern keine Handhabe gegen „ihre“ Gemeinschaft64. Kirchliche Disziplinar- und Strafmaßnahmen sind von vornherein nicht am Maßstab des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, sondern allein am Maßstab des jeweils internen (Kirchen-)Rechts zu messen65. In der Beziehung des einzelnen Mitglieds zu „seiner“ Gemeinschaft erlangt die Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit allein insoweit Bedeutung, als es dem Einzelnen rechtlich möglich sein muss, sich mit Wirkung für den staatlichen Rechtskreis von der Gemeinschaft wieder zu lösen66. Dies geschieht in den Kirchensteuergesetzen der Länder mit der Option des jederzeitigen Kirchenaustritts.
V. Religionsfreiheit als gemeinsamer Belang von Staat und Kirche In der Konsequenz der seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil entfalteten Ausrichtung ihrer Soziallehre hat sich die Kirche in den vergangenen Jahrzehnten weltweit als engagierte Fürsprecherin der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit profiliert, sei es im institutionellen Kontext67 oder mit den Mitteln des bilateralen diplomatischen Verkehrs. Der bemerkenswerte Erfolg jener Soziallehre liegt indes auch darin begründet, dass sie unzählige Menschen ermutigt hat, ihre Rechte gegenüber ihrer Staatsgewalt geltend zu machen – was in nicht wenigen Fällen einen Wandel der innerstaatlichen Rechtslage bewirkt hat. Bei allen unverändert bestehenden Defiziten hat sich doch in den vergangenen Jahrzehnten das Schutzniveau der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit weltweit deutlich gehoben. Ihre weitere Beförderung ist ein gewichtiges Anliegen von Staat und Kirche, welche die gleichen Menschen zu Gliedern haben.
Literaturverzeichnis Angenendt, Arnold: Toleranz und Gewalt, 2. Aufl. 2007. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Religionsfreiheit als Aufgabe der Christen, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, 2. Aufl. 2007, S. 197 ff. Heckel, Martin: Religionsfreiheit, in: ders., Gesammelte Schriften IV, 1997, S. 647 ff. Isensee, Josef: Keine Freiheit für den Irrtum, ZRG 104 Kan. Abt. 73 (1987), S. 296 ff. Listl, Joseph: Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, 1978. Punt, Jozef: Die Idee der Menschenrechte, 1987. 64 Roman Herzog, in: Theodor Maunz / Günter Dürig, GG, Kommentar, Art. 4 (Stand: 1988) Rn. 50; Frhr. von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht (FN 62), S. 114 f.; Konrad Breitsching, Menschenrechte, Grundrechte und kirchliche Rechtsordnung, in: FS Johannes Mühlsteiger, 2001, S. 191 ff. 65 Dazu aus katholischer Sicht Antonio María Rouca Varela, Die ekklesiologischen Grundlagen einer allgemeinen Theorie der Grundrechte des Christen in der Kirche, in: ders., Schriften zur Theologie des Kirchenrechts und zur Kirchenverfassung, 2000, S. 221 ff. 66 Statt aller Herzog (FN 64) Art. 4 Rn. 50. 67 Dazu Paul Wuthe, Für Menschenrechte und Religionsfreiheit in Europa. Die Politik des Hl. Stuhls in der KSZE / OSZE, 2002.
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Rhonheimer, Martin: Wahrheit und Politik in der christlichen Gesellschaft, in: ders., Verwandlung der Welt, 2006, S. 111 ff. Uhle, Arnd: Staat – Kirche – Kultur, 2004.
Zweites Kapitel
Grundlinien der Katholischen Soziallehre
Der soziale Lehrauftrag der Kirche Von Anton Losinger I. Der kirchliche Heilsauftrag Wenn Papst Johannes XXIII. die Kirche als „Mutter und Lehrmeisterin der Völker“ (MM 1) titulierte, dann steht hinter dieser Aussage kein anmaßender Triumphalismus, sondern der grundlegende Sendungsauftrag, den Christus der Kirche aufgegeben hat, nämlich dem Menschen den Weg zum Heil zu ermöglichen. Obwohl sich das Ziel des Heils, das Reich Gottes, erst jenseits der Geschichte, in Gott, voll und ganz erfüllen wird,1 so ist es doch nicht etwas rein transzendentes, sondern zielt auch auf den Aufbau einer gottgewollten irdischen Ordnung. Diesbezüglich kommt dem Grundsatz, dass „der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein [muss]“ (MM 219), eine besondere Relevanz zu. Denn mit diesem Prinzip wird die Würde der menschlichen Person eindruckvoll herausgestellt und damit zur besonderen Verpflichtung des sozialen Verkündigungsauftrags der Kirche. Nicht ohne Grund weist Papst Johannes XXIII. ausdrücklich darauf hin, „dass die Soziallehre der katholischen Kirche ein integrierender Bestandteil der christlichen Lehre vom Menschen ist“ (MM 222). Wird nun von Seiten der gesellschaftlichen Verhältnisse und Handlungsweisen das christliche Verständnis von Heil und Menschenwürde tangiert, fallen profane Wirklichkeiten auch in den Kompetenzbereich theologischer Bewertung. Die Kirche fühlt sich zuständig, die entsprechenden Verhältnisse zu beurteilen und gegebenenfalls zu kritisieren: „Wo Wert und Würde des Menschen verletzt, seine Rechte und Pflichten eingeschränkt oder ausgeschaltet werden, muss die Kirche ihre Stimme erheben.“2 Dieser Dienst der Kirche an der Gesellschaft stellt eine ständige Aufgabe dar, immer wieder neu müssen gerechte Strukturen angemahnt und im Dialog mit allen Menschen guten Willens das Bewusstsein für dieses Ziel wachgehalten werden, so dass eine Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglicht wird. In diesem Kontext wird dann auch verständlich, dass die Kirche für sich das Recht in Anspruch nimmt, „immer und überall [ . . . ] in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden und ihre Soziallehre kundzumachen“ (GS 76). Letztlich wird damit von Seiten der Kirche aber nicht nur ein Anspruch hervorgehoben, sondern zugleich auf eine unabdingbare Pflicht ihres Weltdienstes verwiesen, als Ausdruck ihrer sozialen Verantwortung für Gerechtigkeit und Solidarität. Dieser Einsatz der Kirche für das Heil und Wohl der Menschen bleibt aber nicht immer ohne Widerspruch, zuweilen wird nämlich die Intention der Kirche, mit ihrer Soziallehre auf die 1 2
Vgl. Kompendium, Nr. 49. Rauscher, S. 74.
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Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse konstruktiv einzuwirken, dahingehend interpretiert, dass die Kirche auf diese Weise nur versuche, wieder Macht über die Gesellschaft zu gewinnen. Um solche Behauptungen zu entkräften, aber auch um zur weiteren inhaltlichen Klärung des sozialen Lehrauftrags der Kirche beizutragen, erscheint es relevant, das Verhältnis von Kirche und Welt, insbesondere auch die Abgrenzung zwischen beiden Bereichen, weiter zu explizieren.
II. Kirche in der Welt Mit dem bekannten Diktum „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“ (Mt 22,21) warnt Jesus vor einer unangemessenen Vermischung und Einmischung des Religiösen in das Irdische und umgekehrt. Damit fordert er aber auch implizit heraus, das, was Gottes ist, und das, was des Kaisers ist, näher zu bestimmen und dem jeweiligen Proprium gerecht zu werden. Prinzipiell besteht eine elementare Verschiedenheit von Kirche und Welt, weil die Kirche als ein göttliches Ereignis ihrem Wesen und ihrer genuinen religiösen Sendung nach am transzendenten Ziel des Menschen orientiert ist und somit naturgemäß in einem Verhältnis des „Gegenübers zur Welt“ steht. „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt!“ (Joh 18,36) sagt dazu lapidar das Johannesevangelium. Damit ist unmissverständlich die Aufforderung verbunden, sich der Welt nicht gleichförmig zu machen (Röm 12,2) und einer konformistischen Anpassung zu widerstehen. Andererseits prägt das Geheimnis der Menschwerdung Jesu Christi auch die Kirche und ihr Verhältnis zur Welt. Mit der Menschwerdung wird der ganze Mensch in die Heilsökonomie des Evangeliums mit einbezogen, so dass mit dem inkarnatorischen Geschehen ein heilsgeschichtliches Beziehungsverhältnis von Kirche und Welt grundgelegt wird. Deshalb kann die Kirche den Bedingungen der Welt nicht gleichgültig gegenüber stehen, zumal die Welt auch als ein sichtbares Zeichen für das Schöpfungshandeln Gottes zu verstehen ist. Insgesamt gesehen ist somit die Kirche zugleich „in dieser Welt verfasst und geordnet“ (GS 40,2), ohne allein von dieser Welt zu sein. Das Weltliche und das Weltverschiedene an ihr bestimmen die eine identische Gestalt der Kirche. Und so muss sie sich als Dienerin des Heils auch im profan geschichtlichen Kontext immer wieder neu ihres eigentlichen Auftrags vergewissern (GS 40, CA 53 f.).3 Da in diesem Zusammenhang der Welt selbst eine Kompetenz zum Heil zugetraut wird, widerspricht auch jede Weltflucht dem kirchlichen Selbstverständnis. Stattdessen soll die Kirche die Welt im Sinne des Evangeliums durchdringen (Mt 13,33) bzw. gemäß ihrer unmittelbaren gottgegebenen Bestimmung das „Salz der Erde“ sein (Mt 5,13). Die Zuordnung von göttlicher und weltlicher Wirklichkeit der Kirche stellt somit einerseits eine „Dualität“ dar, insofern die Eigenständigkeit beider Größen und die Andersartigkeit der Kirche im Vergleich zur Welt gemeint ist, anderseits aber auch eine Form der „Integration“, weil beide Bereiche einander zugeordnet sind. Man kann somit die Zuordnung von Kirche und Gesellschaft, von Glaube und Welt, auch als ein integrierendes Miteinander beschreiben. 3
Vgl. Kompendium, Nr. 69.
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III. Die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten 1. Grenzen kirchlicher Zuständigkeit
In der Konkretion des dargelegten Heilsauftrags der Kirche müssen aber auch bestimmte Realisierungsbedingungen beachtet werden, insbesondere entsprechende Grenzen der Zuständigkeit. Vor allem wenn Bereiche tangiert werden, die über die religiöse Ordnung hinausgehen und rein weltlicher Natur sind, ist es zwingend, die Eigenständigkeit der irdischen Kultursachbereiche zu beachten. Auf diesen wichtigen Sachverhalt hat bereits Papst Pius XI. in seiner Enzyklika Quadragesimo anno hingewiesen, wenn er dort die jeweilige Eigenständigkeit von Wirtschaft und Sittlichkeit betont (vgl. QA 42). Auf seine Antrittsenzyklika Ubi arcano von 1922 Bezug nehmend, stellt er dort unmissverständlich fest: „[D]ie Kirche würde es sich als einen Übergriff anrechnen, grundlos in diese irdischen Angelegenheiten sich einzumischen“ (QA 41). Diese Unterscheidung zwischen dem Bereich sittlicher Fragen und der ausdrücklichen Betonung der Eigenständigkeit der sogenannten Kultursachbereiche fand dann auch Eingang in die Pastoralkonstitution, wo explizit von der „iusta terrenarum rerum autonomia“ gesprochen wird: „Wenn wir unter Autonomie der irdischen Wirklichkeiten verstehen, dass die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen und gestalten muss, dann ist es durchaus berechtigt, diese Autonomie zu fordern“ (GS 36). Entscheidend für die Interpretation dieser Konzilsaussage ist nun die Klärung der Bedeutung von Autonomie. Denn obwohl von Seiten der Kirche eine grundsätzlich positive Sicht dieser Autonomie der irdischen Wirklichkeiten unterstrichen wird, muss sie auf der anderen Seite aber auch differenziert betrachtet werden, um nicht einer falschen Sicht der Weltverantwortung Vorschub zu leisten. Mit anderen Worten: Erst das richtige Verständnis der Autonomie ist der Schlüssel für die Haltung der Kirche zur Welt – und umgekehrt. 2. Die Aporie absoluter Autonomie
Der Begriff Autonomie bezeichnet im Gegensatz zur Heteronomie ursprünglich die politische Selbstbestimmung griechischer Stadtstaaten in der Antike. Vor allem Immanuel Kant verstand diesen Begriff zur Zeit der Aufklärung als Schlagwort für die Befreiung der Vernunft von den Vorgaben metaphysischer Transzendenz. Dabei wird die Erkennbarkeit ewig gültiger Wesens-Wahrheiten oder einer natürlichen Bestimmung des Menschen, wie sie bei Aristoteles oder Thomas von Aquin unterstellt wird, kritisiert. Das moralische Grundprinzip der Theonomie, das die Legitimität von Regeln aus der Erkennbarkeit einer göttlichen Transzendenz ableitet, wird nun ersetzt durch das Prinzip der Autonomie, durch das die neigungsfreie Vernunft in der Erkenntnis ihrer Denknotwendigkeiten absolute Normativität begründen soll.4 Letztlich werden hierbei Autonomie und Theonomie antagonistisch gegeneinander gestellt. Autonome Wissenschaft und Moral brauchen keinen Glauben an Gott und Transzendenz, weil sie sich selbst genügen und so ihr eigener transzendentaler Ursprung und ihr eigenes Ziel sind. 4
Vgl. Müller.
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Für eine Klärung des prinzipiellen Verhältnisses von Kirche und Welt muss nun aber ein Ansatz gefunden werden, der eine Vermittlung zwischen Theonomie und Autonomie ermöglicht. So bestreitet der in der Pastoralkonstitution verwendete Autonomiebegriff den in der Aufklärung behaupteten Antagonismus: „Wird aber mit den Worten ,Autonomie der zeitlichen Dinge‘ gemeint, dass die geschaffenen Dinge nicht von Gott abhängen und der Mensch sie ohne Bezug auf den Schöpfer gebrauchen könne, so spürt jeder, der Gott anerkennt, wie falsch eine solche Auffassung ist. Denn das Geschöpf fällt ohne den Schöpfer ins Nichts“ (GS 36). Folglich ruft eine absolut verstandene Autonomie irdischer Wirklichkeiten den entschiedenen Widerstand der Kirche hervor, wobei sie dieser totalitären Vorstellung sowohl mit Vernunft- als auch mit Glaubensargumenten entgegen tritt.5 So ist zum einen das Verhältnis zwischen absoluter Autonomie und absoluter Menschenwürde nicht konfliktfrei. Immanuel Kant bekennt sich zur Menschenwürde als dem absoluten Wert, nach dem jeder Mensch – und nicht allein der vernünftige Mensch – immer zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel behandelt werden darf.6 Diesen Wert erschließt die autonome (neigungsfreie) Vernunft. Da der Mensch als grundsätzlich defizitär angesehen wird und erst die Tugend der Neigungsfreiheit die autonome Einsicht ermöglicht, liegt die Vermutung nahe, dass allein vernünftige Menschen eine solche unbedingte Würde verdienen. Denn für diese ließe sich zweifelsohne die absolute Würde als Denknotwendigkeit der Vernunft erschließen. Der kategorische Imperativ auch für unvernünftige bzw. noch nicht oder nicht mehr vernünftige Menschen aber folgt unmittelbar weder aus einer schlüssigen transzendentalen Erkenntnis noch aus diskurstheoretischen Bestimmungen (vgl. J. Habermas, K.-O. Apel), denn die Denknotwendigkeit der Vernunft im Allgemeinen und des Argumentierens im Besonderen hängt nicht von diesem Imperativ ab. Der Würdeschutz auch der Unvernünftigen folgt einer Neigung Kants zur absoluten Menschenwürde, ist also selbst nicht unmittelbar Frucht der autonomen Vernunft. Kant zufolge können mit Hilfe der Vernunft keine Aussagen über die Transzendenz gemacht werden, Gott und sein Heilsplan entzieht sich der theoretischen Erkenntnis. Andererseits ist Gott für Kant eine denknotwendige Idee der praktischen Vernunft und ermöglicht als transzendentale Bestimmung die Erkenntnis objektiver Normativität. Weil es nun ohne die denknotwendigen Ideen keine autonome Vernunft gibt, ist Gott zwar keine erkennbare Wesenswirklichkeit, doch ohne Gott ist auch die absolute Autonomie und die mit ihr begründete Objektivität eine bloße Idee, deren normativer Anspruch nicht mehr als ein Postulat ist. Daraus folgt, dass ohne Gott die Autonomie kein in sich und aus sich schlüssiges oberstes Moralprinzip darstellt, sie bleibt verwiesen auf eine Kontextualität der „regulativen“ Ideen, zu denen auch Gott zählt. Über die Vernunftargumente hinaus kann und muss die Kirche auch theologische Bedenken gegen eine absolute Autonomie einbringen. So kann das thomasische Verständnis der rechten Vernunft (ratio recta) den behaupteten Antagonismus auflösen (vgl. FR 43 f.). Dieser naturrechtlichen Tradition gemäß ist die absolute Menschenwürde mit individuellen Freiheits- und sozialen Grundrechten in der göttlichen Schöpfungsord5 Diese Interpretation kann sich auch auf Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung berufen, weil dort ebenfalls die selbstzerstörerischen Energien absoluter Autonomie aufgedeckt werden; vgl. Horkheimer / Adorno. 6 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten IV, S. 428 ff.
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nung begründet. Gottesebenbildlichkeit und die Inkarnation Gottes in Jesus Christus sind mit einem Relativismus unvereinbar. Das Naturgesetz (lex aeterna) für Mensch und Welt, das – neben der göttlichen Offenbarung – dem Menschen den Weg zum Heil erschließt, ist mit Hilfe der auf Gottes Vernunft hin ausgerichteten rechten Vernunft analog zu erkennen, weil sie die göttliche Vernunft berührt, sie aber nicht umfasst.7 Der Selbstbestimmung im Sinne theonom begründeter Menschenwürde entsprechend müssen die Menschen unbedingt befähigt werden, ihrer göttlich vorgegebenen Bestimmung entsprechend leben zu können. Dies ist ein unaufgebbarer Imperativ menschlicher Würde. Die irdischen Wirklichkeiten dürfen nunmehr nicht nur deshalb nicht sich selbst überlassen werden, weil dies ihre Selbstbestimmung destruiert, sondern auch, weil eine entfesselte Freisetzung real vorhandener negativer Dispositionen des Menschen dem göttlichen Heilsplan zuwider läuft. Tritt nämlich eine andere als die auf Gott hin ausgerichtete rechte Vernunft an deren Stelle, kommt es historisch faktisch zu Fehlinterpretationen des Naturgesetzes, die sich von der Zielbindung einer Orientierung am Heil des Menschen entfernt. Selbst zu verantwortende Schuld gegenüber dem göttlichen Heilsplan ist die Folge, wobei hier auch institutionelle „Strukturen der Sünde“ (SRS 36 ff.) entsprechende Wirkungen zeitigen können.
3. Die legitime Autonomie
Das theonom finalisierte Verständnis relativer Autonomie der irdischen Wirklichkeiten fordert aus theologischer Sicht die Selbstbestimmung des Menschen im Kontext des göttlichen Heilsplans. Das Transzendente ist dem Menschen und den irdischen Wirklichkeiten als natürliche gottgegebene Finalität mitgegeben, Gottes Schöpfungsplan leuchtet hier gleichsam auf. Dieser methodologische Ansatz beim Verstehen irdischer Wirklichkeit setzt deshalb nicht zwangsläufig eine von Gott unabhängige Instanz der Normativität voraus, wie es ein optimistischer Anthropozentrismus suggerieren mag. Vielmehr sind die beim Verstehen des Irdischen ansetzenden Interpretationen legitimer Autonomie immer auf den göttlichen Schöpfungs- und Heilsplan zu beziehen. So wird deutlich, dass sie Anteil an der theonomen Identität des Irdischen haben und deshalb dem theozentrischen Welt- und Menschenbild der Kirche nicht entgegenstehen können. Die legitime Autonomie der irdischen Wirklichkeiten ist somit eine relative Autonomie in Beziehung zu Gottes Schöpfung. In diesem Sinne ist sie stets relational8 – und fragt nach der Kohärenz der Welt mit dem Heilsplan Gottes. Sie ist dabei auf Rationalität und die sich Gott zuwendende Liebe angewiesen, denn die legitime, relative Autonomie lässt für den Glaubenden den Raum, über die ganzheitliche Sinngebung der einen Schöpfung zu staunen und in der sichtbaren Welt immer wieder das Abbild Gottes zu entdecken. Dabei erfährt der Mensch in seiner vernünftig wie liebend dialogischen Beziehung zu Gott seine theonom finalistische Autonomie als Freiheit zu und Verantwortung vor Gott. Denn menschliches Personsein entfaltet sich grundlegend durch die Bindung an Gott, die eine „totalitäre“ absolute Autonomie ausschließt. Insofern die Schöpfung im Allgemeinen und das menschliche Leben im Besonderen als 7 8
Vgl. Kluxen, S. 319. Vgl. Forster, S. 29.
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Pilgerschaft aus gottgegebenem Ursprung und mit gottgegebenem Ziel originär und final bestimmt wird, ist auch der wesentliche Auftrag der Kirche in der Welt als theologisch begründet zu verstehen.9 Die legitime Autonomie umfasst jedoch auch einen Bereich, der sich theologischen Kriterien entzieht. Dieser richtet sich auf ein Verstehen der Logik spezifisch technischweltlicher Gesetze.10 Der Fall Galilei offenbart dieses Problem der notwendigen Grenzziehung kirchlich-theologischer Kompetenzen. Denn Sachgerechtigkeit fordert eigene wissenschaftliche Methoden, wie etwa zur Erforschung von Physik- und Marktgesetzen. Die Kirche befragt aber die unabhängig von theologischen Prämissen jeweils erkannte Eigenlogik nach ihrem Sinn im Kontext der auf Gott hin ausgerichteten Finalität. Keineswegs verwirft sie aus vorgefassten dogmatischen Überlegungen die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über die irdischen Wirklichkeiten. Vielmehr schätzt sie diese als Bereicherung zum tieferen Verständnis des göttlichen Plans, von Schöpfung und Kreatürlichkeit, von bestehendem und erwartetem Heil der irdischen Wirklichkeiten (GS 36). Aber auch dabei hält die Kirche mit ihrem qualitativ anderen Bewertungsinstrumentarium Distanz zu einer gottvergessenen absoluten Autonomie. Stattdessen bewertet sie die Erkenntnisse über die Wirklichkeiten nach Sinn, Ziel und Ordnung, wobei der Fortschritt irdischer Erkenntnisse nie Selbstzweck ist, sondern Mittel zum Zweck im Dienst am göttlichen Schöpfungs- und Heilsplan. Insgesamt gesehen bedeutet die „rechte Autonomie irdischer Wirklichkeiten“ ein konstruktives, sich gegenseitig befruchtendes und korrigierendes Miteinander von Kirche und Welt, solange eine prinzipielle Offenheit für die Frage nach dem transzendenten Sinnhorizont der Wirklichkeit besteht. Dabei kann die Kirche aus theonomer Inspiration Strukturelemente gerechter, menschenwürdiger gesellschaftlicher Ordnung liefern, auch auf wirtschaftlichen, politischen, kulturellen oder profanwissenschaftlichen Gebieten, und verhindern, dass die Freiheit und Autonomie „irdischer Wirklichkeiten“ in ideologisch-totalitäre Fremdbestimmung absoluter Autonomie abgleitet.
IV. Kirche im Dialog Mit der Interpretation der legitimen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten manifestieren sich auch Kriterien für den Dialog der Kirche in der Welt und damit für den Ansatzpunkt der kirchlichen Soziallehre im Kontext der irdischen Wirklichkeiten. Hier sucht die Kirche Gottes Heilsplan mit Mensch und Welt zu verstehen und die daraus folgenden Normen zu erschließen, wozu sie sich auch nicht-theologischer Erkenntnisse bedient. Gerade im Hinblick auf die wachsende Komplexität sozialer Fragen bedarf die Kirche für ihre auf dem Fundament des Sittengesetzes zu vollziehende Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse notwendigerweise die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften. Nur wenn die entsprechende Sachkompetenz gegeben ist, wird die Kirche als Gesprächspartner akzeptiert und ihre Beurteilungen ernst genommen, wobei auch die Art und Weise maßgeblich ist, mit der die Kirche ihr Urteil spricht: nicht autoritativ, sondern in Form des Dialogs, eines Ansatzes, der seit dem Zweiten Vatikanischen Kon9 Vgl. Losinger, S. 152. Wenn hier vom Auftrag der Kirche gesprochen wird, dann ist hier die Theologie mit darin eingeschlossen. 10 Vgl. Kompendium, Nr. 197.
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zil zu einer zentralen Kategorie der Katholischen Sozialverkündigung geworden ist. Diesbezüglich können folgende drei Grundbedingungen konstatiert werden: – Im Dialog mit der Welt im Kontext relativer Autonomie muss die Kirche ihrem unaufgebbaren Heilsauftrag treu bleiben, diesen zur profanen Welt in Beziehung setzen und kommunizierbar machen. In dieser Hinsicht hat die Kirche „die Aufgabe, die säkularisierte Gesellschaft immer wieder an die sie letztlich tragenden, von ihr aber nicht selbst zu garantierenden Voraussetzungen und Werte zu erinnern.“11 – Umgekehrt muss die Kirche die zum besseren Verstehen von Schöpfung, Mensch und Gesellschaft konstitutiven Erkenntnisse der Profanwissenschaften und -wirklichkeiten für die Theologie integrieren. Damit die Kirche beispielsweise bei der Beurteilung ökonomischer Sachgesetzlichkeiten nicht der Gefahr eines „sozialen Dilettantismus“12 erliegt, setzt der hier erforderliche sachliche Dialog notwendigerweise auch ein Verstehen der entsprechenden ökonomischen Prinzipien voraus. Nur so können die irdischen Wirklichkeiten, die den Plan Gottes mit Mensch und Schöpfung betreffen, theologisch bewertet werden, wobei sowohl Übereinstimmungen, als auch Spannungen oder Unvereinbarkeiten zutage treten können. – Weil die irdischen Wirklichkeiten selbst Teil der Schöpfung sind, erkennt die Kirche an, dass profane Erkenntnisse auch Neues für das theologische Verstehen von Mensch, Schöpfung und Heil erbringen können.13 Die für den Dialog mit der Welt notwendige Interdisziplinarität darf folglich nicht als eine Einbahnstraße verstanden werden.
Insgesamt gesehen ist die Kirche in der Verantwortung vor ihrem gottgegebenen Auftrag in der Welt und für die Welt auf diesen Dialog angewiesen. Vor dem Hintergrund des Verständnisses einer legitimen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten erschließen sich letztlich die Weiten und Grenzen kirchlicher Kompetenz auf den Gebieten von Philosophie, Ökonomie, Sozial-, Kultur- und Naturwissenschaften und gewähren auch eine Antwort auf die Frage nach dem Stellenwert theologisch begründeter Inspiration und Begründung weltlicher Sachbereiche.
V. Die Träger des sozialen Lehrauftrags der Kirche Nachdem die grundlegenden Fragestellungen geklärt wurden, stellt sich abschließend noch die Notwendigkeit, auf die Träger des sozialen Lehrauftrags der Kirche hinzuweisen. Primär sind hier zweifelsohne die Päpste zu nennen, die in der Kirche das oberste Leitungs- und Lehramt innehaben. Oftmals werden bezüglich des sozialen Lehrauftrags der Kirche die päpstlichen Verlautbarungen mit der kirchlichen Sozialverkündigung gleichgesetzt, nicht zuletzt, weil in der Geschichte der Katholischen Soziallehre die päpstlichen Sozialenzykliken sicherlich die prägnantesten Wegmarken auf diesem Felde waren.14 Darüber hinaus stehen die kirchliche Sozialverkündigung und die Katholische Soziallehre als wissenschaftliche Disziplin in einem wechselseitig sich befruch11 12 13 14
Ruh, S. 418. Nell-Breuning, S. 61. Vgl. Kompendium, Nr. 78. Vgl. hierzu den Artikel von Lothar Roos im Handbuch.
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tenden Verhältnis, so dass folglich auch die Theologie selbst am sozialen Lehrauftrag der Kirche partizipiert. Letztlich muss aber der Kreis der maßgeblichen Träger noch weiter gefasst werden, denn auch die Teilkirchen bzw. das ganze Volk Gottes partizipieren am sozialen Lehrauftrag der Kirche. So verweist Papst Paul VI. im Apostolischen Schreiben Octogesima adveniens auf die „christlichen Gemeinschaften“ vor Ort, denen es obliegt, „mit dem Beistand des Heiligen Geistes, in Verbundenheit mit ihren zuständigen Bischöfen und im Gespräch mit den anderen christlichen Brüdern und allen Menschen guten Willens darüber zu befinden, welche Schritte zu tun und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Reformen herbeizuführen, die sich als wirklich geboten erweisen“ (OA 4). Diese Intention aufnehmend wächst seither die Bedeutung sozialer Verlautbarungen der Ortskirchen, und auch die Gläubigen werden immer stärker bei der Erstellung entsprechender Dokumente durch breit angelegte Konsultationsprozesse eingebunden, ein Verfahren, das 1983 zum ersten Mal von den US-amerikanischen Bischöfen bei der Erstellung ihres Hirtenbriefs zum Frieden angewendet wurde15 und nachfolgend große Zustimmung auch in anderen Ortskirchen gefunden hat.16 Insgesamt betrachtet ist der soziale Lehrauftrag der Kirche somit „nicht das Vorrecht eines Teils, sondern der ganzen kirchlichen Gemeinschaft. [ . . . ] Die gesamte kirchliche Gemeinschaft – Priester, Ordensleute und Laien – ist je nach ihren unterschiedlichen Aufgaben, Charismen und Diensten an der Entstehung der Soziallehre beteiligt.“17 Damit wird letztlich auf eine Grundrelation des sozialen Lehrauftrags aufmerksam gemacht, innerhalb dessen das kirchliche Lehramt, die wissenschaftliche Ausformung der christlichen Sozialethik und das ganze Volk Gottes in einem Verhältnis gegenseitiger Verwiesenheit stehen, die auch eine beständige Dynamik der Theoriebildung hervorruft, und so der Katholischen Soziallehre ihren charakteristischen Weg zwischen Kontinuität und Erneuerung weist. Nicht zuletzt auf diese fruchtbare Spannung zwischen der Treue zu den normativen Grundsätzen und der Offenheit des sozialen Lehrauftrags für die „Zeichen der Zeit“ (GS 4) rekurriert Papst Benedikt XVI., wenn er in seiner ersten Enzyklika feststellt, dass „die Soziallehre der Kirche zu einer grundlegenden Wegweisung geworden [ist], die weit über die Kirche hinaus Orientierung bietet“ (DCE 27). Literaturverzeichnis Forster, Karl: Die Kirche in der modernen Gesellschaft, in: ders.: Glaube und Kirche im Dialog mit der Welt von heute, Bd. 2, Würzburg 1982, S. 23 – 39. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, 2. Aufl., hrsg. von der Berliner bzw. Göttinger Akademie der Wissenschaften 1910 – 1980. Die Herausforderung des Friedens – Gottes Verheißung und unsere Antwort (1983). Für den Bereich der Deutschen Bischofskonferenz sei hier auf die Erarbeitung eines gemeinsamen Worts mit dem Rat der Evangelischen Kirche zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland verwiesen, das 1997 unter dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ veröffentlicht wurde. 17 Kompendium, Nr. 79. 15 16
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Kluxen, Wolfgang: Moral – Vernunft – Natur. Beiträge zur Ethik, Paderborn u. a. 1999. Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Freiburg i. Br. 2006. Losinger, Anton: „Iusta autonomia“. Studien zu einem Schlüsselbegriff des II. Vatikanischen Konzils, Paderborn u. a. 1989. Müller, Christian: Christliche Sozialethik und das Wertproblem in den Wirtschaftswissenschaften, in: ORDO 55 (2004), S. 77 – 97. Nell-Breuning, Oswald von: Die soziale Enzyklika. Erläuterungen zum Weltrundschreiben Papst Pius’ XI. über die gesellschaftliche Ordnung, Köln 1932. Rauscher, Anton: Die soziale Verantwortung der Kirche, in: ders.: Kirche in der Welt. Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung, Bd. 1, Würzburg 1988, S. 71 – 79. Ruh, Ulrich: Säkularität und Säkularismus, in: ders. / Seeber, David / Walter, Rudolf (Hrsg.): Handwörterbuch religiöser Gegenwartsfragen, Freiburg i. Br. 1986, S. 414 – 418. Weber, Wilhelm: Der soziale Lehrauftrag der Kirche (Katholische Soziallehre in Text und Kommentar – Heft 2), Köln 1975.
Entstehung und Entfaltung der modernen Katholischen Soziallehre Von Lothar Roos
Die Kirche hat sich von Anfang an nicht sektenhaft aus der Welt zurückgezogen, sondern wusste sich zur universalen Verkündigung des Evangeliums verpflichtet (vgl. Apg 1,8). Dabei hat sie auch darüber nachgedacht, welche gesellschaftlichen Konsequenzen aus der Botschaft für ihren eigenen Lebensvollzug abzuleiten waren. So entstanden ein spezifischer Umgang mit Armut und Reichtum und eine dezidiert sozialcaritative Dimension frühchristlichen Gemeindelebens. Hinsichtlich der sie umgebenden Gesellschaft wurden die Christen von Anfang an mit dem Problem – modern gesprochen – Glaube und Politik befasst. Die Kirche musste ihre eigene Position sowohl gegenüber der jüdischen Theokratie (vgl. Apg 5,29) als auch gegen den sie verfolgenden römischen Staat des religiösen Kaiserkultes behaupten. Sie tat dies in differenzierender Weise, indem sie einerseits dem römischen Rechtsstaat den ethisch geschuldeten Gehorsam entgegenbrachte (vgl. Röm 13,1 – 7), andererseits den absoluten Widerstand gegen den kaiserlich geforderten „Götzendienst“ (vgl. Offb 13) praktizierte. In der nach-konstantinischen Zeit wurden differenzierte Positionen in der Verhältnisbestimmung von kirchlicher und weltlicher Gewalt (vgl. die Zwei-Gewalten-Lehre von Papst Gelasius) erarbeitet.1 Die mittelalterliche Gesellschaft war in ihrer politischen und ökonomischen Ordnung (Ständegesellschaft) religiös-kirchlich legitimiert. Demgegenüber entfernte sich die „Neuzeit“ auf den geistigen Grundlagen des Empirismus, Rationalismus und Naturalismus Schritt für Schritt von den kirchlich vorgegebenen Leitbildern gesellschaftlichen Zusammenlebens.2 Deshalb bedarf es zunächst der Erklärung, unter welchen Voraussetzungen sich im 19. Jahrhundert ein gesellschaftlich-kirchlicher Wandlungsprozess vollzog, der zum Entstehen der „modernen“ Katholischen Soziallehre führte.
I. Ansätze zur katholischen Erneuerung Als sich Ende des 18. und im Laufe des 19. Jahrhunderts im Gefolge der Französischen Revolution die bisherige gesellschaftliche Ordnung fast völlig auflöste, geriet die Kirche geistig und materiell immer mehr an den Rand der Gesellschaft. Durch die Säkularisation von 1803 war die Kirche ökonomisch verarmt. Ein großer Teil der Klöster und Orden wurde aufgelöst. Im Zeitalter des Staatskirchentums und des Kulturkampfes versuchten die Fürsten, nach Belieben in die Kirche hineinzuregieren. Die Vgl. Hugo Rahner, Kirche und Staat im frühen Christentum, München 1961. Vgl. Nikolaus Monzel, Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. (posthum) von Trude Herweg / Karl-Heinz Grenner, München 1980. 1 2
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Päpste des 19. Jahrhunderts sahen sich in einen Abwehrkampf gegen einen von atheistischen, laizistischen und relativistischen Strömungen bestimmten „Zeitgeist“ gedrängt, auf den sie mit einem dezidierten „Antimodernismus“ reagierten. Dessen ungeachtet kam es zu einer erstaunlichen kirchlichen Erneuerungsbewegung. Sie hatte drei Stoßrichtungen: Zum einen kämpfte sie für die Befreiung der Kirche von staatskirchlichen Fesseln und willkürlichen Unterdrückungsmaßnahmen. Zum anderen organisierten sich sozial-caritative Basisgruppen (Vinzenz- und Elisabeth-Vereine), um aus dem Geist christlicher Caritas für die neu entstandenen Nöte der breiten Schichten Hilfen zu organisieren. Schließlich entstand ein sozialer und politischer Katholizismus, der sich in verschiedenen Vereinigungen und Verbänden organisierte. Wichtig war vor allem, dass deren führende Persönlichkeiten nach der Reichsgründung (1871) in einer katholischen Bildungsbewegung religiös und sozialethisch geformt wurden, in deren Mitte der 1890 in Mönchengladbach gegründete „Volksverein für das katholische Deutschland“ stand.3 Die katholische Erneuerungsbewegung konnte nur deshalb fruchtbar werden, weil gleichzeitig namhafte kirchliche Amtsträger die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche in einer entsprechenden kirchlichen Sozialverkündigung theologisch und sozialethisch begründeten und verbreiteten. Dies geschah zunächst durch herausragende Bischöfe und Priester, die als Pioniere wirkten. Es war ein besonderer Glücksfall, dass 1878 Leo XIII. als Papst an die Spitze der Kirche trat. Dank seiner Sachkenntnis und sozialphilosophischen Kompetenz wurde er der Begründer der modernen päpstlichen Sozialverkündigung, deren erster und wichtigster Gegenstand die in Rerum novarum (1891) behandelte „Arbeiterfrage“ war. Sozialethische Probleme lassen sich nicht allein mit sozialem und pastoralem Engagement lösen. Ihre wissenschaftliche Analyse erfordert auch eine entsprechende Disziplin, die an Theologischen Fakultäten gelehrt wird. Es ist aufschlussreich, dass die ersten Fachvertreter der Christlichen Gesellschaftslehre entsprechend dem damaligen Schwerpunktthema der „sozialen Frage“ auch ausgewiesene Fachleute der Volkswirtschaftslehre waren. Ohne eine solche „Katholische Gesellschaftswissenschaft“ (vgl. Quadragesimo anno, Nr. 20) hätte sich der soziale und politische Katholizismus schwer getan, ideologischen Verlockungen (etwa des Marxismus) zu widerstehen und im gesellschaftspolitischen Diskurs (etwa bei der Konzeption der Sozialversicherung) anthropologisch und sozialethisch tragfähige Lösungsansätze zu erarbeiten. Der Freiburger Sozialhistoriker Clemens Bauer stellt rückblickend auf diese Zeit fest, die Kirche habe durch die unter Leo XIII. (1878 – 1903) beginnende „systematische“ Erneuerung ihrer Soziallehre ihre damalige politische und soziale „Standortlosigkeit“ überwunden und wieder einen soziologisch „festen Platz“ in der modernen Gesellschaft gefunden.4 Wie und durch wen hat sich diese Soziallehre entfaltet?
3 Vgl. die Beiträge im Sammelband: Anton Rauscher (Hrsg.), Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803 – 1963, 2 Bde., München 1981 / 82. 4 Vgl. Clemens Bauer, Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile, Frankfurt a. M. 1964, S. 25 ff.
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II. Die soziale Frage: Das Ringen um den rechten Weg 1. Frühkapitalistische Klassengesellschaft und kirchliche Reaktionen
Es gibt in der uns bekannten Menschheitsgeschichte wohl keinen ökonomisch grundlegenderen Wandel als den von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Die Agrargesellschaft hatte mit dem seit ca. 1800 beginnenden schnellen Bevölkerungswachstum die zunächst langsam und dann rapide steigende Menschenzahl nicht mehr ernähren können, was im 19. Jahrhundert zu katastrophalen Hungersnöten und riesigen Auswandererströmen führte (in Deutschland ca. 15 % der Bevölkerung). Die „Massenarmut“ war also keine Folge der Industrialisierung, sondern ging dieser voraus.5 In dieser Situation begründete Adam Smith die „Klassische Nationalökonomie“ mit der Verheißung: Aus dem vorindustriellen „Pauperismus“ (Massenarmut in der Agrargesellschaft) könne ein neuer „Wohlstand der Nationen“ entstehen, wenn man nur die technische Revolution (Maschinenkraft) mit der betriebswirtschaftlichen Arbeitsteilung und der politischökonomischen Freiheit auf allen Märkten verknüpfe. Statt des verheißenen Wohlstandes für alle kam es jedoch zur frühkapitalistischen Klassengesellschaft, in der sich die Kluft zwischen arm und reich (zunächst) vertiefte und das schnell wachsende Industrieproletariat sich zunehmend „ausgebeutet“ fühlte. Die so entstandene „Arbeiterfrage“ führte zu zunehmenden Zweifeln an der Richtigkeit der liberalen Wirtschaftstheorie. Wie hat sich die Kirche diesen Problemen angenähert? Zunächst war lange unklar, wie man auf die liberal-kapitalistische Wirtschaftsordnung und die „soziale Frage“ reagieren solle. Es entwickelten sich zwei divergierende Richtungen: Die Katholische Romantik (vor allem Adam Müller, Franz von Baader und seit 1875 in Wien Karl von Vogelsang) verwarf die liberale Wirtschaftsordnungstheorie und erwartete eine Lösung der „sozialen Frage“ von einer Erneuerung der mittelalterlichen Ständegesellschaft. Dass diese Richtung sich nicht durchsetzte, verdankt die Kirche zunächst Bischof Ketteler: Man dürfe das „liberale System“ nicht völlig verwerfen, so sehr man es kritisieren müsse. Vielmehr komme es darauf an, „die Arbeiter, soweit möglich, an dem, was an dem Systeme gut ist, an dessen Segnungen Anteil nehmen zu lassen“6. Der Sozialphilosoph Georg von Hertling untermauerte diese Position wissenschaftlich mit der Feststellung: Man könne aus der Offenbarung kein „christliches“ Wirtschaftssystem herauslesen. Es sei dagegen vonnöten, aus dem christlichen Menschenbild und den damit zusammenhängenden naturrechtlich verankerten Sozialprinzipien Kriterien für eine menschenwürdige Ordnung der Wirtschaft herauszuarbeiten. Auf dieser Basis seien die jeweils bestehenden Verhältnisse zu kritisieren bzw. entsprechende Änderungsvorschläge zu unterbreiten.7
5 Vgl. Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Göttingen 71977. 6 Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Sozialkaritative Fürsorge der Kirche für die Arbeiterschaft, in: Texte zur Katholischen Soziallehre, Bd. II,1, hrsg. vom Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Deutschlands, Kevelaer 1976, S. 231. 7 Vgl. Markus Arnold, Für Wahrheit, Freiheit und Recht. Georg von Hertling – Sein Beitrag zur Entstehung und bleibenden Gestalt der katholischen Soziallehre, Bonn 2005.
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Lothar Roos 2. Die Wegbereitung durch Wilhelm Emmanuel von Ketteler
Der bedeutendste Wegbereiter der modernen Katholischen Soziallehre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811 – 1877).8 Bei aller Sympathie für die zutreffende Sozialkritik der Katholischen Romantik hielt er deren Therapie für ungeeignet. Für diese Richtungsentscheidung hatte er in dem Freiburger Staatsrechtslehrer Franz Joseph von Buß einen nicht unwichtigen „Vorläufer“ gehabt: Buß hielt 1837 im badischen Landtag in Karlsruhe die erste sozialpolitische Rede in einem deutschen Parlament überhaupt. Er bejahte grundsätzlich die neue Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, forderte aber entgegen dem damaligen liberalen Credo eine dezidierte staatliche Gesellschafts- und Sozialpolitik zugunsten der Arbeiter. In eine ähnliche Richtung votierten im „Vormärz“ die Brüder August und Peter Reichensperger als die bedeutendsten Vertreter des damaligen rheinischen Sozialkatholizismus. Der „Bauernpastor“ Wilhelm Emmanuel von Ketteler, der 1848 in die Frankfurter Paulskirche gewählt worden war, erklärte in einer aufsehenerregenden Stegreifrede: „Die schwerste Frage, die bei allen gesetzlichen Bestimmungen, bei allen Staatsformen noch nicht gelöst ist, das ist die soziale Frage.“9 Im gleichen Jahr hielt er im Mainzer Dom seine berühmten sechs Adventspredigten über „Die großen sozialen Fragen der Gegenwart“. 1864 veröffentlichte er sein grundlegendes Werk „Die Arbeiterfrage und das Christentum“. Dort stellte er fest, dass die Arbeit infolge des liberalen Systems „zur Ware“ geworden sei, und sprach vom „Sklavenmarkt unseres liberalen Europas“. Trotzdem vermochte er in der Rückkehr zu einem wie auch immer erneuerten alten System keine Lösung zu sehen. Im Gegenteil, er kritisierte den Zunftzwang, der „oft der Trägheit und dem Egoismus gedient, die Ware ungebührlich verteuert und die Konsumenten durch schlechte Ware in ihren Rechten beeinträchtigt“ habe. Gerade dies habe den berechtigten „Ruf nach Gewerbefreiheit“ ausgelöst. Letztere habe die Waren „unermeßlich vermehrt, vielfach verbessert, den ungebührlichen Preis der Ware herabgedrückt und so den weitesten Kreisen der weniger bemittelten Menschenklassen die Befriedung mancher Lebensbedürfnisse eröffnet, von denen sie früher ausgeschlossen waren“. Aber die wirtschaftliche Liberalisierung habe „ihre notwendige Grenze und ihr gesetztes Maß, und wenn diese überschritten werden, so führt sie geradeso zu unseligen Konsequenzen wie der Mißbrauch des Zunftzwangs“. Diese Grenzüberschreitung habe zwei Ursachen: die „Übermacht des Kapitals“ und das „Versagen der Staatsgewalt“. Deshalb schlug Ketteler 1869 in seiner berühmten Rede auf der Liebfrauenheide in Offenbach und in einem Vortrag vor der Bischofskonferenz in Fulda ein umfassendes sozialpolitisches Reformprogramm vor: Zunächst müssten die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt verändert und deswegen nach dem Vorbild der englischen Trade-Unions freie Gewerkschaften gegründet werden; dann habe der Staat die Pflicht zu einer nachdrücklichen Arbeiterschutzgesetzgebung mit einem umfassenden Katalog von Maßnahmen.10 Die kirchliche Mitverantwortung zur Lösung der sozialen Frage begründete Ketteler mit dem berühmten Satz: „Die soziale Frage berührt das depositum fidei“, also die Grundsubstanz des christlichen Glaubens. Dies gelte sowohl im Blick auf eine wirtschaftliche 8 Vgl. Anton Rauscher / Lothar Roos, Die soziale Verantwortung der Kirche. Wege und Erfahrungen von Ketteler bis heute, Köln (1977) 21979. 9 Erwin Iserloh / Christoph Stoll, Bischof Ketteler in seinen Schriften, Mainz 1977, S. 30. 10 Vgl. Ketteler (Anm. 6), S. 236.
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Theorie, die man durch einen „Krieg aller gegen alle“ charakterisieren könne, wie auch im Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse, die zur „Würde des Menschen [ . . . ] in offenem Widerspruch“ stünden und es deshalb verdienten, „aus dogmatischen Gründen verworfen zu werden“. Den pastoral-praktischen Beitrag zur Lösung der Probleme entwickelte er in einem Siebenpunkteprogramm.11 Während die Katholische Romantik primär religiös-sittlich argumentierte, stützte sich Ketteler auf das naturrechtliche Denken des Thomas von Aquin. So zeichneten sich allmählich die Konturen jenes „dritten Weges“ zwischen einem individualistischen Laisser-faire Kapitalismus und einem kollektivistischen Sozialismus ab, der für das katholisch-soziale Denken typisch wurde und der später im „Solidarismus“ von Heinrich Pesch seinen wissenschaftlich-systematischen Ausdruck fand. Ketteler kam bereits 1869 zu dem, was man heute das „Sozialstaatsprinzip“ nennt, indem er erklärte: „Was helfen die sogenannten Menschenrechte in den Konstitutionen, wovon der Arbeiter wenig Nutzen hat, solange die Geldmacht die sozialen Menschenrechte mit Füßen treten kann?“12 3. Franz Hitze und Georg von Hertling
1877 brachte ein Neffe Kettelers, Graf von Galen, den ersten sozialpolitischen Antrag überhaupt im Deutschen Reichstag ein. Clemens Bauer sieht darin den „Anfang der systematischen Zentrumssozialpolitik“13. Damit schien sich die von Ketteler gefundene „Richtung“ gegenüber der Katholischen Romantik durchgesetzt zu haben. Dies war allerdings nur mit Einschränkung der Fall. Stark beeindruckt vom kompromisslosen Antikapitalismus des bereits erwähnten Karl von Vogelsang schlug der erste Generalsekretär des in Aachen 1880 gegründeten Verbands „Arbeiterwohl“, der Paderborner Priester Franz Hitze, eine „Wiederherstellung der mittelalterlich-zünftigen Gesellschaftsordnung [ . . . ] auf erweiterter wirtschaftlicher und demokratischer Grundlage“ vor.14 Dass dieser später seinen „romantischen“ Ansatz korrigierte, ist vor allem Georg von Hertling zu verdanken, der 1876 von Ludwig Windthorst zum „Sozialreferenten“ der Zentrumsfraktion bestimmt wurde. Franz Hitze gewann zunehmend als Generalsekretär des Verbandes Arbeiterwohl einen Einblick in die konkreten Verhältnisse der industriellen Arbeitswelt, vor allem vermittelt durch den Mönchengladbacher Fabrikanten Franz Brandts. Als Nachfolger von Hertlings im Zentrum übernahm er weitgehend dessen Ansatz bei der Analyse und Lösung der „sozialen Frage“. Er war maßgeblich an der Ausgestaltung der Arbeiterschutz- und Sozialversicherungspolitik im Kaiserreich beteiligt. Über seine führende Position im „Volksverein“ beeinflusste er stark den sozialpolitischen Willensbildungsprozess im Katholizismus. Als erster akademischer Lehrer des Faches „Christliche Gesellschaftslehre“ in Münster15 verkörperte er seit 1893 eine neue Hinwendung der Theologie zu den gesellschaftlichen Nöten seiner Zeit. 11 Vgl. Lothar Roos, Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811 – 1877), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 4, Mainz 1980, S. 31. 12 Ketteler (Anm. 6), S. 251; vgl. auch Bauer (Anm. 4), S. 27. 13 Bauer (Anm. 4), S. 34. 14 Vgl. Franz Hitze, Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft, Paderborn 1880. 15 Vgl. Manfred Hermanns, Sozialethik im Wandel der Zeit. Persönlichkeiten, Forschungen, Wirkungen des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre und des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster (1893 – 1997), Paderborn 2006, S. 23 ff.
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Der Verdienst von Hertlings besteht vor allem darin, dass er „die bereits von Ketteler inaugurierte Orientierung am christlichen Naturrecht nun definitiv aufnimmt und für die Zweck- und Grenzsetzung der Sozialpolitik innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft auswertet.“16 Auf dieser Basis entsteht allmählich die moderne Katholische Soziallehre. Dadurch gewinnt der Sozialkatholizismus die theoretische Basis, um eine menschenwürdige Behandlung des Arbeiters sowohl innerhalb des Arbeitsvertrages wie auch durch eine staatliche Arbeiterschutzgesetzgebung und eine öffentlich-rechtliche Sozialversicherung zu begründen, ohne einem „Staatssozialismus“ zu verfallen oder das Eigentum an Produktionsmitteln und damit die „kapitalistische Wirtschaftsweise“ schlechthin zu verneinen.17 Die von Ketteler über von Hertling und dann auch Franz Hitze gefundene grundsätzliche Klärung wurde auch die geistige Grundlage des 1890 in Mönchengladbach gegründeten „Volksverein für das katholische Deutschland“. Als Leo XIII. 1878 zum Papst gewählt wurde, forderte er die verschiedenen Gruppen, Bewegungen und Einzelpersönlichkeiten in den von der Industrialisierung erfassten Ländern auf, ihm geeignete Vorschläge zu einer kirchlichen Beurteilung der „sozialen Frage“ einzureichen. So erwartete man mit Spannung, welche Antworten Leo XIII. geben würde. Er schloss sich nicht der Katholischen Romantik, sondern jener Richtung an, die Ketteler inauguriert hatte, den er deshalb auch seinen „großen Vorgänger“ nannte18.
III. Prägende Gestalten im 20. Jahrhundert Nachdem das Ringen um den rechten Weg durch Leo XIII. im Prinzip zum Abschluss gekommen war, konnten die katholischen Organisationen auf sicherem Boden agieren. Die Katholische Soziallehre nahm ein immer deutlicheres Profil an. Dies verdankt sie besonders jenen Repräsentanten, deren Beitrag und Lebenswerk im Folgenden skizziert werden sollen. 1. Heinrich Pesch und der Solidarismus
Heinrich Pesch (1876 – 1926) studierte zunächst in Bonn Rechts- und Staatswissenschaften, trat dann unter dem Eindruck des Kulturkampfes in den Jesuitenorden ein und lernte während seines Theologiestudiums in Lancashire (England) die Situation der Arbeiterschaft hautnah kennen. Als Spiritual am Priesterseminar in Mainz (1892 – 1900) kam er mit dem geistigen Erbe Bischof Kettelers in Kontakt. Dabei wurde ihm klar, dass die Kirche ihren Beitrag zur Lösung der sozialen Frage nur leisten konnte, wenn die wirtschaftlichen Tatbestände und Zusammenhänge richtig gesehen würden. Dies veranlasste ihn, noch im vorgerückten Alter bei Adolf Wagner in Berlin Nationalökonomie zu studieren (1901 – 1903). Wagner war ein Repräsentant jener Minderheit von Nationalökonomen, die sich bereits 1873 gegen die Alleinherrschaft der „klassischen Natio16 Clemens Bauer, Wandlungen der sozialpolitischen Ideenwelt im deutschen Katholizismus des 19. Jahrhunderts, in: Die soziale Frage und der Katholizismus. Festschrift zum 40-jährigen Jubiläum der Enzyklika „Rerum novarum“, hrsg. von der Sektion der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft der Görres-Gesellschaft, Paderborn 1931, S. 39. 17 Siehe auch Arnold (Anm. 7). 18 Vgl. Franz-Josef Stegmann, Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, in: Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, hrsg. von Helga Grebing, München / Wien 1969, S. 325 ff.
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nalökonomie“ im „Verein für Socialpolitik“ zusammengeschlossen hatten und von ihren Gegnern als „Kathedersozialisten“ apostrophiert wurden. Pesch ging es zunächst darum, eine sozialanthropologische Grundlage des menschlichen Wirtschaftens zu entwerfen, in der die individualistischen und kollektivistischen Fehlinterpretationen vermieden werden. Er wendet sich gegen eine rein sachhafte Betrachtung des Wirtschaftens und setzt beim „Menschen inmitten der Gesellschaft“ an. Auf der Suche nach einer griffigen Kurzformel, die sich sowohl vom Individualismus wie vom Kollektivismus absetzt, wählte er den Begriff „Solidarismus“. Pesch sieht die in einer Gesellschaft miteinander kooperierenden Menschen innerlich durch die sittliche Forderung der Gerechtigkeit und Liebe verbunden. Unter Berücksichtigung der drei notwendigen Institutionen des gesellschaftlichen Lebens, der Ehe und Familie, des Privateigentums und des Staates als Wahrer des Gemeinwohls, steht für Pesch im Mittelpunkt der Ordnung der Volkswirtschaft ein „solidarisches Arbeitssystem“. Die Wirtschaft als gesellschaftlicher Lebensprozess hat die dauernde Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen zu sichern, und zwar auf dem Weg der Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung. Dabei ist sowohl die Vorstellung einer Wirtschaft als rein individualistisch konzipierte Nutzenveranstaltung (Liberalismus) wie als kollektivistische Entpersönlichung (Sozialismus) zu vermeiden. „Hieraus ergibt sich die Forderung: Vergesellschaftung des Menschen und nicht der Produktionsmittel wie im Sozialismus.“19 Auf dieser Grundlage gelang es Heinrich Pesch in seinem fünfbändigen Hauptwerk „Lehrbuch der Nationalökonomie“20 erstmals eine Wirtschaftstheorie zu entwerfen, in der die sozialethischen Vorgaben einer christlich-naturrechtlichen Sozialanthropologie mit den „Sachgesetzlichkeiten“ des Wirtschaftens überzeugend verbunden wurden. Pesch hatte sich während seines Theologiestudiums dazu entschlossen, „der Hebung des Arbeiters mein Leben zu widmen“ (Selbstbiographie). Seine Werke wurden für die katholisch-soziale und katholisch-politische Bewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zu einer unersetzlichen Grundlage ihres Wirkens.
2. Gustav Gundlach und Quadragesimo anno
Gustav Gundlach (1892 – 1963) trat nach philosophischen Studien in Freiburg i. Br. 1912 in den Jesuitenorden ein und wurde von seinen Obern ausersehen, das Lebenswerk Heinrich Peschs fortzuführen.21 Er studierte dazu Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Berlin und promovierte 1927 bei Werner Sombart. Er wirkte maßgeblich durch seine Artikel „Klasse“, „Klassenkampf“ und „Klassenstaat“ in der fünften Auflage des „Staatslexikons“ (1929) dabei mit, die Katholische Soziallehre zeitgemäß weiterzuentwickeln. Mit Oswald von Nell-Breuning war er an der Vorbereitung der Enzyklika Quadragesimo anno (1931) zusammen mit einigen anderen Sozialethikern im „Königswinterer Kreis“ befasst. Von Nell-Breuning nennt ihn den „führenden Kopf, der nicht 19 Anton Rauscher, Pesch, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 4, Freiburg i. Br. 71988, Sp. 362 f., hier 363; vgl. auch ders., Heinrich Pesch (1854 – 1926), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 3, Mainz 1979, S. 136 ff. Vgl. auch Heinrich Pesch, Liberalismus, Sozialismus und Christliche Gesellschaftsordnung, 2 Bde., Freiburg i. Br. 21898 – 1901. 20 Heinrich Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, 5 Bde., Freiburg i. Br. 1904 – 1923. 21 Vgl. Anton Rauscher, Oswald von Nell-Breuning SJ (1890 – 1991), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 7, Mainz 1994, S. 280.
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nur in allen sozialphilosophischen, sondern auch in allen gesellschaftspolitischen Grundsatzfragen die Haltung des Kreises maßgeblich bestimmt hat“22. Das Gedankengut Gundlachs ist vor allem in viele Verlautbarungen Papst Pius‘ XII. zu Fragen der christlichen Gesellschaftslehre eingeflossen. Der Papst übernahm die zentrale anthropologische Aussage der Soziallehre der Kirche, wonach die Person Ursprung, Träger und Ziel (principium, subiectum et finis) allen gesellschaftlichen Lebens ist. Daraus ergibt sich das in Quadragesmino anno (Nr. 69) besonders herausgestellte Subsidiaritätsprinzip. Die Ordnungsstrukturen der Familie, des Privateigentums und des Staates müssen so gestaltet sein, dass sie den sozialen Charakter und Vollzug des menschlichen Lebens ermöglichen und sichern. Am Naturrecht als Erkenntnisquelle hielt Gundlach unbeirrbar fest. Er beeinflusste die Klärung der Position des Katholizismus gegenüber dem Nationalsozialismus / Rassismus und dem revolutionären Sozialismus. Seine Kritik des gemäßigten Sozialismus, der z. B. im Heidelberger Programm von 1925 immer noch an der „marxistischen Analyse“, am Klassenkampf und an der Eigentumsfeindlichkeit festhielt, hat auch die entsprechenden Aussagen der Enzyklika Quadragesimo anno (Nr. 111 – 126) mit geprägt. „Die prinzipielle Betrachtungsweise [Gundlachs] war verbunden mit einem scharfen Blick für die konkreten Verhältnisse und ihre Veränderungen im Wandel der Geschichte. Er hatte auch ein feines Gespür dafür, was sich an geistigen und politischen Strömen anmeldete und wo Fehlentwicklungen sichtbar wurden.“23 In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg schaltete er sich immer wieder in die Diskussion ein, so über die „paritätische Mitbestimmung“ und über die im Katholizismus heftig umstrittene „Gewerkschaftsfrage“. Nach seiner Emeritierung an der Päpstlichen Universität Gregoriana 1962 übernahm Gundlach die Leitung der von den Deutschen Bischöfen neu gegründeten Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach bis zu seinem frühen Tod 1963. Wie vielfältig er die Katholische Soziallehre weiterentwickelt hat, lässt sich an den zwei Bänden seiner gesammelten Aufsätze ablesen.24 3. Pius XII. und seine „Soziale Summe“
Zu den „prägenden Gestalten“ der modernen Katholischen Soziallehre gehört auch Papst Pius XII. Sein Pontifikat (1939 – 1958) „fiel in die furchtbaren Jahre des Zweiten Weltkriegs und die schwierige Zeit des Wiederaufbaus“25. Er verfasste zwar keine Sozialenzyklika, nahm aber in einer großen Zahl wichtiger Verlautbarungen, die später unter dem Titel „Soziale Summe“ veröffentlicht wurden, sowohl während des Krieges als auch in der Zeit des Wiederaufbaus richtungweisend zu den anstehenden Problemen Stellung.26 Aus Anlass der 50-Jahr-Feier des Rundschreibens Rerum novarum Leos XIII. gelang ihm in der Pfingstbotschaft von 1941 eine seitdem klassische Formulierung über 22 Ders., Gundlach, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1986, Sp. 1151. 23 Ebd. 24 Vgl. Gustav Gundlach, Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, 2 Bde., Köln 1964. Vgl. auch Johannes Schwarte, Gustav Gundlach SJ (1892 – 1963). Maßgeblicher Repräsentant der katholischen Soziallehre während der Pontifikate Pius’ XI. und Pius’ XII., Paderborn 1975. 25 Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Freiburg i. Br. 2006, Nr. 93. 26 Herbert Schambeck (Hrsg.), Pius XII. zum Gedächtnis, Berlin 1977. 7
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die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Christlichen Gesellschaftslehre: Gott, der Schöpfer und Erlöser, habe sich „durch Naturrecht und Offenbarung kundgetan“. Beide könnten einander nicht widersprechen: „Denn die Grundsätze des Naturrechts und die Offenbarungswahrheiten haben, wie zwei keineswegs entgegengesetzte, sondern gleichgerichtete Wasserläufe, beide ihre gemeinsame Quelle in Gott.“27 Für die Weiterentwicklung der kirchlichen Sozialverkündigung ist seine Weihnachtsrundfunkbotschaft von 1944 von besonderer Bedeutung.28 Er stellte darin die Frage, ob der von Diktaturen ausgelöste Zweite Weltkrieg nicht hätte verhindert werden können, wenn die Völker „gegenüber dem Staat, gegenüber den Regierenden eine neue Haltung angenommen [hätten], die Rechenschaft fordert, kritisch und mißtrauisch ist.“ Deshalb, so folgerte er, suchten die Menschen „ein Regierungssystem, das mit der Würde und Freiheit der Bürger besser zu vereinen ist“. Zwar erinnerte Pius XII. an die bekannte Formel Leos XIII., dass es sich bei der Regierungsform nicht um eine Glaubensfrage handle. Es seien aber nur solche politischen Ordnungen mit dem christlichen Menschenbild vereinbar, in denen die „Menschen selbst [ . . . ] Träger, Fundament und Zweck der gesellschaftlichen Ordnung“ seien. Insofern „erscheint die demokratische Form der Regierung in der Gegenwart, wo die Tätigkeit des Staates ein so großes Ausmaß und einen so entscheidenden Einfluß gewonnen hat, vielen als eine Forderung der Natur, die von der Vernunft selbst aufgestellt ist“. Dies gelte freilich nur im Falle einer „wahren und gesunden Demokratie“, die nicht „der Willkür der Massen ausgeliefert ist“. Dies setze eine „absolute Ordnung des Seins und der Ziele“ voraus, die man „im Licht der Vernunft und vor allem des christlichen Glaubens“ erkennen könne. Damit stellte Pius XII. Weichen, die direkt zur Enzyklika Pacem in terris Johannes’ XXIII. (1963) und zur Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils (1965) führen. Dort wird die rechtsstaatliche Demokratie, sofern sie auf der Grundlage vorstaatlicher und unveräußerlicher Menschenrechte beruht, als die dem christlichen Menschenbild grundsätzlich angemessene Form der politischen Ordnung bezeichnet. Den Begriff „wahre Demokratie“ griff später Johannes Paul II. auf und knüpfte dabei auch inhaltlich nicht unwesentlich an Pius XII. an (vgl. Centesimus annus, Nr. 44 – 52, bes. 45). Darüber hinaus hat Pius XII. in vielen Fragen die bisherigen Aussagen der Katholischen Soziallehre präzisiert und originell weiterentwickelt. Einen breiten Raum nehmen Fragen der Familie, der Arbeit und des Privateigentums ein, ebenso rechts- und staatsphilosophische Grundsatzfragen, ferner Gedanken über das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft, wegweisende Aussagen im Bereich der Wirtschaftsethik und der Wirtschaftspolitik bis hin zu einer differenzierten Sozialethik des Völkerrechts. Im Hinblick auf den letzteren Punkt bezeichnet Alfred Verdross Pius XII. als den „großen Weichensteller“, auf dessen Vorarbeiten „Johannes XXIII. weiterbauen und seine allgemeine Friedenslehre entfalten konnte“29. 27 Pius XII., Radiobotschaft vom 1. Juni 1941, in: Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII., hrsg. von Arthur-Fridolin Utz / Joseph-Fulko Groner, Bd. I, Freiburg (Schweiz) 1954, Nr. 498. Vgl. Ursula Nothelle-Wildfeuer, „Duplex ordo cognitionis“. Zur systematischen Grundlegung einer Katholischen Soziallehre im Anspruch von Philosophie und Theologie (Abhandlungen zur Sozialethik, Bd. 31), Paderborn u. a. 1991, S. 331 ff. 28 Texte zur Katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, hrsg. vom Bundesverband der KAB, Kevelaer (1975) 81992, S. 137 ff. 29 Alfred Verdross, Erneuerung und Entfaltung der klassischen Völkerrechtslehre durch Pius XII., in: Schambeck (Anm. 26), S. 626.
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Lothar Roos 4. Johannes Messner und das Naturrecht
In spezifischer Weise wurde die Katholische Soziallehre auch von Johannes Messner (1891 – 1984) geprägt. Der 1914 als Sohn eines Tiroler Bergmanns zum Priester geweihte Messner studierte Rechtswissenschaften (1922 Dr. jur.) in Innsbruck und 1918 – 1924 Wirtschaftswissenschaften (Dr. oec. publ.) in München. 1927 habilitierte er sich in Salzburg mit einer Arbeit über „Sozialökonomik und Sozialethik“, 1934 erschien sein grundlegendes Werk „Die Soziale Frage der Gegenwart“. Hier bot er „eine umfassende Sozialkritik des Kapitalismus und des Sozialismus und stellte beiden die ,christliche Sozialreform‘ als Lösung der sozialen Frage gegenüber“30. 1938 verlor Messner nach dem „Anschluss“ seine seit 1935 innegehabte Professur für Ethik und Sozialwissenschaften in Wien, konnte sich durch die Flucht in die Schweiz vor der drohenden Verhaftung in Sicherheit bringen und fand dann im Oratorium zu Birmingham in England eine neue Heimat. Dieses erzwungene Exil sollte für sein Hauptwerk „Das Naturrecht“, das 1949 zunächst in englischer Sprache erschien, richtunggebend werden. Er knüpfte darin an die Wiederentdeckung des thomasischen Naturrechtsdenkens durch Luigi Taparelli (1793 – 1862) an, der seinerseits die Argumentation Leos XIII. in der Enzyklika Rerum novarum mitgeprägt hatte. Die in England herrschende empiristische Tradition veranlasste Messner, die naturrechtliche Argumentation durch die Empirie zu unterbauen. Unter Anknüpfung an die inclinationes naturales des Thomas von Aquin wies er empirisch auf, dass in allen Kulturen bestimmte Ziele, die er „existenzielle Zwecke“ nannte, vorzufinden sind. Im einzelnen sind dies: Selbsterhaltung, Selbstvervollkommnung, Kunstfähigkeit, Familiarität, Mitmenschlichkeit, Staatlichkeit, Religiosität.31 In jüngster Zeit hat Eberhard Schockenhoff den Ansatz Messners wieder aufgegriffen und in den moraltheologischen und sozialethischen Diskurs eingebracht.32 Zum Zweck einer genaueren Interpretation seines naturrechtlichen Ansatzes schreibt Messner eine „Kulturethik“33. Er versucht dabei herauszuarbeiten, wie die Grundlagen eines sittlich verantworteten menschlichen Zusammenlebens durch eine vernünftige Interpretation alltäglicher Erfahrung gefunden werden können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die von Messner empirisch aufgewiesenen Zielrichtungen (praedispositiones) des menschlichen Handelns nicht ohne weiteres zu ethischen Normen (praescriptiones) führen. Hier besteht ein gewisses offenes Feld unterschiedlicher Wege zu den existenziell unabdingbaren Zielen. Messners intensives Bemühen um die Erneuerung der naturrechtlichen Argumentation war letztlich von der Frage bewegt, wie es zur weitgehenden Zerstörung der sittlichen Grundlagen in Europa vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommen konnte und was man dem entgegensetzen könne.34 Valentin Zsifkovits, Messner, in: Staatslexikon, Bd. 3, Freiburg i. Br. 71987, Sp. 1127. Johannes Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, (Innsbruck 1950) Berlin 71984, S. 42. 32 Eberhard Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, Mainz 1996. 33 Johannes Messner, Kulturethik – mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik, Innsbruck 1954. 34 Johannes Michael Schnarrer, Das Ringen Messners um ein „neues Naturrecht“, in: Naturrecht als Herausforderung – Menschenrechte und Menschenwürde, hrsg. von Werner Freistetter / Alfred Klose / Rudolf Weiler, Wien / Graz 2005, S. 13 ff. 30 31
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Johannes Messner hat in Anwendung der von ihm erarbeiteten Prinzipien auch zu aktuellen Fragen Stellung genommen und sich dabei z. B. über die in der Nachkriegszeit heftig geführte Debatte über die „paritätische Mitbestimmung“ der Arbeitnehmer in unternehmerischen Entscheidungen geäußert und diese abgelehnt. Besonders interessant und bis zum heutigen Tage aktuell ist sein Werk „Der Funktionär“35. Hier gelingt ihm eine treffsichere Analyse der Probleme, die sich daraus ergeben, dass in der heutigen „Interessengesellschaft“ die in diesem Geflecht agierenden Verantwortlichen der Verbände (Funktionäre) vielfachen Pressionen und Versuchungen ausgesetzt sind. Dies wiederum kann zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Gemeinwohls führen, wenn die gewählten Parlamente zu schwach sind, die Interessen aller gegen möglicherweise egoistische Teilinteressen einzelner Gruppen durchzusetzen. Aus all dem wird deutlich, dass Johannes Messner ein breit angelegtes sozialethisches Lebenswerk vorgelegt hat, das bis zum heutigen Tag sowohl grundsätzlich als auch in seinen praktischen Konsequenzen herausragend bleibt.36
5. Arthur F. Utz als Bibliograph und Systematiker
Einen singulären Beitrag zur Vertiefung und Weiterentwicklung der Katholischen Soziallehre leistete der in Basel geborene Dominikaner Arthur F. Utz (1908 – 2001). An der Dominikaner-Hochschule in Walberberg konstituierte sich schon in der Zeit der Enzyklika Rerum novarum (1891) ein Kreis von namhaften katholischen Sozialethikern, die der „Union de Fribourg“ nahestanden und insoweit auch an den Vorarbeiten der Enzyklika beteiligt waren. Hier sind besonders Laurentius Siemer (1888 – 1946), Eberhard Welty (1902 – 1965) sowie der 1912 geborene Edgar Nawroth zu nennen. Dabei kommt Utz eine herausragende Bedeutung „für die Vertiefung, Weiterentwicklung und Aktualisierung der thomasisch-naturrechtlich geprägten katholischen Sozialethik“ 37 zu. 1946 übernahm er den an der Universität Fribourg neu eingerichteten Lehrstuhl für „Ethik und Sozialphilosophie“. Er gründete dort das „Internationale Institut für Sozialwissenschaft und Politik“, das er bis zu seiner Emeritierung (1978) leitete und danach außerhalb der Universität bis zu seinem Tod fortführte. Von 1976 bis 1998 war er Präsident der „Internationalen Stiftung Humanum“ und des mit dieser verbundenen „Scientia Humana Instituts“ in Bonn. In den 90er-Jahren war er an der Gründung der „Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften“ beteiligt und wurde als eines ihrer ersten Mitglieder berufen. In ihrer Art einmalig sind seine monumentalen Dokumentensammlungen zur Katholischen Soziallehre: die zusammen mit Joseph F. Groner OP vorgelegte „Soziale Summe“ Pius‘ XII.; ein seltenes Schmuckstück einer sozialethischen Fachbibliothek sind die elf Bände seiner „Bibliographie der Sozialethik“, die in vier Sprachen (Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch) sämtliche zwischen 1956 und 1979 erschienenen sozialethischen Monographien und Zeitschriftenbeiträge registriert und (meist von ihm 35 Johannes Messner, Der Funktionär. Seine Schlüsselstellung in der heutigen Gesellschaft, Innsbruck 1961. 36 Vgl. Anton Rauscher, Johannes Messner (1891 – 1984), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 6, Mainz 1984, S. 250 ff. 37 Wolfgang Ockenfels, Arthur F. Utz (1908 – 2001), in: Zeitgeschichte in Lebensbilden, Bd. 12, Münster 2007, S. 143 ff.
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selbst) kommentiert; schließlich die vier Bände „Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung“, die alle für die Soziallehre der Kirche wichtigen päpstlichen Dokumente von 1433 (Papst Eugen IV.) bis 1976 (Papst Paul VI.) in der Originalsprache und in deutscher Übersetzung enthalten. Während des Zweiten Weltkrieges entstand sein Beitrag zur deutsch-lateinischen Thomasausgabe, deren Bd. 18 „Recht und Gerechtigkeit“ (1953) den akademischen Ruf von Utz begründen sollte. Utz ging es vor allem um eine systematische Grundlegung der Katholischen Soziallehre in einer Synthese von Sozialphilosophie und Sozialtheologie. „In ihrem Zentrum steht das sich aus der Sozialnatur des Menschen ergebende Gemeinwohl. Utz zeigt, dass auch im angeblich ,nachmetaphysischen‘ Zeitalter ein dynamisches Naturrechtsdenken bedeutsam bleibt und sich im wissenschaftlichen Diskurs behaupten kann.“38 Er erkannte besonders, dass sich in der gegenwärtigen ethischen Grundlagendiskussion „eine Rückbesinnung auf ein Naturrechtsdenken“ anbahnt, „das sowohl die (human-)ökologischen Herausforderungen aufgreift als auch auf die Problematik der Universalisierbarkeit und reziproken Geltung der Menschenrechte bezogen ist.“ Sein schöpfungstheologisch begründeter, sozialphilosophisch argumentierender Universalismus verhindert jeden theologischen Fundamentalismus und vermag so – wie die Soziallehre der Kirche überhaupt – alle „Menschen guten Willens“ anzusprechen.39 Sein Hauptwerk ist die fünfbändige „Sozialethik“, deren letzter Band, die „Politische Ethik“, ein Jahr vor seinem Tod fertiggestellt werden konnte. 6. Oswald von Nell-Breuning und das „Umbiegen“ des Kapitalismus
Oswald von Nell-Breuning wurde 1890 in Trier geboren. 1911 trat er dem Jesuitenorden bei. 1928 promovierte er in Münster bei Joseph Mausbach mit dem Thema „Grundzüge der Börsenmoral“. Damit war bereits das wohl wichtigste Thema seines akademischen und publizistischen Weges markiert, das man als das „Umbiegen“ des Kapitalismus bezeichnen könnte.40 Ein Jahr nach dem Erscheinen dieses Werkes ereignete sich der „schwarze Freitag“ an der Börse in New York (1929) und die damit ausgelöste Weltwirtschaftskrise. Nicht nur, aber auch deswegen reifte bei Pius XI. der Gedanke einer neuen Sozialenzyklika anlässlich der 40. Wiederkehr von Rerum novarum. Der damalige Jesuitengeneral Ledochowski betraute Nell-Breuning im Auftrag des Papstes mit der Vorbereitung des Entwurfs. Dies geschah im „Königswinterer Kreis“, den der spätere Aachener Bischof Josef van der Velden 1930 ins Leben gerufen hatte. Zu ihm gehörten katholischen Sozialwissenschaftler, u. a. Gustav Gundlach, Theodor Brauer, Goetz Briefs, Paul Jostock und der Bonner Sozialethiker Wilhelm Schwer.41 Ebenso wie Gundlach kam auch von Nell-Breuning mit dem Nationalsozialismus in Konflikt und musste seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen einstellen. Nach dem Ebd., S. 150 f. Vgl. Bernd Kettern, Sozialethik und Gemeinwohl. Die Begründung einer realistischen Sozialethik bei Arthur F. Utz, Berlin 1992. 40 Oswald von Nell-Breuning, Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. von Friedhelm Hengsbach, Düsseldorf 1990. 41 Ders., Der Königswinterer Kreis und sein Anteil an „Quadragesimo anno“, in: Soziale Verantwortung. Festschrift für Goetz Briefs, hrsg. von Johannes Broermann / Philipp Herder-Dorneich, Berlin 1968, S. 571 – 585. 38 39
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Zusammenbruch der Hitler-Diktatur begann für Nell-Breuning die Phase höchster wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Aktivität.42 Sie schlug sich vor allem in dem fünfteiligen „Wörterbuch der Politik“ nieder, das er zusammen mit Hermann Sacher 1947 bis 1958 herausbrachte und in dem er viele richtungsweisende Grundsatzartikel schrieb. Es wurde zur Hauptquelle der christlich-sozialen Information nicht nur für Theologen, sondern auch für Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler sowie für die praktische Politik. Zunehmend konzentrierte sich das Interesse Nell-Breunings auf Fragen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, was sich in den drei Bänden seines Sammelwerkes „Wirtschaft und Gesellschaft heute“ niedergeschlagen hat. In diesen Jahren entwickelte sich auch sein besonderes Verhältnis zu den Gewerkschaften. Im Unterschied zu Gustav Gundlach befürwortete er nachdrücklich die „Einheitsgewerkschaft“43. Gesellschaftspolitisch hatte sich Nell-Breuning zunächst für eine breite Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital eingesetzt, später votierte er hauptsächlich für die „paritätische Mitbestimmung“. Zum wirtschaftspolitischen Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ äußerte er sich überwiegend kritisch. Er stellte die Frage, ob sich diese wirklich vom alten „Liberalismus“ abgewandt habe.44 Er war nach 1945 davon überzeugt, dass eine Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft über die in Quadragesimo anno (Nr. 81 – 87) empfohlene „Berufsständische Ordnung“ erfolgen müsse und weniger auf dem Weg einer „Sozialen Marktwirtschaft“, für die sich Joseph Höffner gerade auch aufgrund seiner wirtschaftswissenschaftlichen Studien bei Walter Eucken einsetzte. Umstritten waren seine Aussagen über das Verhältnis von „Kirche und Arbeiterschaft“ bei der Würzburger Synode (1971 – 1975). Nell-Breuning hat durch seine fast bis zum Tode ungebrochene Schaffenskraft in unzähligen Vorträgen und Publikationen die Verbreitung und das Ansehen der Katholischen Soziallehre in der Öffentlichkeit nachhaltig gefördert. Diese zeigte sich zuletzt bei der Festakademie anlässlich seines 100. Geburtstages 1990, ein Jahr vor seinem Tod.
7. Joseph Höffner und seine „Christliche Gesellschaftslehre“
Joseph Höffner (1906 – 1987) stammte aus einer kinderreichen bäuerlichen Familie aus dem Westerwald (Horhausen). 1929 wurde er an der Päpstlichen Universität Gregoriana zum Doktor der Philosophie und – nach der Priesterweihe 1932 – 1934 mit einer Arbeit über „Soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe“ zum Doktor der Theologie promoviert. Mit der Studie „Bauer und Kirche im deutschen Mittelalter“ erwarb er in Freiburg i. Br. 1938 zusätzlich einen deutschen theologischen Doktorgrad. Seine volkswirtschaftlichen Studien absolvierte er an der gleichen Universität und schloss sie mit der von Walter Eucken betreuten Dissertation über „Wirtschaftsethik und Monopole im 15. und 16. Jahrhundert“ ab. Er habilitierte sich 1944 in Freiburg im Fach Moraltheologie mit der Arbeit „Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im Goldenen Zeitalter“. 1945 wird Joseph Höffner Professor für Pastoraltheologie und Christliche Soziallehre am Priesterseminar in Trier, 1951 übernimmt er den Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Münster. 1962 Vgl. Rauscher (Anm. 21), S. 282. Lothar Roos, Die Einheitsgewerkschaft im Lichte der katholischen Soziallehre, Köln 21962. 44 Vgl. ders., Oswald von Nell-Breuning, in: Lexikon Soziale Marktwirtschaft, hrsg. von Rolf H. Hasse u. a., Paderborn (2002) 22005, S. 52 ff. 42 43
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wurde er Bischof von Münster. 1969 erfolgte seine Ernennung zum Erzbischof von Köln und seine Berufung in das Kardinalskollegium. Von 1976 bis zu seinem Todesjahr 1987 war er Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.45 Manfred Hermanns überschreibt in seiner Geschichte des Münsteraner Lehrstuhls die 1951 beginnende Zeit mit „Joseph Höffner – universaler Sozialgelehrter und wissenschaftlicher Politikberater“ 46. Aufgrund der schon mit Franz Hitze beginnenden Tradition hatte der Münsteraner Lehrstuhlinhaber, sofern er die entsprechende wissenschaftliche Qualifikation aufwies, das Recht, auch innerhalb der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Themen für Dissertationen aus seinem Gebiet zu vergeben und bei der entsprechenden mündlichen Doktorprüfung mitzuwirken.47 Höffner machte davon intensiv Gebrauch.48 Er wurde auch in die wissenschaftlichen Beiräte bei den Bundesministerien für Familien- und Jugendfragen, für Wohnungsbau und für Arbeit- und Sozialordnung berufen. Bis zu seiner Ernennung zum Bischof von Münster war er „Geistlicher Berater“ des 1949 gegründeten Bundes Katholischer Unternehmer (BKU). Hier trat er besonders für die Entfaltung der sozialen Partnerschaft und die Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand ein. Zusammen mit drei anderen Professoren legte er 1955 ein von Bundeskanzler Adenauer erbetenes Memorandum zur „Neuordnung der sozialen Leistungen“ vor. Insofern gilt er als einer der „Väter der dynamischen Rente“, die aber nur z. T. in seinem Sinne ausfiel.49 Als reife Frucht seiner akademischen Tätigkeit und sozialpolitischen Erfahrung veröffentlichte er 1962 sein Lehrbuch „Christliche Gesellschaftslehre“. In gut zwanzig Jahren erlebte es bis 1983 acht, z. T. erweiterte Auflagen und sechs fremdsprachliche Übersetzungen. Zehn Jahre nach seinem Heimgang wurde 1997 eine ergänzte Neuausgabe vorgelegt.50 Inzwischen liegen davon zehn Übersetzungen vor (englisch, spanisch, französisch, litauisch, polnisch, russisch, kroatisch, koreanisch, slowakisch, chinesisch). Das Erfolgsgeheimnis seines Lehrbuches beruht auf einer wohl einzigartigen Kombination von Eigenschaften seines Autors: Höffner war Historiker und philosophisch-theologischer Systematiker, Nationalökonom und Religionssoziologe. In der Sozialverkündigung der Kirche sah er auch eine wesentliche Aufgabe des Bischofs.51 Hauptthemen waren dabei sein Eintreten für das Lebensrecht und die damit verbundene Kritik der Abtreibungsgesetzgebung, für Ehe und Familie und gegen deren Schwächung, sowie die Entwicklung einer friedlichen und gerechten Völkergemeinschaft. Er wandte sich sowohl gegen die Behauptung angeblicher „Sachgesetze“, gemäß deren Logik eine ethische Wert- und theologische Sinnanalyse von vornherein abgewehrt wird; andererseits 45 Vgl. ders., Joseph Kardinal Höffner (1906 – 1987), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 8, Mainz 1997, S. 173 ff. und S. 319 f. 46 Hermanns (Anm. 15), S. 227. 47 Vgl. ebd. 48 Siehe Roos (Anm. 45), 182 f. 49 Vgl. auch Norbert Trippen, Joseph Höffners Weg zum christlichen Sozialwissenschaftler 1906 – 1962, in: 100. Geburtstag von Joseph Kardinal Höffner (1906 – 1987). Eine Dokumentation der Jubiläumsfeierlichkeiten am 20. und 21. Januar 2007, Köln 2007, S. 109 ff, sowie Roos (Anm. 45). 50 Joseph Kardinal Höffner, Christliche Gesellschaftslehre. Neuausgabe, hrsg., bearb. u. erg. von Lothar Roos, Kevelaer (1997) 2000. 51 Andrej Nicolai Desczyk, Joseph Kardinal Höffners Sozialverkündigung im Bischofsamt, Berlin 2004.
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gegen eine theologische Grenzüberschreitung, in der aus theologischen Vorgaben ohne Vermittlung von Philosophie und Sozialwissenschaften normative Urteile über gesellschaftliche Tatbestände bzw. deren Veränderung gefällt werden. Deshalb kritisierte er auch die Übernahme der „marxistischen Analyse“ durch die radikale „Befreiungstheologie“.52 Er hielt die naturrechtliche Argumentation für unverzichtbar, weil er darin die wichtigste Grundlage für die universelle Anerkennung der Menschenrechte in einer zusammenwachsenden Welt sah. Höffner weist nachdrücklich auf den personalen Faktor als letzten Maßstab gesellschaftlichen Handelns hin: „Letzter Sinn aller Sozialität ist die Verkündung der Personalität“53. Dabei arbeitet er besonders heraus, dass es heute nicht mehr in erster Linie Übergriffe des Staates auf die Gesellschaft und das persönliche Leben sind, die das Subsidiaritätsprinzip bedrohen, sondern eher die Tendenz, persönliche Verantwortung an den Staat abzuschieben. Soziale Gerechtigkeit erweist sich zu allererst als Ermöglichung und Unterstützung persönlicher Freiheit und Verantwortung.54 Sein Eintreten für die soziale Sicherheit war stets verbunden mit seinem Bekenntnis zu einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung.55
IV. Krise und Neubelebung der Katholischen Soziallehre Der Wiederaufbau vor allem in Deutschland erfolgte im Zeichen der Sozialen Marktwirtschaft. In Theorie und Praxis ging man den Weg, den schon Pius XI. in Quadragesimo anno eingeschlagen hatte, dass wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit nicht gegeneinander, sondern nur miteinander verwirklicht werden können. Insofern waren die anthropologischen Überzeugungen und sozialethischen Orientierungen der Sozialverkündigung der Kirche in dieser Zeit sehr erfolgreich. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965) hat in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute den Weg, den die Sozialenzykliken gewiesen hatten, bekräftigt und weitergeführt. Die Enzyklika Pauls VI. Populorum progressio (1967) und das Apostolische Schreiben Octogesima adveniens (1971) haben sich neuen gesellschaftlichen Fragen zugewandt, auch wenn die innerkirchlichen Aufgaben der Verarbeitung des Konzils im Mittelpunkt standen. Die Hochstimmung, die viele Konzilsväter nach Jahren harter Arbeit beflügelte, wurde jedoch erstaunlich schnell von den geistesgeschichtlichen Veränderungen eingeholt, die in der Nachkriegszeit immer sichtbarer wurden. Die Kulturrevolution im Jahre 1968 brachte die Kirche und auch ihre Sozialverkündigung in Bedrängnis. Philosophisch trat an die Stelle der Metaphysik die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule. Nicht unabhängig davon geriet die klassische naturrechtliche Argumentation der kirchlichen Sozialverkündigung unter den Verdacht des „naturalistischen Fehlschlusses“. Man bezweifelte immer mehr, ob es tatsächlich ein „Wesen“ des Menschen und damit Joseph Kardinal Höffner, Soziallehre der Kirche oder Theologie der Befreiung? Bonn 1984. Ebd., S. 49. 54 Vgl. Karl Gabriel / Hermann-Josef Große Kracht (Hrsg.), Joseph Höffner (1906 – 1987). Soziallehre und Sozialpolitik. „Der personale Faktor . . .“, Paderborn 2006, bes. S. 129 ff. und S. 213 ff. 55 Siehe besonders Joseph Kardinal Höffner, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsethik. Richtlinien der katholischen Soziallehre, Bonn 1985. 52 53
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zusammenhängende anthropologische Konstanten mit entsprechenden ethischen Konsequenzen von universeller Gültigkeit überhaupt geben könne. Die innerkirchlich angebotenen Interpretationsmuster der gesellschaftlichen Situation und die daraus folgenden praxiologischen Konsequenzen bieten zunehmend das Bild eines widersprüchlichen Pluralismus. 1. Innerkirchliche „Alternativen“
Noch verhängnisvoller wirkten sich die innerkirchlichen „Alternativen“ zur Katholischen Soziallehre aus. Als erste entstand die „Politische Theologie“ von Johann Baptist Metz – lange Jahre Kollege von Joseph Höffner an der Universität Münster. Gemäß einer Arbeit seines Schülers Werner Kroh ist die Katholische Soziallehre „der kirchliche Versuch, der Entwicklung neuzeitlicher Gesellschaften ein eigenes, an mittelalterlichen Vorbildern orientiertes Gesellschaftsmodell entgegenzusetzen, die kirchlichen Ansprüche durch die Wiederherstellung einer voraufklärerischen Gesellschaft zur Geltung zu bringen und das moderne Freiheitsbewusstsein als unchristlich und der wahren Freiheit des Menschen widersprechend zu entlarven.“56 Metz glaubte, dass das „Mitsein“ der Kirche mit der heutigen Gesellschaft nur noch im Kontext der „Negativen Dialektik“ der „Frankfurter Schule“ vermittelt werden könne. Insofern bleibe nur noch eine „negative Vermittlung des Humanum“ möglich, also ein Mitleiden mit den Opfern der Gegenwart und der Geschichte sowie ein Anprangern der bestehenden Unrechtsstrukturen im Geist des Evangeliums.57 Damit ist zwar eine der drei notwendigen „Aussageweisen“58 der kirchlichen Sozialverkündigung angesprochen, nämlich die prophetische Kritik offensichtlicher Unrechtstatbestände. Auf welchem Weg aber soll dem Unrecht begegnet werden? Dazu hat die Kirche in ihrer klassischen Soziallehre „Grundsätze der Gerechtigkeit und Billigkeit“ erarbeitet, die in einer ethischen Güterabwägungslehre zu bestimmten institutionellen und habituellen Postulaten führen. Solches setzt allerdings eine „objektive“ Wahrheit über den Menschen voraus, wie sie die Naturrechtsphilosophie zu begründen sucht. Dieser eigentliche Kern der Katholischen Soziallehre wird von Metz als „überholt“ angesehen. Was übrig bleibt, ist eine Kirche als „Institution gesellschaftskritischer Freiheit“. Hans Maier hat in diesem Zusammenhang sarkastisch von einer „kritisch-triumphierenden Kirche“ gesprochen.59 Damit ist klar: An die Stelle der Soziallehre der Kirche, die aus der erkenntnistheoretischen Zusammenschau von sozialwissenschaftlicher Analyse, philosophisch-ethischer Güterabwägung und theologischer Sinnreflexion argumentiert, ist ein völlig anderer Ansatz getreten. Als Erkenntnisquelle für „gesellschaftliche Praxis aus dem Glauben“ wird nur „das Evangelium“ zugelassen. Die dann notwendigerweise offen bleibende sozialethische Lücke zwischen diesem und dem konkreten Handeln wird entweder mithilfe der „Analyse“ der „Frankfurter Schule“ geschlossen, oder – im Fall der wenig später entstehenden „Theologie der Befreiung“ – mittels der „marxistischen Analyse“. Damit kommt – neben der „Politischen Theologie“ – eine zweite innerkirchliche „Alternative“ zur Katholischen Soziallehre in den Blick: die Befreiungstheologie. Es ist Werner Kroh, Die Kirche im gesellschaftlichen Widerspruch, München 1982, S. 16. Vgl. erstmals Johann Baptist Metz, Zur Theologie der Welt, Mainz 1968. 58 Vgl. Rudolf Henning, Christliche Gesellschaftslehre, in: Herbert Vorgrimler / Robert Vander Gucht (Hrsg,), Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert, Bd. III, Freiburg 1970, S. 361 – 370. 59 Hans Maier, Kritik der politischen Theologie, Einsiedeln 1979. 56 57
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kein Zufall, dass ihr erstes grundlegendes Werk ein Vorwort von Johann Baptist Metz enthält.60 Die Befreiungstheologie hat in ihrer ersten Phase für die Bewusstseinsbildung, die pastorale und soziale Erneuerung der Kirche in Lateinamerika, eine wichtige Rolle gespielt. Ihre Problematik als untauglicher Ersatz für die Soziallehre der Kirche liegt in zwei Momenten: zum einen in der Formulierung des zu erreichenden „Endzieles“. Es besteht in einer Gesellschaft gemäß dem „Evangelium“, die in einem „weltgeschichtlichen Befreiungsprozess“ (Hegel) erreichbar erscheint. Damit tritt an die Stelle der Ethik die Geschichte, wie Joseph Ratzinger damals feststellte: „Die Geschichte ist die eigentliche Offenbarung und so die wahre Auslegungsinstanz der Bibel.“ Dies mache „ein auf bleibenden Wahrheiten existierendes Lehramt zu einer fortschrittsfeindlichen Instanz, die ,metaphysisch‘ denkt und damit ,Geschichte‘ widerspricht. Man kann sagen, dass der Begriff Geschichte den Gottesbegriff und den Offenbarungsbegriff in sich aufsaugt.“61 Problematisch ist zum anderen die Art und Weise wie die „ethische Lücke“ zwischen der zutreffenden prophetischen Sozialkritik und dem gewünschten Ziel erreicht werden soll. Die Sozialverkündigung der Kirche sucht diese Lücke mit einer sozialtheologisch und sozialphilosophisch begründeten Güterabwägungslehre zu schließen, die Befreiungstheologie füllt sie mit der „marxistischen Analyse“. Damit wäre die „Praxis des Klassenkampfes“ der „hermeneutische Schlüssel“ zur „Vergegenwärtigung des christlichen Glaubens“. Man ging dabei von der These aus, die sozialwissenschaftlichen Analysen von Marx und Engels könne man dann ohne weiteres übernehmen, wenn man nur den damit verknüpften Atheismus weglässt. Genau dies aber hat Karl Marx selber zurückgewiesen, indem er seine Analyse ausdrücklich nicht als eine sozialwissenschaftliche, sondern als eine „philosophische“ im Sinne des „Historischen Materialismus“ beschreibt.62 Beide Ansätze, die „Politische Theologie“ und die „Befreiungstheologie“, führten praktisch innerhalb der Fachvertreter für Christliche Gesellschaftslehre zu einer Spaltung und damit zur Verwirrung darüber, ob es überhaupt noch eine Soziallehre der Kirche gäbe, und wie sie erkenntnistheoretisch zu begründen sei. Dies lässt sich beispielhaft nachweisen an den Reaktionen auf die Sozialenzyklika Sollicitudo rei socialis von Johannes Paul II. (1987): Während die meisten Kommentatoren in ihrer Beurteilung und Interpretation der Enzyklika an der „klassischen“ Erkenntnislehre der Katholischen Soziallehre festhielten (vgl. den Kommentar von Korff und Baumgartner), veröffentlichte Friedhelm Hengsbach in der „Orientierung“ (31. März 1988, S. 61 – 65) einen Beitrag, der Begriff und Sache der kirchlichen Sozial-“Lehre“ in Gänsefüßchen setzt, die Vorstellung einer „übergeschichtlichen Kontinuität“ dieser Lehre ablehnt und nur noch eine befreiungstheologisch interpretierte prophetische Sozialverkündigung zulässt. Träger dieser Sozialkritik sind die „kollektiven Subjekte“ gesellschaftlicher Befreiung, also klassisch die „Arbeiterbewegung“ und heutzutage die „Frauenbewegung“ und die „Dritte-Welt-Bewegung“. Der Kirche kommt nur noch die Aufgabe zu, die Theorien dieser „kollektiven Subjekte“ zu akzeptieren und die entsprechende Praxis zu unterstüt60 Gustavo Gutierrez, Theologie der Befreiung. Mit einem Vorwort von Johann Baptist Metz, München u. a. 1973. 61 Joseph Kardinal Ratzinger, Die Theologie der Befreiung, in: Die Neue Ordnung 38 (1984), S. 291. 62 Vgl. Lothar Roos, Befreiungstheologie und Katholische Soziallehre (I.) (Reihe: Kirche und Gesellschaft, Nr. 119), Köln 1985, S. 11 – 15 (das Marx-Zitat S. 12).
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zen. Der Enzyklika wird vorgeworfen, ihre „schöpferischen Neuansätze bleiben verengt, unsicher relativiert, an einigen Stellen gar mit höchst regressiven Elementen naturrechtlicher Sozial-,Lehre‘ zugeschüttet“ (S. 62).63
2. Bedingungen einer Regeneration
Überblickt man die ca. zwei Jahrzehnte zwischen dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Wahl Johannes Pauls II. zum Papst (1978) hinsichtlich der Katholischen Soziallehre (in Deutschland), dann muss man zunächst feststellen, dass zwischenzeitlich ein Zustand weitgehender „Verwirrung“ darüber eingetreten war, was die Katholische Soziallehre sei, und wie sie erkenntnistheoretisch zu argumentieren habe. Die genannten Alternativen haben zwar nicht die ganze Breite des Katholizismus erfasst, sie waren aber immerhin stark genug, um innerhalb bestimmter katholischer Verbände bzw. im Katholizismus bei vielen Gelegenheiten Streit und Uneinigkeit über das zu erzeugen, wofür eigentlich die Soziallehre der Kirche steht. Eine Regeneration konnte nur möglich werden, wenn man die erkenntnistheoretische Identität und Kontinuität der Soziallehre der Kirche wieder zu gewinnen vermochte. Unter diesen Umständen wird klar, warum Johannes Paul II. noch vor dem Erscheinen seiner ersten Sozialenzyklika Laborem exercens (1981) unterstellt wurde, er habe mit der „klassischen Soziallehre“ gebrochen und würde lediglich „Impulse des Evangeliums“ zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme vermitteln. Aber hier hatte man sich gründlich verrechnet. Er bezeichnete die Sozialverkündigung von Rerum Novarum bis zur Gegenwart als kohärentes „Lehrgebäude“, das zwar in Folge neu auftauchender Fragestellungen weiter entwickelt werde müsse, aber nur unter gleichzeitiger Benutzung und sauberer Verknüpfung von drei Erkenntniswegen: Zum einen der sach- und humanwissenschaftliche Funktionsanalyse, in der es darum geht, die physischen und psychischen Vorgegebenheiten menschlichen Handelns „aus dem Wesen des Menschen“ abzuklären; zum anderen einer philosophisch-ethischen Wertreflexion, die im Gespräch mit allen geschichtlichen Erfahrungen und ethischen Lösungsangeboten zu einer jeweils verantwortlichen Güterabwägung bei der Formulierung sozialethischer Normen gelangt; schließlich einer theologischen Sinnreflexion, die das (vorläufig) so gewonnene Ergebnis „sub luce Evangelii“ betrachtet und es durch die spezifische offenbarungstheologische Dimension des christlichen Menschenbildes im Sinne eines „integralen Humanismus“ (vgl. PP 20) modifiziert. Was ist Sache, was ist Wert, was ist Sinn – so ließe sich diese dreigliedrige Erkenntnismethode schlagwortartig bezeichnen. Fällt einer dieser drei Erkenntniswege aus, dann besteht entweder die Gefahr eines theologischen oder eines soziologischen „Fundamentalismus“. Es wurde relativ schnell deutlich, dass die „Halbwertzeit“ (um einen Begriff aus der Kernphysik zu benutzen) der genannten Alternativen zur Soziallehre der Kirche recht gering war. Von der „Politischen Theologie“ redet heute kaum mehr jemand. Sie war ein europäisches Denkprodukt. Anders die „Befreiungstheologie“. In ihrer radikal marxistischen Variante war sie eine große Versuchung und Hoffnung für die Armen in Latein63 Vgl. dazu insgesamt Friedhelm Hengsbach / Bernhard Emunds / Matthias Möhring-Hesse (Hrsg.), Jenseits Katholischer Soziallehre. Neue Entwürfe christlicher Gesellschaftsethik, Düsseldorf 1993.
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amerika. Die Befreiungstheologen, von denen nicht wenige an europäischen Universitäten studiert und den damals grassierenden Spät- oder Neomarxismus kennengelernt hatten, waren weder an der Katholischen Soziallehre interessiert noch hatten sie die reale Lage der Arbeiterschaft in der Sowjetunion und in den kommunistisch regierten Ländern Mittel- und Osteuropas erfahren. Auch für die Bischöfe Lateinamerikas, die nie etwas über die Katholische Soziallehre, geschweige denn über die Christlich-soziale Bewegung in Deutschland und vielen europäischen Ländern gehört hatten, war es eine völlig neue Erfahrung, als der 1978 gewählte Papst Johannes Paul II. auf seiner ersten Auslandsreise seine berühmte Ansprache bei der Dritten Vollversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Puebla / Mexiko am 28. Januar 1979 hielt.64 Er kam aus Polen, hatte die Arbeits- und Lebenssituation der Arbeiter in seinem Land erfahren und die Unterdrückung der Grundrechte der Arbeiter erlebt. Ihm gelang es, die große Mehrzahl der Bischöfe für die Sozialverkündigung der Kirche zu interessieren, die in der Nachfolge Jesu Christi in jedem Arbeiter das „Bild Gottes“ mit unantastbarer Würde und ausgestattet mit Grundrechten sieht. Diese Ansprache bedeutete die Wende für die Kirche in Lateinamerika und für alle Menschen, die Ideologen aufgesessen waren. Nach Rom zurückgekehrt, besprach sich der Papst mit Joseph Kardinal Ratzinger von der Glaubenskongregation, in welcher Weise die Auseinandersetzungen mit der Befreiungstheologie kritisch geführt und die Christen in Lateinamerika für die Katholische Soziallehre gewonnen werden können. Die Begegnung mit den Bischöfen und Seelsorgern hatte Johannes Paul II. gezeigt, dass die Katholische Soziallehre und der Einsatz der Kirche für die Menschen für Gerechtigkeit und Solidarität gar nicht bekannt waren. Auch gab es keine Lehrer, die in den Seminarien und in den Schulen sachgerecht hätten lehren können. Ende der 1980er-Jahre beauftragte er die Kongregation für das katholische Bildungswesen, „Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung“ zu erarbeiten.65
3. Der Relativismus und die christliche Naturrechtsphilosophie
Dass die Katholische Soziallehre nach ca. zwei Jahrzehnten vielfacher Verwirrung wieder in das öffentliche Bewusstsein der Kirche und damit auch der Gesellschaft zurückkehrte, verdanken wir vor allem Johannes Paul II., der auf seinen vielen Reisen, in seinen Ansprachen und Predigten unermüdlich für die Wahrheit des Evangeliums und für die Sozialverkündigung der Kirche eintrat. Zeitgeschichtlicher Hintergrund war die in den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts immer deutlicher werdende Fortschrittskrise. Das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis glaubte, seine Rationalität in sich selbst zu tragen. Daraus entstand die Handlungsmaxime: Was technisch und ökonomisch möglich ist, das wird auch verwirklicht – ohne weitere Rückfrage nach dem humanen Sinn des jeweiligen „Fortschritts“. In dem Maße aber wie auf diesem Weg dem Menschen nicht nur Nützliches und Gutes, sondern mehr und mehr auch Bedrohliches und Böses droht und widerfährt, lassen sich Wert- und Sinnfrage aus dem Konzept 64 Predigten und Ansprachen von Papst Johannes Paul II. bei seiner Reise in die Dominikanische Republik und Mexiko, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 5, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn, 1979, S. 48 – 76. 65 Vgl. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1989.
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der öffentlichen Vernunft nicht mehr ausklammern.66 Genau an dieser Stelle setzt Johannes Paul II. mit seiner theologisch-philosophischen Anthropologie an. Hundert Jahre nach Rerum Novarum schreibt er in der Enzyklika Centesimus annus (1991): „Wenn es keine transzendente Wahrheit gibt, der gehorchend der Mensch zu seiner vollen Identität gelangt, gibt es kein sicheres Prinzip, das gerechte Beziehungen zwischen den Menschen gewährleistet“ (CA 44,2). Die Kirche akzeptiert den legitimen Pluralismus des Denkens und Handelns, der sich faktisch aus der menschlichen Freiheit ergibt, denn gerade in der „transzendenten Würde der Person“ sei die „Achtung der Freiheit“ begründet (CA 46,3). Die Frage „Was ist der Mensch?“ beantwortet der biblische Schöpfungsbericht damit, dass Gott den Menschen als das „sichtbare Abbild des unsichtbaren Gottes“ ins Dasein gerufen hat (CA 44,2). Weil Gott allen Menschen die Fähigkeit zur Erkenntnis der Wahrheit mitgegeben und die Unterscheidung von Gut und Böse in ihr Herz gelegt hat, folgt auch, dass die Würde des Menschen und die damit gegebenen Rechte und Pflichten grundsätzlich von allen erkannt werden können. Ausdrücklich betont deshalb Johannes Paul II. die Aufgabe der „Humanwissenschaften“ und der „Philosophie“, „die zentrale Stellung des Menschen in der Gesellschaft zu deuten und ihn in die Lage zu versetzen, sich selbst als ,soziales Wesen‘ besser zu begreifen“. Hier berühren sich die Wege der Vernunft und des Glaubens. Deshalb spricht der Papst die begründete Hoffnung aus, dass auch jene große Gruppe, die sich zu keiner Religion bekennt, dazu beitragen kann, der sozialen Frage das notwendige sittliche Fundament zu geben (CA 60,2). Dem widerstreitet ein anthropologischer und daraus abgeleiteter sozialethischer Relativismus, in dem der Papst heute die Hauptgefahr für einen wahren Humanismus sieht. Demgegenüber sei eine „Philosophie von wahrhaft metaphysischer Tragweite“ erforderlich, wie er in der Enzyklika Fides et ratio vom 14. September 1998 (82,3) feststellt. Johannes Paul II. hat damit gegen alle Irrungen und Wirrungen die Soziallehre der Kirche wieder auf ihr sicheres Fundament gestellt: Eine des Menschen würdige „Identität“ mit sich selbst lässt sich nur gewinnen aus jener „Erinnerung“, die sich erkenntnistheoretisch auf eine christliche Naturrechtsphilosophie zurückführt, für die Thomas von Aquin der bis heute wichtigste Wegweiser bleibt. Auf dieser Basis wendet sich die Soziallehre der Kirche an „alle Menschen guten Willens“67. Johannes Paul II. war sehr daran gelegen, die von ihm in seinen großen Enzykliken und vielen Ansprachen vorangebrachte Erneuerung der Soziallehre wieder stärker in das Bewusstsein der Kirche zu bringen. Deshalb gab er den Auftrag zu einem „Kompendium der Soziallehre der Kirche“, das schließlich ein Jahr vor seinem Tod erscheinen konnte.68 Ähnlich wie zur Zeit der Reformation der „Katechismus“ die Wahrheiten und Werte des christlichen Glaubens in verständlicher Sprache den suchenden Menschen vermitteln sollte, so sollte mit dem Kompendium, dem „sozialen Katechismus“, den Menschen heute die Wahrheiten und Werte der Sozialverkündigung der Kirche erschlossen werden. In seiner Ansprache unmittelbar vor der Papstwahl am 18. April 2005 sprach Kardinal Joseph Ratzinger von der „Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt Vgl. Lothar Roos, Humanität und Fortschritt am Ende der Neuzeit, Köln 1984. Vgl. ausführlicher Lothar Roos, Es geht um die Würde des Menschen. Zum sozialethischen Vermächtnis von Johannes Paul II. (Reihe: Kirche und Gesellschaft, Nr. 321), Köln 2005. 68 Libreria editrice Vaticana 2004, deutsche Ausgabe Freiburg i. Br. 2006. 66 67
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und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten läßt“. Diese Diktatur könne in religiöser und ethischer Gestalt auftreten. Der ethische Relativismus, mit dem sich die Katholische Soziallehre auseinandersetzt, leugnet die Fähigkeit des Menschen, wahre und universal gültige Aussagen über sich selbst zu machen und so seine eigene Würde zu erkennen und – soweit möglich – durch eine entsprechende gesellschaftliche Ordnung zu sichern. Gegenüber dem Einwand, eine solche Wahrheit über den Menschen könne man nicht „beweisen“, antwortet Joseph Ratzinger in dem berühmten Dialog mit Jürgen Habermas, nicht nur die technische Vernunft finde ihre Wahrheit über das Experiment. Auch die „praktische (oder moralische) Vernunft“ bedarf eines Experiments: „Sie braucht das Experiment des bestandenen Menschseins, das nur aus der bestandenen Geschichte selbst kommen kann. Darum war die praktische Vernunft immer eingeordnet in den großen Erfahrungs- und Bewährungszusammenhang ethisch-religiöser Gesamtvisionen.“ Die Einsicht in die Würde des Menschen und in die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Gewährleistung werde „nicht erfunden, sondern gefunden“. Daraus folgt: „Es gibt also in sich stehende Werte, die aus dem Wesen des Menschseins folgen und daher für alle Inhaber dieses Wesens unantastbar sind.“69 Im Unterschied zur gesamten abendländischen Geschichte werde heute das „Naturrecht . . . nicht mehr als das allen Einsichtige, sondern eher als eine katholische Sonderlehre betrachtet. Dies bedeutet eine Krise der politischen Vernunft, die eine Krise der Politik als solcher ist. Es scheint nur noch die parteiliche Vernunft, nicht mehr die wenigstens in den großen Grundordnungen der Werte gemeinsame Vernunft aller Menschen zu geben.“70 Alle diese „Vorarbeiten“ über das naturrechtliche Fundament der Katholischen Soziallehre im Kontext einer theologischen Anthropologie findet ihren prägnanten Ausdruck in der ersten Enzyklika Benedikts XVI. Deus caritas est (2005). Dort kommt er unter der Überschrift „Gerechtigkeit und Liebe“ (Nr. 26 – 29) auf die Methodik der Katholischen Soziallehre zu sprechen: „Die Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist.“ Was „Gerechtigkeit“ sei, „ist eine Frage der praktischen Vernunft; aber damit die Vernunft recht funktionieren kann, muß sie immer wieder gereinigt werden, denn ihre ethische Erblindung durch das Obsiegen des Interesses und der Macht, die die Vernunft blenden, ist eine nie ganz zu bannende Gefahr.“ (Nr. 28). Einen abschließenden Höhepunkt dieser Argumentationsreihe stellt die Ansprache Benedikts XVI. vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 18. April 2008 dar. Dort behandelt er die Menschenrechte als Ausdruck des Naturrechts. Diese Verwurzelung aufzugeben, „würde bedeuten, ihre Reichweite zu begrenzen und einer relativistischen Auffassung nachzugeben, derzufolge Bedeutung und Interpretation dieser Rechte variieren könnten und derzufolge ihre Universalität im Namen kultureller, politischer, sozialer oder sogar religiöser Vorstellungen verneint wird.“ Benedikt fragt kritisch, „ob ein rein rechtspositives und nicht-metaphysisches Verständnis des Menschenwürdeprinzips die Last tragen kann, ein Reich der Unverfügbarkeit zu begründen, welches die Freiheitssphäre der Grundrechtsträger wirksam zu schützen vermag.“ 69 Jürgen Habermas / Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg i. Br. 2005, S. 44. 70 Joseph Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg i. Br. 2005, S. 21 – 25. – Vgl. dazu Lothar Roos „Was allen Menschen wesensgemäß ist“. Das moralische Naturgesetz bei Papst Benedikt XVI. (Reihe: Kirche und Gesellschaft, Nr. 330), Köln 2006.
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In seinem Rückblick auf Rerum novarum (1891) würdigt Pius XI. in Quadragesimo anno (1931) jene „große Zahl gelehrter Männer aus dem Priester- und Laienstande“, die seitdem „den zeitgemäßen Ausbau der Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaft entschlossen in Angriff nahm“ (Nr. 19). Es könnten noch viele genannt werden wie Nikolaus Monzel (1906 – 1966) oder Wilhelm Weber (1925 – 1983), der die Forschungen Höffners über die spanische Spätscholastik fortgesetzt und sich kritisch mit der Befreiungstheologie auseinandergesetzt hat.71 Die moderne Katholische Soziallehre entstand und wird bis heute weiterentwickelt in einem interdisziplinären Diskurs, an dem sich Vertreter aller sozialwissenschaftlichen Fächer beteiligt haben. Beispielhaft seien erwähnt: Goetz Briefs (1889 – 1974), Ordinarius für Wirtschaftswissenschaften in Freiburg, Würzburg und Berlin, seit 1934 an der Catholic University of America und an der Georgetown University; Franz H. Mueller (1900 – 1988), der am St. Thomas College in St. Paul, Minnesota, lehrte und die moderne Katholische Soziallehre dem kirchlichakademischen Publikum in den USA vermittelte. Ein Weg dazu war auch die Übersetzung des Lehrbuchs des Bonner Lehrstuhlinhabers Wilhelm Schwer.72 Besondere Verdienste erwarb er sich als Biograph von Franz Hitze und Heinrich Pesch.73 Ob die Katholische Soziallehre die unantastbare Würde jedes Menschen und seine Grundrechte und -pflichten in den vielen Ländern und zu allen Zeiten zur Geltung bringt, hängt nicht nur von der lebendigen Sozialverkündigung der Päpste und Bischöfe ab, sondern auch von einer kraftvollen Christlich-sozialen Bewegung und einer sie inspirierenden und, wenn nötig, korrigierenden katholischen Gesellschaftswissenschaft (vgl. QA 20).
Wilhelm Weber, Person in Gesellschaft, München 1978. Wilhelm Schwer, Catholic Social Theory, with a preface by Franz Mueller, St. Louis, MO, 1940. 73 Franz H. Mueller, Franz Hitze und sein Werk, Hamburg 1928; ders., Heinrich Pesch. Sein Leben und seine Lehre, Köln 1980. 71 72
Die Sozialenzykliken der Päpste Von Lothar Roos
Es gibt keine andere theologische Disziplin, in der päpstliche Enzykliken einen so hohen „Stellenwert“ haben wie in der Christlichen Gesellschaftslehre. Dafür lassen sich drei Ursachen ausmachen: Zum einen erweisen sich die Päpste seit der mit Leo XIII. und seiner Enzyklika Rerum novarum (RN) 1891 beginnenden Reihe der Sozialenzykliken sowohl hinsichtlich der wissenschaftlichen Profilierung dieser „neuen“ Disziplin im theologischen Fächerkanon als auch hinsichtlich der praktischen Wirksamkeit ihrer Sozialverkündigung als ausgesprochen progressiv im Sinne einer vorausschreitenden Führung der Kirche. Zum anderen konnten die auf Leo XIII. folgenden Päpste auf dem von ihm errichteten Fundament sicher und erfolgreich weiterbauen. So spricht Pius XI. im ersten Kapitel seiner Enzyklika Quadragesimo anno (QA) 1931 von den „segensreichen Wirkungen“ von RN und bezeichnet die erste päpstliche Sozialenzyklika als „die Magna Charta christlicher Sozialarbeit“ (QA 39). Schließlich konnten die späteren Päpste auf das von Leo XIII. grundgelegte Fundament einer christlichen Naturrechtsphilosophie zurückgreifen und so die neu auftauchenden sozialethischen Probleme mit methodischer Sicherheit analysieren und daraus auch interdisziplinär vermittelbare sozialethische Konsequenzen formulieren. Im engeren Sinn gehören zu den Sozialenzykliken jene mit RN (1891) beginnenden Weltrundschreiben der Päpste, die in aller Regel anlässlich von runden Jahrgedächtnissen der ersten Enzyklika (15. Mai 1891) erscheinen. Dies gilt für QA (1931) Pius’ XI., Mater et magistra (MM, 1961) Johannes’ XXIII. sowie die Enzykliken Laborem exercens (LE, 1981) und Centesimus annus (CA, 1991) Johannes Pauls II. Ohne terminlichen Bezug zu RN veröffentlichte Johannes XXIII. 1963 die Enzyklika Pacem in terris (PT) und sein Nachfolger Paul VI. 1967 Populorum progressio (PP). Zwanzig Jahre danach erschien von Johannes Paul II. unter ausdrücklichem Bezug auf PP die Enzyklika Sollicitudo rei socialis (SRS). Zu den herausragenden Dokumenten der kirchlichen Sozialverkündigung gehören auch die hier nicht zu behandelnden Sozialenzykliken Pius’ XI. Mit brennender Sorge und Divini redemptoris (beide 1937), die die Unvereinbarkeit des Nationalsozialismus bzw. des Kommunismus mit der christlichen Lehre aufzeigen, ebenso die zahlreichen sozialethischen Verlautbarungen Pius’ XII.1 Im weiteren Sinn zählen zu den Sozialrundschreiben der Kirche auch die Pastoralkonstitution Gaudium et spes (GS) des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) und Teile des Apostolischen Schreibens Evangelii nuntiandi (EN) Pauls VI. (1975), ebenso das Apostolische Schreiben Octogesima adveniens (OA) und die Erklärung der Bischofssynode De iustitia in mundo, beide von 1971. Die erste Enzyklika Benedikts XVI. Deus caritas est (DCE) 1 Vgl. Arthur-Fridolin Utz / Joseph-Fulko Groner (Hrsg.), Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII., 3 Bde., Freiburg (Schweiz) 1954 – 1961.
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von 2005 enthält wichtige Aussagen zur Soziallehre der Kirche,2 ebenso die Enzyklika Spe salvi (SS) von 2007. Besonders hinzuweisen ist auf das „Kompendium der Soziallehre der Kirche“3, in dem der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden die gesamte Sozialverkündigung der Kirche in systematischer Form dokumentiert hat. Sozialenzykliken sind primär keine systematischen Lehrschreiben. Ihr Inhalt wird vielmehr „von ihrem jeweiligen Anlaß bestimmt: schwere Störungen des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zusammenlebens der Menschen, Verstöße gegen die Menschenrechte und gegen die Gerechtigkeit und Solidarität, drohende oder bereits eingetretene Fehlentwicklungen, die von Ideologien heraufbeschworen werden [ . . . ], mangelndes Interesse und fehlende Verantwortungsbereitschaft bei der Erkenntnis, Diagnose und Bewältigung neuer Problemstellungen.“4 Insofern wäre es durchaus möglich, die einzelnen Sozialenzykliken der Päpste in chronologischer Reihenfolge darzustellen. Wir versuchen hier jedoch einen anderen Weg: Überblickt man aus heutiger Sicht die über 100-jährige Geschichte der päpstlichen Sozialenzykliken, so lassen sich zwei große Themenfelder ausmachen, die sich durch alle Sozialenzykliken durchgängig zeigen: Die moderne Wirtschaftsgesellschaft und die politische Gesellschaft – Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie. Wir wollen versuchen, diese beiden Themenfelder jeweils diachronisch durch alle Sozialenzykliken in ihren wichtigsten Aussagen herauszuarbeiten. Bei dieser Methodik ist es nicht möglich, hier sämtliche in den Sozialenzykliken behandelten Einzelthemen gleich ausführlich darzustellen. Viele wichtige Aussagen zu einzelnen Fragestellungen finden sich in anderen Beiträgen dieses Handbuchs.
I. Die moderne Wirtschaftsgesellschaft – Das Ringen um soziale Gerechtigkeit 1. Rerum novarum: Die „Magna Charta christlicher Sozialarbeit“ (QA 39)
Die erste päpstliche Sozialenzyklika RN (1891) entstand in der Auseinandersetzung der Kirche mit der „sozialen Frage“ und der zu ihrer Lösung miteinander konkurrierenden Wirtschaftsordnungstheorien des Liberalismus und Sozialismus. Während der Liberalismus den „Wohlstand der Nationen“ (A. Smith) von der Freiheit auf allen Märkten erwartete, sah der Sozialismus (K. Marx, F. Engels) gerade darin den Grund für die Ausbeutung der „Arbeiterklasse“. Leo XIII. beginnt seine Enzyklika „über die Arbeiterfrage“ mit einer massiven Kritik der bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse und ihrer sozialen Konsequenzen: Das „Kapital“ sei „in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt“ (RN 1). Die Arbeiter seien „der Herzlosigkeit reicher Besitzer und der ungezügelten Habgier der Konkurrenz isoliert und schutzlos überantwortet“ worden. „Pro2 Vgl. auch Lothar Roos, Die Katholische Soziallehre in der Enzyklika Deus caritas est, in: Die göttliche Vernunft und die inkarnierte Liebe, hrsg. von Albrecht Graf von Brandenstein-Zeppelin, Alma von Stockhausen, J. Hans Benirschke, Weilheim-Bierbronnen 2007, S. 99 – 116. 3 Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Freiburg 2006 (Vatikan 2004). 4 Anton Rauscher, Art. „Sozialenzykliken“, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 4, 7. Aufl., Freiburg 1988, Sp. 1250 – 1257.
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duktion und Handel sind fast zum Monopol von wenigen geworden, und so konnten wenige übermäßig Reiche einer Masse von Besitzlosen ein nahezu sklavisches Joch auflegen“ (RN 2). – Wer als Marxist diese Aussagen erstmals las, der konnte darin eine Bestätigung der Kapitalismuskritik von Karl Marx finden. Er musste jedoch zutiefst enttäuscht sein, wenn er kurz danach lesen musste, das „Programm“ der „Sozialisten“ sei „weit entfernt, etwas zur Lösung der Frage beizutragen; es schädigt vielmehr die arbeitenden Klassen selbst“ (RN 3). Obwohl der Sozialismus damals nur in den Werken von Marx und Engels auf dem Papier vorlag, sagte Leo XIII. exakt voraus, was die zu erwartenden Folgen „dieses Systems“ sein würden: „Eine unerträgliche Beengung aller, eine sklavische Abhängigkeit würde die Folge des Versuches seiner Anwendung sein. Es würde gegenseitiger Mißgunst, Zwietracht und Verfolgung Tür und Tor geöffnet. Mit dem Wegfall des Spornes zu Strebsamkeit und Fleiß würden auch die Quellen des Wohlstandes versiegen. Aus der eingebildeten Gleichheit aller würde nichts anderes als der nämliche klägliche Zustand der Entwürdigung für alle“ (RN 12). 100 Jahre später nennt Johannes Paul II. in Centesimus annus (CA) die „Vorausschau“ Leos XIII. auf die möglichen Folgen des von ihm bereits 1891 nur aus den Werken von Marx und Engels bekannten Sozialismus „erstaunlich exakt“. Man könne sich nur „darüber wundern“, dass Leo XIII. nicht nur das ökonomische Scheitern des Sozialismus, sondern auch – so kann man heute formulieren – die „Stasi-Gesellschaft“ vorausgesagt hatte. Aber nicht nur deshalb „verdienen es seine Worte, neu gelesen zu werden“ (CA 12). Was aber setzt Leo XIII. dem Liberalismus und dem Sozialismus entgegen? Zunächst stellt er gegenüber den Sozialisten fest, dass es ein Naturrecht auf persönliches Eigentum gebe. Er fragt, was der Arbeiter anderes wolle, als „mit dem Lohn zu irgendeinem persönlichen Eigentum“ zu gelangen (RN 4). Wer die Würde der menschlichen Arbeit anerkenne, der müsse auch die Früchte der Arbeit, nämlich das persönliche Eigentum, akzeptieren (vgl. RN 4,12). – In der Frage der Lohngerechtigkeit setzte sich Leo XIII. einerseits von bestimmten Vertretern der Katholischen Romantik ab, die den Lohnarbeitsvertrag grundsätzlich für sittenwidrig hielten. Ebenso eindeutig wandte er sich andererseits gegen die liberale Theorie, wonach sich der „gerechte Lohn“ allein aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem freien Arbeitsmarkt ergebe. Der Arbeitsvertrag könne zwar grundsätzlich „beiderseitig frei“ abgeschlossen werden, müsse aber den Forderungen der „natürlichen Gerechtigkeit“ entsprechen. Diese sind im einzelnen ausreichende Mindestlöhne (RN 34,3), ein familiengerechtes Einkommen und die Möglichkeit, dass der Lohnempfänger „einen Sparpfennig zurücklegen und zu einer kleinen Habe gelangen kann“ (RN 35,1). Weiterhin verlangt die Enzyklika die solidarische Absicherung der grundlegenden Arbeitsrisiken des Unfalls, der Krankheit und der Invalidität und empfiehlt so eine Vorform der späteren Sozialversicherung, die genossenschaftlich organisiert werden solle (vgl. RN 39). Sodann empfiehlt Leo XIII. betriebliche „Arbeiterausschüsse“ (RN 34,4), die man als Vorläufer des späteren Betriebsrates ansehen kann. 2. Quadragesimo anno: Das „regulative Prinzip“ der Wirtschaft
Als vierzig Jahre später (1931) Pius XI. die zweite Sozialenzyklika QA verfasste, waren die ökonomischen Verhältnisse nicht zuletzt durch die Weltwirtschaftskrise von 1929 in eine Krise geraten. Hinzu kam, dass die zwischen den Weltkriegen entstehenden Ideologien des Faschismus und des Nationalsozialismus, Wirtschaft und Staat in den
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Dienst politisch-imperialistischer Ziele zu stellen suchten. Der „Sozialismus“ stand inzwischen nicht mehr nur auf dem Papier, sondern war durch die Oktoberrevolution von 1917 zur harten Wirklichkeit geworden. Die „kapitalistische“ Wirtschaft war weit davon entfernt, ihre Verheißungen erfüllen zu können, der Sozialismus bedrohte die freiheitliche Gesellschaftsordnung insgesamt. Vor diesem Hintergrund hatte Pius XI. zu ganz neuen Fragen Stellung zu nehmen. Zunächst befasst er sich systematisch mit der Frage nach der rechten Ordnung der Wirtschaft. Es gibt wohl keine schärfere Kritik am damaligen Monopolkapitalismus als jene, die sich in den Abschnitten 101 – 110 dieser Enzyklika findet. Da ist von einem rücksichtslosen Machtkampf die Rede, einem Kampf sowohl „innerhalb der Wirtschaft“ als auch um die Macht wirtschaftlicher Interessen „über den Staat“ und schließlich einem durch „übersteigerten Nationalismus“ und „Imperialismus“ angetriebenen wirtschaftlichen Machtkampf der Staaten untereinander. Dennoch, so sagt der Papst, für viele damals wohl überraschend, sei die „kapitalistische Wirtschaftsweise“ „nicht in sich schlecht“ (QA 101). Vielmehr hätten die „Auswirkungen des individualistischen Geistes“ zur Selbstaufhebung des freien Wettbewerbs geführt (QA 109). Der nackte Wettbewerb könne „unmöglich regulatives Prinzip der Wirtschaft sein“, er sei aber „innerhalb der gehörigen Grenzen berechtigt und von zweifellosem Nutzen“, sofern „höhere und edlere Kräfte“ die „wirtschaftliche Macht in strenge und weise Zucht nehmen“; diese Kräfte bezeichnet er als „die soziale Gerechtigkeit und die soziale Liebe“ (QA 88). Damit leuchtet die Grundidee einer Verbindung von Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe („dilectio socialis“) als ethischer Grundlage der Wirtschaftsgesellschaft auf. Außerdem kritisiert Quadragesimo anno die damalige Ungleichheit in der Verteilung der Güter und ruft dazu auf, mit aller „Macht und Anstrengung dahin zu arbeiten, dass wenigstens in Zukunft die neugeschaffene Güterfülle nur in einem billigen Verhältnis bei den besitzenden Kreisen sich anhäufe, dagegen in breitem Strom der Lohnarbeiterschaft zufließe“ (QA 61). – Schließlich wünscht Pius XI., dass das Lohnarbeitsverhältnis eine „gewisse Annäherung [ . . . ] an ein Gesellschaftsverhältnis“ finde. Auf diese Weise gelangten Arbeiter und Angestellte „zu Mitbesitz oder Mitverwaltung oder zu irgendeiner Art Gewinnbeteiligung“ (QA 65).
3. Von Pius XII. zu Johannes XXIII.: Der Vorrang der Persönlichkeitswerte
Die beiden ersten Sozialenzykliken RN und QA befassen sich schwerpunktmäßig mit der Frage nach einer möglichst gerechten Wirtschaftsordnung. Sie versuchen dabei, in Widerspruch gegenüber den herrschenden Ordnungstheorien des Liberalismus und Sozialismus christlich-soziale Positionen zu begründen und in ihren ordnungsethischen Konsequenzen zu verdeutlichen. Aber schon Pius XI. weist darauf hin, dass es keine gerechte Wirtschaftsordnung ohne eine entsprechende Tugendethik geben kann: „Gesinnungsreform“ und „Strukturreformen“ hängen innerlich zusammen. In einem „Obrigkeitsstaat“ wird dieser Zusammenhang verdeckt. In dem Maße, wie Gesellschaften „demokratischer“ werden, sind die entscheidenden Agenten einer humanen Wirtschaftsgesellschaft nicht mehr ausschließlich die Staaten, sondern primär die „bürgerliche“ Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Wirtschaftssubjekten. Gleichzeitig aber entwickelt sich eine Tendenz, aufgrund des höheren Grades der wirtschaftlichen Entwick-
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lung und der damit einhergehenden Interdependenz aller von allen, die tatsächlichen Handlungsspielräume der einzelnen Subjekte einzuschränken. Pius XII. nimmt diesen „Paradigmenwechsel“ durchaus wahr. Schon während des Zweiten Weltkriegs, aber vor allem danach, sucht und gibt er Antworten auf die Frage nach einer Humanisierung der Wirtschaft unter den genannten neuen Bedingungen. Insbesondere in seiner Pfingstbotschaft 1941, anlässlich der 50. Jahresfeier von RN, sowie in einer Fülle von Ansprachen, befasst er sich mit den neuen Problemen der modernen Wirtschaftsgesellschaft.5 Gemäß dem von Pius XII. in seiner Weihnachtsbotschaft von 1942 formulierten „obersten Grundsatz“ der Soziallehre der Kirche muss der Mensch stets „Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein“. Insofern sieht er das „Ziel“ der Wirtschaft darin, „dass jeder als Mensch zu leben“ und „sich durch Erwerbstätigkeit die Möglichkeit der Teilnahme am Kulturleben zu schaffen“ vermag (ebd. S. 370). Das Entscheidende im Wirtschaftsleben ist deshalb „der Mensch in seinen Persönlichkeitswerten“6. „Keine Betriebsplanung“ – so entfaltet Messner diese Maxime –, „keine betriebliche und gesetzgeberische Institution, keine Grundorganisation mit Funktionen und Versammlungen kann den persönlichen Wert des Menschen erschaffen oder ersetzen“ (ebd. S. 364). Insofern hängt die Qualität jeder Wirtschaft ab „von der persönlichen Qualität des Menschen, von seiner sittlichen Stärke und von seinem Willen, Verantwortung zu übernehmen, von seiner ausreichenden Bildung und Erfahrung“ (ebd.). Daraus folgen im einzelnen die Postulate einer entsprechenden „sittlichen, geistigen, beruflichen Bildung und Ausbildung vor allem der Jugend“ (ebd. S. 365); die „Bejahung der wirtschaftlichen Privatinitiative, also der Unternehmerwirtschaft“ mit dem damit verbundenen „Konkurrenzgedanken“ und dem „Gewinn als normale Folge“ (ebd. S. 366). Pius XII. war sich auch der zunehmenden Bedeutung von gesellschaftlichen Zusammenschlüssen sowohl im Bereich der Unternehmer als auch der Arbeitnehmer bewusst. In unzähligen Ansprachen vor Kongressen, Vereinen und Verbänden redete er ihren Mitgliedern und Repräsentanten im Sinne ihrer persönlichen Verantwortung ins Gewissen (vgl. ebd. S. 361 f.). Er sieht und würdigt die Aufgaben der Gewerkschaften, der Arbeitgeber, des Staates – am wichtigsten seien jedoch „die persönliche Qualität des Menschen, seine sittliche Stärke und sein Verantwortungsbewußtsein“ (ebd. S. 379). Er warnt immer wieder davor, die Lösung der wesentlichen Probleme des Wirtschaftslebens „einfach vom Staate zu erwarten“ (ebd. S. 371). In der Radiobotschaft von 1941 befasst sich Pius XII. auch mit dem „Gleichgewicht und den Gleichgewichtsstörungen“ der modernen Wirtschaft. Letztere ergeben sich einerseits aus einer Vielfalt „widerstrebender Sonderinteressen der Einzelnen oder der Gruppen“ (S. 376), andererseits aus dem Übergewicht großindustrieller Strukturen. Diesen Gefahren gegenüber sieht Pius XII. eine „entscheidende Rolle in der Erhaltung und Festigung des sozialen und politischen Gleichgewichts“ durch den „Mittelstand [ . . . ]. Schon wegen seines bedeutenden Anteils an der Gesamtbevölkerung, aber auch wegen der ihm eigenen Mäßigung, des familienhaften Charakters der Unternehmungen, des persönlichen Verantwortungsbewußtseins, des Sinnes für Qualitätsarbeit, Sparsamkeit und Voraussicht, der relativen Unabhängigkeit, des traditionellen Sinnes für Stabilität“ (ebd. S. 367). Für Pius XII. sind Ehe und Familie, Staat und Privateigentum die tragenden Pfeiler der Gesellschaft. 5 Vgl. Johannes Messner, Die Wirtschaft in den Lehr- und Hirtenäußerungen von Pius XII., in: Pius XII. zum Gedächtnis, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1977, S. 361 – 380. 6 Vgl. Utz / Groner, a. a. O., Nr. 6108.
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Er sieht deshalb in den mittelständischen Strukturen „die Verbindung von Familie und Wirtschaft am unmittelbarsten wirksam“ und „einen wesentlichen Gleichgewichtsfaktor der modernen Wirtschaftsgesellschaft“ (ebd. S. 378). Der von Pius XII. weitsichtig erkannte Gestaltwandel der industriellen Gesellschaft trat nach seinem Tod (1958) noch deutlicher in Erscheinung. Sein Nachfolger, Johannes XXIII., greift in seiner Sozialenzyklika Mater et magistra (1961) dieses Thema dezidiert auf und knüpft an die Einsichten und Weisungen Pius’ XII. an (vgl. MM 11; 43 – 45). Eingehend befasst sich die Enzyklika mit der fortschreitenden gesellschaftlichen Verflechtung innerhalb der einzelnen Staaten und betont noch deutlicher die zunehmenden „Verflochtenheiten“ der Völker untereinander und damit ihrer „wechselseitigen Abhängigkeit“ (vgl. MM 49; 200 – 204). Im Blick auf das komplexer werdende Spannungsfeld zwischen persönlicher Initiative und staatlichem Eingriff in die Wirtschaft verlangt er, dass der „Raum der Privatinitiative der einzelnen Bürger nicht nur nicht eingeschränkt, sondern vielmehr ausgeweitet (wird), allerdings so, daß die wesentlichen Rechte jeder menschlichen Person gewahrt bleiben“ (MM 55). In diesem Sinn verlangt er, wie schon Pius XII., das Recht der Arbeiter auf „aktive Teilnahme am Leben des sie beschäftigenden Unternehmens“ (MM 91), betont aber genauso deutlich „das Recht auf Privateigentum, auch an Produktionsmitteln“, das „für jede Zeit gilt“ (MM 109). In diesem Kontext macht er die für die Wirtschaftsordnung entscheidende Aussage: „Sowohl die Erfahrung wie die geschichtliche Wirklichkeit bestätigen es: wo das politische Regime dem Einzelnen das Privateigentum auch an Produktionsmittel nicht gestattet, dort wird auch die Ausübung der menschlichen Freiheit in wesentlichen Dingen eingeschränkt oder ganz aufgehoben. Das beweist: das Recht auf Eigentum bildet in der Tat eine Stütze und zugleich einen Ansporn für die Ausübung der Freiheit“ (MM 109). 4. Gaudium et spes: Anthropologische Grundlagen
Von der Enzyklika Mater et magistra führt ein kurzer Weg zu der vier Jahre später verabschiedeten Konstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils. Was dort im Kapitel über „das Wirtschaftsleben“ (GS 63 – 72) gesagt wird, ist die Frucht intensiver Vorarbeit und Diskussion des Konzils, wie sie bisher gerade zu diesem Thema in der Kirche noch nie möglich war7: Das Konzil beginnt mit einer Bestandsaufnahme des „Erscheinungsbildes des Wirtschaftslebens“, wie es sich den Konzilsvätern darbot. Hier wird die Spannung zwischen der „wachsenden Herrschaft des Menschen“ über die Natur und die Befähigung der Wirtschaft, „die gestiegenen Bedürfnisse der Menschheitsfamilie besser zu befriedigen“ einerseits und die wachsenden „sozialen Ungleichheiten“ und die „Verschlechterung der Lage der sozial Schwachen“ andererseits hervorgehoben. Deshalb ergebe sich die Notwendigkeit „vielfältige institutionelle Reformen in der Wirtschaft, wie auch eine allgemeine Umstellung der Gesinnung und Verhaltensweise“ zu fördern. Aufgabe der Kirche sei es, dafür „Grundsätze der Gerechtigkeit und Billigkeit“ zu formulieren, wie sie „rechte Vernunft“ fordere und sie „unter dem Licht des Evangeliums“ in der Soziallehre der Kirche „im Lauf der Jahrhunderte [ . . . ] erarbeitet“ wurden. Aus der Sicht des christlichen Menschenbildes werden im Blick auf 7 Vgl. insgesamt Lothar Roos, Ordnung und Gestaltung der Wirtschaft. Grundlagen und Grundsätze der Wirtschaftsethik nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, Köln 1971. Hier können nur die allerwichtigsten Akzentsetzungen hervorgehoben werden.
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die Bewertung und Gestaltung des wirtschaftlichen Fortschritts zwei anthropologische Vorgegebenheiten herausgestellt: Die „fundamentale Zweckbestimmung“ des wirtschaftlichen Fortschritts sei der „Dienst am Menschen, und zwar am ganzen Menschen im Hinblick auf seine materiellen Bedürfnisse, aber ebenso auch auf das, was er für sein geistiges, sittliches, spirituelles und religiöses Leben benötigt“ (GS 64). Schon Pius XI. hatte sich in seiner Auseinandersetzung mit dem Sozialismus dagegen gewandt, in der Gesellschaft lediglich eine „Nutzveranstaltung“ (QA 118) zu sehen. Und Pius XII. sieht gerade darin das Eigene der Soziallehre der Kirche, dass sie auch „die ewige Bestimmung des Menschen“ bei der Beurteilung gesellschaftlicher Strukturen und Verhaltensweise einbezieht.8 Eine Wirtschaftsordnung, die dies beachtet, sieht anders aus als eine, die darauf keine Rücksicht nimmt, beispielsweise im Blick auf die Heiligung des Sonntags. Eine zweite anthropologische Vorgegebenheit ist für GS die Tatsache, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Dies bedeutet Freiheit, Verantwortung, Teilhabe. Daraus folgt für das Konzil die wirtschaftsethische Maxime, „daß auf jeder Stufe (des Wirtschaftens) möglichst viele Menschen und, soweit es sich um den zwischenstaatlichen Bereich handelt, alle Nationen an der Lenkung des wirtschaftlichen Fortschritts aktiv beteiligt seien“ (GS 65). Dabei bedürfe es „des sachgerechten inneren Verbundes des der eigenen Initiative entspringenden Wirkens der einzelnen und der freien Gruppen einerseits und der Maßnahmen öffentlicher Gewalten andererseits“. Dagegen verstießen sowohl eine „mißverstandene Freiheit“, als auch eine „kollektivistische Organisation des Produktionsprozesses“ (ebd.). Zur personalen Sicht des Wirtschaftens gehört auch die Grundaussage, wonach die menschliche Arbeit stets „den Vorrang vor allen anderen Faktoren des wirtschaftlichen Lebens (hat), denn diese sind nur werkzeuglicher Art“9. Denn die Arbeit sei „gleichviel, ob selbständig ausgeübt oder im Lohnarbeitsverhältnis stehend, [ . . . ] unmittelbarer Ausfluß der Person“. Daraus ergibt sich sowohl die „Verpflichtung zu gewissenhafter Arbeit wie auch das Recht auf Arbeit“; letzteres wird nicht als einklagbarer Rechtsanspruch formuliert, vielmehr habe die Gesellschaft „nach jeweiliger Lage der Dinge für ihren Teil behilflich zu sein, daß ihre Bürger Gelegenheit zu ausreichender Arbeit finden können“ (GS 67). Aus diesen anthropologischen Vorgaben ergeben sich zwei wichtige strukturelle Konsequenzen, zunächst im Blick auf die Sozialgestalt des Unternehmens: In ihm „stehen Personen miteinander im Verbund, d. h. freie, selbstverantwortliche, nach Gottes Bild geschaffene Menschen. Darum sollte man unter Bedachtnahme auf die besonderen Funktionen der einzelnen, sei es der Eigentümer, der Arbeitgeber, der leitenden oder der ausführenden Kräfte, und unbeschadet der erforderlichen einheitlichen Werkleitung die aktive Beteiligung aller an der Unternehmensgestaltung voranbringen“ (GS 68). Sodann folgt aus der „Widmung der irdischen Güter an alle Menschen“, dass diese „in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen“ müssen. Dies gilt sowohl innerhalb der einzelnen Gesellschaften, als auch im Blick auf die Völkergemeinschaft. Zum Schluss dieser „Verteilungsethik“ macht das Konzil nochmals auf die tugendethischen Voraussetzungen allen wirtschaftlich verantwortlichen Handelns aufmerksam: es fordert die „Familien- und Gemeinschaftsdienste“ auszubauen mit ihrem „bildenden und erzieheVgl. Utz / Groner, a. a. O., Nr. 3409. Zur adäquaten Interpretation dieser Aussage vgl. Lothar Roos, Methodologie des Prinzips „Arbeit vor Kapital“, in: JCS 29 (1988), S. 87 – 126; Ernst Brüggemann, Die menschliche Person als Subjekt der Arbeit (Abhandlungen zur Sozialethik, Bd. 33), Paderborn u. a. 1994. 8 9
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rischen Zielen. Bei allen Maßnahmen dieser Art gilt es aber darauf zu achten, daß die Staatsbürger nicht zur Passivität gegenüber der Gesellschaft verleitet werden, nicht die Erfüllung der ihnen obliegenden Pflichten aus dem Weg gehen oder ihre Dienstleistung verweigern“ (GS 69). 5. Laborem exercens: Die Humanisierung einer veränderten Arbeitswelt
Im Mittelpunkt des Wirtschaftens stehen nicht irgendwelche sachliche Produktionsmittel (Boden, Kapital), sondern der arbeitende Mensch, ob er in selbständiger oder in „abhängiger“ Arbeit tätig wird. Produktivkapital, so lautet eine wirtschaftswissenschaftliche Einsicht, ist „vorgetane Arbeit“. Es entsteht aus Arbeit und hat den arbeitenden Menschen zu dienen. Den selbständig Arbeitenden ermöglicht es, durch die Verfügungsmacht darüber unternehmerisch tätig zu werden, den „abhängig“ Arbeitenden bietet es die Entfaltung ihrer beruflichen Fähigkeiten, und durch das daraus erzielte Einkommen legt es die wirtschaftliche Grundlage für eine eigenverantwortliche Lebensweise für sich, ihre Familien und für jene Lebensphasen, in denen sie nicht (mehr) erwerbstätig sein können. Während es in der ersten Sozialenzyklika (RN) „über die Arbeiterfrage“ vor allem um die Lohngerechtigkeit ging, tritt in einer dynamischen, sich rasch verändernden Wirtschaft die Sorge für die soziale Sicherheit in den Vordergrund. Für Johannes Paul II. waren die damit verbundenen Probleme inzwischen so komplex und dringlich geworden, dass er 1981 anlässlich des 90. Jahrestages der Enzyklika RN ein eigenes Weltrundschreiben „Über die menschliche Arbeit“ (LE) verfasste. Die Fülle der darin behandelten Sachfragen kann hier nicht umfassend erörtert werden.10 Wohl aber sollen hier drei Grundanliegen der kirchlichen Sozialverkündigung in dieser Frage herausgestellt werden: – Die „subjektive Dimension“ der Arbeit: In einem Unternehmen arbeiten Menschen in unterschiedlichen Funktionen zur Erreichung des Unternehmensziels zusammen. Die nötigen Arbeiten – vom Unternehmensleiter bis zur Raumpflegerin – werden entsprechend dem „objektiven“ Marktwert der Arbeitsleistung differenziert entlohnt. Es wäre jedoch ein Fehlschluss, auch die Würde der Arbeit nach diesem Marktwert zu bemessen. Demgegenüber stellt der Papst fest: „Die Würde der Arbeit wurzelt zutiefst nicht in ihrer objektiven, sondern in ihrer subjektiven Dimension“ (LE 6). Wir sind nicht „Arbeitskräfte“, sondern arbeitende Menschen, deren Tätigkeiten „unabhängig von ihrem objektiven Gehalt [ . . . ] alle zur Verwirklichung unseres Menschseins dienen“ (ebd.). Daraus folgt: Behandle jeden Menschen nicht nach dem objektiven, sondern nach dem subjektiven Wert seiner Arbeit. Johannes Paul II. warnt also vor einer rein ökonomistischen Sicht der Arbeit und fordert ein Verhalten, durch das der Arbeitende „mehr Mensch wird“ (LE 9). – Ein neuer Arbeitsbegriff: Aufsehen erregte der Papst mit seinem Arbeitsbegriff, mit dem er die verbreitete Reduktion der menschlichen Arbeit auf „abhängige Erwerbsarbeit“ aufbricht. Gearbeitet wird nicht nur in „Bergwerken“, sondern auch in der „Werkstatt intellektueller Arbeit“ und von jenen, die eine „schwere Verantwortung für sozial weitreichende Entscheidungen“ tragen. Er würdigt vor allem die Arbeit je10 Siehe auch Lothar Roos, Laborem exercens – Sinn und Sozialgestalt der menschlichen Arbeit (Kirche und Gesellschaft, Nr. 86), Köln 1982.
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ner „Frauen, die manchmal ohne gebührende Anerkennung seitens der Gesellschaft, ja sogar der eigenen Angehörigen, tagtäglich die Mühe und Verantwortung des Haushalts und der Kindererziehung tragen“ (LE 9,2). Erwerbsarbeit und Familienarbeit sind beide unentbehrlich. Insofern warnt er vor einer Ideologie, in der „die Befreiung“ der Frau praktisch zu Lasten der Familie und damit ihrer selbst geht: „Die wahre Aufwertung der Frau erfordert eine Arbeitsordnung, die so strukturiert ist, daß sie diese Aufwertung nicht mit dem Aufgeben ihrer Eigenheit bezahlen muß“ (LE 19,5). Die Frauen sollen alle „Tätigkeiten [ . . . ] ohne Diskriminierungen und ohne Ausschluß von Stellungen, für die sie befähigt sind“, wahrnehmen können. Sie sollen sich aber auch „ohne Behinderung ihrer freien Entscheidung, ohne psychologische und praktische Diskriminierung [ . . . ] der Pflege und Erziehung ihrer Kinder [ . . . ] widmen. Der notgedrungene Verzicht auf die Erfüllung dieser Aufgaben um eines außerhäuslichen Verdienstes willen ist im Hinblick auf das Wohl der Gesellschaft und der Familie Unrecht, wenn es den vorrangigen Zielen der Mutterschaft widerspricht oder sie erschwert“ (LE 19,4). – Der „indirekte“ Arbeitgeber: Zu den wohl aktuellsten Aussagen der Enzyklika zählt der Hinweis auf den „indirekten“ Arbeitgeber. Mit dieser begrifflichen Neuschöpfung machte Johannes Paul II. darauf aufmerksam, dass Löhne und Arbeitsbedingungen immer weniger nur vom „direkten“ Arbeitgeber abhängen. Mit Staunen haben manche Gewerkschafter und Banker gelesen, dass auch sie zum „indirekten“ Arbeitgeber gehören, weil die einen in den „kollektiven Arbeitsverträgen“, die anderen durch ihre Kreditentscheidungen auch über Arbeitsplätze mitentscheiden. Weiter gehört dazu die Gesamtheit der politischen und weltwirtschaftlichen Faktoren. „Indirekter“ Arbeitgeber eines deutschen Arbeitnehmers sind u. a. jene Volkswirtschaften, in die wir als „Exportweltmeister“ unsere Güter verkaufen. Mit zunehmender weltwirtschaftlicher Verflechtung können die Unternehmen und die in ihnen Tätigen nur die Entgelte erwarten, die sie auf dem europäischen oder globalen Markt tatsächlich verdienen. 6. Populorum progressio und Sollicitudo rei socialis: Die „wahre Entwicklung“ der Völker
Wesentlich geprägt von der Güterlehre des Thomas von Aquin wird die „universelle Bestimmung der Güter“ („destinatio communis bonorum“) immer mehr zu einem zentralen Thema der modernen kirchlichen Sozialverkündigung.11 Historisch maßgeblich waren dafür im deutschen Katholizismus die berühmten Adventspredigten Wilhelm Emmanuel von Kettelers im Mainzer Dom 1848. In den beiden ersten Sozialenzykliken RN und QA geht es dabei zunächst um die gerechte Verteilung der „Früchte“ des neuen Wohlstands innerhalb der Gesellschaften. Aber schon in QA kommt deutlich die weltweite Perspektive hervor, wenn auch in negativer Form als Kritik an der „Ungeheuerlichkeit“ einer „Vermachtung“ der Wirtschaft durch die „Beherrscher und Lenker des Finanzkapitals“ (QA 106), was zu einem „Machtkampf [ . . . ] der Staaten untereinander“ führe, in dem diese „wirtschaftliche Macht als Kampfmittel einsetzen“ (QA 108). Pius XI. registriert einen „verderblichen und verwerflichen finanzkapitalistischen Internationalismus oder Imperialismus des internationalen Finanzkapitals, das sich überall 11 Vgl. Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, hrsg., bearb. u. erg. von Lothar Roos, 2. Aufl., Kevelaer 2000, S. 312 – 332 („Die Völkergemeinschaft“).
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da zu Hause fühlt, wo sich ein Beutefeld auftut“ (QA 109). Man könnte fast meinen, diese Aussagen seien heute formuliert. Positiv entfaltet wird das Postulat einer universalen Völkergemeinschaft in der Pfingstbotschaft Pius’ XII. 1941 und seiner Weihnachtsbotschaft 1944. Zwar steht inmitten des Zweiten Weltkriegs primär die Weltfriedensordnung im Vordergrund, aber insbesondere 1944 erhebt Pius XII. die „moralische Forderung“ einer „sozialen Entwicklung“, welche „die Einheit des menschlichen Geschlechtes und der Völkerfamilie in sich einschließt“. Einer der zentralen neuen Begriffe von Mater et magistra ist „das Wohl der weltweiten Völkergemeinschaft“ als Postulat, das sich aus den „Verflochtenheiten der Völker untereinander und damit der Abhängigkeit der Völker voneinander“ als dringlich erweist (MM 49). Ausführlich befasst sich die Enzyklika schon damals, als das Wort „Globalisierung“ noch unbekannt war, unter der Überschrift „Soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Ausgleich zwischen Völkern verschieden hoher Wirtschaftsstufe“ mit den daraus sich ergebenden Problemen und ihrer möglichen Lösung (MM 157 – 204). Schließlich behandelt GS in ihrem Schlusskapitel „Die Förderung des Friedens und der Aufbau der Völkergemeinschaft“ auch die damit zusammenhängenden wirtschaftsethischen Fragen (GS 83 – 90). Offensichtlich haben jedoch die Probleme in diesem Bereich in den letzten Jahrzehnten so zugenommen, dass die Päpste in zwei spezifischen Sozialenzykliken diese Thematik für dringlich erachten: Paul VI. in Populorum progressio (1967) und Johannes Paul II. – zwanzig Jahre später – in Sollicitudo rei socialis. Da die Thematik der weltweiten Gerechtigkeit und die vielfältigen Herausforderungen für die kirchliche Entwicklungsarbeit in diesem Handbuch an anderer Stelle eigens erörtert wird, möge hier der knappe Hinweis auf die beiden Enzykliken genügen (vgl. die Beiträge „,Integrale Entwicklung‘ und weltweite Gerechtigkeit“ und „Kirchliche Entwicklungszusammenarbeit und Entwicklungshilfe“). 7. Centesimus annus: Die Anerkennung der Sozialen Marktwirtschaft
Als 1991 Johannes Paul II. aus Anlass der hundertsten Wiederkehr von Rerum novarum seine Enzyklika Centesimus annus verfasste, hatte sich das Gesicht der modernen Wirtschaftsgesellschaft aufs Neue erheblich verändert. Aus den mehr oder weniger starken Armutsgesellschaften des frühindustriellen Zeitalters und den Mangelgesellschaften der Kriegs- und Nachkriegszeiten war zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine Art „Wohlstandsgesellschaft“ in den westlichen Demokratien entstanden. Hier ging und geht es weniger um die Beseitigung des Mangels, als vielmehr um die Bewältigung des „Überflusses“ und die damit verbundene Gefahr des „Konsumismus“. Außerdem stellte sich die Frage: Welche Wirtschaftsordnung soll die Kirche nach dem Ende der Sowjetunion und des europäischen Sozialismus (1991) diesen Gesellschaften und den Ländern der „Dritten Welt“ empfehlen? – Welche Positionen vertreten die genannten Sozialenzykliken im Blick auf die ethische Bewertung und menschengerechte Gestaltung der modernen Wirtschaftsgesellschaft? Mitten im Zweiten Weltkrieg bildete sich in Freiburg i. Br. ein christlich orientierter Kreis von Nationalökonomen um Walter Eucken, der genau das tat, was Pius XI. empfohlen hatte: Eine Wirtschaftsordnung zu konzipieren, in der die Freiheit des Marktes mit dem Grundgedanken einer durch den staatlich-gesellschaftlichen Rahmen gewährleisteten „sozialen Gerechtigkeit“ verbunden war. Alfred Müller-Armack hat dafür später den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ geprägt. Die kirchliche Sozialverkündigung
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hatte lange Zeit nicht genügend bemerkt, dass hier etwas anderes als nur eine Modifikation des alten „Kapitalismus“ entstanden war.12 Es ist das Verdienst Johannes Pauls II., dass er in der Enzyklika Centesimus annus dies endlich mit aller Klarheit zur Kenntnis nahm: Die Enzyklika zeigt sich zunächst erfreut darüber, dass sich „in einigen Ländern [ . . . ] nach der Zerstörung des Krieges [gemeint ist der Zweite Weltkrieg] auf verschiedenen Gebieten ein positives Bemühen zum Aufbau einer demokratischen Gesellschaft“ gezeigt habe, „die sich von sozialer Gerechtigkeit leiten läßt“. Dieses Bemühen „wird im allgemeinen durch die Methoden der freien Marktwirtschaft unterstützt“ (CA 19,2). Eigentlich hätte man hier den Terminus „Soziale Marktwirtschaft“ erwartet. Der Papst bedient sich dieser spezifisch deutschen Wortschöpfung nicht, beschreibt aber der Sache nach die ordnungsethischen Grundlagen einer sozialen Marktwirtschaft. Mit Freiheit und sozialer Gerechtigkeit werden die ethischen Grundwerte markiert, mit „Marktmechanismen“ und „öffentlicher Kontrolle“ die beiden grundlegenden Ordnungselemente. Mit „guten Arbeitsmöglichkeiten“ und einem „soliden System der sozialen und beruflichen Sicherheit“ wird der besondere Schutz der menschlichen Arbeit und der sozial Schwachen herausgestellt. Hinzukommen die Elemente „stabile Währung“, „gesundes Wirtschaftswachstum“ und „Sicherheit der sozialen Beziehungen“. Folgerichtig antwortet dann der Papst auf die Frage, ob man nach dem Scheitern des Kommunismus den entsprechenden Ländern bzw. der Dritten Welt als „Modell“ etwa den „Kapitalismus“ anbieten könne: Das komme ganz darauf an, was man unter „Kapitalismus“ verstehe. „Wird mit ,Kapitalismus‘ ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel sowie die freie Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv“ (CA 42,2). Im gleichen Zusammenhang wird eine rechtlich nicht geordnete, sozusagen wilde und wertfreie Marktwirtschaft abgelehnt. Auch hält es der Papst wohl selbst nicht für ganz glücklich, die von ihm geforderte soziale Marktwirtschaft mit dem zumindest in Europa anrüchigen Begriff „Kapitalismus“ zu bezeichnen. „Vielleicht wäre es passender“, so meint er, „von ,Unternehmenswirtschaft‘ oder ,Marktwirtschaft‘ oder einfach ,freier Wirtschaft‘ zu sprechen“ (CA 42,2). Mit dieser Aussage Johannes Pauls II. ist das fast zwei Jahrhunderte auch innerhalb der Kirche währende Ringen um eine dem Menschen als Person und Sozialwesen gemäße Wirtschaftsordnung in der Katholischen Soziallehre zu einem gewissen Abschluss gekommen. Dabei wurden sowohl die Einseitigkeiten des Liberalismus als auch die Irrtümer des Sozialismus vermieden. Der Grundwert Freiheit wird auch im Bereich des Wirtschaftens respektiert, ebenso beim Recht auf Eigentum. Die vom Liberalismus vergessene, vom Sozialismus kollektivistisch entfremdete Solidarität wird zusammen mit der Freiheit als die entscheidende zweite Komponente einer menschenwürdigen Wirtschaftsordnung herausgestellt. Die Idee der Freiheit kann mit der sozialen Gerechtigkeit verbunden werden, nicht aber das prinzipiell unfreiheitliche System des Sozialismus mit der Freiheit. Dies impliziert eine Betrachtung der Arbeit, die diese nicht auf ihren ökonomischen Tauschwert reduziert, sondern an der Würde der Person misst. Ebenso wird das Eigentumsrecht unter den Gemeinwohlvorbehalt im Sinne der „Bestimmung der Er12 Vgl. Lothar Roos, Art. „Nell-Breuning, Oswald von“, in: Lexikon Soziale Marktwirtschaft, hrsg. von Rolf H. Hasse / Hermann Schneider / Klaus Weigelt, 2. Aufl., Paderborn u. a. 2005, S. 52 – 55.
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dengüter für alle Menschen“ (Thomas von Aquin) gestellt. Die Lösung der „sozialen Frage“ kann weder ausschließlich von der „Freiheit auf allen Märkten“ noch gar vom revolutionären Umsturz im Sinne der sozialistischen Theorie erwartet werden. Vielmehr empfehlen die Sozialenzykliken ein Zusammenwirken der unmittelbar Betroffenen, also der Unternehmer und Arbeitnehmer und ihrer Organisationen, des Staates mit seinen rechts- und sozialstaatlichen Pflichten, der Kirche mit ihrer theologisch-philosophischen Letztbegründung der liberalen und sozialen Menschenrechte und der in diesem Sinne wirkenden Personen und (katholischen) Organisationen.
II. Die moderne politische Gesellschaft – Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie Nachdem im ersten Teil dieses Beitrags die kritische Auseinandersetzung der Päpste mit der „modernen Wirtschaftsgesellschaft“ in ihren einzelnen Schritten herausgearbeitet wurde, gilt es nun, den Blick darauf zu werfen, was die Sozialenzykliken zur modernen „politischen Gesellschaft“, insbesondere zu den zentralen Institutionen des Rechtsstaats, des Sozialstaats und der Demokratie dargelegt haben. 1. Staat und Gesellschaft in Rerum novarum und Quadragesimo anno
Die Aussagen der kirchlichen Sozialverkündigung „erlauben es, von einer ,offiziellen‘ katholischen Staatslehre zu sprechen“, die von Thomas von Aquin über Leo XIII. bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil „in erstaunlicher Kontinuität das Bild einer in sich geschlossenen, naturrechtlich und schöpfungstheologisch geprägten Lehre bietet“13. Ihre letzte bedeutende Ausprägung hatte diese Staatslehre in der frühen Neuzeit durch die spanische Spätscholastik (Franz Suarez, Franz von Vitoria) gefunden. Der fortschreitende neuzeitliche Säkularisierungsprozess und insbesondere die Französische Revolution entzogen der katholischen Sicht des Staates den philosophischen Boden. Eine Erneuerung und kreative Weiterführung dieser Tradition gelang erst wieder Leo XIII. Er konnte dabei auf die Erneuerung der Naturrechtsphilosophie durch Luigi Taparelli und Theodor Meyer zurückgreifen.14 Die Weiterführung der traditionellen katholischen Staatslehre durch Leo XIII. geht davon aus, dass der Staat naturrechtlich und nicht vertragsrechtlich begründet ist. Aus der Natur des Menschen als sittliches Sozialwesen folgt das Gemeinwohl als nicht nur formale, sondern inhaltliche Größe, die von der Würde der menschlichen Person und den zu ihrer gesellschaftlichen Wahrung notwendigen Grundwerten und Grundrechten ausgeht. Daraus ergeben sich drei Konsequenzen: Im Gegensatz zur herrschenden liberalen Lehre, nach welcher der „Nachtwächterstaat“ lediglich für die rechtliche Gewährleistung der gleichen wirtschaftlichen Freiheit für alle zuständig war, begründet Leo XIII. ausdrücklich eine sozialstaatliche Verant13 Paul Mikat, Art. „Staat“, Der Staat aus katholischer Sicht, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 5, 7. Aufl., Freiburg 1989, Sp. 157 – 162, hier 157. 14 Vgl. Anton Rauscher, Kirche und Demokratie. Der lange Weg des Zueinanderfindens (Kirche und Gesellschaft, Nr. 346), Köln 2008, S. 9 f.
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wortung des modernen Staates. Er habe eine besondere Schutzpflicht „für die niedere, besitzlose Masse“, worauf die „Wohlhabenden [ . . . ] nicht in dem Maße“ angewiesen seien, da sie sich ja selbst helfen könnten. „Die Lohnarbeiter also, die ja zumeist die Besitzlosen bilden, müssen vom Staat in besondere Obhut genommen werden“ (RN 29,2). Dies sei keine beliebige Zutat staatlicher Aktivität, sie werde vielmehr mit jenen „Rechten“ begründet, welche die „menschliche Natur verlangt“ (RN 32,1). Insofern versteht Leo XIII. den Arbeitsvertrag als Privatrechtsvertrag innerhalb eines öffentlich-rechtlichen Rahmens, durch den die „öffentliche Gewalt“ Mindestbedingungen der Gerechtigkeit zwingend vorschreibt. Der Staat habe also die Pflicht, alles zu verhindern, was innerhalb des Lohnarbeitsverhältnisses der persönlichen Würde und den Menschenrechten zuwiderläuft. Die Enzyklika hat damit die sozialethischen Grundlagen des modernen Arbeitsrechts und des Sozialstaats gelegt. Staatsrechtlich nicht weniger wichtig ist die Position Leo XIII. hinsichtlich der Begründung der Menschen- und Bürgerrechte: Der Mensch besitzt von Natur aus Rechte und nicht erst auf Grund eines „Gesellschaftsvertrags“. Die so argumentierende Menschenrechtsphilosophie hat ihre historischen Wurzeln bereits in der spanischen Spätscholastik, insbesondere bei Franz von Vitoria, worauf vor allem Joseph Höffner aufmerksam gemacht hat.15 Der Hauptbeitrag, den die modernen Sozialenzykliken hinsichtlich der anthropologischen Fundamente des Rechtsstaats leisteten, war ihr Eintreten für die „natürlichen Rechte“ des Menschen und der mit der Menschennatur gegebenen sozialen Institutionen. Bischof Ketteler beispielsweise, der in den beiden ersten demokratisch gewählten verfassungsgebenden Versammlungen in Deutschland als gewähltes Mitglied Sitz und Stimme hatte (1848 und 1871), unterstrich gegen die damals von den Liberalen vertretene „absolute Staatsidee“ das „subsidiäre Recht“ der Eltern und der kommunalen Ortsgemeinden, die Angelegenheiten der Schule und der kommunalen Selbstverwaltung eigenständig zu regeln. Der Mensch habe nicht deshalb Rechte, weil der Staat sie ihm gnädig gewähre, sondern von Natur aus. In diesem Sinne sagt Leo XIII. in Rerum novarum: „Der Mensch ist älter als der Staat“ (RN 6). Ebenso hätten die Familien „unabhängig vom Staate ihre innewohnenden Rechte und Pflichten“ (RN 9). Er beruft sich dabei auf Thomas von Aquin und leitet aus demselben Zusammenhang das Koalitionsrecht der Arbeiter als Naturrecht ab (vgl. RN 38 und 42). Kurz gesagt: Die den demokratischen Verfassungen vorgegebenen Menschenrechte und entsprechende, die staatliche Gewalt verpflichtende Grundrechte entstehen nicht auf der Basis eines Gesellschaftsvertrages, der jederzeit auch gekündigt werden kann, sondern sind dem Menschen, wie die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776) feststellt, „by their creator“ gegeben. Genau darin besteht die bleibende Grundlage des demokratischen Verfassungsstaates. Als Pius XI. 40 Jahre später die Enzyklika QA schrieb, war der in vorstaatlichen Menschenrechten begründete Verfassungsstaat in Europa in eine besonders prekäre Lage geraten. In Russland hatte der totalitäre Sozialismus sämtliche bürgerlichen Rechte dem Diktat der Partei unterworfen. In Italien war der Faschismus an die Macht gekommen, in Deutschland stand die nationalsozialistische „Machtergreifung“ vor der Tür. Vor diesem Hintergrund formuliert Pius XI. das wohl bis heute bedeutsamste Sozialprinzip der kirchlichen Sozialverkündigung, das Subsidiaritätsprinzip. Zwar bringe 15 Vgl. Joseph Höffner, Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1947 (2. Aufl. 1972).
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es der geschichtliche Wandel mit sich, dass bestimmte Aufgaben, „die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können“, aber es müsse „doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz (gravissimum illud principium) festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen“ (QA 79). 2. Kirche und Demokratie: Von Pius XII. (1944) über „Pacem in terris“ (1963) zu „Gaudium et spes“ (1965)
Obwohl die Kirche durch die aufgezeigte anthropologische Begründung des Rechtsstaats und die Betonung sozialstaatlichen Handelns wesentlich zur Grundlegung des modernen demokratischen Verfassungsstaates beigetragen hat, tat sie sich schwer, zur Demokratie als Regierungsform ein uneingeschränkt positives Verhältnis zu finden. Dies gilt weniger für die Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika als für die stark von der europäischen Aufklärung und der Französischen Revolution geprägte Vorstellungswelt der europäischen Demokratie. Insofern kann man von Spannungen zwischen der Kirche und der Demokratie sprechen. Diese haben eine exogene und eine endogene Ursache. Die exogene Ursache besteht darin, dass sich der europäische politische Liberalismus – im Unterschied zu dem US-amerikanischen – lange Zeit als „laizistische“ antikirchliche Bewegung verstand. Er trat für eine mechanistisch verstandene Volkssouveränität ein, in deren Mitte ein absolutistisch verstandenes Mehrheitsprinzip stand. Diese voluntaristische Konstruktion des „Gemeinwillens“ zeigt sich besonders typisch im „Gesellschaftsvertrag“ Jean-Jacques Rousseaus. Gegen dieses „jakobinische“ Verständnis einer absolutistischen Volkssouveränität erklärte Bischof Ketteler auf dem Freiburger Katholikentag 1875: „Im Grunde besteht gar kein Unterschied zwischen Ludwig XIV., welcher seinen unumschränkten Willen als Gesetz geltend machte und deshalb ausrief: ,Der Staat bin ich‘ [ . . . ] und einem Liberalen unserer Zeit. Was jener sich zuschrieb, das muten diese der Gesetzgebung zu, die sie selbst in Händen haben.“ Ketteler meinte dazu: „Das ist Wahnsinn, das ist unerträglich; das ist Sklaverei für alle, die nicht zur Majorität der Gesetzgeber gehören.“16 Dass die Kirche eine so verstandene Theorie der Volkssouveränität nicht akzeptieren konnte, liegt auf der Hand. Dieses „theoretische“ Faktum wurde bestätigt durch das Schicksal, das sie im Gefolge der Französischen Revolution insbesondere in Frankreich erfuhr. Es gab aber auch endogene, also innerkirchliche Ursachen, die es zunächst zu keinem positiven Verhältnis zur Demokratie als Regierungsform kommen ließen: Dies war zum 16 Zitiert nach Erwin Iserloh / Christoph Stoll, Bischof Ketteler in seinen Schriften, Mainz 1977, S. 200. Vgl. insgesamt dazu Lothar Roos, Demokratie, Demokratisierung und Menschenrechte in den Dokumenten der Katholischen Soziallehre, in: Lateinamerika und die Katholische Soziallehre. Ein lateinamerikanisch-deutsches Dialogprogramm, Teil 3: Demokratie. Menschenrechte und politische Ordnung, hrsg. von Peter Hünermann / Juan Carlos Scannone, Mainz 1993, S. 19 – 74.
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einen bedingt durch die Nachwirkungen jenes „Ganzheitsdenkens“, das „im Mittelalter die philosophische und theologische Reflexion inspirierte“. Damals und bis tief hinein in die Neuzeit war „das Überleben des Einzelnen nur in der weitgehenden Ein- und Unterordnung unter die Gemeinschaft gesichert“. Von daher war es nicht leicht, die mit der Aufklärung zusammenhängende „Hinwendung zum Subjekt“ nachzuvollziehen. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil es in Gestalt eines in sich selbst stehenden Individuums geschah, das „selbstmächtig und selbstgenügsam“ handelte und sich nur zur Erreichung bestimmter „Zwecke“ mit anderen Menschen zusammenschloss17. Hinzu kam, dass sich der politische Liberalismus, besonders im Kontext der Französischen Revolution und der italienischen nationalen Einheitsbewegung, sehr eng mit dem antikirchlichen, ja antireligiösen Geist des „weltanschaulichen“ Liberalismus verbündete. So kann man verstehen, dass die Päpste vor Leo XIII. (Pius VI., Gregor XVI., Pius IX.) aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem damaligen Liberalismus in einer weithin antimodernistischen Haltung verharrten. Dies änderte sich mit Leo XIII., der die Kirche „aus der geistig-kulturell-politischen Isolation“ herausführte und „tragfähige Brücken“ zur modernen Gesellschaft und zum damaligen Staat zu bauen suchte. Der erste Schritt dazu war die Enzyklika Libertas praestantissimum (1888), in der er die Neutralität der Kirche gegenüber den verschiedenen Staatsformen erklärte. Dies richtete sich vor allem gegen den französischen „Traditionalismus“, der die monarchische Staatsform als „gottgegeben“ vertrat. Die Kirche lehne „keine der vielen verschiedenen Formen ab, die eine Regierung haben kann, solang sie nur geeignet ist, das Wohl der Bürger zu sichern“18. Es bedurfte freilich noch längerer Zeit, bis sich die Kirche vom problematischen Ziel eines „katholischen Staates“ (in den konfessionell katholischen Staaten) trennte und die religiös-weltanschauliche Neutralität des demokratischen Verfassungsstaates voll akzeptierte.19 Dies geschah ohne Einschränkung erst in der Enzyklika Pacem in terris (1963) Johannes’ XXIII. und durch die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit. Die Erfahrungen mit den totalitären Gesellschaftsideologien des Faschismus, des Nationalsozialismus und des marxistischen Sozialismus haben die Kirche immer deutlicher und nachdrücklicher zu einer Befürwortung des demokratischen Verfassungsstaates geführt. Dies wird erstmals in verschiedenen Ansprachen Pius’ XII., insbesondere in seiner Weihnachtsbotschaft von 1944, deutlich und kommt mit der Enzyklika Pacem in terris Johannes’ XXIII. (1963), in der an 35 Stellen Pius XII. zitiert wird, sowie der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) voll zum Durchbruch. Aus dem Prinzip, wonach stets die menschliche Person als „Wurzelgrund [ . . . ], Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen“ (GS 25,1) anzusehen ist, entscheiden sich die Dokumente der jüngeren kirchlichen Sozialverkündigung eindeutig für eine rechtsstaatlich-freiheitliche Staatsverfassung (vgl. dazu besonders PT 60 – 79; GS 31,3; 73 – 75). Die kirchliche Sozialverkündigung stellt hierzu unmissverständlich fest: Jeder Mensch hat „aus sich Rechte und Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen. Wie sie allgemein gültig und unverletzlich sind, können sie auch in Vgl. dazu näher Anton Rauscher, Kirche und Demokratie, a. a. O., S. 5 – 8. Ebd. S. 9. 19 Vgl. Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 104 (1987), S. 299 – 336. 17 18
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keiner Weise veräußert werden“ (PT 9). Aus der Tatsache, „daß die Menschen in unserer Zeit sich immer mehr ihrer eigenen Würde bewußt“ würden, folgt für Johannes XXIII., dass sie sich „dadurch angetrieben fühlen, aktiv am öffentlichen Leben teilzunehmen und darauf zu bestehen, daß die eigenen, unverletzlichen Rechte in der Ordnung des Staatswesens gewahrt bleiben. Überdies fordern die Menschen heute, dass die Träger der Staatsgewalt gemäß den in der Verfassung des Staatswesens festgelegten Richtlinien gewählt werden und daß sie ihre Ämter in den dort bestimmten Grenzen ausüben“ (PT 79). Die Kirche könne zwar „keine wirtschaftlichen und politischen Systeme oder Programme“ vorlegen, „noch zieht sie die einen den anderen vor, wenn nur die Würde des Menschen richtig geachtet und gefördert wird“ (SRS 41,1). Aus diesem hochbedeutsamen Konditionalsatz ergibt sich eindeutig: Dort, wo politische und wirtschaftliche Systeme die Freiheit oder andere Menschenrechte bedrohen, hört die „Systemtranszendenz“ der Kirche auf. Wenn die Kirche „über den Systemen“ steht, dann bedeutet dies nicht ethische Neutralität gegenüber den Regierungsformen. Die rechtsstaatliche, also vorstaatliche Menschenrechte respektierende Demokratie (und nur diese) ist ein eindeutiges „Zielgebot“. Zwar gilt immer die Einschränkung, dass der „augenblickliche Zustand und die Lage eines jeden Volkes in Betracht gezogen werden“ müssen (PT 68; vgl. auch GS 31,3; 74,6), also konkrete geschichtliche Hindernisse auf dem Weg zur Demokratie zu berücksichtigen sind, ohne jedoch das Zielgebot abzuschwächen.20
3. Centesimus annus: Die Gefahr einer „Demokratie ohne Werte“
Der demokratische Verfassungsstaat mit seinem Bekenntnis zu unveräußerlichen Menschenrechten gerät jedoch dann in eine Krise, wenn sich die Staatsbürger nicht mehr seiner anthropologischen Voraussetzungen bewusst sind. Dies ist dann der Fall, wenn man „der Behauptung“ zuneige, „der Agnostizismus oder der skeptische Relativismus seien die Philosophie und die Grundhaltung, die den demokratischen und politischen Formen entsprechen. Und alle, die überzeugt sind, die Wahrheit zu kennen und an ihr festzuhalten, seien vom demokratischen Standpunkt her nicht vertrauenswürdig, weil sie nicht akzeptieren, daß die Wahrheit von der Mehrheit bestimmt werde“ (CA 46,2). Ein so verstandenes demokratisches Mehrheitsprinzip biete dann kein Hindernis mehr gegen eine möglicherweise die Menschenrechte verletzende „Diktatur“ der Mehrheit, „wenn es keine letzte Wahrheit gibt, die das politische Handeln leitet und ihm Orientierung gibt“. Insofern verwandle sich „eine Demokratie ohne Werte [ . . . ] leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus“ (CA 46,2).21 Deshalb sei eine „wahre Demokratie“ nur „in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich“ (CA 46,2). Johannes Paul II. verweist dabei vor allem auf jene unverzichtbaren Menschenrechte, deren „ausdrückliche Anerkennung [ . . . ] der Demokratie eine glaubwürdige und solide Grundlage geben“. Er erinnert daran, wie schnell der Staat totalitär entarten kann, wenn die Würde des Menschen einem relativistischen 20 Vgl. ausführlicher Lothar Roos, Steht die katholische Soziallehre über den Gesellschaftssystemen?, in: Christliche Soziallehre unter verschiedenen Gesellschaftssystemen, hrsg. von Anton Rauscher, Köln 1980, S. 11 – 37. 21 Vgl. dazu Karl Jüsten, Ethik und Ethos der Demokratie. Ansatz und Anspruch einer „wahren Demokratie“ gemäß Centesimus annus, Paderborn u. a. 1999.
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Wahrheitsverständnis ausgeliefert wird. Der Mensch sei „Subjekt von Rechten, die niemand verletzen darf: weder der einzelne, noch die Gruppe, die Klasse, die Nation oder der Staat. Auch die gesellschaftliche Mehrheit darf das nicht tun“ (CA 44,2). Das „System der Demokratie“ ist dann, aber auch nur dann zu befürworten, wenn es jene „letzte Wahrheit“ respektiert, aus der Würde und unveräußerliche Rechte der Menschen hervorgehen (vgl. CA 46,2). Der Hauptbeitrag der Sozialenzykliken zur anthropologischen Begründung der rechtsstaatlichen Demokratie besteht also in ihrem Eintreten für eine transzendente Verankerung und Begründung der Menschenrechte und der sich daraus ergebenden Aufgaben des Rechtsschutzes und der Rechtshilfe. Vor diesem Hintergrund setzte sich bereits die in Frankreich entstandene „Christliche Demokratie“ insbesondere für die von der „liberalen“ Demokratie lange vernachlässigten Rechte der Arbeiter ein.22 Seit Pacem in terris und dem Zweiten Vatikanischen Konzil bekennt sich die Kirche zum demokratischen Pluralismus, sofern er an einem vorstaatlichen Verständnis der Menschenrechte, insbesondere auch der Religionsfreiheit, festhält.
III. Die kirchliche Sozialverkündigung vor neuen Herausforderungen Überblickt man die Dokumente der kirchlichen Sozialverkündigung von Rerum novarum bis zu denen Benedikts XVI., dann zeigt sich, dass es immer wieder gelungen ist, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Neben den sozialen und politischen Problemstellungen wird es für die Zukunft entscheidend darauf ankommen, auch die kulturethischen Voraussetzungen einer menschenwürdigen Gesellschaft in den Vordergrund zu stellen. Im Zentrum steht dabei die Erschütterung des modernen „Fortschrittsglaubens“ und die damit verbundene Wert- und Sinnkrise. Als Leitidee der Neuzeit kann man die Hoffnung des Menschen bezeichnen, sich mit Hilfe seiner Vernunft aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) zu befreien und so seine wahre Identität zu finden. Der Nährboden des sich allmählich zum herrschenden Bewusstsein verdichtenden Fortschrittsdenkens waren zunächst die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und deren Anwendung in der Technik. Dann erfolgte die Übertragung des naturwissenschaftlich-technischen Paradigmas auf die Sozialwissenschaften, insbesondere in der Sozialphilosophie des Wirtschaftsliberalismus, der den „Wohlstand der Nationen“ versprach, sofern man nur dem „Naturgesetz“ der Freiheit auf allen Märkten Raum gebe. Im Bereich der politischen Philosophie glaubte man, dass durch die Abschaffung des Feudalismus (Französische Revolution) und die Etablierung einer absoluten Volkssouveränität die „Herrschaft von Menschen über Menschen“ (Jean-Jacques Rousseau) endgültig der Vergangenheit angehöre. Die zentrale Kategorie der neuzeitlichen Geistesgeschichte ist also die quasi naturgesetzliche autonome Entfaltung der menschlichen Freiheit mit Hilfe der Philosophie, der Natur- und Sozialwissenschaften und deren Anwendung in Technik, Ökonomie und Politik. Aber seitdem auf diesem Fortschrittspfad nicht nur Nützliches und Gutes, sondern mehr und mehr auch Bedrohliches bis hin zur Selbstzerstörung der Menschheit möglich und zum Teil bereits wirklich geworden ist, lassen sich Wert- und Sinnfragen aus dem Konzept der öffentlichen Vernunft nicht mehr ausklammern. Sonst 22
Vgl. Hans Maier, Zur Frühgeschichte der Christlichen Demokratie, 5. Aufl., Freiburg 1988.
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besteht die Gefahr, dass an die Stelle der Selbstentfaltung des Menschen seine Selbstentfremdung tritt.23 Dabei hat bereits Gaudium et spes auf den eigentlichen Kern dessen hingewiesen, was die Kirche den Menschen vermitteln will, wenn sie die „Entfremdung“ überwinden und zur wahren „Identität“ gelangen wollen: Wenn sich die Menschen auf die nur im Glauben an Jesus Christus letztlich zu beantwortende Sinnfrage einlassen, dann „wird klarer in Erscheinung treten, daß das Volk Gottes und die Menschheit, der es eingefügt ist, in gegenseitigem Dienst stehen, so daß die Sendung der Kirche sich als eine religiöse und gerade dadurch höchst humane erweist“ (GS 11,3). Das Humanum kann also erst im Licht Christi voll ausgeleuchtet werden. Das eigentliche Geschenk der Kirche an die Welt ist „Christus, der neue Mensch“ (vgl. GS 22). Ein Humanismus ohne den Gott der biblischen Offenbarung, ohne Jesus Christus, würde dem Menschen seine „höchste Berufung“ vorenthalten. Diese Einsicht wird von Johannes Paul II., der als Konzilsvater selbst wesentlich an der Ausarbeitung von Gaudium et spes beteiligt war, in seiner Sozialenzyklika Centesimus annus, die er zum 100. Jahrestag von RN schrieb (1991), aufgegriffen. Die kulturethische Grundbotschaft, die sich wie ein roter Faden durch die Enzyklika zieht, lautet: Eine wirklich humane Gesellschaft lässt sich nur auf der Basis eines verbindlichen Ethos errichten. Die sicherste Verankerung eines solchen Ethos liegt in der „transzendenten“ Begründung der Menschenwürde, deren Kern darin besteht, „sichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes“ zu sein (CA 44,2). Dabei ist die letzte Ursache der Selbstentfremdung des Menschen die „Umkehrung von Mitteln und Zielen“, die der Mensch selbst konsumistisch vornehme (CA 41,3). Wer seine Freiheit in einer Weise benutze, in der er nur noch sich selbst kenne, nicht aber seinen Nächsten und noch weniger Gott, stehe in der Gefahr, sich selbst zu verzehren. Verleugne der Mensch die ihm wesenseigene „Fähigkeit zur Transzendenz“, dann werde er auch zur „freien Selbsthingabe“ unfähig und beraube sich damit der tiefsten Möglichkeit seines Menschseins (vgl. CA 39,4). In der Sicht Benedikts XVI. lässt sich eine des Menschen würdige Gesellschaft nur dann aufbauen, wenn Glaube und Vernunft in richtiger Weise miteinander in Beziehung treten. Wenn man darüber nachdenkt, welche problematischen Ziele in der neuzeitlichen Geistesgeschichte als Postulate der „praktischen Vernunft“ ausgegeben wurden, insbesondere auch im Ringen um die Lösung der „sozialen Frage“ im Kontext von Liberalismus und Sozialismus, dann kann man folgendem Satz des Papstes nur Recht geben: „Aber damit die Vernunft recht funktionieren kann, muß sie immer wieder gereinigt werden, denn ihre ethische Erblindung durch das Obsiegen des Interesses und der Macht, die die Vernunft blenden, ist eine nie ganz zu bannende Gefahr“ (DCE 28 a). Von hieraus ist es dann der Katholischen Soziallehre auch möglich, die ökonomischen und politischen Verhältnisse einer der Würde des Menschen verpflichteten Analyse zu unterziehen. Insgesamt gesehen zeigt sich heute immer stärker die Richtigkeit und Wichtigkeit jener vor allem von Johannes Paul II., aber auch von Benedikt XVI., herausgestellten kulturethischen Grundaussage, dass die sicherste Verankerung eines Ethos der Menschenwürde in dessen „transzendenter“ Begründung liegt. Insofern ist es kein Zufall, dass beide Päpste im „Relativismus“ die größte Gefahr für die heutige humane Kultur, insbesondere für den demokratischen Verfassungsstaat, sehen24. Vgl. ausführlicher Lothar Roos, Humanität und Fortschritt am Ende der Neuzeit, Köln 1984. Vgl. auch Lothar Roos, Die Katholische Soziallehre in der Enzyklika Deus caritas est, a. a. O. (vgl. Anm. 2). 23 24
Die Sozialprinzipien der Katholischen Soziallehre Von Ursula Nothelle-Wildfeuer
Die Erkenntnis der personalen Würde des Menschen und ihre Letztbegründung in seiner Gottebenbildlichkeit ist das entscheidende christliche Erbe, das es für die Gestaltung von Welt und Gesellschaft immer wieder neu furchtbar zu machen gilt. Das christliche Verständnis vom Menschen, seiner Personalität und seiner Würde hat notwendigerweise Konsequenzen für die Ordnung und Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens. In der Tradition der christlichen Gesellschaftslehre und Sozialethik haben sich im Blick darauf drei grundlegende Sozialprinzipien herauskristallisiert: das Gemeinwohlprinzip, das Solidaritätsprinzip und das Subsidiaritätsprinzip. Spezifisch sozialethisch ist bei diesen Prinzipien der Bezug „auf das Soziale im eigentlichen Sinne, also auf den Bereich des Institutionellen, auf die zu sozialen Strukturen, Ordnungen, Verhältnissen verfestigte soziale Interaktion“1, woraus sich dann ethisch gesehen der vorrangige Bezug auf die (soziale) Gerechtigkeit ergibt, die es zu realisieren gilt. Derartige Prinzipien geben die „Grundausrichtungen für das Handeln“ an, sind „strukturierungsund verfahrensrelevante Grundsätze“2, die aber noch keine Handlungsanweisung oder Normen für konkrete Situationen darstellen. Die Sozialprinzipien erlauben es, bestehende Verhältnisse und Ideologien kritisch zu betrachten und sie sind Wegweiser in die richtige Richtung. Oswald von Nell-Breuning nennt sie „Baugesetze der Gesellschaft“. Die prononcierte personorientierte Ausrichtung der neueren Katholischen Soziallehre, d. h. ihre „grundsätzliche Hinordnung auf den Menschen als Person“3 – manche Sozialethiker sprechen deswegen vom Personalitätsprinzip als dem ersten Sozialprinzip –, ermöglicht ihr in der aktuellen Theoriedebatte die Formulierung und Begründung der Prinzipien in einer Art und Weise, die einerseits der Tradition verpflichtet ist, die aber andererseits die mit der neuscholastisch-naturrechtlichen Argumentation gegebene Gefahr des naturalistischen Fehlschlusses vermeidet und sich damit als anschlussfähig an die außertheologische Debatte erweist.
I. Gemeinwohl In Folge von Aufklärung und Liberalismus hatte sich über nahezu zweieinhalb Jahrhunderte die von Adam Smith für das Marktgeschehen formulierte Einsicht als Allgemeingut breit gemacht, dass die Menschen nur ihr jeweiliges Einzelwohl verfolgen müssten, das Gemeinwohl würde sich dann, wie durch eine „invisible hand“ gelenkt, 1 2 3
Anzenbacher (1997), S. 198. Baumgartner / Korff (1999), S. 225 (im Original z. T. kursiv gedruckt). Ebd., S. 232.
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von selbst einstellen. Es wurde allerdings zunehmend deutlich, dass dieser Weg zum Zerfall der Gesellschaft führt; die Bürger wissen und merken, dass es bei aller Unterschiedlichkeit ihrer individuellen Interessen eines gewissen Grundbestands an Werten und eines gemeinsamen Handelns, das über rechtlich Vorgeschriebenes hinausgeht, bedarf. Es braucht eine fundamentale Einigung darüber, was die Gesellschaft als Ganze zukünftig will, welche Ziele sie verfolgt und was sie zutiefst zusammenhält. Vielfältige Diskurse – jüngst etwa über die Ausrichtung der Familienpolitik und der Stammzellforschung – machen dies deutlich. Damit hat die Rede vom Gemeinwohl wieder hohe Aktualität erlangt. Zugleich sind dies die Fragen, die immer wieder Gegenstand sozialphilosophischer Überlegungen zum Gemeinwohlverständnis (gewesen) sind. 1. Zur Entwicklung des Gemeinwohlbegriffs zwischen materialer und prozeduraler Bestimmung
Der Begriff des Gemeinwohls (lat.: bonum commune; engl.: common good) mit seinen Varianten (u. a. Gemeingut, Gemeinnutz, Gemeinnützigkeit) hat eine rund zweieinhalbtausendjährige Geschichte. Er hat seine ideengeschichtlichen Wurzeln bereits in der griechischen Polis des Aristoteles, wo er eng mit der Idee der Gerechtigkeit verbunden war, sowie dann insbesondere bei Thomas von Aquin. Entscheidend für dessen Gemeinwohllehre ist die Verankerung des säkularen, politischen bonum commune in dem auf eine transzendente Ordnung bezogenen summum bonum sowie die charakteristische naturrechtliche Prägung durch die auf das Wesen des Menschen (natura humana)4 bezogene Fundierung von Ethik und Recht. Im Laufe des Mittelalters bis zur frühen Neuzeit verschiebt sich dieses Verständnis aufgrund des absolutistischen Machtanspruchs des Herrschers.5 Das Schlagwort der „Staatsräson“ etwa erzeugt langfristig die Vorstellung eines Gemeinwohls „von oben“, d. h. eines Definitionsmonopols des Souveräns über den gemeinen Nutzen. Gegenläufig wirkt der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufkommende Liberalismus. Mit der im Zuge der Aufklärung zunehmenden Betonung der individuellen Rechte, der Würde und der Freiheit des Einzelnen verliert der Begriff des Gemeinwohls jede Selbstverständlichkeit, während die Idee des Individualwohls an Bedeutung gewinnt. Als wichtigste Kritiker dieser Zeit gelten aus ökonomischer Perspektive Adam Smith und aus politischer Sicht Immanuel Kant. Spätestens nach seinem ideologischen Missbrauch durch die totalitären Staaten des vergangenen Jahrhunderts wurde der Gemeinwohlbegriff gemieden und schien lange Zeit nur noch in der Katholischen Soziallehre zu existieren. Für diese war das Prinzip des Gemeinwohls seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert von zentraler Bedeutung, so dass sich sowohl in der Sozialverkündigung der Kirche als auch bei verschiedenen Vertretern der Katholischen Soziallehre eine außergewöhnlich intensive Auseinandersetzung mit dem Gemeinwohlbegriff findet, die sich inhaltlich weitgehend der antikmittelalterlichen Denktradition vor allem des Thomas von Aquin verpflichtet weiß. Die aktuelle Sozialethik allerdings scheint in ihren unterschiedlichen Ansätzen dem Gemeinwohlbegriff eine weitaus geringere Bedeutung beizumessen; das Gemeinwohl wird 4 5
Vgl. Summa theologiae I – II. Vgl. Anzenbacher (2008).
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häufig nicht als eigenständiges Prinzip genannt, sondern eher unter das Prinzip der Solidarität subsumiert.6 Im Hintergrund steht hier auch die Problematik, in einer zunehmend individualisierten Welt überhaupt noch eine allgemein verbindliche material-inhaltliche Bestimmung dieses Begriffs geben zu können. Im Unterschied dazu scheint der Gemeinwohlbegriff in verschiedenen außertheologischen Kontexten neu in Mode zu kommen. Spätestens seit der Debatte zwischen Liberalisten und Kommunitaristen Anfang der 1980er-Jahre hat er auch in den akademischen Diskurs wieder Eingang gefunden. Dabei geht eine Entwicklungslinie weg von einem prozeduralistischen hin zu einem materialen Gemeinwohlverständnis, das jedoch nicht mit einem substanzialistischen Konzept, das die Existenz eines objektiven, gar transhistorischen Gemeinwohls unterstellt, verwechselt werden darf.7
2. Struktur und Inhalt: Gemeinwohl im Verhältnis von Person, Gesellschaft und Staat
a) Bedeutungsdifferenzierungen (1) In seiner klassischen Definition wird das Gemeinwohl verstanden als Inbegriff der Mittel und Chancen, die in sozialer Kooperation bereitzustellen sind, damit „die einzelnen, die Familien und gesellschaftlichen Gruppen“ ihre eigenen Werte und Ziele „voller und schneller erreichen“8 können. Es geht dabei nicht nur um die Vervollkommnung des Einzelnen, sondern auch um die unterschiedlicher Gruppierungen. Außerdem ist bedeutsam, dass das Gemeinwohl nicht die Summe aller Werte beinhaltet, sondern nur jener Werte, die Voraussetzung dafür sind, dass alle ihre Werte verwirklichen können. Dies meint vor allem Strukturen, Institutionen und soziale Systeme. Das Gemeinwohl wird hier als Dienstwert (O. v. Nell-Breuning) verstanden, man spricht von einem instrumentellen Gemeinwohlbegriff (A. Anzenbacher). Das Gemeinwohl steht somit im Dienste der menschlichen Person: „Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre [sc. die Soziallehre der Kirche. Anm. d. Verf.] muss der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein.“ (MM 219) (2) Im Unterschied zu diesem „exklusiven“ gibt es den „inklusiven“ Gemeinwohlbegriff, der das Gemeinwohl als Ziel der Gesellschaft, sofern sie eine eigenständige Größe darstellt, formuliert. Dieser Gemeinwohlbegriff begründet das Dass der Gesellschaft überhaupt. Gemeinwohl meint „den durch Zusammenwirken aller Glieder zu verwirklichenden Wert oder Inbegriff von Werten oder, was sachlich dasselbe ist, das ihnen allen gemeinsame Wohl “9, „also das personale Wohl aller Gesellschaftsglieder, sofern es nur in sozialer Kooperation erstrebt werden kann“10. Hier hat das Gemeinwohl Selbstwertcharakter. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Gemeingut „ein irgendwie freiVgl. hierzu die Systematik bei Anzenbacher (1997); Korff / Baumgartner (1999). Vgl. H. Münkler, Gute Politik in der modernen Gesellschaft, in: Fabricius-Brand, M. / Börner, B. (Hrsg.), 4. Alternativer Juristinnen- und Juristentag. Dokumentation, Baden-Baden 1996, S. 15 – 30. 8 GS 74; vgl. ebenso: GS 26, DH 6 sowie schon MM 65, PT 58. 9 O. von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien 1980, S. 35. 10 Anzenbacher (1997), S. 201. 6 7
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schwebendes Gut“11 darstellt, das gänzlich unabhängig von den Mitgliedern der Gesellschaft existiert, sondern es schließt die Selbstzweckhaftigkeit der Personen ein. Das Gemeingut ist somit im strengen Sinn ein „personhaftes“ Gut, das „von allen Gliedern des gesellschaftlichen Gebildes als für sie wertvoll bejaht und erstrebt wird [ . . . ], das letzten Endes eine Bereicherung, Vervollkommnung oder Werterhöhung aller Glieder des gesellschaftlichen Gebildes bedeutet.“12 Zur Unterscheidung vom Gemeinwohl als Dienstwert wird darum das Gemeinwohl als Zielwert häufig als Gemeingut bezeichnet, beides gehört aber untrennbar zusammen. In diesem Sinn versteht Gustav Gundlach unter Gemeinwohl „sowohl einen Zustand als auch alle unmittelbar auf die Herbeiführung, Erhaltung und Verbesserung dieses Zustands zielenden äußeren Maßnahmen im gesellschaftlichen Leben.“13 In diesem Kontext ist auch die vor allem in der Tradition anzutreffende Regel vom Vorrang des Gemeinwohls vor dem Einzelwohl zu verorten, der allerdings nur gilt, „insofern und insoweit der Mensch als Glied einem bestimmten Sozialgebilde verpflichtet ist“14, also etwa als Mitarbeiter dem Unternehmen, als Staatsbürger dem Staat etc. Letztlich bleibt diese Regel nur angemessen verstehbar, wenn sie wiederum dem obersten Grundsatz von der Mittelpunktstellung der menschlichen Person verpflichtet ist. Das bedeutet jedoch in keiner Weise eine Funktionalisierung des einzelnen Menschen, sondern vielmehr wird damit verdeutlicht, dass Partikular- und Sonderinteressen hinter dem gesamtgesellschaftlichen Wohl zurückzutreten haben. Wenn das gemeinsame Sozialwort der beiden Kirchen Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit von 1997 im Blick auf die Gefahr, dass partikulare Gruppeninteressen die Entwicklung einer sozial, ökologisch und global gerechten Wirtschaftsordnung verhindern könnten, den absoluten Vorrang des Gemeinwohls in allen das nationale und globale Gemeinwohl betreffenden Belangen fordert, dann zeigt das die Aktualität dieser Regel (vgl. Nr. 2, 12, 23, 237 – 242). b) Gemeinwohlautorität und Staat Ein zentrales Strukturelement des Gemeinwohls als Dienstwert ergibt sich aus der anthropologischen Erfahrung, dass die Glieder der Gemeinschaft die gemeinsamen Ziele und Werte zwar theoretisch bejahen, sich aber immer wieder deren praktischen Konsequenzen zu entziehen suchen – dies umso mehr, je weltanschaulich pluralistischer und zahlenmäßig umfangreicher eine Gesellschaft wird: Es geht folglich um die Notwendigkeit einer letztverbindlichen Gemeinwohlautorität, die für die Beachtung und Realisierung dieses Gemeinwohls sorgt. Diese Notwendigkeit gilt sicher prinzipiell für jedes soziale Gebilde, aber gewöhnlich wird der Begriff des Gemeinwohls fokussiert auf die Gesellschaft, deren Gemeinwohl und den Staat als die dementsprechende Gemeinwohlautorität. Die Einheit einer Gesellschaft als Voraussetzung für die Entfaltung 11 O. von Nell-Breuning, Art. Gemeingut, Gemeinwohl, in: Nell-Breuning, O. von / Sacher, H. (Hrsg.), Wörterbuch der Politik (Zur christlichen Gesellschaftslehre, Bd. 1), 2. Aufl., Freiburg i. Br. 1954, Sp. 51 – 58, hier Sp. 52. 12 Ebd. 13 G. Gundlach, Art. Gemeinwohl, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 3, 6. Aufl., Freiburg i. Br. 1959, Sp. 737 – 740, hier Sp. 737. 14 J. Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, hrsg., bearb. u. ergänzt von L. Roos, Kevelaer 1997 (1962), S. 54.
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ihrer Glieder ist nur möglich, wenn es ein letztverbindliches Prinzip der Einheit dieser Gesellschaft gibt. Die Gemeinwohl- bzw. staatliche Autorität besteht demnach in dem „Recht, eine Gesellschaft zum Gemeinwohl zu leiten“ (Johannes Messner) und zugleich in der nötigen Macht, das Gemeinwohl gegen widerstreitende Einzelne oder Gruppen durchzusetzen. Dieser Auffassung zufolge ist der Staat der Diener der Gesellschaft, betraut mit eben dieser Gemeinwohlaufgabe. Die Konstitution der Gemeinwohlautorität darf gemäß der Sozialenzyklika Centesimus annus von 1991 nur in Rückbindung an ein Ethos erfolgen, das sowohl sie als auch alle Bürger verpflichtet und sich auf die transzendente Wahrheit vom Menschen gründet, ohne die die Gefahr der Durchsetzung von Eigeninteressen und des Triumphs der Gewalt besteht (vgl. CA 44). Diese staatliche Sorge für das Gemeinwohl muss in einer demokratischen rechtsstaatlichen Ordnung in der Verfassung grundgelegt und näher bestimmt sein. Dem Staat kommen dabei drei Aufgaben zu: (1) Hervorbringung der für alle verbindlichen Rechtsordnung, die gemäß dem Verständnis vom Menschen als Person und vom Gemeinwohl sich letztlich auf die universal gültigen Elemente beziehen muss bzw. nichts enthalten darf, was diesen widerspricht. (2) Sicherung dieses Rechtsraums der staatlich geordneten Gesellschaft und dessen Schutz gegen Bedrohung von außen und innen. Dazu bedarf der Staat der Staatsmacht, d. h. militärischer und polizeilicher Gewalt. (3) Ergreifung notwendiger sozialstaatlicher Maßnahmen zur Sicherstellung des materiellen Wohlergehens aller Glieder des Staates. Recht, Macht und Wohlfahrt sind also die Grundelemente des staatlichen Gemeinwohls als Dienstwert. Wenn auch der Staat die zentrale Institution zur Umsetzung des Gemeinwohlgedankens ist, so ist er dennoch zunehmend nicht mehr allein dafür verantwortlich, sondern in wachsendem Maße sind es auch nicht-staatliche, gesellschaftliche Organisationen im intermediären Bereich (Zivilgesellschaft). c) Konstitutive Inhalte Im Blick auf das Gemeinwohl als Zielwert erweist sich folgender Gedanke als zentral: Einerseits herrscht in den zeitgenössischen Überlegungen die weit verbreitete Überzeugung, dass sich unter den Bedingungen neuzeitlich-modernen Denkens und mit Blick auf pluralistische und individualisierte Gesellschaften keine inhaltlich gefüllte, gemeinsame und allgemein verbindlich zu machende Vorstellung des guten oder gelingenden Lebens mehr entfalten lässt, an die sowohl das politische Gemeinwesen als auch das Individuum gebunden wäre. Andererseits artikuliert sich in der Rede vom Gemeinwohl die gegenwärtig höchst aktuelle Erkenntnis, dass menschliches Zusammenleben in der Gesellschaft nur dann gelingen kann, wenn es zumindest einen Minimalkonsens im Blick auf bestimmte unverzichtbare Grundlagen des wertgebundenen Zusammenlebens der Glieder einer Gesellschaft gibt. Gerade für die in dieser Spannung anstehende Vermittlung zwischen den Fragen der Gerechtigkeit und des guten Lebens ist es von großem Interesse, dass sich das Menschenrechtsethos, das als das ethische Projekt der Moderne gilt, den entsprechend begründenden Optionen der jüdisch-christlichen Tradition verdankt, also dem Imago-Dei-Gedanken und der „Freiheit der Kinder Gottes“15. 15
Vgl. Anzenbacher (1997), S. 29 und S. 93.
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Verschwindet nun, wie die Theorie der Moderne es nahe legt, diese Fundierungsstruktur zusehends, dann ist auch das gesamte Projekt der Moderne selbst vom Verschwinden bedroht.16 Das bedeutet: 1. Die christliche Sozialethik mit ihrer genuinen Betonung der Menschenwürde als fundamentalem Grundwert hat einen entscheidenden, spezifischen und unverzichtbaren Beitrag zur Bestimmung des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls zu leisten. 2. Die Rede vom Gemeinwohl als Zielwert bedeutet in keiner Weise eine Fixierung auf ein statisches, integrales und essentialistisches Verständnis von Gesellschaft und ihrem Gemeinwohl. Es geht ausschließlich darum zu zeigen, dass ohne den zumindest impliziten Rekurs auf einen Grundkonsens bezüglich der Frage, warum überhaupt Gesellschaft sein soll und welches ihr vorrangiges Ziel ist, gesellschaftliches Zusammenleben nicht gelingen kann. Aufs Engste mit dem Zielwert der menschlichen Würde verbunden, stellen die Rechte und Pflichten der Menschen fundamentale und unverzichtbare Elemente des Gemeinwohls dar. Den in der klassischen Soziallehre als konstitutive Elemente des Gemeinwohls bezeichneten Institutionen wie Familie, Staat und Eigentum kommt gerade im Blick auf ihre Relevanz für die Sicherung der Existenz und sittlichen Integrität des Menschen ebenfalls konstitutive und bleibende Bedeutung zu, gleichwohl deren jeweilige Ausgestaltung kontextbezogen sehr unterschiedlich sein kann. Das Gemeinwohl erhält durch diesen Rekurs auf die menschliche Würde eine unverzichtbare, aber bei weitem noch nicht hinreichende Bestimmung. Vielmehr sind jeweils entscheidend – vor allem für sein Verständnis als Dienstwert – gesellschaftsspezifische, insbesondere kulturell und geschichtlich gewachsene Aspekte, die mit zum jeweiligen nationalen Gemeinwohl gehören. Angesichts zunehmender Globalisierung und weltweiter Vernetzung, aber auch angesichts der gemeinsamen Probleme von Frieden, Sicherheit, ökonomischem und ökologischem Überleben, zeigt sich darüber hinaus gegenwärtig immer drängender im Blick auf das Ziel der Daseinssicherung des Menschen die Notwendigkeit eines Gemeinwohlverständnisses, das die internationalen und globalen Aspekte einbezieht. Ein universales, menschheitliches Gemeinwohl ist immer notwendiger eine Entfaltung der Gemeinwohlidee, die der heutigen Realität entspricht; bereits seit der Sozialenzyklika Mater et magistra von Johannes XXIII. (1961) ist dies eine Forderung der Katholischen Soziallehre. Damit wird allerdings keineswegs ein staatliches Gemeinwohl überflüssig; menschheitliches Gemeinwohl kann nicht gegen oder ohne das Gemeinwohl der Einzelstaaten verwirklicht werden. Die großen Zukunftsfragen der Völkergemeinschaft – die Bewahrung von Frieden und Sicherheit, die effektive Durchsetzung der Menschenrechte für jeden, der Kampf gegen Hunger und Krankheit, gegen Terrorismus und Fanatismus, die Sorge um die Weltökologie und die ökonomischsoziale Weltentwicklung – können nur durch eine intakte Völkergemeinschaft, deren Mitglieder sich ihrer Geschichte und ihrer Eigenart bewusst sind, gelöst werden.
d) Der Gemeinsinn Eine christliche Sozialethik, die ihrer Tradition gemäß sowohl die struktur- als auch die tugendethischen Aspekte bedenkt, bezieht in ihre Bestimmung des Gemeinwohlbegriffs als konstitutives Element den „Gemeinsinn“ als die auf das Gemeinwohl hin 16
Vgl. ebd.
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orientierte und ihm gerecht werdende Haltung mit ein, die grundlegend besteht in der Bejahung und Pflege all jener Werte und Güter, die den Inhalt des Gemeinwohls und die für seine Sicherung notwendigen Institutionen betreffen. Solcher Gemeinsinn wird z. B. dort konkret, wo Menschen sich (ehrenamtlich bzw. bürgerschaftlich) engagieren für die Gesellschaft, wo sie nicht fragen was der Staat für sie, sondern was sie für den Staat bzw. für die Gesellschaft tun können, wo sie mit ihrem Tun Gemeinschaft stiften und damit das Gemeinwesen zu ihrem Anliegen machen. Für die Herausbildung solchen Gemeinsinns kommt den Familien, aber auch den Schulen, Kirchen und anderen gesellschaftlichen Gruppierungen wie Parteien etc. eine wichtige Funktion im Blick auf die Werteerziehung zu. Gegenwärtig bekommt diese Betonung des Gemeinsinns noch Unterstützung aus ganz anderer politisch-philosophischer Perspektive: Die Kommunitaristen etwa rücken angesichts der Krise der liberalen Gesellschaft, deren „Bestände eines überkommenen Gemeinsinns, von denen sie für Jahrhunderte zehren konnte, deutliche Zeichen von Erschöpfung zeigen“17, die „Anleitung zu einer politisch-philosophischen Rückbesinnung auf die Wirklichkeit des Basiskonsens, der die notwendige Grundlage pluralistischer Gesellschaften bildet“18, in das Zentrum der Überlegungen. Sie betonen die wachsende Bedeutung der einzelnen Gemeinschaften und Gruppierungen als Orte der Identitätsbildung und damit auch der Ethosbildung und -vermittlung. Die damit eng verbundene Theorie der Zivilgesellschaft19 impliziert den Appell an das Moralempfinden und -bewusstsein der Bürger, an die Zivilität, an den Bürgersinn. In einem sehr allgemeinen Sinn sind damit Bürgerstolz, Toleranz, Teilnahme, zivilisiertes Verhalten, Zivilcourage, mithin entsprechende – im spezifischen Sinn – „bürgerliche“ Tugenden gemeint, ohne die die Realisierung des Gemeinwohls nicht möglich ist.
3. Konkretionen: Gemeinwohl versus Gruppeninteressen?
In der gegenwärtigen politischen Debatte wird vor allem dann auf das Gemeinwohl hingewiesen, wenn es darum geht, tatsächliche bzw. vermeintliche Gruppenegoismen im Namen des Gemeinwohls zurückzuweisen. Geradezu „klassisch“ ist etwa der in Tarifauseinandersetzungen immer wieder erhobene Vorwurf, dass gewerkschaftliche Lohnforderungen gesamtwirtschaftlich gesehen unverantwortlich und damit gemeinwohlschädlich seien. In jüngster Zeit haben Streiks einzelner Beschäftigungs- bzw. Berufsgruppen (Piloten [Vereinigung Cockpit]; Ärzte [Marburger Bund]; Lokomotivführer [GdL]) mit ihren zumindest prima vista äußerst hohen (Gehalts-)Forderungen dieser Diskussion über Tarifautonomie und Gemeinwohl neuen Auftrieb gegeben. Tatsächlich wirken sich Tarifvereinbarungen immer auch über den Kreis der Tarifpartner und ihrer jeweiligen Mitglieder hinaus gesamtgesellschaftlich aus. Weil die Tarifpartner aber primär die Interessen ihrer Mitglieder im Auge haben, ist eine Kollision der jeweiligen Gruppeninteressen mit Gemeinwohlbelangen grundsätzlich möglich. Es ist die Aufgabe des Staates, primär des Gesetzgebers, im Hinblick auf berechtigte 17 H. Dubiel, Von welchen Ressourcen leben wir?, in: Teufel, E. (Hrsg.), Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?, Frankfurt a. M. 1996, S. 79 – 88, hier S. 79. 18 W. Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus?, Frankfurt a. M. 1994, S. 10. 19 Vgl. Nothelle-Wildfeuer (1999).
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Gemeinwohlinteressen den Tarifpartnern gegebenenfalls Schranken zu setzen. Hierbei ist aber im Sinne einer „Schranken-Schranke“ zu beachten, dass die Tarifautonomie von ihrem Entstehungszusammenhang her eine „marktwirtschaftliche Abstammung“ hat und „keineswegs ein sozialistisches Kuckuckskind“ ist. „Durch den Tarifvertrag ist das Prinzip der Privatautonomie auf dem Arbeitsmarkt nicht beseitigt, sondern durchgesetzt worden. Denn erst die vereinigte Verhandlungsmacht und Kampfstärke der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerseite stellte das unerlässliche Gegengewicht zu der wirtschaftlichen Stärke der Arbeitgeber bei den Vertragsverhandlungen über die Lohnund Arbeitsbedingungen her.“20 Gerade also, um das Gemeinwohl, zu dem wesentlich auch die Entfaltung der Freiheit und der Autonomie des Einzelnen gehört, garantieren zu können, bedarf es des Instruments der Tarifautonomie – und dies gilt angesichts eines immer noch bestehenden ökonomischen Ungleichgewichts der Arbeitsvertragsparteien auch heute noch. II. Solidarität Gegenwärtig findet sich fast keine aktuelle politische Debatte, kein Beitrag zum dringend notwendigen Umbau des Sozialstaates, aber auch keine Überlegung zur Neuakzentuierung ehrenamtlichen bzw. bürgerschaftlichen Engagements ohne Verweis auf die Bedeutung der Solidarität. Schaut man aber genauer hin, so wird offenkundig, dass der Begriff der Solidarität zu einem „Containerbegriff“ geworden ist, der je nach Intention und Kontext nahezu beliebig gefüllt wird. Umso bedeutsamer ist es, Solidarität als Sozialprinzip, wie es im Kontext der Katholischen Soziallehre Bedeutung erlangt hat, genauer in den Blick zu nehmen. 1. Zur Geschichte des Solidaritätsbegriffs21
Etymologisch hat der Begriff der Solidarität seine Wurzeln in der römischen Rechtssprache (lat. solidum). Semantisch kann er in einem weiten Sinn bereits bei dem republikanischen Konzept des Aristoteles anknüpfen, demzufolge sich Zusammenhalt und Bestand der Polis auf der Sozialmoral, d. h. auf der Tugend der Freundschaft der freien Bürger gründen. Auch das Alte Testament beinhaltet eine Fülle von sozialen Zusammenhängen, in denen es um Rechte und Pflichten gegenüber dem Armen, Fremden und Unterdrückten geht. Eine wichtige Dimension alttestamentlicher Anthropologie ist geradezu die solidarische Bindung innerhalb der Gemeinschaftsformen Familie, Sippe, Stamm und Volk. Neutestamentlich entsteht Solidarität aufgrund des Glaubens und des Lebens aus ihm. Die beispiellose Entgrenzung der Solidaritätsidee in dem Modell einer bis zur Feindesliebe radikalisierten christlichen caritas ist dabei letztlich soteriologisch begründet: „Alle, die sich zu dem von Gott erwählten Mittler bekennen, werden mit ihm solidarisch im Heil; damit wird zugleich die Solidarität mit Adam im Fluch aufgehoben.“22 Letzt20 A. Küppers, Gerechtigkeit in der modernen Arbeitsgesellschaft und Tarifautonomie (Abhandlungen zur Sozialethik, Bd. 50), Paderborn u. a. 2008, S. 472. 21 Vgl. zur Ideengeschichte ausführlicher Nothelle-Wildfeuer / Küppers (2008a). 22 J. Schabert, Art. Solidaritätsprinzip. I. In der Schrift, in: LThK, Bd. 9, 2. Aufl., Freiburg i. Br. 1964, Sp. 864 f., hier Sp. 865.
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lich wird alle Solidarität auf menschlicher Ebene überboten durch die vollkommenste Verwirklichung der Solidarität in Jesus Christus als dem Mittler des Heils zwischen Gott und den Menschen. In der christlich geprägten (mittelalterlichen und frühneuzeitlichen) Geschichte Europas begegnet der Begriff der Solidarität kaum, dennoch sind Lebensräume und Strukturen, vor allem Einrichtungen für Arme, Kranke und Reisende weithin nach den Erfordernissen der Solidarität und der christlichen Nächstenliebe gestaltet.23 Seine eigentliche Prägung aber hat der Begriff der Solidarität erst in der Moderne erfahren. Man kann sogar sagen, in seinen heutigen Konturen stellt er eine Reaktion auf die Entwicklung der Moderne dar. Eine zentrale Rolle für die Profilierung des Solidaritätsbegriffs spielten dabei der Zerfall der mittelalterlichen Ständegesellschaft und die Entwicklung einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die von der Philosophie der Aufklärung proklamierte Autonomie des moralischen Subjekts ließ die Bedeutung von Gemeinschaftswerten und Traditionen im öffentlichen Bewusstsein zurücktreten. Die Folge war, dass soziale Bindungen bisweilen nur noch als rationale Vertragsverhältnisse interpretiert wurden und insbesondere im Wirtschaftsleben weithin der Geist eines rücksichtslosen Individualismus kultiviert wurde. Der Solidaritätsbegriff formiert sich nun einerseits im „Widerstand“ gegen diesen individualistischen Geist und seine Konsequenzen: Im Kontext der Französischen Revolution etwa wird der Begriff der solidarité zunehmend für die Revolutionsparole fraternité benutzt. Er meint dabei die sozialreformerische Entwicklung von der alten Armenhilfe hin zu einem neuen Unterstützungsrecht. P. Leroux, der französische Philosoph und als christlicher Sozialist bezeichnete Schüler Saint-Simons ist es, der den Begriff im 19. Jahrhundert in seiner neuen ethischen Bedeutung explizit in die Philosophie einführt und in deutlicher Abgrenzung von christlicher Mildtätigkeit und Barmherzigkeit von der wechselseitigen Solidarität der Menschen spricht. Bis in den aktuellen Diskurs hinein wird die Entwicklung der Moderne zu einer Kultur, in der der Autonomie des Individuums der höchste Wert beigemessen wird, als problematisch gewertet, denn in dieses Paradigma füge sich offenkundig die Idee der Solidarität nur schwer ein. Sie lasse sich nämlich nur dort theoretisch entfalten, wo nicht die Idee vom autonomen Individuum den ausschließlich relevanten Wert darstellt, sondern wo die wesensmäßige Verbundenheit der Menschen untereinander als autonome Individuen, ihre personale Grundstruktur und damit gegebene Einbindung in die sozialen Strukturen eine unverzichtbare Voraussetzung aller Theorie ist.24 Eine solche Struktur findet sich wesentlich im Kontext der christlichen Anthropologie, der zufolge die soziale Dimension des Personseins gleichbedeutsam wie die individuale Dimension zur Bestimmung des Menschen hinzugehört und von daher Solidarität möglich und nötig macht. Der Jesuit und Nationalökonom H. Pesch ist es gewesen, der Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Basis dieser solidarischen Verbundenheit aller Menschen untereinander und mit Gott den Solidarismus als Gesellschaftssystem – in Absetzung sowohl vom individualistischen als auch vom kollektivistischen System – konzipierte. 23 Vgl. A. Rauscher, Grundlegung und Begriffsgeschichte des Solidaritätsprinzips, in: ders. (Hrsg.), Die soziale Dimension menschlichen Lebens, Bd. 4, St. Ottilien 1995, S. 1 – 17, hier S. 6. 24 Vgl. K. Bayertz, Die Solidarität und die Schwierigkeiten ihrer Begründung, in: Orsi, G. (Hrsg.), Solidarität (= Rechtsphilosophische Hefte, Bd. 4), Frankfurt a. M. 1995, S. 9 – 16, hier S. 9.
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Andererseits stellt das Bemühen, die Idee der Solidarität nicht im Widerstand gegen sie, sondern innerhalb dieser Entwicklung zu verorten, eine positive Reaktion auf die Entwicklung der Moderne dar. In diesem Kontext ist der Ansatz des französischen Soziologen E. Durkheim mit seiner Unterscheidung zwischen „mechanischer“ und „organischer“ Solidarität zu nennen. Letztere, die erst durch neuzeitliche Differenzierung und Arbeitsteilung entstehe, lebe von der Individualität der Menschen, sie zeige die positive Möglichkeit des Zusammenhangs von gleichzeitig wachsender Individualität und Solidarität.25 In der aktuellen Theoriedebatte ist ganz ähnlich die Rede davon, dass die Autonomie des Individuums und die Befähigung zum selbstorganisierten Leben erst aus der Solidarität, genauerhin aus der rechtlichen Anerkennung, sozialen Wertschätzung und Fürsorge durch die anderen entspringt.26 In ähnlicher Weise formuliert A. Honneth27 im Kontext seines vom Anerkennungsbegriff ausgehenden sozialphilosophischen Ansatzes die Bedeutung der Solidarität. Auf der Ebene des konkreten politischen Handelns bemühten sich unterschiedliche soziale, insbesondere christlich-soziale Bewegungen intensiv, der Idee der Solidarität breite Anerkennung zu verschaffen. Im 20. Jahrhundert reklamierten den Begriff vor allem die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen im Sinne der internationalen Arbeitersolidarität. Die Diskreditierung dieses Gedankens angesichts der realen Unterdrückungsverhältnisse in den Staaten Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg wurde erst aufgebrochen durch die Gründung der oppositionellen Gewerkschaft Solidarnos´c´ 1980 in Polen, die den Begriff der Solidarität politisch rehabilitierte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts berufen sich angesichts globaler Bedrohungen die unterschiedlichsten zivilgesellschaftlichen Gruppierungen auf die Idee der Solidarität und machen sie sich als Motivation für ihre unterschiedlichen Ziele zunutze. Im Kontext der Katholischen Soziallehre spielt die Idee der Solidarität seit ihrer Entstehung eine besondere Rolle: Gerade im christlich-sozialen Kontext ist mit diesem Prinzip der Solidarität nicht ein rein äußerlicher Appell an Hilfsbereitschaft und Gutherzigkeit oder eine aufgesetzte Attitüde gemeint, sondern bei der Solidarität handelt es sich um eins der drei zentralen sozialethischen Ordnungsprinzipien.
2. Struktur und Inhalt: Person-Sein und Universalität
a) Hinordnung auf die Person Das Sozialprinzip der Solidarität setzt philosophisch bei dem Person-Sein des Menschen und der daraus resultierenden wesensmäßigen Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Menschen an, theologisch bei der Würde des Menschen aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit, und bei deren gleichzeitiger realer Ungleichheit. Ausgangspunkt ist die soziale Dimension dieses menschlichen Person-Seins, also die wechselseitige Bezogenheit 25 Vgl. E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, übers. v. L. Schmidts, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1988, S. 82. 26 Vgl. G. Frankenberg, Solidarität in einer „Gesellschaft der Individuen“? Stichworte zur Zivilisierung des Sozialstaates, in: ders. (Hrsg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1994, S. 210 – 223; R. Zoll, Was ist Solidarität heute?, Frankfurt a. M. 2000, S. 199 f. 27 Vgl. A. Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 2003, S. 148 – 211.
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der Personen untereinander und auf die gesamte Gesellschaft, woraus sich dann zugleich die gegenseitige Verpflichtung zum Mit-Sein, zur wechselseitigen Achtung der Menschenwürde ergibt. Es ist gerade die Solidarität, die erst das Person-Sein zu seiner ganzen Fülle entwickelt. O. von Nell-Breuning prägt dazu die für die klassische Katholische Soziallehre charakteristisch gewordene Definition: „Den tatsächlichen Sachverhalt, daß Einzelwohl und Gemeinwohl ineinander verstrickt sind, bezeichnen wir als ,Gemeinverstrickung‘; die normative Aussage, daß Glieder und Ganzes wechselseitig füreinander Verantwortung tragen, als ,Gemeinwohlverhaftung‘.“28 Den gleichen Zusammenhang verdeutlicht J. Habermas in seiner Terminologie: „Moralische Normen“, so Habermas, „können nicht eins ohne das Andere schützen: die gleichen Rechte und Freiheiten des Individuums nicht ohne das Wohl des Nächsten und der Gemeinschaft, der sie angehören.“29 Dieses Prinzip hat der Jesuit H. Pesch am Ende des 19. Jahrhunderts im Entwurf des Solidarismus zum Mittelpunkt und Fundament der Gesellschaftsauffassung der Katholischen Soziallehre gemacht. Damit griff er den Ansatz französischer Sozialphilosophen und Politiker (Ch. Gide u. a.) auf, die sich mit den sozialen Folgen der Industrialisierung und des Kapitalismus auseinandergesetzt hatten und Individualismus und Sozialismus miteinander aussöhnen wollten. Peschs Anliegen mit dem Solidarismus war es, Gemeinwohl und Einzelwohl, Aufgaben und Grenzen staatlicher Interventionen zu einem Ausgleich zu bringen.30 Neben O. von Nell-Breuning ist es vor allem G. Gundlach gewesen, der sich um Vertiefung dieses Ansatzes bemühte. Das dem Solidarismus als Gesellschaftssystem zugrunde liegende Person- und Gesellschaftsverständnis kommt sehr deutlich zum Ausdruck in seiner Auseinandersetzung mit dem Dominikaner E. Welty.31 Während dieser die soziale Anlage und die Ermöglichung der Gemeinschaft auf der Individualität des Menschen aufbaue und damit die Gemeinschaft als Ergänzung des Einzelnen diene, setzt nach Gundlach die „soziale Anlage“ konstitutiv bei der Personalität des Menschen an; der Person als Bild Gottes fehlt demzufolge nichts mehr. Letztlich konnte sich allerdings die Bezeichnung Solidarismus als Synonym für Christliche Gesellschaftslehre nicht durchsetzen.32 Während die klassische Soziallehre das Solidaritätsprinzip als Seins- und Sollensprinzip (Nell-Breuning) bzw. als ontisches und ethisches Prinzip (Höffner) bestimmt, sucht die neuere christliche Sozialethik die damit gegebene Gefahr des Missverständnisses als naturalistischem Fehlschluss zu vermeiden und leitet das Solidaritätsprinzip von seiner „Hinordnung auf den Menschen als Person“33 ab.
Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit, a. a. O., S. 47. J. Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität. Eine Stellungnahme zur Diskussion über „Stufe 6“, in: Edelstein, W. / Nunner-Winkler, G. (Hrsg.), Zur Bestimmung der Moral. Philosophische und sozialwissenschaftliche Beiträge zur Moralforschung, Frankfurt a. M. 1986, S. 291 – 318, hier S. 311. 30 Vgl. Baumgartner (2000), S. 708. 31 Vgl. J. Schwarte, Gustav Gundlach S. J. (1892 – 1963). Maßgeblicher Repräsentant der katholischen Soziallehre während der Pontifikate Pius’ XI. und Pius’ XII. (Abhandlungen zur Sozialethik, Bd. 9), Paderborn 1975, bes. S. 347 – 349. 32 Vgl. Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, a. a. O., S. 48. 33 Baumgartner / Korff (1999), S. 232. 28 29
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b) Verknüpfung mit dem Gemeinwohl Das Solidaritätsprinzip meint nicht nur ein Handeln gemeinsam mit anderen, sondern wesentlich die Ausrichtung auf das Wohl der Gesamtheit, auf das Gemeinwohl. So definiert Johannes Paul II. in der Enzyklika Sollicitudo rei socialis von 1987, die eine zentrale Fundstelle für die kirchlich-sozialethische Bestimmung des Begriffs der Solidarität darstellt, Solidarität als „die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ,Gemeinwohl‘ einzusetzen, d. h. für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind.“ (SRS 38,6) Solidarität meint also „den aus gemeinsamen Voraussetzungen motivierten Willen, das zu tun, was man einander schuldig ist“.34 Diese Definition von Solidarität zeigt wohl nicht bloß zufällig deutliche Anklänge an die klassische Definition von Gerechtigkeit als der beständigen, vom Willen mitgetragenen und zugleich vernunftbestimmten Haltung, jedem das Seine zu geben. Die Übung von Solidarität bedeutet mithin die auf dem Menschsein beruhende Pflicht, unter Rückbezug auf ein als Ziel vorgegebenes Ganzes (Gemeinwohl) Gerechtigkeit zu verwirklichen. Nur in dieser untrennbaren Verknüpfung des Begriffs der Solidarität als Instrument mit dem der (sozialen) Gerechtigkeit als Ziel ist also eine adäquate inhaltliche Bestimmung möglich. Dass diese Rückbindung an das Gemeinwohl auch die Dimension der Nachhaltigkeit impliziert, näherhin also die „Forderung nach einer weltweiten und generationenumspannenden Solidarität“35, die auch speziell die gesamte Schöpfung in den Blick nimmt, sei hier zumindest erwähnt. Daraus ergibt sich ein wesentliches Kriterium für die universelle Geltung des Solidaritätsprinzips: Solidarisch formulierte Ziele können partikulär und in ihrer moralischethischen Qualität sehr unterschiedlich sein. Der Taubenzüchterverein erwartet genauso Solidarität seiner Mitglieder wie die kriminelle Bande, Solidarität in Familie und Freundeskreis wird genauso eingefordert wie Solidarität mit Arbeitslosen, Globalisierungsverlierern etc. Diese Teilsolidaritäten spielen für das Funktionieren der Gesellschaft durchaus eine legitime Rolle, aber das Ganze der Gesellschaft und ihr Wohl dürfen nicht aus dem Blick geraten. Sie müssen sogar das entscheidende Kriterium sein, um die positiven Konsequenzen und die misslichen Nebenfolgen solcher Teilsolidaritäten im Falle des Konflikts abwägen zu können. Erst unter dieser Voraussetzung des Gemeinwohlbezugs wird „Solidarität als ein universelles Sozialprinzip erkennbar, das strukturell unbegrenzte Geltung beansprucht. Denn wenn die Würde des Menschen auf seinem Personsein gründet und Sozialbezogenheit zur Natur dieses Personseins gehört, dann schließt dies notwendig Solidarität mit allem ein, was Menschenantlitz trägt.“36 Vor diesem Hintergrund gilt es, die Rede von der „vorrangigen Option für die Armen“ in ihrer Beziehung zur Idee der Solidarität in den Blick zu nehmen: Beide sind nicht identisch. Die Soziallehre der Kirche sieht in der Option für die Armen – ein Terminus, der seine Wurzeln in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie hat – eine soziale Verpflichtung, Gottes in Jesus Mensch gewordene Liebe zu und Solidarität mit den Menschen für die Menschen in der Nachfolge Jesu Christi abzubilden. Dies führt zu 34 W. Korff / A. Baumgartner, Kommentar zu: Solidarität – die Antwort auf das Elend in der heutigen Welt. Enzyklika Sollicitudo rei socialis Papst Johannes Pauls II., Freiburg i. Br. 1988, S. 105 – 138, hier S. 129. 35 Vogt (2001), S. 154. 36 Baumgartner / Korff (1999), S. 238.
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einer spezifischen Perspektive auf die Armen und Ausgeschlossenen und zielt darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Allerdings wird gerade vor dem Hintergrund der universalen Geltung des Solidaritätsprinzips deutlich, was die Formulierung „vorrangig“ bedeutet, nämlich, dass es dabei nicht um eine ausschließliche oder ausschließende Option geht, nicht um Parteilichkeit für die Armen gegen die Reichen, sondern um Parteilichkeit für den Menschen, für die Würde eines jeden und aller Menschen. Daraus ergibt sich letztlich die Notwendigkeit, Solidarität einzuordnen in den Kontext der Allgemeingültigkeit der Menschenwürde. Denn „1. Jede Form von Solidarisierung, die sich auf gleichzeitiger Mißachtung des Allgemeingültigkeitsanspruchs der Menschenwürde gründet, ist ethisch verwerflich. [ . . . ] 2. Jede Form von Solidarisierung, die dem Anspruch der Menschenwürde faktisch nur im Blick auf die eigene Gruppe und deren Zielsetzung Rechnung trägt, bleibt ethisch defizitär.“37 Solidarität meint aber auch nicht einfachhin pauschal „universale Brüderlichkeit“ im Sinne des „Seid umschlungen, Millionen“. Vielmehr muss Solidarität, die dem Evangelium entspricht, „zunächst einmal mit denen [bestehen], die die Menschenrechte suchen, und nicht mit denen, die sie brechen“.38 Jede Form von Solidarisierung, die den Bezug auf die Gerechtigkeit unbeachtet lässt, wird mithin ethisch ebenfalls defizitär. c) Die doppelte Ausrichtung Das Bemühen um die Realisierung der normativen Seite von Solidarität impliziert zwei Stoßrichtungen: Zum einen eine vertikale Ausrichtung, also die Verantwortung der Einflussreichen oder einer übergeordneten Instanz den Schwächeren gegenüber. Notwendige Kondition dieser Solidarität bleibt dabei von der Seite der Stärkeren aus die Intention, die Schwächeren zu befähigen, mit ihren eigenen Kompetenzen, Leistungen und Schätzen an Menschlichkeit und Kultur, die sonst gegebenenfalls verloren gingen oder zumindest unberücksichtigt blieben, auch selbst einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, sowie von der Seite der Schwächeren die Bereitschaft zum eigenständigen Beitrag. Damit gerät dann bereits die horizontale Stoßrichtung bei der Realisierung der Idee der Solidarität in den Blick, nämlich die der Menschen untereinander und deren Initiativen gegenseitiger Hilfe. Mithin impliziert das so verstandene Solidaritätsprinzip zugleich notwendig die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips, fordert und bestätigt folglich den unverzichtbaren spezifischen Beitrag jedes Einzelnen für die Gesamtheit.39 Letztlich ist diese Integration beider Prinzipien aus der beiden zugrunde liegenden Menschenwürde zu begründen. Nur da, wo die Menschen ermutigt werden, den Teil, den sie selber übernehmen können, auch tatsächlich selbst zu übernehmen, kann wirkliche Solidarität möglich werden und wachsen. „Jede Form von Solidarisierung, die den univer37 W. Korff, Zur naturrechtlichen Grundlegung der katholischen Soziallehre, in: Baadte, G. / Rauscher, A. (Hrsg.), Christliche Gesellschaftslehre. Eine Ortsbestimmung, Graz 1989, S. 11 – 52, hier S. 45. 38 D. Mieth, Die neuen Tugenden. Ein ethischer Entwurf, Düsseldorf 1984, S. 92. 39 Vgl. M. Heinze (1998), Grund und Missbrauch der Solidarität im System der sozialen Gerechtigkeit, in: Isensee, J. (Hrsg.), Solidarität in Knappheit. Zum Problem der Priorität, S. 67 – 96, hier S. 70 – 72.
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sellen Anspruch der Menschenwürde als Forderung zur Gleichschaltung versteht, muß zur Unterdrückung des personalen Selbstandes der Menschen führen und erweist sich darin als ethisch abwegig. [ . . . ] Jede Form von Solidarisierung, die auf Schwächung oder Aufhebung der Eigenfunktion kleinerer, ihr zuzuordnender Solidarstrukturen zielt, lähmt und zerstört ihre eigenen Entfaltungskräfte.“40
3. Der Sozialstaat als Konkretion des Solidaritätsprinzips
Als ein zentraler Bereich der Konkretion des Solidaritätsprinzips und der gesellschaftlichen Praxis der Solidarität ist der Sozialstaat zu nennen. Er wird weithin verstanden als institutionalisierte, organisierte Solidarität. Dies macht deutlich, dass Solidarität als Sozialprinzip nicht allein auf bloße Freiwilligkeit setzt, sondern sich in entsprechenden rechtlichen Regelungen manifestiert. Wenn aber der Philosoph W. Kersting seinen liberalen Ansatz zur Legitimation des Sozialstaats ausschließlich auf der „kollektiven Solidarität einer politischen Gemeinschaft“41 aufbaut und sich damit klar absetzt von dem Erfordernis eines Sozialstaats aus Gründen der (Verteilungs-)Gerechtigkeit, dann steht dies im Gegensatz zu dem Ansatz der christlichen Sozialethik, der das Ziel des Sozialstaats in der sozialen Gerechtigkeit im Sinne einer Beteiligungsgerechtigkeit sieht und in der Solidarität – im Zusammenspiel mit den anderen Sozialprinzipien – das notwendige Instrument zur Realisierung. Die sozialstaatliche Entwicklung, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in vielen westeuropäischen Demokratien ihren Höhepunkt findet durch den Ausbau eines äußerst diffizilen sozialen Netzes, ist eindeutig an die Grenzen ihrer Finanzierbarkeit geraten. Aber zugleich sind die Grenzen ethischer (und politischer) Rechtfertigung erreicht, die deutlich machen, dass eine Begründung allein auf der Basis der Idee der Solidarität nicht ausreicht, sondern ebenfalls gleichwertig das Prinzip der Subsidiarität tangiert ist. In den mittlerweile verflossenen Zeiten des ungebrochenen Wachstums sah man lebenslange Vollabsicherung gegen alle nur erdenklichen Risiken als größten Erfolg an. Dass auf diesem Weg intensiv beigetragen wurde zur Schwächung der gesellschaftlichen Solidarbeziehungen, sieht man erst jetzt. Mit Recht verweisen vor allem die liberalen Kritiker des Wohlfahrtsstaates prononciert darauf, dass die Empfänger (staatlicher) Sozialleistungen gewollt oder ungewollt Eigeninitiative und -verantwortung abbauen und sie durch diese Form der Solidarität in eine sie entmündigende, passive Erwartungshaltung dem Staat gegenüber verfallen. W. Röpke, einer der Väter der Sozialen Marktwirtschaft, kritisierte dies bereits als das Ideal der „komfortablen Stallfütterung“. Einem solidarisch verantworteten Sozialstaat kann es mithin nicht um eine möglichst weitgehende Rundumversorgung durch den Staat gehen, sondern seine zentrale Intention ist die Sorge um die solidarische Ermöglichung der Freiheit des Einzelnen und der kleineren gesellschaftlichen Einheiten zur Beteiligung an allen gesellschaftlichen Prozessen: Aufgabe des Staates ist es, die dafür nötigen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, ökologischen und politischen Rahmenbedingungen zu schaffen. 40 41
Korff, Zur naturrechtlichen Grundlegung der katholischen Soziallehre, a. a. O., S. 46 f. Kersting (2000), S. 241.
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III. Subsidiarität Die Rede vom Subsidiaritätsprinzip erlebt seit einigen Jahren eine Renaissance; Vertreter ganz unterschiedlicher Positionen führen es als Argument an – so etwa in der Debatte um die sozialen Sicherungssysteme, um die Arbeitsmarktpolitik, aber auch im Blick auf die Frage nach der Ausgestaltung der Europäischen Union. Oft handelt es sich dabei jedoch um eine einseitige Verkürzung und damit um ein Missverständnis des eigentlich damit von seiner ursprünglichen Konzeption in der Katholischen Soziallehre her Gemeinten. Dem ist im Folgenden nachzugehen. 1. Ursprung und Entwicklung des Subsidiaritätsprinzips42 in der Katholischen Soziallehre
Etymologisch geht der Begriff der Subsidiarität auf das lateinische Wort subsidium zurück. Es bezeichnet die Kampfreserve für den Notfall, später allgemein die Hilfsmittel. Inhaltlich geht der sozialphilosophische Begriff der Subsidiarität zurück auf den Mainzer „Arbeiterbischof“ W. E. v. Ketteler (1811 – 1877). Er kritisierte Tendenzen seiner Zeit, die Zuständigkeiten des Staates zulasten der Selbständigkeit und Rechte der einzelnen Bürger und intermediärer gesellschaftlicher Gruppen, insbesondere der Kirche, auszuweiten. Dies bezog sich vor allem auf eine zu starke staatliche Reglementierung des Schulwesens. Die Erziehung liege in der primären Verantwortung der Eltern; der Staat habe lediglich das „subsidiäre Recht“43 im Interesse der Kinder dort korrigierend einzugreifen, wo Eltern ihre Pflichten verletzten. In der Formulierung als Sozialprinzip, als deren maßgeblicher Autor G. Gundlach zu gelten hat,44 begegnet der Begriff der Subsidiarität in der kirchlichen Sozialverkündigung erstmals in der Sozialenzyklika Quadragesimo anno von Papst Pius XI. aus dem Jahr 193145 – zu einer Zeit also, da sich die Angst vor der Vermassung breit machte, in der Europas Kommunisten, Faschisten und zwei Jahre später auch die Nationalsozialisten sich anschickten, den Pluralismus auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens zugunsten ihrer totalitären Ideologien zu eliminieren und die Bedeutung des Einzelnen völlig der Partei bzw. dem Staat unterzuordnen. In der Enzyklika heißt es, jede Gesellschaftstätigkeit sei „ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“ Dasjenige, „was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann“, dürfe „ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden“. Es verstoße „gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung.“ (QA 79) Vgl. zur Ideengeschichte ausführlicher Nothelle-Wildfeuer / Küppers (2008b). W. E. von Ketteler, Die Katholiken im Deutschen Reiche. Entwurf zu einem politischen Programm, in: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. E. Iserloh, Abt. I, Bd. 4, Mainz 1977, S. 186 – 262, hier S. 210. 44 Vgl. dazu O. von Nell-Breuning, Wie sozial ist die Kirche?, Düsseldorf 1972, S. 112. 45 Vgl. dazu auch A. Rauscher, Subsidiaritätsprinzip und berufsständische Ordnung in „Quadragesimo anno“, Münster 1958. 42 43
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Es wäre jedoch verfehlt, im Subsidiaritätsgrundsatz einen gleichsam zum depositum fidei zählenden kirchlichen Glaubenssatz zu sehen. Der Subsidiaritätsgrundsatz wird als ein sozialphilosophisches Prinzip verstanden, das vor allem anthropologisch begründet wird und dessen Plausibilität nicht von der vorgängigen Annahme des christlichen Glaubens abhängt. Trotz dieser unter katholischen Sozialwissenschaftlern verbreiteten Ansicht, mit dem Subsidiaritätsgedanken einen allgemein akzeptablen sozialphilosophischen Grundsatz formuliert zu haben, ist der gesellschaftliche Diskurs über diesen lange Zeit kontrovers geführt worden, wobei die Demarkationslinie zwischen den streitenden Positionen weithin entlang der Konfessionsgrenzen verlief. Sowohl auf protestantischer Seite als auch in der abseits der christlichen Sozialethik betriebenen „säkularen“ politischen Philosophie war der Subsidiaritätsgrundsatz lange als „katholisches Prinzip“ diskreditiert. Hauptsächlicher Grund hierfür war, dass bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein einige katholische Sozialwissenschaftler in einer überdehnenden Interpretation den Subsidiaritätsgrundsatz derart verstanden wissen wollten, dass aus ihm bis ins Detail genau ein naturgesetzlich vorgeschriebener innerer Aufbau von Staat und Gesellschaft abgeleitet werden könnte.46 Eine solche essentialistische Interpretation des Subsidiaritätsgedankens geht aber weit über die tatsächliche Aussage von Quadragesimo anno hinaus. Die Enzyklika formuliert einen Grundsatz, an dem sich die Verteilung von Kompetenzen und Aufgaben in der Gesellschaft aus Gerechtigkeits- und Opportunitätsgründen orientieren soll. Wie diese Verteilung konkret auszusehen hat, ist aus dieser prinzipiellen Aussage keineswegs mit gleichsam überzeitlicher Gültigkeit deduzierbar, sondern ist dem im politischen Meinungsbildungsprozess zu ermittelnden Abwägungsurteil überantwortet, das die jeweils konkreten historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umstände zu berücksichtigen hat. So wie bereits G. Gundlach das Subsidiaritätsprinzip entwickelt hatte zur „Vorbeugung“ gegenüber dem Totalitarismus, aber auch gegenüber menschenfeindlicher Technokratie, so wird es von L. Schneider zur Kritik an der und zum negativen Urteil über die Gigantomanie im Umfeld der Kapitalismuskritik der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt.47 Neuen Auftrieb erhielt die wissenschaftliche Diskussion dadurch, dass mit dem Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages am 1. 11. 1993 das Subsidiaritätsprinzip zu einem Rechtsgrundsatz des europäischen Gemeinschaftsrechts geworden ist. In Artikel 2 Absatz 2 (ehemals Art. B Abs. 2 EU-Vertrag) des Vertrages über die Europäische Union (EU-Vertrag) heißt es, dass die Ziele der Union unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips verwirklicht werden. Konkret mit seinen Tatbestandsmerkmalen normiert ist der europarechtliche Subsidiaritätsgrundsatz in Artikel 5 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (ehemals Art. 3 b EG-Vertrag). Dieser lautet: „Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten Vgl. Baumgartner / Korff (1999), S. 235. Vgl. L. Schneider, Subsidiäre Gesellschaft – erfolgreiche Gesellschaft. Implikative und analoge Aspekte eines Sozialprinzips, 4. erg. Aufl., Paderborn 1996. 46 47
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nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrages erforderliche Maß hinaus.“ Der gesamte Artikel 5 EG-Vertrag kann als Ausdruck des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsgrundsatzes im weiteren Sinne verstanden werden. Als normiertes Rechtsprinzip ist er zugleich konkreter und enger gefasst als der sozialphilosophische Subsidiaritätsbegriff. Er bildet für die Kompetenzausübung, vor allen Dingen für die Entscheidung bei Kompetenzstreitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft, den Dreh- und Angelpunkt, kann aber darüber hinaus auch – angesichts der Tatsache, dass das Subsidiaritätsprinzip auch in der Präambel des EU-Vertrages genannt wird – als Grund- bzw. Strukturprinzip der Europäischen Union insgesamt bezeichnet werden.
2. Struktur und Inhalt: Kompetenzanerkennung und Freiheitsermöglichung
a) Zweiseitiger Gehalt Das Subsidiaritätsprinzip hat einen zweiseitigen Gehalt, dessen Reduzierung auf nur eine Seite ein deutliches Missverständnis darstellt und zu einer Fehlentwicklung der gesellschaftlichen und sozialen Ordnung führt. In ihm artikuliert sich ein „Kompetenzprinzip“48; sein entscheidendes Charakteristikum ist, dass es eine soziale Relation bestimmt und Zuständigkeiten in der Gesellschaft klärt. Es kann von seiner negativen und seiner positiven Seite49 bzw. von seiner kritischen und seiner konstruktiven Seite50 gesprochen werden. Die negative bzw. kritische Seite betont – an die größere Einheit gerichtet – das Nicht-Einmischungsgebot, d. h. das Recht der Einzelnen und der sozialen Gruppen, die eigenen Angelegenheiten im Rahmen ihrer tatsächlichen Möglichkeiten selbstbestimmt zu regeln und zu ordnen. Hier artikuliert sich die Kompetenzanerkennung: Wer unmittelbar beteiligt ist, hat die Erstkompetenz – so etwa liegt das primäre Erziehungsrecht bei den Eltern, hat in der Wirtschaft die Privatinitiative Vorrang und legt der Staat nur die Rahmenordnung fest (vgl. GS 51 / 53). In dieser Hinsicht ist der Subsidiaritätsgrundsatz gerichtet auf die Abwehr von beschränkenden Eingriffen der größeren Einheiten, insbesondere des Staates, in die Freiheit der kleineren Einheiten bzw. der Individuen. Diesem Recht zur Selbstbestimmung korrespondiert dann auch eine Pflicht zur Eigenverantwortung. Die positive bzw. konstruktive Seite des Subsidiaritätsprinzips hat eine die Freiheit der Einzelnen und der sozialen Gruppen stärkende bzw. deren Entfaltung ermöglichende Stoßrichtung: Wo deren Kräfte zur befriedigenden Regelung der eigenen Angelegenheiten nicht ausreichen, sind die jeweils größeren gesellschaftlichen Einheiten – wiederum in vielen Fällen letztlich der Staat – zur Hilfestellung und Förderung angehalten. Hier wird die unverzichtbare Verknüpfung des Subsidiaritätsprinzips mit dem Solidaritätsprinzip offenkundig. Primäres Ziel dieser „sub48 A. Rauscher, Art. Subsidiarität. I. Sozialethik, in: Staatslexikon, Bd. 5, 7. Aufl., Freiburg i. Br. 1988, Sp. 386 – 388, Sp. 387. 49 O. von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität, Freiburg i. Br. 1990 (1968), S. 93 ff. 50 Vgl. Höffe (1996), S. 224.
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sidiären Assistenz“51 ist es, im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe den Individuen bzw. den kleineren Einheiten die Regelung ihrer Verhältnisse nicht dauerhaft abzunehmen, sondern sie nach Möglichkeit in die Lage zu versetzen, diese (wieder) selbst in die Hand nehmen zu können – was für die größere Einheit die Verpflichtung impliziert, sich bei erfolgreicher Assistenz wieder zurückzuziehen. Von daher kann das Subsidiaritätsprinzip auch als Freiheitsermöglichungsprinzip bezeichnet werden. Diese beiden Aspekte des Subsidiaritätsprinzips, einerseits die Betonung des Selbstbestimmungsrechts und der Eigenverantwortung, andererseits der Gedanke der Förderung und Hilfestellung, stehen in einer gewissen Spannung zueinander. Insofern bedarf es einer Metaregel, die angibt, nach welchem Maßstab in konkreten Fragen der Kompetenzverteilung mögliche Konflikte zwischen den beiden Seiten entschieden werden sollen.52 Diese Metaregel rekurriert auf den Ausgangspunkt des Subsidiaritätsgedankens: die menschliche Person als den entscheidenden Maßstab. Bei Kompetenzkonflikten verdient mithin jene Zuständigkeitsverteilung den Vorzug, die den einzelnen Personen bzw. personnahen Einheiten (z. B. der Familie) am meisten dient. Dieser Grundsatz entspricht der Würde der menschlichen Person und bietet den Einzelnen die optimalen Voraussetzungen, um ihre selbst gesetzten Ziele erreichen zu können. Die Struktur des Subsidiaritätsprinzips bedeutet damit keine zwangsläufige Priorität der kleineren gegenüber den größeren sozialen Einheiten.53 Vielmehr steht jede Form sozialer Gemeinschaft im Dienst der menschlichen Person, die einzig und allein kraft ihrer Würde Selbstzweck und aus diesem Grund die maßgebliche Bezugsgröße ist, wenn es darum geht zu entscheiden, welche Aufgaben die verschiedenen intermediären Gruppen bzw. die Gesamtgesellschaft wahrnehmen sollen.
b) Der Rekurs auf die menschliche Person Zentral ist der Rekurs des Subsidiaritätsgedankens auf die menschliche Person als maßgeblichen Bezugspunkt bei Fragen der sozialen Ordnung und Organisation. Es geht nicht vorrangig um die möglichst effiziente Gestaltung gesellschaftlicher Abläufe, sondern um die bestmöglichen strukturellen Voraussetzungen für eine freie Entfaltung der menschlichen Person. „Das Subsidiaritätsprinzip ist also seiner Intention nach keine bloße organisationstechnische, sondern eine ethische Maxime.“54 Wenngleich immer wieder auf eine bis zu Aristoteles und sogar bis in das Alte Testament zurückzuverfolgende Traditionslinie verwiesen wird, ist festzuhalten, dass diese Vorläufer des Subsidiaritätsgedankens nur auf den ersten Blick dem Subsidiaritätsprinzip entsprechen. Tatsächlich sind – entgegen anders lautenden Deutungen55 – „Effizienz und Akzeptanz [ . . . ] nicht das eigentliche Ziel des Subsidiaritätsprinzips, sondern seine erwünschten Folgen. Ziel ist es letztlich, der menschlichen Person das Tätigkeitsfeld zu Vgl. L. Schneider, Subsidiäre Gesellschaft, a. a. O. Vgl. zum Folgenden ebd., S. 226 ff. 53 Siehe hierzu R. Marx, Subsidiarität – Gestaltungsprinzip einer sich wandelnden Gesellschaft, in: Rauscher (2000), S. 35 – 62, hier S. 41 f. 54 Isensee (2001), S. 339 f. 55 Vgl. etwa J. Hagel, Solidarität und Subsidiarität – Prinzipien einer teleologischen Ethik? Eine Untersuchung zur normativen Ordnungstheorie, Innsbruck 1999, S. 258. 51 52
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sichern, dessen sie bedarf, um sich ihren Fähigkeiten gemäß zu entfalten.“56 Dieser personalistische Aspekt, der die tragende Säule des Subsidiaritätsgedankens ist, setzt aber die neuzeitliche Wende zum Subjekt voraus und ist aus dem Kontext vormoderner Weltdeutungsmodelle heraus gar nicht denkbar. Auch bei Aristoteles und dem seinem Substanzdenken verhafteten Thomas von Aquin ist das Subsidiaritätsprinzip im strengen Sinne daher nicht zu finden. Die Katholische Soziallehre verdankt ihre traditionelle Systematik in der Tat der Rezeption des aristotelisch-thomanischen Ansatzes. Gerade die Formulierung und prominente Stellung des Subsidiaritätsprinzips in der Enzyklika Quadragesimo anno markiert nun aber eine Etappe des Weges, auf dem im Verlauf des 20. Jahrhunderts neben den naturrechtlichen Begründungsstrang Katholischer Soziallehre immer stärker ein personalistisch ausgerichteter Argumentationszusammenhang trat und eine Versöhnung mit der Philosophie der Aufklärung ermöglicht wurde.57 Das Subsidiaritätsprinzip „ermöglichte [ . . . ] dem katholischen Denken, die neuzeitliche Idee des Individuums als vorstaatlichem Rechtsträger zu rezipieren“ 58, d. h. sich an entscheidender Stelle im Denken der Moderne zu verorten. c) Anwendungsbedingungen Der Subsidiaritätsgrundsatz setzt zum einen die Existenz einer vielgliedrigen Gesellschaft voraus59: bereits bestehende intermediäre Sozialeinheiten sollen gestärkt werden; wo sie fehlen, soll ihre Etablierung betrieben werden. Zum anderen ist die Umsetzung des Subsidiaritätsgedankens als Kompetenzverteilungsmaxime nicht allein auf die Existenz dieser vielfältigen Sozialeinheiten angewiesen, sondern diese sozialen Einheiten müssen auch durch einen gemeinsamen Aufgabenkreis sowie durch gemeinsam anerkannte Zielsetzungen, d. h. durch die Ausrichtung auf das Gemeinwohl, miteinander verbunden sein. 3. Konkretionen: Das Subsidiaritätsprinzip in unterschiedlichen Geltungsbereichen
Der Subsidiaritätsgedanke war implizit, z. T. auch explizit, eines der Leitmotive bei der Begründung des spezifischen westeuropäischen Wirtschafts- und Sozialmodells nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere der bundesdeutschen Sozialen Marktwirtschaft. Deren Intention war es, das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden. Dieses Konzept geht aus von der Priorität von Markt und Wettbewerb, spricht dem Staat allerdings eine wichtige subsidiäre Kompetenz im Hinblick auf die Gestaltung des Wirtschaftsgeschehens zu. Von diesem Ansatz aus bietet sich ein Anknüpfungspunkt für den sozialphilosophischen Grundsatz der Subsidiarität an die wirtschafts- und sozialpolitische Diskussion, in der durchaus die Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik formuliert wird, aber gemäß dem Subsidiaritätsprinzip der Selbsthilfe und Eigenverantwortung der Vorrang eingeräumt wird. Isensee (2001), S. 339. Vgl. Schockenhoff (1996). 58 K. Gabriel, Das Subsidiaritätsprinzip in Quadragesimo anno. Zur ideenpolitischen Genese eines Grundbegriffs der katholischen Soziallehre, in: Rauscher (2000), S. 13 – 33, S. 29 f. 59 Vgl. Hagel, Solidarität und Subsidiarität, a. a. O., bes. S. 254 – 264. 56 57
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Gemäß dem Subsidiaritätsgrundsatz ist der Staat außerdem nicht die primäre und nicht die einzige Instanz zur Wahrung und Sicherung aller berechtigten sozialen Belange in der modernen Marktgesellschaft. Das „Urproblem“ des kapitalistischen Zeitalters etwa – die Frage der Lohn- und Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten – ist nicht durch staatliches Lohndiktat beseitigt worden, sondern durch das System der Tarifautonomie, also die Institutionalisierung der zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen als intermediäre gesellschaftliche Größen geschlossenen arbeitsrechtlichen Kollektivverträge. Auch im Bereich des Sozialrechts, das Ansprüche des hilfebedürftigen Bürgers regelt, ist der Staat nicht als einziger Leistungserbringer vorgesehen. Gemäß § 5 des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII) soll der Staat mit den Kirchen und den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege gemäß dem Subsidiaritätsprinzip und dem Vorrang der Einrichtungen freier Träger zusammenarbeiten. Die mittlerweile nachdrücklich geäußerte Kritik an der Entwicklung des deutschen Sozialsystems, vor allem in den letzten drei Dezennien des 20. Jahrhunderts, und ihre Forderung nach dem Umbau sozialstaatlicher Strukturen richtet sich in der Regel keineswegs grundsätzlich gegen das Modell der Sozialen Marktwirtschaft als „subsidiaritätsbasierter Marktwirtschaft“ (U. Nothelle-Wildfeuer). Vielmehr wird die in jüngerer Zeit erfolgte Ausweitung des Sozialstaats auf eine notorische Missachtung, ja Perversion des Subsidiaritätsgedankens zurückgeführt, der zufolge Recht und Pflicht zur Sorge um das Wohl jedes Einzelnen primär beim Staat liege. Das so pervertierte Prinzip müsse „wieder vom Kopf auf die Füße gestellt“ (C. Ch. v. Weizsäcker) werden. Der Sozialethik als gesellschaftskritischer sozialphilosophischer Disziplin kommt in der virulenten Sozialstaatsdebatte vor allem die Aufgabe zu, daran zu erinnern, dass beide Seiten des Subsidiaritätsgrundsatzes bei Reformprojekten hinreichende Berücksichtigung erfahren müssen.60 Literaturverzeichnis Anzenbacher, Arno (1997): Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn. – (2008): Art. Gemeinwohl, in: Wildfeuer, A. G. / Kolmer, P. (Hrsg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg i. Br. Baumgartner, Alois (2000): Art. Solidarität. I. Begriffsgeschichte, in: LThK, Bd. 9, 3. Aufl., Freiburg i. Br., Sp. 706 – 708. Baumgartner, Alois / Korff, Wilhelm (1999): Sozialprinzipien als ethische Baugesetzlichkeiten moderner Gesellschaft: Personalität, Solidarität und Subsidiarität, in: Korff, W. u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 1, Gütersloh, S. 225 – 237. 60 Wenn das Subsidiaritätsprinzip für jeden gesellschaftlichen Bereich und für alle „Stufen des gesellschaftlichen Lebens“ gilt, dann ist es auch für die Kirche und ihre Gestalt von Bedeutung. Pius XII. formulierte bereits 1946 im Anschluss an das Zitat des Prinzips aus Quadragesimo anno: „Wahrhaft lichtvolle Worte! . . . Sie gelten auch für das Leben der Kirche, unbeschadet ihrer hierarchischen Struktur“; siehe: A.-F. Utz / J.-F. Groner (Hrsg.), Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius’ XII., Bd. II, Freiburg (Schweiz) 1954, Nr. 4094. Dass diese Aussage eine höchst aktuelle Herausforderung für die Ekklesiologie und Pastoraltheologie darstellt, sei an dieser Stelle zumindest betont, wenn dieser Aspekt auch nicht mehr entfaltet oder gar aufgelöst werden kann.
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Höffe, Otfried (1996): Subsidiarität als Staatsprinzip, in: ders. (Hrsg.), Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt a. M., S. 220 – 239. Isensee, Josef (2001): Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. 2. Aufl. mit Nachtrag: Die Zeitperspektive 2001: Subsidiarität – das Prinzip und seine Prämissen, Berlin. Kersting, Wolfgang (2000): Politische Solidarität statt Verteilungsgerechtigkeit. Eine Kritik egalitaristischer Sozialstaatsbegründung, in: ders. (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist, S. 202 – 256. Münkler, Herfried / Bluhm, Harald / Fischer, Karsten (Hrsg.) (2001 – 2002): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Forschungsberichte der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gemeinwohl und Gemeinsinn“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 4 Bde, Berlin. Nothelle-Wildfeuer, Ursula (1999): Soziale Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft, Paderborn. Nothelle-Wildfeuer, Ursula / Küppers, Arnd (2008a): Art. Solidarität, in: Wildfeuer, A. G. / Kolmer, P. (Hrsg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg i. Br. – (2008b): Art. Subsidiarität, in: Wildfeuer, A. G. / Kolmer, P. (Hrsg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg i. Br. Rauscher, Anton (Hrsg.) (2000): Subsidiarität. Strukturprinzip in Staat und Gesellschaft, Köln. Schockenhoff, Eberhard (1996): Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, Mainz. Vogt, Markus (2001): Nachhaltigkeit – ein neues Sozialprinzip?, in: Baumgartner, A. / Putz, G. (Hrsg.), Sozialprinzipien. Leitideen in einer sich wandelnden Welt, Innsbruck, S. 142 – 159.
Soziale Gerechtigkeit im Verständnis der Katholischen Soziallehre Von Arnd Küppers I. Begriffsherkunft In der vormodernen Zeit werden die Begriffe „gerecht“ bzw. „ungerecht“ ausschließlich zur moralischen Bewertung individueller Handlungen und zur Bezeichnung einer sittlichen Eigenschaft des Menschen verwendet. Gerechtigkeit wird in diesem Sinne als Tugend verstanden, also als in einer natürlichen Disposition gründender, durch Erziehung und Übung gebildeter Habitus des moralisch Handelnden. Die hierzu von Aristoteles1 eingeführte und von Thomas von Aquin2 weiterentwickelte Systematik ist bis heute grundlegend. Unterschieden wird demnach zunächst zwischen der allgemeinen Gerechtigkeit (iustitia generalis) und der Sondergerechtigkeit (iustitia particularis). Die allgemeine Gerechtigkeit realisiert bei Aristoteles derjenige, der das Gesetz der Polis erfüllt, sie heißt deshalb auch Gesetzesgerechtigkeit (iustitia legalis). Für Thomas hingegen ist das Gemeinwohl (bonum commune) die entscheidende Bezugsgröße der allgemeinen Gerechtigkeit. Das staatliche Gesetz ist bei ihm von sekundärer Bedeutung, es hat die Aufgabe, die Akte der Tugenden auf das Gemeinwohl hinzuordnen.3 Die Sondergerechtigkeit ist gerichtet auf die Wahrung der Gleichheit zwischen den Bürgern der Polis. Hierbei wird wiederum zwischen zwei Formen unterschieden: einerseits der Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa), andererseits der Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva). Bei der Tauschgerechtigkeit geht es um den Ausgleich beim Gütertausch zwischen Privatpersonen; gerecht ist der Ausgleich dann, wenn strikte Gleichheit zwischen Leistung und Gegenleistung besteht, deren jeweiliger Wert also entsprechend ist; Aristoteles spricht von arithmetischer Gleichheit. Bei der Verteilungsgerechtigkeit geht es hingegen um das Verhältnis der Gemeinschaft zu ihren Mitgliedern; ihr Ziel ist das rechte Maß bei der Zuteilung bestimmter Güter an die Gemeinschaftsmitglieder. Aristoteles erörtert das etwa an dem Beispiel der Zuteilung öffentlicher Ehren: Gerecht ist dabei keine Gleichverteilung unter allen Bürgern, sondern eine Zuteilung entsprechend dem Verdienst der Einzelnen. Angestrebt wird hier mithin keine arithmetische, sondern eine geometrische Gleichheit: Die zwei verschiedenen Personen zugewiesenen Anteile müssen sich proportional zu deren Würdigkeit verhalten. Während die Tauschgerechtigkeit also ohne „Ansehen der Person“ nur auf den Wert der getauschten Güter schaut, spielen bei der Verteilungsgerechtigkeit Merkmale der Personen selbst eine entscheidende Rolle. 1 2 3
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik V. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II – II, q. 57 – 61. Vgl. ebd., q. 58, a. 5.
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Dieses rein tugendethische Verständnis des Gerechtigkeitsbegriffes wird erst in der Moderne aufgebrochen. Mit der neuzeitlichen Wende zum Subjekt löst sich auch die politische Philosophie von den Gewissheiten des mittelalterlichen Ordo-Denkens. Die überkommenen Normen, Strukturen und Institutionen der politischen Gemeinschaft werden fortan nicht mehr umfassend als unwandelbare Elemente einer vorgegebenen göttlichen Ordnung begriffen, sondern als dem menschlichen Gestaltungswillen zugängliche Größen. Bei den rationalistischen Staatstheoretikern des 15. und 16. Jahrhunderts tritt deshalb an die Stelle des organischen Staatsdenkens im aristotelischen Sinne die Frage der Herrschaftslegitimation. Diese Perspektive erweitert sich noch einmal durch die im politischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts begründete Trennung von Staat und Gesellschaft, näherhin durch die Entstehung der modernen Industriegesellschaft und das mit dieser Entwicklung verbundene Aufkommen der Arbeiterfrage. Die Sozialphilosophie beschäftigt sich nun nicht mehr nur mit der Sphäre des Politischen im engeren Sinne, sondern fragt auch nach den Bedingungen der Möglichkeit von Gerechtigkeit in den gesellschaftlichen Verhältnissen, insbesondere den Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen der Bürger. Während die Entwicklung der Idee der sozialen Gerechtigkeit relativ leicht nachvollzogen werden kann, ist die Entstehung des entsprechenden Begriffes nur schwer zu rekonstruieren. Als Urheber werden bisweilen Pierre Joseph Proudhon mit seiner Schrift „Qu’est-ce que la propriété?“ von 1840 und John Stuart Mill mit seinem vor allem im angelsächsischen Sprachraum wirkungsgeschichtlich äußerst bedeutsamen Essay „Utilitarianism“ von 1863 genannt.4 Übersehen wird dabei allerdings der maßgebliche Anteil katholischer Autoren. Die „giustizia sociale“ taucht bereits in dem 1840 bis 1843 erschienenen Werk „Saggio teoretico di diritto naturale appoggiato sul fatto“ des sizilianischen Jesuiten Luigi Taparelli auf. 1848 erscheint der Begriff sogar in dem Titel einer von dem italienischen Theologen Antonio Rosmini konzipierten Musterverfassung: „La Costituzione secondo la Giustizia Sociale“. Tatsächlich scheint Taparelli sogar der Erste zu sein, der den neuen sozialethischen Terminus verwendet. In Proudhons Schrift von 1840 wird zwar erstmals das in den heutigen Theorien sozialer Gerechtigkeit dominante egalitaristische Paradigma entfaltet, aber nicht auf diesen Begriff gebracht. Das Werk Taparellis aber ist vor allem aus katholischer Perspektive schon deshalb interessant, als es der erste naturrechtliche Entwurf einer christlichen Sozialethik war, der die Entstehung und Entfaltung der Katholischen Soziallehre entscheidend geprägt hat. Äußerst bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass der Ausgangspunkt von Taparellis Verständnis sozialer Gerechtigkeit – wie seines sozialethischen Ansatzes überhaupt – nicht das Gemeinwohl ist, sondern der einzelne Mensch.5 Er definiert die soziale Gerechtigkeit als eine „Gerechtigkeit zwischen Mensch und Mensch“ („giustizia fra uomo e uomo“6). In der näheren Entfaltung dieser Begriffsbestimmung geht er aus von natur4 So z. B. P. Koller, Gesellschaftsauffassung und soziale Gerechtigkeit, in: Frankenberg, G. (Hrsg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1994, S. 129 – 150, hier: S. 139. 5 Vgl. A. F. Utz, Sozialethik, Teil I, Die Prinzipien der Gesellschaftslehre (Sammlung Politeia, Bd. 10), Heidelberg / Löwen 1958, S. 215. 6 L. Taparelli, Saggio teoretico di diritto naturale appoggiato sul fatto, 2 Bde., Rom 1855 (Aufl.: k. A.), Bd. 1, Nr. 354. Übersetzung: ders., Versuch eines auf Erfahrung begründeten Naturrechts, 2 Bde., Regensburg 1845.
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rechtlichen Vorstellungen über das Wesen des Menschen und führt aus, dass die soziale Gerechtigkeit „faktisch alle Menschen gleichstellen muss in dem, was die Rechte der Menschheit im Allgemeinen betrifft; eben so wie der Schöpfer jedem Menschen die gleiche menschliche Natur gab; und der Mensch, welcher nach der Norm dieser Gerechtigkeit handelt, erfüllt also die Absicht seines Schöpfers.“7 Neben der natürlichen Gleichheit sieht Taparelli freilich auch faktische Ungleichheiten zwischen den Menschen, die er auch keineswegs alle beseitigen möchte. Aber die natürliche Gleichheit der Menschen ist für ihn die fundamentale Größe, von der er grundlegende Sozialrechte und -pflichten ableitet. Die Regelung von speziellen Rechtsverhältnissen erfolgt auch in Taparellis Ansatz im Modus der traditionellen Prinzipien der Verteilungs- und der Tauschgerechtigkeit.8 Die soziale Gerechtigkeit ist jedoch bei ihm der übergeordnete Maßstab bei der Anwendung dieser partikularen Gerechtigkeitsprinzipien. Dieses Verständnis sozialer Gerechtigkeit stellt in doppelter Hinsicht einen erstaunlichen Vorgriff auf die weitere Entwicklung der Katholischen Soziallehre dar:9 Erstens verbindet Taparelli mit seinem Begriff der sozialen Gerechtigkeit offensichtlich die Vorstellung natürlicher Menschenrechte. Zweitens versteht er soziale Gerechtigkeit als übergeordnetes Leitprinzip nicht nur im Staat, sondern auch und gerade in der Gesellschaft. II. Begriffsentfaltung: Pesch, Messner, Gundlach, Nell-Breuning, Höffner und Quadragesimo anno Trotz der Bedeutung Taparellis für die Begründung der Katholischen Soziallehre wurde der Begriff der sozialen Gerechtigkeit nur zögerlich rezipiert. Auch in Rerum novarum taucht er nicht auf. Erst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurden dem Thema weiterführende systematische Überlegungen gewidmet. Als erster Autor ist Heinrich Pesch zu nennen, der das Gemeinwohl als spezifischen Gegenstand der sozialen Gerechtigkeit bezeichnet. Das Gemeinwohl aber müsse unter einem doppelten Aspekt betrachtet werden: „in fieri und in facto esse, wie es zustande kommt und wie es genossen wird.“ Die soziale Gerechtigkeit beinhalte beide Aspekte – „sowohl das Recht der Gesellschaft gegenüber den Trägern der Autorität wie gegenüber jedem ihrer Glieder, gegenüber den Bürgern und den verschiedenen Ständen, im Hinblick auf die Herstellung und Erhaltung der öffentlichen Wohlfahrt, als das Recht jedes Bürgers, der verschiedenen Stände und Klassen, im Hinblick auf die Teilnahme am Genuß dieses sozialen Gutes. Aufgabe der sozialen Gerechtigkeit ist es, beiderlei Ansprüche zu regeln; und so kann man unterscheiden zwischen der kontributiven und der distributiven sozialen Gerechtigkeit. Beide Rücksichten vereint bilden erst die ganze soziale Gerechtigkeit.“10 Diese Definition ist unübersehbar von Peschs gesellschaftstheoretischem Modell des Solidarismus bestimmt: Gesamtgesellschaft und Einzelner sind solidarisch verbunden, und während der Einzelne seinen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten hat, ist die Gemeinschaft verpflichEbd. Vgl. ebd., Nr. 356 f. 9 Vgl. W. Löffler, S. 74. 10 H. Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. 2, Allgemeine Volkswirtschaftslehre I. Volkswirtschaftliche Systeme, Wesen und disponierende Ursachen des Volkswohlstandes, 4. u. 5. Aufl., Freiburg i. Br. 1925, S. 275. 7 8
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tet, das Einzelwohl zu fördern, also jedem den gebührenden Anteil am Gemeinwohl zukommen zu lassen. Ein gänzlich eigenständiges Verständnis der sozialen Gerechtigkeit, das sich allerdings nicht durchsetzen konnte, vertritt Johannes Messner. Dieser bezieht den Begriff exklusiv auf die in der modernen Volkswirtschaft wichtigen intermediären gesellschaftlichen Gruppen (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände etc.). Soziale Gerechtigkeit wäre demnach, „kurz gesagt, Vertragsgerechtigkeit zwischen den sozialen Gruppen in ihrer wesenhaften, durch die besondere Art der heutigen Volkswirtschaft begründeten Verbindung mit der Gemeinwohlgerechtigkeit.“11 Zu Recht wendet Oswald von Nell-Breuning gegen diese Definition ein, dass sie „nur auf ein bestimmtes Anwendungsgebiet der Gerechtigkeit abstellt, ohne daß doch diesem eine spezifische Eigenart der Gerechtigkeit entspräche oder zugeordnet wäre.“12 Während Messner den Begriff der sozialen Gerechtigkeit neben die drei traditionellen Gerechtigkeitsbegriffe stellt, entwickelt Gustav Gundlach ein Modell, in dem die soziale Gerechtigkeit der aristotelisch-thomanischen Trias gleichsam übergeordnet wird. Gundlach greift Peschs Gesellschaftskonzept des Solidarismus auf und entwickelt dieses weiter. In der sozialen Gerechtigkeit sieht er „jene Art von ,Gerechtigkeit‘, der das Prinzip des S[olidarismus] als Rechtsforderung entspricht“13. Während es bei den drei traditionellen Gerechtigkeitsprinzipien jeweils um die Wahrung der Rechtspositionen entweder des Einzelnen oder der Gemeinschaft gehe, sei die Perspektive der sozialen Gerechtigkeit gleichermaßen auf die Individual- und die Gemeinschaftsrechte gerichtet, was dem solidaristischen Grundgedanken der wesenhaften Verbundenheit von Einzelnem und Gemeinschaft entspreche. Die soziale Gerechtigkeit, so Gundlach, „liegt der Dynamik der rechtl. Seite des Gesellschaftslebens zu Grunde, gestaltet u. begleitet die Rechtsverhältnisse innerhalb der Gesellschaft u. verwirklicht sich in den genannten drei statischen Formen der Gerechtigkeit.“14 Dieses Verständnis sozialer Gerechtigkeit wird auch von Nell-Breuning übernommen, der wie Gundlach deren dynamischen und umfassenden Charakter als ihre spezifischen Eigenschaften nennt.15 Da alle ihre Forderungen in dem Gemeinwohl begründet seien und auf das Gemeinwohl zielten, könne man sie auch als „Gemeinwohlgerechtigkeit“ bezeichnen. Auch Joseph Höffner stimmt der Deutung Gundlachs zu, weist aber darauf hin, dass soziale Gerechtigkeit in dieser Definition nicht eine vierte Grundform der Gerechtigkeit darstellt, sondern mit der richtig verstandenen thomanischen iustitia generalis zusammenfällt.16 Die iustitia generalis hat bei dem Aquinaten – anders als bei einigen neuscholastischen „Thomisten“ – keineswegs einen statischen Charakter: Das Gemeinwohl und das sich auf dieses beziehende menschliche Gesetz sind in ihrer konkreten Gestalt 11 J. Messner, Die Idee der sozialen Gerechtigkeit, in: Der Kunstwart 44 (1930 / 31), S. 726 – 733, hier: S. 731. 12 O. v. Nell-Breuning, Zur sozialen Frage (Wörterbuch der Politik, Heft 3), Freiburg i. Br. 1949, Sp. 33. 13 G. Gundlach, Art. Solidarismus, in: Staatslexikon, Bd. 4, 5. Aufl., Freiburg i. Br. 1931, Sp. 1613 – 1621, hier: Sp. 1616. 14 Ebd. 15 Vgl. O. v. Nell-Breuning (Anm. 12), Sp. 34 ff. 16 Vgl. J. Höffner, Soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe. Versuch einer Bestimmung ihres Wesens, Saarbrücken 1935, S. 80 ff.
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geschichtliche Größen.17 Unter den Bedingungen der modernen Trennung von Staat und Gesellschaft ist es deshalb im thomanischen Sinne legitim, die allgemeine Gerechtigkeit nicht nur auf den Staat und dessen Gesetze, sondern auch auf die Gesellschaft zu beziehen. Um Missverständnisse zu vermeiden, verwendet aber auch Höffner den Begriff der sozialen Gerechtigkeit bzw. der Gemeinwohlgerechtigkeit. Da Nell-Breuning und Gundlach wesentlichen Anteil an der Entstehung der Enzyklika Quadragesimo anno (QA) von 1931 hatten, ist es nicht verwunderlich, dass ihr Verständnis sozialer Gerechtigkeit sich hier deutlich niederschlägt. „[D]ie staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen“, so heißt es in der Enzyklika, müssten „ganz und gar von dieser Gerechtigkeit durchwaltet sein“ (QA 88). Gemeinsam mit der „sozialen Liebe“ wird sie zum zentralen Motiv der notwendigen umfassenden gesellschaftlichen Erneuerung erklärt. Eine genauere Definition oder gar eine ausgearbeitete Theorie der sozialen Gerechtigkeit bietet das Dokument indes nicht. Es präsentiert soziale Gerechtigkeit vielmehr als eine „geistig-gedankliche Leitregel“, ein „geistig-gedankliches Formprinzip der Gesellschaft“18. Die Enzyklika nimmt bei ihrer Forderung nach sozialer Gerechtigkeit keineswegs nur den Staat in die Pflicht, sondern alle Institutionen und Akteure, die an der Gestaltung der sozialen Strukturen mitwirken. Zwar wird dem Staat bei der Durchsetzung der sozialen Gerechtigkeit eine herausgehobene Rolle zugewiesen; entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip (QA 79 f.) wird aber auch die Verantwortung der Einzelnen und der intermediären gesellschaftlichen Gruppen betont.19
III. Katholische Soziallehre und zeitgenössischer Gerechtigkeitsdiskurs: Konvergenzen und Divergenzen Nach dem Erscheinen von Quadragesimo anno avancierte die soziale Gerechtigkeit zusehends zum Zentralbegriff der katholischen Soziallehre. Eine ähnliche Wirkung entfaltete im Bereich der politischen Philosophie die 1971 erschienene Studie „A Theory of Justice“ von John Rawls. Unter Bezugnahme auf dieses Werk ist inzwischen eine kaum noch überschaubare Vielzahl an Theoriebeiträgen erschienen. Dabei setzen die meisten der diskutierten Ansätze soziale Gerechtigkeit mit distributiver Gerechtigkeit gleich. Das heißt, ihre zentrale Frage ist die nach der interpersonellen Verteilung von Gütern und Lasten. Grundsätzlich abgelehnt wird diese Perspektive lediglich von orthodoxen Marxisten und orthodoxen Wirtschaftsliberalen, sogenannten „Libertären“. Marx hält es für „überhaupt fehlerhaft, von der sog. Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen.“20 Dem „Vulgärsozialismus“ hält er entgegen, es gehe um eine revolutionäre Umwälzung der Produktionsweise, nicht um eine Umverteilung der Produktionsergebnisse. Der Wirtschaftsliberale dagegen, als Beispiel sei hier Friedrich A. von Hayek genannt, meint, dass die Theorie der Verteilungsgerechtigkeit 17 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I – II, q. 97, a. 1. Siehe dazu auch W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, 2. Aufl., Hamburg 1980, S. 237 ff. 18 O. v. Nell-Breuning, Die soziale Enzyklika. Erläuterungen zum Weltrundschreiben Papst Pius’ XI. über die gesellschaftliche Ordnung, 3. Aufl., Köln 1950, S. 176. 19 Vgl. ebd., S. 176 f. 20 K. Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW, Bd. 19, Berlin (Ost) 1962, S. 11 – 32, hier: S. 22.
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und das System der Freiheit gänzlich unvereinbar seien.21 Denn wenn die Individuen frei seien, auf dem Markt ihre eigenen Interessen und Ziele zu verfolgen, sei es nicht sinnvoll, das sich dabei ergebende Verteilungsprofil als gerecht oder ungerecht qualifizieren zu wollen. Die Botschaft Hayeks lautet: Freiheit oder Verteilungsgerechtigkeit, tertium non datur. An dem zuletzt genannten Punkt nun setzt Rawls mit seiner Gerechtigkeitstheorie an. Er wirft dem Libertarismus ein naives Freiheitsideal vor, indem er darauf hinweist, dass die Menschen sich mit äußerst unterschiedlichen Voraussetzungen auf den Markt begeben. Diese unterschiedlichen Voraussetzungen, die zugleich sehr weitgehend die Erfolgsaussichten der Einzelnen beeinflussten, ergäben sich einerseits aus der Natur, andererseits aus der Geschichte. Welche natürlichen Begabungen jemand habe, in welche soziale Schicht jemand geboren werde, ob er liebevolle, ihn fördernde Eltern habe oder nicht – alles das werde, so Rawls, von der „Lotterie der Natur“ bestimmt, und die ist seiner Ansicht nach „unter moralischen Gesichtspunkten willkürlich.“22 Er plädiert deshalb für ein System der „demokratischen Gleichheit“, in dem diese willkürlichen Wirkungen der natürlichen Lotterie ausgeglichen werden. Zu erreichen sei das, wenn allen Menschen entsprechend einem primären Gerechtigkeitsprinzip unterschiedslos bestimmte unveräußerliche politische Grundfreiheiten und -rechte zuerkannt würden und wenn andere Grundgüter – Chancen, Einkommen, Macht, soziale Grundlagen der Selbstachtung – entsprechend folgendem zweiten, nachgeordneten Grundsatz verteilt würden: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) Sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größten Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.“23 Inwieweit die Rawls’sche Gerechtigkeitstheorie mit der Katholischen Soziallehre vereinbar ist, soll hier dahingestellt bleiben.24 Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass Rawls es für nötig hält, zur Verwirklichung „tatsächlicher Chancengleichheit“ die Verteilung der individuellen Begabungen als „Gemeinschaftssache“ 25 bzw. „öffentliches Gut“26 zu behandeln und unter die Kuratel des Differenzprinzips zu stellen. Das hat ihm den Vorwurf eingehandelt, es mit den postulierten Grundrechten wohl doch nicht so ernst zu nehmen, ja letztlich sogar den Begriff der Person zu verabschieden, der als gemeinsames Erbe des Christentums und der Philosophie der Aufklärung betrachtet werden muss.27 Auch Jürgen Habermas setzt mit seiner Rawls-Kritik bei der Autonomie der Person bzw. des Staatsbürgers an. Er betont, dass es nicht die Aufgabe der politischen Philosophie sei, materiale Gerechtigkeitsgrundsätze zu formulieren, sondern dass dies dem öffentlichen Diskurs vorbehalten bleiben müsse. Denn „[p]olitisch autonom 21 Vgl. F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, übers. v. M. Suhr, Landsberg a. L. 1981. 22 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. v. H. Vetter, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 1998, S. 94. 23 Ebd., S. 336. 24 Vgl. dazu F.-J. Bormann. 25 J. Rawls (Anm. 22), S. 122. 26 Ebd., S. 205. 27 Vgl. etwa W. Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart / Weimar 2000, S. 137 ff.
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sind Bürger nur dann, wenn sie sich gemeinsam als Autoren derjenigen Gesetze verstehen können, denen sie als Adressaten unterworfen sind.“28 In dieser Offenheit hinsichtlich der Frage, wie der Begriff der sozialen Gerechtigkeit inhaltlich genau zu füllen sei, weist Habermas’ Ansatz in eine ähnliche Richtung wie die Katholische Soziallehre. Auch letztere hat niemals den Versuch unternommen, eine inhaltlich umfassende Gerechtigkeitstheorie zu formulieren. Sie hat vielmehr immer wieder konkrete, die Menschenwürde verletzende gesellschaftliche Missstände kritisiert und sich bemüht, ausgehend von allgemeinen, auf dem christlichen Menschenbild fußenden Sozialprinzipien (Personalität, Subsidiarität, Solidarität, Gemeinwohl) konstruktive Hinweise für eine Verbesserung der sozialen Lage zu geben. Auch heute noch begreift die Katholische Soziallehre soziale Gerechtigkeit als an diesen Grundsätzen orientiertes übergeordnetes Leitprinzip in Staat und Gesellschaft und verfolgt das Ziel, dieses möglichst zeit- und praxisnah zu übersetzen. Sie strebt insofern weitaus weniger eine irdische „societas perfecta“ an als so manche säkulare Gerechtigkeitstheorie. Dieses allgemeine Verständnis von sozialer Gerechtigkeit als übergeordnetes Leitprinzip bedeutet keineswegs, dass der Begriff anspruchslos wird, wohl aber dass dessen ökonomistische Verengung auf den Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit durchbrochen wird. Dabei wird keineswegs bestritten, dass sozialstaatliche Umverteilung ein wichtiger Aspekt ist, um in einer entwickelten Gesellschaft soziale Gerechtigkeit herbeizuführen, aber die Perspektive ist eine weiter reichende: Die Katholische Soziallehre fragt nicht primär danach, wie faire Distributionsverhältnisse zu erreichen sind, sondern welche sozialen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit jeder Mensch eine würdige, demütigungsfreie Existenz als anerkanntes Mitglied der sozialen Gemeinschaft führen kann. In diesem Sinne wird soziale Gerechtigkeit nicht alleine durch eine materielle Versorgung aller realisiert, sondern erst durch die Teilhabe aller an den wesentlichen politischen, ökonomischen und kulturellen Vollzügen innerhalb der Gesellschaft. Seit dem vielbeachteten Wirtschaftshirtenbrief der Konferenz der US-amerikanischen katholischen Bischöfe von 1986 „Economic Justice for All“ wird zur Bezeichnung dieser Forderung nicht nur innerhalb der katholischen Sozialverkündigung der Begriff der „Beteiligungsgerechtigkeit“ bzw. „kontributiven“ oder „partizipativen Gerechtigkeit“ verwendet.29 Indem die Katholische Soziallehre von der biblisch-theologisch und philosophisch begründeten Menschenwürde her argumentiert, wählt sie einen äußerst anspruchsvollen Ausgangspunkt. Normative philosophische Ethiken sind allerdings nicht weniger voraussetzungsreich. Der Rawls’sche Urzustand ist wie der Habermas’sche Diskurs geradezu „ein Festival normativer Vorurteile“30. Diese pointierte Feststellung von Wolfgang Kersting hat zwischenzeitlich freilich einiges an ihrem provozierenden Gehalt verloren. Spätestens seit Habermas selbst im Zuge der bioethischen Debatte festgestellt hat, dass „sich heute die philosophische Ursprungsfrage nach dem ,richtigen Leben‘ in anthropologischer Allgemeinheit zu erneuern“ scheine,31 kann das Gute nicht mehr mit dem 28 Vgl. J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1999, S. 92. 29 Vgl. U. Nothelle-Wildfeuer, S. 52 ff. 30 W. Kersting (Anm. 27), S. 92. 31 J. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a. M. 2001, S. 33.
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dürren Hinweis auf die lebensweltliche Pluralisierung in modernen Gesellschaften aus dem Diskurs der politischen Philosophie ausgeklammert werden. In der Theoriediskussion jedenfalls wird die Frage des Verhältnisses des Guten zu dem Gerechten neuerdings wieder eingehend erörtert.32 Andere sozialphilosophische Ansätze räumen dem Guten bzw. dem guten Leben einen deutlich großzügigeren Platz ein als Habermas. Es ist hier nicht nur an den Kommunitarismus (A. MacIntyre, M. Walzer, Ch. Taylor) zu denken, der durch seine Fokussierung auf die moralischen Traditionen konkreter Gemeinschaften zwar zu einem gehaltvollen Begriff des Guten gelangt, diesen aber zu dem Preis des Rückfalls hinter die Paradigmen einer universalistischen Ethik und des politischen Liberalismus erkauft. Es gibt auch Versuche, die Idee des guten Lebens wieder in die politische Philosophie einzubringen, ohne diesen Rückschritt zu vollziehen. Beispielhaft zu nennen ist hier etwa Amartya Sen, der mit seiner Gerechtigkeitstheorie an Rawls anknüpft, aber dessen Fokussierung auf materielle Güter kritisiert. Sen meint, dass die sittliche Qualität einer Gesellschaft sich danach bemesse, inwieweit ihre Mitglieder die tatsächliche Fähigkeit haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Er spricht von „the capability-based assessment of justice“33. Es ist inzwischen der Versuch unternommen worden, diesen „Fähigkeiten-Ansatz“ ins Gespräch mit der Katholischen Soziallehre zu bringen.34 Andere Autoren bringen den Begriff der Anerkennung in die Theoriedebatte. Dieser ist von Fichte in der Schrift „Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ (1796) zur Definition des Rechtsverhältnisses eingeführt worden: „Ich muss das freie Wesen außer mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d. h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken.“35 Hegel hat den Anerkennungsbegriff aus dem Kontext der Rechtsbegründung gelöst und ihn in den Mittelpunkt der praktischen Philosophie insgesamt gestellt. Hier knüpfen verschiedene neueste Beiträge zur politischen Philosophie an. In der deutschen Diskussion ist vor allem Axel Honneth zu nennen.36 Dessen Ansicht nach sind „Struktur und Qualität der sozialen Anerkennungsbeziehungen das zentrale Anwendungsfeld von Prinzipien der Gerechtigkeit.“37 Insofern in diesem Ansatz gerechte soziale Strukturen als institutionalisierter Ausdruck der reziproken Anerkennung freier und vernünftiger Mitglieder einer politischen Gemeinschaft gedeutet werden, zeigt er eine Affinität zu der Tradition des im weiteren Sinne naturrechtlichen Denkens. Es verwundert deshalb nicht, dass es Bemühungen gibt, einen Dialog zwischen Anerkennungstheorie und Katholischer Soziallehre in Gang zu bringen.38 Vgl. dazu E. Mack. A. Sen, Inequality Reexamined, Oxford 1992, S. 81. 34 Vgl. E. Nass. 35 J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, 3. Nachdr., Hamburg 1979, § 4, S. 52. 36 Vgl. A. Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992. 37 A. Honneth, Gerechtigkeit und kommunikative Freiheit. Überlegungen im Anschluss an Hegel, in: Merker, B. u. a. (Hrsg.), Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004, S. 213 – 227, hier: S. 221. 38 Vgl. A. Bohmeyer sowie A. Küppers. 32 33
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Natürlich ist das von dem Menschenwürdegedanken ausgehende allgemeine Verständnis sozialer Gerechtigkeit in der Katholischen Soziallehre deutlich unschärfer als ein Ansatz, der den Begriff rein ökonomisch versteht und feste Grundsätze für die Verteilung materieller Güter in der Gesellschaft anbietet. Diese Unschärfe ist auch im Hinblick auf die sozialphilosophischen Modelle Sens und Honneths zu konstatieren. Warum aber, fragt Sen mit Recht, sollten „wir es ablehnen, eine vage Vorstellung vom Richtigen zu entwickeln, und stattdessen eine präzise Vorstellung vom Falschen anstreben?“39 Die begriffliche Unschärfe wird innerhalb des liberalen Prinzipien folgenden politischen Diskurses in der modernen pluralistischen Gesellschaft letztlich sogar zum Vorzug. Der von der Katholischen Soziallehre verwendete Begriff der sozialen Gerechtigkeit hat einerseits die nötige Offenheit, um mit verschiedenen gesellschaftspolitischen Konzepten wie auch sozialphilosophischen Theorieentwürfen einen Dialog zu führen. Andererseits ist mit dem Rekurs auf die Menschenwürde nicht nur das Fundament dieses Gerechtigkeitsverständnisses angegeben, sondern auch ein durchaus inhaltliches Gerechtigkeitskriterium, das in diesen Dialog eingebracht werden kann und muss. „Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muss von der Politik geschaffen werden“, heißt es in der Antrittsenzyklika Deus caritas est (DCE) von Papst Benedikt XVI.: „Aber das Mühen um die Gerechtigkeit durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse des Guten geht sie zutiefst an“ (DCE 28a). Geleitet ist die Kirche dabei von der Liebe zu den Menschen, in der sie Christus nachahmt. Die Liebe ist, wie es Nikolaus Monzel einmal formuliert hat, die „Sehbedingung“ und die „treibende Kraft“ der Gerechtigkeit.40 Deshalb, so Benedikt, ist es auch gefährlich zu glauben, ein wie auch immer geartetes politisches Programm zur Realisierung sozialer Gerechtigkeit würde den Dienst der Liebe überflüssig machen. Wer die Liebe abschaffen will, wird nicht nur das Ziel der Gerechtigkeit verfehlen, sondern er macht sich auch daran, „den Mensch als Menschen abzuschaffen“ (DCE 28b).
Literaturverzeichnis Bohmeyer, Axel: Jenseits der Diskursethik. Christliche Sozialethik und Axel Honneths Theorie sozialer Anerkennung (Forum Sozialethik, Bd. 2), Münster 2006. Bormann, Franz-Josef: Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und Partizipation. John Rawls und die katholische Soziallehre (Studien zur theologischen Ethik, Bd. 113), Freiburg (Schweiz) u. a. 2006. Küppers, Arnd: Gerechtigkeit in der modernen Arbeitsgesellschaft und Tarifautonomie (Abhandlungen zur Sozialethik, Bd. 50), Paderborn u. a. 2008. Löffler, Winfried: Soziale Gerechtigkeit. Wurzeln eines Konzepts in der Christlichen Soziallehre, in: Koller, Peter (Hrsg.), Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart, Wien 2001, S. 65 – 88. Mack, Elke: Gerechtigkeit und gutes Leben. Christliche Ethik im politischen Diskurs, Paderborn u. a. 2002. A. Sen, Der Lebensstandard, übers. v. I. Utz, Hamburg 2000, S. 60. N. Monzel, Die Sehbedingung der Gerechtigkeit, in: ders., Solidarität und Selbstverantwortung. Beiträge zur christlichen Soziallehre, München 1959, S. 53 – 71, hier: S. 68. 39 40
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Nass, Elmar: Der humangerechte Sozialstaat. Ein sozialethischer Entwurf zur Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, Bd. 51), Tübingen 2006. Nothelle-Wildfeuer, Ursula: Soziale Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft (Abhandlungen zur Sozialethik, Bd. 42), Paderborn u. a. 1999.
Der politische und soziale Katholizismus Von Winfried Becker I. 1806 – 1871 Die Entwicklung des Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert nahm ihren Ausgangspunkt von einer auf Grund der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege sehr veränderten geistigen und politischen Landschaft. Das multipolare Heilige Römische Reich Deutscher Nation verschwand, mit ihm der für dieses vormoderne Staatsgebilde typische, ineinander verschlungene Dualismus von geistlicher und weltlicher Gewalt zumal in den geistlichen Staaten – wo weder die Theokratie noch die Trennung von Kirche und Staat geherrscht hatte. Schon die Friedensschlüsse von Basel (1795) und Campo Formio (1797) stellten den Großmächten Preußen und Österreich Entschädigungen aus geistlichem Gut für jene Gebiete in Aussicht, die auf dem linken Rheinufer an das revolutionäre Frankreich fielen. Der Reichsdeputationshauptschluss (RDH) von 1803 besiegelte dann die große Säkularisation, die auch die mittleren Staaten mit beträchtlichen Gebietszuwächsen bedachte. Die Kurfürstentümer Köln und Trier, das Erzbistum Salzburg, 19 weitere Bistümer und 44 Abteien wurden aufgehoben, ihre Einnahmen und Besitztümer fielen an die weltlichen Nachbarn, ca. 3 Millionen Menschen wechselten die Staatszugehörigkeit. Einige Schutzbestimmungen wurden für die zweckgerechte Verwendung oder Abgeltung kirchlicher Vermögen und Pensionsansprüche erlassen (§§ 35, 61, 65 RDH). Sie begründeten Rechtstitel der Kirche auf Staatsleistungen aus säkularisiertem Gut und behielten im Prinzip ihre Geltung bis zum Grundgesetz der Bundesrepublik. Dennoch trifft die Feststellung zu, „daß die evangelischen Staaten Deutschlands 1803 den territorialen und zahlenmäßigen, politischen und wirtschaftlichen Vorsprung erhalten haben, der die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts weitgehend bestimmt hat.“1 Allerdings wurden auch in Bayern die Säkularisationen rücksichtslos durchgeführt. Für die katholische Kirche verbot es sich aus verschiedenen Gründen, ihrer Sendung in enger Anlehnung an den gestärkten Staat nachzukommen, etwa nach dem Vorbild des fragilen Restaurationskönigtums in Frankreich. Die föderativ organisierte Staatenwelt des Deutschen Bundes bot keinen geeigneten Ansprechpartner für ein Bundeskonkordat, 1 Rudolf Lill, Reichskirche – Säkularisation – Katholische Bewegung. Zur historischen Ausgangssituation des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert, in: Rauscher (Hrsg.), Katholizismus, Bd. 1, S. 15 – 45, 28; vgl. Erwin Gatz unter Mitwirkung von Clemens Brodkorb / Rudolf Zinnhobler (Hrsg.), Die Bistümer der deutschsprachigen Länder von der Säkularisation bis zur Gegenwart, Freiburg i. Br. 2005; Rolf Decot (Hrsg.), Kontinuität und Innovation um 1803. Säkularisation als Transformationsprozess. Kirche – Theologie – Kultur – Staat, Mainz 2005; Karl Härter, Zweihundert Jahre nach dem europäischen Umbruch von 1803. Neuerscheinungen zu Reichsdeputationshauptschluss, Säkularisationen und Endphase des Alten Reiches, in: Zeitschrift für Historische Forschung 33 / 1 (2006), S. 89 – 115.
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wie es etwa der Mainzer Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg und der Konstanzer Generalvikar und Bistumsverweser Ignaz Heinrich von Wessenberg planten. Die in ihrer Souveränität gestärkten Staaten waren mehrheitlich protestantisch, dazu staatskirchlich und bürokratisch orientiert. Nur nach langwierigen Verhandlungen ließen sich für die alten und die neu umschriebenen Bistümer Oberhirten finden und Grenzen ziehen. Das Papsttum, seit der Revolution um seine geistliche Sendung und um den schließlich doch verlorenen Kirchenstaat ringend, gewann eine „moderne Legitimität“ durch die intensivierte Verbindung mit den Gläubigen aller Völker.2 Die Auseinandersetzung mit der Aufklärung und mit dem revolutionären Säkularismus nahmen verschiedene katholische Gruppen und Kreise auf. Ökumenische und rechtgläubig-romorientierte Tendenzen verbanden sich im Wiener Kreis um Klemens Maria Hofbauer (Friedrich Schlegel, Adam Müller), im Münsteraner Kreis um Fürstin Amalie von Gallitzin, im Landshuter Kreis um den Professor der Pastoral- und Moraltheologie Johann Michael Sailer. Die Unabhängigkeit der Kirche gegenüber febronianischen und protestantisch-staatskirchlichen Bestrebungen und die gesellschaftsprägende Kraft des christlichen Glaubens gerannen zu Fixpunkten der Grundlagendiskussion bei mehr romorientierten Kreisen. Zu nennen wären die Konföderierten („Verein der Ordinariate“ der Bistümer Eichstätt, Bamberg und Würzburg), der Eos-, dann Görres-Kreis in München und der Mainzer Kreis um Bischof Johann Ludwig Colmar und Seminarleiter Franz Leopold Liebermann. Katholische Zirkel, die sich teils christlichen Liebeswerken widmeten, entstanden in Frankfurt, Koblenz, Bonn, Köln, Düsseldorf und Aachen. Die erste breite Mobilisierung des katholischen Volkes rief die Schrift „Athanasius“ (1838) des Münchener Geschichtsprofessors (1827 – 1848) Joseph Görres hervor. Seine Stellungnahme im Kölner Mischehenkonflikt pflanzte die Fahne der positiven Religionsfreiheit auf.3 Er erzielte ein großes Echo, weil auch grundlegende Seelsorgsleistungen in vielen vormärzlichen Staaten einer kleinlich gehandhabten Genehmigungspflicht unterlagen. Der Aufschwung romtreuer („ultramontaner“) katholischer Zeitschriften seit den 1820erJahren schuf einen Regionen übergreifenden „Kommunikationsraum“; 4 die bekanntesten wurden der in Mainz erscheinende „Katholik“ (1822 – 1918) und die „Historisch-politischen Blätter“ aus München (1838 – 1923). Unter dem Eindruck der entschiedenen Forderungen von Robert Félicité de Lamennais nach Gewährung von Glaubens- und Unterrichtsfreiheit und des Zusammengehens von Liberalen und Katholiken in Belgien bekannten sie sich zu den bürgerlichen Freiheitsrechten und reklamierten zugleich die Unabhängigkeit für die katholische Kirche. Sie blieben allerdings antirevolutionär eingestellt, indem sie den Glauben als Gewähr für die „Sittlichkeit“ und die Gesetzestreue der Bürger, somit als eine Art staatstragender Kraft, ansahen. Eine gewisse Wendung 2 Vincent Viaene, The Roman Question. Catholic Mobilisation and Papal Diplomacy during the Pontificate of Pius IX (1846 – 1878), in: Emiel Lamberts (Hrsg.), The Black International 1870 – 1878. The Holy See and Militant Catholicism in Europe, Löwen 2002, S. 135 – 177; vgl. Dominik Burkhard, Staatskirche – Papstkirche – Bischofskirche. Die „Frankfurter Konferenzen“ und die Neuordnung der Kirche in Deutschland nach der Säkularisation, Rom / Freiburg / Wien 2000. 3 Heinz Hürten (Bearb.), Joseph Görres. Athanasius (J. Görres, Gesammelte Schriften, Bd. XVII / 1, Schriften zum Kölner Ereignis), Paderborn 1998. 4 Bernhard Schneider, Katholiken auf die Barrikaden? Europäische Revolutionen und deutsche katholische Presse 1815 – 1848, Paderborn 1998, S. 380 – 382.
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zum Staat, im Rahmen der im Deutschen Bund herrschenden staatlichen Ordnung, vollzog auch Görres. Er apostrophierte König Ludwig I. von Bayern (1825 – 1848) als Schutzherrn der katholischen Konfession. Das war nicht ungewöhnlich, weil England und Preußen als Schutzmächte des Protestantismus galten. Görres’ Berufung auf die im deutschen Föderalismus liegende Gewaltenteilung hing also mit dem Streben nach Freiheit für die eigene Konfession zusammen und trug der historisch bedingten territorialen Verteilung der Konfessionen in Deutschland Rechnung. Die konfessionell-kulturelle Prägung der Länder und Landschaften, die Entstehung von Presseorganen, die Bildung von Sammlungszentren und das erste Auftreten von Führungsfiguren waren Voraussetzungen dafür, dass der katholische Bevölkerungsteil im Revolutionsjahr 1848 sich mit einer gewissen Eigenständigkeit geltend machte. Nach der Gewährung der Vereins- und Versammlungsfreiheit trat am 4. Oktober 1848 die „Erste Versammlung des katholischen Vereines Deutschlands“ in Mainz zusammen. Ein „Petitionssturm“ (über 1 100 Petitionen mit ca. 300 000 Unterschriften) mahnte die kirchenpolitischen Belange in der Frankfurter Nationalversammlung an.5 Der etwa 40 Abgeordnete umfassende Katholische Klub der Paulskirche wehrte die von Liberalen und Demokraten vertretene Meinung ab, ihre Kirche sei nach allgemein national-säkularistischen konstitutionellen Vorstellungen zu ordnen und umzugestalten: Danach war die kirchliche Autorität abzuschaffen oder zu reduzieren, eine Nationalkirche zu schaffen, waren die Priester zu wählen und die Orden aufzulösen. Sie bestanden auf der Anerkennung der autogenen Verfassung und auf den von der Kirche als geeignet erachteten Formen der Verkündigung ihrer Botschaft. Sie erreichten die grundrechtliche Zusicherung, dass die Kirchen sowie neu zu gründende Religionsgesellschaften ihre Angelegenheiten selbständig ordnen durften, nur den „allgemeinen“ Staatsgesetzen unterworfen wurden und die Aufsicht über den an öffentlichen Schulen zu erteilenden Religionsunterricht erhielten. 1848 trat in Würzburg die erste deutsche Bischofskonferenz zusammen. Mit allem Nachdruck machte Wilhelm Emmanuel von Ketteler, 1850 – 1877 Bischof von Mainz, ebenfalls schon im Revolutionsjahr 1848 auf die soziale Frage aufmerksam; er meinte die Armut breiter Bevölkerungsschichten sowohl im agrarischen wie frühindustriellen Bereich. „Mit den besten Staatsformen“, so führte er in seinen Adventspredigten im Mainzer Dom aus, „haben wir noch keine Arbeit, noch kein Kleid, noch kein Brot, noch kein Obdach für unsere Armen.“6 Bereits 1837 hatte der Professor der „politischen Wissenschaften“ Franz Joseph von Buß im Badischen Landtag Maßnahmen des Arbeiterschutzes, die Einrichtung einer hälftig vom Unternehmer und Arbeiter finanzierten Hilfskasse gegen Unfälle und Krankheiten und eine Gewinnbeteiligung der Arbeiter am „Fabrikgewinn“ gefordert. Er erkannte die „Vorzüge der fabrikmäßigen Industrie“ an; wollte aber die Landwirtschaft gehoben und den selbständigen Handwerksbetrieb erhalten wissen.7 Damit erstreckte sich die soziale Aufgeschlossenheit des 5 Hürten, Geschichte, S. 96; vgl. Ernst Heinen, Katholizismus und Gesellschaft. Das katholische Vereinswesen zwischen Revolution und Reaktion (1848 / 49 – 1853 / 54), Idstein 1993, S. 40 f. 6 Predigt vom 3. 12. 1848. Erwin Iserloh (Hrsg.), Wilhelm Emmanuel von Ketteler 1811 – 1877, Paderborn 1990, S. 36; Christoph Stoll / Bernd Goldmann, Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler. Eine Bibliographie, Mainz / München 1995. 7 Nikolaus Kircher unter Mitwirkung von Günter Baadte u. a. (Hrsg.), Katholiken und die soziale Frage im 19. Jahrhundert. Ein Quellen- und Arbeitsbuch, Bonn 1998, S. 21 – 33; erschienen
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„ultramontanen“ Katholizismus auch auf die ländliche Bevölkerung und das Kleingewerbe. Die aufgeklärt-liberalen Gesellschafts- und Staatslehren vermochten offenbar keine angemessene Antwort auf den Pauperismus und die dadurch hervorgerufenen ethischen und sozialen Probleme zu erteilen. Auch in Frankreich erhoben die „ultramontanen“ Katholiken der „ersten démocratie chrétienne“ des Jahres 1848 soziale Forderungen; dabei traten eine christlich-sozialistische Strömung (Philippe Buchez) neben die konservativen Sozialreformer, die von der Patronage Besserung erwarteten (Léon Harmel). Das katholische Sozialdenken hatte Wurzeln im Kommunitarismus von Papst Benedikt XIV. (1740 – 1758).8 Es erhielt im 19. Jahrhundert Anstöße von der Wiederbelebung des naturrechtlichen und neuthomistischen Denkens bis hin zur Enzyklika Rerum novarum Papst Leos XIII. (1891). In Deutschland betonten die von der Romantik beeinflussten Sozialdenker Adam Müller und Franz von Baader, allerdings in zeitgebundener Diktion, die Bedeutung der inneren Bindungen, der Interdependenz und des Zusammenhalts einer Gesellschaft. Die 1852 gebildete katholische Fraktion (mit 63 Abgeordneten) im Preußischen Abgeordnetenhaus machte es sich zur Aufgabe, die durch die Verfassung von 1850 gewährten verfassungsmäßigen Rechte der Kirche zu verteidigen. Nach den Anfängen 1848 traten während der 1860er-Jahre im vorpolitischen Raum Ansätze eines breitgefächerten Vereinswesens hervor, Berufs- und Standesvereine wie die Gesellenvereine Adolf Kolpings (seit 1846), die Bergmanns- und Knappenvereine, die Studentenverbindungen, der für die Diaspora-Seelsorge eintretende Bonifatiusverein von 1849, Bürgervereine und erste vor Wahlen tätige Vereine. Die (kirchen-)politisch ausgerichteten Piusvereine (1848 – 1854) fielen der Reaktionsperiode zum Opfer. Die von 1862 – 1864 tagenden Soester Konferenzen befassten sich wieder mit politischen Fragen und mit dem sozialen Wandel, der sich in den entstehenden Industriegebieten Rheinland-Westfalens abzeichnete. Nachdem die Katholische Fraktion gleichsam der Polarisierung des preußischen Verfassungskonflikts zum Opfer gefallen war, begünstigten die allgemeinen politischen Entwicklungen die Entstehung der Preußischen und Deutschen Zentrumspartei im Winter 1870 / 71 sowie der Bayerischen Patriotenpartei („Patriotische Fraktion“) im Sommer 1869. Der preußisch-österreichische Krieg von 1866 und die Einverleibung des Kirchenstaates in den italienischen Nationalstaat (1870) führten auch in Deutschland zu Solidaritätsbekundungen der katholischen Bevölkerung. Die Voraussetzungen für die parlamentarische Vertretung der nunmehrigen katholischen Volksminderheit schufen die Zusammentritte des Norddeutschen Reichstages (1867), dann des Reichstages (1871) des neu gegründeten Bismarckschen Reichs. II. 1871 – 1918 Das kurze Programm der am 21. März 1871 zusammentretenden Reichstagsfraktion des Zentrums bekannte sich zum bundesstaatlichen „Grundcharakter des Reiches“, zur Förderung des „moralischen und materiellen Wohls aller Volksklassen“, und forderte verfassungsmäßige Garantien „für die bürgerliche und religiöse Freiheit“, insbesondere in der Reihe: Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus, hrsg. v. Anton Rauscher, Paderborn (ab 1988). 8 David E. Boileau (Hrsg.), Roger Aubert. Catholic Social Teaching. An Historical Perspective, Milwaukee 2003, S. 242 f.
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für „das Recht der Religions-Gesellschaften“. 9 Der von der Reichstagsmehrheit sogleich abgeschmetterte Grundrechteantrag der Zentrumsfraktion zielte über rein kirchliche Angelegenheiten hinaus. Der Zentrumsparlamentarier Peter Reichensperger sah darin „eine eminent politische Frage“ und gab dem Antrag die Begründung, dass die religiöse Freiheit nicht isoliert bestehe, sondern nach seiner Überzeugung „alle Freiheiten mit Notwendigkeit solidarisch verbunden“ waren.10 In diametralem Gegensatz dazu erklärte der Kulturkampf (1871 – 1887) die Einschränkung der Religionsfreiheit für Katholiken, die die beachtliche Minorität von 37,6 % der Gesamtbevölkerung ausmachten, zu einer Art Staatsziel. Die Maigesetze von 1873 „unterwarfen die katholische Kirche einem geschlossenen System staatlicher Aufsicht“.11 Diese und weitere Gesetze sahen eine Anzeigepflicht für die Besetzung geistlicher Ämter, einen „Königlichen Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten“, das „Kulturexamen“ für Geistliche, die Ausdehnung der staatlichen Schulaufsicht auf den Religionsunterricht und den Kanzelparagraphen vor. Zuwiderhandlungen hatten Haftund Geldstrafen, Ausweisungen und Einstellung der Staatsmittel an Geistliche zur Folge. Ein Viertel der 4 627 Pfarreien in Preußen und sechs von elf preußischen Bischofsstühlen waren schließlich unbesetzt, 4 000 Ordensmitglieder ausgewiesen. Katholiken gelangten kaum noch in den Staatsdienst. Journalisten der katholischen Presse wurden verurteilt, verhaftet oder ins Exil gezwungen. Der deutsche Liberalismus, der sonst für Vereinsfreiheit eintrat, missachtete die Autonomie der katholischen Religionsgemeinschaft und damit einen Teil seiner eigenen Grundsätze. Reichskanzler Otto von Bismarck gab vor, die Staatssouveränität vor der durch das Unfehlbarkeitsdogma von 1870 gestärkten „Priesterherrschaft“ schützen zu müssen. In Wirklichkeit witterte er in der Zentrumspartei eine von ihm nicht kontrollierbare parlamentarische Kraft, die sich als „Reichsfeind“ mit anderen renitenten Elementen verbünden könne, mit den „Partikularisten“ aus Bayern und Hannover, den altpreußischen Konservativen, mit den polnischen und dänischen Minderheiten, den Elsässern oder mit der linksliberalen Fortschrittspartei. Der Antiklerikalismus diente ihm als Instrument zur Zähmung der tonangebenden nationalliberalen Partei, ähnlich wie dieses Schlagwort auch in der Dritten Republik Frankreichs dazu herhalten musste, Sachdifferenzen zwischen ungleichen Koalitionspartnern zu verkleistern. Bismarck fand allerdings einen kongenialen Gegenspieler im Anführer der Zentrumspartei, Ludwig Windthorst. Dieser föderalistisch gesinnte Hannoveraner geißelte den Kulturkampf als Ausdruck eines insgesamt unangebrachten Omnipotenz-Gehabes des Staates, forderte Religionsfreiheit für Katholiken, Protestanten und Juden, die Einhaltung rechtsstaatlicher Grenzen, die Beachtung der öffentlichen Meinung und der parlamentarischen Mitwirkung im Gesetzgebungsprozess.12 Die für den politischen Katholizismus in Deutschland Bachem, Bd. 3, 1927, S. 137 f. Ludwig Bergsträßer (Hrsg.), Der politische Katholizismus. Dokumente seiner Entwicklung, Bd. 2 (1871 bis 1914), München 1923, S. 69. 11 Rudolf Morsey, Bismarck und die deutschen Katholiken, Friedrichsruh 2000, S. 16; Karsten Petersen, „Ich höre den Ruf nach Freiheit.“ Wilhelm Emmanuel von Ketteler und die Freiheitsforderungen seiner Zeit, Paderborn 2005, S. 300 – 366. 12 Vgl. Margaret Lavinia Anderson, Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks, Düsseldorf 1988 (engl. Ausg. 1981); Paul Colonge, Ludwig Windthorst (1812 – 1891). (Sa pensée et son action politiques jusqu’en 1875), Bd. 1 – 2, Paris / Lille 1983. 9
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typisch werdende grundrechtliche Orientierung hat er verallgemeinert und vertieft. Darüber hinaus schloss der Kulturkampf die deutschen Katholiken zusammen, stärkte die Loyalität der Laien gegenüber Kirche und Klerus, schuf der Zentrumspartei eine verlässliche Klientel. Die jährlichen Katholikentage gerieten zu „Herbstmanövern“ der Zentrumspartei. Diese erhielt zwar nicht die Stimmen aller Katholiken, konnte aber beim katholischen Bevölkerungsteil stets auf einen verlässlichen Anhang rechnen („Zentrumsturm“). Die konfessionelle Gemeinsamkeit überlagerte zunächst auch die (erst nach 1890 ausbrechenden) nationalen Gegensätze zwischen Deutschen und Polen in Oberschlesien. Der Augustinus-Verein übernahm die Organisation der sich in Stadt und Land verbreitenden katholischen Presse. Die 1876 gegründete Görres-Gesellschaft organisierte die Selbsthilfe für die im Kaiserreich vielfach zurückgesetzten katholischen Gelehrten. Sie bildete Sektionen für alle relevanten Disziplinen der modernen Wissenschaft. Ihr langjähriger Präsident Georg von Hertling verbreitete in Reden und Schriften seine These der Vereinbarkeit von Glauben und Wissenschaft: Hier handele es sich nur um getrennte Zugangswege zu einer umgreifenden Wahrheit.13 Der Rückzug auf die innere Linie verlieh dem deutschen Katholizismus ein unverwechselbares kulturellpolitisches Profil. Die Existenz der zeitweise zur stärksten Fraktion im Reichstag aufsteigenden Zentrumspartei erschien vielen Katholiken Frankreichs und Italiens als vorbildlich und nachahmenswert. Weniger das Zentrum, mehr die Nationalliberalen und Bismarck trugen die Verantwortung dafür, dass die weltanschaulich-konfessionelle Spaltung die ohnehin zerklüftete deutsche Parteienlandschaft und damit die Handlungskraft des Parlaments gegenüber den traditionellen Mächten und der Bürokratie schwächte. Der Kulturkampf verstärkte auch den Säkularisierungstrend in Staat und Gesellschaft und behinderte die noch in der Romantik gegebene Rückbesinnung auf die christliche Vergangenheit und Einheit Europas. Das in seiner politischen Existenzberechtigung angegriffene Zentrum traf allerdings mit seinen sozialpolitischen Initiativen höchst dringliche Probleme, ja wunde Punkte der Gesellschaft. Zwar bezeichneten prominente Nationalliberale den von Ferdinand Heribert von Galen am 19. März 1877 im Reichstag eingebrachten Antrag auf Schutz der Arbeiter, Frauen und Kinder in den Fabriken, auf Zulassung der Verbandsbildung und „gewerbliche Schiedsgerichte“ als „Narrheit“ und mittelalterlich, aber Bismarcks Sozialgesetzgebung selbst erkannte das Bedürfnis zur Besserung der Lage der Arbeiter an. In den Jahren 1883, 1884 und 1889 wurde die Kranken-, Unfall- und Altersversicherung für Industriearbeiter eingeführt. Die Reichsversicherungsordnung von 1911 fasste diese im internationalen Vergleich wegweisenden Systeme zusammen. Durchdachte Beiträge zur Gestaltung dieser Gesetzgebungswerke leisteten im Reichstag vor allem die Professoren Hertling und Hitze14, der Rechtsanwalt Karl Trimborn und der Zentrumsführer Ernst Lieber. Hertling leitete aus dem Grundrecht der Person die gesetzlich zu gewähr13 Vgl. Georg von Hertling, Das Princip des Katholizismus und die Wissenschaft, Freiburg i. Br. 1899, S. 16 – 31. 14 Über ihn: Karl Gabriel / Hermann-Josef Große Kracht (Hrsg.), Franz Hitze (1851 – 1921). Sozialpolitik und Sozialreform, Paderborn 2006; vgl. Manfred Hermanns, Sozialethik im Wandel der Zeit. Persönlichkeiten – Forschungen – Wirkungen des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre und des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster 1893 – 1997, Paderborn 2006. 4
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leistende Verpflichtung ab, über den Arbeiterlohn hinaus von den Partnern des Produktionsprozesses aufzubringende Mittel abzuzweigen, aus denen der vorbeugende Arbeiterschutz und die sozialen Versicherungen finanziert werden sollten.15 Der gesetzliche Eingriff resultierte für ihn aus dem Interventionsrecht des Staates zum Ausgleich der divergierenden gesellschaftlichen Interessen. So weit er sich aber vom liberalen „Nachtwächterstaat“ entfernte, so nachdrücklich lehnte er den „Staatssozialismus“ ab, d. h. eine von der Allgemeinheit, nicht primär von den Betroffenen, finanzierte Sozialversicherung, der Bismarck den Vorzug gegeben hätte, um die Arbeiterschaft mit dem Zuckerbrot materieller Leistungen für den bestehenden monarchischen Staat in die Pflicht zu nehmen, während er die Peitsche des Sozialistengesetzes schwang. Ein „Reichszuschuss“ zur Arbeiterversicherung wurde aber schließlich vom Zentrum akzeptiert. Die Partei kämpfte besonders nachdrücklich für den erst sehr allmählich gegen Widerstände der Reichsleitung und des Reichstags realisierten Arbeiterschutz: vor allem für die Sonntagsruhe, die Reduzierung der Frauen- und Kinderarbeit, den Maximalarbeitstag. Hier brachten die Gewerbeordnungsnovellen von 1891 und 1908, das Kinderschutzgesetz von 1903 erste Fortschritte. Die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen wurde, nach vorherigen Einschränkungen der Sonntagsarbeit auf dem Verordnungswege, erst durch Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung garantiert. Die Beendigung des Kulturkampfes schuf Raum für die Entfaltung eines katholischen Vereinswesens. Der 1890 entstandene „Volksverein für das katholische Deutschland“ nahm sich der „volkswirtschaftlichen“ und weltanschaulichen Schulung der Arbeiter an.16 Der 1904 gegründete Verband „Katholischer Arbeiter- und Knappenvereine Westdeutschlands“ schloss sich 1911 auf dem Mainzer Katholikentag mit dem 1891 gegründeten „Verband Süddeutscher Katholischer Arbeitervereine“ und „dem Ostdeutschen Verband der Katholischen Arbeitervereine“ von 1910 zum „Kartellverband der Katholischen Arbeitervereine West-, Süd- und Ostdeutschlands“ zusammen. 1899 hielten die Christlichen Gewerkschaften in Mainz ihren Gründungskongress ab. Unter Vorläufern sind hervorzuheben der „Gewerkverein christlicher Bergarbeiter Deutschlands“, gegründet 1894 von August Brust im Ruhrgebiet, und der auf Initiative des Kaplans Lorenz Huber 1896 in München ins Leben gerufene Verein „Arbeiterschutz“.17 Während die Christlichen Gewerkschaften, um den Freien Gewerkschaften der Sozialdemokraten auf breiterer Basis entgegentreten zu können, sich programmatisch zur Interkonfessionalität bekannten und ihnen darin der „Volksverein“ und der „Kartellverband“ der Arbeitervereine folgten, verfochten die sogenannten Integralisten, die Bischöfe von Berlin, Trier, Breslau und der 1896 begründete „Verband katholischer Arbeitervereine Berlins und der Delegatur“ das Konzept der Bildung „Katholischer Fachabteilungen“ innerhalb der Arbeitervereine. Nach einer ambivalenten Stellungnahme Papst Pius’ X. (1912) zu diesem „Gewerkschaftsstreit“ konnte der schwelende Konflikt erst 1919 in Einigungsverhandlungen zwischen dem christlichen Gewerkschaftsführer Adam Stegerwald, 15 Ulrich Sellier, Die Arbeiterschutzgesetzgebung im 19. Jahrhundert. Das Ringen zwischen christlich-sozialer Ursprungsidee, politischen Widerständen und kaiserlicher Gesetzgebung, Paderborn 1998, S. 87 – 90; vgl. Horstwalter Heitzer (Hrsg.), Deutscher Katholizismus und Sozialpolitik bis zum Beginn der Weimarer Republik, Paderborn 1991 (Literatur). 16 Vgl. Gotthard Klein, Der Volksverein für das katholische Deutschland 1890 – 1933. Geschichte, Bedeutung, Untergang, Paderborn 1996. 17 Bernhard Forster, Adam Stegerwald (1874 – 1945). Christlich-nationaler Gewerkschafter, Zentrumspolitiker, Mitbegründer der Unionsparteien, Düsseldorf 2003, S. 29 – 41.
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der 900 000 Gewerkschafter vertrat, und den Fachabteilungen (Mitgliederstand 20 000) beigelegt werden.18 Doch kam es bei Wahlen schon vorher zum Zusammenwirken beider Richtungen. Die Arbeitervereine und die Christlichen Gewerkschaften verfolgten im wesentlichen drei Ziele: die Immunisierung der katholischen Arbeiter gegen die atheistisch-kirchenfeindliche Propaganda der Freien Gewerkschaften (mit 4 Millionen Mitgliedern 1919), die Hebung der Arbeiterschaft und die Verbesserung ihrer sozialen Lage bei wirtschaftsfriedlichem Interessenausgleich, die Unterstützung der Zentrumspartei bei den Wahlen, obgleich die Christlichen Gewerkschaften sich für parteipolitisch neutral erklärten. Die geistlichen Präsides der Arbeitervereine verbanden mit ihrem pastoralen Einfluss die Rekrutierung von Nachwuchs für die Arbeitersekretariate und damit für eine Funktionselite des politischen Katholizismus. Die Tätigkeit der katholischen Arbeitervereine fand ihr Pendant auf geistig-kulturellem Gebiet. Der 1844 gegründete Borromäusverein, der sich die „Verbreitung guter Schriften“ zur Aufgabe gemacht hatte, war durch die Einrichtung von Vereinsbibliotheken in den Pfarreien und nach ihrer Erweiterung zu katholischen Volksbüchereien zu einem tragenden Pfeiler der katholischen Volksbildung geworden. Er kam zwischen 1916 und 1920 auf 350 156 Mitglieder in 4 096 örtlichen Vereinen. Die Integration der Katholiken ins Kaiserreich zeigte sich deutlich, als angesehene katholische Gelehrte während des Ersten Weltkrieges sich publizistisch in eine nationale Frontstellung gegen Frankreich und die französischen Katholiken einbeziehen ließen. Auf der anderen Seite bezog das Zentrum eine der vorherrschenden Tendenz der Reichsleitung entgegentretende Position: Am 19. Juli 1917 verabschiedete seine Reichstagsfraktion zusammen mit der SPD und einem Teil der Liberalen eine Resolution, die einen Annexionsfrieden ablehnte. Der Initiator der Aktion war der mutige und umtriebige Abgeordnete Matthias Erzberger. Aber nicht er, sondern zwei ältere (ebenfalls verdiente) Parlamentarier gelangten 1917 in hohe Staatsämter: Peter Spahn wurde Preußischer Justizminister, von Hertling, seit 1912 Bayerischer Ministerpräsident, übernahm das von der Obersten Heeresleitung mehrfach attackierte Reichskanzleramt.
III. 1918 – 1945 Während und nach der Revolution von 1918 trat die Zentrumspartei zwar entschlossen auf die Seite staatlicher Ordnungswahrung, zugleich aber wesentlich vorbehaltloser als die alten Eliten auf den Boden des von ihr maßgeblich mitgestalteten demokratischen Verfassungsstaats. Im schwer errungenen Einvernehmen mit der SPD sorgte sie dafür, dass die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Freiheit der Religionsgesellschaften Eingang in die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 fanden. Freilich zerschlugen sich bis 1920 Pläne von Adam Stegerwald, Heinrich Brauns und Heinrich Brüning, das Zentrum zu einer auf breiten Bevölkerungsschichten der Arbeiterschaft und des Bürgertums ruhenden interkonfessionellen, sozial und national ausgerichteten christlichen Volkspartei der Mitte umzubauen. Zumal das Aufgeben des kulturpolitischen Propriums umso weniger geboten schien, als der Preußische Kultusminister Adolf Hoffmann (USPD) die Schulen religionsfrei machen wollte. In seinen ausführlichen Richtlinien vom 16. Januar 1922 bezeichnete sich das Zentrum indes 18
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selbst als „christliche Volkspartei“, die den Wiederaufstieg des deutschen Volkes gemäß der „sittlichen Idee des Rechts“ und im Rahmen einer erst zu schaffenden „wahren christlichen Völkergemeinschaft“ erstrebe. Schon gemäß seinem traditionellen Verständnis „Verfassungspartei“, lehnte das Zentrum nun konkret „jeden gewaltsamen Umsturz der verfassungsmäßigen Zustände grundsätzlich ab.“ Es widerstritt sowohl der „Staatsallmacht“ wie der „Verneinung und Auflösung des Staatsgedankens. Die Staatsgewalt findet ihre Grenze im natürlichen Recht und im göttlichen Gesetz.“19 Des Zentrum stellte in Weimar vier Reichskanzler, Konstantin Fehrenbach, Joseph Wirth, Wilhelm Marx und Heinrich Brüning, damit mehr als alle anderen Parteien. Der auf Ausgleich bedachte Parteivorsitzende W. Marx brachte es auf vier Kabinette, Wirth und Brüning führten jeweils zwei. Die Partei war bis 1932 an allen 18 Koalitionsregierungen der Weimarer Republik beteiligt. Um die Grundlagen der Koalition war es jedoch schlecht bestellt. Die sogenannte Weimarer Koalition aus den gemäßigten Sozialdemokraten, dem Zentrum und den linksliberalen Deutschen Demokraten, gewissermaßen eine Fortsetzung des Interfraktionellen Ausschusses der Friedensresolution von 1917, hatte nur bis 1921 Bestand. Innen- wie außenpolitisch um eine Politik der Mitte bemüht, verstand sich die Zentrumspartei als eine betont sachpolitisch auftretende Dienerin des Staates, als Sachwalterin einer politischen und sozialen Resultante, die sich idealtypisch aus dem von ihr intendierten Ausgleich der unterschiedlichen Interessen der einzelnen Bevölkerungskreise ergeben sollte.20 Außenpolitisch hat der aus dem Grenzland Baden kommende Joseph Wirth vor Gustav Stresemann Zeichen gesetzt, indem er gegenüber den alliierten Westmächten Entgegenkommen bezüglich der anfangs alles beherrschenden Reparationsfrage zeigte.21 Aus nationalen Erwägungen unterstützte das Zentrum aber auch den vom Rapallo-Vertrag (1922) und vom Berliner Vertrag (1926) ausgehenden Kurs des Ausgleichs mit der Sowjetunion. W. Marx hat sich gegen Versuche gewehrt, die ostpolitischen Beziehungen gegen den Westkurs auszuspielen oder beide Tendenzen für unvereinbar zu halten. Seine kirchen- und religionspolitischen Vorbehalte gegenüber dem Sowjetstaat und dessen Auslandspropaganda hat der Kulturexperte des Zentrums, Georg Schreiber, im Reichstag allerdings offen ausgesprochen. Brüning bekannte sich in der Reichstagsfraktion des Zentrums zu einer Friedenspolitik Deutschlands und interpretierte das sich zu Anfang der 1930er-Jahre abzeichnende Netz bilateraler Nichtangriffsverträge im Sinne dieser Zielprojektion. 22 Innenpolitisch befand sich die Weimarer Republik gleichsam im Belagerungszustand; auch die alliierten Besatzungen an Rhein und Ruhr beeinträchtigten die Normalität erheblich. Die Wirtschaftslage verschlechterte sich ab 1929 erneut dramatisch. Die Koalitionspolitik der Mitte erwies sich nach Anfangserfolgen als außerstande, die gewaltbereiten Extremisten von rechts und links, die Nationalsozialisten (Hitlerputsch 1923) und die Kommunisten (Aufstände 1920 – 1923) zu bändigen. Der durchschnittlich etwa 12,8 % der Wählerstimmen erreichende „Zentrumsturm“ war in unterschiedliche Länderkoalitionen eingespannt und durch die Trennung von der BayeBachem, Bd. 8, 1931, S. 369 – 378. Ruppert, S. 411 – 419. 21 J. Wirth in der Fraktion am 26. 5. 1922. Rudolf Morsey / Karsten Ruppert (Bearb.), Die Protokolle der Reichstagsfraktion der Deutschen Zentrumspartei 1920 – 1925, Mainz 1981, S. 348. 22 Vgl. Herbert Hömig, Brüning. Kanzler in der Krise der Republik. Eine Weimarer Biographie, Paderborn 2000. 19 20
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rischen Volkspartei geschwächt. Zudem unterstützte die bayerische Schwester bei den Reichspräsidentenwahlen von 1925 den konservativen Generalfeldmarschall a. D. Paul von Hindenburg anstelle des eigenen Zentrumskandidaten Marx. Katholische Stimmen frönten einer übertriebenen Gemeinschaftsideologie. Der Erzbischof von München, Kardinal Michael Faulhaber, wurde allerdings von Konrad Adenauer energisch zurückgewiesen, als er auf dem Katholikentag von 1922 die Revolution von 1918 pauschal als „Meineid und Hochverrat“ verurteilte. Der Oberbürgermeister von Köln sah im Festhalten an der Verfassung und an der Einheit des Reiches – gegen partikularistische Tendenzen – das Unterpfand für die Einheit der deutschen Katholiken. Das gegen Ende der Republik auch unter den Katholiken zunehmende Krisenbewusstsein verdeckt zu leicht, dass ein schon vor 1914 einsetzender Aufschwung im katholischen Kulturleben (Carl Muth mit der Zeitschrift „Hochland“) nach 1918 neue Antriebe erfahren hatte. 1919 wurde der Jugendbund „Neudeutschland“ (für höhere Schüler) gegründet, der Schülerbund „Quickborn“ wiederbelebt. 1920 entstand die „Deutsche Jugendkraft“ („Reichsverband für Leibesübungen“). Unter den berufstätigen Jugendlichen warb verstärkt der 1896 gegründete „Verband Katholischer Jugend- und Jungmännervereine Deutschlands“. Neben dem „Zentralverband der Katholischen Jungfrauenvereinigungen“ in Bochum bestand in München der „Süddeutsche Verband Katholischer Weiblicher Jugendvereine“ weiter.23 Die „Christlichen Bauernvereine“ hielten ihre eigenständige Organisation neben dem „Deutschen Bauernverband“ aufrecht. Der „Kartellverband“ der Arbeitervereine von 1911 wandelte sich in Koblenz 1927 unter den altbewährten Führern Otto Müller und Carl Walterbach zum „Reichsverband der Katholischen Arbeiter- und Arbeiterinnenvereine Deutschlands“. Dieser zählte 1930 in 2 941 Vereinen 314 849 Mitglieder (95 % der Katholischen Arbeitervereine Deutschlands). Während die Christlichen Gewerkschaften die Wirtschaftspolitik in den Vordergrund stellten, setzte der „Reichsverband“ mehr auf christliche Gesinnungsreform bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Der starke Süddeutsche Verband im „Reichsverband“ hielt aber Distanz zur „antikapitalistischen Sozialethik“ Karl von Vogelsangs und zum „religiösen Sozialismus“ eines Ernst Michels. Ähnlich wie in den USA oder Frankreich trat eine bisher kritisch bis feindselig eingestellte Umwelt dem Katholizismus nun auch auf den Gebieten von Kultur und Wissenschaft aufgeschlossener gegenüber. Mit dem Priester Heinrich Brauns24 stellte das Zentrum den bedeutendsten Sozialpolitiker der Weimarer Republik. Der von 1920 bis 1928 in 14 Kabinetten amtierende Reichsarbeitsminister hatte seine Karriere als Redakteur (1900), dann Direktor des „Volksvereins für das katholische Deutschland“ begonnen. Brauns beteiligte sich an der Erarbeitung der sozialen Artikel der Weimarer Verfassung. Während seiner Ministerzeit erreichte er den Ausbau des Betriebsverfassungsrechts (1921 / 22), der Tarifvertragsordnung (1923, 1928) und des Schlichtungswesens (1923), das die „freie Verständigung“ und „Selbstbestimmung“ zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Vordergrund stellte. Besondere Erfolge waren die Verabschiedung des Arbeitsgerichtsgesetzes (1927) und des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung am 16. Juli 1927. Brauns betrieb gegen hartnäckigen Widerstand auch die Verbesserung der Arbeiterschutzgesetzgebung (Heimarbeiter, Frauenbeschäftigung vor und nach GeburKrenn, S. 408 f., 129 ff., 143 f., 159 f. auch zum Folgenden. Hubert Mockenhaupt, Weg und Wirken des geistlichen Sozialpolitikers Heinrich Brauns, München / Paderborn / Wien 1977, S. 185 – 222. 23 24
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ten, Arbeitszeit). Er rettete die Sozialversicherung über die Krisenjahre 1923 / 24 hinweg, machte sich um das Wohlfahrtswesen verdient und förderte den Wohnungs- und Siedlungsbau („Reichssiedlungskredite“). Dem Gemeinwohl und der verbandlichen Selbstverantwortung fühlte sich auch das Wirken des langjährigen Vorsitzenden der Christlichen Gewerkschaften (1919 – 1929), Preußischen Ministerpräsidenten (1921), Reichsverkehrsministers (1929 / 30) und Reichsarbeitsministers (1930 – 1932) Adam Stegerwald verpflichtet. Trotz des Erdrutsch-Siegs der NSDAP bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 (107 Mandate) konnten das Zentrum mit insgesamt 68 Sitzen und die BVP (19 Sitze) Mandate zulegen, während die DNVP, die DVP, DDP und SPD teils beträchtlich verloren. Das Zentrum gewann bei den Märzwahlen von 1933, die es mit der Frontstellung gegen die von rechts oder links drohenden Diktaturen bestritt, noch einmal 200 000 Stimmen hinzu und steigerte die Mandate von 70 (1932) auf 74. Der Machtantritt Adolf Hitlers besiegelte dann das Schicksal des politischen und sozialen Katholizismus. Das Zentrum wurde nicht Opfer seiner inneren Auszehrung, sondern, wie die anderen Parteien, der planmäßigen Zerschlagung durch den nationalsozialistischen Staat. Heinrich Brüning und andere Zentrumsanhänger zeigten sich von dem im Jahre 1933 abgeschlossenen Reichskonkordat, das die politische Betätigung von Priestern verbot, zutiefst enttäuscht. Aber die Kurie hielt diesen Vertrag, den sie mit einem sehr veränderten Deutschland abschloss, um der „cura animarum“ willen für geboten. Ihre Hoffnung auf die vertraglich zugesicherte Erhaltung des katholischen Verbandswesens in seiner religiösen Substanz erfüllte sich allerdings nicht. Die Verbände sowie frühere Angehörige des Zentrums und der BVP hatten Gewalttätigkeiten, Schikanen, Verbote und Prozesse zu erdulden. Der Jungmännerverband wurde im Februar 1939 endgültig aufgelöst. Die katholische Presse, die in der „Germania“ (Berlin) und der „Kölnischen Volkszeitung“ zwei überregionale Aushängeschilder besessen hatte, aber auch in Land, Provinz, Milieu verwurzelt war, verschwand. Nach Hitlers Machtergreifung wurden die regional gegliederten katholischen Arbeitervereine für „staatsfeindlich“ erklärt, hatte doch besonders das Presseorgan des Westdeutschen Verbands, die „Westdeutsche Arbeiter-Zeitung“ (Auflage 200 000), eine offensive Auseinandersetzung mit dem politischen Extremismus der NSDAP (und auch der KPD) geführt. Der Hauptschriftleiter Nikolaus Groß trat über seinen Freund, den Sekretär des „Verbandes Katholischer Arbeiter- und Knappenvereine Westdeutschlands“, dann Hauptmann im OKW Bernhard Letterhaus, 1942 in Kontakt mit dem aktiven militärischen Widerstand um Claus Schenk Graf von Stauffenberg.25 Groß und Letterhaus wurden nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Überlebende Gefährten des Kölner Widerstandskreises, Leo Schwering, Theodor Scharmitzel und Laurentius Siemer, betrachteten dieses Blutopfer als ein Vermächtnis, dem sie sich bei der Gründung der CDU in Köln verpflichtet fühlten. Die Nationalsozialisten wollten den politischen und sozialen Katholizismus beseitigen, weil er, tief in der Gesellschaft verankert, ein starkes Widerlager gegen den tota25 Jürgen Aretz, Katholische Arbeiterbewegung und Nationalsozialismus. Der Verband katholischer Arbeiter und Knappenvereine Westdeutschlands 1923 – 1945, Mainz 1979 (21982), S. 223 – 237; vgl. Winfried Becker, Widerstand aus christlicher Wurzel, vornehmlich aus dem Umkreis des politischen Katholizismus und der christlichen Gewerkschaften, in: Gerhard Ringshausen / Rüdiger von Voss (Hrsg.), Widerstand und Verteidigung des Rechts, Bonn 1997, S. 51 – 96; Bistum Essen (Hrsg.), Glaubenszeugen aus dem Ruhrgebiet, Bochum [1987].
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litären Umformungsanspruch und die neuen immanentistischen Heilslehren bildete. Am härtesten trafen die Verfolgungsmaßnahmen gegen die katholische Welt den Berufsstand der Welt- und Ordenspriester. Heinrich Himmlers Klostersturm fegte 1940 / 41 mehr als 300 Klöster und kirchliche Einrichtungen hinweg.26 Über 8 000 Priester wurden strafrechtlich belangt; viele erlitten, neben gesinnungstreuen katholischen Laien, das in dieser Erscheinungsform neue Martyrium des 20. Jahrhunderts.27
IV. 1945 – 2005 Der politische Katholizismus ist nach 1945 nicht wiedererstanden, obwohl sich sein Milieu noch ca. zwei Jahrzehnte lang hielt. Das ehemalige Führungspersonal des Zentrums ging mehrheitlich in die neu gegründeten interkonfessionellen Unionsparteien (CDU und CSU) ein. Diese parteipolitische Entwicklung entsprach einer Tendenz zur Entflechtung von Politik und Konfession, die in den Stand setzen sollte, ein politisches Mandat besser und eigenständiger auszuüben. Möglich wurde sie allerdings durch die auf Verfolgung und Widerstand zurückgehende Besinnung von Angehörigen beider Konfessionen auf gemeinsame, verbindende Grundlagen des Christentums. Die Gründer wollten zudem die weltanschauliche und konfessionelle Zerklüftung der deutschen Parteienlandschaft überwinden, die der Entwicklung zur Demokratie abträglich gewesen war. Auch in anderer Hinsicht unterlag das gesellschaftliche und politische Vorfeld der katholischen Kirche einer tiefgreifenden Änderung. Deren Ansehen in der großen Not der ersten Nachkriegszeit war hoch. Populäre Bischöfe wie Josef Frings28 von Köln und Clemens August von Galen (Münster) machten sich zu Anwälten der Bevölkerung, setzten sich für Notleidende, Flüchtlinge und Kriegsgefangene auch bei den Besatzungsmächten ein. Der Episkopat mit seinem nun gesteigerten institutionellen Gewicht wollte aber die großen Laienorganisationen, sozusagen „eine Kirche in oder neben der Kirche“, nicht mehr zulassen und bevorzugte Pfarr-, Männer- und Laienwerke personell fluktuierenden und informellen Charakters ohne feste Mitgliedschaft. Diese „Werke“ wurden in den während der nationalsozialistischen Zeit gegründeten Bischöflichen Hauptarbeitsstellen zusammengefasst.29 Allerdings ließ das Erzbistum Köln 1946 wieder katholische Arbeitervereine zu, und die alten Verbände erhielten in dem 1948 gegründeten „Bund der Deutschen Katholischen Jugend“ ein erstes Sammelbecken. Auch konsolidierten sich wieder das Kolpingwerk, die Studentenvereine und Frauenbünde, und später entstand als Standesorganisation der „Bund katholischer Unternehmer“, doch die „Verkirchlichung“ des Verbandswesens setzte sich durch. 1952 kam es unter maßgeblicher Mitwirkung des Prälaten Wilhelm Böhler zur Wiedergründung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Dessen gleichnamiger Vorgänger von 1868 26 Vgl. Annette Mertens, Himmlers Klostersturm. Der Angriff auf katholische Einrichtungen im Zweiten Weltkrieg und die Wiedergutmachung nach 1945, Paderborn 2006. 27 Vgl. Helmut Moll (Hrsg.), Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Paderborn 42006; Ulrich von Hehl u. a. (Bearb.), Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung, Bd. 1 – 2, Paderborn 31996. 28 Vgl. Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887 – 1978), Bd. 1, Sein Wirken für das Erzbistum Köln und für die Kirche in Deutschland, Paderborn 2003, S. 152 – 209. 29 Großmann, S. 30 – 36.
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war von Laien getragen gewesen, das neue Zentralkomitee wurde im Einvernehmen mit den deutschen Bischöfen geschaffen. Es befasste sich mit der eigenen Organisation und mit der Vorbereitung der Katholikentage, darüber hinaus mit allgemeinen Fragen, z. B. mit der Eigentums- und Vermögensbildung, der Mitbestimmung, der Lage von Ehe und Familie oder mit dem Verhältnis der Katholiken zu den Parteien. Adenauer setzte sich vergeblich für die Wiederbelebung des „Volksvereins“ und der Christlichen Gewerkschaften ein. Trotz der päpstlichen Bemühungen um die Bildung einer von der kirchlichen Hierarchie abhängigen Katholischen Aktion seit den 1920er-Jahren hätte auch Pius XII. die Wiederkehr der eigenständigen deutschen Laienorganisationen begrüßt. Zum Misslingen solcher Pläne trug bei, dass das Dritte Reich in den Augen weiter Bevölkerungskreise ein festes Verbandswesen generell als Einzwängung diskreditiert hatte. Gerade in einem langfristig auf Demokratie angelegten Staatswesen waren aber, wie Bernhard Hanssler und Karl Forster im Blick auf diese Nachkriegsentwicklung kritisch bemerkten, Organisation, Gruppenbildung und gesellschaftliches Engagement zur Geltendmachung der eigenen Positionen schwer zu entbehren. Der im Dritten Reich einer kirchlichen Widerstandsgruppe angehörende christliche Gewerkschaftler Johannes Albers, der einen christlichen Sozialismus gemäß dem Ahlener Programm vertrat, begann sogleich 1945 mit dem Aufbau der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA). Diese sammelte sich zunächst in Nordrhein-Westfalen (1946) und schloss sich im Sog der unifizierenden Neugründungen der Nachkriegszeit der Einheitsgewerkschaft (DGB) an. Die Sozialausschüsse fühlten sich innerhalb der CDU (und CSU) vor allem für die Arbeits- und Sozialpolitik zuständig, begannen sich allerdings bereits 1962 für eine gesamtgesellschaftliche Programmatik zu öffnen. Beim Aufbau des Sozialstaats – so bei der Rentenreform (1957), beim Familienlastenausgleich und bei der Vermögensbildung – wirkte die aus den katholischen Arbeitervereinen nach 1945 hervorgegangene Katholische Arbeiter-Bewegung (seit 1970 Katholische Arbeitnehmer-Bewegung) mit. Um 2000 gehörten ihr ca. 300 000 Männer und Frauen an. Zu ihren Beratern gehörten bekannte Repräsentanten der Katholischen Soziallehre wie die Jesuiten Oswald von Nell-Breuning und Gustav Gundlach. Führende Vertreter der KAB, Johannes Even und Bernhard Winkelheide, betrieben von 1955 bis 1959 zusammen mit Führern der Evangelischen Arbeitnehmerbewegung die Gründung eines eigenständigen Christlichen Gewerkschaftsbunds Deutschlands (CGB), weil ihnen die Annäherung der Einheitsgewerkschaft, der die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft eingegliedert war, an die SPD zu weit ging und ihnen dadurch die bei der Vertretung gewerkschaftlicher Belange gebotene parteipolitische Neutralität verletzt zu sein schien. Eine gewisse Kompensation für die nach 1945 nicht mehr gegebene Geschlossenheit des katholischen Verbandswesens, für dessen teilweise Überleitung in interkonfessionelle und politische Interessengruppen, bot die Mitwirkung in (halb-)öffentlichen und privatwirtschaftlichen Gremien und Institutionen: So waren die Kirchen und Konfessionen in Rundfunkräten und Fernsehanstalten oder publizistischen Organen vertreten; eigene Bildungseinrichtungen in Gestalt Katholischer und Evangelischer Akademien wurden aufgebaut. Betrachtet man diese Verhältnisse, so vereinfacht sich die Geschichtsschreibung des Katholizismus nach 1945 nicht gerade, hat sie doch nun die Darstellung eines gewandelten Verbandswesens, aber auch informeller Einflüsse und der in Institutionen tätigen Führungsfiguren, zu leisten. Die Entwicklung innerhalb der Kirche und das politische, soziale und kulturelle Verhalten und Auftreten der Katholiken, die
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Wandlung oder Auszehrung ihres Milieus sowie die interkonfessionellen Beziehungen und ökumenischen Belange verlangen eine gleichsam interdisziplinäre Beachtung.30 Schwerpunkte des Einflusses, den die Kirchen auf das Grundgesetz und auf einige Länderverfassungen nehmen konnten, lagen auf den Gebieten der Grundrechte, des Elternrechts und der Schulen bzw. des unter kirchlicher Aufsicht zu erteilenden Religionsunterrichts. Das Bundesverfassungsgericht bejahte 1957 die Weitergeltung des Reichskonkordats, sah dessen Bestimmungen allerdings durch die Kulturhoheit der Länder ersetzt. Die Renaissance des Naturrechts war nicht von Dauer, und die allzu hohen Hoffnungen auf die „Verchristlichung“ der Gesellschaft blieben unerfüllt. Die Wiedergewinnung angemessener sozialer Lebensstandards gehörte zu den Hauptaufgaben der jungen Bundesrepublik. Es gelang den unionsgeführten Bundesregierungen, sich solche zentralen Anliegen zu Eigen zu machen. Ihre erfolgreiche Sozialpolitik war vorbereitet durch interne Diskussionen, die zum Ahlener Programm (1947) und zu den Düsseldorfer Leitsätzen (1949) der CDU geführt hatten. Kernaussagen der von der Katholischen Soziallehre inspirierten wirtschafts- und sozialpolitischen Neubesinnung waren die Mitbestimmung, die Förderung des kleinen Eigentums und die Ablehnung jeder auf Monopolen beruhenden Wirtschaftsordnung, ob diese staatskapitalistisch oder vom Kapitalismus der Kartelle bestimmt sein würde. Die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards überwand den schrankenlosen Liberalismus des 19. Jahrhunderts, richtete sich am Menschen als Mittelpunkt der Wirtschaft aus und wies dem Staat die ordnungspolitische Aufgabe zu, die Rahmenbedingungen für eine funktionierende, die Wirtschaftspartner nicht benachteiligende Wettbewerbsordnung zu schaffen und zu erhalten. Ein Erbe von Lebenserfahrung und sozialem Katholizismus befähigte Gründerväter der Bundesrepublik wie Konrad Adenauer und Wohnungsbauminister Paul Lücke, die Bedeutung eines angemessenen sozialen und wirtschaftlichen Lebensniveaus für politische Stabilität richtig einzuschätzen und entsprechend zu handeln. Sie ließen sich nicht von kollektiven Lösungen inspirieren, sondern setzten auf Eigeninitiative und Eigentumserwerb, z. B. durch Förderung des Baues von Eigenheimen. Daneben kennzeichneten bedeutende sozialpolitische Initiativen die Adenauer-Ära. Unter maßgeblicher Beteiligung des Sozialpolitikers Wilfrid Schreiber entstand 1956 / 57 das Rentenreformgesetz. Das rund 80 % der Bevölkerung erfassende, heftig umstrittene Gesetzeswerk sah eine neue, dynamische Rentenformel vor, ein Verfahren, das die im Arbeitsleben gezahlten Beiträge von ihrem Nominalwert löst und auf das zum Zeitpunkt der Rentenfestsetzung aktuelle Lohnniveau hochrechnet.31 Die Rente erhielt so über die Unterhaltssicherung hinaus eine „Lohnersatzfunktion“, die helfen sollte, den erarbeiteten Lebensstandard zu wahren. Das erste Kindergeldgesetz von 1955 führte Kindergeld ab dem dritten Kind ein, um dem Bedarf größerer Familien bei gleichem Leistungslohn für die Lohnempfänger gerecht zu werden. Anfang der 1960er-Jahre wurde das zweite Kind einbezogen. Im internationalen Vergleich europäischer Länder erbrachte die Bundesrepublik während der 30 Vgl. Colonge / Lill, S. 259 – 278; weitere Literatur und Beiträge in den einschlägigen Artikeln bei Michael Behnen (Hrsg.), Lexikon der deutschen Geschichte 1945 – 1990, Stuttgart 2002; Becker, Kirchen, S. 542 – 572; Langner. Vgl. auch Wilhelm Damberg, Abschied vom Milieu? Der Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945 – 1980, Paderborn 1997; Christian Kuchler, Kirche und Kino. Katholische Filmarbeit in Bayern (1945 – 1965), Paderborn 2006. 31 Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980, S. 357 ff.
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1980er-Jahre nach den Benelux-Staaten die größten Kindergeldregelleistungen für Familien mit 1 bis 5 Kindern.32 Diese Familienzulagen können indes nur einen Teil der Familienförderung ausmachen, da auch der Ausfall von Erwerbseinkommen und die – zwischen SPD und CDU umstrittenen – steuerlichen Kinderfreibeträge zu berücksichtigen sind. Das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961 griff im wesentlichen auf das Reichsgesetz von 1922 zurück, das jedem Kind ein Recht auf – unter Umständen öffentliche – Erziehung zugesprochen hatte. Neuen Herausforderungen suchte die Jugendpolitik in den 1990er-Jahren zu begegnen, nachdem das Kinder- und Jugendhilfegesetz 1991 in Kraft getreten war: Zur Jugendhilfe, u. a. Bekämpfung von Extremismus, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt in den neuen Bundesländern, sollten nach christlich-demokratischen Vorstellungen freie Träger, wie Kirchen und Wohlfahrtsverbände, gemäß dem Subsidiaritätsprinzip herangezogen werden. Schon in der Nachkriegszeit hatte die Familienpolitik eine Domäne der Unionsparteien dargestellt, die beiden ersten Bundesfamilienminister waren Franz-Josef Wuermeling (1953 – 1962) und Bruno Heck (1962 – 1968). Mehrheitlich befürwortete der katholische Bevölkerungsteil (im Kaiserreich noch der „Reichsfeind“) die Politik der Wiederbewaffnung und das Streben nach Wiedervereinigung mit den protestantischen Gebieten in Ostdeutschland. Schon dies zeigte die Haltlosigkeit publikumswirksamer Attacken auf die angeblich um katholische Reservatbildung bemühte, eine „karolingische“ Tradition kultivierende Bundesrepublik. Auch bekannten sich katholische Politiker und Bischöfe wiederholt und beständig zur Einigung Europas.33 Doch versiegte die Reflexion über das „christliche Abendland“ und dessen historische Wurzeln („Abendländische Akademie“) um die Mitte der 1960er Jahre. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965) fiel zeitlich in etwa zusammen mit dem Beginn einer auch andere europäische Länder erfassenden Säkularisierungskrise. Zunächst machten Kritiker wie Thomas Ellwein, Carl Amery und Gerhard Szczesny die katholische Kirche während der 1950er-Jahre für eine angebliche „Klerikalisierung des öffentlichen Lebens“ verantwortlich.34 Bald darauf wurde der Kirche ein rückwärtsgewandtes Gesellschafts- und Menschenbild attestiert, das dem gesellschaftlichen Wandel zu wenig Rechnung trage. Die politische Theologie des Neo-Marxismus (nach südamerikanischen Vorbildern), der kategorisch einen umstürzenden Gesellschafts- und Bewusstseinswandel forderte, artikulierte sich öffentlichkeitswirksam.35 Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes reagierte auf grundlegende Herausforderungen. Sie eröffnete ein neues Verständnis für den eigenverantwortlichen Dienst der Laien an den irdischen Wirklichkeiten und suchte so die Tendenzen zum „Pluralismus der Positionen in der Katholischen Soziallehre“ und zur Autonomie sachpolitischer Entscheidungen in den kirchlichen Raum zu integrieren.36 Ein Beispiel für das Bekenntnis zu neuen gesellMax Wingen, Familienpolitik, in: Staatslexikon, Bd. 2, Sp. 541 f. Karl Forster, Klerikalismus und Eigenständigkeit des Weltdienstes in katholischer Sicht (1964), in: ders., Glaube, Bd. 2, S. 285 – 300, 287. 34 Vgl. Jürgen Schwarz unter Mitarbeit von Karin Schulz (Hrsg.), Die katholische Kirche und das neue Europa. Dokumente 1980 – 1995, Teil 1 – 2, Mainz 1996. 35 Günter Baadte, Theologie der Befreiung. Ansätze, Ziele und Kritik, Köln 1975; Hans Maier, Kritik der politischen Theologie, Einsiedeln 1970. 36 Karl Forster, Was bedeutet das „Katholische“ für Struktur und Engagement der katholischen Verbände?, in: ders., Glaube, S. 241 – 264, hier S. 259, 251; zuerst abgedruckt in: Anton Rauscher (Hrsg.), Soziallehre der Kirche und katholische Verbände, Köln 1980, S. 144 – 175. 32 33
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schaftspolitischen Forderungen legten die Katholische Jungmänner-Gemeinschaft und die Katholische Frauenjugend-Gemeinschaft mit ihrem Aktionsprogramm von Münster (1968) vor.37 Demokratisierung, Mitbestimmung, gesellschaftliches Engagement und sozialer Wandel, der Einsatz für Friedens- und Entwicklungspolitik wurden gefordert. Glauben und Kirche gerieten in die Gefahr, nur mehr als „gesellschaftskritische Instanzen“ gesehen zu werden. Metakritische Stimmen aus der Kirche und der katholischen Sozialwissenschaft mahnten demgegenüber an, die eigentliche Sendung der Kirche und die „christliche Identität“ wieder mit dem auf gesellschaftliches Handeln ausgerichteten „Zielkonsens“ der Verbände in Einklang zu bringen. Die hochgemuten Gesellschaftsvisionen von einst wichen spätestens seit den 1990er-Jahren einer ernüchternden sozialen Bestandsaufnahme, charakterisiert durch die Alarmsignale des demographischen Wandels, des dadurch beeinträchtigten Generationenvertrages und durch das DauerDefizit der sozialen Sicherungssysteme, die von einer dem rauhen Wind der Globalisierung ausgesetzten Wirtschaft kaum noch gespeist werden können.38 Die Anzahl der praktizierenden Katholiken ging zurück und stabilisierte sich auf niedrigem Niveau. 2002 besuchten in den 27 deutschen Bistümern noch durchschnittlich 15,2 % der Katholiken die Gottesdienste, ohne dass zwischen den einzelnen Diözesen eklatante Unterschiede festzustellen waren. Der Priestermangel bedingte die Einleitung einer Umstrukturierung der Seelsorgeverwaltung. Die essentielle Forderung nach einem wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens (§ 218) erwies sich als parlamentarisch nicht durchsetzbar. Die nochmals während der 1980er-Jahre in Österreich und Deutschland in Gang gesetzte Bewegung einer „Kirche von unten“ gewann allerdings keinen großen Anhang. Hatte der Staat nach 1945, nach der totalitären Verirrung, der christlichen Erziehung in Schule und Elternhaus einen beträchtlichen Teil der Verantwortung für die zukünftige Generation zugedacht und übertragen, so droht nach der Wiedervereinigung und dem Untergang der DDR umgekehrt in manchen Bundesländern (Brandenburg) die Ausbreitung einer religionsfernen Erziehung, die nur noch EthikUnterricht zulässt. Eine die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland illustrierende positive Interdependenz, ja Kooperation zwischen Kirche und Staat – zum Nutzen des Staates – zeigte sich bei den schwierigen Verhandlungen um die Entsendung eines Nuntius nach Ostberlin und die Neubildung von Diözesen in der DDR. Eine übergreifende Allianz zwischen Politikern der Bundesrepublik und kirchlichen Amtsträgern (u. a. Erzbischof Alfred Bengsch) konnte diese mit Nachdruck beim Vatikan vorgetragenen Forderungen der DDR bis zum Pontifikatsantritt Papst Johannes Pauls II. (1978) verhindern.39 Der aus Polen stammende Pontifex hat die Koordinaten der vatikanischen Ostpolitik neu bestimmt. Vor dem Hintergrund, dass die europäischen Staaten und Gesellschaften über Jahrhunderte hinweg eine wichtige kulturelle Grundlage in der christlichen Religion besa37 Wilhelm Damberg, Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945 – 1980, Paderborn 1997, S. 350 – 357, 409 f.; vgl. Anton Rauscher, Kirchliche Verbände, in: ders., Kirche, Bd. 1, S. 603 – 609. 38 Anton Rauscher (Hrsg.), Probleme der sozialen Sicherungssysteme (Mönchengladbacher Gespräche 14), Köln 1993. 39 Vgl. Karl-Joseph Hummel (Hrsg.), Vatikanische Ostpolitik unter Johannes XXIII. und Paul VI. 1958 – 1978, Paderborn 1999, S. 240 – 248.
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ßen, erscheinen weder ein Laizismus nach französischem Muster noch die uferlose Ausdehnung der Religionsfreiheit auf „Religionsgesellschaften“, die das freiheitliche Selbstverständnis des Grundgesetzes fundamental ablehnen, als gangbar. Der Kardinal und (seit 2005) „deutsche“ Papst Benedikt XVI. trat wiederholt dafür ein, dass der Gottesbegriff und der Glaube einen Platz in öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs behaupten sollten. Die Wiedereinbeziehung der Dimension des gläubigen Bewusstseins in die diesseitig gelebten Werte der endlichen menschlichen Existenz erscheint ihm als legitim, weil der Glaube und die Vernunft gemäß dem Schöpferwillen Gottes sich auf eine ihnen zuletzt gemeinsam zugrundeliegende Wahrheit bezögen.
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Politische Theologie und Theologie der Befreiung Von Wolfgang Ockenfels
Wie die Politik Glaubensfragen, so wirft der Glaube politische Fragen auf. Beide Aspekte lassen sich unter dem Anspruch sowohl einer „politischen Theologie“ als auch einer „Befreiungstheologie“ systematisch-geschichtlich reflektieren und haben bis in die Gegenwart unterschiedliche Ausprägungen angenommen. Seit einigen Jahrzehnten, vor allem mit der „islamischen Revolution“ und den Ereignissen des „11. September“, ist die Religion als politischer Faktor, aber auch die Politik als religiöser Faktor wieder in das Blickfeld weltweiter Aufmerksamkeit gerückt. „Gerade heute“, bemerkte Jacob Taubes bereits vor über zwanzig Jahren, „drängen religiöse Symbole und Formen in die öffentliche Arena, Theokratie als Forderung taucht auf, Heilslehren überborden in den profanen Raum.“ I. Die islamische Herausforderung Im Zusammenhang mit dem politischen „Islamismus“ und den von ihm stimulierten „Befreiungs“-Bewegungen evoziert Religion wieder politische Fronten. Dem islamistischen Terror geht es besonders um die Zerstörung einer liberalen politischen Kultur „des Westens“, die ihre christlichen Wurzeln nicht verheimlichen kann. Die USA sind von Anfang an nicht nur von einer deistischen Zivilreligion, sondern auch von (inzwischen weitgehend säkularisierter) christlicher Hoffnung geprägt worden und glauben auch im Zuge der Terrorbekämpfung eine welt- und heilsgeschichtliche Mission erfüllen zu können, wie sie dies bereits im Kampf gegen die totalitären europäischen Systeme des Nationalsozialismus und des Kommunismus bewiesen haben. Die religiöse Sprache zieht in die öffentliche Debatte ein und bildet dabei nicht bloß einen Bestandteil psychologischer Kriegsführung oder patriotischer Rhetorik. Im Namen Gottes werden Verbrechen begangen und vergolten, die den Namen Gottes – wie Religion überhaupt – zu diskreditieren geeignet sind. Freilich kann sich der Terror am allerwenigsten auf einen barmherzigen Gott berufen, denn der Gesetzeswille dieses Gottes gebietet eine Rechts- und Friedensordnung, die ihr zugleich den Gebrauch terroristischer Mittel untersagt. Diese Ordnung ist wesentlich auf Verteidigung ausgerichtet und unterliegt der Rationalität einer universalisierbaren und reziprok geltenden bellum iustum-Lehre, die zum Zweck der Eindämmung der Gewalt naturrechtlich formuliert wurde, und zwar in bewusster Abgrenzung von einem „Heiligen Krieg“. Der weltweit expandierende Islam zeigt einige Gesichtszüge, die in den westlichen Demokratien sehr abschreckend wirken. In den meisten islamischen Ländern gelten rabiate Blasphemie-Gesetze, christliche Praxis in der Öffentlichkeit und besonders die Mission sind streng verboten. In den islamisch dominierten Staaten ist die Religionsfrei-
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heit stark eingeschränkt, in den „islamistisch“ beherrschten ist sie – wie die übrigen Menschenrechte – so gut wie aufgehoben. Die Todesstrafe bedroht Ehebrecher wie auch Glaubensabtrünnige. Die im Koran vorgesehene Institution der Polygamie mindert die Würde der Frau, die im öffentlichen Leben keine Rolle spielt. Vor allem lassen zahlreiche Koran-Suren über den „Heiligen Krieg“ den Islam als eine unduldsame Religion erscheinen, die sich mit politischen Machtansprüchen vermischt. Freilich wollen sich nun viele islamische Staaten an dem Kampf gegen den globalen Terror beteiligen, der sie schließlich selber bedroht. Den Koran zitierend pochen sie auf den Gesetzeswillen Gottes, der Willkür und Terror untersage. Denselben Koran zitierend berufen sich die Terroristen, die sich lieber als „Freiheitskämpfer“ bezeichnen, auf einen göttlichen Geschichtswillen, als dessen Mitwisser sie sich ausgeben. Sie verstehen sich als Avantgardisten des „Dschihad“, als Werkzeuge Gottes und Märtyrer. Bei den islamischen Religionsgemeinschaften handelt es sich weithin nicht nur um ein religiöses und kulturelles, sondern zugleich auch um ein politisch-staatliches Phänomen. Was aber der Islam eigentlich ist, lässt sich schwerlich allein aus seinen heiligen Schriften, auch nicht allein aus der religiös-politischen Praxis einzelner Muslime, islamischer Gruppen oder Staaten ablesen – und erst recht nicht aus den widersprüchlichen Interpretationen der Schriftgelehrten. Parallel dazu verweist man gern auf die nicht selten missratene Praxis mancher „christlicher“ Staaten in der Geschichte des Abendlandes, das lange genug brauchte, um zur klaren Erkenntnis der Unterscheidung von Kirche und Staat, von Religion und Politik, von Recht und Moral zu kommen, wenngleich diese Unterscheidungen bereits im Neuen Testament klar angesprochen werden. Der traditionellen muslimischen Rechtgläubigkeit scheinen solche schmerzhaften Unterscheidungen und Trennungen noch bevorzustehen, wenn sie nicht schon die Annahme moderner liberaler Freiheitsrechte als Verrat und Selbstzerstörung empfinden muss. Überdies weist die säkulare europäische „Freiheitsgeschichte“ auch Schattenseiten auf, die ihrer Attraktivität im Wege stehen. In der Kritik an der vermeintlich „dekadenten“ Moderne des Westens begegnen sich schließlich nicht nur Muslime und Konfuzianer, sondern diese zuweilen auch mit Christen, ohne dass sie in die Schublade des Fundamentalismus gehören, der vorschnell als Kriegsursache für einen künftigen „clash of civilizations“ (Samuel Huntington) herhalten muss.
II. Ansätze zu „politischen“ Theologieformen Auch im Christentum regt sich ein neues Interesse an der politischen Relevanz von Glaube, Theologie und Kirche, das von unterschiedlichen Theologien stimuliert und reflektiert wird. Aktuelle politische Fragen des Friedens, der Globalisierung, der Ökologie und der Gentechnik lassen eine moralische, metaphysische und religiöse Dimension erkennen und haben den aufgeklärten Fortschrittsglauben mitsamt der Säkularisierungsthese in Zweifel gezogen. Die moderne Welt scheint keineswegs bereit zu sein, „Religion“ generell abzuschaffen, sie gesellschaftlich bedeutungslos zu machen, politisch zu neutralisieren, zu säkularisieren oder zu immanentisieren. Vielmehr ist die Gesellschaft selber „religionsproduktiv“ (Gerhard Schmidtchen) geworden, freilich auf Kosten des Christentums und der Kirche. Der Religionsbegriff hat sich im Zuge der Individualisierung enorm erweitert und umfasst jede Art von „Kontingenzbewältigung“, Sehnsucht
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nach dem „ganz Anderen“ (Max Horkheimer), nach dem, was einen „unbedingt angeht“ (Paul Tillich), was Sinn- und Wertorientierung gibt. Die typisch religiöse Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz (Niklas Luhmann) verschwimmt jedoch, wenn die Transzendenz immanentisiert wird und als geschichtlich-gesellschaftliche Projektion bzw. als Projekt erscheint. Wenn die Frage nach letzten Gründen und Zielen nicht dogmatisch verboten ist, lässt sich hinter jedem politischen auch ein theologisches Problem vermuten (Donoso Cortés). Grundlegende Fragen religiöser und zugleich moralischer Dimension werden aufgeworfen etwa hinsichtlich der Ursprungsquellen und Kompetenzgrenzen der gesellschaftlichen Autorität, ferner wenn es um die politische Verantwortung der Bürger geht, um den verpflichtenden Grund des Gehorsams, der Gehorsamsverweigerung und des Widerstandes, um die Bedingungen des Gemeinwohls und des öffentlichen Friedens. Solche Fragen erstrecken sich vornehmlich auf Bereiche der Legitimation menschlicher Handlungen und Ordnungen, der Seins- und Sollensbestimmung des Menschen und der Gesellschaft sowie der Sinn- und Zielbestimmung der Geschichte. Damit transzendieren sie den empirischen Erfahrungsbereich der Politik und gewinnen metaphysische, religiöse und ethische Qualität. Gerade der freiheitlich-demokratische Staat einer pluralistischen Gesellschaft lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Dies gilt als Binsenwahrheit nicht erst seit Ernst-Wolfgang Böckenfördes bekanntem Diktum, sondern wurde ähnlich schon von einigen Päpsten der Neuzeit betont. Es gibt für die Fundierung und Erhaltung der Demokratie „Unverzichtbares“, das nicht im politischen Bereich angesiedelt ist, wie auch Jürgen Habermas einräumt. Diese Fragen beschäftigen die politischen Wissenschaften, wenn sie sich mit naturrechtlichen Begründungszusammenhängen, Phänomenen einer „civil religion“ und Typen des Legitimitätsglaubens (z. B. die ,,charismatische“ Legitimität bei Max Weber) auseinandersetzen, also mit Vorstellungen und Haltungen, die zur freiwilligen Annahme oder Verwerfung politischer Herrschaft führen. Die Gottesfrage lässt sich aus der politischen Theorie, auch wenn sie vermeintlich „wertfrei“ vorgeht, nicht einfach ausklammern, schon deshalb nicht, weil nach Carl Schmitt „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre . . . säkularisierte theologische Begriffe“ sind. Wesentliche Voraussetzung für eine freiheitliche Demokratie ist die bereits biblisch angezeigte „erste Gewaltenteilung“ als Trennung bzw. Unterscheidung von Glaube und Politik, von Reich Gottes und weltlichem Reich, von Kirche und Staat. Dabei gibt es auch in diesem Rahmen zahlreiche Politikbezüge des Glaubens und Glaubensbezüge der Politik. Die Bedeutungsbestimmung des Verhältnisses zwischen Glaube und Politik lässt sich also von zwei Ausgangspunkten her angehen: von der Politik und vom Glauben. So ist dieses Verhältnis ein klassisches Thema sowohl für die Politikwissenschaft als auch für die Theologie. Gegenseitige Vereinnahmungen und Funktionalisierungen, die sich als Theologisierung der Politik oder als Politisierung der Theologie bezeichnen lassen, werden aus westlicher Demokratieperspektive als Freiheitsbedrohung wahrgenommen und ziehen den Ideologie- oder Fundamentalismusverdacht auf sich. Überdies machen sie sich nach kirchlichem Verständnis auch häresieverdächtig und gelten als Gefährdung der Freiheit von Glaube und Kirche. Glaube und Politik können in Geschichte und Gegenwart verschiedene Verbindungen eingehen, die sich folgendermaßen typisieren lassen:
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1. Denkbar und geschichtlich möglich ist es, dass sich die Politik mit einem Glauben, den sie sich konstruiert hat, identifiziert und sich die religiösen Sinnfragen selbst beantwortet. Dies ist der Fall beim Typus der Politischen Religion, den man etwa im Nationalsozialismus, aber auch im Sowjetkommunismus wahrnehmen konnte. Bei diesen modernen totalitären Ideologien handelte es sich um säkulare Ersatzreligionen. Die Zeit der großen Ideologien scheint mit der „Zeitenwende“ von 1989 abgelaufen zu sein, wenngleich eine Renaissance nicht ausgeschlossen werden kann. 2. Ebenfalls kann sich die Politik die genannten Sinn- und Wertfragen in einem ihr genehmen und auf ihre speziellen Bedürfnisse abgestimmten Sinne von einem Glauben oder einer Religionsgemeinschaft beantworten lassen. Dann stünde die Religion – freiwillig oder unfreiwillig – im Dienst der Politik, wie es etwa im Typus der „klassischen“ politischen Theologie anzutreffen ist, welche die jeweilige politische Herrschaft zu legitimieren hatte. Der theologiegeschichtliche Rückblick verweist auf eine Reihe verschiedener Typen dieser „politischer Theologie“, die bereits mit der Stoa und ihrem philosophischen Konzept einer „theologia civilis“ einsetzt. 3. Die „neue“, von Johann B. Metz emanzipatorisch konzipierte Politische Theologie, die weitgehend von einigen Varianten der Befreiungstheologie rezipiert und radikalisiert wurde, wollte freilich die bestehende politische Herrschaft nicht legitimieren, sondern in Frage stellen. Dies vollzog sich weitgehend im Anschluss an politische Basisbewegungen im Kontext (neo-)marxistischer Strömungen, die „von unten“ „nach oben“, also doch wieder zur politischen Macht drängten. Seit 1989 ist es auch um die politischen (Befreiungs-)Theologien merklich still geworden, sie stoßen in der Gegenwartstheologie kaum noch auf Interesse. Die Gründe für den theologischen und praktischen Relevanzverlust sind vielfältig. Sie liegen vor allem in der Verschiebung des geistesgeschichtlichen Horizontes, die ein Abrücken von (neo-)marxistischen Sozialkategorien hin zu „postmodernen“ Tendenzen individueller Beliebigkeit markiert und eine Korrektur der Säkularisierungsthese erforderlich macht. Freilich sind einige theologisch-hermeneutische „Paradigmen“ der neuen politischen Theologie auf die feministische Theologie („gender-mainstreaming“) übertragen worden. 4. Geschichtlich möglich und von bedrängender Aktualität ist es, dass sich eine Religion mit der staatlichen Politik identisch setzt oder sie in ihre Dienste nimmt. Dies wird im theokratischen Fundamentalismus zu einer gefährlichen Wirklichkeit, wie sie in vielen islamischen Staaten und Bewegungen zunehmend erfahrbar ist: Der Koran wird zur Staatsverfassung erklärt, moralische Bestimmungen der „Scharia“ werden durch staatliche Gesetze erzwungen, Religionsführer amtieren als politisch-staatliche Entscheidungsträger. 5. Auf ganz andere Weise wird das Verhältnis Glaube-Politik in der Katholischen Soziallehre – hier vornehmlich verstanden als Kontinuum kirchlicher Lehraussagen – thematisiert. Sie gilt als verbindliche Grundlage, von der aus die Christliche Gesellschaftslehre (als theologische Disziplin) soziale und politische Fragen wissenschaftlich angeht – und von der aus die katholischen Sozialverbände und Bewegungen diese Fragen praktisch zu lösen versuchen. Nach dieser Tradition liegt die politische Bedeutung des christlichen Glaubens für eine freiheitliche Demokratie darin, dass er einen Beitrag zur Erfüllung jener Voraussetzungen dieser Demokratie zu leisten versteht, ohne sich in eine funktionale Abhängigkeit von ihr zu begeben. Der spezi-
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fische Beitrag des christlichen Glaubens lässt sich nach einem dreifachen Politikbezug darlegen, nämlich nach seiner eschatologischen, ethischen und ekklesiologischen Dimension. Bezogen auf die Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie wirkt sich die Eschatologie als Vorbehalt gegen jede politische Verabsolutierung aus und sorgt für eine elementare Gewaltenteilung. Die Glaubensethik (im Einklang mit dem Naturrecht der praktischen Vernunft) orientiert das Handeln der einzelnen Subjekte und deren Institutionen nach normativen Werten, die als Voraussetzung und nicht als Ergebnis der demokratischen Willens- und Mehrheitsbildung auch den Rechtsstaat beeinflusst. Und der ekklesiologische Gesichtspunkt verweist auf eine rechtlich verfasste Gemeinschaft von Gläubigen, die ihre Wirkung namentlich in der Zivilgesellschaft, aber auch dem Staat gegenüber entfaltet. III. Zur „neuen politischen Theologie“ Nach ihrem Selbstverständnis kann die katholische Kirche nicht als eine „in sich“ politische Größe angesehen werden, weshalb ihre Strukturen nur sehr eingeschränkt demokratisierbar erscheinen und ihre Glaubensbotschaft nicht demokratisch zur Disposition gestellt werden kann. Aber was heißt hier „politisch“, wie lässt sich der Politikbegriff definieren und gemeinsam mit dem Demokratiebegriff von der Sphäre des Glaubens abgrenzen? Die weitgehende Entgrenzung des Politikbegriffs und seine Vermischung mit theologischen Begriffen waren kennzeichnend für die neomarxistisch inspirierte „neue politische Theologie“ und auch für einige Varianten der „Theologie der Befreiung“, die zwei Jahrzehnte bis Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts für innerkirchlichen Streit sorgten. Eine ähnliche Auflösung der Trennschärfe des Politikbegriffs ließ sich zuvor schon bei Carl Schmitt feststellen, der mit „Politik“ keinen bestimmten gesellschaftlichen Ordnungsbereich markierte, sondern einen „Aggregatszustand“ der FreundFeind-Unterscheidung, in den alle möglichen Lebensbereiche versetzt werden können und dann als „politisch“ erscheinen. Zweifellos hat dieser moderne „polemische“ Politikbegriff nach wie vor einen (auch für die Kirche) gefährlichen Realitätsgehalt. Schon von daher wird das Bemühen vieler Päpste in der Neuzeit verständlich, die Kirche aus dem politischen Streit um die Macht herauszuhalten, ihre Politisierung in diesem Sinne also nicht zuzulassen. Andererseits galt aber schon seit jeher die Mitwirkung der Kirche an einer Politik, die sich nicht als bloße Partei-, Macht- und Interessenpolitik versteht, sondern als „kluges Bemühen um das Gemeinwohl“ (Enzyklika Laborem exercens), als bare Selbstverständlichkeit. Diese Unterscheidung ist für das Verständnis der Katholischen Soziallehre wesentlich. Die von Johann Baptist Metz konzipierte „neue politische Theologie“ war der an sich legitime Versuch, den alten Glauben mit der „modernen“ Welt zu vermitteln. Freilich litt dieser Versuch von Anfang an, seit Mitte der sechziger Jahre, daran, dass er sich sozialphilosophischer und politischer Kategorien bediente, die der neomarxistischen „Frankfurter Schule“ (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, aber auch Ernst Bloch und Herbert Marcuse) entlehnt waren. Demnach wurde die Welt lediglich als Gesellschaft und Geschichte interpretiert, deren autonomer Prozess als Emanzipation von Unterdrückung, als Befreiung von Armut dialektisch verlaufe und im sozialistischen Sinne zu gestalten sei. Diese Philosophie unter dem Primat der Befreiungspraxis
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negierte aber die naturalen Unbeliebigkeiten und Vorgegebenheiten (im biologischen, ökologischen und vor allem metaphysischen Sinn) ebenso wie eine dem Menschen durch die Schöpfungsordnung vorgegebene allgemeine Sinn- und Wertstruktur, wie sie im Naturrechtsdenken der Katholischen Soziallehre zum Ausdruck kommt. Das Scheitern der „neuen politischen Theologie“ ist nicht nur auf das Ende der „Frankfurter Schule“ zurückzuführen, deren Ideen mittlerweile angesichts der „Rehabilitierung der Natur“ im „postmodernen“ Epochen- und Wertewandel verblasst sind. In der bis heute andauernden Ökologiediskussion und in der Menschenrechtsbewegung spielte die „neue politische Theologie“ keine Rolle, wohl auch deswegen, weil sie keine eigene Sozialethik hervorgebracht hat. Hingegen waren ihre Ideen längere Zeit virulent in jenen lateinamerikanischen Befreiungstheologien, deren Hauptvertreter in Europa studiert hatten. Kritisierbar an beiden Theologievarianten ist nicht bloß die mangelnde praktisch-politische Problemlösungskompetenz. Im Unterschied zur Katholischen Soziallehre ist die Politische Theologie in Deutschland nicht politisch wirksam geworden. Sie hat mit ihrem basisdemokratischen Konzept höchstens indirekt zur Delegitimierung der politischen Autorität beigetragen. Aus innerkirchlich-theologischer Sicht kritisierbar ist vor allem ihre politisch-theologische Hermeneutik, die als Methode theologischer Wahrheitsfindung und Orientierung kirchlicher Praxis Geltungsanspruch erhob. In dieser Hermeneutik vollzog sich eine Synthese von neomarxistischer Geschichtsphilosophie mit christlicher Eschatologie und Apokalyptik. Dementsprechend wurden die dogmatischen Glaubensaussagen der Kirche zwar verbal stehengelassen, aber selektiv interpretiert und funktionalisiert nach ihrer Tauglichkeit für einen innerweltlichen (revolutionären) Befreiungsprozess, ohne dass dieser Prozess angeleitet und kontrolliert wird durch eine normative Sozialethik. Statt einer theologisch-naturrechtlichen Begründung der Sozialethik, wie sie sich in der Katholischen Soziallehre findet, postulierte die Politische Theologie lediglich einige vage Optionen für die Solidarität mit den Armen und Unterdrückten. Die Dogmen der Kirche, die im Wesentlichen das Heilshandeln Gottes bezeichnen, wurden von der Politischen Theologie umfunktioniert als Optionen für das politische Handeln der Menschen. Das Reich Gottes wurde somit zum politischen Begriff, es wurde politisch antizipierbar – und konnte dann zur ideologischen Legitimierung revolutionärer Praxis herangezogen werden. So wunderte es nicht, dass J. B. Metz das linksrevolutionäre Nicaragua als „Land des Magnifikat“ theologisch rechtfertigte. Die „neue politische Theologie“ konnte die kirchliche Soziallehre nicht ersetzen oder verdrängen. Sie hat aber die Vertreter der Soziallehre (vor allem auf wissenschaftlicher Ebene) dazu herausgefordert, über schöpfungstheologisch-naturrechtliche Bestimmungen hinaus erneut die Beziehungen zwischen (eschatologischem) Glauben und (weltlicher) „Politik“ theologisch zu reflektieren und neu zu ordnen, ohne die jeweilige Selbständigkeit beider Bereiche aufzugeben. Die Katholische Soziallehre kann auf theologische Glaubensargumente nicht verzichten, um die Verantwortung der Christen in Gesellschaft und Politik zu motivieren und das entsprechende Handeln normativ im Sinne der Menschenwürde zu orientieren.
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IV. Theologie(n) der Befreiung In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Lateinamerika formuliert, stellt die „Theologie der Befreiung“ (der Begriff wurde von Gustavo Gutiérrez geprägt) in verschiedenen Varianten eine im lateinamerikanischen Kontext radikalisierte, mit marxistischen Analyse-Elementen angereicherte politische Theologie dar, die ihren europäischen Ursprung nicht verleugnen kann. Berührungspunkte zur politischen Theologie von Johann Baptist Metz zeigten sich vor allem in der „Situationsanalyse im Weltmaßstab“, im „Primat der Praxis“ und in der „Basiskategorie Solidarität“. Es war aber auch ein umgekehrter Rezeptionsvorgang erkennbar, etwa in der Frage der lateinamerikanischen „Basiskirche“, der Metz einen Modellcharakter auch für Europa zusprach. Charakteristisch für die Befreiungstheologie ist eine Verknüpfung von „sozialkritischer“ Bibeltradition (Exodus, Propheten, Magnificat etc.) mit politökonomischen Theorien (z. B. Geschichtsnotwendigkeit von Klassenkämpfen, Dependenztheorien), von biblischer „Option für die Armen“ mit einer Option für den Sozialismus, dessen Konstruktionspläne freilich im Dunkeln bleiben. Der Befreiungstheologie geht es nicht primär um personale „Erlösung“ von Sünde, Schuld und Tod, sondern um gesellschaftliche, auch revolutionäre, zuweilen sogar gewaltbereite „Befreiung“ aus Armut und Unterdrückung, aus „struktureller Sünde“. Das Kirchenbild ist basisdemokratisch geprägt und sozialkritisch angelegt, strategisch verbunden in Kooperation mit „anderen“ politischen Befreiungsbewegungen. Idealtypisch vereinfacht lässt sich die hermeneutisch-dialektische Logik der Befreiungstheologie – ähnlich der Metz’schen „nachidealistischen“ Methode – im folgenden Dreischritt rekonstruieren: 1. Die gesellschaftliche und geschichtliche Situation der Neuzeit ist gekennzeichnet durch die moderne Aufklärung und Säkularisierung sowie durch den Prozess der „Freiheitsgeschichte“. Aus dieser Situation, die wirkungsgeschichtlich dem Christentum zuzuschreiben sei, erwächst eine neue Praxis der Christen, also: Primat der Praxis. Diese gesellschaftlich-politische Praxis (als geschichtliche Basis) ist biblisch motiviert und gibt sich als Kampf um Gerechtigkeit, Solidarität und Befreiung zu erkennen. Dabei soll die gesellschaftsverändernde Praxis nicht als nachträgliche Anwendung einer vorgegebenen Theorie (bzw. Theologie) gelten. 2. Aus dieser Praxis bildet sich eine neue Theologie als nachgeordnete Reflexion. Sie erfüllt dabei eine doppelte Funktion: Zum einen bedient sie sich sozialwissenschaftlicher bzw. -philosophischer Deutungsmuster zur Interpretation der vorgegebenen Situation, zum anderen interpretiert sie die dogmatischen und moralischen Inhalte der christlichen Botschaft als praxisrelevant für die Veränderung der gesellschaftlichen Situation. 3. Die Theologie wirkt zurück auf die Praxis von Kirche und Gesellschaft und leitet sie strategisch-kritisch zu verstärkter Konsequenz und Effizienz an. Das hier grob skizzierte dialektische Theorie-Praxis-Verhältnis der „politischen Theologie der Befreiung“ stellt jedoch nur einen theoretischen Anspruch dar, und es ist fraglich, ob sie sich in ihrem Vorgehen selbst nach dem Primat der Praxis richtete. Auf welche konkrete politische und zugleich religiöse Praxis sich die Befreiungstheologie in ihrem konkreten Kontext reflektierend bezog, blieb weitgehend unklar. Der Praxis-
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begriff umfasste einseitig vor allem die menschliche, gesellschaftlich-politische Praxis, so dass die politisch unverfügbare Praxis Gottes, das Geheimnis des göttlichen, erlösenden Heilshandelns aus dem Blick geriet. Weitgehend ausgeklammert wurde auch der zustimmend antwortende Glaubensakt des einzelnen und die Glaubenspraxis der Kirche in Verkündigung, Caritas, Gottesdienst, Mystik und Gebet. Diese spezifisch theologischen Reflexionsthemen wurden von der Befreiungstheologie fast ganz ausgeblendet bzw. sofort als eine gesellschaftlich-politische Praxis umgedeutet. Die Befreiungstheologie konnte sich in Lateinamerika auch deshalb so schnell verbreiten, weil dort die Katholische Soziallehre so gut wie unbekannt geblieben war. Sie gewann allerdings kaum politischen, dafür aber innerkirchlichen Einfluss (bis in die Kirchenleitungen hinein), wenngleich sie eher antihierarchisch ausgerichtet war. Dass sie aber Ende der achtziger Jahre einen erheblichen Bedeutungsverlust erlangte, hängt weniger mit den kritischen „Instruktionen“ der von Joseph Kardinal Ratzinger geleiteten Glaubenskongregation zusammen, als vielmehr mit dem weltweiten Niedergang realsozialistischer Regime. Damit verloren die sozialistischen Ideologien ihren quasireligiösen Verheißungsglanz und der Marxismus seinen wissenschaftlichen Nimbus. Als Reaktion auf eine allzu verweltlichte, d. h. politisierte Kirche lassen sich die in Lateinamerika stark expandierenden freikirchlichen Gruppen und charismatischen Bewegungen verstehen, welche die von der Befreiungstheologie vernachlässigte Volksfrömmigkeit kompensatorisch hervorheben. Inzwischen haben auch prominente Vertreter der Befreiungstheologie (wie Gutiérrez) wichtige Korrekturen vorgenommen, andere (wie Leonardo Boff) gehen völlig neue Wege.
V. Katholische Soziallehre und Theologie der Befreiung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Befreiungstheologie weder methodologisch noch inhaltlich eine zukunftsweisende Bereicherung katholischer Theologie darstellt. Sie hat weder zur realistischen Analyse der rapide sich wandelnden Weltsituation noch zur praktischen Lösung von globalen Sozialproblemen beigetragen. Insofern einige ihrer Vertreter (wie Enrique Dussel, Ernesto Cardenal, Jon Sobrino) sozialistischen Utopien anhingen und den „Klassenkampf“ auch noch theologisch anheizten, waren sie für die Befürworter der Katholischen Soziallehre (wie Joseph Höffner, Franz Hengsbach und Wilhelm Weber) nicht mehr akzeptabel. Und was die „vorrangige“ Option für die Armen betrifft, so ist diese kein Sondergut der Befreiungstheologie, sondern gehört zum Traditionsbestand der Katholischen Soziallehre, wie Joseph Höffner hervorhob, der zugleich allen sozialistischen Lösungen des strukturellen Armutsproblems schon aus geschichtlichen Erfahrungsgründen eine überzeugende Absage erteilte. Die Kirche hat schon vor dem Sozialismus gewarnt, als er noch in den Kinderschuhen steckte, bevor er die reale Chance des Scheiterns bekam. Am Untergang des Realsozialismus, der „Schande unserer Zeit“ (wie Joseph Ratzinger bemerkte), waren die Kirche und der „polnische“ Papst Johannes Paul II. nicht unwesentlich beteiligt. Schon wegen ihres Verkündigungsauftrages und aus Gründen ihrer freien Selbstentfaltung musste sich die Kirche gegen ihre systematische Verfolgung zur Wehr setzen, sich mithin auch gegen politische Strukturen stellen, welche die Religionsfreiheit und die übrigen Menschenrechte unterdrückten.
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Mit ihrer antimarxistischen Sozialismuskritik stellte die Kirche keine eigene politische Doktrin auf, sondern bekräftigte nur, was aus der evangelischen Lehre klar abzuleiten war. Es gab auch kaum einen unversöhnlicheren Widerspruch zum christlichen Glauben als jenes System, das auf der Beseitigung dieses Glaubens ausgerichtet war und im Materialismus gründete. Auch stand der gewaltbereite Klassenkampf im Gegensatz zum christlichen Liebesgebot. Überdies stand der eklatante Mangel an (Gewissens-) Freiheit, Menschenwürde und Menschenrechten im Kontrast zur christlichen Lehre. Was sich für die Katholische Soziallehre in ihrer wissenschaftlichen Entfaltung jedoch als fruchtbar erweisen kann, sind die Anknüpfungen an ein christliches Proprium, an ein biblisch-theologisch begründbares Engagement für die jeweils „Armen“, das freilich der sozialethischen, d. h. universalisierbar „vernünftigen“ und damit „naturrechtlichen“ Begründung bedarf. Literaturverzeichnis Boff, Leonardo: Charisma und Macht. Studien zu einer streitbaren Ekklesiologie, Düsseldorf 1985. Gutiérrez, Gustavo: Theologie der Befreiung. Mit einem Vorwort von J. B. Metz, München / Mainz 1973. Höffner, Joseph: Soziallehre der Kirche oder Theologie der Befreiung? Bonn 1984. Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die christliche Freiheit und die Befreiung, 22. März 1986, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 70, Bonn 1986. Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über einige Aspekte der „Theologie der Befreiung“, 6. August 1984, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 57, Bonn 1984. Maier, Hans: Politische Religionen – ein Begriff und seine Grenzen, in: Die Neue Ordnung, Jg. 55 (2001), S. 164 – 175. Metz, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 1977. Müller, Gerhard Ludwig / Gutiérrez, Gustavo: An der Seite der Armen. Theologie der Befreiung, Augsburg 2004. Ockenfels, Wolfgang: Politisierter Glaube? Zum Spannungsverhältnis zwischen Katholischer Soziallehre und Politischer Theologie, Bonn 1987. Ratzinger, Joseph: Die Theologie der Befreiung. Voraussetzungen, Probleme und Herausforderungen, in: Die Neue Ordnung, Jg. 38 (1984), S. 285 – 295. Schmitt, Carl: Politische Theologie, I: Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Leipzig 1922, Berlin (3. Aufl.) 1979. – Politische Theologie, II: Die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie, Berlin 1970. Taubes, Jacob (Hrsg.): Religionstheorie und Politische Theologie, Band 1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, (2. Aufl.) München u. a. 1985. Utz, Arthur F.: Sozialethik, Teil 5: Politische Ethik, Bonn 2000. Weber, Wilhelm: Wenn aber das Salz schal wird . . . Der Einfluß sozialwissenschaftlicher Weltbilder auf theologisches und kirchliches Sprechen und Handeln, Würzburg 1984.
Moral im Diskurs Die Relevanz der Diskursethik für die Katholische Soziallehre Von Hans-Joachim Höhn
Wer heute um die ethisch-politische Realpräsenz des Evangeliums bemüht ist, muss sich auseinandersetzen mit einem dramatischen Plausibilitätsverlust religiös-metaphysischer Weltbilder, der es immer schwerer macht, die gesellschaftliche Bedeutung eines christlichen Ethos zu vermitteln. Für den Nachweis, dass ein religiöser Sinnhorizont einen legitimen Entdeckungs- und Reflexionszusammenhang für die Bestimmung des Guten und Gerechten konstituiert, lässt sich eine weltanschaulich plurale Gesellschaft immer seltener von Argumenten beeindrucken, die sich metaphysischen Reflexionen verdanken. Unter dieser Rücksicht sind demnach für eine christliche Sozialethik neue Anstrengungen nötig, um jene Fundamente zu überprüfen und gegebenenfalls zu überholen, auf deren Basis ihre Aussagen gegenüber konkurrierenden Moralsystemen oder der grundsätzlichen Bestreitung einer normativen Sozialethik zeit- und sachgemäß zur Geltung zu bringen sind. Die Forderung der Zeit- und Sachgemäßheit erstreckt sich zunächst auf eine präzise Kenntnis der Konstitutions- und Funktionsbedingungen moderner Gesellschaften, auf eine mit entsprechender Tiefenschärfe vorgenommene Analyse ihrer Krisen und Pathologien. Aus diesem Grund sind sozialwissenschaftliche Verfahren der Sozialanalyse und Zeitdiagnose für eine Christliche Sozialethik konstitutiv.1 Zu ihrem Projekt gehört aber ebenso, zu den Erkenntnissen der empirischen und historischen Sozialforschung unter Angabe allgemein einsichtiger Moralprinzipien wertend, kritisierend und handlungsorientierend Stellung zu nehmen. Ein Proprium der Sozialethik besteht somit darin, gegenüber sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fragen die Position eines „moral point of view“ einzunehmen. Es ist aber philosophisch keineswegs unumstritten, dass ein solcher Standpunkt der Moral überhaupt begründet werden kann. Sind nicht alle Maßstäbe, an denen zur Rechtfertigung von Werten und Normen Maß genommen wird, geschichtlich kontingent, kontextabhängig, kulturell variabel? Wie soll es in Gesellschaften, die im Zeichen weltanschaulicher Pluralität mit höchst heterogenen Moralauffassungen stehen, überhaupt einen Konsens in ethischen Fragen geben können? In der Geschichte der Katholischen Soziallehre hat das Naturrechtsdenken weitgehend die Aufgabe übernommen, sowohl die Gültigkeit eines „moral point of view“ als auch die Geltungsgrundlage sozialethischer Prinzipien aufzuweisen. Anliegen und Ziel war es, auf dem Wege der rationalen Rekonstruktion unhintergehbarer („naturaler“) Bedingungen menschlichen Daseins und Handelns, zugleich jene Maßstäbe zu ermit1
Vgl. Höhn (2006).
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teln, an welchen alle Institutionen und Normen ihre Legitimität ausweisen müssen, wenn sie menschliches Handeln regeln wollen. Dieses Anliegen und diese Logik teilt das Naturrechtsdenken mit der Diskursethik, ohne dass die Diskursethik jene Kritikpunkte auf sich zieht, denen das Naturrechtsdenken heute ausgesetzt ist.2 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass unter den Bedingungen eines „postmetaphysischen“ Denkens die Diskursethik funktionale Äquivalente für ein in den Augen der Gegenwartsphilosophie prekäres Naturrechtsdenken bereitstellt: Im Unterschied zu einem ethischen Relativismus geht sie davon aus, dass die Konkurrenz praktischer Interessen und Geltungsansprüche von individuellen und sozialen Akteuren intersubjektiv entschieden werden kann. Im Gegensatz zu einem ethischen Skeptizismus vertritt sie die Auffassung, dass die Grundsätze einer solchen Entscheidungsfindung der praktischen Vernunft zugänglich und für den Bereich des Sozialen als verbindlich ausweisbar sind. Wie das Naturrechtsdenken verknüpft eine Diskurstheorie der Moral mit diesen Fragen die Bestimmung letzter, nicht mehr hintergehbarer Voraussetzungen menschlichen Handelns, die zugleich eine normative Vorgabe für die Ausgestaltung menschlicher Beziehungen darstellen. Allerdings vollzieht sie diese Reflexion im Kontext des Wechsels von einem (bewusst)seinsphilosophischen zu einem nach-metaphysischen, kommunikationstheoretischen Paradigma der Moralphilosophie.
2 Das Naturrechtsdenken will für seine normative Aussagen Objektivität und Wahrheitsfähigkeit reklamieren, indem es ihren kognitiven Gehalt mit Aussagen über das deskriptiv feststellbare „natural Unbeliebige“ bzw. die „Natur“ des Menschen verknüpft. Unter der Voraussetzung, dass ontologische Aussagen Beschreibungen von Grundstrukturen des Daseins vornehmen und somit deskriptiven Aussagen zuzuordnen sind, ethische Aussagen dagegen evaluative oder präskriptive Aussagen darstellen, nimmt die Naturrechtsethik einen formallogisch fehlerhaften Übergang von rein deskriptiven Prämissen zu einer normativen Konklusion vor. Sofern also das Naturrechtsdenken jene Aussagen über „die“ Natur, aus denen es normativ-kritische Prinzipien von Recht und Moral gewinnen will, als deskriptiv versteht, unterläuft ihm ein Sein / Sollen-Fehlschluss. Deskriptiv sind zweifellos jene Aussagen über die Natur als Gesamtheit dessen, was „von sich aus“ ohne menschliches Zutun da ist und zugleich jene Umstände menschlichen Daseins bestimmt, die menschlichem Handeln nicht verfügbar sind. Problematisch ist hierbei, inwiefern solche „naturalen“ Vorgaben im ethischen Sinne überhaupt normativ sein können. Gegenüber dem, woran der Mensch prinzipiell nichts ändern kann oder was ihn zum bloßen Vollzugsorgan unausweichlicher Verhaltensdeterminanten macht, gibt es kein Verhältnis der Verantwortung, der Freiheit oder der Schuld im strikt ethischen Sinne. Die moralische Qualität eines Sollensanspruchs liegt aber nicht zuletzt darin, dass sie die Freiheit des Menschen anruft und ihn dadurch zum verantwortlichen Subjekt seiner Handlungen macht. Dazu muss einem solchen Sollensanspruch aber selbst Freiheitscharakter zukommen, d. h. sein „Wovonher“ muss eine Freiheitswirklichkeit sein. Geht ein solcher Anspruch von der metaphysisch verfassten „Natur“ des Menschen, der Welt, des Kosmos tatsächlich aus? Eine positive Antwort auf diese Frage ist offensichtlich nur unter Anwendung metaphysischer Zusatzannahmen möglich, indem etwa die „Seinsordnung“ als Manifestation einer göttlichen „Schöpfungsordnung“ bezeichnet wird, in der man wiederum die Manifestation des freien Willens eines Schöpfergottes erkennt. Erst mit diesen theologisch-metaphysischen Zusatzannahmen wäre eine „Letztbegründung“ moralischen Sollens erreicht. Allerdings sind diese Zusatzannahmen einer „Ontotheologie“ unter den Vorzeichen nachmetaphysischen Denkens nur schwerlich „sola ratione“, allein mit den Mitteln der Vernunft einsichtig zu machen. Vgl. hierzu ausführlicher Höhn (1999).
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I. Nachmetaphysisches Denken und Moral: Neuzeitliches Ethos als Vernunftethos Die neuzeitliche Ethik sucht den Maßstab für die Ermittlung moralischer Werte und Normen nicht im „naturalen“ Selbst- oder Weltverhältnis des Menschen, sondern konzentriert sich auf sein rationales Selbstverhältnis als Basis für die Ermittlung moralischer Verbindlichkeiten.3 Das den Menschen unbedingt Verpflichtende sieht sie in der freien Selbstbestimmung seines Willens durch die Vernunft. Durch Vernunft bestimmt ist ein Wille dann, wenn die ihn bestimmenden Maximen einem Imperativ entsprechen, der eine Handlung als objektiv gerechtfertigt, d. h. ohne Bezug auf einen anderen Zweck als geboten erweist. Dieser Imperativ ist ,unbedingt‘ seiner formalen Struktur nach, insofern er nur Maximen zulässt, die sich als allgemeines Gesetz widerspruchsfrei denken und wollen lassen. Er ist ,unbedingt‘ hinsichtlich seines Inhalts, insofern er die Vernunftnatur des Menschen als einzigen Zweck an sich selbst auszeichnet. Von unbedingtem Wert und unersetzbar ist das, an dessen Stelle kein anderer Zweck gesetzt werden kann, dem es als Mittel zu Diensten stehen soll. Als ein solcher Zweck an sich selbst kann im neuzeitlichen Ethos nur die ethisch-praktische Vernunft in Betracht kommen und ihr Subjekt, das sich Zwecke setzen kann, die über die Naturzwecke hinausgehen. Sie ist nämlich die oberste, bestimmende Bedingung der Freiheit und aktuiert zugleich diese Freiheit. Als ein solches Subjekt der Vernunft ist der Mensch auch Subjekt aller Zwecke und somit Zweck an sich selbst. Das letzte Kriterium des sittlich Richtigen und unbedingt Verbindlichen kann demnach nur die Selbstzwecklichkeit des Menschen sein.4 Damit ist weit mehr gemeint als individuelles oder kollektives Wohlergehen. Es geht um die Beförderung von Freiheit und Autonomie. An diesem Kriterium vorbei kann keine Norm als sittlich verbindlich behauptet werden, will sie den Test auf ihre Objektivität im Sinne ihrer Universalisierbarkeit bestehen (worin zugleich die ethische Richtigkeit von Maximen und Prinzipien des Handelns aufscheint). Über den Aspekt der Universalisierung werden die Moralaspekte der Solidarität und Gerechtigkeit eingeholt. Das Anspruchsniveau des neuzeitlichen Ethos wird von etlichen utilitaristischen Konzeptionen nur teilweise erfüllt. Sie bieten zwar ein nach-metaphysisches und zugleich objektives Prinzip zur Begründung normativer Aussagen an: die Orientierung am erwarteten Gesamtnutzen einer Handlungsweise. Aber sie verfehlen nicht selten das Moralische der Moral: das Prinzip der gleichen Achtung jedes Menschen als Zweck an sich selbst, der nicht unter eine allgemeine Nutzenkalkulation subsumiert werden darf. Vertragstheoretische Ansätze blenden oft den Aspekt der universalen Solidarität aus. Nur für diejenigen Subjekte, die an einer geregelten Interaktion interessiert sind, ist es rational, gegenseitig Verpflichtungen einzugehen. Der Kreis der Beteiligten erstreckt sich auf Kooperationswillige, die Kooperation als wechselseitigen Vorteilstausch verstehen Vgl. Honnefelder (1993). Vgl. hierzu etwa die „klassischen“ Aussagen bei I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Akademie-Ausgabe Bd. 4, S. 428 – 437) zur »Selbstzweckformel«: „Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann. . . Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat“ (S. 435). Zu beachten ist, dass Würde und Selbstzwecklichkeit bezogen sind auf die sittliche Gesinnung und dann dem Menschen als einem Wesen zukommen, das ihrer fähig ist. Die Würde des Menschen wird also nicht durch am Menschen sichtbare Eigenschaften begründet, sondern konstituiert sich aus dem ihm vorgegebenen moralischen Anspruch und der ihm zur Verwirklichung aufgebenen Verpflichtung (bzw. Fähigkeit im Sinne einer Potenz), zwischen Gut und Böse zu entscheiden. 3 4
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und praktizieren. Auch hier wird ein objektiver Maßstab für Handlungsorientierungen angegeben – der wechselseitige Vorteil der Beteiligten –, aber das Moralische der Moral wird erneut nur teilweise eingeholt. Es fehlt der Aspekt, dass das Moralische auf ein für alle Menschen gleichermaßen Gutes abzielt. In Kooperationen mit dem Ziel wechselseitigen Vorteilstausches einzutreten, hat nur für solche Subjekte Sinn, die etwas eintauschen können. Wer nichts hat, dem wird auch die Chance der Kooperation genommen.5 Verallgemeinerungswürdig im strikt moralischen Sinne sind für ein modernes Ethos nur solche Vorkehrungen und Verfahren, die eine Materie derart regeln, dass sie aus der Perspektive aller Betroffenen und nicht bloß aller Beteiligten zustimmungsfähig sind. Genau dies ist nun auch der Einstieg einer diskurstheoretischen Moralbegründung. Die Bezeichnung „Diskursethik“ steht für ein Begründungsprogramm normativer philosophischer Moraltheorie, das die kommunikative Vernunft als die einzige Quelle auszeichnet, das unter den wertpluralen und rationalitätsskeptischen Bedingungen der Moderne eine rational definitive Rechtfertigung allgemeinverbindlicher moralischer Verpflichtungen gestattet. Eine Christliche Sozialethik kann von dem Erfolg dieses Unternehmens in hohem Maße profitieren, da sie hier ein Begriffs- und Methodenrepertoire vorfindet, mit dessen Hilfe sich die allgemeine Zustimmungsfähigkeit ihrer normativen Aussagen auch ohne theologische „Rückendeckung“ aufzeigen lässt.
II. Die soziale Signatur der praktischen Vernunft: Diskursethik im Kontext einer Theorie kommunikativen Handelns Die in unterschiedlichen Versionen und Varianten von K.-O. Apel, W. Kuhlmann, D. Böhler und J. Habermas ausgearbeitete Diskurstheorie der Moral versteht sich als eine kommunikationstheoretische Neuformulierung der Kantischen Moraltheorie im Hinblick auf die Frage nach faktisch unhintergehbaren Strukturen bei der Begründung ethischer Normen. Die von Kant in der Form des Kategorischen Imperativs formulierte Regel der ethischen Überprüfung von Handlungsmaximen wird hier erweitert zu einem Verfahren, in dem die moralisch-praktischen Diskussionen zwischen Subjekten eine rationale Grundlage finden. Die Besonderheit der Diskursethik besteht aber nicht allein in der Umdeutung von Kants Verallgemeinerungsprinzip in ein kommunikatives Prüfverfahren ethischer Maximen, sondern mehr noch in dem Versuch, dieses Universalisierungsprinzip seinerseits aus den sprachlichen Implikationen kommunikativen Handelns bzw. diskursiver Argumentation zu rechtfertigen. Ansatz und Zuschnitt dieses Programms lassen sich am anschaulichsten so darstellen, dass man ein Szenario analog zu einem „Urzustand“ beschreibt, von dem her einsichtig wird, inwiefern die Diskursethik aus den Begründungsverlegenheiten einer modernitätskompatiblen Moraltheorie herausfindet: Gehen wir davon aus, dass die Angehörigen einer modernen Gesellschaft in regelungsbedürftige Interessens- und Handlungskonflikte verstrickt sind, die sie vernunftorientiert lösen wollen. Zerfallen ist ein gemeinsames Ethos, erodiert der Bestand inhaltlich bestimmter Grundwerte, religiöse Traditionen haben ihre Motivkraft verloren und an Plausibilität eingebüßt haben metaphysische Weltbilder. Geblieben ist lediglich das Interesse der Beteiligten, ihre Konflikte nicht 5 Vgl. hierzu ausführlicher im Handbuch den Beitrag von M. Schramm, Gesellschaftsethik im Utilitarismus und in den modernen Vertragstheorien.
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durch Gewalt, Betrug oder faule Kompromisse, sondern durch Verständigung beilegen zu wollen. Auf dieser Basis unternimmt man als erstes den Versuch, in Beratungen einzutreten, um verbliebene Gemeinsamkeiten daraufhin abzusuchen, ob sie für ein gemeinsames ethisches Selbstverständnis ausreichen. Diese Reste sind jedoch so heterogen und der Differenzierungs- und Partikularisierungsgrad der Interessen, Handlungsmotive und -ziele, die Divergenz der Leitbilder eines guten Lebens unter den Individuen ist so groß, dass die Schnittmenge zu gering ausfällt, um sie zur Basis oder Matrix weiterer Beratungen zu machen. Es scheint keine Inhalte zu geben, die allgemeine Zustimmung finden. Gleichwohl halten die „modernen Urzuständler“ an ihrer Absicht fest, einen vernunftorientierten modus vivendi miteinander zu finden. In Ermangelung eines substantiellen Einverständnisses über die Inhalte von Normen stellen sie fest, dass das einzig verbliebene, gemeinsame soziale Band der Umstand ist, dass jeder von ihnen an einer Lebensform teilhat, die durch sprachliche Verständigung strukturiert wird. Die Beteiligten beginnen nun mit der Analyse, ob nicht in diese Lebensform normative Gehalte eingelassen sind, welche die Grundlage für weitergehende, gemeinsame moralische Orientierungen bilden können. Desillusioniert vom Scheitern ihrer bisherigen Verständigungsversuche setzen sie bei sprachlichen Prozessen an, die auf den ersten Blick überhaupt nicht konsensorientiert scheinen: beim Vollzug des Zweifels und der Kritik. Was nun abläuft, macht das Kernstück einer Diskurstheorie der Moral aus und lässt sich fachwissenschaftlich als Verfahren der „reflexiven Rekonstruktion unhintergehbarer moralischer Bedingungen und Implikate sinnvollen Denkens und Handelns“ bezeichnen. Hierbei handelt es sich um den Versuch, in kritischer Reflexion auf die Struktur vernünftiger Kritik und sinnvollen Zweifelns nach Sachverhalten zu suchen, die außerhalb des Verfügungsbereiches von Kritik und Zweifel liegen bzw. von diesen selbst in Anspruch genommen werden müssen, um sich artikulieren zu können. Die moralphilosophische Pointe dieses Verfahrens besteht darin, unter diesen Möglichkeitsbedingungen diskursiver Argumentation auch ein Ensemble unhintergehbarer ethischer Fundamentalnormen zu identifizieren.
1. Ethische Letztbegründung: Reflexive Rekonstruktion der Möglichkeitsbedingungen sinnvoller Argumentation
Auf dem Weg der reflexiven Rekonstruktion von Möglichkeitsbedingungen sinnvoller Argumentation geht es um die Einholung von Denk- und Handlungsregeln, die philosophisch in der Weise „letztbegründet“ sind, dass man sie ohne Selbstwiderspruch weder bestreiten noch ohne Unterstellung ihrer selbst begründen kann, weil sie selbst die Grundlage allen Begründens ausmachen.6 Die gesuchten Möglichkeitsgründe liegen in jener Sphäre, die Sinn und Geltung der Vollzüge des Erkennens und Verstehens konstituiert. Es ist dies die sowohl geschichtliche wie logische Dimension des menschlichen Gebrauchs der Sprache. Im Unterschied zu den klassischen naturrechtlichen Begründungsversuchen wird hier die transzendentale Reflexion nicht auf seinsmäßig Erstes, sondern auf methodisch Unhintergehbares gerichtet. Die Diskursethik thematisiert keine ontologische Wesenswelt 6
Vgl. auch Kuhlmann (2006), S. 9 – 74.
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und keinen empirischen Gegenstandsbereich, sondern den umfassenden Rahmen, in dem allein sinnvolles sowie rechtfertigungsfähiges Denken und Handeln möglich ist. Dieser Rahmen besteht aus den Regeln des Sprachspiels „Argumentation“. Dazu zählen die Regeln des logischen Schließens, der Bildung grammatisch richtiger Sätze und des erfolgreichen Ausführens kommunikativer Vollzüge. Bei näherem Hinsehen ergibt sich hier zudem eine Verschränkung von theoretischer und praktischer Vernunft, bei der kein Sein / Sollen-Fehler und kein naturalistischer Fehlschluss auftaucht. Es lässt sich nämlich zeigen, dass zur Logik der Argumentierens gleichursprünglich auch eine Ethik des Argumentierens gehört. Mit jeder Aussage, Empfehlung oder Kritik erhebt ein Sprecher gegenüber sich und den anderen Teilnehmern der Diskussion einen Geltungsanspruch (z. B. dass seine Aussage wahr, seine Empfehlung hilfreich und seine Kritik berechtigt ist). Sofern er mit dieser Stellungnahme das Verlangen verknüpft, dass die Anderen auf seine Rede eingehen, weckt er die Erwartung, dass er gewillt und in der Lage ist, diesen Anspruch auf Nachfrage zu rechtfertigen. Insoweit erkennt er allen anderen Argumentierenden das Recht zu, seinen Geltungsanspruch zu prüfen. Sich selbst verpflichtet er, an dieser Prüfung durch die Rechtfertigung seiner Position mittels Beibringen zustimmungswürdiger Gründe mitzuwirken. Damit ist bereits die Ethik im Spiel der Logik: Die Anerkennung der Urteilsfähigkeit des Anderen als eines argumentationsfähigen Subjekts, als eines kompetenten Prüfers und kritischen Fragers, seine Anerkennung als gleichberechtigten Diskussionspartner, die gegenseitige Unterstellung wahrhaftigen Sichäußerns und die Bereitschaft zu kooperativer Wahrheitssuche sind normative Voraussetzungen für sinnvolles Argumentieren. Eine Diskussion kann nur dann sinnvoll durchgeführt werden, wenn die Argumentierenden einander im emphatischen Sinn als „Personen“, d. h. als gleichrangige, zurechnungs- und wahrheitsfähige Gesprächspartner anerkennen. Das Erheben von Geltungsanspüchen und ihr Bestreiten ist nur insoweit vernünftig, wie sich alle Beteiligten bemühen, ihre Aussagen durch rationale, d. h. konsensfähige Überlegungen zu stützen. Allein auf diesem Weg kann eine vernünftige Gemeinsamkeit des Wollens und Tuns unter allen Beteiligten entstehen. Vernünftig ist ein Konsens nur dann, wenn alle Vernünftigen ihm aufgrund rationaler Argumentation zustimmen können. Zustimmungswürdig sind jene Argumente, bei denen man sich in Widersprüche verwickelt, wenn man ihnen widerspricht. Der Geltungsanspruch eines sinnvollen Arguments ist also notwendig der Anspruch, dass alle konsistent Argumentierenden ihn als begründet einsehen, so dass auf Dauer, wenn alle Gründe vorgebracht wurden, die diesen Geltungsanspruch stützen, ein Konsens zu erwarten ist. Die skizzierten Merkmale der wechselseitigen Anerkennung von Personen als einander gleichgestellte Mitglieder einer prinzipiell offenen Argumentationsgemeinschaft definieren das Vernunftprinzip der nicht hintergehbaren Argumentationssituation zugleich als Moralprinzip. Es gibt die Bedingungen an, die Normen erfüllen müssen, wenn ihr Anspruch auf Gültigkeit gerechtfertigt werden soll. Dieses Prinzip ist kompatibel mit wert- und interessenpluralen Gesellschaften, indem es einen bestehenden Dissens in der Sache durch einen Konsens im Verfahren auffängt. Die diskursiven Strukturen und Prozeduren der Handlungskoordinierung führen nicht zu einer Nivellierung oder Unterdrückung der Optionenvielfalt und pluralistischen Struktur bestehender Lebensverhältnisse. Denn eine Diskursethik bringt von sich aus keine inhaltlich bestimmten Normen
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hervor, sondern ist ein Testverfahren hinsichtlich der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit öffentlich erhobener Geltungsansprüche – von wem sie auch kommen mögen.
2. Kommunikation und Gesellschaft: Diskursethik und Sozialtheorie
Der auf Wege strikter Argumentationsreflexion gewonnene Begriff ethischer qua diskursiver Rationalität führt Konnotationen mit sich, die letztlich zurückgehen auf die zentrale Erfahrung der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede, in der verschiedene Teilnehmer ihre zunächst subjektiven Auffassungen überwinden und sich dank der Gemeinsamkeit vernünftig motivierter Überzeugungen gleichzeitig der Intersubjektivität ihres Lebenszusammenhangs und der objektiven Gültigkeit ihrer Werte und Normen vergewissern. Hierbei repräsentieren die unhintergehbaren Maßstäbe sinnvollen Diskutierens auch die „Grammatik“ einer idealen Kommunikationsbedingungen hinreichend angenäherten Organisation des sozialen Lebens. Die symmetrische Verteilung von Rechten und Pflichten bei der Äußerung und Rechtfertigung von Geltungsansprüchen und die Verpflichtung, sich nur der zwangfreien Herrschaft vernünftiger Argumente zu beugen – all dies sind diskurstheoretische Entsprechungen zu den ethischen Basiskategorien der Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit. Die Pointe einer Diskurstheorie der Moral besteht nicht zuletzt darin, dass sie zu einem genuin sozialethischen Theorietyp führt: Insofern der Sozialbezug menschlichen Handelns auch die Leitgröße für die Grundlegung einer intersubjektiv gültigen normativen Ethik bezeichnet, ist damit die gemeinsame Basis von Ethik und Gesellschaftstheorie benannt. Kommunikatives Handeln wird hierbei nicht als der besondere Anwendungsfall einer andernorts begründeten Ethik betrachtet, sondern selbst als Ursprungsund Erkenntnisort ethischer Normen identifiziert. Zugleich stellt diese Interaktionsform eine der elementaren Wirkkräfte für den Aufbau und Bestand sozialer Systeme dar. Die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens ist nicht nur gebunden an den „Stoffwechsel“ einer Gesellschaft mit ihrer Umwelt. Die technisch-zweckrationale Auseinandersetzung mit der äußeren Natur ist mit Kommunikation verschränkt, weil sie auf die Koordination der jeweils beteiligten Subjekte, Institutionen und Teilsysteme angewiesen bleibt. Diese Koordination ist ihrerseits abhängig von gemeinsamen Situationsdefinitionen und intakten Verständigungsprozessen. Die gesellschaftliche Relevanz der Diskursethik ist zunächst sozialanalytisch und -kritisch definiert. An jede Sozialordnung, Institution, Lebensform und Verhaltensnorm ist demnach die Frage zu richten, unter welchen Bedingungen sie eine Praxis fördert, die es den Subjekten möglich macht, vernunftorientiert zu diskutieren, zu entscheiden und ihren konsensfähigen Urteilen gemäß zu handeln. Für die ethische Qualifizierung eines Sozialsystems hängt Entscheidendes davon ab, ob dort die gesellschaftlichen Voraussetzungen angetroffen werden, unter denen eine zwangfreie und chancengleiche Teilnahme der Bürger an politischen und moralischen Diskursen möglich ist: Gibt es eine Freiheit von institutionellen und weltanschaulichen Fesseln, die ein von einer ethischen oder politischen Handlungsnorm betroffenes Subjekt von der diskursiven Aushandlung dieser Norm fernhalten könnte? Neben diesem Aspekt der Partizipation, der allerdings als Maßstab für die konkrete Organisationsform einer Gesellschaft genug Brisanz besitzt, ist das diskursethische Prinzip der egalitären Freiheit zur moralischen
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Hans-Joachim Höhn
Stellungnahme zu betonen. Unter diesem Gesichtspunkt kommen die sozio-kulturellen Bedingungen in den Blick, die Behauptung und Rechtfertigung der moralisch-politischen Werte, Ansprüche, Optionen und Interessen eines Individuums überhaupt erst ermöglichen. Nur jene Gesellschaft darf letztlich als vernünftig und ethisch gerechtfertigt gelten, die mit ihrer Infrastruktur nicht nur die gerechte Verteilung materieller und kultureller Güter fördert, sondern auch all ihren Mitgliedern die Chance einer diskursiven und somit ethisch gerechtfertigten Aushandlung von strittigen Interessen, Bedürfnissen und Normen gewährt. Der Beitrag der Diskursethik zur inhaltlichen Bestimmung ethischer Sozialprinzipien fällt relativ bescheiden aus. Er terminiert in der Angabe der normativen Bedingungen, unter denen sich die Vielfalt je individueller Entwürfe gelungenen Lebens egalitär entfalten kann. Es ist dies eine relativ abstrakte, aber durch ihre Formalstrukturen im Hinblick auf ihre inhaltliche Ausgestaltung sehr anspruchsvolle Plattform sozialen Lebens. Mit ihr sind alle Wertvorstellungen kompatibel, die sich grundsätzlich der Metanorm zwangfreier Interaktion unterstellen und sie als Regulativ sozialen Handelns anerkennen. Konvergenzen mit einer christlichen Moral, zu deren Kern ein kommunikatives Freiheits- und Vernunftverständnis gehört, sind unabweisbar. Die Diskursethik eröffnet auch neue Chancen, die materialethischen Basisüberzeugungen der Katholischen Soziallehre plausibel zu machen. Sie ermöglicht die Erarbeitung einer sozialen Prinzipienlehre, die das generelle Zuordnungsverhältnis von Person, Institution und übergreifenden sozialen Systemen in ihrem inneren Verweisungszusammenhang sozialphilosophisch einsichtig zu machen und ethisch verbindlich zu bestimmen vermag. Was die Katholische Soziallehre in den Prinzipien der Personalität (vgl. MM 219; PT 9; GS 12, 27, 29; PP 15; OA 14; LE 6), der Sozialität (vgl. GS 23 – 26) bzw. des Gemeinwohls (vgl. QA 57 – 58; MM 65; PT 55 – 59; GS 26, 74) und der Solidarität (vgl. PT 98; PP 43 ff.; LE 8, 20; SRS 32 – 33, 39 – 40, 45) festgemacht hat, kann durchaus kommunikationstheoretisch und diskursethisch reformuliert werden.7
III. Sozialethik postsäkular: Diskursethische Perspektiven der Katholischen Soziallehre Indem die Diskursethik weder das Glück des Individuums noch das Telos sozialen Lebens inhaltlich präjudiziert, achtet sie die Pluralität der Lebensstile, Weltanschauungen, Daseinsentwürfe, wie sie für moderne Gesellschaften typisch ist. Indem sie aber deren Vertreter und Verfechter auf eine argumentative Rechtfertigung ihrer Geltungsansprüche festlegt und von ihnen den Test der Universalisierbarkeit verlangt, sprengt sie jeden sozialen Partikularismus und ethischen Relativismus. Genau dies liegt im Interesse der Katholischen Soziallehre. Eine Diskurstheorie der Moral nötigt sie allerdings dazu, bei der öffentlichen Erörterung ihrer materialen Beiträge zu einer ethischen Kurskorrektur des sozialen Laufs der Dinge nicht bei metaphysischen Hintergrundannahmen Zuflucht zu suchen, sondern sich allein dem zwanglosen Zwang des triftigeren Argumentes zu unterstellen. Das Paradigma der Diskursethik eröffnet damit neue Chancen für eine Soziallehre, die sich an alle Menschen guten Willens wendet und dabei nicht umhin kommt, für die Begründung ihrer Inhalte sich eine Begleitreflexion zu geben, 7
Vgl. Höhn (1990).
Moral im Diskurs
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die eine streng nach den Regeln der Vernunft vorgehende, also argumentative Sozialethik sein muss. Die Chancen hierfür stehen nicht schlecht in einer Zeit, in der sich „postsäkulare“ Konstellationen von Religion und Gesellschaft mehren. Gegen alle Erwartungen einer religionslosen Zukunft hat J. Habermas in mehreren Studien den Befund einer Gesellschaft gestellt, die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellen muss. Habermas schränkt diesen Fortbestand nicht auf folkloristische Bestände ein, sondern hält ihn auch für politisch und sozialethisch belangvoll, indem er darauf hinweist, dass ungeachtet zahlreicher Entmythologisierungs- und Säkularisierungswellen religiöse Sinnsysteme eine wichtige „vorpolitische“ Ressource eines liberalen Gemeinwesens bilden können. Mit der zeitdiagnostischen Kategorie „postsäkular“ verbindet sich ferner die Herausforderung einer kooperativen Aufarbeitung von Säkularisierungsfolgen, die der Dialektik der Aufklärung bzw. einer „entgleisenden Modernisierung“8 zuzuschreiben sind. Es liegt in der Tat nahe, in den von der Moderne verkannten und verdrängten „Weltanschauungen“ jene Anregungen zu suchen, welche für die Aufarbeitung der negativen Folgen des okzidentalen Rationalismus hilfreich sein können.9 Gerade religiöse Weltbilder stehen für ein Krisen- und Lebenswissen, das neu an Relevanz gewinnen kann, sofern es gelingt, seine Bedeutungspotentiale aus ihrer religiösen Codierung zu entbinden. Wo die Fortschritte der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung abgründige Zerstörungen angerichtet haben, könnten religiöse Überlieferungen – so J. Habermas – „immer noch verschlüsselte semantische Potentiale enthalten, die, wenn sie nur in begründende Rede verwandelt und ihres profanen Wahrheitsgehaltes entbunden würden, eine inspirierende Kraft entfalten“.10 Die praktische Vernunft muss um ihrer eigenen Orientierungskraft willen daran interessiert sein, aus religiösen Überlieferungen kognitive Gehalte der Daseinsorientierung zu bergen. Dazu eignen sich allerdings nur solche Gehalte, „die sich in einen vom Sperrklinkeneffekt der Offenbarungswahrheit entriegelten Diskurs übersetzen lassen. In diesem Diskurs zählen nur . . . Gründe, die auch jenseits einer partikularen Glaubensgemeinschaft überzeugen können.“11 Diese Übersetzungsaufgabe ist nicht einseitig den Religionsgemeinschaften zuzumuten. Auch von säkularen Bürgern ist zu erwarten, „religiöse Beiträge zu politischen Streitfragen ernst zu nehmen und in kooperativer Wahrheitssuche auf einen Gehalt zu prüfen, der sich möglicherweise in säkularer Sprache ausdrücken und in begründender Rede rechtfertigen lässt.“12 Dabei kommt es entscheidend darauf an, ob man eine gemeinsame Sprache findet – in Theorie und Praxis. Das Instrument metaphysisch-naturrechtlicher Argumentation, mit dem Theologie und Kirche „in den Gesprächen mit der säkularen Gesellschaft und mit anderen Glaubensgemeinschaften an die gemeinsame Vernunft appelliert und die Grundlagen für eine Verständigung über Ebd., S. 218. Vgl. auch Höhn (2007). Vgl. Habermas / Ratzinger (2005). 10 Habermas (2005), S. 13. 11 Ebd., S. 255. Dazu zählt Habermas (1988) u. a. den Gehalt der Begriffe Moralität und Sittlichkeit, Person und Individualität, Freiheit und Emanzipation, Humanität und Gerechtigkeit, die wir „nicht ernstlich verstehen können, ohne uns die Substanz des heilsgeschichtlichen Denkens jüdisch-christlicher Herkunft anzueignen“, S. 23. 12 Habermas (2005), S. 145. 8 9
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die ethischen Prinzipien des Rechts in einer säkularen pluralistischen Gesellschaft“ gesucht haben, ist längst „stumpf geworden“13. Allerdings stellt das Programm der Diskursethik ihrerseits nur eine notwendige, nicht aber auch eine hinreichende Konzeption für diese Aufgabe dar.14 Ihre Stärke liegt unbestritten in der Bewältigung begründungstheoretischer Probleme einer zeit- und sachgemäßen Sozialethik. Für eine Implementierung diskursiv gerechtfertigter Normen in die einzelnen Handlungsbereiche moderner Gesellschaften bedarf es weiterer Vorkehrungen.15 Erst mit der Ermittlung spezifischer Sachgesetzlichkeiten einzelner sozialer Handlungsbereiche wird die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die ethischen Fundamentalnormen des Diskurses handlungsleitende Wirkungen entwickeln. Andernfalls bleiben sie ein relativ abstrakter Maßstab bzw. Verfahrensmodus ethischer Urteils- und Willensbildung. Erst in der Vermittlung diskursethischer Fundamentalnormen mit der Logik und Rationalität funktionaler Teilsysteme und deren Rückkopplung an das sie tragende Netzwerk der Natur16 lassen sich jene spezifischen moralischen Verbindlichkeiten erkennen, die zu unterschlagen die Sozialethik um ihre gesellschaftliche Wirkung bringen würde. Literaturverzeichnis Apel, Karl-Otto (1988): Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M. – (1998): Auseinandersetzung in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. Apel, Karl-Otto / Kettner, Matthias (Hrsg.) (1992): Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt a. M. Böhler, Dietrich (1985): Rekonstruktive Pragmatik, Frankfurt a. M. Bohmeyer, Axel (2006): Jenseits der Diskursethik. Christliche Sozialethik und Axel Honneths Theorie sozialer Anerkennung, Münster. Gottschalk, Niels (2000): Diskursethik. Theorien, Entwicklungen, Perspektiven, Berlin. Habermas, Jürgen (1983): Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. – (1988): Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a. M. – (1991): Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. – (1996): Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Philosophie, Frankfurt a. M. – (1999): Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. – (2005): Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. Habermas, Jürgen / Ratzinger, Joseph (2005): Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg i. Br. u. a. Höhn, Hans-Joachim (1989): Sozialethik im Diskurs. Skizzen zum Gespräch zwischen Diskursethik und Katholischer Soziallehre, in: E. Arens (Hrsg.), Habermas und die Theologie, Düsseldorf, S. 179 – 198. 13 14 15 16
Ratzinger, in: Habermas / Ratzinger (2005), S. 50. Vgl. Bohmeyer (2006). Vgl. Apel / Kettner (1992). Vgl. Höhn (2001).
Moral im Diskurs
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– (1990): Vernunft – Glaube – Politik. Reflexionsstufen einer Christlichen Sozialethik, Paderborn u. a. – (1995): Konsens und Konflikt. Diskursethik als Paradigma einer Christlichen Sozialethik, in: M. Heimbach-Steins u. a. (Hrsg.), Brennpunkt Sozialethik (FS F. Furger), Freiburg i. Br. u. a., S. 135 – 151. – (1999): Zwischen Naturrecht und Diskursethik, in: A. Rauscher (Hrsg.), Christliche Soziallehre heute, Köln, S. 49 – 91. – (2001): Ökologische Sozialethik. Grundlagen und Prinzipien, Paderborn u. a. – (2006): Zeit-Diagnose. Theologische Orientierung im Zeitalter der Beschleunigung, Darmstadt. – (2007): Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn u. a. Honnefelder, Ludger (1993): Die ethische Rationalität der Neuzeit, in: Handbuch der Christlichen Ethik I, 2. Aufl., Freiburg i. Br. u. a., S. 19 – 45. Kuhlmann, Wolfgang (1985): Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, Freiburg i. Br. u. a. – (1992): Sprachphilosophie – Hermeneutik – Ethik. Studien zur Transzendentalpragmatik, Würzburg. – (2006): Beiträge zur Diskursethik, Würzburg. Wellmer, Albrecht (1986): Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt a. M.
Gesellschaftsethik im Utilitarismus und in den modernen Vertragstheorien Von Michael Schramm
Christliche Sozialethik schwebt nicht über den Wassern argumentativer Diskussionen über Gesellschaft und Ethik, sondern hat sich in einem kontroversen Feld konkurrierender sozialwissenschaftlicher und sozialphilosophischer Konzeptionen zu bewähren. Zu diesen Theorien gehören neben der Diskursethik auch die diversen Varianten des Utilitarismus sowie vor allem die unterschiedlichen ökonomischen sowie ethischen Ansätze einer modernen Vertragstheorie.
I. Angewandte Theologie: Zur sozialwissenschaftlichen Positionierung der christlichen Sozialethik Als Vergleichs- oder Kontrastfolie zu den eben genannten sozialwissenschaftlichen Konzeptionen sind in einem ersten Schritt die normativen Grundlagen der christlichen Sozialethik in Erinnerung zu rufen.
1. Christliche Sozialethik: Gott als Liebe
Christliche Sozialethik ist gesellschaftsethisch angewandte Theologie. Sie besitzt also grundsätzlich eine theologische Identität: – Die zentrale Grundsatzhypothese der christlichen Theologie lautet: Gott ist als die Liebe die letzte Wirklichkeit aller Welten (1 Joh 4,8)1. – Diese zentrale Grundsatzhypothese konkretisiert sich in drei zentralen Tatsachenhypothesen: 1. Gott hat die Welt aus Liebe erschaffen. 2. In Jesus von Nazareth ist der Gott der Liebe Mensch (geworden). 3. Im Gott der Liebe werden Menschen und Universum gerettet und vollendet (werden).
Es handelt sich hierbei um empirisch relevante Hypothesen, die zwar nicht empirisch falsifizierbar, wohl aber argumentativ kritisierbar sind. In diesem biblisch fundierten Begründungsdiskurs liegt das Spezifische einer christlichen (Sozial)Ethik. Dabei sind moralische Normen nicht deswegen richtig, weil Gott sie befohlen hat, sondern sie sind insoweit moralisch richtig als sie gerecht und vernünftig sind. Die Moral von Juden und Christen ist keine merkwürdige Sondermoral, 1 Die Liebe Gottes ist sowohl in der Enzyklika „Deus caritas est“ als auch im „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ die systematische Basis (Erster Teil).
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sondern ist die ganz normale Vernunftmoral, der auch nicht-religiöse Menschen zustimmen können sollten2. Daher gibt es für die Inhalte einer biblischen (Sozial)Ethik durchaus funktionale Äquivalente, nicht aber für die religiöse (spirituelle) Tiefendimension, die in der Bibel mit diesen Inhalten verbunden ist. Sie besteht in der Hintergrundvorstellung, dass uns in jedem Menschen Gott selbst entgegenkommt (Mt 25,40). Und insofern kann der Glaube an Gott die moralische Sensibilität und Ernsthaftigkeit der Entscheidungen intensivieren. 2. Christliche Sozialethik: Solidarische Personalität und Gerechtigkeit
Aufgrund des Gebotes des Nächstenliebe ist die normative Grundlage der christlichen Sozialethik das Personprinzip, das als Individualprinzip das Sozialprinzip der Solidarität aller Menschen (Personen) logischerweise zur Konsequenz hat. Insgesamt kann man die sozialethisch relevanten Kerngehalte der Bibel auf die beiden Begriffe „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ zuspitzen3. Das Moralprinzip der „Solidarität“ ist hierbei – ebenso wie das sozialethische „Personprinzip“ – eine modernisierte Form der biblischen Forderung nach „Nächstenliebe“. Hierin besteht gewissermaßen der moral point of view, das Moralprinzip der Bibel: Es wird festgelegt, wessen Interessen bei der Diskussion darüber, wie wir unser Zusammenleben gestalten sollen, überhaupt berücksichtigt werden sollen. Und die Antwort der Bibel lautet: die Interessen aller Menschen. Alle Menschen gehören zur „Solidargemeinschaft“4. Der Begriff der „Gerechtigkeit“ ist in der Bibel explizit ein Zentralbegriff (etwa Ps 11,7; Jes 45,8; Dtn 25,13 – 16; Lev 19,35 f.; Mt 5,6; Mt 6,33; Mt 25,37). Gerechtigkeit ist ein Unparteilichkeitskriterium für das Was oder Wie einer vorgeschlagenen Spielregel der Gesellschaft5. 3. Christliche Sozialethik: Zur Differenz von Begründungs- und Implementierungdiskursen
Die religiösen und moralischen Gehalte der christlichen Sozialethik konstituieren eine Identitätssemantik, auf die die Individuen in einer modernen, strukturell von Funktionssystemen (Wirtschaft, Politik, Recht usw.) geprägten Gesellschaft zurückgreifen können – oder es auch lassen können. Diese Differenz von (meist wertrationalen) Identitätssemantiken und (zweckrationalen) Funktionssystemen ist ein erstes Signal für eine sozialethisch wichtige Unterscheidung: nämlich diejenige von Begründungs- und Implementierungsdiskursen. 2 „Christliche Ethik ist keine Sonderethik für Christen. Sie ist Ethik für alle Menschen“, Spaemann (1991), S. 118. 3 So jedenfalls auch das Sozialwort der beiden Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ von 1997. 4 Im Rahmen der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls wäre das die Festlegung, dass alle Menschen zur original position zugelassen sind. 5 Erneut in der Terminologie von Rawls: Der Begriff der Gerechtigkeit bestimmt als Basiskriterium für die Akzeptabilität einer Regel, dass die Verhandlungen im Urzustand hinter einem veil of ignorance geführt wurden.
Gesellschaftsethik im Utilitarismus und in den modernen Vertragstheorien
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a) Theologisch-ethische Begründungsdiskurse: Theoretische und praktische Vernunft Als angewandte Theologie bewegt sich christliche Sozialethik zunächst einmal auf der Ebene von theologischen und ethischen Begründungsdiskursen, die mit theoretischer bzw. praktischer Vernunft bearbeitet werden. Die theoretische Vernunft der theologischen Begründungsdiskurse sucht dabei erstens nach der Wahrheit. Gewissheit jedoch ist – wie in allen Diskursen überhaupt – auch hier prinzipiell nicht erreichbar. Und zum zweiten kommt allein der (theoretischen) Vernunft die Funktion zu, theologische Sätze (Offenbarungssätze) rational aufzuarbeiten6. Die Theologie arbeitet durchgehend mit der Vernunft: „Seid aber jederzeit bereit, jedem Auskunft zu geben, der euch nach der Vernunft (ëïãïí) der Hoffnung in euch fragt“ (1 Petr 3,15). Die regulativen Ideen der ethischen Begründungsdiskurse – Solidarität (Nächstenliebe; Personalität aller Menschen) und Gerechtigkeit – fundieren das Spezifische einer christlichen Sozialethik. Es ergibt sich ein christliches „Menschenbild“, das auch zu den einschlägigen Sozialprinzipien der Katholischen Soziallehre führt. Die Prinzipien der Personalität, der Solidarität und des Gemeinwohls sind dabei als – im wesentlichen auf das Gleiche hinauslaufende – normative Zielprinzipien zu konzipieren, während das Subsidiaritätsprinzip als instrumentales Mittelprinzip (Organisationsprinzip) in Anschlag zu bringen ist7. Ethisch reicht es jedoch nicht aus, die theologischen Prämissen des christlichen Menschenbilds und der sozialkatholischen Prinzipien nur auszuweisen, vielmehr hat es darum zu gehen, ihre Zweckmäßigkeit (Menschendienlichkeit, Angemessenheit) zu begründen. Diese Aufgabe hat traditionellerweise eine naturrechtliche Argumentation übernommen8; sie ist auch im Rahmen der christlichen Sozialethik unverzichtbar, dürfte aber wegen der grundsätzlichen Widerlegbarkeit und Kontingenz ethischen Wissens nur im Sinn eines flexiblen oder „mobilen Ersatznaturrechts“ auszumünzen sein9. b) Implementierungsdiskurse: Polylingualität Zwar behält eine in Begründungsdiskursen fundierte Norm auch auf der Implementierungsebene ihren Status als begründet, doch kann es sein, dass sie lokal nicht – ohne prohibitive (Opportunitäts)Kosten10 – implementierbar ist. Ethik ist auf der Anwendungsebene „ex ante nur eine durch nichts ausgezeichnete Entscheidungslogik neben vielen anderen“11. Implementierungssituationen kennzeichnen sich durch Polylingualität. 6 Das instruktionstheoretische Modell der Offenbarung kann nicht überzeugen: „Was immer Gott tatsächlich offenbart hat, ist mit Sicherheit wahr: Es lässt sich nicht bezweifeln und ist zurecht Gegenstand des Glaubens. Aber ob es sich um eine göttliche Offenbarung handelt oder nicht, das muss die Vernunft entscheiden“ (Locke 1690 / 1975, Book IV, Chapter 18, No. 10; Übers.: M. S.). 7 Näher hierzu: Schramm (1999), S. 242 f. 8 Klassisch hierzu Messner (1960); modernisiert: Anzenbacher (2002). 9 So eine treffende Formulierung bei Luhmann (1990), S. 134. 10 Daher sind Implementationsdiskurse inhaltlich zwar polylingual, formal aber ökonomische Diskurse (im weiten Sinn von Opportunitätskosten). 11 Wieland (1999), S. 24.
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Michael Schramm 4. Schlussfolgerungen
Eine genuine Kompetenz kommt der christlichen Sozialethik als einer angewandten Theologie auf der Begründungsebene des theologisch-ethischen Diskurses zu. Auf der Implementierungsebene hingegen kommt der christlichen Sozialethik keine Dominanz gegenüber anderen Wissenschaften zu. Hier bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als sich durch zweckdienliche Vorschläge, die die Polylingualität lokaler Entscheidungssituationen in Rechnung stellen, nützlich zu machen. Auf beiden Ebenen steht die christliche Sozialethik in offenem Diskurs mit alternativen (kompatiblen oder konkurrierenden) Ansätzen und Positionen, neben der Diskursethik vor allem der Utilitarismus sowie die modernen Vertragstheorien.
II. Utilitarismus: Gesellschaftlicher Durchschnittsnutzen und tragische Entscheidungen Mit jeder Form einer modernen Ethik haben auch die utilitaristischen Ansätze die Sichtweise gemein, dass der moralische Gesichtspunkt formal durch das Kriterium einer unparteilichen Universalisierbarkeit (= unparteilichen Konsensfähigkeit) gesellschaftlicher Regeln präzisiert werden kann.
1. Folgen, Nutzen- und Sozialprinzip
Im klassischen Utilitarismus werden drei Prinzipien miteinander verknüpft: (1) Wegen des strikten Folgenprinzips erfolgt die moralische Beurteilung von Handlungen oder Regeln ausschließlich aufgrund der zu erwartenden Handlungs- oder Regelkonsequenzen (Wirkungen, Folgen). Der entscheidende Punkt liegt hierbei aber nicht darin, dass Folgen berücksichtigt werden – das ist in allen Ethikansätzen der Fall12 –, sondern dass ausschließlich mit Folgen kalkuliert wird. (2) Als Kriterium der Beurteilung der Folgen wird die Kategorie des Nutzens in Anschlag gebracht (Nutzenprinzip). Gut ist, was (am meisten) nützt13. Um das Nutzenprinzip nutzen zu können, müssen die aggregierten Nutzen bilanziert werden14, wobei umstritten bleibt, ob bei dieser Nutzenbilanzierung einfach quantitativ oder aber auch nach qualitativen Kriterien vorgegangen werden sollte. Während bei Jeremy Bentham die Nutzen nur quantitativ Berücksichtigung finden15, war John Stuart Mill der Auffassung, man müsse qualitative Unterschiede machen16. (3) Die Dimension des Ethischen kommt aber erst mit dem Sozialprinzip ins Spiel, das sicherstellt, dass es um den unparteilichen Nutzen aller von der Entscheidung BeSo etwa auch Rawls (1971 / 1979), S. 48. Vgl. etwa Mill (1864 / 1987), S. 203, und schon vorher Bentham (1823 / 1999), S. 234 f. 14 Bentham (1823 / 1999), S. 237 f. 15 Nach Bentham (1825), S. 843 f., ist es gleichgültig, um welche Art (Qualität) von Nutzen es sich qualitativ handelt, entscheidend sei allein die Quantität des Vergnügens. 16 Mill (1864 / 1987), S. 206 f. 12 13
Gesellschaftsethik im Utilitarismus und in den modernen Vertragstheorien
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troffenen geht: „It is the greatest happiness of the greatest number that is the measure of right and wrong“17 (Durchschnittsnutzen).
2. Durchschnittsnutzenprinzip und Regelutilitarismus
Zwei Präzisierungen der utilitaristischen Prinzipien bestimmen den heutigen Stand der Diskussion: – Erstens dürfte es zweckmäßig sein, nicht vom Nutzensummenprinzip, sondern vom Durchschnittsnutzenprinzip auszugehen. – Und zweitens vermeidet ein Regelutilitarismus die kontraintuitiven sowie kontraproduktiven Konsequenzen eines Handlungsutilitarismus, der es als moralische Verpflichtung ansieht, in jeder Handlung den kurzfristigen Nutzen zu mehren. Die kontraintuitiven Konsequenzen eines (kurzfristigen) Handlungsutilitarismus illustriert das „Marmeladen-Paradox“18. Doch auch die kontraproduktiven Konsequenzen eines (kurzfristigen) Handlungsutilitarismus sind zu berücksichtigen: Eine strikt handlungsbezogene Nutzenmaximierung würde jedwedes Investieren und damit die Berücksichtigung der langfristigen Interessen unmöglich machen. Daher ist nur ein Regelutilitarismus zweckmäßig.
3. Utilitaristische Ethik bei John C. Harsanyi
Doch auch bei Berücksichtigung der eben benannten Punkte trennen sich die Wege von christlicher Sozialethik und utilitaristischem Moralkalkül im Hinblick auf die utilitaristisch grundsätzlich zulässige bzw. sogar geforderte Verrechenbarkeit der individuellen Nutzenanteile. Die christliche Prämisse einer Würde eines jeden Einzelnen steht hier zur Debatte. Das Problem lässt sich präzisieren in der Auseinandersetzung mit einem wichtigen Vertreter des neueren Utilitarismus: dem ungarisch-amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträger von 1994, John C. Harsanyi. Harsanyi hat (noch vor Rawls) 1953 ein Gedankenexperiment vorgeschlagen19: Nehmen wir an, alle Individuen, die später einmal in einer Gesellschaft leben werden, treffen sich vorab – gewissermaßen am Nullpunkt der Geschichte – und überlegen, welche Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens sie sich geben wollen. Dabei macht Harsanyi jedoch zwei Voraussetzungen: 1. Keines der Individuen weiß, welche Position es dereinst in der Gesellschaft einnehmen wird. 2. Jedes Individuum muss mit einer gleichen Wahrscheinlichkeit mit jeder Position rechnen („equiprobability model“). Der utilitaristische Charakter der Ethik Harsanyis besteht nun darin, dass er allen Individuen (= Positionen) in der Gesellschaft „the same equal weight“20 zugesteht. Jeder Position wird ein gleiches (Stimm-)Gewicht Bentham (1789 / 1992), S. 229. Vgl. Birnbacher (1991), S. 573. 19 Harsanyi (1953); Harsanyi (1955). Rawls hat seine Variante (veil of ignorance) erst 1957 publiziert: Rawls (1957); Rawls (1958). Harsanyi hat daher wohl nicht zu Unrecht stets auf der historischen Priorität seiner Idee bestanden (Harsanyi 1975, S. 594 f.). 20 Harsanyi (1976), S. 76. 17 18
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Michael Schramm
zugestanden (Motto: „one man, one – and only one – vote“). Die Entscheidung fällt nun durch Mehrheitsentscheid, weswegen das einzelne Individuum überstimmt werden kann – und soll (Durchschnittsnutzenprinzip). Ein Vetorecht des Individuums oder der einzelnen gesellschaftlichen Position ist nicht vorgesehen.
4. Christliche Sozialethik und Utilitarismus: Getrennte Wege bei partieller Relevanz des utilitaristischen Entscheidungskalküls
Der Utilitarismus ist ein ethisches Konzept, das dem auch von der christlichen Sozialethik verfochtenen Gesichtspunkt der Unparteilichkeit durchaus Rechnung trägt. Die Wege trennen sich aber, wenn es um die Frage geht, wie man diesen Gesichtspunkt der Unparteilichkeit angemessen berücksichtigen sollte.
a) Getrennte Wege: Das Verrechnungsproblem Die utilitaristische Lösung der Orientierung am Durchschnittsnutzen sieht von vornherein kein Würde- und kein Gerechtigkeitsprinzip vor. Ein ethischer Riegel, den man – deontologisch oder wenigstens als moralische Präferenz – vor Sklaverei oder Rassismus schieben könnte, wird grundsätzlich nicht akzeptiert. Damit stehen Utilitarismus und christliche Sozialethik auf unterschiedlichen Fundamenten. Die utilitaristische Lösung geht in vielen Fällen „auf Kosten [ . . . ] der Würde jedes einzelnen. Im Utilitarismus kann der Nutzen (Wille) des einzelnen verrechnet werden gegen den Nutzen (Willen) anderer. Das aber ist nicht nur normativ [ethischer Begründungsdiskurs] problematisch, sondern führt auch zu erheblichen Problemen in der Umsetzung [Implementationsdiskurs], ökonomisch formuliert: zum Problem der Anreizkompatibilität“ 21. In dieser Beziehung besitzen die Konzeptionen der modernen Vertragstheorien die besseren Karten, während christliche Sozialethik und Utilitarismus hier getrennte Wege gehen.
b) Relevanz: Tragische Entscheidungen Trotz aller Differenzen muss jedoch auch eine christliche Sozialethik eine bleibende Relevanz utilitaristischer Entscheidungskriterien für einen Teilbereich gesellschaftlicher Entscheidungen einräumen. Es gibt im menschlichen Leben nämlich nicht selten das Problem von „tragischen Entscheidungen“22, die einem gewissermaßen nur die Wahl zwischen Not und Elend lassen. Und diese Wahl wiederum kann auf rationale Weise wohl nur utilitaristisch getroffen werden. Zwei Beispiele hierzu: (1) Organtransplantation. Es herrscht Organknappheit. In dieser Entscheidungssituation sind wir gezwungen, uns für bestimmte Verteilungsregeln zu entscheiden, die sich quer legen zu dem ethischen Grundprinzip von der Gleichwertigkeit aller Menschen, von der gleichen Würde aller Menschen, die „über allen Preis erhaben ist“23. Auch wenn die ethische Begründungsebene der christlichen Sozialethik es gerade als un21 22 23
Suchanek (2001), S. 11. Klassisch zu den „tragic choices“: Calabresi / Bobbit (1978). Kant (1785 / 1974), S. 68.
Gesellschaftsethik im Utilitarismus und in den modernen Vertragstheorien
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möglich erweist, unterschiedliche Werte menschlicher Leben anzusetzen, so sind wir im Transplantationsbereich doch gezwungen, so zu tun, als ob dies möglich sei. Wenn man nun gezwungenermaßen akzeptiert, dass auf der Anwendungsebene eine Auswahl getroffen werden muss, steht man vor der Frage nach gerechten Auswahlkriterien24. In keinem Fall kommt man hier um utilitaristische Abwägungen herum. (2) Terrorismusabwehr. Auch die Frage, ob man nach den Ereignissen vom 11. September 2001 ein von Terroristen gekapertes Flugzeug abschießen dürfe, um eine sehr viel größere Anzahl von (vermutlich) bedrohten Menschenleben zu retten, drängt zumindest die Frage eines utilitaristischen Kalküls ins Zentrum der Diskussionen. Auch wenn man sich im Namen der Würde unschuldiger Menschen gegen einen Abschuss entscheidet, bleibt die Tragik des Entschlusses, der für Tausende anderer Menschenleben den Tod bedeutet. Doch auch dann, wenn es nicht um Leben oder Tod geht, spielen utilitaristische Kalküle eine unumgehbare Rolle im modernen gesellschaftlichen Leben, z. B. bei betriebsbedingten Kündigungen: Es kann unternehmensethisch gerechtfertigt sein, einige Mitarbeiter zu entlassen, um das gesamte Unternehmen über schwierige Zeiten hinweg zu retten, d. h. das Unglück der geringeren Anzahl in Kauf zu nehmen, um das Glück der größeren Zahl zu befördern. Allerdings wirft diese unternehmensethische Möglichkeit sogleich die wirtschaftsethische Frage auf, wie man den nunmehr Arbeitslosen gesellschaftlich gerecht werden könnte (Stichworte: Soziale Sicherung; Arbeitsvermittlung usw.). III. Moderne Vertragstheorien: Gesellschaft als Kooperationsprojekt Vertragstheoretische Konzeptionen, die die politische Philosophie klassischer Philosophen der frühen Moderne – so etwa Thomas Hobbes, John Locke oder auch Immanuel Kant – geprägt hatten25, erhielten vor allem durch die Arbeiten des Ökonomen James Buchanan und des Philosophen John Rawls neuen Auftrieb. Im Unterschied zur Katholischen Soziallehre bzw. zur christlichen Sozialethik, die als gesellschaftsethisch angewandte Theologien notwendigerweise mit metaphysischen Hypothesen (zentralen Glaubensaussagen) verbunden sind, verstehen sich sowohl die ökonomische als auch die gerechtigkeitsphilosophische Vertragstheorie als nicht-metaphysische Konzeptionen.
1. Ökonomische Vertragstheorien
Anders als die zwar unterschiedlichen, aber dennoch ethisch argumentierenden Ansätze von Harsanyi oder Rawls setzt die (institutionen)ökonomische Vertragstheorie allerdings keinerlei ethische Prämissen voraus. 24 Sollen lediglich medizinische (Verträglichkeits)Kriterien ins Kalkül gezogen werden oder wären nicht vielleicht soziale Kriterien – die Mutter von drei kleinen Kindern wird dem 85-jährigen Alleinstehenden vorgezogen – gerechter? Oder wäre ein Clubmodell der Organzuteilung, nach dem diejenigen Leute vorrangig ein Organ erhalten würden, die zuvor in unbedürftigem Zustand die eigene Spendenbereitschaft erklärt haben, gerecht(er) (so etwa Kliemt 1993)? 25 Zu diesen klassischen Vertragstheorien der politischen Philosophie: Kersting (1994 / 2005).
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Michael Schramm
a) James Buchanan James McGill Buchanan konzipiert Gesellschaft in Aufarbeitung der Problemstellung bei Thomas Hobbes mittels einer (rein) ökonomisch argumentierenden Vertragstheorie: Gesellschaftliche Stabilität und (Pareto)Superiorität sollen durch Kooperationsverträge, die für alle Vertragspartner potential gains abwerfen, gesichert werden26. Es geht also um den „Versuch [ . . . ], die logische Struktur gesellschaftlicher Interaktion aus der vom Eigeninteresse gesteuerten Nutzenmaximierung der Individuen ohne Rückgriff auf externe [= moralische] Normen abzuleiten“ 27. Da dem Ökonomen Buchanan aufgrund dieser ökonomisch orientierten Konzeptionalisierung die ethische Prämisse eines Nichtwissens bei Harsanyi (oder des dichten „veil of ignorance“ bei Rawls) als nicht realistisch erscheint, arbeitet Buchanan nur mit dem deutlich „dünneren“ „Schleier der Ungewissheit“ (veil of uncertainty)28. Hier ist kein gedankenexperimentelles Nichtwissen vorausgesetzt, doch können auch die realen Leute hier und jetzt nicht wirklich sicher sein, in welcher Lage sie sich zukünftig befinden werden (niemand weiß, ob er nicht schon morgen durch einen Unfall behindert sein wird usw.). Dieser reale veil of uncertainty aber mache, so Buchanan, eine faire Einigung auf unparteiliche Regeln zumindest wahrscheinlicher: „Regeln für menschliches Zusammenleben werden uns nicht einfach von einer höheren Macht mitgegeben“29. Buchanan nimmt an, dass Freiheitsbeschränkungen durch Verträge von Vorteil für alle sein können. Buchanan geht dabei von einem archaischen „Naturzustand“ aus, in dem das Leben „einsam, armselig, hässlich, grausam und kurz“ (Thomas Hobbes) wäre. In dieser misslichen Situation könn(t)en alle „Parteien [ . . . ] durch ein Abkommen [constitutional contract] gewinnen“30, das die Grundlage für weitere Verträge (postconstitutional contracts) darstellt. Dabei müssen die Vorteile, um Basis eines allgemeinen Konsenses sein zu können, zwar Vorteile für alle sein, ethische Mindeststandards werden allerdings nicht (moralisch) eingefordert. Zwei Aspekte sind hierbei hervorzuheben: 1. Buchanan ersetzt das wohlfahrtsökonomische Effizienzkriterium 31 durch den Konsens: „[T]he political economist is concerned with ,what people want‘“32. Die Werte und Interessen der Leute bilden für Buchanan die „basic inputs“33 für die ökonomische Erarbeitung zweckdienlicher Mittel zu deren Umsetzung. 2. Buchanan geht es um ökonomische Paretosuperiorität, und falls ein Sklavenvertrag alle Parteien besser stellt als der archaische Naturzustand, wird dieser von Buchanans ökonomischer Ver26 Buchanan (1984), S. 23, zitiert hierzu sogar das Alte Testament: „Gehen zwei den gleichen Weg, ohne dass sie sich verabredet haben?“ (Amos 3,3). 27 Buchanan (1984), S. 114 f. 28 Buchanan (1997), S. 194 ff.; Brennan / Buchanan (1985), S. 30. 29 Buchanan (1984), S. XI. 30 Buchanan (1984), S. 35. 31 Die sich am Paretooptimum orientierende Wohlfahrtsökonomik sieht Markteffizienz als rein technisches Problem einer „omniscient calculating machine“ (Samuelson 1954, S. 388 f.). Hierzu erklärt Buchanan (1988 / 1991), S. 119: „Efficiency, as a norm for policy, carries little or no emotive trust and economists should never have been surprised that their unqualified advocacy of efficiency-enhancing changes in structure falls on deaf ears.“ 32 Buchanan (1959), S. 137. 33 Buchanan (1991), S. 59.
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tragstheorie – im Gegensatz zu ethischen Gesellschaftskonzeptionen – (zunächst einmal) akzeptiert34. Es ist m. E. allerdings wenig fruchtbar, dem Ökonomen Buchanan vorzuwerfen, sein ökonomischer Schleier, der faire Regelergebnisse nur wahrscheinlicher macht, nicht aber garantiert, versage daher moralisch35. Ebenso unangemessen ist es m. E., den als Ethiker argumentierenden John Harsanyi oder John Rawls die ethische Prämisse eines Schleiers des Nichtwissens anzukreiden. Ob man – wie Buchanan – nur mit der realen Kontingenz unseres Wissens über die ungewisse Zukunft und der realen Kontingenz der Moral operiert, oder aber – wie Harsanyi oder Rawls – diese reale Wissenskontingenz noch weiter kontingentisiert, um einen moral point of view modellieren zu können, hängt schlicht und einfach vom unterschiedlichen Blickwinkel ausdifferenzierter Wissenschaftsdisziplinen ab.
b) „Positivismus“ in den ökonomischen Vertragstheorien? Buchanan arbeitet erklärtermaßen ohne Rückgriff auf moralische Normprämissen allein mit dem ökonomischen Argument der vom Eigeninteresse getriebenen Nutzensteigerung. Insoweit es sich dabei um ein methodisch ökonomisches Konzept handelt, ist dagegen auch überhaupt nichts einzuwenden. Im deutschsprachigen Raum gibt es aber einen ambitionierten Ansatz aus dem Bereich der ökonomischen Vertragstheorie, der mehr will: Karl Homanns „ökonomische Theorie der Moral“ bzw. „Ethik mit ökonomischer Methode“36. Auch im Konzept der „ökonomischen Theorie der Moral“ und der von dort aus argumentierenden Ordnungsethik (oder „ökonomischen Ethik“) ist allein die positive Ökonomik das methodisch zugelassene Instrument einer normativen Ökonomik: „Als Prinzip der Erklärung dient immer das Vorteilsstreben, das Streben von Akteuren nach individuellen Vorteilen. [ . . . ] Ökonomik ist systematisch die Fortsetzung der Ethik mit anderen, mit besseren Mitteln“37, nämlich mit den Mitteln einer positiven Ökonomik. Nun möchte die „ökonomische Theorie der Moral“ aber nicht nur die Institutionen einer modernen Gesellschaft, sondern die Moral als solche ökonomisch rekonstruieren: „Alle Moral beruht auf individuellem Vorteilsstreben. Die ethisch entscheidende Differenz ist nicht: Vorteilsstreben oder nicht, sondern: Vorteilsstreben für mich, bei dem auch die anderen Vorteile haben oder Vorteilsstreben für mich auf Kosten der anderen. [ . . . ] Auch Moral beruht auf individuellem Vorteilsstreben“38. Homann benutzt hier einen offenen Begriff „ökonomischer“ Vorteile, der nicht nur monetäre (Zu)Gewinne – nennen wir den engen monetären Begriff des Ökonomischen: ökonomisch1 –, sondern auch andere, nicht-monetäre Formen eines (Opportunitäts)Nutzenzuwachses (Macht, gute Noten, musikalische Klänge usw.) umfasst (Opportunitätskosten / -nutzen = ökonomisch2). Der entscheidende Buchanan (1984), S. 86. So aber Anzenbacher (1998), S. 105. 36 Homann / Pies (1994); Homann (1999), S. 332 ff. Daneben auch Suchanek (2001). 37 Homann (2001), S. 8. 38 Das Zitat entstammt einer Audio-Aufzeichnung der Tagung „Wirtschafts- und Unternehmensethik. Rückblick – Ausblick – Perspektiven“ in Erfurt (2002). Download: http: // www.uni-oldenburg.de / ute / 1377.shtml, Datei 2. 34 35
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Michael Schramm
Punkt der „ökonomischen Theorie der Moral“ besteht nun aber in dem – über das Konzept von Gary S. Becker39 hinausgehenden – Schritt, die ontologische (philosophische) These zu vertreten, dass es genuine Moral gar nicht gebe, dass moralische Interessen in Wirklichkeit nichts anderes seien als ökonomische Eigennutz-Interessen – von mir als ökonomisch2 indiziert –, nichts anderes als zweckdienliche Instrumente einer langfristig fruchtbaren Kooperation der Gesellschaftsmitglieder. Eine Tendenz zu einem ökonomischen Positivismus ergibt sich nicht aus der Methode einer Situationsanalyse mittels des Homo Oeconomicus (hier: ökonomisch3), wohl aber aus der Ontologie der „ökonomischen Theorie der Moral“, die moralisch gleich ökonomisch2 setzt.
c) Christliche Sozialethik und ökonomische Vertragstheorien: Gemeinsamkeiten und getrennte Wege Für die christliche Sozialethik entstehen überhaupt keine Probleme, solange es um ökonomische Institutionenanalysen (James Buchanan) oder um Situationsanalysen geht, die mit Hilfe des Homo Oeconomicus als Analyseinstrument vorgenommen werden (Gary S. Becker), da mit Paretosuperioritätsanalysen oder mit dem Homo Oeconomicus methodisch weder eine Anthropologie noch eine Moralontologie verbunden sind40. Die Christliche Sozialethik hat überhaupt kein Problem mit ökonomischen Situationsanalysen, vielmehr erachtet sie dies als fruchtbare und unverzichtbare Analyseinstrumente. Diesbezügliche Bedenken beruhen m. E. auf konzeptionellen Missverständnissen41. Die „ökonomische Theorie der Moral“ allerdings will – im Unterschied zu Buchanan oder Becker – mehr: Sie möchte die nur phänomenal als genuine Moral erscheinende Moral philosophisch als eine in Wahrheit, also vom Wesen her (ontologisch), ökonomische2 Größe entlarven. Die Wege trennen sich also an dem Punkt, da die ökonomische Vertragstheorie auch noch das „ontologische“ Projekt einer „ökonomischen Theorie der Moral“ verficht. Die Differenz betrifft nicht die Ökonomik, sondern die Philosophie. 2. Ethische Vertragstheorien
Konzeptionen moderner Vertragstheorien finden sich jedoch nicht nur in der Ökonomik, sondern auch in der (philosophischen) Ethik. Den zweifelsohne wichtigsten Ansatz stellt hier die elaborierte Gerechtigkeitstheorie von John Rawls dar. 39 „[T]he economic approach I refer to does not assume that individuals are motivated solely by selfishness or material gain. It is a method of analysis, not an assumption about particular motivations. Along with others, I have tried to pry economists away from narrow assumptions about selfinterest. Behaviour is driven by a much richer set of values and preferences. The analysis assumes that individuals maximize welfare as they conceive it, whether they be selfish, altruistic, loyal, spiteful, or masochistic. [ . . . ] [T]hey try as best as they can“, Becker (1993), S. 385 f. Der economic approach rechnet also mit einer Pluralität inhaltlich unterschiedlicher Interessen und bezieht seine homo-oeconomicus-Annahme nur auf die formale (= kostenorientierte) Verfolgung dieser Interessen. Und nur diese Zweckrationalität signalisiert der Begriff des Homo Oeconomicus. Diese Dimension des Ökonomischen nenne ich ökonomisch3. D. h., dass auch moralisch interessierte Akteure ihre Moralinteressen zweckrational (= ökonomisch3) zur Geltung zu bringen trachten. 40 „Die Ökonomik ist keine Anthropologie“, Pies (2005), S. 2. 41 So etwa bei Losinger (1993); kritisch hierzu Schramm (1996).
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a) Das vertragstheoretische Konzept von John Rawls Rawls setzt vertragstheoretisch an, da es ihm um die „Hauptstrukturen des Gerechtigkeitsbegriffs im Sinn der Lehre vom Gesellschaftsvertrag“42 geht. Er nutzt das Gedankenexperiment eines Gesellschaftsvertrags, um die Grundstruktur der „wichtigsten [ . . . ] Institutionen“43 der Gesellschaft, welche er als „Unternehmen zur Förderung des gegenseitigen Vorteils“44 konzipierte, zu konstruieren: In einem fiktiven ,Urzustand‘ (original position) versammeln sich verschiedene ,Parteien‘, um über die institutionellen Regeln des späteren Zusammenlebens zu verhandeln. Dabei verfügen die Parteien zwar über sämtliche allgemeine Informationen, die Merkmale ihrer späteren Persönlichkeit sollen jedoch hinter einem ,Schleier des Nichtwissens‘ (veil of ignorance) verborgen bleiben45, weswegen nur unparteiliche Regeln beschlossen werden. Im Gegensatz zum Konzept von Buchanan oder Homann macht Rawls also zwei folgenreiche ethische Prämissen: Zum einen möchte er die Unparteilichkeit der Entscheidung durch den „Schleier des Nichtwissens“ im „Urzustand“ gewährleisten, zum anderen aber verbindet er Harsanyis Gedankenexperiment mit einem „Vetorecht“46 der einzelnen Parteien oder Positionen in diesem Urzustand. Damit schließt Rawls die utilitaristische Möglichkeit einer Verrechnung des Nutzens der einen gegen den Nutzen (Willen) der anderen durch die Einführung eines Vetorechts aus47.
b) Christliche Sozialethik und gerechtigkeitsethische Vertragstheorie: Grundsätzliche Kompatibilität und Detaildifferenzen Grundsätzlich, d. h. auf der ethischen Begründungsebene, kommt Rawls’ Gerechtigkeitstheorie der christlichen Sozialethik ziemlich nahe: „Die Christliche Sozialethik kann sich dieser Konzeption [von Rawls] bedienen, weil sie mit dem Gesichtspunkt der Unparteilichkeit [= Gerechtigkeit durch den „Schleier des Nichtwissens“ im „Urzustand“] und einer besonderen Rücksichtnahme auf Benachteiligte [= Solidarität mittels des „Vetorechts“] mit christlichen Vorstellungen konform geht“48. Abgesehen von der Tatsache, dass Rawls auf der Implementationsebene wenig zu bieten hat49, gibt es jedoch auch auf der ethischen Begründungsebene trotz der weitgehenRawls (1971 / 1979), S. 12. Ebd., S. 23. 44 Ebd., S. 20; vgl. ebd., S. 105, S. 420 f. 45 Ebd., S. 160; vgl. ebd., S. 29 und S. 159 – 166; Rawls (1992), S. 90. 46 Rawls (1993 / 1998), S. 395; vgl. Rawls (1971 / 1979), S. 175. 47 Zu den von Rawls vorgeschlagenen Gerechtigkeitsgrundsätze vgl. näher Schramm (2002). 48 Wiemeyer (1997), S. 162. 49 Rawls hat es anderen überlassen, sich mit den Implementationsschwierigkeiten herumzuschlagen. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass er sich als Ethiker weder für eine ausgearbeitete Strukturtheorie der modernen Gesellschaft noch für eine einzelwissenschaftlich kompetente „sorgfältige Betrachtung aller Umstände“, Rawls (1993 / 1998), S. 276, FN 9, zuständig fühlte. Bezeichnenderweise bemerkt er, nachdem er einige Implementationsschwierigkeiten angesprochen hat: „Diese knappen Bemerkungen sind wohl kaum klar; sie sollen auch nur auf die Komplikatio42 43
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den Kompatibilität mit den sozialethischen Rahmenvorstellungen der christlichen Gesellschaftslehre einige Differenzen im Detail. Exemplarisch nenne ich das systematische Problem, wer zum „Urzustand“ zugelassen ist (und wer nicht): Nach Rawls vertreten die Parteien im Urzustand nur solche Personen, deren Gaben durch das Schicksal „im Bereich des Normalen“50 liegen, während „[d]ie Probleme besonderer medizinischer Betreuung und der Behandlung geistig Behinderter [ . . . ] außer Betracht gelassen“ werden51. Diese Tatsache, dass im Urzustand nach Rawls nur „volle und aktive Gesellschaftsmitglieder“ 52 berücksichtigt werden sollen, hat ihm nicht zu Unrecht den Vorwurf Kerstings eingebracht, wir hätten bei Rawls eine „Betriebsversammlung“53 nur der vollwertigen Mitglieder des Kooperationsbetriebs Marktgesellschaft vor uns.
IV. Christliche Sozialethik, Utilitarismus und Vertragstheorie Als gesellschaftsethisch angewandte Theologie arbeitet christliche Sozialethik zunächst einmal auf der Ebene ethischer Begründungsdiskurse. Hier steht sie in einem kontroversen Feld konkurrierender sozialwissenschaftlicher und sozialphilosophischer Konzeptionen (Utilitarismus; ökonomische Theorie der Moral; Gerechtigkeitstheorie). In diesen Diskussionen muss es ihr darum gehen, die rationale Zweckmäßigkeit (Menschendienlichkeit, Angemessenheit) des christlichen Menschenbilds und der sozialkatholischen Prinzipien nicht nur auszuweisen, sondern argumentativ zu begründen. Auch wenn diese Aufgabe, die traditionellerweise mittels des „Naturrechts“ vorgenommen wurde, heute aufgrund der grundsätzlichen Widerlegbarkeit und Kontingenz ethischen Wissens nur im Sinn eines flexiblen oder „mobilen Ersatznaturrechts“ (Luhmann) auszumünzen sein dürfte, bleibt diese argumentative Ausbuchstabierung des moral point of view dennoch unverzichtbar, wenn die christliche Sozialethik nicht ihre theologischethische Identität aufgeben will. Ebenfalls unverzichtbar, aber weit weniger durch genuine Kompetenzen abgedeckt, sind die Aufgaben der christlichen Sozialethik auf der Ebene der Implementierungsdiskurse. Hier dürfte es zweckmäßig sein, das methodische Instrumentarium der ausdifferenzierten Sozialwissenschaften (Ökonomik: Homo Oeconomicus als Situationsanalyse; Soziologie: Systemanalysen usw.) für die eigenen Zwecke zu nutzen, denn „hinsichtlich einer effizienten Umsetzung moralischer Zielvorstellungen ist die Logik der Ökonomik dem überkommenen Repertoire einer sich um Praxisrelevanz mühenden Sozialethik deutlich überlegen“54. Gerade in pluralistischen Gesellschaften wird die Frage, was uns wirklich wichtig ist 55, immer weniger selbstverständlich und somit tendenziell wichtiger. Auf diesem nen hinweisen, mit denen wir uns in diesen Vorlesungen nicht beschäftigen“, Rawls (1993 / 1998), S. 71, FN 5. Am Ende von Political Liberalism bemerkt Rawls lapidar: „Wir dürfen von einer philosophischen Konzeption nicht zuviel erwarten“, Rawls (1993 / 1998), S. 495. 50 Rawls (1993 / 1998), S. 384; vgl. ebd., S. 93. 51 Ebd., S. 384, FN 10. 52 Ebd., S. 384, FN 10. 53 Kersting (2000), S. 67. 54 Höhn (2002), S. 262. 55 Zu dieser Frage der leitenden Werte vgl. Schramm (2006).
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Markt der Identitätssemantiken besitzt die christliche Sozialethik kein Monopol mehr, sie ist aber eine bedeutsame Anbieterin.
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Exkurse
Grundlinien der evangelischen Sozialethik1 Von Wilfried Härle
Dass in einem Handbuch der Katholischen Soziallehre die Grundlinien der evangelischen Sozialethik den Status eines Exkurses haben, ist ganz angemessen. Dieser Status trägt einerseits der Tatsache bestehender konfessioneller Differenzen Rechnung, die bislang einer vollen Kirchengemeinschaft oder organisatorischen Kircheneinheit im Wege stehen, und er trägt andererseits der Tatsache guter ökumenischer Beziehungen Rechnung, aufgrund deren eine Ausgrenzung oder Nichtbeachtung der jeweils anderen konfessionellen Position unangemessen wäre. Dass eine solche exkursartige Präsentation der evangelischen Sozialethik ihren Ort in dem Kapitel findet, das die Grundlinien der katholischen Soziallehre thematisiert, ist ebenfalls richtig, bietet es doch die Chance, das Spezifische der evangelischen Sozialethik zu den Grundlinien der katholischen Soziallehre in Beziehung zu setzen. Die in diesem Rahmen nur mögliche knappe Skizzierung von Grundlinien ist so aufgebaut, dass zunächst (1) nach den Quellen im Sinne der normativen Grundlagen gefragt wird, sodann (2) unter dem Leitbegriff Konzeptionen nach den unterschiedlichen Orientierungsmodellen, die in der evangelischen Sozialethik in Geschichte und Gegenwart eine dominierende Rolle spielen, schließlich (3) unter dem Stichwort Inhalte die wichtigsten Aussagen, in denen die evangelische Sozialethik ihr spezifisches theologisches Profil zu erkennen gibt. I. Quellen 1. Die als Wahrheit gewiss gewordene Botschaft des biblischen Kanons
Der erste grundlegende Text zur reformatorischen Sozialethik, Luthers Schrift: ,Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei‘ aus dem Jahre 15232, befasst sich mit der für die Sozialethik grundlegenden Frage nach der Legitimität von Gewaltgebrauch z. B. in Form des staatlichen Gewaltmonopols. Der biblische Kanon enthält dazu Aussagen, die Gewalt untersagen (z. B. Mt 5,38 – 40 und 44; Röm 12,19; 1 Unter ,Sozialethik‘ wird in diesem Artikel nicht ein Teilbereich, sondern ein Aspekt der Ethik verstanden, der bei jeder ethischen Thematik präsent und darum mitzudenken ist: die soziale Verfasstheit der menschlichen Natur und Person, die in regelmäßigen Formen der Interaktion, d. h. in Institutionen ihren Ausdruck findet. Ebenso gilt für das begriffliche Pendant der Sozialethik, also für die Individualethik, dass sie einen stets vorhandenen Aspekt jeder ethischen Thematik ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, nämlich ihr Bezogensein auf das menschliche Individuum als personales, verantwortliches Handlungssubjekt. 2 WA 11, 245 – 281. In modernisiertem Deutsch ist dieser Text leicht zugänglich in der Ausgabe: Martin Luther – Ausgewählte Schriften, hrsg. von K. Bornkamm und G. Ebeling, Bd. IV, Frankfurt a. M. 1982, S. 36 – 84.
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Wilfried Härle
1 Petr 3,9) und solche, in denen Gewaltgebrauch vorausgesetzt und akzeptiert wird (Mt 26,52; Röm 13,1 f.; 1 Petr 2,13 f.3). Die spätmittelalterliche Aufteilung dieser Aussagen in sogenannte evangelische Räte einerseits, die nur für die Vollkommenen gelten, und in allgemeinverbindliche Gebote andererseits, wird dem kanonischen Schriftzeugnis nicht gerecht. Die Sozialethik steht vor der Aufgabe, das Gesamtzeugnis des Kanons so zu erfassen, dass die unterschiedlichen, widersprüchlich erscheinenden Aussagen im Gesamtzusammenhang verstanden werden. Der ist nach reformatorischem Verständnis dann erfasst, wenn der biblische Kanon auf sein Christuszeugnis hin befragt und verstanden wird (,was Christum treibet‘4). Eine solche biblisch fundierte Theologie und Sozialethik unterscheidet sich sowohl von einer biblizistischen Position, die sich an einzelnen Aussagen ohne Berücksichtigung des kanonischen Gesamtzusammenhangs orientiert, als auch von einer bibelvergessenen Position, die nicht von der Gewissheit bestimmt ist, dass aus der Wahrheit der biblischen Botschaft Orientierung für die Gestaltung auch der gegenwärtigen Welt zu gewinnen sei. Wesentlich sind deshalb aus evangelischer Sicht drei Näherbestimmungen des Schriftprinzips: – erstens die Begründung der Schriftautorität aus der von der Schrift bezeugten Sache, also aus der Selbstoffenbarung Gottes, die in Jesus Christus ihre letztgültige Gestalt gefunden hat; – zweitens die Orientierung an der im biblischen Kanon überlieferten Botschaft aufgrund der Gewissheit hinsichtlich ihres Wahrseins; – drittens die Einsicht, dass keine Instanz außerhalb des biblischen Kanons eine abschließende Auslegungskompetenz besitzt, sondern dass die Heilige Schrift sich selbst auslegt (,sui ipsius interpres‘5), und d. h.: aus sich selbst auszulegen ist.
Deshalb und in diesem Sinne steht das reformatorische Schriftprinzip auch in sozialethischer Hinsicht dafür, dass keine Forderungen aufgestellt und erhoben werden, die der im biblischen Kanon bezeugten Selbstoffenbarung Gottes widersprechen. Nicht um die Vielzahl möglicher Erkenntnisquellen zu beschränken, sondern um dieser kritischen Funktion willen orientierten sich die evangelische Kirche, Theologie und Sozialethik am Schriftprinzip. 2. Offenbarung und Vernunft
Die evangelische Theologie geht von zwei Einsichten im Blick auf die menschliche Vernunft aus, die sich spannungsvoll, aber nicht widersprüchlich zueinander verhalten. Auf der einen Seite gilt, „dass die Vernunft die Hauptsache von allem ist und vor allen übrigen Dingen dieses Lebens das Beste und etwas Göttliches ist.“6 Anderseits ist die Vernunft, solange sie sich nicht von Gott her versteht, sowohl in ihrer Reichweite als 3 Die Tatsache, dass die Hauptbelege für beide Auffassungen in denselben kanonischen Schriften zu finden sind, verbietet jedenfalls eine ,Lösung‘ durch Aufteilung auf unterschiedliche biblische Autoren oder Textcorpora und unterstreicht die Dringlichkeit der Frage nach einem inhaltlichen Lösungsmodell. 4 WA DB 7, 384,26 ff. (Vorrede zum Neuen Testament). 5 M. Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe (LDStA) Leipzig, Bd. 1, 2006, S. 80, 3 (Assertio omnium articulorum). 6 A. a. O., 665,10 – 12 (Disputatio de homine).
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auch im Wissen um ihren eigenen Ursprung äußerst begrenzt. Zwar gelten die positiven Aussagen über die menschliche Vernunft auch in der Welt, die von der Sünde gezeichnet ist, aber nach dem Einbruch der Sünde in die Schöpfung „ist jene allerschönste und ausgezeichnetste Hauptsache, als die die Vernunft nach dem Sündenfall geblieben ist, dennoch . . . unter der Macht des Teufels“.7 Der Vernunft kommt damit – auch nach dem Fall – zwar eine herausragende positive Bedeutung für die Lebens- und Weltgestaltung zu, aber gleichwohl ist sie stets gefährdet, ihre eigene Bedeutung und Begrenztheit zu verkennen und damit in den Dienst des Bösen zu geraten. Deshalb bedarf die menschliche Vernunft der göttlichen Offenbarung und Erleuchtung – nicht, weil sie dadurch zusätzliche Informationen erhielte, die ihr sonst nicht zugänglich wären, sondern weil sie erst dadurch ihre schöpfungsgemäße Bestimmung wahrnehmen kann. Aus der Perspektive der Offenbarung Gottes, durch welche die Wahrheit für den Menschen und die Welt erschlossen wird, kann erkannt und anerkannt werden, was dem Menschen mit seiner Vernunft gegeben ist und was er aus ihrem Gebrauch für die Gestaltung des Lebens und der Welt gewinnen kann. Das gewinnt für die Sozialethik besondere Bedeutung, da es in ihr um die Erfüllung des von Gott gegebenen Auftrags zur fürsorglichen Herrschaft des Menschen über die Erde (,dominium terrae‘, Gen 1,26 – 28 und 9,2; Ps 8,7 – 9) geht. In diesem Zusammenhang von Offenbarung und Vernunft ist auch die Theorie des Naturrechts zu verorten, die in der stoischen Philosophie erstmals systematisch ausgearbeitet wurde. Sie besagt, dass es eine die menschliche Vernunft ebenso wie das ganze Universum durchdringende geistige Ordnung gibt, die in der Handlungsorientierung des Menschen beachtet werden muss, wenn diese nicht scheitern soll. Dieser Gedanke wird von Augustinus in der Weise in die christliche Theologie übernommen, dass das den Kosmos durchwaltende ewige Gesetz als Vernunft und Wille Gottes, des Schöpfers, verstanden wird. Eine Brücke zu biblischen Aussagen ergibt sich vor allem im Blick auf Röm 2,14 f., wo Paulus von dem den Heiden von Natur aus ins Herz geschriebenen Gesetz spricht. Wird in der altkirchlichen und mittelalterlichen Theologie das Naturrecht primär als eine ethische Quelle und Orientierungsinstanz verstanden, so verschiebt sich die Betrachtungsweise in der überwiegend evangelisch geprägten Rechtsphilosophie der frühen Aufklärungszeit (H. Grotius, S. Pufendorf, Ch. Thomasius) dahingehend, dass das Interesse am Naturrecht sich auf eine rational begründete Rechtsordnung ausrichtet, die als Grundlage für eine allgemeine, überzeitliche Gesetzgebung dienen kann und soll. Die Vorstellung von unveränderlichen Naturrechtssätzen bzw. -appellen wird jedoch insbesondere im 19. Jahrhundert durch den Verweis auf geschichtliche Variabilität und gesellschaftliche Vielfalt immer mehr in Frage gestellt. Gleichwohl bleibt auch für die evangelische Sozialethik die Frage nach einer ethischen Fundierung des Rechts, die den Gedanken willkürlicher Rechtsetzung eliminiert oder zumindest begrenzt, ein wichtiges Anliegen. In diesem Zusammenhang spielt die Frage nach der ,Bestimmung des Menschen‘ (Johann Joachim Spalding, 1748) eine wesentliche Rolle, die daran erinnert, dass es eine aller ethischen Gestaltung vorgegebene conditio humana gibt, deren Missachtung in ethischer und rechtlicher Hinsicht verheerende Folgen hat. Im Blick darauf könnte es sein, dass eine konfessionsübergreifende Zuwendung zu dem Sachanliegen des Naturrechtsgedankens noch bevorsteht, dessen Pointe in einer nichtdezisionistischen ethischen Fundierung der Menschen- und Grundrechte besteht. 7
A. a. O., 665,23 f. und 667,21 – 23.
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Wilfried Härle 3. Kirchliches Lehramt
Auch die evangelische Kirche hat ein geordnetes Lehramt. Aber nach evangelischem Verständnis wird das kirchliche Lehramt nicht in erster Linie durch die Inhaber bischöflicher Ämter, durch Synoden, theologische Lehrer oder Fakultäten ausgeübt, sondern durch das Wort Gottes selbst. Denn: „Gottes Wort soll Artikel des Glaubens stellen und sonst niemand.“8 Daraus folgt, dass alle kirchlichen Dogmen, Bekenntnisse und Lehren auf ihre Übereinstimmung mit dem im biblischen Kanon ursprünglich bezeugten Wort Gottes hin zu prüfen und ggf. von daher zu korrigieren sind.9 Die Dogmen und Bekenntnisse der Kirche werden dadurch nicht gleichgültig oder beliebig, sondern gelten als „Zeugnis und Erklärung des Glaubens, wie . . . die Heilige Schrift in streitigen Artikeln in der Kirche Gottes von den damals Lebenden verstanden und ausgelegt, und ihr entgegenstehende Lehren verworfen und verdammt wurden“.10 Zu den sozialethisch relevanten Bekenntnistexten der Lutherischen Kirchen gehören vor allem die Dekalogauslegungen Luthers in seinem Kleinen und Großen Katechismus sowie der (wichtige, aber auch umstrittene) Art. XVI der Confessio Augustana.11 Für die Reformierten Kirchen sind die Auslegungen des Dekalogs im Heidelberger Katechismus (Fr. 86 – 115) maßgeblich. Für diejenigen Kirchen, die die Barmer Theologische Erklärung (oder zumindest deren Lehrverwerfungen12) zu ihren Bekenntnisgrundlagen zählen, hat insbesondere der Art. V große sozialethische Bedeutung.13 Den Texten der Barmer Synode ist auch in vorbildlicher Weise zu entnehmen, wie die synodale und episkopale Mitwirkung am kirchlichen Lehramt wahrzunehmen und zu verstehen ist. So senden die Synodalen die Barmer Theologische Erklärung an die Evangelischen Gemeinden und Christen in Deutschland nicht mit der Aufforderung, diesem Text Glaubensgehorsam zu erweisen, sondern mit folgenden Sätzen: „Prüfet die Geister, ob sie von Gott sind! Prüfet auch die Worte der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche, ob sie mit der Heiligen Schrift und den Bekenntnisschriften der Väter übereinstimmen. Findet ihr, dass wir wider die Schrift reden, dann hört nicht auf uns! Findet ihr aber, dass wir in der Schrift stehen, dann lasset keine Furcht und Verführung euch abhalten, mit uns den Weg des Glaubens und des Gehorsams gegen das Wort Gottes zu beschreiten . . .“14. In den Gesamtzusammenhang lehramtlicher Aussagen gehören schließlich auch die Denkschriften, Orientierungshilfen, Synodalerklärungen und Gemeinsamen Texte, die von den dafür zuständigen kirchlichen Gremien erarbeitet und veröffentlicht werden, um auf diese Weise sowohl zur innerkirchlichen als auch zur gesamtgesellschaftlichen sozialethischen Orientierung beizutragen. Dabei betonen die evangelische Kirche und Sozialethik, dass jede solche lehramtliche Äußerung nur insoweit verbindlich sein kann, als sie nicht den Gewissen der Menschen BSLK 421,23 – 25 (Schmalkaldische Artikel). BSLK 767,8 – 769, 40 (Konkordienformel). 10 BSLK 769,30 – 35 (Konkordienformel) (sprachlich leicht modernisierter Text). 11 BSLK 70,8 – 71,17 (Augsburgische Konfession); 507,35 – 510,24 (Kleiner Katechismus) sowie 560,4 – 645,52 (Großer Katechismus). 12 So die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD). 13 Siehe G. Niemöller (Hrsg.), Die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Barmen, Bd. II, Text – Dokumente – Berichte, Göttingen 1959, S. 196 – 202, bes. S. 200 f. 14 A. a. O., S. 206. 8 9
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widerspricht, ihre Befolgung also dazu führen würde, dass diese gegen ihr Gewissen handeln müssten. Die Begründung hierfür hat Luther in seiner berühmten Rede auf dem Reichstag zu Worms 1521 gegeben, als er sagte: „Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen offensichtlichen Vernunftgrund widerlegt werde (denn weder dem Papst noch den Konzilien alleine glaube ich, da feststeht, dass sie des öfteren geirrt und sich selbst widersprochen haben), bin ich überwunden durch die von mir angeführten Schriftworte. Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, da gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch heilsam ist“.15
4. Situationsanalyse
In jedes konkrete ethische Urteil gehen Aussagen ein, die den Charakter einer Analyse des Handlungsfeldes haben, auf das sich das ethische Urteil bezieht. Solche Analysen sind zwar nicht weltanschaulich-religiös indifferent oder voraussetzungslos, aber sie lassen sich nicht aus weltanschaulich-religiösen Überzeugungen und Gewissheiten allein ableiten oder gewinnen. Das heißt, zu ihrer Erarbeitung ist z. B. medizinischer, ökonomischer, juristischer Sachverstand erforderlich, über den Sozialethiker allenfalls rudimentär und exemplarisch, aber nicht umfassend verfügen können. Damit ist die Sozialethik auf Informationen angewiesen, die den allgemeinen Bedingungen und Begrenzungen menschlichen Wissens unterliegen und vom Sozialethiker nicht aufgrund eigener fachwissenschaftlicher Kompetenz auf ihre Zuverlässigkeit hin überprüft werden können. Formuliert man trotzdem solche konkreten ethischen Aussagen, so zieht in sie ein hypothetisches Element ein, das auch als solches gekennzeichnet werden sollte. Das Urteil wird dadurch nicht zu einem – im logischen Sinne – problematischen Urteil, sondern nimmt die Gestalt eines hypothetisch-apodiktischen Urteils an: „Wenn das der Fall ist, dann folgt daraus in ethischer Hinsicht notwendigerweise dies“. Diese Sprachform trägt der Tatsache Rechnung, dass die Ethik auf bruchstückhaftes, fehlbares empirisches Wissen angewiesen ist. Insoweit dient sie der realistischen Selbstbegrenzung ethischer Urteile. Das macht aber auch erkennbar, dass und in welcher Hinsicht die Sozialethik der Kooperation mit anderen Wissenschaften bedarf, und insofern dient es der Öffnung für interdisziplinäre Zusammenarbeit.
II. Konzeptionen Es gibt in der evangelischen Theologie lutherischer Prägung eine theologische Grundkonzeption, die zugleich den Charakter einer aus der Bibel gewonnenen Denkform hat: die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Nach Luthers gut begründeter Einsicht ist sie von so grundlegender Bedeutung, dass sich an ihrem Verständnis bemisst, wer es verdient, den Namen bzw. Titel ,Theologe‘ zu tragen.16 Entgegen dem Anschein, damit werde auf willkürliche Weise eine theologische Unterscheidung verabsolutiert, lässt sich leicht zeigen, warum die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium zu Recht eine solche fundamentale theologische Rolle spielt: Das Gesetz WA 7, 838,4 – 8 (eigene Übersetzung). WA 7, 502,34 f. (Enarrationes epistolarum et evangeliorum), WA 36, 9,6 – 8 und 10,2 – 5 (Predigt über Gal 3,23 ff.) sowie WA 40 / 1, 207,17 f. (Großer Galaterkommentar). 15 16
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sagt dem Menschen, was er zu tun hat. Das Evangelium sagt hingegen, was Gott zum Heil des Menschen getan hat und tut. Demzufolge geht es in der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium zugleich um die Unterscheidung zwischen Mensch und Gott und um die Unterscheidung zwischen dem, was ein Mensch zu tun hat und was er nur empfangen kann. Von daher ist der heilsrelevante, ja heilsnotwendige Charakter dieser Unterscheidung unschwer zu erkennen. Sie beantwortet die Frage, von wem der Mensch sein Heil zu erhoffen und zu erwarten hat, nämlich von Gott allein – und von wem nicht, nämlich von sich selbst und seinem Tun. Dabei ist zu beachten, dass aus dem ,du sollst‘ des Gesetzes keineswegs ein ,du wirst‘ oder auch nur ein ,du kannst‘ folgt. Im Gegenteil: Der theologische Sinn des Gesetzes (,usus theologicus sive elenchticus legis‘) besteht nach Luther darin, dass der Mensch seinen wahren Zustand vor Gott, nämlich sein Elend und seine Verlorenheit erkennt, um aufgrund dieser Erkenntnis zu Gott zu fliehen und bei Gott in Christus’ Hilfe und Rettung zu suchen. Das schließt nicht aus, dass das Gesetz im weltlich-politischen Sinn (,usus politicus sive civilis legis‘) dem Menschen als erfüllbare Handlungsorientierung zum Zwecke der Eindämmung des Bösen und zur Schaffung einer lebensdienlichen gesellschaftlichen Ordnung gegeben ist. Aus deren Verwirklichung resultiert aber nicht die ,Gerechtigkeit‘ des Menschen, die vor Gott gilt (,iustitia coram Deo‘), sondern allenfalls eine bürgerliche Gerechtigkeit vor den Menschen (,iustitia coram hominibus sive civilis‘). Diese ist nicht zu verschmähen und verdient gerade in sozialethischer Hinsicht Beachtung und Respekt, und zwar gerade dann, wenn sie nicht mit irgendwelchen Heilsvorstellungen, -zielen oder -erwartungen verbunden ist. In diesem Sinne dient die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium insbesondere durch ihre grundlegende und begrenzende Funktion der sozialethischen Klärung, z. B. auch in Gestalt der Unterscheidung der beiden Reiche, Regimente bzw. Regierweisen Gottes. 1. Zwei-Reiche- bzw. Zwei-Regimenten-Lehre17
In Abschnitt I. 1. zeigte sich, dass die sozialethische Reflexion der reformatorischen Theologie inhaltlich18 bei dem widersprüchlich erscheinenden biblischen Befund hinsichtlich der Legitimation von Gewalt zum Zwecke der Abwehr des Bösen einsetzt. Luther greift zur Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs auf die von Augustinus19 in Anlehnung an biblische Aussagen gebildete Lehre von zwei ,civitates‘ oder ,regna‘ zurück, die in der mittelalterlichen Theologie- und Kirchengeschichte (insbesondere für die Verhältnisbestimmung von Kaisertum und Papsttum) eine große Rolle gespielt hatte.20 Augustinus vergleicht dabei die Menschen, die sich nach Gott oder nach den Menschen ausrichten, mit „zwei Staaten, das ist zwei menschlichen Genossenschaften, 17 Siehe hierzu den informativen Aufsatz von H. Graß, Luthers Zwei-Reiche-Lehre, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 31 / 1986, S. 145 – 176. 18 Zeitgeschichtlich ist Luthers Schrift ,Von weltlicher Obrigkeit . . .‘ ausgelöst durch das Verbot mehrerer Landesfürsten, in ihrem Gebiet Luthers Übersetzung des Neuen Testament zu verkaufen oder zu kaufen. Damit war die Frage gestellt, ob man als Christ auch in einem solchen Fall der weltlichen Obrigkeit Gehorsam schuldig sei. 19 De civitate Dei, Buch 1 – 22 (413 – 426 / 7), CSEL 40 / 1.2, 1900; dt. (Vom Gottesstaat) übersetzt von W. Thimme, eingeleitet und kommentiert von C. Andresen, München 1977 / 78. 20 Vgl. dazu und zum Folgenden W. Härle, Art. ,Zweireichelehre II‘, in: TRE 36 / 2004, S. 784 – 789 und E. Herms, Art. ,Zwei-Reiche-Lehre / Zwei-Regimenten-Lehre‘, in: RGG4 8 / 2005, Sp. 1936 – 1941.
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deren eine vorherbestimmt ist, ewig mit Gott zu herrschen, die andere, mit dem Teufel ein ewiges Strafgericht zu erleiden“.21 Luther schließt sich mit der Unterscheidung zweier ,Reiche‘ zunächst Augustinus an,22 transformiert diese Unterscheidung jedoch in eine theologisch und sozialethisch leistungsfähigere Unterscheidung: die zwischen dem geistlichen und weltlichen Regiment23 Gottes.24 Wesentlich für die darin zum Ausdruck kommende reformatorische Zwei-Regimenten-Lehre sind folgende drei Elemente: Beide Regimente, das geistliche wie das weltliche – sind die (zwei) Weisen, wie Gott die Welt regiert, lenkt und leitet; – unterscheiden sich durch ihre Ziele, indem das weltliche Regiment der Erhaltung der Welt dient, das geistliche Regiment jedoch ihrer Erlösung; – unterscheiden sich aber auch hinsichtlich der Mittel, die von Gott zur Erreichung dieser Ziele eingesetzt sind: Recht und Gewalt 25 zur Erhaltung der Welt; Wort und Geist zur Erlösung der Welt; deshalb darf nie versucht werden, Menschen mittels Androhung oder Ausübung von Gewalt für den Glauben zu gewinnen, aber es darf auch nicht versucht werden, im politischen Bereich dem Bösen in der Welt ohne Androhung oder Ausübung von Gewalt entgegenzutreten.
Durch die Zuordnung der widersprüchlich erscheinenden Schriftaussagen zur geistlichen oder weltlichen Regierweise Gottes zeigt sich deren einheitlicher, zusammenstimmender Sinn: Christenmenschen stehen unter dem Gebot Christi, für ihre eigene Verteidigung gegen das Böse, das sie von außen angeht, auf Mittel der Gewalt zu verzichten, diese aber zum Schutz bzw. zur Verteidigung ihrer bedrohten Mitmenschen vorzuhalten und bei Bedarf zu gebrauchen – insbesondere dann, wenn ihr Amt dies erfordert. In der Geschichte der evangelischen Sozialethik war die reformatorische Zwei-Regimenten-Lehre jedoch nicht gegen Missverständnis und Missbrauch gefeit, was sich gut anhand des Begriffs ,Eigengesetzlichkeit‘26 verdeutlichen lässt: Versteht man darunter eine Eigengesetzlichkeit weltlich-politischer Ordnungen gegenüber Gottes Willen, so 21 A. Augustinus, Vom Gottesstaat, Buch XV,1. Schon daraus wird deutlich, dass die ,civitas terrena‘ bei Augustinus sowohl als das irdische Reich bzw. Weltreich verstanden werden kann, als auch als das Reich des Teufels (,civitas diaboli‘). Siehe dazu W. von Loewenich, Augustin – Leben und Werk, München / Hamburg 1965, S. 170. 22 Von weltlicher Obrigkeit [s. o. Anm. 2], S. 42 – 44. 23 ,Regiment‘ bedeutet in diesem Zusammenhang stets ,Regierweise‘. Siehe dazu die Thesen des Theologischen Ausschusses der VELKD zur Lehre von den zwei Reichen oder zwei Regimenten Gottes, in: N. Hasselmann (Hrsg.), Gottes Wirken in seiner Welt. Zur Diskussion um die Zweireichlehre, 2. Band, Hamburg 1980, S. 162 – 172. 24 „Darum hat Gott zwei Regimente verordnet: das geistliche, welches Christen und fromme Leute macht durch den heiligen Geist, unter Christus, und das weltliche, das den Unchristen und Bösen wehrt, dass sie äußerlich Frieden halten und still sein müssen, ob sie wollen oder nicht“ (Von weltlicher Obrigkeit [s. o. Anm. 2], S. 45). Dahinter steht Luthers oben kurz erläuterte Unterscheidung zwischen Gesetz (im politischen Gebrauch) und Evangelium. 25 Unter ,Gewalt‘ ist nicht nur die Ausübung, sondern auch und vor allem die glaubwürdige Androhung von Gewalt gemeint, die ihr Ziel genau dann erreicht hat, wenn keine Gewalt angewendet werden muss. 26 Diesen Begriff hat M. Weber (Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 61972, S. 237 – 573, dort S. 544 – 556) in die Diskussion über die Zwei-Reiche-Lehre eingeführt, um die Eigenständigkeit der weltlichen Regierweise zu kennzeichnen.
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muss diesem Begriff und dieser Behauptung widersprochen werden. Handelt es sich jedoch um die Eigengesetzlichkeit der weltlichen Regierweise Gottes gegenüber der geistlichen Regierweise Gottes, so ist dies zu bejahen. Dafür könnte man jedoch besser den Begriff ,Andersgesetzlichkeit‘ verwenden.27 2. Königsherrschaft Jesu Christi
Die Fehldeutung der Zwei-Reiche-Lehre und deren Missbrauch insbesondere im Umfeld des Nationalsozialismus konnte und musste durch den Hinweis abgewehrt werden, dass es in der reformatorischen Lehre um zwei Regierweisen Gottes geht (s. o. II.1).28 Trotzdem war die Zwei-Reiche-Lehre vorübergehend so diskreditiert, dass Karl Barth und ihm nahestehende Theologen als Gegenmodell zu ihr die Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi vertraten. Ihren profiliertesten Ausdruck fand sie 1946 in Barths Schrift: ,Christengemeinde und Bürgergemeinde‘. Barth ordnet darin Kirche (= Christengemeinde) und Staat (= Bürgergemeinde) einander im Sinne zweier konzentrischer Kreise zu, wobei die Christengemeinde den inneren Kreis bildet, in dessen Zentrum Jesus Christus steht. Die Aufgabe der Kirche ist es, „die Herrschaft Jesu Christi und die Hoffnung auf das kommende Reich Gottes“29 zu verkündigen. Von diesem Auftrag der Kirche her gibt es aber dieser Lehre zufolge „keine christliche Indifferenz gegenüber den verschiedenen politischen Gestalten und Wirklichkeiten. Die Kirche ,erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und der Regierten‘ (Barmer These 5)“.30 Daraus folgt für Barth, dass es für die Kirche „zwar keine Idee, kein System, kein Programm, wohl aber eine unter allen Umständen zu erkennende und innezuhaltende Richtung und Linie der im politischen Raum zu vollziehenden christlichen Entscheidungen“ gibt.31 Er konkretisiert dies, indem er in einem weiteren Schritt von der „Gleichnisfähigkeit und Gleichnisbedürftigkeit des politischen Wesens . . . in seinem Verhältnis zur Kirche“, ja zum Reich Gottes ausgeht32 und dies durch zahlreiche Ableitungen politischer Entscheidungen aus dem Heilshandeln Gottes in Jesus Christus demonstriert. Für diese Ableitungsthese hat Barth nur wenig Zustimmung gefunden. Wohl aber hat sich der Hinweis auf die Bedeutung der Königsherrschaft Christi auch für den politischen Bereich in zweierlei Hinsicht bewährt und weitgehende Anerkennung verschafft: – Die Vorordnung des Heilshandelns Gottes in Jesus Christus vor dem sozialethischpolitischen Gestaltungsauftrag zeigt, dass Letzterer erst dann angemessen erfasst und verstanden ist, wenn er im Verhältnis zu Gottes Heilshandeln verstanden wird. Die Verhältnisbestimmung von Christengemeinde und Bürgergemeinde erweist sich damit als eine spezifisch christliche, sie kann also nicht ohne die Erkenntnis Jesu Christi vorgenommen werden. 27 So I. Kišš, Fünf Formen der Zwei-Reiche-Lehre Luthers, in: Zeichen der Zeit 32 / 1978, S. 1 – 16, dort S. 6. 28 Das schließt grundsätzlich aus, den weltlichen Bereich der Willkür politischer Machtausübung zu übergeben oder freiwillig zu überlassen. 29 K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, Zollikon / Zürich 1946, S. 11. 30 A. a. O., S. 15. 31 A. a. O., S. 17. 32 So a. a. O., S. 22 f.
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– Die Vorordnung des auf die Erlösung der Welt zielenden Heilshandelns Gottes vor dem sozialethisch-politischen Erhaltungsauftrag zeigt, dass die Welterhaltung kein Selbstzweck, sondern auf die Erlösung hingeordnet ist, ihr dienend, den Raum für sie freihaltend. Damit wird die weltliche Regierweise Gottes noch deutlicher, als dies in der Reformation schon der Fall war, der geistlichen Regierweise Gottes zu- und untergeordnet.
Diese beiden Einsichten aus der Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi wurden im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts weitgehend in die Zwei-Regimenten-Lehre aufgenommen, wodurch der Gegensatz zwischen Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi überwunden werden konnte.33 3. Christliche Gesellschaftstheorie
Aus dem am Ende des vorigen Abschnitts beschriebenen Konsens und dem damit erzielten Klärungsgewinn folgt, dass die evangelische Sozialethik guten Grund hat, sich der Aufgabe der Entwicklung einer christlichen Gesellschaftstheorie zu stellen. Dabei kann auf antike, mittelalterliche und reformatorische Theoriebildungen zurückgegriffen werden, z. B. auf die letztlich von Platon stammende ,Dreiständelehre‘34. Bei Luther sind es drei von Gott eingesetzte ,Stände‘ (die er auch als ,Orden‘ oder ,Stifte‘ bezeichnen kann): Das Priesteramt, der Ehestand und die weltliche Obrigkeit35. Dabei haben (aufgrund des Allgemeinen Priestertums) alle Christenmenschen an allen drei Ständen Anteil.36 Weil die Dreiständelehre sich für ein hierarchisches37, stratifizierendes Gesellschaftsverständnis anfällig erwies, geriet sie durch die Aufklärung und die Französische Revolution in die Kritik und verschwand schließlich mit der Ständegliederung der Gesellschaft und des Staates. In der philosophischen Ethik Schleiermachers38 findet sich im Rahmen der Güterlehre der Ansatz zu einer Gesellschaftstheorie, die von vier für jede Gesellschaft konstitutiven Teilsystemen ausgeht, die auf ursprüngliche Weise in der Familie in unauflöslicher Verbindung miteinander wahrgenommen werden, im Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung jedoch auseinander treten und sich verselbständigen. Dieser Ansatz ist im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts vor allem von E. Herms39 aufgenom33 Siehe dazu H.-W. Schütte, Zwei-Reiche-Lehre und Königsherrschaft Christi, in: Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1, Freiburg i. Br. u. a. 1978, S. 339 – 353. 34 Siehe dazu W. Maurer, Luthers Lehre von den drei Hierarchien und ihr mittelalterlicher Hintergrund, München 1970, und R. Schwarz, Luthers Lehre von den drei Ständen und die drei Dimensionen der Ethik, in: Luther-Jahrbuch 45 / 1978, S. 15 – 34. 35 WA 26,504,31 f. (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis). 36 Statt vom ,Ehestand‘ kann auch von ,oeconomia‘ gesprochen werden. Das verweist nicht nur auf die vorindustrielle Einheit von familiärem und beruflichem Lebensraum, sondern auch auf den für das vorromantische Eheverständnis charakteristischen Ansatz, Ehe und Familie von der gemeinsamen Haushaltsführung her zu verstehen. 37 Wegen des privilegierenden und statischen Klanges, den der Begriff ,Stand‘ in der nachreformatorischen Zeit angenommen hat, vermeidet Bonhoeffer ihn (ebenso wie die Begriffe ,Ordnung‘ und ,Amt‘) und ersetzt ihn durch den Begriff ,Mandat‘ (vgl. D. Bonhoeffer, Ethik, hrsg. von I. Tödt u. a., München 1992, S. 392 f). 38 F. Schleiermacher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hrsg. von O. Braun, Hamburg 1913.
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men und weiterentwickelt worden. Die vier für das Bestehen jeder menschlichen Assoziation in der Welt interaktionell zu erbringenden Leistungen unterscheidet und bezeichnet Herms als: „(1) Herrschaft, die Regeln der Kooperation in Geltung setzt und festhält . . . ; (2) Ökonomische Kooperation, die für die Allokation von Lebensmitteln sorgt; (3) Wissenschaftliche Kooperation, die dasjenige empirische Regelwissen besorgt, das für die Entwicklung und . . . auch für die Bewertung . . . von ökonomisch relevanten Technologien erforderlich ist; (4) Weltanschaulich-ethische Kommunikation, die auf eine kommunikative Verständigung der Interaktanten über das höchste Gut und damit auch über denjenigen Endzweck ihrer Interaktion (also des gesamten gesellschaftlichen Lebens) aus ist, der für die Auswahl und Bewertung aller Teil- und Zwischenziele erforderlich ist.“40
In den gesellschaftlichen Funktionssystemen ,Politik‘, ,Wirtschaft‘, ,Wissenschaft‘ und ,Weltanschauung / Religion‘ werden die für die genannten Kooperationsleistungen unerlässlichen Bedingungen erbracht, und zwar in unaufgebbarer Bezogenheit aufeinander. Andere Ansätze einer christlichen Gesellschaftstheorie (z. B. T. Rendtorff41 und M. Welker42) schließen sich an die soziologischen Theoriebildungen bei Luhmann und / oder Habermas an. Alle diese Theorieansätze sehen sich jedoch mit der Tatsache konfrontiert, dass neuzeitliche, posttraditionale Gesellschaften die Signatur des Pluralismus tragen, d. h., dass ihre Mitglieder nicht (mehr) in einem letzten weltanschaulich-religiösen Einheitspunkt übereinstimmen oder zur Übereinstimmung gebracht werden können, von dem aus ihre verschiedenen Lebensentwürfe und institutionellen Ausgestaltungen als Variationen eines Gemeinsamen erlebt und verstanden werden könnten, sondern dass sich in der modernen Gesellschaft eine nicht auf ein Einheitsprinzip reduzierbare weltanschaulichreligiöse Vielfalt vorfindet. Die evangelische Sozialethik bejaht diesen gesellschaftlichen Pluralismus grundsätzlich, weil nur er der Religionsfreiheit und der Einsicht in das unverfügbare Wirken des Geistes angemessen ist. Differenzen innerhalb der evangelischen Sozialethik zeigen sich jedoch dort, wo es um die Frage geht, ob und inwieweit eine pluralismusfähige43 Kirche und Theologie selbst eine pluralistische Verfassung verträgt, oder ob genau das mit dem Wesen der christlichen Kirche und mit dem Wesen der evangelischen Sozialethik unvereinbar ist.
39 Siehe dazu vor allem den Aufsatzband von E. Herms, Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen 1991. 40 A. a. O., S. 391. 41 T. Rendtorff, Gesellschaft ohne Religion? Theologische Aspekte einer sozialtheoretischen Kontroverse (Luhmann / Habermas), München 1975. 42 M. Welker (Hrsg.), Theologie und funktionale Systemtheorie. Luhmans Religionssoziologie in theologischer Diskussion, Frankfurt a. M. 1985, sowie ders., Kirche im Pluralismus, Gütersloh 1995. 43 Zu dieser Begriffsbildung siehe P. Haigis, Pluralismusfähige Ekklesiologie, Marburg 2008.
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4. Christliches Menschenbild
Aus dem Wissen, dass zwar alles, was existiert, Gegenstand ethischen Handelns sein kann, dass aber nur der Mensch Subjekt ethischen Handelns ist, resultiert die besondere Bedeutung des Menschenbildes für jede Ethik. Im Blick auf das christliche Menschenbild ist jedoch (auch) in der evangelischen Ethik über die Zeiten hin ein gewisses Schwanken zwischen der Betonung der Individualität (und Freiheit) des Menschen einerseits und seiner Sozialität (und Solidarität) andererseits feststellbar. Die darin zum Ausdruck kommenden Fehlabstraktionen und Einseitigkeiten, in denen das jeweilige Pendant ungebührlich in den Hintergrund tritt, lassen sich vermeiden, wenn der Mensch (als Gemeinschaftswesen und als Individuum) grundlegend von seiner Gottesbeziehung, genauer: von Gottes Beziehung zum Menschen her und darum in seinem Bezogensein auf Gott verstanden wird. „Wer den Menschen erkennen und verstehen will, muss über ihn hinaus fragen und denken“.44 Dieser für das Menschsein konstitutive Gottesbezug wird in der jüdisch-christlichen Tradition in dreifacher Weise zum Ausdruck gebracht: – Der Mensch ist samt allen anderen Kreaturen Gottes Geschöpf, d. h. mit seinem Dasein konstitutiv von Gott unterschieden und gerade darin auf Gott bezogen. – Der Mensch ist im Unterschied zu allen anderen Kreaturen zu Gottes Ebenbild erschaffen, d. h. zu einer personalen Beziehung und Gemeinschaft mit Gott. – Der Mensch ist von allen anderen Kreaturen unterschieden und mit ihnen verbunden, indem ihm die Erde zur fürsorglichen Herrschaft anvertraut und übertragen ist.
Mit alledem ist der Mensch so erhöht, dass von ihm gesagt werden kann: „Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt“ (Ps 8,6). In der Sprache der stoischen Philosophie ist dies die Menschenwürde (,dignitas humana‘), d. h. der mit seinem Dasein gegebene „Anspruch auf Achtung“,45 der zwar missachtet werden kann, aber gleichwohl als Anspruch unantastbar und unverlierbar ist. „Wer so hoch erhöht ist, kann tief fallen“46, und dieser tiefe Fall des Menschen ist nicht nur eine theoretische Möglichkeit, sondern konkret erfahrbare Wirklichkeit. Deswegen hängt das christliche Menschenbild nicht der Illusion von einem vollkommenen oder zu vervollkommnenden Menschen nach, sondern kennt die tiefsitzende, zerstörerische Realität des Bösen, die aus dem menschlichen Herzen kommt47, und sie weiß um die Notwendigkeit von Vergebung, Umkehr und Neubeginn und damit um eine das Ethische transzendierende Dimension menschlicher Erfahrung, die konstitutiv mit der Verkündigung und Person Jesu Christi, seinem Leben, seinem Sterben und seiner Auferweckung von den Toten verbunden ist. Im Zentrum des christlichen Menschenbildes steht Jesus Christus, der das Ebenbild Gottes ist 48, das zu sein alle Menschen bestimmt sind. Er ist dieses Ebenbild Gottes aber nicht nur für sich, sondern für alle, die Gott 44 B. Vogel (Hrsg.), Im Zentrum: Menschenwürde. Politisches Handeln aus christlicher Verantwortung. Christliche Ethik als Orientierungshilfe, Berlin 2006, S. 15 f. Dieser von evangelischen und katholischen Sozialethikern gemeinsam erarbeitete Text ist für den ganzen Abschnitt über das christliche Menschenbild ein maßgeblicher Bezugspunkt. 45 A. a. O., S. 21. 46 Was ist der Mensch? Ein Bilderzyklus der EKD-Synode 2002, S. 71. 47 Vgl. Gen 6,5; 8,21; Mt 15,19 par. und Mk 7,20 – 23. 48 Siehe dazu 2 Kor 4,4; Kol 1,15 und Hebr 1,3.
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Wilfried Härle
ausersehen hat, „dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern“ (Röm 8,29; vgl. auch Kol 1,18). Damit ist die Bestimmung des Menschen aus christlicher Sicht von ihrer Mitte her beschrieben.
III. Inhaltliche Schwerpunkte 1. Die Verheißung des Reiches Gottes
Im Zentrum der Verkündigung und des Wirkens Jesu Christi steht die Ansage der nahe herbeigekommenen Gottesherrschaft (Mk 1,15 parr.). Damit wird die alttestamentlich-frühjüdische Hoffnung auf den verheißenen Machterweis Gottes auf Erden aufgenommen und vergegenwärtigt, dabei aber auch ihrem Inhalt nach präzisiert und modifiziert. Denn Jesus Christus verkündigt nicht nur den Anbruch der Gottesherrschaft, sondern dieser geschieht in seinen Worten, seinen Taten, seinem Lebensgeschick.49 Das heißt: Aus dem, was Jesus sagt und tut, wird erkennbar, worin die Gottesherrschaft besteht und wie sie sich zeigt. In Jesu Einsatz gegen die Mächte des Bösen und für das Heil der Menschen wird das Kommen der Gottesherrschaft erkennbar. Und dies geschieht nicht durch äußere Gewalt, sondern durch Zeichen, Worte und Taten der Liebe. Was darin sichtbar und erfahrbar wird, ist das höchste Gut, das von Menschen erstrebt und erlebt werden kann. Und so hat das Wirken Jesu Christi einen Bezug zu jeder Ethik, die sich am Gedanken eines höchsten Gutes orientiert und die als christlich verstanden werden will. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass das Reich Gottes nicht durch menschliches Handeln, sondern nur durch Gottes eigenes Wirken kommt. Damit sind dem Ethos und der Ethik aus christlicher Sicht klare Grenzen gesetzt. Aber das theologische Denken, das sich dessen bewusst ist, kann die Ausrichtung auf das Reich Gottes gleichwohl in zweierlei Hinsicht für die Sozialethik fruchtbar machen: – Einerseits als den kritischen Maßstab, an dem sich menschliche Verhaltensweisen und bestehende gesellschaftliche Verhältnisse messen lassen müssen; das ist die kritische Funktion des Reiches Gottes für die Sozialethik. – Andererseits als dasjenige höchste und letzte Ziel, von dem sich die Grundrichtung christlich-ethischer Entscheidungen herleiten und bestimmen lässt; das ist die konstruktive Funktion des Reiches Gottes für die Sozialethik.
Paul Tillich50 hat dem – im Anschluss an den Religiösen Sozialismus – noch ein drittes Element hinzugefügt, indem er die These vertritt, dass es grundlegende, weichenstellende gesellschaftliche und politische Entscheidungen geben kann, in denen es in einem ,Kairos‘ zum punktuellen Durchbruch des Reiches Gottes in der Geschichte kommt.51 Wo solche Überlegungen in der Sozialethik (z. B. in Gestalt der Theologie der Revolution oder der Befreiungstheologie) auftauchen, wird die reformatorische BegrenSiehe dazu Mt 11,2 – 6 par. Lk 7,18 – 23; Mt 12,28 par. Lk 11,20 sowie Lk 17,21. Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie (= GW VI), Stuttgart 21963, passim. 51 A. a. O., S. 24: „In jedem Kairos ist ,das Reich Gottes nahe herbeigekommen‘, denn in ihm vollzieht sich eine welthistorische, unwiederholbare, einmalige Entscheidung für oder gegen das Unbedingte.“ 49 50
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zung der weltlichen Regierweise Gottes auf die bloße Erhaltung der Welt deutlich überschritten. 2. Rechtfertigung allein aus Glauben
Die für die evangelische Kirche und Theologie maßgebliche biblische Lehre von der Rechtfertigung des Menschen allein aus Glauben besagt, dass der Mensch in das rechte Verhältnis zu Gott allein dadurch kommt, dass Gott ihm in Christus seine Barmherzigkeit so zuspricht, dass im Menschen Glaube geweckt wird und er so das erste Gebot erfüllt, aus dem die Erfüllung aller anderen Gebote folgt. Diese Lehre wird folglich gründlich missverstanden52, wenn sie als Alternative zum Ziel der heilsamen Erneuerung des Menschen aufgefasst wird. In Wirklichkeit ist sie dessen Radikalisierung, weil sie die Erneuerung des Menschen dort verankert, von wo alle wirksame Erneuerung ausgehen muss: von dem auf Gewissheit gegründeten, unbedingten, daseinsbestimmenden Vertrauen auf Gott. So verstanden hat die Rechtfertigung grundlegende Bedeutung für das menschliche Ethos, und die Rechtfertigungslehre ist in wenigstens dreifacher Hinsicht Richtschnur ethischen Handelns53: – im Blick auf das Motiv ethischen Handelns, weil der gerechtfertigte Mensch sich durch sein Handeln nicht erst sein Heil verdienen oder erringen muss, sondern von dem gnadenhaften Geschenk des Heils schon herkommt; – hinsichtlich der Begründung ethischen Handelns, weil durch Gottes Rechtfertigungshandeln die Würde jedes Menschen trotz dessen Versagen und Scheitern begründet und als Achtung gebietende Wirklichkeit zur Geltung gebracht ist; – für die Begrenzung ethischen Handelns, weil der gerechtfertigte Mensch um die Voraussetzungen ethischen Handelns weiß, die er selbst nicht schaffen, sondern nur dankbar und verantwortungsvoll in Anspruch nehmen kann.
Insbesondere im zurückliegenden Jahrzehnt ist die reformatorische Definition des Menschen als dessen, der durch Glauben gerechtfertigt wird (,Hominem iustificari fide‘)54, für die evangelische Sozialethik im Allgemeinen und für die Begründung der Menschenwürde im Besonderen fruchtbar gemacht worden.55 Die Bedeutung, Reichweite und Tragfähigkeit der Rechtfertigungslehre für die Sozialethik, sei es für die Bildungsethik, die Friedensethik, die Rechtsethik oder die Wirtschaftsethik56 ist jedenfalls noch längst nicht ausgeschöpft. 52 Wurzel dieses Missverständnisses ist in der Regel ein intellektuell verengter Glaubensbegriff im Sinne eines Für-wahr-haltens von kirchlichen Lehraussagen oder einer Zustimmung zu ihnen (ohne hinreichende Gründe). 53 Siehe dazu W. Härle, Die Rechtfertigungslehre als Richtschnur ethischen Handelns, in: ders., Menschsein in Beziehungen, Tübingen 2005, S. 335 – 346. 54 So Luthers Definition in seiner ,Disputatio de homine‘: „Paulus fasst in Röm 3,28: ,Wir halten dafür, dass der Mensch gerechtfertigt wird durch den Glauben ohne Werke‘ kurz die Definition des Menschen zusammen, indem er sagt: Der Mensch wird durch den Glauben gerechtfertigt“ (LDStA 1,669, 1 – 4). 55 Siehe dazu R. Anselm, Die Würde des gerechtfertigten Menschen, in: ZEE 43 / 1989, S. 123 – 136. 56 Siehe dazu exemplarisch A. Dietz, Der homo oeconomicus. Theologische und wirtschaftsethische Perspektiven auf ein ökonomisches Modell, Gütersloh 2005; W. Härle, Zeitgemäße Bildung auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes, in: ders., Menschsein in Beziehungen, Tübin-
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Wilfried Härle 3. Gerecht und Sünder zugleich
Zu den schwierigen und klärungsbedürftigen, aber auch grundlegend wichtigen Elementen der evangelischen Sozialethik gehört die von Luther57 im Anschluss an die paulinischen Aussagen über den Menschen als fleischliches und geistliches Wesen (Röm 7,14 – 25 und 8,1 – 17; 2 Kor 10,1 – 4) entfaltete Lehre vom ,simul iustus et peccator‘. Sie besagt, dass der glaubende Mensch als Glaubender, also im Blick auf seine Gottesbeziehung (,in relatione‘) ganz gerecht ist, im Blick auf seine eigene Beschaffenheit (,in qualitate‘58) dagegen ganz Sünder. Das heißt nicht, dass sich die Beschaffenheit des Menschen aufgrund der Gottesbeziehung nicht ändern würde, sondern dass dies nur durch die Gottesbeziehung geschieht und niemals unabhängig von ihr. In diesem Leben ist der Mensch ,Fleisch‘, und das heißt: aus sich heraus bestimmt durch selbstsüchtiges Begehren (,concupiscentia‘), und das ist auch dann schon Ausdruck seiner gestörten Gottesbeziehung, wenn er der Begehrlichkeit nicht durch Taten nachgibt, sondern sie unterdrückt. Die Sünde ist auch im Leben des Christenmenschen eine stets bedrohliche Realität. Deswegen gibt es für Luther auch einen Partialaspekt von Gerechtigkeit und Sünde im Leben des Menschen. Er ist auch teils gerecht und teils Sünder, wobei es sich nicht um friedliches Neben- und Miteinander, sondern um einen Kampf auf Leben und Tod handelt. Für die evangelische Ethik ist diese Erkenntnis insofern wichtig, als sie zu der Unterscheidung zwischen der bürgerlichen Gerechtigkeit (,iustitia civilis‘), über die der Mensch durch sein Handeln verfügt, und der Glaubensgerechtigkeit (,iustitia coram Deo‘), über die kein Mensch verfügen kann, anleitet. Die bürgerliche Gerechtigkeit darf nicht gering geachtet, sondern muss in Ehren gehalten, gefördert und gepflegt werden. Und das ist eine der Aufgaben der Ethik. Aber sie erreicht und betrifft nur das äußere Verhalten des Menschen und ist deswegen keine Veränderung des Menschen in der Tiefe seines Wesens und kann seine Beziehung zu Gott in keiner Weise zurecht bringen. Das kann nur durch das Wort und den Geist Gottes geschehen. Deshalb verweist das ,simul iustus et peccator‘ nicht nur den Sinn und die Bedeutung ethischer Erziehung, Bildung und Reifung, sondern auch die Grenze, die durch ethisches Bemühen nicht überstiegen werden kann. 4. Sozialethik „in der noch nicht erlösten Welt“59
Die von der reformatorischen Zwei-Regimenten-Lehre grundsätzlich geprägte evangelische Sozialethik geht davon aus, dass in der Welt, in der die Kirche lebt, das Evangelium von Jesus Christus nicht die einzige Stimme ist, die Gehör und Glauben findet. gen 2005, S. 411 – 423, sowie W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 32006. 57 Eine frühe, wichtige Quelle ist Luthers Römerbriefvorlesung von 1516 (WA 56, 3 – 528, bes. 269 – 272 und 347). Aber auch in den Promotionsdisputationen der dreißiger Jahre und im Großen Galaterkommentar spielt das ,simul‘ eine wichtige Rolle (siehe z. B. WA 39 / 1, 508,1 f. u. 523,3 ff.; WA 39 / 2, 141,1 ff., sowie WA 40 / 2, 348,14 ff.). 58 So unterscheidet Luther in WA 39 / 2, 141,2 u. 5. Andere terminologische Unterscheidungen lauten: ,in spe‘ vs. ,in re‘ oder ,reputative‘ vs. ,revera‘. Diese letztgenannten Begriffe sind insofern weniger passend, weil sie den falschen Anschein erwecken können, für Luther sei (nur) das Sündersein Wirklichkeit, die Gerechtigkeit hingegen eine Sache bloßer Hoffnung und Zurechnung. 59 Das Zitat entstammt der Barmer Theologischen Erklärung (s. o. Anm. 13), S. 200.
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Das äußert sich in der Realität des Bösen, die sich aus dem Inneren des Menschen und durch die Strukturen der Lebenswelt zu Worte meldet und ihre Macht erweist. Es äußert sich aber auch im gesellschaftlichen Pluralismus (s. o. II.3). Die Relevanz beider für die evangelische Sozialethik ist abschließend zu bedenken. Die evangelische Sozialethik – und darin unterscheidet sie sich nicht von der katholischen Soziallehre – leistet ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Gemeinwohl, indem sie ihr Verständnis vom Menschen und seiner Bestimmung möglichst klar und verständlich formuliert. Sie tut dies nicht, um ihre eigenen religiösen und ethischen Einsichten gegen den Widerstand anderer Auffassungen durchzusetzen, sondern in der Überzeugung, dass sie damit dem Wohl der Gesellschaft auf bestmögliche Weise dient. Dabei respektiert sie die Glaubens- und Gewissensfreiheit aller Menschen und mutet niemandem zu, gegen sein Gewissen zu handeln oder symbolische Handlungen zu vollziehen, die ein Bekenntnis zum christlichen Glauben wären oder dem gleichkämen. Die evangelische Sozialethik versucht aber auch in ihrer Theoriebildung der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es in vielen Lebensbereichen tragische Konstellationen schuldhafter und schicksalhafter Art gibt, die zu gravierenden Kollisionen mit christlich-ethischen Grundsätzen und Normen führen und nicht anders aufgelöst oder gehandhabt werden können als durch ethische Kompromisse, die zwar in sich ein ,malum‘ oder zumindest ein ,minus bonum‘ darstellen, aber verglichen mit allen anderen Möglichkeiten relativ besser und darum vorzugswürdig sind.60 Eine Sozialethik, die sich in dieser Weise auf Kompromisse einlässt,61 begibt sich in die Gefahr, als nicht eindeutig, klar und konsequent (genug) zu erscheinen. Das kann eine Prinzipienethik vermeiden, die sich durch keine tragischen Konflikte zu einer Korrektur oder zu Kompromissen bewegen lässt. Der Preis, den eine solche Prinzipienethik zahlen muss, ist freilich (auch) hoch. Sie erweckt zumindest den Eindruck, sie könne dem Leben der Menschen in der noch nicht erlösten Welt nicht (immer) gerecht werden. Die evangelische Sozialethik sieht sich von ihrem Verständnis ethischer Verantwortung her insgesamt nicht in der Lage, diesen Preis zu zahlen. Vielleicht besteht an dieser Stelle der tiefste Dissens zwischen evangelischer Sozialethik und katholischer Soziallehre. Aber auch er ist mit Sicherheit auf die noch nicht erlöste Welt begrenzt, kann also nicht ewig dauern. Literaturverzeichnis (zusätzlich zu den im Artikel bereits genannten Titeln) Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland 1962 – 2002, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2002. Evangelisches Soziallexikon, hrsg. von Theodor Schober, Martin Honecker und Horst Dahlhaus, Stuttgart / Berlin (1954) 71980. 60 Ein biblischer Beleg für diese Sichtweise und Einstellung ist die Perikope über die Ehescheidung aus Mk 10,1 – 9 par., Mt 19,9, in der Pharisäer unter Verweis auf die von Mose eröffnete Zulassung der Ehescheidung Jesus nach deren Erlaubtheit fragen und Jesus die Aussagen Moses mit der ,Herzens-Härte‘ (Mk 10,5; par. Mt 19,8) der Menschen begründet, aber nicht etwa zurücknimmt. 61 Siehe dazu H. Thielicke, Theologische Ethik, bes. Bd. II / 1, Tübingen 21959, S. 56 – 201, sowie H. Birkhölzer, Ehe – kein Auslaufmodell. Lebensgestaltung zwischen biblisch orientierter, christlicher Lebenssicht und Lebenskompromiss, München 1997, bes. S. 101 – 127.
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Wilfried Härle
Evangelisches Staatslexikon, hrsg. von Roman Herzog u. a., Bd. I / II, Stuttgart (1966) 31987. Fischer, Johannes: Handlungsfelder angewandter Ethik. Eine theologische Orientierung, Stuttgart 1998. – Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart 2002. Für Recht und Frieden sorgen. Auftrag der Kirche und Aufgabe des Staates nach Barmen V, hrsg. von Wilhelm Hüffmeier, Gütersloh 1986. Harbeck-Pingel, Bernd: Gesellschaft und Reich Gottes. Studien zu Alterität, Kommunikation und Handlung, Marburg 2003. Hauerwas, Stanley: Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, Neukirchen-Vluyn 1995. Herms, Eilert: Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995. Honecker, Martin: Konzept einer sozialethischen Theorie. Grundfragen evangelischer Sozialethik, Tübingen 1971. – Das Recht des Menschen. Einführung in die evangelische Sozialethik, Gütersloh 1978. – Grundriss der Sozialethik, Berlin / New York 1995. Huber, Wolfgang: Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik der Verantwortung, München 1990. Lange, Dietz: Ethik in evangelischer Perspektive. Grundfragen christlicher Lebenspraxis, Göttingen (1992) 22002. Rendtorff, Trutz: Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Bd. I und II, Stuttgart / Berlin / Köln (1981) 21991. Rich, Arthur: Wirtschaftsethik Bd. I und II, Gütersloh 1984. Traditionsaufbruch. Die Bedeutung der Pflege christlicher Institutionen für Gewissheit, Freiheit und Orientierung in der pluralistischen Gesellschaft, hrsg. von Dorothea Wendebourg und Reinhard Brandt, Hannover 2001. Von der Freiheit. Besinnung auf einen Grundbegriff des Christentums, hrsg. von Hans Christian Knuth, Hannover 2001. Wolf, Ernst: Sozialethik. Theologische Grundfragen, Göttingen (1975) 21982.
Die soziale Verantwortung in der Sicht der Orthodoxen Kirche Von Vasilios N. Makrides
Ein Blick auf das Orthodoxe Christentum genügt, um Besonderheiten und Unterschiede zur Entwicklung der Katholischen Soziallehre oder auch zur evangelischen Sozialethik zu erkennen. Trotz seiner enormen Vielfalt in lokalen Kontexten bzw. in autokephalen / autonomen Kirchen weist das Orthodoxe Christentum gemeinsame Merkmale und Entwicklungslinien auf, die auf seinen eigenen historischen Verlauf hinweisen. Entscheidend dafür waren seine mannigfaltigen Beziehungen und Unterschiede zum westlichen Christentum, die auch im vorliegenden Thema eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Hier sollte grundsätzlich zwischen sozialem Interesse und entsprechendem Engagement und der Formulierung einer Soziallehre zur Gestaltung einer Gesellschaftsordnung unterschieden werden.
I. Historischer Hintergrund Soziale Themen und Initiativen standen auf der Agenda der ersten Christen in Ost und West, und dies gilt auch für die byzantinische Kirche. Dies bezeugen die verschiedenen philanthropischen Einrichtungen (Krankenhäuser, Witwen- und Waisenhäuser, Armenspeisungen, Herbergen usw.), in denen Kleriker und Mönche eine primäre Rolle spielten. Interessant ist zudem, dass diakonische Aktivitäten mit dem liturgischen Leben der Kirche insgesamt verbunden waren, eine altchristliche Tradition, die im christlichen Osten weitergepflegt wurde (insbesondere in Klöstern). Darüber hinaus lässt sich ein soziales Bewusstsein bei vielen Kirchenvätern (Basilius von Caesarea, Johannes Chrysostomus) beobachten, das auch mit starker Sozialkritik verbunden war, jedoch ohne eine Systematisierung einer Sozialethik. Die Beziehungen zwischen der imperialen Macht und der Reichskirche in Byzanz wurden nach dem Symphonie- und Einheitsmodell reguliert, nach dem beide göttlichen Ursprungs waren, eine gemeinsame Bestimmung hatten und über jeweilige „Arbeitsbereiche“ – jedoch in enger Zusammenarbeit und Übereinstimmung – verfügten, nämlich den göttlichen und den weltlichen. Dies betraf unter anderem den sozialen Bereich. Die Kirche zeigte zwar großes Interesse und Engagement für soziale Probleme / Themen gemäß ihren eigenen Prinzipien, jedoch verstand sie ihre Rolle immer im Zusammenhang mit den Aufgaben des Imperiums, dem die Hauptinitiative und Verantwortung bei der Behandlung sozialer Probleme im Regelfall oblagen. Diese Entwicklung unterschied sich von derjenigen im Westen, insbesondere nach der Auflösung des weströmischen Reiches 476, wo die Römisch-Katholische Kirche eine größere Autonomie von und Distanz gegenüber der Politik genoss, ja später sogar selber politische Funktionen über-
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Vasilios N. Makrides
nahm, was nicht wenige Auseinandersetzungen mit den politischen Herrschern im Mittelalter zur Folge hatte. Die langfristigen Konsequenzen aus dem westlichen Modell der beiden voneinander unabhängigen Gewalten Kirche und Staat waren einschneidend, wie unter anderem die Entstehung einer eigenen katholischen Sozial- und Staatslehre belegt. In Byzanz lässt sich weiterhin der starke Einfluss außerweltlicher, jenseitsorientierter Ideale und Handlungsoptionen beobachten, was sich unmittelbar auf die Gesellschaft auswirkte. Wenn soziale Angelegenheiten auch nicht völlig außer Acht gelassen wurden, so wurden sie dennoch von einer besonderen eschatologischen Warte aus betrachtet und behandelt. Ein Blick auf das stark außerweltlich orientierte östliche Mönchtum (z. B. auf dem Berg Athos) genügt, um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen. In Byzanz fehlte es ebenfalls an sozialrevolutionären Ansätzen. Die soziale Ordnung galt als von Gott gewollt und trotz Sozialkritik gingen die Byzantiner nicht so weit, sie in Frage zu stellen (vgl. den „Dialog zwischen Reichen und Armen“ von Alexios Makrembolites aus dem 14. Jahrhundert). Die Lösung und Aufhebung sozialer Probleme verlagerten sich grundsätzlich in eine jenseitige Sphäre, obschon es auch einige diesseitsorientierte, jedoch weniger einflussreiche Entwürfe gab. Die Auswirkungen dieser Orientierungen und die entsprechenden Spannungen lassen sich auch außerhalb von Byzanz beobachten, wie beim Streit zwischen den „Besitzern“ und den „Besitzlosen“, d. h. unter russisch-orthodoxen Mönchen in der Moskauer Synode von 1503 und dem unterschiedlichen Umgang mit weltlichen Gütern und Klosterbesitz. Eine andere Tradition entwickelte sich bei den orthodoxen Christen auf dem Balkan unter osmanischer Herrschaft (15. – 19. Jahrhundert). Im Rahmen des MilletSystems übernahm die Orthodoxe Kirche notwendigerweise eine große Zahl von sozialen Funktionen und Aufgaben jenseits der engen religiösen Sphäre. Obwohl diese Erweiterung der Aufgaben der Kirche im Gefolge der Aufklärung der Kritik ausgesetzt war, stellte sich ihr Einfluss im gesamten sozialen Bereich während dieser langen Zeit als eindeutig bestimmend und nachwirkend heraus. Trotzdem gilt diese Zeit weniger als Normalfall für die Kirche, denn als eine Sondersituation, bedingt durch die geschichtlichen Umstände. Was sich jedoch für die Zeit der Neuzeit und der Moderne als entscheidend herausstellte, war die unterschiedliche Erfahrung der christlichen Kirchen in Ost und West mit den neuen geistigen und gesellschaftlichen Strömungen / Bewegungen. Die westliche Welt erfuhr einen radikalen Umbruch in etlichen Bereichen (z. B. Reformation, wissenschaftliche Revolution, Aufklärung, Französische Revolution, Parlamentarismus, Liberalismus), insbesondere aber im 19. Jahrhundert im Zuge der durch die Industrialisierung entstandenen „sozialen Frage“ bezüglich der benachteiligten Arbeiterklasse und des Aufstiegs des Sozialismus / Marxismus. Dies bedeutete eine ungeheure Herausforderung für die westlichen Kirchen, die ihre eigene Sicht von Staat und Gesellschaft gemäß der christlichen Sozialethik zu formulieren suchten. Daraus entstand eine umfangreiche sozial-christliche Literatur. Demgemäß beschränkten sich die westlichen Kirchen nicht nur auf karitative Arbeit im traditionellen Sinne, sondern versuchten auch, eine sozialtheoretische Reflexion zu entfalten. Die zahlreichen Spannungen, Konflikte und Verluste in der Auseinandersetzung mit den neuen geistig-sozialen Strömungen halfen jedoch den westlichen Kirchen bei der Artikulierung eines neuen Selbstbildes, das sich in der Öffnung zu den neuen sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen manifestierte. Die Sozialenzykliken der Römisch-Katholischen Kirche von 1891 (Rerum novarum) bis
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heute wären ohne Rückgriff auf diese Vorgeschichte undenkbar. Betrachtet man die Orthodoxen Kirchen, ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Diese Kirchen beschritten eben nicht diesen Weg, da sie der Neuzeit und der Moderne anders begegnet waren. Deshalb entwickelten sie unter anderem keine systematische Soziallehre.
II. Neuere Entwicklungen Insbesondere der Beginn der Moderne stellte die Orthodoxen Kirchen vor große Herausforderungen, indem sie nunmehr als Teile von mächtigen Staatsapparaten instrumentalisiert oder auch gesellschaftlich marginalisiert wurden. In diesem Kontext konnten sie trotzdem eine Reihe von philanthropischen und sozialen Aktivitäten entwickeln. Bekannt sind die umfassenden diakonischen Strukturen, die Johann von Kronstadt in St. Petersburg im 19. Jahrhundert etablieren ließ – auch mit der Absicht, den Einfluss sozialistischer Ideen bei bedrängten Bevölkerungsschichten zu vermindern. Einige Orthodoxe Kirchen äußerten sich auch zu sozialen Problemen ihrer Gläubigen. Nichtsdestoweniger mündeten solche Initiativen weder in eine gesonderte und elaborierte Soziallehre noch riefen sie eine Entwicklung von entsprechenden Begrifflichkeiten (wie beispielsweise „Subsidiarität“) hervor. Hauptsächlich galt die Bekämpfung sozialer Probleme als in staatlicher und nicht in kirchlicher Verantwortung liegend. Aus der besonderen Verflechtung von Staat und Kirche ergaben sich verschiedene Konsequenzen. Sozialkritiker richteten ihre Kritik primär gegen den Staat und weniger gegen die Kirche. Insofern spürte die Kirche nicht die dringende Notwendigkeit, eine eigene Rolle in sozialen Angelegenheiten zu übernehmen, sondern blieb vom Staat weitestgehend abhängig. Hier lässt sich wiederum ein deutlicher Unterschied zur Situation im Westen beobachten. Dort war es die Rückbesinnung auf ihren sozialen Auftrag und die Auseinandersetzung mit den liberalistischen und sozialistischen Strömungen, die die Kirche zur eingehenden Beschäftigung mit sozialen Themen und zur Ausgestaltung ihrer Soziallehre veranlassten. Diese Feststellungen bedeuten nicht das komplette Fehlen einer theoretischen Beschäftigung mit sozialen Fragen in der Orthodoxie in kritischem Austausch mit Staat und Gesellschaft. In den vorbereitenden Versammlungen zum Landeskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche von 1917 wurde im Rahmen einer Reform der Kirche ihr Verhältnis zum Staat und zur Gesellschaft intensiv diskutiert. Auch in Griechenland wurden im 20. Jahrhundert soziale Fragen intensiv behandelt und zwar im Rahmen von verschiedenen religiösen Bewegungen (z. B. in der Theologenbruderschaft Zoi); dies fand teilweise außerhalb der offiziellen Kirche statt. Darüber hinaus lassen sich in der orthodoxen Diaspora im Westen interessante Ansätze in Bezug auf soziale Fragen beobachten. So hat der enge Kontakt zur westlichen Theologie viele orthodoxe Theologen dazu geführt, sich mit ähnlichen Themen zu befassen und sich mit dem christlichen Sozialdenken des Westens auseinanderzusetzen. Die Beteiligung orthodoxer Kirchen am Ökumenischen Rat der Kirchen (im Rahmen des Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung) gab weitere Impulse zur sozialethischen Reflexion und Theoriebildung gemäß den orthodoxen Prinzipien (z. B. Christologie im trinitarischen Rahmen, Personalismus) sowie zum Dialog mit den westlichen christlichen Traditionen. Daraus entstanden interessante Versuche, eine Sozialethik in ökumenischer Perspektive zu entwickeln. Soziale Themen gehören auch zu den vorbereitenden
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Diskussionen und Konferenzen für die „Heilige und Große Synode“ der Orthodoxen Kirchen. Obwohl all diese Versuche noch nicht eine Soziallehre / Sozialethik im westlichen Sinne darstellen, zeigen sie trotzdem, dass soziale Themen nicht völlig am Rande des orthodoxen kirchlichen Interesses stehen. Eine Ausnahme stellt die offizielle Veröffentlichung der „Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche“ im Jahre 2000 dar. In insgesamt 16 Kapiteln werden grundlegende gegenwärtige und brennende soziale Themen gemäß den orthodoxen Prinzipien (Sobornost’, Symphonie) behandelt, wie die Beziehungen zwischen Kirche, Nation, Staat und Politik, die Arbeit, das Eigentum, das Recht, die Familie, die Globalisierung und andere mehr. Es handelt sich um ein innovatives Dokument seitens einer Orthodoxen Kirche, die früher als Stütze des Zarenregimes kritisiert wurde und die vor kurzem aus der langen Zeit der kommunistischen Unterdrückung und Verfolgung – wie auch der Instrumentalisierung während des Zweiten Weltkrieges durch Josef Stalin zur Stärkung des russischen Nationalbewusstseins – herauskam und nun ein neues soziales Profil sucht. Jedoch ist festzuhalten, dass die Betrachtung der sozialen Fragen hier eine „traditionelle orthodoxe“ bleibt. Man erkennt in diesem Dokument die Hauptorientierungen einer Kirche, die gewissermaßen in einem „vormodernen Zustand“ lebt und sich mit den Herausforderungen der Moderne (Multikulturalismus, Pluralismus, Liberalismus) nicht wirklich arrangiert hat – zumindest in der Art und Weise, wie dies die westlichen Kirchen gemacht haben. Beispielsweise werden die heutigen sozialen Probleme hauptsächlich vor dem Hintergrund der biblischen und der patristischen Tradition betrachtet, ohne expliziten Bezug auf die Errungenschaften der modernen Welt zu nehmen, deren Entwicklungen (Anthropozentrismus, Liberalismus, Säkularismus) intensiv kritisiert werden. Darüber hinaus ist dieses Dokument ein Konsenspapier, auf das sich sowohl fortschrittliche als auch konservative orthodoxe Kreise berufen können. Ohne dieses Dokument mit einer Soziallehre gleichzusetzen (vgl. den gewählten Begriff „Sozialkonzeption“), spricht es jedoch gegen die verbreitete Ansicht, die Orthodoxie sei ein stagnierendes religiöses System, das keinen Veränderungen unterworfen sei. Es bleibt abzuwarten, inwieweit andere Orthodoxe Kirchen analoge Dokumente veröffentlichen. Die Notwendigkeit der Formulierung einer Soziallehre wird in der orthodoxen Welt unterschiedlich aufgearbeitet und bewertet. Für manche bedeutet das bisherige Fehlen dieser Lehre ein ernstes Manko, das aufgehoben werden muss. So sei es kein Zufall gewesen, dass die aus dem Westen stammende Ideologie des Marxismus gerade in einem orthodoxen Land wie Russland fruchtbaren Boden fand und sich etablierte. Dies sei unter anderem auf die soziale Inaktivität der dortigen Orthodoxen Kirche zurückzuführen. Historisch gesehen habe das Christentum einen sozialkritischen, prophetischen Charakter, doch habe seine Institutionalisierung den Weg für passive und kontemplative Haltungen geebnet, die zum Abstand der Kirche von sozialen Problemen und zur Preisgabe der Welt führten. Für andere wiederum ist das Fehlen einer Soziallehre ein wichtiges Kennzeichen der Orthodoxie, denn sie brauche keine Soziallehre, sondern nur das einfache Gebot der christlichen Liebe. Die orthodoxe Tradition sei grundsätzlich gegen eine Kodifizierung des Glaubens, der Kirchengesetze und der Ethik, weil dies die Handlungsfreiheit jeder einzelnen Person einschränken würde. Sie vertrete kein System von Lehrsätzen, sondern vermittle die Freiheit eines besonderen Ethos, das nur allgemeine Grundlinien christlichen Handelns formuliere. Der eschatologische Charakter der Or-
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thodoxie mache zudem die Existenz einer Soziallehre und ihre diesseitige Ausrichtung überflüssig. Mit solchen Argumenten werden die westlichen Kirchen kritisiert und gleichzeitig die Freiheit betont, die in der Orthodoxie in Bezug auf das gesamte kirchliche Leben herrsche. In dieser Sicht ist auch ein sozialer Aktivismus des Mönchtums eine Neuerung, die mit der traditionellen Stellung des christlichen Mönchtums zwischen Himmel und Erde unvereinbar sei. Bei diesen Argumenten ist eine Ideologisierungstendenz deutlich zu erkennen. Die Trennung und spätere Entfremdung der Kirchen in Ost und West bedeuteten in der Tat einen separaten Entwicklungsweg in vielen Bereichen, einschließlich der sozialen Fragen. Aus heutiger Perspektive werden jedoch nachträgliche Interpretationen und Evaluierungen oftmals auf die Geschichte zurückprojiziert, die eine komplette Trennung der Kirchen suggerieren. Solche wertgeleiteten Diskurse übersehen die anderen soziohistorischen Entwicklungen in den jeweiligen Kirchen, die sie notwendigerweise langfristig prägten. Die Existenz einer Soziallehre im Westen ist kein Allheilmittel, zumal auch dort große Defizite bestehen. Andererseits sollte die Formulierung einer entsprechenden Konzeption im Orthodoxen Christentum nicht als westlicher verderblicher Einfluss betrachtet werden. Die Kirchen in Ost und West können von den jeweiligen Erfahrungen lernen und gegebenenfalls profitieren, was in der Ökumene schon teilweise der Fall ist. Dies ist jedoch nicht mit einem Verlorengehen der besonderen Merkmale der jeweiligen Kirche gleichzusetzen. Es ist beispielsweise wahr, dass bei den Orthodoxen keine besondere Vorliebe für die Theoretisierung des Glaubens herrschte, einschließlich der sozialen Fragen. Der Schwerpunkt wurde meistens auf die praktische Umsetzung des Glaubens gelegt und nicht auf die Ausformulierung einer umfassenden Soziallehre, die kein sine qua non für das soziale Engagement der Kirche ist. Aber selbst wenn es zu einer solchen Entwicklung kommt, sollte dies nicht als Verfallzeichen, sondern als produktiver Schritt im Sinne eines neuen Umgangs mit sozialen Problemen verstanden werden.
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Drittes Kapitel
Ehe und Familie
Ehe und Familie zwischen kultureller Normierung und gesellschaftlicher Bedingtheit Von Franz-Xaver Kaufmann
Ehe und Familie sind durch die katholische Tradition in einen sehr engen Verweisungszusammenhang gebracht worden. Keine andere kulturelle Tradition besteht mit gleicher Strenge auf der strikten Monogamie, d. h. der sexuellen Ausschließlichkeit und der Unauflöslichkeit der einmal gültig geschlossenen Ehe. ,Familie‘ setzt ,Ehe‘ zwingend voraus und Familie wird hier im Sinne eines kernfamilialen Zusammenhangs von Eltern mit ihren Kindern verstanden. Der institutionelle Verweisungszusammenhang von Familie und Ehe hat auch in Art. 6 I bis III des Grundgesetzes seinen Niederschlag gefunden, während die Absätze IV und V bereits auch der unehelichen Mutter den gleichen Schutz und den unehelichen Kindern gleiche Rechte versprechen. Erst 1970 trat jedoch ein verfassungsgemäßes Unehelichenrecht in Kraft, und die Stellung alleinerziehender Mütter im Verhältnis zu Ehepaaren blieb bis in jüngste Zeit umstritten. Inzwischen wird diese Frage überlagert von der Frage nach der Rechtsstellung unverheirateter Paare, unter Einschluss gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften. Offensichtlich ist die katholische Eheauffassung unter legitimatorischen Druck geraten. Ihre wesentlichen Elemente – Blutsverwandtschaft als Ehehindernis, Konsensus, Exklusivität der sexuellen Beziehung, Unauflöslichkeit – finden sich bereits bei den mittelalterlichen Kanonisten, deren Auffassungen sich zunehmend durchsetzten.1 Aber erst die Gegenreformation hat die Regulierung der Ehe zu einem Zentralbereich kirchlicher Anweisungs- und Kontrollansprüche werden lassen. Denn nachdem die Ehe für Luther zu einem „weltlich Ding“ erklärt worden war, lag es für das Tridentinum nahe, im Gegenzug nicht nur den (erst 1139 definierten) sakramentalen Charakter der Ehe zu betonen, sondern auch eine kirchliche Formpflicht des Eheschlusses zu dekretieren (1563). Damit wurde die bis dahin grundsätzlich dem familialen Bereich überlassene Eheschließung in den frühneuzeitlichen Trend zur Sozialdisziplinierung und Staatsentwicklung eingebunden. Erst 1907 wurde allerdings durch das päpstliche Dekret Ne temere das Eheschließungsrecht für die gesamte lateinische Kirche einheitlich geordnet und 1917 in den CIC übernommen. Große Teile der kirchlichen Ehemoral haben sich erst im 19. und 20. Jahrhundert verbreitet, und sie wird seit dem Zweiten Vatikanum hinsichtlich der Ehezwecke auch deutlich umakzentuiert. Die kirchliche Ehelehre ist also selbst Produkt einer historischen Entwicklung, und sie steht heute vor der Herausforderung, ihr Bleibendes und Sinnstiftendes für die Menschen unserer Zeit erneut zu begründen. 1
Näheres bei Schwab, Grundlagen, S. 15 ff.
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Dieser einführende Beitrag zur Gesamtthematik beschränkt sich auf eine historische und sozialwissenschaftliche Perspektive. Er stellt zum einen die Frage, ob es einen anthropologischen Kern dessen gibt, was wir mit „Ehe“ und „Familie“ ansprechen, und wie sich dieser für unsere gegenwärtige zeitgeschichtliche Situation aussagen lässt. Er reflektiert zum anderen den Umgang des Katholizismus mit der Thematik, denn eine Katholische Soziallehre auf der Höhe unserer Zeit bedarf der Reflexion ihrer eigenen Geschichtlichkeit. Und er sucht schließlich die kulturelle und soziale Situation von Ehe und Familie heute im europäischen Kontext zu verdeutlichen.
I. Ehe und Familie als bio-soziale Universalien? Im kulturvergleichenden Zusammenhang bedürfen wir zur Beschreibung familialer Phänomene zum mindesten einer Bestimmung der institutionellen Kategorien und der gesellschaftlichen Bestandsprobleme, auf die ,Familie‘ bezogen ist. Im herkömmlichen Vorverständnis von ,Familie‘ sind drei normative Komplexe eng aufeinander bezogen: ,Verwandtschaft‘, ,Ehe‘, und ,Elternschaft‘; sie eignen sich auch zur Rekonstruktion familialer Beziehungen im interkulturellen Vergleich. Im Zentrum unserer Überlegungen steht somit eine institutionelle Perspektive. Nicht die Vielfalt beobachtbarer Verhaltensweisen, sondern die normativ ausgezeichneten, typisierten Verhaltensmuster verdienen unser Interesse. Das universelle gesellschaftliche Bezugsproblem von Familie sei als ,Generativität‘ oder ,Nachwuchssicherung‘ bezeichnet: Jeder auf unbestimmte Dauer angelegte Sozialverband ist auf Nachwuchs angewiesen, und zwar nicht nur in einem biologisch-quantitativen, sondern auch in einem kulturell-qualitativen und mitmenschlichen Sinne: ,Familie‘ ereignet sich dort, wo erwachsene Menschen auf unabsehbare Dauer Verantwortung für das Aufbringen von (i. d. R. eigenen) Kindern übernehmen, welche ohne dauerhafte Primärbeziehungen überhaupt nicht zu geeigneten Erwachsenen im Sinne einer bestimmten Kultur heranwachsen können. Diesbezügliche Befunde der Deprivationsforschung werden durch neuere Einsichten der Hirnforschung eindrücklich bestätigt.2 Familie besteht zudem als Verantwortungszusammenhang zwischen den Generationen in der Regel über die Phase der Sozialisation hinaus und begründet lebenslange Beistandspflichten unter Erwachsenen in der auf- und absteigenden Linie, zumeist auch unter Paaren, Geschwistern und weiteren Verwandten.
II. Elternschaft Dank Papst Benedikt XVI. darf nun auch in katholischen Kontexten unbefangen auf die evolutionäre Herkunft des Menschen aus dem Tierreich hingewiesen werden. Die Beobachtung von Primaten, insbesondere der dem Menschen nächststehenden, zeigt bereits wesentliche Voraussetzungen für die spätere menschliche Familienbildung: (1) Die Hilflosigkeit der Neugeborenen erfordert eine jahrelange Abhängigkeit des Nachwuchses von seiner Mutter;3 (2) die Daueraktualität des Geschlechtstriebs leistet verstärkter 2 Vgl. G. Hüther, Die Evolution der Liebe: Was Darwin bereits ahnte und die Darwinisten nicht wahrhaben wollen, Göttingen 1999.
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Gruppenbildung Vorschub; (3) diese verstärkte Gruppenbildung bindet die Männchen ein und lässt die Gruppe zu einem Schutzraum für den heranwachsenden Nachwuchs werden; (4) erste Ansätze zu einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zwischen Pflege (Weibchen) und Verteidigung (Männchen) entstehen. Im Zuge der menschlichen Evolution wurde die Gruppenbildung noch bedeutsamer und förderte nicht nur die Entwicklung von Sprache, sondern auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Die meisten Anthropologen nehmen heute an, dass bereits vor dem Auftreten des Homo sapiens vor ca. 70 000 Jahren kernfamiliale Gruppen entstanden sind. Ohne in die Variabilität des ethnographischen Materials einzutreten, lässt sich festhalten, dass in allen Kulturen sich als kleinste soziale Einheit die Mutter mit ihren in der Regel leiblichen Kindern feststellen lässt, welche entweder mit einem ihr dauerhaft verbundenen Mann in einem kernfamilialen Haushalt lebt oder aber (allein oder mit dem Vater ihrer Kinder) in einen größeren wirtschaftlichen Verwandtschaftszusammenhang integriert ist.4 „Familie“ im Sinne eines gleichzeitig Lebensunterhalt und Aufzucht eigener Kinder gewährleistenden dauerhaften Arrangements unter Beteiligung beider Geschlechter ist für alle uns bekannt gewordenen menschlichen Gesellschaftsformen kulturtypisch; sollten andere Lösungen versucht worden sein, so haben sie sich als evolutionär nicht erfolgreich erwiesen, denn wir haben keine Kenntnis von ihnen. Allerdings brauchen die männlichen Bezugspersonen der Kinder nicht ihre Erzeuger zu sein; es kann sich in matrilinearen und matrilokalen Gesellschaften auch typischerweise um Verwandte der Frau handeln, denen keine sexuellen Rechte an ihr zustehen.
III. Ehe und sexuelle Beziehungen Wesentlich undeutlicher als „Elternschaft“ tritt „Ehe“ im Kulturvergleich zutage. Zwar finden sich in allen erfassten Kulturen dauerhafte Verbindungen oder normative Zuordnungen erwachsener Personen unterschiedlichen Geschlechts, die privilegierte sexuelle Beziehungen unterhalten und als Eltern ihrer Kinder gelten, für die sie in der Regel auch sorgen. Die Etablierung dieser Verbindungen folgt auch stets kulturabhängigen Regeln. Aber diese Regulierungen betreffen in der Regel weit weniger das Verhältnis zwischen diesen Personen selbst, als das Verhältnis zwischen größeren Gruppen verwandtschaftlicher oder herrschaftlicher Art. „Ehe“ stellt hier also keine selbständige Institution dar,5 und schon gar nicht wird sie primär durch Zuneigung zwischen den füreinander Bestimmten begründet. Wohnsitz-, Eigentums-, Tausch- und Verwandtschafts3 Schimpansen werden bis zu drei Jahren gesäugt, weibliche Tiere erreichen die Geschlechtsreife mit 7 – 10 Jahren, männliche Tiere werden erwachsen mit etwa 13 Jahren. Dies und das Folgende nach K. Gough, The Origins of the Family, in: Journal of Marriage and the Family 33 (1971), S. 760 – 770. 4 Nach wie vor bildet das „World Ethnographic Sample“ die wichtigste Quelle der kulturvergleichenden Forschung; vgl. G. P. Murdock / D. R. White, Standard Cross-Cultural Sample: on-line edition, 2006 (urspr. 1969). http: // repositories.cdlib.org. / imbs / socdyn / wp / Standard-Cross-Cultural-Sample. Zu Ehe und Familie siehe G. P. Murdock, Social Structure; kritisch dazu R. Eickelpasch, Ist die Kernfamilie universal?, in: Zeitschrift für Soziologie 3 (1974), S. 323 – 338. 5 Es ist deshalb Ausdruck unseres modernen Eheverständnisses, wenn Paul Mikat behauptet: „Die Ehe bildet – auch und gerade bei Völkern der primitiven Kulturstufe – . . . den Ausgangspunkt (!) weiterer Vergesellschaftungen wie Familie, Hausgemeinschaft, Verwandtschaft, Sippe, Stamm“ (Art. Ehe, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. I., Bielefeld 1971, S. 809).
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regeln bestimmen primär den Inhalt dessen, was uns als Ehe erscheint. So lässt sich auch aus dem Alten Testament keine klare Eheordnung eruieren. Die Eheschließung bedurfte weder der Mitwirkung religiöser noch politischer Instanzen und erfolgte in der Regel auf Initiative des Mannes und seiner Familie in der Form einer privaten Vereinbarung.6 Auch kennt das Alte Testament noch keine strikte Einehe: Die zwölf Stammväter Israels zeugte Jakob mit vier verschiedenen, gleichzeitig in seinem Haushalt lebenden Frauen (Gen 29 und 30,1 – 24). Allerdings ist eine Ritualisierung des Eheschlusses schon früh und weit verbreitet, gerade weil es sich nicht primär um ein Verhältnis zwischen den Partnern, sondern um ein Verhältnis zwischen Verwandtschaftsgruppen handelte. Die Ehe als öffentliche Institution tritt erst im Römischen Recht hervor, und zwar gleich in der doppelten Form der aus der Hausherrschaft hervorgehenden Manus-Ehe und der historisch jüngeren Konsensualehe, in der eine größere Achtung der Frau zum Ausdruck kam. Diese auf dem Grundsatz consensus facit nuptias beruhende Eheform prägte in der Folge das christliche Eheverständnis. Damit wurde der Eheschluss von der Zustimmung der Frau mit abhängig und die hausherrliche Autorität eingeschränkt. Im Zuge der Missionierung der Germanen richtete sich dieses durch die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk bzw. seiner Kirche überhöhte Eheverständnis gegen die dort übliche Munt-Ehe, d. h. die Übergabe der Frau aus der Vormundschaft des Vaters in diejenige des Gatten. So förderte das christliche Eheverständnis eine bessere Rechtsstellung der Frauen und betonte die grundsätzliche Gleichheit beider Geschlechter vor Gott.7 Zwar wurde in der mittelalterlichen Haus- und Feudalordnung und bis zu den personenrechtlichen Reformen der Aufklärung die Hausherrschaft in der Regel einem nach Erbregeln bestimmten männlichen Mitglied des Hausverbandes zugesprochen, doch finden sich regional und umständehalber auch Frauen in der dominanten Position. Im übrigen bildeten Geschlechtsunterschiede kein wesentliches Strukturierungskriterium der Hausordnung. Erst in Reaktion auf die Gleichheitsideen der Aufklärung, welche die herkömmliche Unterordnung der Frau in der Arbeitsteilung in Frage stellte, wurde ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Verschiedenheit der sogenannten ,Geschlechtscharaktere‘ behauptet und mit philosophischen, pädagogischen und medizinischen Gründen untermauert. Dadurch wurden die entstehenden bürgerlichen Familienstrukturen des Mannes als ,Haupt‘ und der Mutter als emotionaler ,Kern‘ der Familie legitimiert. Mann und Frau galten nun als von ihrem Geschlecht her polar und für unterschiedliche Aufgaben prädestiniert, als wesensverschieden und komplementär. Erst im 19. Jahrhundert und im Horizont des aufklärerischen Vernunftanspruchs bildeten sich Ideologien als umfassende Deutungs- und Legitimationsmuster einer parteilichen Auffassung sozialer Wirklichkeit. In diesem historischen Zusammenhang gewannen auch Ehe und Familie allmählich ideologischen Stellenwert.8 Dabei wurde auf katholischer Seite vor allem die Ehe, auf evangelischer Seite die Familie als zentrale Größe gesehen. In Reaktion auf die vertragstheoretische Konstruktion des Ehebandes 6 Näheres siehe E. Bons, Artikel Ehe IV. Im Alten Testament, in: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), Bd. 3, 3. Aufl., Sonderausgabe, Freiburg i. Br. 2006, Sp. 469 – 470. 7 Näheres bei P. Mikat, Ehe (siehe Anm. 5). 8 Die politische Ideengeschichte der Familie bleibt ein Forschungsdesiderat. Erste Ansätze bei J. B. Elshtain, The Family in Political Thought, Amherst 1982.
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durch die Aufklärung und die daraus folgende Scheidbarkeit der Ehe betonte der katholische Diskurs den institutionellen, d. h. der Gestaltungsfreiheit der Beteiligten entzogenen, lebenslangen Charakter des Ehebandes und zugleich auch die vorgegebene Wesensverschiedenheit von Mann und Frau. Die Ordnung der Familie als durch Einehe begründete, unauflösliche Gemeinschaft mit originärer elterlicher Autorität galt nun als von Natur gegeben und wurde durch die kirchliche Naturrechtsdoktrin überhöht.
IV. Verwandtschaft In den uns bekannten archaischen Gesellschaftsformen ist Verwandtschaft die zentrale Institution. Evolutionär frühe Gesellschaftsformen, sogenannte Stammesgesellschaften, organisierten sich nach Kriterien der Verwandtschaft. Verwandtschaft folgte dabei meistens nicht unseren Vorstellungen gleicher Abstammung von der mütterlichen und der väterlichen Linie (bilaterale Deszendenz). Vorherrschend waren vielmehr unilaterale, nämlich entweder patrilineale oder matrilineale Verwandtschaftsordnungen, die sich mit bestimmten Wohnsitzregeln verbanden. In patrilinealen Ordnungen galten in der Regel Heiratsverbote innerhalb der väterlichen Linie, während Verwandte der Mutter häufig als bevorzugte Ehepartner galten. Durch diese Polarität gelang es, die Beziehungen zwischen verschiedenen „Stämmen“ in jeder Generation neu zu festigen und damit größeren Sozialzusammenhängen Halt zu geben. Verwandtschaft wird oft auch kulturell-symbolisch definiert, d. h. sie orientiert sich nicht an Graden der Blutsverwandtschaft. Aber auch diese „künstliche“ Verwandtschaft bedient sich der Metaphern von Konjugation und Filiation, heute beispielsweise in Adoptivfamilien. Sexuelle Beziehungen werden in den meisten Kulturen nicht exklusiv an die Ehe gebunden. Vor allem den Männern werden sexuelle Rechte häufig auch an anderen Frauen zugestanden, doch sind diese regelmäßig den Rechten der ersten Ehefrau nachgeordnet. Streng verboten und meist religiös tabuisiert sind nahezu überall sexuelle Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Geschwistern. Dieses sogenannte Inzesttabu wird in der Regel über die Kernfamilie hinaus ausgedehnt auf Beziehungen zu bestimmten, aber keineswegs allen näheren Blutsverwandten. Das Inzesttabu verhindert im kernfamilialen Raum die Vermischung der Generationen und zwingt die Geschwistergruppe, sich Dritten gegenüber zu öffnen (Exogamiegebot). In Stammesgesellschaften stabilisiert es zudem die hier existentiell wichtige Verwandtschaftsordnung. Als im Horizont der Aufklärung allmählich die ,bürgerliche‘ Intimauffassung von Familie und Ehe als einer emotionalen Beziehung zwischen individuellen Personen innerhalb der Kernfamilie sich kulturell und rechtlich profilierte, war der verbindliche Charakter der weiteren Verwandtschaft bereits stark reduziert, und die zunehmende Mobilität der Bevölkerung tat ein Übriges, um den obligatorischen Charakter von Verwandtschaftsbeziehungen zu lockern. Allerdings zeigen empirische Untersuchungen, dass einzelne nahe stehende Verwandte auch und gerade unter mobilen Bedingungen noch heute eine wichtige Ressource der Unterstützung darstellen. Dabei dominieren Beziehungen in der auf- und absteigenden Linie.
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V. Was bleibt von der Universalität? Im Horizont des katholischen Naturrechtsdenkens wurde die Universalität oder zum Mindesten normative Verbindlichkeit eines Familienleitbildes postuliert, das große Ähnlichkeiten mit der bürgerlichen Familienauffassung aufweist. Die katholische Naturrechtsdoktrin richtete sich antithetisch gegen den säkularen Rationalismus, aber auch gegen den modernistischen Historismus; sie wollte dazu beitragen, die „ewige Wahrheit“ der katholischen Weltauffassung zu legitimieren und gegen die vom Historismus betonten wissenschaftlichen Befunde kultureller und geschichtlicher Veränderlichkeit zu immunisieren.9 An die Stelle eines ontologischen ist heute weithin ein evolutionäres Verständnis des Lebens, auch des menschlichen Lebens getreten. Was können wir daraus mit Bezug auf Ehe und Familie lernen? In allen uns bekannt gewordenen Kulturen werden Zuständigkeiten für das Aufbringen von Kindern definiert und legitimiert, wobei biologische Mutterschaft den zentralen, weil bislang eindeutigen Anknüpfungspunkt bildet. Dieser Tatbestand wird jedoch regelmäßig in einem weiter reichenden sozialen Kontext interpretiert, der zusätzliche – insbesondere auch mindestens eine männliche – Bezugspersonen involviert, die als mit dem Kind ,verwandt‘ gelten und ihm gegenüber bestimmte Rechte und Pflichten haben. Wir können deshalb von einer allgegenwärtigen Institutionalisierung, d. h. kulturellen Deutung und strukturellen Verankerung der Nachwuchssicherung in den evolutionär erfolgreichen sozialen Formen menschlichen Lebens sprechen, wobei Ehe, Elternschaft und Verwandtschaft kulturtypisch unterschiedliches Gewicht gewinnen. Durch Zuschreibung von Elternschaft und Verwandtschaft werden auch intergenerationelle Beziehungen stabilisiert und damit wesentliche Voraussetzungen für die Zeitstabilität von Sozialverbänden geschaffen. Andere Stabilisierungsfaktoren sind Grund und Boden sowie in zunehmendem Maße das kirchliche oder staatliche Recht. Der Mensch erscheint anthropologisch als ein auf regelgeleitete Lebensführung angewiesenes „moralisches Wesen“. Das entspricht durchaus der thomanischen Bestimmung, der zufolge der Mensch sich „von Natur aus“ an der Differenz des zu Tuenden (Bonum) und des zu Meidenden (Malum) orientiert. Diese „Regeltendenz“ teilt der Mensch mit seinen tierischen Vorfahren, doch erst die Sprachfähigkeit erlaubt allmählich, Regeln zu formulieren und sie schließlich in die Form von Geboten und Verboten zu bringen.10 Dabei ist diese Regeltendenz oder Gewohnheitsbindung überlebensdienlich nicht nur für das individuelle Handeln, sondern vor allem auch für das Zusammenhandeln und Zusammenleben. Regeln entstehen stets im Horizont bestimmter Sozialverbände und in Auseinandersetzung mit deren Lebensumständen. Wie schon Thomas 9 Innertheologisch wurde diese Auffassung bereits auf dem Kongress deutschsprachiger Moraltheologen 1965 in Bensberg weitgehend destruiert; vgl. Böckle (1966). Zentral war dabei der Nachweis einer verfehlten Rezeption des thomanischen Naturrechtsdenkens durch die Spät- und Neuscholastik; vgl. insb. J. T. C. Arntz, Die Entwicklung des naturrechtlichen Denkens innerhalb des Thomismus, ebenda S. 87 – 120. Für eine wissenssoziologische Dekonstruktion vgl. F.-X. Kaufmann, Wissenssoziologische Überlegungen zu Renaissance und Niedergang des katholischen Naturrechtsdenkens im 19. und 20. Jahrhundert, in: F. Böckle / E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik, Mainz 1973, S. 126 – 164. 10 Vgl. D. Claessens, Instinkt, Psyche, Geltung. Zur Legitimation menschlichen Verhaltens, 2. überarb. Aufl., Köln 1970.
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von Aquin im Gegensatz zu seinen scholastischen Nachfahren betont hat, sind nur die ersten Prinzipien allgemein und unwandelbar, jegliche konkrete Sollensnorm erlangt ihre Verbindlichkeit nur nach Maßgabe ihrer Tauglichkeit zur Verfolgung des Guten und der Meidung des Bösen in näher zu bestimmenden Umständen. Es gibt somit gute Gründe, Familie als universales Element menschlicher Vergesellschaftung zu postulieren. Was daran universal ist, kommt jedoch in einer interkulturell und historisch erstaunlichen Vielfalt zur Geltung. Diese Vielfalt ist allerdings nicht beliebig, sondern stets im Horizont bestimmter kultureller Vorstellungen geordnet, die bestimmte Verhaltensmuster anerkennen und andere als abweichend oder verboten definieren. Die kulturellen Ordnungen ermöglichen eine Stabilisierung von Erwartungen und die soziale Kontrolle von Handlungen, aber ihre Einzelnormen sind nicht unwandelbar, sondern verändern sich nicht selten in Anpassung an sich nachhaltig verändernde soziale Umstände.
VI. Die Entstehung der „modernen Familie“ Der Übergang von Stammesgesellschaften zu städtisch zentrierten Hochkulturen war regelmäßig mit einem Einflussverlust der Verwandtschaft verbunden. Es entstanden neue, z. B. auf Nachbarschaft oder auf Produktionsgemeinschaft gegründete Formen des Zusammenlebens, die politisch und religiös legitimiert wurden. An der athenischen und römischen Geschichte lässt sich der Übergang im Entstehen der demotischen bzw. kurialen Stadtverfassungen und der gleichzeitigen Unterdrückung der Blutrache gut verfolgen. Parallel zum Einflussverlust der Verwandtschaft lässt sich im Raum der Antike ein Bedeutungszuwachs der monogamen Ehe beobachten. Auch das frühe Christentum trug antiverwandtschaftliche Züge, getreu dem Jesus-Wort: „Wer nicht Vater und Mutter verlässt, ist meiner nicht wert“. Der Zölibat wurde ein wichtiger Faktor für die zunehmende Unabhängigkeit der Kirche von den herrschenden politischen Verhältnissen. Die von der Kirche propagierte bilaterale Verwandtschaftsordnung war wegen ihrer strukturellen Uneindeutigkeit dem Einfluss von Verwandtschaft ebenfalls abträglich. Die Hausherrschaft des römischen Pater Familias zeigt eine Konfiguration, die sich auch in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen feudalen Lebensform wiederfindet. Die mittelalterliche Feudalordnung bezog sich primär auf Grund und Boden. Die herrschende Form des Zusammenlebens war das „Haus“, das keine scharfe Trennung von Familie und Gesinde kannte. Die dominierende, zumeist auf Landwirtschaft gegründete Lebensform war die Hauswirtschaft, d. h. ein aus dem Hausherrn, dessen Ehefrau und deren unmündigen Kindern sowie dem Gesinde sowie eventuell weiteren Personen bestehender Verband, innerhalb dessen die Abstammung im Wesentlichen für die Erbfolgeregeln, jedoch kaum für die alltäglichen Lebensvollzüge von Bedeutung war. Zwar gab es auch viele Einzelhaushalte, in denen Eltern allein mit Kindern zusammenlebten, aber als typische Muster nur in nicht-ständischen Schichten und als eine in der Regel recht instabile Form des Lebens, wo die Kinder schon früh den elterlichen Haushalt verlassen mussten. Erst im Gefolge des Allgemeinen Preußischen Landrechtes, das unter dem Einfluss der Aufklärung die Ehe als Vertrag konstruierte, kam es in Deutschland zu einer schärferen Trennung von Familienangehörigen und Gesinde im Rahmen des Haushaltes.
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Ähnliches bewirkten die zivilrechtlichen Kodifikationen des Code Napoleon in Frankreich und des allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches in Österreich. Was wir heute primär unter Familie verstehen, also die exklusive Verbindung der Ehegatten mit ihrem eigenen Nachwuchs, ist selbst bereits eine Schöpfung der Neuzeit. Selbst das Wort ,Familie‘ drang erst im 18. Jahrhundert in die deutsche Sprache ein und meinte ursprünglich dasselbe wie ,Haus‘. Erst unter dem Einfluss der Aufklärung trennten sich die Bedeutungen von ,Haus‘ und ,Familie‘, wobei ersteres die eigentumsrechtlichen, letzteres die personrechtlichen Aspekte des traditionellen Arrangements in sich aufnahm. Parallel zur personenrechtlichen Anerkennung aller Familienmitglieder wurde auch das Recht auf Eheschließung verallgemeinert, das bis dahin zumeist an bestimmte ökonomische Voraussetzungen gebunden war. Die Familie als Personenverband geriet im Kontext der entstehenden bürgerlichen Kultur unter das Leitbild der Intimität.11 Zwar gab es persönliche Zuneigung zwischen Eheleuten bzw. Eltern und Kindern sporadisch sicher auch schon in vormodernen Zeiten, doch die Notwendigkeiten des Lebens drückten hart und ließen wenig Raum für feinere Gefühle. Insbesondere aber fehlte es an entsprechenden Semantiken und kollektiven Leitbildern. Die aufkommende Intimauffassung von Familie korrelierte mit der Auflösung der Hauswirtschaft, gefördert vor allem durch die Kommerzialisierung des Bodens, sowie mit dem wachsenden Einfluss des Individualismus. Indem nunmehr die Pflege der persönlichen anstelle der sachlichen Beziehungen kulturell ins Zentrum des Familienlebens rückte, gewann die Familie eine neue, spezifische Aufgabe, welche durch die etwa gleichzeitige Pädagogisierung der Kindheit mit pädagogischen Elementen angereichert wurde. Die soziologische Gesellschaftstheorie interpretiert diese Entwicklungen als Ausdifferenzierung der modernen Kernfamilie im Zusammenhang eines gesamtgesellschaftlichen, funktionsorientierten Differenzierungsprozesses.12 Während die früheren hochkulturellen Gesellschaftsformen auf dem Prinzip der Über- und Unterordnung sowie der eindeutigen Zuordnung von Individuen zu bestimmten Korporationen beruhten, welche für diese eine umfassende daseinsgestaltende und daseinssichernde Bedeutung besaßen, sind moderne Gesellschaften durch eine Entflechtung der daseinssichernden und daseinsgestaltenden Funktionen und deren institutionelle Verselbständigung gekennzeichnet: So hat sich die Produktion in Fabriken, die Distribution in Handelsfirmen verselbständigt, und diese bilden zusammen mit weiteren Unternehmungen das durch Geld und Märkte verknüpfte System moderner Verkehrswirtschaften. Die Verselbständigung der Politik erfolgte sehr allmählich in vielen kleinen Schritten, unter denen die Trennung des Staatshaushalts (Fiskus) vom Privatvermögen des Fürsten besondere Symbolträchtigkeit besaß. Marksteine der Entflechtung von geistlicher und weltlicher Gewalt waren beispielsweise die Enteignungen des Kirchengutes durch Napoleon und die Trennung von Kirche und Staat im Rahmen moderner Verfassungen. Die Entflechtung von Familie und Wirtschaft vollzog sich im wesentlichen als Trennung von Haushalt und Produktionsstätte im Zuge der Industrialisierung. Während der Autonomiegewinn in den übriVgl. N. Luhmann, Liebe als Passion. Zur Kodierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982. Vgl. als Überblicke H. Tyrell, Probleme einer Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der privatisierten modernen Kernfamilie, Zeitschrift für Soziologie 5 (1976), S. 393 – 417; J. Schumacher / R. Vollmer, Differenzierungs- und Entdifferenzierungsprozesse im Familiensystem, in: K. O. Hondrich (Hrsg.), Soziale Differenzierung, Frankfurt a. M. / New York 1982, S. 210 – 352. 11 12
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gen Gesellschaftsbereichen sich vor allem des Mittels formaler Organisation und der Arbeitsteilung bedient, kann familiale Autonomie wegen der Kleinheit der Gruppe nur durch eine intensive Binnenkommunikation und räumliche Verselbständigung im Raum des „Privaten“ erreicht werden.13 Die private Wohnung wird daher zur zentralen Infrastruktur des Familienlebens. Trotz seiner Fragmentierung lässt sich auch ,Familie‘ als gesellschaftliches Teilsystem begreifen, das sich an der Leitdifferenz „verwandt / nicht verwandt“ orientiert und für die übrigen Teilsysteme unverzichtbare Leistungen erbringt: Familien „produzieren“ in ihrer Gesamtheit das Humanvermögen, die personelle Umwelt aller anderen gesellschaftlichen Teilsysteme;14 sie sind nach wie vor für die Lösung des einleitend postulierten gesellschaftlichen Problems der Nachwuchssicherung zuständig. Der hier nur anzudeutende tiefgreifende Umbau der Gesellschaftsstruktur von einer rangorientierten und primär territorial gegliederten Ordnung zu einem komplexen Zusammenhang funktional ausdifferenzierter gesellschaftlicher Teilsysteme wie Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und Familie, zu denen sich inzwischen weitere wie das Bildungs- und das Gesundheitswesen gesellt haben, war ein von niemandem so beabsichtigter säkularer Transformationsprozess, dessen Folgewirkungen für die Lebensverhältnisse der Individuen erst in den letzten Jahrzehnten voll sichtbar werden. Im 19. Jahrhundert waren es zunächst lediglich die Männer, welche in das Spannungsfeld der unterschiedlichen Anforderungen von Politik, Wirtschaft, Religion und Familie gerieten, während die Frauen aufgrund des in Reaktion auf die Vertragstheorien der Aufklärung sich im 19. Jahrhundert entwickelnden institutionalistischen Eheverständnisses als Hausfrauen ihren Lebenssinn im Wesentlichen innerhalb der Familie finden sollten. Der staatliche Schutz der als gefährdet deklarierten Familie wurde so zu einer zentralen Forderung des konservativen Denkens, das seinen Niederschlag in den Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches von 1896 fand.15 Dem hier festgelegten Leitbild der ,Hausfrauenehe‘ hat sich dann auch die gesamte Rechts- und Sozialordnung im Deutschen Reich weitgehend angepasst.16 So geht bis heute das soziale Sicherungssystem der Bundesrepublik vom Normalfall der Hausfrauenehe aus; und hierin unterscheidet es sich deutlich von zahlreichen ausländischen Lösungen. Die sozialen Wirkungen des bürgerlichen Familienleitbildes entfalteten sich erst im Kontext der Industrialisierung und der mit ihr verbundenen Ausbreitung lebenslanger unselbständiger Erwerbstätigkeit. Die Verstetigung der Erwerbsarbeit und der Anstieg 13 Eindrücklich hierzu P. L. Berger / H. Kellner, Die Ehe und die Konstruktion von Wirklichkeit, in: Soziale Welt 16 (1965), S. 220 – 235. 14 Vgl. F.-X. Kaufmann, Lässt sich Familie als gesellschaftliches Teilsystem begreifen?, in: A. Herlth u. a. (Hrsg.), Abschied von der Normalfamilie? Partnerschaft kontra Elternschaft, Berlin 1994, S. 42 – 63, hier S. 50 ff. 15 Vgl. hierzu D. Schwab, Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie, in: W. J. Habscheid u. a. (Hrsg.), Festschrift für Friedrich Wilhelm Bosch zum 65. Geburtstag, Bielefeld 1976, S. 893 – 907. – Zur Affinität zwischen konservativem und katholischem Familiendenken vgl. Tyrell, Katholizismus. 16 Entgegen der heutigen feministischen Kritik sei betont, dass die Hausfrauenehe im 19. Jahrhundert einen Fortschritt hinsichtlich der ökonomischen und sozialen Stellung der Frau darstellte. Wer die faktischen Arbeitsverhältnisse der Frauen im 19. Jahrhundert betrachtet, wird es – wie die Zeitgenossen – als einen Fortschritt ansehen, dass den Frauen im Bereich des Haushalts und der Familie ein nunmehr weitgehend autonomer Zuständigkeitsbereich zugewiesen wurde und sie gleichzeitig von den Mühen der Land- oder Industriearbeit normativ entlastet wurden.
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der Reallöhne ermöglichten zunehmend auch den Industriearbeitern die Gründung einer Familie. Die ursprünglich je nach sozialer Zugehörigkeit stark variierenden Familienverhältnisse konvergierten zu einem Durchschnittstypus, der durch das ausschließliche Zusammenleben von verheirateten Eltern mit ihren unmündigen Kindern in einer separaten Wohnung gekennzeichnet ist. Dabei lag die Hauptverantwortung für den Lebensunterhalt beim Vater, für die Haushaltführung bei der Mutter, und beide teilten sich grundsätzlich die Erziehungsverantwortung für die recht unterschiedliche Kinderzahl. Alle anderen im 19. Jahrhundert verbreiteten Haushalttypen – der Dreigenerationenhaushalt, der Haushalt mit Gesinde, die unvollständigen Familien usw. – traten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr zurück.17 So bildete sich die Vorstellung einer Normalfamilie auf der Basis der Hausfrauenehe heraus, an der sich die neuere Diskussion kritisch abarbeitet.
VII. Aktuelle Herausforderungen, Leistungen und Probleme der Familie Generativität war in traditionalen Gesellschaften unmittelbar in die dominanten ökonomischen Bezüge eingebettet. Die okzidentale Modernisierung vollzog sich zentral als strukturelle Ausdifferenzierung und tendenzielle Verselbständigung von Funktionszusammenhängen wie Wirtschaft, Politik, Recht und Wissenschaft. Religiöse und familiale Bezüge ,erleiden‘ – so die konservative Kritik – diese Verselbständigungen als ,Funktionsverlust‘.18 Progressive Interpretationen der Modernisierung sehen dagegen in der ,Entlastung‘ von ökonomischen und herrschaftlichen Funktionen die Chance für Familie und Religion, ihre spezifischen Funktionen in größerer ,Reinheit‘ bzw. Konsequenz und damit effektiver wahrnehmen zu können. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wird neuerdings vor allem die Ambivalenz der familialen Entwicklungen betont, wobei optimistische und pessimistische Zukunftsprognosen sich als selektive Verallgemeinerungen beobachtbarer Tendenzen darstellen, die in ihrer Gesamtheit Spielräume für unterschiedliche Zukunftsentwicklungen erkennen lassen.
VIII. Demografische Perspektiven Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg, der viele Familien zerstört hatte, regenerierte sich vielerorts das herkömmliche Familienleitbild und führte zu einer „Hochzeit der Hochzeiten“ sowie einem erneuten Anstieg der bereits in der Zwischenkriegszeit unter das Reproduktionsniveau gesunkenen Geburtenraten. Diese demografische Konstellation brach seit Mitte der 1960er Jahre ab, und zwar sukzessive in ganz Westeuropa, wobei die Geburten in der Bundesrepublik besonders abrupt zurückgingen: Die Gesamtfruchtbarkeitsrate erreichte ihren Nachkriegshöhepunkt 1960 / 65 bei 2,5 Kindern und fiel dann bis 1975 auf weniger als 1,5 Kindern pro Frau; seither verharrt sie auf Werten um 1,4 Kinder, d. h. die Generationen ersetzen sich nur noch zu etwa zwei Dritteln. 17 Vgl. F. Rotenbacher, Haushalt, funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit – evolutionäre Wandlungsprozesse, in: Zeitschrift für Soziologie 16 (1987), S. 450 – 466. 18 Vgl. Tyrell, Katholizismus, S. 129 ff.
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Auch die Scheidungshäufigkeit ging nach dem Krieg zunächst zurück, stieg aber nach 1965 auf nie gekannte Höhen. Derzeit wird etwa jede dritte Ehe wieder geschieden. Dennoch dauern Ehen heute im Durchschnitt länger als in vorindustrieller Zeit, infolge verlängerter Lebenserwartung beider Partner. Dass zwei von drei Ehen auch ein stark verlängertes Eheleben „bis der Tod sie scheidet“ durchstehen, zeigt die nach wie vor erhebliche Bindungswirkung dieser Lebensform. Allerdings betreffen die Ehescheidungen zunehmend auch Ehen mit Kindern; das ist die wichtigste Ursache für die Zunahme unkonventioneller Familienformen, insbesondere von Alleinerziehenden und Stiefelternverhältnissen. Die international vergleichende Familienforschung zeigt, dass innerhalb des Gesamttrends sinkender Fruchtbarkeit sich in verschiedenen Ländern unterschiedliche Fertilitätsmuster beobachten lassen.19 Im Folgenden stehen die deutschen Verhältnisse im Mittelpunkt, wobei hier die extrem niedrige Fertilität der einheimischen Bevölkerung von ca. 1,1 Kindern pro Frau durch die höhere durchschnittliche Fertilität der Zuwanderer (ca. 1,8 Kinder) überdeckt wird. Der Geburtenrückgang in der deutschen Bevölkerung20 ist durch zwei sukzessive Entwicklungen zu erklären: Die Frauen der Geburtsjahrgänge 1935 – 1950 heirateten früh und häufig, reduzierten jedoch die Zahl ihrer Kinder im Vergleich zu den vorangehenden Jahrgängen erheblich, sodass die kinderreichen Familien stark zurück ging. Ab dem Geburtsjahrgang 1950 nimmt vor allem der Anteil der lebenslang kinderlos bleibenden Frauen zu, während die durchschnittliche Kinderzahl der Mütter nicht mehr abnimmt, ja zuletzt sogar etwas gestiegen ist. Gleichzeitig ist das mittlere Gebäralter stark angestiegen und der Anteil der heiratenden Frauen deutlich gesunken. In den jüngeren Jahrgängen greift eine Polarisierung zwischen privaten Lebensformen mit und ohne Kinder um sich, und zwar auch räumlich und mentalitätsmäßig; Dorbritz sieht sogar eine „Kultur der Kinderlosigkeit“ heraufziehen.21 Betrachtet man die Kinderhäufigkeit verheirateter Paare in Deutschland unter dem Gesichtspunkt ihrer Bildungs- und Einkommensverhältnisse,22 so fällt auf, dass in Familien mit drei und mehr Kindern häufig beide Partner keinen Ausbildungsabschluss besitzen; das dürfte für Zugewanderte besonders charakteristisch sein. Ferner finden sich kinderreiche Familien häufig bei Paaren, wo der Mann einen deutlich höheren Bildungs19 Vgl. F.-X. Kaufmann u. a. (Hrsg.), Family Life and Family Policies in Europe, 2 Bde., Oxford 1997 / 2002; F. Billari / H.-P. Kohler, Patterns of low and lowest-low fertility in Europe, Population Studies 58 (2004), Heft 2, S. 161 – 176. 20 Die besten statistischen Überblicke stammen von K. Schwarz, Rückblick auf eine demographische Revolution, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 24 (1999), S. 228 – 279; ders., Betrachtungen eines Demographen zu Ehe und Familie um das Jahr 2000, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 28 (2003), S. 423 – 442. Umfassendere Erörterungen von Ursachen und Folgen der neueren Bevölkerungsentwicklung geben H. Birg, Die ausgefallene Generation. Was die Demographie über unsere Zukunft sagt, München 2005, sowie Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft. 21 Vgl. Huinink, Warum noch Familie?; J. Dorbritz, Kinderlosigkeit in Deutschland und Europa – Daten, Trends und Einstellungen, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 30 (2005), S. 359 – 407. 22 Vgl. K. Schwarz, Bedeutung des Haushaltseinkommens für die Zahl der Kinder der Ehen mit abgeschlossener Familienbildung in den alten Bundesländern 1997, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 24 (1999), S. 365 – 370.
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abschluss als die Frau besitzt; hier dürften traditionale Rollenverhältnisse verbreitet sein. Den höchsten Anteil der Kinderlosen findet man bei Paaren, wo beide Partner über einen Hochschulabschluss und ein monatliches Haushaltseinkommen von über 7 000 DM (1997) verfügen; hier dürfte die Berufsorientierung beider Partner den Ausschlag für den Verzicht auf Kinder geben. Generell zeigt sich eine häufigere Kinderlosigkeit in den oberen Einkommensgruppen, was auf die stärkere Erwerbsneigung beider Partner und die in Deutschland besonders schwierige Vereinbarkeit von Familienund Erwerbstätigkeit zurückzuführen sein dürfte. Personen mit religiöser Bindung tendieren deutlich häufiger zur Elternschaft als Areligiöse.
IX. Soziologische Interpretation Der für nahezu ganz Westeuropa charakteristische „zweite Geburtenrückgang“ um 1970 wurde durch das Zusammentreffen von zwei Ereignisketten ausgelöst: Zum einen brachte der Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit und die weiter andauernde Tertiarisierung immer mehr Frauen in außerhäusliche Erwerbstätigkeit und förderte den Ausbau des Bildungswesens, wovon insbesondere die Mädchen profitierten; in der Folge veränderte sich die Machtbalance zwischen den Geschlechtern und mehrten sich auch die emanzipatorischen Ansprüche der Frauen, unterstützt durch die internationale Liberalisierungswelle um 1968. Zum anderen führten neue Methoden der Geburtenkontrolle zur Auflösung des mentalen Zusammenhangs von Sexualität und Prokreation. Mit der Entdeckung und Verbreitung der Ovulationshemmer und anderer, vom Geschlechtsakt unabhängiger Methoden der Geburtenkontrolle wurde der Sexualkontakt im Bewusstsein der Beteiligten vom Risiko unerwünschter Schwangerschaften befreit. Seither wird die Trennbarkeit von Sexualität und Fortpflanzung kulturell und zunehmend auch alltagspraktisch vorausgesetzt. Nahezu überall hat diese neue Konstellation zur größeren Akzeptanz von Jugendsexualität beigetragen und insbesondere die sogenannten nichtehelichen Lebensgemeinschaften gefördert. Entgegen manchen Erwartungen hat sie jedoch nicht die Promiskuität oder Polygamie aufgewertet. Der Grundsatz der partnerschaftlichen Treue scheint – für die Dauer einer Partnerschaft – nach wie vor in Geltung. Aber die Ehe hat das Monopol für als erlaubt geltende sexuelle Kontakte offensichtlich verloren. Nichteheliche Lebensgemeinschaften orientieren sich regelmäßig am Leitbild der Ehe, allerdings mit einer Präferenz für informelle Beziehungen.23 Zum Mindesten in Deutschland stellt die nichteheliche Lebensgemeinschaft überwiegend ein Phänomen der vorehelichen oder nachehelichen Lebensphase, jedoch keinen Ersatz für die Ehe dar. Insbesondere im Zusammenhang mit der Planung oder der Ankunft von Kindern wird in der Regel geheiratet.24 23 Hierzu N. F. Schneider / D. Rosenkranz / R. Limmer, Nichtkonventionelle Lebensformen: Entstehung, Entwicklung, Konsequenzen, Opladen 1998. – Die zunehmende Spannung zwischen den Erfordernissen der Rechtsklarheit und den personalen Ansprüchen im Hinblick auf gelingende Partnerschaften zeigt D. Schwab, Eheschließungsrecht und nichteheliche Lebensgemeinschaft – Eine rechtsgeschichtliche Skizze, in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 28 (1981), S. 1151 – 1156. 24 Das gilt zum Mindesten für die alten Bundesländer. In den neuen Bundesländern wie auch in Skandinavien scheint der Zusammenhang von Ehe und Elternschaft schon recht kontingent geworden zu sein.
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Dem Verbindlichkeitsverlust der Ehe steht eine wachsende Verbindlichkeit der Elternschaft gegenüber. Sie äußert sich zum einen in der sozialen Norm „verantworteter Elternschaft“, der zufolge keine Kinder zur Welt gebracht werden sollen, für die ihre leiblichen Eltern nicht die Verantwortung übernehmen.25 Sie wird auch rechtlich relevant, insoweit Kindern grundsätzlich nach einer Scheidung das Recht auf beide Eltern zuerkannt wird. Zudem wird auch von Seiten der Männer zunehmend die Anerkennung ihrer nichtehelichen Vaterschaft gefordert.26 Ferner hat sich der Charakter der ElternKind-Beziehungen deutlich geändert: Nicht mehr Befehl und Gehorsam, sondern das Aushandeln von Rechten und Pflichten prägen die Binnenordnung der Familien.27 Kinder werden nach Maßgabe ihres Alters zunehmend als das Familienleben mitbestimmende Persönlichkeiten ernst genommen. So jedenfalls haben sich die Leitbilder gewandelt. Vor allem in ökonomisch benachteiligten Schichten, zu denen auch die kinderreichen Immigranten gehören, stellt sich die Wirklichkeit oft anders dar. Der öffentliche Familiendiskurs orientiert sich ausschließlich am Modell der Kernfamilie und blendet die vielfältigen verwandtschaftlichen Vernetzungen von Familienhaushalten aus. Zum Mindesten in den alten Bundesländern ist jedoch die Verfügbarkeit von Großmüttern die zuverlässigste Lösung des Vereinbarkeitsproblems von Familienund Erwerbstätigkeit. Die neuere Forschung hat vielfältige haushaltübergreifende Austauschverhältnisse festgestellt, insbesondere zwischen (Groß-)Eltern und ihren Kindern bzw. Enkeln. Hans Bertram sieht in der „multilokalen Mehrgenerationenfamilie“ ein funktionstüchtiges Familienmodell der Zukunft.28 Die Ausbreitung des Massenwohlstands, die sozialstaatlichen Vorkehrungen und die kulturelle Liberalisierung haben in den letzten Jahrzehnten auf breiter Front private Lebensformen ermöglicht, die von familiären Bindungen unabhängig sind. Insbesondere für die Frauen hat sich die Struktur der Lebensläufe nachhaltig verändert, wobei sich drei typische Muster herausschälen: (1) Nach beruflicher Qualifizierung wird die Erwerbstätigkeit im Hinblick auf Mutterschaft stark eingeschränkt oder vorübergehend aufgegeben, wobei die Familiengründung in der Regel mit der Verehelichung einhergeht. (2) Bedingt durch die Priorität beruflichen Fortkommens werden zwar dauerhafte exklusive Partnerschaften mit oder ohne Eheschluss gepflegt, Kinderwünsche aber immer wieder aufgeschoben oder aufgegeben. (3) Instabile Lebensläufe, die zu keinen dauerhaften Partnerbeziehungen führen; sie gehen häufig mit beruflicher Überbeanspruchung oder prekären Beschäftigungsverhältnissen einher. Insoweit aus gescheiterten Partnerschaften Kinder zu versorgen sind, wachsen diese häufig mit besonderen Risiken auf. Für Deutschland ist charakteristisch, dass die posttraditionalen privaten Lebensformen extrem kinderarm sind, während die Familien tendenziell traditionellen Mustern folgen. Drei Viertel aller Kinder verbringen ihre gesamte Jugend im gemeinsamen 25 Deshalb geht die von katholischer Seite empfohlene Freigabe unerwünschter Kinder zur Adoption am moralischen Bewusstsein der meisten Frauen vorbei; vgl. E. Colomb / H. Geller, Adoption zwischen gesellschaftlicher Regelung und individueller Erfahrung, Essen 1992. 26 Überhaupt ist komplementär zur wachsenden Selbstverständlichkeit außerhäuslicher Erwerbstätigkeit von Müttern eine innerfamiliäre Aufwertung der Vaterschaft zu beobachten. Vgl. W. E. Fthenakis, Die Rolle des Vaters in der Familie, Stuttgart 2001. 27 Vgl. J. Ecarius, Familienerziehung im historischen Wandel, Opladen 2002. 28 Vgl. H. Bertram, Die verborgenen familiären Beziehungen in Deutschland: Die multilokale Mehrgenerationenfamilie, in: Kohli / Szydlik (Hrsg.), Generationen.
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Haushalt ihrer verheirateten Eltern. Aber es werden ihrer weniger, weil ein wachsender Anteil der nachwachsenden Generationen alternativen, in der Regel kinderlosen Lebensformen den Vorzug gibt. Dass es so wenig Familien mit gleichberechtigter Erwerbs- und Familienbeteiligung beider Geschlechter gibt, hängt mit strukturellen Rücksichtslosigkeiten von Staat und Gesellschaft zusammen: z. B. dem Fehlen verlässlicher Ganztagsbetreuung der Kinder im Bildungswesen, wenig ausgebaute Kleinkindbetreuung, Benachteiligung von Familien im staatlichen Abgabensystem, männerdominierte Beschäftigungsmuster in der Wirtschaft, usw. X. Folgerungen für eine sozialethische Betrachtung Die Verbindlichkeit der seit dem Mittelalter sich mehr und mehr formalisierenden katholischen Ehemoral blieb nur so lange plausibel, als sie durch kulturelle und wirtschaftliche Gegebenheiten gestützt wurde. Sie war plausibel im Horizont kohärenter katholischer Milieus und unter den Prämissen knapper Lebensbedingungen, wo ein Leben außerhalb des Familienverbandes weitgehende Hilflosigkeit bedeutete. Die zentrale Herausforderung für die Plausibilität aller traditionsgestützten Moralen in der Moderne resultiert aus der Beschleunigung des sozialen Wandels und der Optionserweiterung, insbesondere im Bereich von Bildung und Konsum. Während im öffentlichen Bereich – einschließlich der Verkehrswirtschaft – das positive Recht einigermaßen erfolgreich die schwindenden informellen Formen des Ethos und der sozialen Kontrolle ersetzt hat, wächst im privaten Bereich der Widerstand gegen formalisierte, allgemein verbindliche Regulierungen – mit guten Gründen! Denn die Variabilität der Umstände ist so groß, dass allgemein verbindliche Normen im konkreten Fall sehr unterschiedlich begünstigend oder belastend wirken. Und die Komplexität der Lebensverhältnisse kann durch Individuen und Kleingruppen nicht in standardisierbarer Weise wie in arbeitsteiligen Organisation bewältigt werden, sondern erfordert fortgesetzte Anpassungsprozesse und situationsabhängige Entscheidungen. Moraltheoretisch gesprochen sind heute Konflikte zwischen unterschiedlichen moralischen Ansprüchen und die Suche nach dem geringsten Übel die Regel und nicht die Ausnahme.29 Es erscheint allerdings als durchaus fragwürdig, ob der in westlichen Gesellschaften gegenwärtig zu beobachtende Trend, subjektive Präferenzen der Lebensgestaltung zur alleinigen Richtschnur kollektiven Zusammenlebens zu machen, auf Dauer trägt. Alle bisherigen Gesellschaften kannten Legitimitätsnormen, durch die bestimmte Lebensformen wenn nicht verboten, so zum Mindesten kollektiv präferiert und anerkannt wurden. Welche Maßstäbe hierfür unter den gegenwärtigen Umständen tauglich sein können, hat die Sozialethik zu prüfen und zu begründen. Sie könnte sich dabei auch an der Frage orientieren, inwieweit die neueren Formen privaten Zusammenlebens funktionale Äquivalente zum herkömmlichen Familienverband auszubilden vermögen. Bemerkenswerterweise ist die Substanz des christlichen Leitbildes von Familie und Ehe – Liebe, Treue, wechselseitige Unterstützung, Dauerhaftigkeit „bis der Tod Euch scheidet“ – auch unter liberalen und säkularisierten Bedingungen weitgehend intakt; 29 Vgl. F.-X. Kaufmann, Der Ruf nach Verantwortung. Risiko und Ethik in einer unüberschaubaren Welt, Freiburg i. Br. 1992.
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alternative Leitbilder wie z. B. die „Kommune“ bleiben modisch und damit kurzlebig. Das Bedürfnis nach stabilen und „dialogischen“ Sozialbeziehungen, 30 in denen der Mensch als Person Anerkennung seitens für ihn bedeutungsvoller Anderer und damit eine Bekräftigung seiner Identität erfährt, kann heute fast nur noch in familialen Beziehungen Erfüllung finden.31 Man kann daher von einer Idealisierung des Familienleitbildes sprechen,32 das zwar als Leitbild anerkannt wird, vor dem aber zu scheitern entschuldbar ist und bei dem Kompromisse erträglich erscheinen. Die kirchliche Behandlung von Geschiedenen z. B. ergibt sich ausschließlich aus der Logik des Kirchenrechts und kann pastoral nur durch illegale Kompromisse aufgefangen werden. Der Plausibilitätsverlust kirchlicher Äußerungen zu Ehe und Familie bezieht sich somit nicht auf deren normativen Kern, sondern auf daraus mit z. T. fragwürdigen Argumenten abgeleiteten, in rechtliche Form gegossenen Forderungen. Wahrscheinlich stört die Form mehr als der Inhalt. Nicht das Recht, sondern die Spiritualität von Ehe und Familie könnten heute noch Plausibilität erzeugen. Und in politischer Hinsicht sollte es vor allem um die Stärkung der Autonomie von Familien gehen.
Literaturverzeichnis Biedenkopf, Kurt u. a.: Starke Familie. Bericht der Kommission „Familie und demographischer Wandel“ im Auftrag der Robert Bosch Stiftung. Stuttgart 2005. Böckle, Franz (Hrsg.): Das Naturrecht im Disput. Düsseldorf 1966. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Berlin 2003. – Siebter Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit – Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Berlin 2006. Gestrich, Andreas / Krause, Jens Uwe / Mitterauer, Michael: Geschichte der Familie. Stuttgart 2003. Huinink, Johannes: Warum noch Familie? Zur Attraktivität von Partnerschaft und Elternschaft in unserer Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995. Kaufmann, Franz-Xaver: Zukunft der Familie im Vereinten Deutschland. München 1995. – Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen. Frankfurt a. M. 2005. Kohli, Martin / Szydlik, Marc (Hrsg.): Generationen in Familie und Gesellschaft. Opladen 2000. Lüscher, Kurt (Hrsg.): Die „postmoderne“ Familie. Familiale Strategien und Familienpolitik in einer Übergangszeit. Konstanz 1988. Mertens, Gerhard u. a. (Hrsg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft, Band III / 1: Familie – Kindheit – Jugend – Gender, Paderborn u. a. (in Vorbereitung). Murdock, George Peter: Social Structure. New York 1949. Peuckert, Rüdiger: Familienformen im sozialen Wandel. 6. Aufl. Wiesbaden 2005.
30 Im Anschluss an M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965. 31 Hierzu zentral Huinink, Warum noch Familie? 32 Vgl. Kaufmann, Zukunft der Familie, S. 151 f.
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Schwab, Dieter: Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 1967. Tyrell, Hartmann: Katholizismus und Familie – Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, in: Religion und Kultur. Sonderheft 33 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen 1993, S. 126 – 149.
Ehe und Familie in christlicher Sicht Von Jürgen Liminski Das Ja vor dem Traualtar hat zwei Komponenten, eine interne und eine externe, man könnte auch sagen eine öffentliche und eine private. Denn der Ehebund ist ein öffentlich geschlossener Konsens zweier Privatpersonen – eines Mannes und einer Frau. Beide Komponenten sind konstitutiv und untrennbar miteinander verwoben. Das Wort Liebe kommt übrigens im Katechismus der Katholischen Kirche im Abschnitt Ehekonsens (Nr. 1625 ff.) nicht vor, obwohl schon Augustinus und Thomas von Aquin bemerkten, dass die Liebe der erste Willensakt überhaupt sei1. Das Ja als Ausdruck des Willens zu diesem Bund ist mithin ein Ja zur Liebe. „Der Konsens muß ein Willensakt jedes der beiden Vertragspartner sein, und frei von Zwang oder schwerer Furcht, die von außen eingeflösst wird“, heißt es in Nr. 1628 des Katechismus. Und weiter: „Keine menschliche Gewalt kann den Konsens ersetzen. Falls diese Freiheit fehlt, ist die Ehe ungültig“. I. Ehe im Wandel der Geschichte Die Liebesheirat als ein „personal freier Akt, in dem sich die Eheleute gegenseitig schenken und annehmen“ (GS 48,1), ist relativ jungen Datums. Früher war die Ehe oft ein Mittel der Heiratspolitik und ihr Zustandekommen meist von ökonomischen Erwägungen geleitet. Liebe als Ehemotiv schied weitgehend aus, wie Anette Völker-Rasor schon vor mehr als zehn Jahren oder Stephanie Coontz mit neuerem Datum nachwiesen2. Die öffentlich-externe Komponente des Ja, das soziale Element überwog. Die Liebesheirat begann Platz zu greifen in den letzten zwei Jahrhunderten mit der Auflösung des Ständestaates, mit dem sozio-ökonomischen Wandel, der den Arbeitsplatz von der Familie, oft auch vom Familienort entfernte, sowie mit dem Aufkommen individuell geprägter Lebensformen und emanzipatorischer Bewegungen. Zur Zeit von Adam Smith etwa war es jungen Frauen verboten, an den Universitäten zu studieren, seit dem Wintersemester 1996 / 97 immatrikulieren sich in Deutschland mehr Frauen als Männer. Universitäten und Fachhochschulen sind heute die Heiratsmärkte par excellence. Die persönliche und private Beziehung, die emotionale und sexuelle Wünsche erfüllen soll, wurde zum Hauptmotiv der Ehe, das die vorwiegend wirtschaftlich-soziale Motivation der Zweckgemeinschaft ablöste. 1 Thomas von Aquin sagt: Die Liebe ist ihrer Natur nach der früheste Akt des Willens und jede Willensregung leitet sich aus der Liebe her, als innebleibender Ursprung; vgl. T. Aquinas, New York 2000, S. 149, auch Summa theologiae II.II, q. 27 und 28. Augustinus wiederum nennt die Liebe den „Urakt des Willens“, den Quellpunkt und Mittelpunkt der Existenz. 2 Vgl. Anette Völker-Rasor, Bilderpaare – Paarbilder. Die Ehe in Autobiographien des 16. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 1993; Stephanie Coontz, In schlechten wie in guten Tagen. Die Ehe – eine Liebesgeschichte. Die Geschichte der Institution Ehe, Bergisch-Gladbach 2006.
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Die Liebesheirat ist in unserer Zeit mit der Auflösung klassischer sozialer Milieus zur Norm geworden. Die Ehe gilt als letzte Zuflucht der Innerlichkeit und Intimität. „Durch die Trennung in einen privaten intimen Raum (Familie) und einen öffentlichen Raum (Politik, Arbeitsmarkt) erfolgte auch eine Neudefinition der Geschlechterrollen, indem der Mann als Ernährer in der außerhäuslichen Welt und die Frau als liebevolle Mutter in der innerhäuslichen Welt agierte. Damit verbunden war die (neue) Vorstellung der Ehe als Intimgemeinschaft. Die intime Beziehung der Partner stand im Mittelpunkt des Familienverbandes. Die „romantische Liebe“ (Peuckert) wurde zum kulturellen Leitbild des Bürgertums. Sie hebt die Besonderheit und Einzigartigkeit des Partners hervor und vernachlässigt die ökonomische Seite einer Verbindung. Sie ist von Dauerhaftigkeit und Exklusivität bestimmt3. Auch die Familie hat im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte, also seit der Industrialisierung und der entstehenden Sozialgesetzgebung, viele Aufgaben der wirtschaftlichen Erhaltung, der Daseinsvorsorge bei Krankheit, Invalidität, Alter usw. an den Staat abgegeben und sich zunehmend auf die Funktionen der Zeugung des Nachwuchses, seiner Sozialisation und auf die Pflege der innerfamiliären Intim- und Gefühlsbeziehungen beschränkt. Aber ihre Kernkompetenz hat sie behalten: die Pflege und die Stabilität der emotionalen Befindlichkeit4. Analog verlief die Entwicklung bei der Ehe. Gerade die Parallel-Entwicklung zeigt, wie wesenhaft Ehe und Familie miteinander verbunden sind und deshalb ist eine Scheidung oft mehr als eine Trennung. Sie ist eine emotionale Katastrophe für die Partner wie für die Kinder. „Die Familie verfügt über große schöpferische Kräfte“, schreibt der amerikanische Soziologe Robin Skynner, „zerfällt sie, wächst ihr ein ähnlich großes Potential an Zerstörungskraft zu“5. Deshalb blendet eine Scheidung oft mehr aus als nur eine gemeinsame Vergangenheit. Sie kann seelisch verstümmeln. Sie kann den Sinn für Gemeinschaft und Treue im Kern spalten, Verlustängste durch Erziehung „vererben“ oder Lebensenergien zerstörerisch zur Explosion bringen. Man könnte den Pendelausschlag zur Individualisierung als Zeiterscheinung abtun. Aber im Fall von Ehe und Familie hat er eine gesellschaftliche Relevanz. Zunächst: Die Ich-Gesellschaft – ein soziologischer Begriff – ist in allen Ländern Europas eine dominierende Größe, überall boomt der Single-Markt, klettern die Wachstumskurven von Tiefkühlfirmen und -produkten stetig nach oben, steigen die Scheidungszahlen (bis 2004) oder stagnieren im Vergleich zur Zahl der Eheschließungen auf hohem Niveau, nimmt die Zahl der außerehelichen Kinder rasant zu. Mittlerweile wird in Frankreich fast jedes zweite Kind außerhalb einer Ehe geboren. Im sogenannten Musterland Schweden sind es 55 Prozent und im Osten Deutschlands sind es rund 45 Prozent der Kinder, im Westen etwa 15 Prozent6. Hinzu kommt die Relativierung der Ehe durch gleich3 Michael Mehlich, Das Verhältnis von Familie und Arbeitsmarkt unter dem Blickwinkel der Figurationstheorie von Norbert Elias, in: E. Jürgen Krauß / Michael Möller / Richard Münchmeier (Hrsg.), Soziale Arbeit zwischen Ökonomisierung und Selbstbestimmung, Kassel 2007, S. 111. 4 Zur Begründung mit entsprechenden Literaturhinweisen siehe Jürgen Liminski, Die verratene Familie – Politik ohne Zukunft, Augsburg 2007, insbesondere S. 103 ff.; ders., Erziehung: Kernkompetenz der Familie, Reihe „Kirche und Gesellschaft“, Nr. 335, und (erweitert): Erziehung – Kernkompetenz der Familie, in: Lexikon Familie, hrsg. vom Päpstlichen Rat für die Familie, Paderborn 2007, S. 196 – 206. 5 A. C. Robin Skynner, Die Familie – Schicksal und Chance. Handbuch der Familientherapie, Freiburg i. Br. 1978, S. 9. 6 Vgl. Jürgen Liminski, Familienpolitik à la française – was wir von Frankreich lernen können und was nicht, in: ders., Erbfreunde, Deutschland und Frankreich im 21. Jahrhundert, Erfurt 2007, S. 83 – 102, hier S. 85 ff.
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geschlechtliche Partnerschaften. Im amerikanischen Wochenblatt Weekly Standard folgert Stanley Kurt aus diesen Tendenzen bereits im Jahr 2004: „Die Ehe stirbt langsam aus in Skandinavien, die Mehrheit der Kinder in Schweden und Norwegen werden außerhalb der Ehe geboren und in Dänemark sind die Eltern von sechzig Prozent der erstgeborenen Kinder nicht verheiratet. Es ist kein Zufall, dass in diesen Ländern seit mehr als einer Dekade die „Homo-Ehe“ hofiert und debattiert wird. Gleichgeschlechtliche Paare gehören zum Alltag und haben den in Skandinavien bereits vorherrschenden Trend bestärkt, Ehe und Elternschaft zu trennen. Das nordische Familienmuster – inklusive die gleichgeschlechtliche Partnerschaft – breitet sich über ganz Europa aus. Und wenn man es aus der Nähe betrachtet, dann kann man eine Antwort auf eine Schlüsselfrage finden, die hinter der Debatte um die „Homo-Ehe“ steht: Können diese Partnerschaften das Institut der Ehe aushöhlen oder ihm schaden? Die Antwort ist: Sie tun es bereits“. Auch in Deutschland steigt zwar die Zahl der ohne Trauschein lebenden Paare kontinuierlich; vor zwanzig Jahren waren es in Deutschland 5,8 Prozent aller Paare, heute sind es knapp doppelt so viel. Aber daraus lässt sich kein Ende der Ehe ableiten, wie etliche Medien das eilfertig tun. Der Mikrozensus in Deutschland (2006) sagt auch: Fast neun von zehn Paaren leben in ehelicher Gemeinschaft. Der Anstieg der nichtehelichen Partnerschaften verläuft also recht langsam. Das gilt auch für Frankreich. Signifikant war der Anstieg – übrigens wie in Deutschland – in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor allem bei jüngeren Paaren. Es wäre verfehlt zu glauben, dass die hohen Scheidungszahlen zu einer generellen Entwertung der Ehe führten. Im Gegenteil: Sie machen die Ehe für die Ehepartner eher attraktiver, weil man bewusster diesen Bund eingeht. Dem entspricht, dass seit 2005 die Scheidungszahlen stagnieren oder rückläufig sind. Hinzu kommt der Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme, eine Unsicherheit, die den Wert von Ehe und Familie als privates Vorsorgesystem steigert. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, was Benedikt XVI. in seinem Jesus-Buch so formuliert hat: „Die Familie ist der Kern aller Sozialordnung“7 – und die Ehe als Voraussetzung für stabile Familien ist der Kern des Kerns.
II. Stabilität für das Gemeinwesen Auch Ehe und Familie gehören zu den Voraussetzungen, die der Staat nicht schaffen kann, von denen er aber lebt (Ernst-Wolfgang Böckenförde). Zum Beispiel ist der Sinn für Solidarität und Nächstenliebe einer der Gründe, warum das Grundgesetz in Artikel 6 Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt8. Die Ehe nutzt dem Staat. Stabile Beziehungen senken die Risiken von Armut und Krankheit und erhöhen die Lebenserwartung und Lebenszufriedenheit 9. Das gilt auch für Kinder.10 Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Freiburg i. Br. 2007, S. 153. Vgl. Heinz Lampert, Priorität für die Familie – Plädoyer für eine rationale Familienpolitik, Berlin 1996, S. 10. 9 Ehe ist gut für die Gesundheit. Das hat die Verhaltensforscherin Linda Waite von der Universität Chicago erforscht. Verheiratete Männer leben gesünder und länger als unverheiratete, verheiratete Frauen ebenso. Auch Wissenschaftler von der britischen Warwick-Universität kamen bei einer Langzeitstudie zu diesem Schluss. Demnach weisen verheiratete Männer ein um neun Prozent geringeres Sterberisiko auf als Singles. Bei Frauen sind es immerhin noch drei Prozent. Geradezu 7 8
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Letztlich kommt dies nicht nur den Partnern, sondern auch der Allgemeinheit zugute. Diese sogenannten positiven externen Effekte sind empirisch in zahlreichen Studien nachgewiesen,11 weshalb Fachleute bei der Ehe auch von einem „kulturellen Kapital“12 sprechen. Dieses Kapital ist auch gesellschaftspolitisch bedeutsam. Es stärkt die Sozialsysteme und die Wirtschaft. In Zeiten instabiler Renten und anderer wachsender Risiken aufgrund der demographischen Entwicklung ist die Ehe eine Lebensversicherung besonderer Art. Sie schafft einen Rahmen, in dem nicht nur Emotionen gedeihen können, sondern aus dem auch Stabilität für das Gemeinwesen erwächst. Das ist in einer Zeit, die der Arbeit den Vorrang vor dem Leben einräumt durchaus von Belang. Viele Politiker und Medienleute leben in Stress und Zeitnot. Personale Beziehung aber braucht Zeit. Das gilt für das Kleinkind und für Erwachsene. Ohne Zeit füreinander droht die Beziehung zu verdunsten. Wenn der Beruf zeitlich überhand nimmt, kann die Ehe gefährdet werden. An der Wallstreet und im Silicon Valley, wo, wie Edward Luttwack sagt, der Turbokapitalismus wüte und die Beziehungszeit der Menschen absorbiere, betrage die Scheidungsrate fast hundert Prozent.13 Dort wird die Zeit vom Job verschluckt, dort ist der Stress mit am stärksten. Der Doppelkern Ehe und Familie ist kein Garant für Stabilität, aber ein sozialer Rahmen, in dem Stabilität gedeihen kann und soziale Außenwirkung entfaltet, sofern der Wert dieser Institutionen auch gesellschaftlich und politisch anerkannt wird. Eine noch höhere Stabilität erwächst aus einer anderen Kombination: Ehe und Religion. Nach einer amerikanischen Umfrage zerbrach jede zweite von nur standesamtlich geschlossenen Ehen, jede dritte von kirchlich geschlossenen Ehen, aber nur jede fünfzigste von kirchlich verheirateten Paaren, die auch zusammen zur Kirche gehen. Die Tendenz dieser Umfrage wird bestätigt durch Studien neueren Datums. W. Bradford Wilcox und Steven Nox haben die Stabilität von Ehen in Bezug auf den wöchentlichen Besuch des Gottesdienstes untersucht und einen höheren Grad von Stabilität und Glück im Vergleich zu unverheirateten Paaren ausgemacht.14 Aber auch in Deutschland lassen sich aus der Datenbasis der vierten Welle des Deutschen Familiensurveys deutliche Zusammenhänge zwischen Stabilität und Glauben für die Ehe erkennen, insbesondere dann, wenn die Ehe als unauflöslich angesehen wird. So haben katholische Ehen im Vergleich zu anderen Bekenntnissen ein geringeres Scheidungsrisiko, und zwar sowohl in der Elterngeneration als auch in der nachfolgenden Generation. Und so ist im Westen Deutschlands das Scheidungsrisiko katholischer Ehen rund ein Drittel geringer im Vergleich zur Referenzgruppe, die hauptsächlich evangelische Ehe umfasst. Gemeinsam ist sprunghaft steigt das Gesundheitsrisiko bei Geschiedenen. Vgl. Waite, Linda, J. / Gallagher, Maggie, The Case for Marriage, New York 2000. 10 Vgl. El matrimonio importa. Veintiseis conclusiones de las ciencias sociales, Social Trends Institute, New York u. a. 2006, S. 49 ff. 11 Die Heritage Foundation hat Studien aus Zeitschriften, Fachbüchern und offiziellen Umfragen zusammengetragen und katalogisiert und so einem breiteren Publikum zugänglich gemacht: www.familyfacts.org. 12 Zum Beispiel André Habisch, Unter besonderem Schutz. Zum schwindenden Ansehen von Artikel 6 des Grundgesetzes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Juli 2002, S. 8. 13 Edward Luttwack, Turbokapitalismus – Gewinner und Verlierer der Globalisierung, Hamburg u. a. 1999. Vgl. auch Michael Mehlich, der vom „Zeitwohlstand“ als neuer Priorität für das Beziehungsgeflecht spricht: a. a. O., S. 125 ff. 14 What’s Love got to do with it?, in: Social Forces 3 (2006), S. 1321 – 1345.
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Ost und West die Richtung und Stärke des Effekts kirchlicher Heirat. Ehen, die kirchlich getraut wurden, haben ein um rund 50 Prozent vermindertes Scheidungsrisiko als nur standesamtlich getraute Ehen.15 Soziologen der Auburn-Universität in Alabama haben 2004 herausgefunden, dass es auch auf die Art der Religion und Kirchenbindung ankommt. Zuviel Vielfalt könne der Ehe auch schaden16. Entscheidend für das Gelingen einer Ehe sei auch das „religious makeup of a community“ – das religiöse Gefüge einer Gemeinde, und nicht nur die Religiosität des Paares. Da, wo die Menschen in relativ homogenen religiösen Rahmenbedingungen (relatively homogeneous religious settings) lebten, gebe es signifikant weniger Scheidungen17. Scheidungen sind ein Phänomen unserer Zeit, die Wertschätzung der Ehe allerdings auch. Das Paradoxon moderner Gesellschaften liegt, wie der Züricher Soziologe François Höpflinger sagt, in der Koexistenz traditioneller und moderner Partnerschafts- und Familienformen18. Diese Gleichzeitigkeit von Wandel und Kontinuität kommt auch in Umfragen zum Ausdruck. Einerseits gibt es den Wunsch, die Gesellschaft möge künftig mehr Wert auf das Familienleben legen (in Deutschland 91 Prozent aller Befragten, in Frankreich 89 Prozent, in Großbritannien 88 Prozent). Andererseits gibt es die Meinung, die Gesellschaft in Deutschland werde egoistischer, kälter (71 Prozent), Geld werde wichtiger, die Menschen materialistischer (68 Prozent).19
III. Was hält Ehe und Familie zusammen? Mit dem Vordringen des Wettbewerbsgedankens und ökonomischer Denkweisen in alle Lebensbereiche, mithin auch in Ehe und Familie, sind Individualisierung und Ökonomisierung heute zu wichtigen Faktoren bei der Ehegestaltung geworden. Sie sind aber auch gleichzeitig die Achillesferse der modernen Ehe, wenn diese nicht als Liebesbund im christlichen Sinne, sondern als Marktgeschehen im Sinne von Angebot und Nachfrage verstanden wird. Zum einen könnte man bei der Suche nach einem geeigneten Ehepartner der Versuchung erliegen, den perfekten Mann, die perfekte Frau finden zu wollen, so wie man auf dem Markt nur das Beste erwerben möchte. Aber der Prinz oder die Prinzessin ist eine Wunschvorstellung, die der „anthropologischen und heilbringen15 Vgl. Andreas Diekmann / Henriette Engelhardt, Alter der Kinder bei Ehescheidung der Eltern und soziale Vererbung des Scheidungsrisikos, Working paper des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung, Rostock 2002, S. 8 f. 16 Larry C. Mullins u. a., The impact of Religious Homogeneity on the Rate of Divorce in the United States, in: Sociological Inquiry 74 (2004), S. 338 – 354. Sehr aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist auch die umfangreiche Arbeit von Patrick Francis Fagan, Belonging and Rejection in Family and Religion – Impacts on Society and Implications for Policy, Manuskript, S. 104 ff. (im Druck). 17 Ebd., S. 351; auch Patrick Fagan kommt zu diesem Schluss, differenziert außerdem noch zwischen bikonfessionellen Ehen und unterschiedlichen Familienmodellen, a. a. O., S. 292 ff. 18 François Höpflinger, Haushalts- und Familienstrukturen im innereuropäischen Vergleich, in: Stefan Hradil / Stefan Immerfall (Hrsg.), Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Opladen 1997, S. 97 – 129, hier 128; vgl. auch Thomas Meyer, Familienformen im Wandel, in: Rainer Geissler (Hrsg.), Die Sozialstruktur Deutschlands, Opladen 1996, S. 306 ff., und Rüdiger Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, Wiesbaden 2004, insbes. S. 43 ff. 19 Elisabeth Noelle-Neumann / Renate Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1998 – 2002, Bd. 11, München 2002, S. 16.
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den Wahrheit der Ehe“20 nicht gerecht wird. Das Sakrament der Ehe spendet den göttlichen Beistand, um im Stand der Ehe gemeinsam, notfalls auch allein, zur Heiligkeit zu gelangen. Es liefert nicht den perfekten Partner. Es kommt darauf an, selbstlos zu lieben, das heißt auch in Wahrheit zu lieben. Das macht, wie der Apostel Paulus sagt, frei. Hier fließen die Worte vom Hohenlied der Liebe und von der Freiheit des Christenmenschen zusammen. Kardinal Ratzinger formulierte es so: „Die Liebe allein tut es nicht, nur wenn Liebe und Wahrheit übereinstimmen, dann wird der Mensch frei“21. Mit anderen Worten: Die Frage lautet nicht, kann er / sie mich glücklich machen, sondern wie kann ich ihn / sie glücklich machen? So entstehen gemeinsames Bemühen und Lieben. In diesem Sinn argumentierten schon die Kirchenväter Johannes Chrysostomus und Augustinus, und das nicht nur, um die Unauflöslichkeit der Ehe, sondern auch um das Wohlergehen der beiden Ehepartner zu begründen22. Das Christentum hat die Ehe immer als Antwort auf die sozialen Ansprüche und individuellen Sehnsüchte nach Liebe, Geborgenheit und Sinngebung verstanden. Die Beziehung zwischen Mann und Frau galt stets als die engste menschliche Beziehung, als die Ur-Beziehung, wie sie Gott gewollt hat. Das setzt den Freiraum der Intimität voraus. Das ist der Raum der Bedingungslosigkeit. In ihm werden wir nicht danach bemessen, was wir leisten oder haben, sondern wie wir sind. Intimität ist die Grundfolie des Seins. Dieser Raum der Intimität und des Urvertrauens ist auch das Grundmuster der Familie. Es ist bezeichnend, dass der Große Brockhaus und auch andere große Lexika diesen Begriff fast nur in Verbindung sehen mit Intimsphäre, Sexualität. Aber es ist mehr. Intimität ist das Innerste, ist unbedingtes Vertrauen, Urvertrauen. Sie ist das Wohnzimmer des Humanums. Das ist der Ort, wo der Mensch sozusagen sich selbst begegnet. Intimität ist vor allem eine geistige Dimension. Sie gehört zum Menschsein. In ihr wohnt das Ich. Sie ist der Mantel für die anthropologische Aussage, dass der Mensch nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen ist. Und weil die Begegnung der Ehepartner in diesem Raum so bedingungs- und rückhaltlos, so existentiell naturgegeben ist, ist die Verbindung auch unauflöslich. So argumentieren schon die großen Theologen.23 Das Meinungsforschungsinstitut Emnid befragte Ende 2003 im Auftrag der Zeitschrift Readers Digest 1000 repräsentativ ausgewählte Ehepaare zum Thema Sexualität. Demnach reden 79 Prozent über das gemeinsame Liebesleben. Allerdings finden 20 Benedikt XVI., Ansprache am 15. Februar 2007 an die Mitglieder des Gerichtshofes der Römischen Rota. 21 Predigt am 18. April 2005, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 168, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn, S. 14. Vgl. auch Joseph Kardinal Ratzinger, Zeitfragen und christlicher Glaube, Würzburg 1982, S. 12 ff.; Johannes Paul II. spricht in Veritatis splendor sogar von der „grundlegenden Abhängigkeit der Freiheit von der Wahrheit“; vgl. Johannes Paul II., Veritatis splendor, Enzyklika an alle Bischöfe der katholischen Kirche über einige grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1993, Nr. 31. 22 Vgl. Johannes Stöhr (Hrsg.), Ehe und Familie im Lichte christlicher Spiritualität, Handbuch kirchlicher Texte, Bamberg 2000, S. 59 f. und S. 61 f. 23 Bei Thomas von Aquin heißt es in der Summe gegen die Heiden (Summa contra gentiles III cap. 123 n. 6): „Je größer eine Freundschaft ist, desto fester und beständiger ist sie. Die größte Freundschaft aber besteht offenbar zwischen Mann und Frau. Sie vereinen sich ja nicht nur im Akt leiblicher Verbindung . . . , sondern auch zur Gemeinsamkeit der ganzen häuslichen Lebensgemeinschaft. Zum Zeichen dafür verlässt daher der Mann um seiner Gattin willen auch Vater und Mutter, wie es in Gen 2,24 heißt. Daher ist es angemessen, dass die Ehe absolut unauflöslich ist“.
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32 Prozent, dass in ihrer Ehe nicht genügend Zeit für zärtliche Begegnungen aufgebracht werde. Das hat mit dem Fernsehen, dem großen Zeitschlucker, zu tun und auch mit dem ökonomistischen Denken in unserer Gesellschaft, in der der Betrieb oft mehr zählt als Ehe und Familie. Die Grenzen zwischen „Arbeitsfamilie“ und Familienarbeit verschwimmen. Die Zeitschrift zieht den Schluss: „Ein erfülltes Liebesleben trägt zum Eheglück bei, aber es gibt Dinge, die sind wichtiger. Etwa mit dem Partner über alles reden können“24. Es gilt generell die Formel: Sex ist Silber, Intimität ist Gold, am wertvollsten ist wohl beides. Auch die körperliche Liebe bedarf immer wieder der Bestätigung; der Vollzug der Ehe, die Hingabe braucht die Aktualisierung, das Jetzt in Raum und Zeit. Der Leib ist das Gut der vollständigen Hingabe. „Wir haben keinen Körper, wir sind Körper“, schreibt Johannes Paul II. und erklärt diesen innersten Kern anthropologischer Wirklichkeit, die da Leib heißt: „Das Geschlecht ist mehr als die geheimnisvolle Kraft der menschlichen Leibhaftigkeit, die gleichsam instinktmäßig handelt. Auf der Ebene des Menschen und in der wechselseitigen Beziehung der Personen ist das Geschlecht Ausdruck einer immer neuen Überwindung der Grenze der Einsamkeit des Menschen, die seiner körperlichen Verfassung innewohnt und seine ursprüngliche Bedeutung ausmacht. Diese verlangt immer, die Einsamkeit des Leibes des anderen ,Ich‘ so wie die des eigenen ,Ich‘ anzunehmen“. Die gefundene Einheit im Leib („sie werden ein Fleisch“, Gen 2,24) enthalte zwei sich ergänzende Dimensionen des Selbstbewusstseins. Die Frau „entdeckt in gewissem Sinn sich selbst angesichts des Mannes, während der Mann durch die Frau seine Bestätigung erfährt“25. Es geht darum, existentiell angenommen zu sein, sozusagen mit Haut und Haaren. Aus dieser gegenseitigen Hingabe und Annahme kann neues Leben erwachsen, kann Schöpfung aus Liebe geschehen, kann vom Innersten heraus die Liebe belebt und die Beziehung verwirklicht werden, kann die Wirklichkeit der Liebe ins Leben treten. „Kinder sind sichtbar gewordene Liebe“, schrieb der Frühromantiker Novalis. In der Zeugung und gegenseitigen „Erkenntnis“ wiederholt und erneuert sich das Schöpfungsgeheimnis, das „Erkennen“ ist Teilhabe an der Schau des Schöpfers26. Die Interdependenz zwischen Intimität und Glück, Vertrauen und erfüllter Sexualität bewirkt, dass dort, wo der Partner / die Partnerin eine außereheliche Beziehung hat, die Zustimmung zur Aussage „Ich bin glücklich verheiratet“ um mehr als 30 Prozent weit unter den Durchschnitt fällt. Nur 55 Prozent bejahen die Frage, ob das Paar nach einer Affäre wieder zusammengefunden habe27. Das Misstrauen aber bleibt lange. Die VerReaders Digest, Dezember 2003, S. 58. Johannes Paul II., Mann und Frau schuf er – Grundfragen menschlicher Sexualität, München u. a. 1982, S. 42 f.; vgl. auch Johannes Paul II., Mulieris dignitatem, Apostolisches Schreiben über die Würde und Berufung der Frau anläßlich des Marianischen Jahres, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1988, Nr. 6. 26 Thomas von Aquin nennt die Geschlechtskraft ein „überragendes Gut“ und meint, dass auch ohne den Sündenfall die Fortpflanzung des paradiesischen Menschen durch die geschlechtliche Vereinigung geschehen wäre und dass das Erlebnis der Sinne dabei tiefer gewesen wäre als heute, weil der Mensch eine reinere Natur und einen sensibleren Leib gehabt hätte; vgl. Summa theologiae II.II, q. 153, a. 2 c. 27 Es ist keineswegs so, dass Untreue ohne weiteres überwunden werden kann, wie die Studie des Göttinger Psychologen Ragnar Beer mit 3334 Frauen und Männern zeigt. Es dauert Jahre, bis die Wunden verheilt sind. 24 25
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wundung kann als existentiell empfunden werden und nur der Liebe dürfte es gelingen, diese Wunde heilen zu lassen. Der französische Psychiater Dominique Megglé schrieb 2002 in der Zeitschrift „Famille Chrétienne“: „Es ist in bestimmten Fällen unmöglich zu vergeben. Manche Menschen haben solch traumatische Schrecknisse erlebt, dass die Forderung, du musst dem Vergewaltiger deiner Tochter verzeihen oder dem Mann, der dir deine Frau weggenommen hat, oder demjenigen, der dein Kind getötet hat, diesen Menschen verständlicherweise unfähig macht zu vergeben. Diese Unfähigkeit wiederum ruft bei ihnen Schuldgefühle hervor. Wenn solche Patienten, von denen ich weiß, dass sie Christen sind, zu mir kommen, sage ich ihnen: ,Christus wird an Ihrer Stelle verzeihen. Das Böse ist eine zu große Macht für uns. Legen Sie diese Geschichte in Seine Hände und an Sein Herz, lassen Sie Ihn das machen. Er, der Allmächtige, kann vergeben . . .‘ Nach diesen Worten stelle ich meist eine Befriedung fest und dieser innere Frieden führt manchmal auch zur Vergebung. Denn ohne ein befriedetes, ruhiges Herz kann es keine Vergebung geben“. Hier zeigt sich ein genuin christlicher Wesenszug der Ehe. In der Kraft des Sakramentes, in der Kraft der Gottbezogenheit ist Vergebung möglich, weil die göttliche Barmherzigkeit die Vergebung aller Verfehlungen und Sünden ermöglicht, auch die Verletzung der exklusiven Intimität. Der ökonomistisch geprägten Konsumgesellschaft fehlt diese geistige Dimension. Die Wegwerf-Gesellschaft kämpft nicht um den Erhalt von Beziehungen, sie „recycelt“ sie nur, indem sie die Form und Kombination der Beziehungen wechselt. So aber geht das Bewusstsein für Privatheit und Intimität verloren und damit auch die Stabilitätskraft der ehelichen Institution für die Gesellschaft. Wer Ehe und Familie schwächt, löst die inneren Bindekräfte der Gesellschaft, betreibt indirekt den Zerfall des Gemeinwesens.
IV. Ehe als christliche Berufung Erziehung und Beziehung, Kinder und Ehepartner, brauchen diesen Raum des Urvertrauens. Ihn zu gestalten erfordert Zeit. Man könnte auch sagen: Ehe und Familie brauchen die existentiellen Bedingungen und Umstände von Intimraum und Intimzeit. Sie sind ihre conditio humana. Ohne sie verlieren wir uns in funktionaler Geschäftigkeit, ohne sie baut sich kein Vertrauen auf, auch wenn alles funktioniert. Ohne Raum und Zeit für die vertrauensvolle Beziehung laufen wir Gefahr, das Herz zu verschütten. „Liebe ist letztlich ein Geschenk, widerfahrene Gnade“, erinnerte Kardinal Ratzinger, „man entschließt sich nicht einfach zu ihr. Sie hat den Charakter der Antwort und ist daher zuerst dem verdankt, was von der anderen Person her auf mich zukommt, in mich eindringt und mich öffnet, Du zu sagen und so wahrhaft Ich zu werden. Sie ist mir eigentlich vom anderen geschenkt und doch bin ich daran tiefer und umfassender beteiligt als an irgendeinem Werk, das aus meinem eigenen Entschluß hervorgeht“28. Die christliche Ehe lebt von der Beziehung zu Gott, der die Liebe ist. Deshalb ist sie Lebensmitte und Lebensrahmen zugleich. Das war sie von Anfang an. Tertullian etwa schreibt zu Beginn des dritten Jahrhunderts geradezu schwärmend: „Wie vermag ich das Glück jener Ehe zu schildern, die von der Kirche geeint, vom Opfer gestärkt und 28
Zeitfragen und christlicher Glaube, a. a. O., S. 4.
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vom Segen besiegelt ist, von den Engeln verkündet und vom Vater anerkannt? . . . Welches Zweigespann: Zwei Gläubige mit einer Hoffnung, mit einem Verlangen, mit einer Lebensform, in einem Dienste; Kinder eines Vaters, Diener eines Herrn! Keine Trennung im Geist, keine im Fleisch . . . Wo das Fleisch eins ist, dort ist auch der Geist eins“29. Johannes Paul II. drückt es in seinem Apostolischen Schreiben Familiaris consortio so aus: „Die eheliche Liebe hat etwas Totales an sich, das alle Dimensionen der Person umfasst . . . sie ist auf eine zutiefst personale Einheit hingeordnet, die über das leibliche Einswerden hinaus dazu hinführt, ein Herz und eine Seele zu werden“30. Und Papst Benedikt XVI. schreibt: „Das Sakrament der Ehe ist keine Erfindung der Kirche, sondern es ist wirklich mit dem Menschen als solchem mit-geschaffen worden, als Frucht der Dynamik der Liebe, in der Mann und Frau einander finden und so auch den Schöpfer finden, der sie zur Liebe berufen hat“31. In der gültig geschlossenen Ehe ist der Ehepartner sozusagen das Gestalt gewordene Sakrament. Man könnte auch sagen: Die Berufung zur Ehe ist im Ehepartner Fleisch geworden. Bei der Ehe geht es um die Freundschaft des Lebens. Die Ehe ist, wie Paul VI. in der Enzyklika Humanae vitae schreibt, die „innigste und umfassendste Form personaler Freundschaft“32. Thomas von Aquin hat die Gedanken des großen Griechen Aristoteles zur Freundschaft aus der nikomachischen Ethik aufgegriffen und bezeichnete sogar die Gottesliebe als „eine Art Freundschaft des Menschen mit Gott“33. Aus dieser Definition heraus erscheint es nur natürlich, dass der Codex des kanonischen Rechts als eine der zwei Hauptaufgaben der Ehe „das Wohl der Ehegatten“ anführt. Das ist das Ziel. Das gemeinsame Wohl in der Liebe, genauer: in der Gottesliebe. Dieses Ziel umfasst das Wesen und deshalb geht die eheliche Freundschaft auch so tief. Deshalb ist sie unauflöslich. „Was Gott verbunden hat, darf der Mensch nicht trennen“ (Mk 10,9). So verstandene eheliche Liebe verlangt auch Verzicht und Hingabe. Sie schenkt aber auch Freude und Erfüllung. Die heutige Emotionalisierung der Gesellschaft, vor allem durch das Fernsehen, und der anhaltende Trend zur Individualisierung erschweren diese Erfüllung und bedrohen die partnerschaftliche Ehe, weil und sofern die Tiefe der Wahrheit – „sie erkannten einander“ – fehlt. Eine gängige Reaktion ist die Flucht in eine überkommene, feste Rollenverteilung, in die Routine. Sie aber führt auf Dauer ins familiäre und eheliche Getto. Die Zahl der Scheidungen gerade nach 20, 30 und mehr Jahren Ehe steigt. Die Kinder sind aus dem Haus, der Mann ist, nach seiner Pensionierung, im Haus – manche Paare werden mit der neuen Situation nicht fertig und trennen sich. Sie haben sich nichts zu sagen, weil sie nicht miteinander redeten.
29 Ad uxorem, II, 8, 6 – 9. Zitiert bei: Johannes Stöhr (Hrsg.), a. a. O., S. 34 f.; vgl. Johannes Paul II., Familiaris consortio, Apostolisches Schreiben über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1981, Nr. 13. 30 Familiaris consortio, Nr. 13; vgl. auch Paul VI., Humanae vitae, Enzyklika über die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1968, Nr. 9. 31 Ansprache an Jugendliche des Bistums Rom zum XXI. Weltjugendtag am 6. April 2006. 32 Humanae vitae, Nr. 8 – 9. 33 Summa theologiae II.II, q. 27, a. 1.
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V. Die Bedeutung der Kommunikation Es gibt natürlich keine fertigen Rezepte gegen das Schweigen oder Vielreden. Das Maß der Kommunikation ist eine Frage der Person und ihres Persönlichkeitsraums. Und der Kommunikation selbst. In den siebziger Jahren kam – vor allem an der Münchner Universität und ihrer Denkwerkstatt der Publizistik – eine Theorie auf, nach der es bei der Kommunikation weniger auf das gesprochene Wort als auf das Sprechen selbst und seine Umstände ankomme. Es ist die Theorie vom Kommunikationsraum. Sie wurde später vielfach bestätigt. In der Tat ist nicht nur der Inhalt eines artikulierten Sachverhalts entscheidend, um andere Menschen von ihm zu überzeugen, sondern mehr noch die Körpersprache, die Stimme, der Augenkontakt. Kommunikation ist eben nicht nur eine Sache des Verstandes. Das Herz hat Gründe, die der Verstand nicht begreift, sagt Blaise Pascal, und Jean-Jacques Rousseau kam zu dem Ergebnis: „Der Mensch, das soziale Wesen, ist immer wie nach außen gewendet: Lebensgefühl gewinnt er im Grunde erst durch die Wahrnehmung, was andere von ihm denken“34. Ohne anerkennende Beziehung ist der Mensch nicht denkbar. Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei, heißt es schon in der Genesis, und die Zehn Gebote regeln die Beziehungen des Menschen, zunächst zu Gott (die ersten drei Gebote) und dann zu den Mitmenschen, wobei die Ehe einen besonderen Platz einnimmt. Sie ist der menschlich intimste Kommunikationsraum. Sie erkannten einander, heißt es bezeichnenderweise im Alten Testament, wenn vom ehelichen Akt die Rede ist. Die Anerkennung durch Kommunikation ist existentiell. Wer heiratet, tut dies in der Regel, um glücklich zu werden mit diesem Menschen, der ihm / ihr anvertraut und angetraut ist. Hier wird der innere Zusammenhang deutlich zwischen Glück und Wahrheit, mithin auch über das Wesen der Kommunikation. Sie muss wahrhaftig sein. Augustinus kleidete es in die Worte: „Das glückliche Leben ist nichts anderes als die Freude, welche die Wahrheit erzeugt. Und diese Wahrheit findet man in Dir, Herr, in Dir der höchsten Wahrheit“35. Die Kommunikation im intimen Raum der Person lebt von der Voraussetzung der Wahrheit. Die Erkenntnis muss auf der Wahrheit ruhen. Deshalb ist die Aufrichtigkeit für die Kommunikation in der Ehe unverzichtbar. Das erfordert sicher manchmal auch den Mut, eigene Schwächen und Fehler einzugestehen. Aber ohne das Bemühen um unbedingte Aufrichtigkeit läuft das Schiff der Ehe Gefahr, auf eine Sandbank aufzulaufen oder gar an den Klippen des Lebens zu zerschellen. Wie sieht das konkret aus? Eigene Wünsche und Erwartungen müssen mit denen des Partners abgestimmt werden. Das kann durch Gesten, Haltungen, Blicke und Worte geschehen. Geschieht es nicht, kann es zu Enttäuschungen kommen. Die geheimen Wünsche müssen kommuniziert werden. Sie müssen aus der singulären Intimität heraus in den Raum der Zweisamkeit. „Was nur einer weiß, weiß keiner“, sagt der Philosoph Wittgenstein in verblüffender Klarheit. Selbstbezogene Grübeleien und Geheimniskrämereien verzerren die Kommunikation. Die Wahrheit beginnt zu zweit. Kommunikation ist zunächst eine Frage des persönlichen Stils. Sprache, nicht nur die gesprochene und geschriebene, ist „die Physiognomie des Geistes“, meinte Schopenhauer; sie ist „der Geistleib des Menschen“, so Humboldt. Sie kann grobschlächtig und 34 35
Zitiert von Elisabeth Noelle-Neumann, Die soziale Natur des Menschen, München 2002, S. 53. Augustinus, Bekenntnisse, 10. Buch, 23. Kapitel.
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holzschnittartig sein und auf Ansprüchen und Rechten beharren. Sie kann überaus feinfühlig und exzessiv ziseliert daherkommen, schön, aber verwirrend. Es gibt keine allgemeingültige Grammatik für die Sprache der Ehe. Jedes Ehepaar findet, ja erfindet seine eigene Sprache, weil es in seinem eigenen, unverwechselbaren Kommunikationsraum lebt. Dieser Raum ist organisch, er entwickelt sich. Oder er wuchert dahin. Was sich allgemein sagen lässt ist dies: Ehepartner sollten aktiv an diesem Kommunikationsraum arbeiten, am besten auch gemeinsam. Die Sprache der Liebe, auch des Leibes, sollte gelegentlich thematisiert werden, nicht nur in puncto Sexualität, sondern auch bei den vielen anderen Ausdrucksformen der Liebe. Dazu gehören Offenheit und Aufrichtigkeit. Sie sind Schlüsselelemente zum Verständnis der persönlichen Grammatik. Auch der Großmut zum Öffnen des eigenen Herzensbuches gehört dazu. Und das feinfühlige Bemühen, es dem anderen leichter zu machen, sein Herz zu öffnen. Diese Offenheit verobjektiviert in einem positiven Sinn, sie schafft Distanz zum Ich und Zuwendung zum Du. Johannes Paul II. sieht darin das Geheimnis des Glücks. In seiner Ansprache an die Jugend in Paris formuliert er es so: „Wer großmütig ist, weiß ganz selbstlos Liebe, Verständnis, materielle Hilfe zu geben. Er gibt und vergisst, was er gegeben hat und darin liegt sein ganzer Reichtum. Er hat entdeckt, dass Lieben wesentlich bedeutet, sich für andere hinzugeben. Weit entfernt davon, eine gefühlsmäßige, instinktmäßige Zuneigung zu sein, ist die Liebe vielmehr eine bewusste Willensentscheidung, auf die anderen zuzugehen. Um wahrhaft lieben zu können, muß man sich von allen Dingen und vor allem von sich selbst absehen und unentgeltlich geben können. Diese Selbstentäußerung – ein Werk, das lange Zeit beansprucht – ist mühsam und erhebend. Sie ist die Quelle des inneren Gleichgewichts. Sie ist das Geheimnis des Glücks“36. Zur unbefangenen Erkenntnis des anderen gehört sicher auch das Bemühen, die Unterschiede in der Psyche zwischen Mann und Frau kennenzulernen. In der Dualität der Personen liegen nicht nur Ergänzung, sondern auch Erfüllung. Das setzt voraus, seine eigene innere Begrenztheit wahrzunehmen und damit auch seinen Bedarf an Ergänzung, vor allem in der Erziehung der Kinder. Über die Dualität sind Bibliotheken geschrieben worden. Der Feminismus hat sich an diesem Thema ausgetobt, übrigens mit fatalen Folgen für die moderne Gesellschaft. Es mag genügen, in diesem Zusammenhang an das weise Wort von Jutta Burggraf zu erinnern: „Das eigentliche Problem unserer Zeit liegt nicht in der Emanzipation, sondern in der Identität“37. Nur die zwei Originale, Mann und Frau, werden zur Ergänzung, zur Erfüllung des Menschseins gelangen. Es schadet daher nicht, sich über hormonale Prozesse und Bedingtheiten bei Mann und Frau kundig zu machen. Das fördert das Verständnis für Launen und Zustände und erleichtert auch Einblicke in das eigene Verhalten. Die Chemie der Gefühle ist eine reale Wirklichkeit. Sie erklärt allerdings nur die Prozesse, sie beeinflusst, aber sie bestimmt nicht den freien Willen. Der Mensch ist mehr als Chemie. Trotzdem ist es sinnvoll, sich dieser Prozesse im Menschsein bewusst zu sein, sie sind Teil von Kommunikationsprozessen. 36 Ansprache an die Jugend in Paris am 1. Juni 1980. www.vatican.va / holy-father / john_paul_ ii /speeches /1980/june /documents /hf-jp-ii_spe_19800601_veglia-giovani_fr.html (Zugriff am 28. 4. 2008). 37 Jutta Burggraf, Ja zu dir – ja zu mir. Eine Neuentdeckung der christlichen Ehe und Familie vor dem Hintergrund der Frauenfrage, Paderborn 1998, S. 47. Sie zitiert in diesem Zusammenhang auch den Altbischof von Limburg, Franz Kamphaus, mit dem Satz: „Ziel der Emanzipation ist es, sich der Manipulation zu entziehen, nicht Produkt zu werden oder Kopie sondern Original zu sein“; ebd., S. 89.
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VI. Aufgabe und Verantwortung des Vaters Es ist auffallend, dass die allmähliche Abwendung von der Ehe zeitlich Hand in Hand ging mit dem Pillenknick und damit mit der Abwendung von der Mehrkinderfamilie. Darauf machte Kardinal Ratzinger schon 1980 aufmerksam: „Hier wird der unlösliche innere Zusammenhang zwischen Ehe und Familie auch statistisch sichtbar: In dem Augenblick, in dem das Sexuelle völlig losgetrennt wird von der Fruchtbarkeit, droht es den geistigen Zusammenhang der Liebe von Mann und Frau und der mit ihr wesentlich verbundenen Treue zu lösen. So wird sichtbar, dass ein scheinbar eher pharmazeutisches und technisches Ereignis, das Auftreten der Pille und die Folgen ihrer Anwendung, Ausdruck für eine tiefgehende geistige und moralische Revolution ist, die bis an die Fundamente unserer Gesellschaft rührt“. Gewiss könne man für „das Absinken der Bereitschaft zur Bindung in Ehe und Familie auch eine Reihe eher vordergründiger Ursachen nennen: Wohnungsprobleme, wirtschaftliche Probleme, berufliche Probleme. Aber damit ist die eigentliche Tiefe des Ganzen nicht ausgelotet. Hier ist ein merkwürdiger Kreislauf zwischen äußeren und inneren Veränderungen des Menschlichen im Spiel“38. Die Erfüllung des Menschseins durch symbiotische Ergänzung gilt nicht nur in der Ehe, sondern auch in der Erziehung. Mann und Frau sind Originale, gleichwertig aber nicht gleichartig und haben deshalb auch unterschiedliche Funktionen in der Familie. Die Funktionen sind in der Lebens-, Wirtschafts- und Hausgemeinschaft, wie Johannes Messner die Familie definierte, nicht chemisch sauber zu trennen, aber es lassen sich doch aufgrund der unterschiedlichen, natürlichen Gegebenheiten dominante Funktionen ausmachen. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem neuen Vaterbewusstsein. Es drückt sich weniger in der Teilnahme an der Hausarbeit aus – allgemein signifikante Änderungen sind statistisch kaum nachweisbar –, sondern durch die Anwesenheit bei der Geburt (gut drei Viertel nach einer Erhebung von Allensbach aus dem Sommer 2007). Kinder aus intakten Familien, in denen der Vater sich auch, und zwar nicht nur gelegentlich, um die Erziehung kümmert, haben erhebliche Vorteile. So sind zum Beispiel Jugendliche, deren (leiblicher) Vater sich intensiv um sie und ihr Leben kümmert, nicht nur weniger bis kaum aggressiv als andere, sondern legen auch ein deutlich sozialeres Verhalten an den Tag. „Sich kümmern“ wurde dabei definiert, wie oft ein Vater mit den Jugendlichen redet, wie viel Zeit er mit ihnen verbringt, was er über ihre Pläne weiß und wie nah sich seine Kinder ihm fühlen. Andere Ergebnisse zeigen, dass das religiöse Glaubensleben des Vaters starke Auswirkungen auf sein familiäres Engagement und auf das Eltern-Kind-Verhältnis hat, dass umgekehrt das väterliche Engagement bei den Aktivitäten der Kinder sich auf die schulischen und akademischen Leistungen auswirkt; ferner dass jugendliche Mädchen mit einer gesunden und engen Vaterbeziehung erheblich weniger anfällig sind für Depressionen und auch deutlich später sexuelle Erfahrungen haben, dass gesunde und enge Vater-Kind-Bindungen den Einfluss von Peergroups schmälern. In intakten christlichen Familien ist die emotionale Stabilität größer, die Vorbildfunktion klarer, die Freiräume deutlicher abgesteckt. Und nicht zu38 Wer in der Liebe bleibt – Ein Wort über die Ehe. Fastenhirtenbrief 1980, hrsg. vom Pressereferat der Erzdiözese München-Freising, S. 8; die Trennung von Liebe und Sexualität hat auch zu neuen Familienstrukturen im Ausland geführt, ja die Vielfalt der Familie standardisiert, wie Ende 2007 anlässlich des 40-jährigen Bestehens der Pille auch in Frankreich festgestellt wurde; vgl. Anne Chemin, Deux enfants, trois ans d’ecart: la famillie standardisée, in: Le Monde, 28. Dezember 2007, S. 8.
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letzt: Das Vorbild, besser: Das gelebte Beispiel der Eltern übt nach wie vor einen erheblichen Einfluss auf das Verhalten der Kinder aus. Das gilt insbesondere für die Urerfahrungen. Kardinal Ratzinger nannte Erziehung die „Einführung in die Kunst des Menschseins“. Zum Wesen der Familie gehöre es „vor allem, dass sie in den menschlichen Grundbeziehungen von Mann und Frau, von Eltern und Kindern, von Bruder und Schwester die Urerfahrungen des Vertrauens, der Liebe, der Toleranz, des Verzeihens, des Verzichtens und des Schenkens formt“39. Das gilt natürlich auch für den Vater. Zum einen erwarten die Kinder offensichtlich von ihm, dass er nach innen und nach außen seine Autorität und die damit verbundene Macht gebraucht und zwar im Sinne Pascals: „Das Eigentliche jeder Macht ist, daß sie schützt“. Hier ist das Proprium, das Wesentliche, die Urfunktion des Vaters. In der partnerschaftlichen Ehe, die dem Bild der christlichen Ehe entspricht, wird das Ja am Traualtar zur Lebensmethode. Ja zum Du, Ja zum Alltag mit Dir. In diesem Alltag muss das Ja mit dem des Partners abgestimmt werden. Der gemeinsam gefundene Wille, das gemeinsame Denken und Fühlen, der Konsens, werden umgesetzt in Handlungen. Der permanente Austausch im Beziehungsprozess muss beschützt und freigehalten werden von den Einflüssen der Außenwelt. Er muss garantiert werden. Das ist vor allem die Aufgabe des Ehemannes und Vaters in der Familie – neben seiner Funktion als (Mit-) Ernährer. Natürlich ist der Vater auch bedeutsam als Identifikationsperson, als ein Teil des Beziehungsdreiecks vom Kind zu den Eltern, das für die Ich-Findung notwendig ist. Der Psychologe Horst Schetelig beschreibt dieses Beziehungsdreieck so: „Der Vater verkörpert ein anderes Leitbild als die Mutter. Das allmähliche Kennenlernen und Aufwachsen zwischen den beiden Polen des väterlichen und mütterlichen Prinzips bereitet bereits in den ersten Lebensjahren auf die spätere Identität vor. Die Verschiedenheit und nicht die Gleichheit von Vater und Mutter erleichtert die Ich-Findung und Identifikation mit dem eigenen Geschlecht. Die Tatsache, daß Vater und Mutter geschlechtlich unterschiedliche Wesen sind, hat für die Erziehung der Kinder insofern eine Bedeutung, als sie Vorbild und Identifikation ermöglichen. Denn sowohl der kleine Sohn als auch die kleine Tochter identifizieren sich bereits im Kleinkindalter mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Darüber hinaus erhält der gegengeschlechtliche Elternteil Vorbildfunktion für die spätere Partnerwahl“40. Die Präsenz des Vaters ist heute umso wichtiger, als die Medien, insbesondere das Fernsehen, die Identifikations- und Vorbildfunktion erheblich erschweren. Fast immer sieht man die Männer als monströs kämpfende Helden oder als Versager, als Liebhaber oder als Verbrecher, höchst selten aber als liebende Väter, schon gar nicht als solche, die Windeln wechseln oder beim Hausputz helfen. Hinzu kommt, dass es auch im Kindergarten und in der Grundschule keine oder kaum Erzieher gibt. In den ersten zehn Jahren haben die Kinder es fast ausschließlich mit Frauen zu tun, als Mutter, Erzieherin, Lehrerin. Da sollten die Väter wenigstens in der Familie präsent sein. Noch einmal Schetelig: „Nicht dasselbe tun wie die Mütter heißt Vater sein, sondern als männliches Vorbild in gütiger Liebe die geistige und reale Orientierung der Familie zu schaffen und zu erhalten. . . Nicht der unbarmherzige, nach Fehlern suchende Inquisitor erzeugt Ach39 40
Zeitfragen und christlicher Glaube, a. a. O., S. 53. Horst Schetelig, Entscheidend sind die ersten Lebensjahre, Freiburg i. Br. 1981, S. 90 f.
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tung und Liebe, sondern der verständnisvolle und seiner Verantwortung bewußte Vater, der sich dennoch nicht um den Finger wickeln lässt. Sowohl die geopferte und gemeinsam mit den Kindern verbrachte Zeit ist entscheidend als auch die nicht nachlässige Führung der Familie ohne Machtanmaßung“41.
VII. Frau und Mutter Es ist die Mutter, die das Kind in das Geheimnis der selbstlosen Liebe einführt. Thomas von Aquin vergleicht deshalb die Gottesliebe mit der Mutterliebe, weil „die Mütter mehr daran denken zu lieben als geliebt zu werden“42. Papst Johannes Paul II. hat die Arbeit der Hausfrau und Mutter wiederholt gewürdigt. Er schreibt: „Die Mühen der Frau, die, nachdem sie ein Kind zur Welt gebracht hat, dieses nährt und pflegt und sich besonders in den ersten Jahren um seine Erziehung kümmert, ist so groß, daß sie den Vergleich mit keiner Berufsarbeit zu fürchten brauchen. Das wird klar anerkannt und nicht weniger geltend gemacht als jedes andere mit der Arbeit verbundene Recht. Die Mutterschaft und all das, was sie an Mühen mit sich bringt, muß auch eine ökonomische Anerkennung erhalten, die wenigstens der anderer Arbeiten entspricht, von denen die Erhaltung der Familie in einer derart heiklen Phase ihrer Existenz abhängt“43. Papst Benedikt XVI. hat, noch als Präfekt der Glaubenskongregation, in einem Schreiben „über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und der Welt“ die Lehre der Kirche auch über die einzigartige Bedeutung der Frau formuliert. Darin nimmt er auch Stellung zum Thema Frau und Mutterschaft: „Auch wenn die Mutterschaft eine zentrale Bedeutung für die weibliche Identität hat, ist es aber nicht richtig, die Frau nur unter dem Aspekt der biologischen Fortpflanzung zu sehen. In dieser Hinsicht kann es schwerwiegende Übertreibungen geben, welche die biologische Fruchtbarkeit mit vitalistischen Ausdrücken verherrlichen und oft mit einer gefährlichen Abwertung der Frau verbunden sind“44. Die christliche Berufung zur Jungfräulichkeit mache das klar, denn „diese Berufung widerlegt radikal jeden Anspruch, die Frauen in ein bloß biologisches Schicksal einzuschließen. Wie die Jungfräulichkeit durch die leibliche Mutterschaft daran erinnert wird, dass zur christlichen Berufung immer die konkrete Selbsthingabe an den anderen gehört, so wird die leibliche Mutterschaft durch die Jungfräulichkeit an ihre wesentlich geistliche Dimension erinnert: Um dem anderen wirklich das Leben zu schenken, darf man sich nicht mit der physischen Zeugung begnügen. Dies bedeutet, dass es Formen der vollen Verwirklichung der Mutterschaft auch dort geben kann, wo keine physische Zeugung erfolgt“. Ein geradezu klassisches Beispiel ist Mutter Teresa. In dieser Perspektive werde, so Ratzinger, „die unersetzliche Rolle der Frau in allen Bereichen des familiären und gesellschaftlichen Lebens verständlich, bei denen es um die menschlichen Beziehungen und die Sorge um den anderen geht“. Johannes Paul II. Ebd., S. 91. Summa theologiae II.II, q. 27, a. 1. 43 Johannes Paul II., Brief an die Familien vom 2. Februar 1994 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 112), S. 48. 44 Joseph Kardinal Ratzinger, Über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und der Welt, Schreiben vom 31. Mai 2004 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 166), S. 13. 41 42
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habe in diesem Sinn vom „Genius der Frau“ gesprochen. Dieser Genius komme vor allem in der Familie, „der anfänglichen und in gewissem Sinn souveränen Gesellschaft“45 zur Entfaltung. Besonders hier werde „nämlich das Antlitz eines Volkes geformt, hier eignen sich seine Glieder die grundlegenden Kenntnisse an. Sie lernen lieben, weil sie selber umsonst geliebt werden; sie lernen jede andere Person achten, weil sie selber geachtet werden; sie lernen das Antlitz Gottes kennen, weil sie dessen erste Offenbarung von einem Vater und einer Mutter erhalten, die ihnen ihre ganze Zuwendung schenken. Jedes Mal, wenn diese Grunderfahrungen fehlen, wird der ganzen Gesellschaft Gewalt angetan und bringt die Gesellschaft dann ihrerseits vielfältige Formen der Gewalt hervor“. Der Genius der Frau beinhalte „darüber hinaus“, betonte Ratzinger, „dass die Frauen in der Welt der Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens gegenwärtig sein und zu verantwortungsvollen Stellen Zugang haben sollen, die ihnen die Möglichkeit bieten, die Politik der Völker zu inspirieren und neue Lösungen für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme anzuregen“. Man dürfe aber in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass „die Überschneidung von zwei Tätigkeiten – Familie und Arbeit – bei der Frau andere Merkmale annimmt als beim Mann. Deshalb stellt sich die Aufgabe, die Gesetzgebung und die Organisation der Arbeit mit den Anforderungen der Sendung der Frau innerhalb der Familie zu harmonisieren. Hier geht es nicht nur um eine rechtliche, wirtschaftliche und organisatorische Frage, sondern vor allem um eine Frage der Mentalität, der Kultur und der Achtung“46. Diese übergeordneten Kategorien werden heute vor allem von dem Global Player Kirche eingefordert und sind folglich nach dem Prinzip der Subsidiarität in den jeweiligen Staatssystemen konkret zu verwirklichen. Hier postulierte Ratzinger schon zwanzig Jahre zuvor mit erstaunlicher Deutlichkeit: „Die soziale Ordnung muß so beschaffen sein, dass sie die Familie nicht zerstört, sondern aufbaut. Eine Ordnung, in der die Berufstätigkeit beider Elternteile notwendig ist, ist Unordnung und zerstört die Grundlagen des gemeinsamen wie des individuellen Lebens. Familiengerechter Lohn ist daher eine Grundforderung christlicher Soziallehre“47.
VIII. Erziehung – Beschenkung mit Menschlichkeit Erforderlich sei „eine gerechte Wertschätzung der Arbeit, welche die Frau in der Familie leistet. So könnten die Frauen, die es freiwillig wünschen, ihre ganze Zeit der häuslichen Arbeit widmen, ohne sozial gebrandmarkt und wirtschaftlich bestraft zu werden. Jene hingegen, die auch andere Tätigkeiten verrichten möchten, könnten dies in einem angepassten Arbeitsrhythmus tun, ohne vor die Alternative gestellt zu werden, ihr Familienleben aufzugeben oder einer ständigen Stresssituation ausgesetzt zu sein, die weder dem persönlichen Gleichgewicht noch der Harmonie in der Familie förderlich ist“48. Schon Johannes Paul II. hat dieses Erfordernis formuliert als er 1981 in der Enzyklika über die menschliche Arbeit (Laborem exercens) schrieb: „Es wird einer GesellEbd. – Vgl. auch Johannes Paul II., Brief an die Familien, a. a. O., S. 48. Ebd. 47 Predigt am 3. Mai 1981, in: Zeitfragen und christlicher Glaube, a. a. O., S. 63. 48 Joseph Kardinal Ratzinger, Über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und der Welt, a. a. O., S. 13. 45 46
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schaft zur Ehre gereichen, wenn sie es der Mutter ermöglicht, sich ohne Behinderung ihrer freien Entscheidung, ohne psychologische oder praktische Diskriminierung und ohne Benachteiligung gegenüber ihren Kolleginnen der Pflege und Erziehung ihrer Kinder je nach den verschiedenen Bedürfnissen ihres Alters zu widmen“49. Hier klingt an, was von einigen Natur- und Sozialwissenschaftlern seit ein paar Jahrzehnten erforscht wird. Die Fachleute sprechen trocken von der Bildung von Humanvermögen. Es handelt sich um die Daseinskompetenzen des Menschen, um die soziale Kompetenz, die Innovationskraft, die emotionale Intelligenz50. Diese fundamentalen Fähigkeiten werden überwiegend, vielleicht sogar ausschließlich in den ersten Jahren erworben und gebildet. Mehrere Autoren, vor allem Amerikaner, haben dabei die konstituierende Funktion der Emotionen hervorgehoben, sie seien, so Stanley Greenspan, „die Architekten des Gehirns“, die Bausteine menschlichen Bewusstseins. Greenspan formuliert aus den Erkenntnissen auch den „menschlichen Imperativ, in der Familie, der Erziehung, der Psychotherapie, der Ehe und den Institutionen der Sozialfürsorge dem Wohl der Kinder, den zwischenmenschlichen Beziehungen und der Qualität der emotionalen Erfahrung den höchsten Rang einzuräumen“51. Ein weiterer amerikanischer Entwicklungspsychologe, Thomas Verney, bezeichnet ebenfalls die „liebevolle, aufmerksame und verständige elterliche Fürsorge“ als „entscheidend“ für die neuronalen Netzwerke und die Kreativität des Menschen. Die Forschungsergebnisse bewiesen, dass die Art der elterlichen Zuwendung mehr Einfluss auf die Hirnentwicklung hat als man je für möglich gehalten hätte. Was der Sauerstoff für das Gehirn sei, das seien freundliche, respektvolle und liebevolle Worte für das junge Bewusstsein. „Wenn wir uns danach sehnen, dass das Gute über das Böse siegt, dann müssen wir endlich lernen, unseren Materialismus durch Mütterlichkeit zu ersetzen“52. Denn, so kann man hinzufügen, dieses Vertrauen, diese emotionale Stabilität ermöglicht es, dass das Baby auf Entdeckungsreise geht, dass es Erfahrungen sammelt, dass der liebende Blick der Mutter und / oder des Vaters diese Erfahrung lobt und bestätigt und so die positiven Verschaltungen erst zustande kommen. Fehlt das Vertrauen, fehlt die Zuwendung, fehlt das Lächeln, fehlt die Bestätigung, dann fehlt die emotionale Sicherheit – etwa, weil es zuviel wechselnde Betreuungspersonen, weil es zuviel fremde Gerüche, zuviel Stimmen, zuviel andere Augen, zu wechselhafte Reaktionen auf Entdeckungsversuche gibt – und dann bleibt das Baby zurückhaltend und unmotiviert. 49 Johannes Paul II., Laborem exercens. Über die menschliche Arbeit zum neunzigsten Jahrestag der Enzyklika „Rerum novarum“, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1981, Nr. 19. 50 Johannes Paul II. spricht von der Familie „als primäre Produktionsstätte von Humanvermögen“ in einem Grußwort an einen Kongress zu „Demographie und Wohlstand“ 2002 in Berlin, zitiert in: Christian Leipert (Hrsg.), Demographie und Wohlstand – Neuer Stellenwert für Familie in Wirtschaft und Gesellschaft, Opladen 2003, S. 289; vgl. auch Jürgen Liminski, Die verratene Familie, a. a. O., S. 107 ff. und Fußnote 3. 51 Stanley I. Greenspan, Die bedrohte Intelligenz – Die Bedeutung der Emotionen für unsere geistige Entwicklung, München 1997, S. 389. 52 Thomas R. Verney / Pamela Weintraub, Das Baby von Morgen – Bewusstes Elternsein von der Empfängnis bis ins Säuglingsalter, Hamburg 2003, S. 240. Die Literatur über die Ergebnisse der Hirnforschung bei Säuglingen und Kleinkindern nimmt bereits erstaunliche Ausmaße an. Hingewiesen sei an dieser Stelle nur noch auf die summarische Arbeit von Sabina Pauen, Was Babys denken – eine Geschichte des ersten Lebensjahres, München 2006; und vor allem Christa Meves, Geheimnis Gehirn, Gräfelfing 2005.
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Dann sammelt es eben nicht die synapsenbildenden Erfahrungen. Der Dichterfürst Goethe hat das einmal bündig so beschrieben: Man lernt nur von dem, den man liebt. Aber es ist auch eine uralte christliche Erkenntnis. Paulus riet den Vätern: „Ihr Väter, schüchtert Eure Söhne nicht ein, damit sie nicht mutlos werden“ (Kol 3,21). All diese Erkenntnisse werden von der Bindungsforschung bestätigt. Die Regensburger Bindungsforscherin Karin Grossmann, eine Schülerin von John Bowlby, dem Vater der Bindungsforschung, bestätigt anhand der Ergebnisse einer fünfundzwanzigjährigen Langzeitstudie den Zusammenhang zwischen frühkindlicher Bindung und späterer Entwicklung. Man kann ihre Arbeit folgendermaßen resümieren: Die Bindung an mindestens einen fürsorglichen Elternteil in den ersten Lebensjahren entscheidet maßgeblich über den Erfolg in Schule, Ausbildung, Beruf und Partnerschaft53. Johannes Paul II. formuliert es knapper, wenn er den Eltern eine Definition von Erziehung auf den Weg gibt, die eigentlich nicht zu übertreffen ist. Erziehung ist, so schreibt er, „Beschenkung mit Menschlichkeit“ und die Eltern seien „Lehrer in Menschlichkeit“54. Aus all dem lässt sich folgern: Bindung geht vor Bildung. Liebe geht vor Funktionalität. Diese Folgerung ist umso bedeutsamer, als die Politik geradezu besessen scheint von dem Gedanken, angesichts der fehlenden Kinder die noch vorhandenen Kinder besser auszubilden, um die Produktivität und damit den Wohlstand zu wahren. Aber die damit verbundene Tendenz zur Verstaatlichung von genuin familiären Aufgaben umgibt der Hauch des Suizidären. Der Staat kann nicht lieben. Deshalb kann er die Familie in ihrer Kernkompetenz, der Erziehung, nicht ersetzen. „Die Familie ist der Kern aller Sozialordnung“55, „sie geht jeder Anerkennung durch die öffentliche Autorität voraus; sie ist ihr vorgegeben“56. Man könnte es auch so formulieren: Die Liebe ist die Quelle und das Ziel aller Gemeinsamkeit, allen Handelns. Damit schließt sich in gewisser Weise der Schöpfungskreis. Deshalb sagt Johannes Paul II. in seinem Brief an die Familien auch: „Die Familie hat ihren Ursprung in derselben Liebe, mit der der Schöpfer die geschaffene Welt umfängt“57. In der Tat, in der Familie und ihrem Kern, der Ehe, lebt die Schöpfungskraft Gottes, die Liebe weiter. Nicht nur auf biologische, sondern vor allem auf geistige Weise. Die selbstlose Liebe ist jener Funke Göttlichkeit, der den Menschen durchglüht. Der Kirchenlehrer und Mystiker Johannes vom Kreuz sprach in diesem Sinn vom „endiosamiento – der Vergöttlichung“ des Menschen durch die Liebe Gottes. „Die menschliche Familie spiegelt die Dreifaltigkeit wider. Mann und Frau sind nämlich ein Fleisch, ein Herz und eine Seele, wenn auch in der Verschiedenheit der Geschlechter und der Personen. Die Eheleute sind voreinander wie ein Ich und ein Du, und vor dem Rest der Welt – angefangen bei den eigenen Kindern – wie ein Wir, fast als ob es sich um eine einzige Person handelte – jedoch nicht mehr im Singular, sondern im Plural. Wir heißt: ,deine Mutter und ich‘, ,dein Vater und ich‘. So sprach Maria zu Jesus, als sie ihn im Tempel wiederfand“58. Deshalb 53 Vgl. das mittlerweile zum Standardwerk avancierte Buch von Karin und Klaus Großmann, Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit, Stuttgart 2004. 54 Johannes Paul II., Brief an die Familien, a. a. O., S. 41 f. 55 Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, a. a. O., S. 153. 56 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2202. 57 Johannes Paul II., Brief an die Familien, a. a. O., S. 6. 58 Vgl. Raniero Cantalamessa, Was eine Familie ausmacht. Kommentar zum Hochfest der Heiligen Familie; veröffentlicht am 29. Dezember 2007 auf www.zenit.org.
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ist die christliche Familie auch „Hauskirche“, wie es in Lumen gentium heißt, und sehen manche Autoren in der communio personarum (Gaudium et spes, Nr. 12) auch „eine Analogie der menschlichen Liebe zur innertrinitarischen Liebe“59. In der Tat: „Die Zukunft der Menschheit geht über die Familie“ und „die Familie ist der Weg der Kirche“, schrieb Johannes Paul II.60 – eine Weisheit, die tief im katholischen Volk verankert ist. Ein Landpfarrer in der Bretagne hat diese eigentlich unauslotbaren Tiefen am Fest der Heiligen Familie (29. 12. 2007) in diese schlichten Worte gekleidet: „Die Familie ist das Geheimnis Gottes auf Erden“. Sie ist es, weil ihre Matrix die Liebe ist, weil sie die Verkörperung ist von „Wahrheit und Liebe als bestimmende Dimension des Lebens der Person“61. Wenn sich Christen, Politiker zumal, von diesen theologischen Texten inspirieren ließen, würden sie wieder mehr Zugang zu den Grundwerten Ehe und Familie gewinnen.
59 Zum Beispiel Dominik Schwaderlapp, Liebe und Tugend. Elemente der Liebe zwischen Mann und Frau und ihre Verwirklichung im Personalismus Karol Wojtylas, in: Ethik der Tugenden. Festschrift für Joachim Piegsa, hrsg. von Clemens Breuer, St. Ottilien 2007, S. 295 – 309, hier S. 297. 60 Johannes Paul II., Christi fideles laici, Nachsynodales Apostolisches Schreiben über die Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1988, Nr. 40, und ders., Brief an die Familien, a. a. O., S. 36. 61 Johannes Paul II., Brief an die Familien, a. a. O., S. 15.
Das kirchliche Leitbild von Ehe und Familie und der Wandel familialer Lebenslagen Von Eberhard Schockenhoff
Das auf dem biblischen Menschenbild und der Einsicht in die personale Natur des Menschen beruhende Leitbild von Ehe und Familie, das die Kirche in ihrer Sozialverkündigung und in ihrer sozialethischen Reflexion vertritt, unterlag im Lauf der Geschichte vielfachen Wandlungen. Will man den unaufgebbaren Kern dieses Leitbildes bestimmen, der sich aus seinen wechselnden sozio-kulturellen Einbettungen und aus den Amalgamen mit historisch gewachsenen Lebensformen der jeweiligen Epoche herausschälen lässt, stößt man auf eine doppelte Grundaussage über den Menschen als Person und als moralisches Subjekt, die beide in seiner anthropologischen Verfassung begründet sind: Die Ehe ist die ausschließliche, auf Dauer angelegte und alle Dimensionen des Lebens einschließende Gemeinschaft von Mann und Frau, die von sich aus auf die Erweiterung zur Familie angelegt ist. Ungeachtet des Eigenwertes der ehelichen Liebesgemeinschaft ist das Zueinander der Ehegatten auf das größere Wir oder das soziale Subjekt der Familie bezogen, das durch die Zeugung von Kindern, ihre Erziehung und das gemeinsame Leben der Eltern mit ihnen entsteht. Die Ehegatten sollen sich selbst ein Leben lang achten und lieben und einander in allen Lebenslagen – in guten und schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit, wie sie einander bei der Trauung versprechen – beistehen, bis der Tod eines Partners ihre Lebensgemeinschaft beendet. Die Kinder, die aus der ehelichen Liebe hervorgehen, sollen in der Geborgenheit der Familie Schutz und Fürsorge erfahren, Vertrauen in das Leben erlernen, zu Selbstständigkeit und eigenständiger Verantwortung erzogen werden und so zu eigener Liebes- und Bindungsfähigkeit heranwachsen, bis sich der Generationenkreislauf schließt, indem sie selbst eine Ehe gründen und Elternverantwortung übernehmen. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts blieb in der kirchlichen Sozialverkündigung die Auffassung vorherrschend, eine bestimmte historisch gewordene Lebensform, die sich in ihren Wurzeln bis auf das patriarchale Familienmodell der römischen Antike zurückverfolgen lässt, sei die einzig legitime Ausprägung des christlichen Leitbildes von Ehe und Familie. Die Auffassung, Ehe und Familie seien ihrem Wesen nach eine hierarchisch geordnete „Keimzelle“ der Gesellschaft, in der der Mann als Ehegatte und Vater nach dem Vorbild des römischen maior domus für das Wohl aller Familienmitglieder sorgt, wurde bis in konkrete Vorschriften bezüglich der gemeinsamen Lebensführung (Unterordnung der Frau unter den Mann, Gehorsamspflicht der Kinder, Mahnung zur liebevollen Sorge für die Kinder an den Vater und die Mutter) als naturrechtlich begründet angesehen; in Konfliktfällen galt das Alleinentscheidungsrecht des Mannes in allen familienbezogenen Angelegenheiten als ein im Wesen der Ehe verankertes Erfordernis, das ihre Handlungsfähigkeit nach außen gewährleisten sollte. Dieses patriar-
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chalische Paradigma von Ehe und Familie ist heute ebenso wie das Modell der bürgerlichen Kleinfamilie, das aus einer Verbindung zwischen dem romantischen Eheideal des 19. Jahrhunderts und den Arbeits- und Produktionsformen der arbeitsteiligen Industriegesellschaft hervorging, auch von der kirchlichen Sozialverkündigung in seiner historischen Kontingenz erkannt. Die Auflösung dieser traditionellen Familienformen darf jedoch nicht mit dem Ende von Ehe und Familie als unbeliebigen Lebensformen des menschlichen Daseins gleichgesetzt werden, wie es die soziologische These von der prinzipiellen Modernisierungsunfähigkeit dieser Institutionen unterstellt. Dennoch erfassen die gesellschaftlichen Krisenerscheinungen und sozialen Wandlungsprozesse der vergangenen Jahrzehnte auch die normativen Grundlagen von Ehe und Familie, so dass bei vielen Menschen eine wachsende Entscheidungsnot und eine existenzielle Unsicherheit darüber entsteht, welche Bedeutung sie dem Wunsch, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, in der eigenen Lebensplanung einräumen sollen. In seinem Apostolischen Schreiben Familiaris consortio (22. 11. 1981) beschreibt Papst Johannes Paul II. die äußeren und inneren Schwierigkeiten, vor denen junge Menschen vor der Eheschließung, aber auch verheiratete Paare und die Familien selbst heute stehen, indem er auf den Wandel der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse Bezug nimmt: „Die Familie wurde in unseren Tagen – wie andere Institutionen und vielleicht noch mehr als diese – in die umfassenden, tiefgreifenden und raschen Wandlungen von Gesellschaft und Kultur hineingezogen. Viele Familien leben in dieser Situation in Treue zu den Werten, welche die Grundlage der Familie als Institution ausmachen. Andere sind ihren Aufgaben gegenüber unsicher und verwirrt, sogar in Zweifel und fast in Unwissenheit über die letzte Bedeutung und die Wahrheit des ehelichen und familiären Lebens. Wieder andere sind durch ungerechte Situationen verschiedener Art in der Ausübung ihrer Grundrechte behindert“ (Nr. 1, Abs. 1). Es ist daher von entscheidender Bedeutung, die Transformationsprozesse der modernen Gesellschaft in ihren Chancen und Risiken nüchtern zu analysieren, um ihre strukturellen Rückwirkungen auf die Lebensformen von Ehe und Familie besser verstehen zu können. Seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts haben sich Bindungs- und Partnerschaftsformen sowie die familialen Lebensverhältnisse vieler Menschen sichtbar verändert. Um die Bedeutung dieses Wandels zu erfassen, genügt es, stichwortartig auf die wichtigsten Entwicklungen hinzuweisen: Die Heiratsneigung geht zurück, nichteheliche Lebensgemeinschaften und Single-Haushalte nehmen zu, immer mehr Paare leben in getrennten Wohnungen zusammen („living apart together“), die Geburtenzahl sinkt unter das demographische Ersatzniveau, die Zahl von kinderlosen Ehen, Stieffamilien und Adoptivfamilien steigt weiter an, die Zwei-Karrieren-Ehe hat die Rolle des Hausmannes und den Mythos der „neuen Väter“ hervorgebracht, Ein-Eltern-Familien oder sogenannte Patchwork-Familien sind längst keine Seltenheit mehr, alternative Wohngemeinschaften und gleichgeschlechtliche Partnerschaften werden faktisch gelebt und – mehr oder weniger – geduldet. Hält man sich diese Entwicklung vor Augen, so wird deutlich, dass es sich dabei keineswegs nur um Randerscheinungen, sondern um weitgehende Umbruchstendenzen handelt, die auch vor den tragenden Strukturen unserer Lebenswelt, nämlich der sozialen Realität von Ehe, Partnerschaft und Familie, nicht Halt machen. Dennoch wäre es verfehlt, aus der Summe dieser Einzelphänomene den Schluss zu ziehen, dass Ehe und Familie im gesellschaftlichen Bewusstsein als Auslaufmodell gel-
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ten, dem die Menschen keine Orientierungs- und Leitbildfunktion für das eigene Leben mehr zuerkennen. Statistische Daten erweisen neben dem signifikanten Anstieg alternativer Lebensformen eben auch, dass die Orientierung am Leitbild einer ehebezogenen Familie in der Bevölkerung erstaunlich stabil geblieben ist.1 Die folgenden Überlegungen zeigen deshalb im ersten Schritt auf, wie das in der gegenwärtigen Ehetheologie vorherrschende Leitbild einer partnerschaftlichen Ehe in einer anthropologisch aufweisbaren Korrespondenz zu wichtigen Grunderfahrungen und existentiellen Bedürfnissen des Menschen steht.2 Im zweiten Schritt werden die Herausforderungen bedacht, die sich für die herkömmliche Ehe- und Familienauffassung durch die gesellschaftliche Akzeptanz alternativer Lebensformen ergeben. Während in diesen beiden ersten Argumentationsgängen anthropologisch-ethische Überlegungen im Vordergrund stehen, soll im letzten Teil unter primär verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten die „klassische“ Ehe und Familie mit den nichtehelichen Lebensgemeinschaften und offenen Familienformen verglichen werden, die sich als Folge des gesellschaftlichen Wandels in den letzten Jahrzehnten herausgebildet haben.
I. Moraltheologische Überlegungen zu den anthropologischen Grundlagen von Ehe und Familie 1. Das Menschenbild der Bibel
In der biblischen Anthropologie sind drei für eine christliche Ehetheologie und Sexualethik unverzichtbare Grundaussagen vorgezeichnet, deren Anspruch sie in ihrer konkreten Entfaltung einholen muss: die in der Gottebenbildlichkeit von Frau und Mann gründende Personwürde beider Partner, die herausgehobene Bedeutung der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen und die leib-seelische Ganzheitlichkeit seiner personalen Lebensvollzüge. In dieses anthropologische Koordinatensystem ist die Grundaussage der christlichen Eheauffassung eingeschrieben, die beide großen Kirchen unseres Landes in ökumenischer Übereinstimmung zum Ausdruck bringen: die Überzeugung, dass eine auf gegenseitige Achtung gegründete und zu lebenslanger Treue entschlossene Partnerschaft unter dem Dach der Ehe den angemessenen Schutz- und Entfaltungsraum bietet, der dem humanen Anspruch menschlicher Sexualität entspricht. Dieser in seinem Kern unbestrittene ökumenische Konsens wird von den beiden Kirchen allerdings seit einiger Zeit nicht mehr deckungsgleich vertreten. Während die katholische Kirche in ihren lehramtlichen Aussagen daran festhält, dass unter getauften Christen die sakramentale Ehe der einzige Raum legitimer Sexualbeziehungen ist, formuliert die evangelische Kirche diesen Grundsatz in ihren Denkschriften offener, indem sie von der „besten“ und „angemessensten“ Grundlage für eine menschliche Gestaltung 1 Vgl. dazu F.-X. Kaufmann, Zukunft der Familie: Stabilität, Stabilitätsrisiken und Wandel der familialen Lebensformen sowie ihre gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, München 1990, S. 119 f. Vgl. auch G. Marschütz, Familie humanökologisch. Theologisch-ethische Perspektiven, Münster 2000, S. 185 ff. 2 Ausführlicher dazu E. Schockenhoff, Die Familie als Ort sozialen und moralischen Lernens. Moraltheologische Überlegungen zu ihren anthropologischen Grundlagen, in: N. Goldschmidt u. a. (Hrsg.), Die Zukunft der Familie und deren Gefährdungen (FS Norbert Glatzel), Münster 2002, S. 17 – 29, und ders., Sexualität und Ehe. Moraltheologische Überlegungen zu ihren anthropologischen Grundlagen, in: Stimmen der Zeit 215 (1997), S. 435 – 447.
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der Sexualität spricht.3 Manche protestantischen Theologen bringen diesen Unterschied auf die Formel, eine evangelische Ethik könne immer nur eine „Höchstgeltung“ der Ehe vertreten, während die katholische Ehelehre auf ihrer „Alleingeltung“ beharre. Demgegenüber betonen jedoch andere Sozialethiker, dass auch für die gegenwärtige protestantische Ehetheologie, solange sie der eigenen Bekenntnistradition treu bleiben möchte, allein die Ehe als schriftgemäße Lebensform für das Zusammenleben der Geschlechter in Frage kommen kann.4
2. Sexualität im Dienst existentieller Lebensziele
Die Schwierigkeit, die humanen Intentionen des kirchlichen Eheverständnisses und der ihm zugrunde liegenden Sexualethik gegenüber der gegenwärtigen Bewusstseinslage vieler Menschen zur Sprache zu bringen, hängt mit einem epochalen Paradigmenwechsel in der Sinnwahrnehmung menschlicher Sexualität zusammen. Während Sexualität nach biblischem Verständnis einen Auftrag und eine Gabe des Schöpfers darstellt, die der Mensch zur exemplarischen Verwirklichung seiner Bestimmung zu einem Leben in Gemeinschaft einsetzen soll, ist sie im Empfinden vieler Menschen zu einem selbstevidenten Bestandteil ihrer Vorstellung von Glück und Lebensqualität geworden, der keiner weiteren Legitimation bedarf. Selbst die Bindung der Sexualität an eine auf unabsehbare Dauer angelegte menschliche Beziehung erscheint dabei oftmals als eine unzulässige Einschränkung, die nur die ungezwungene Spontaneität und den spielerischen Eigengehalt des sexuellen Lebens missachtet. Sexualität soll Spaß machen, so lautete die Devise der emanzipatorischen Sexualpädagogik, wer mehr von ihr erwartet, der verdirbt sie nur. Einer solchen Reduktion der Sexualität auf ihre psychologische Erlebnisqualität liegt nicht nur ein eindimensionales Menschenbild, sondern auch ein unzureichendes Verständnis des Sexualtriebes zugrunde. Darin wird verkannt, dass dieser nicht nur libidinösen Charakter, also die Struktur des leidenschaftlichen Begehrens trägt, sondern auch eine existentielle Tiefendimension besitzt, durch die er zur Quelle vielgestaltiger Sinnerfahrungen im menschlichen Dasein werden kann.5 Zu dieser anthropologischen Sinnfülle des Geschlechterverhältnisses gehört, wie der Soziologe Günter Dux in seiner Kritik an der tiefenpsychologischen Triebtheorie Sigmund Freuds zu Recht betont, vor allem das Erlebnis von Intimität, die Integration der Körperlichkeit des Lebens in all ihren Ausdrucksformen bis hin zu Krankheit und Tod sowie die gegenüber anderen Sozialverhältnissen unvergleichbare Möglichkeit, sich im Anderen der Bedeutsamkeit des eigenen Daseins zu vergewissern.6 Die Bereitschaft zur verbindlichen Verantwortungsübernahme, zum Füreinander-Einstehen und zur Hingabe ohne zeitliche Vorbehalte ent3 Vgl. Die Denkschriften der evangelischen Kirche in Deutschland, Bd. 3: Ehe, Familie, Sexualität, Jugend (Zur Reform des Ehescheidungsrechts, Erwägungen zum evangelischen Eheverständnis, konfessionsverschiedene Ehe, Denkschrift zu Fragen der Sexualität, Schwangerschaftsabbruch, Erziehungsfragen, Kirche und Sport), mit einer Einführung von E. Wilkens, Gütersloh 1981. 4 Vgl. dazu W. Pannenberg, Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven, Göttingen 1996, S. 124 – 131. 5 Vgl. K. Wojtyla, Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie, München 1979, S. 55 – 56. 6 Vgl. G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft. Warum wir lieben, Frankfurt a. M. 1994, S. 71 ff., S. 98 ff. und S. 126 ff.
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springt daher der Struktur des sexuellen Begehrens selbst, wenn dieses sich seiner eigenen Dynamik überlässt. Die amerikanische Theologin Margaret A. Farley betont in ihrem Buch: „Sexuality is an expression of something beyond itself. Its power is a power for union, and its desire is a desire for intimacy.“7 Ebenso wenig beschränkt sich die Fortpflanzungsdimension der menschlichen Sexualität auf ihren reinen Naturzweck. Dieser gewinnt auf der Ebene des Menschlichen vielmehr eine existentielle Bedeutsamkeit, da sie den Eltern die Möglichkeit eröffnet, im Muttersein und Vatersein als einem gemeinsamen Dasein für das Kind eine Grundform sittlicher Verantwortung zu erleben.8 Schließlich vermag sich der Mensch gerade in der erotischen Liebe als das Wesen der Transzendenz zu erfahren, das an das Unendliche rührt und in sich ein unstillbares Verlangen nach dauerhaftem und bleibendem Glück trägt. Die Bedeutung des Sexualtriebes wird deshalb nicht zureichend erfasst, solange man darin nur die Möglichkeit zur lustvollen Entspannung einer physischen Mangelsituation des Organismus sieht. Eine solche reduktionistische Sichtweise wird gerade der ekstatischen Struktur des Sexualtriebes nicht gerecht, der auf der Ebene des Menschlichen auch Anteil an der Transzendenzbewegung des menschlichen Geistes gewinnt, indem er über sich selbst hinausweist und sich als elementare Grundenergie in den Dienst der Erfüllung menschlicher Lebensziele zu stellen vermag. Der ganzheitliche Sinn der Sexualität, wie er auf der Ebene des Menschen hervortritt, trägt zur Reorganisation von Intimität und Geborgenheit im Erwachsenenalter bei und ermöglicht durch den Aufbau eines gemeinsamen Lebens die exemplarische Verwirklichung der sozialen Existenz, die nach biblischem Verständnis zur Bestimmung des Menschen gehört.
3. Die monogame Eheauffassung als Ausdruck eines Ethos der Menschenwürde
Wenn zwei Menschen einander in ihrem unverrechenbaren, einmaligen Personsein annehmen und sich in diesem Akt der eigenen Individualität als einer „bedeutungsvollen Form des Daseins“ vergewissern, verlangt ihre Liebe nach einer dauerhaften Gestalt, in der ihr Wille zur Vorbehaltlosigkeit und Endgültigkeit einen verbindlichen Ausdruck findet.9 Dieses Verlangen nach Dauer ist jeder wirklichen Liebe eingeschrieben, auch wenn es nicht immer den Wunsch nach einer institutionellen Regelung der Beziehung nach sich ziehen muss. Wo sich dieser Wunsch jedoch einstellt, steht er nicht, wie von einer romantischen Ehekritik immer wieder behauptet, im Widerspruch zu den wahren Gefühlen der Liebenden. Der Wille zur endgültigen Bindung erwächst vielmehr aus einem tieferen anthropologischen Bedürfnis nach Annahme und Geborgenheit, das als Verlangen nach einer dauerhaften Liebe auch in offenen Partnerkonstellationen immer wieder durchbricht. In dem historischen Entwicklungsprozess, der über die römische, biblisch-christliche und romantische Eheauffassung zum gegenwärtigen Ideal der partnerschaftlichen Ehe führte, ist eine fortschreitende Humanisierungstendenz wirksam, die ein unaufgebbares M. A. Farley, Just Love. A Framework for Christian Sexual Ethics, New York 2006, S. 225. Vgl. dazu H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979, S. 184 ff. 9 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft, a. a. O., S. 40. 7 8
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Erfahrungspotential der Kulturgeschichte hervorbrachte. Gegenüber einer romantischen Liebeskonzeption, die in der Ehe nur ein bürgerliches Rechtsinstitut sieht, das nahezu zwangsläufig den Tod der Liebe nach sich zieht und gegenüber einer historischen Rekonstruktion des Wandels unserer Lebensformen, die ihre Hoffnung folgerichtig auf eine „allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe“10 setzt, ist deshalb mit Paul Mikat zu betonen: „Die Lebensform der Monogamie, der Subjekt-Subjekt-Beziehung zwischen Mann und Frau, ist Ausdruck eines Ethos der Menschenwürde. Die in ihr angelegte humane Vernunft markiert eine geschichtlich irreversible Ordnung der Geschlechterbeziehung.“ 11 Sowohl der Anspruch ehelicher Treue als auch die Exklusivität der personalen Liebesbeziehung, die das Christentum von Anfang an als wechselseitige Forderung an Frau und Mann verstand, stellen vor diesem Hintergrund wichtige Einsichtschwellen dar, hinter die ein menschlicher Umgang der Geschlechter miteinander nicht mehr ohne humane Verluste zurückfallen kann. Es beruht auf einer Verkennung dieser geschichtlichen Zusammenhänge, wenn heute vielen Menschen die Ehe als eine von der gesellschaftlichen Entwicklung überholte Lebensform erscheint, während alternative Partnerschaftsformen als Modelle eines attraktiven, zeitgenössischen Lebensstiles gelten, der dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Autonomie und Freiheit entgegenkommt. Wenn der gesellschaftliche Wandel im Partnerschaftsverhalten und in den familialen Lebensverhältnissen der Menschen zu einer fortschreitenden Erosion des objektiven Sinngehaltes der tradierten Lebensformen von Ehe und Familie führt, bringt dies zwar auch einen individuellen Freiheitsgewinn für die Betroffenen mit sich, da dieser Vorgang ihnen faktisch einen größeren Freiraum zur autonomen Disposition über die eigene Lebensführung einräumt. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist allerdings eine wachsende Entsolidarisierung der Geschlechter, die sich unter dem Deckmantel gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse vollzieht. Bei näherem Hinsehen zeigt sich nämlich, dass die Auflösung verlässlicher Bindungsstrukturen und das Zurückweichen der Rechtsordnung davor in aller Regel nur zu einer einseitigen Freisetzung individueller Selbstbestimmung führt, während dieselbe Entwicklung auf der Verliererseite eine größere Recht- und Schutzlosigkeit hervorbringt. Die weitgehende gesellschaftliche Akzeptanz nichtehelicher Lebensgemeinschaften stellt in dieser Hinsicht den epochalen Zivilisationsgewinn wieder in Frage, der im Verlauf der Kulturgeschichte durch den Sieg der Monogamie über die Eheformen minderen Rechts (z. B. die sogenannte Mindelehe) und den Wegfall der Eheverbote für die niederen Gesellschaftsschichten erreicht wurde. Dass sich die Monogamie als Ausdruck der gleichberechtigten Anerkennung von Frau und Mann durchsetzen konnte und dass diese Form der Subjektbeziehung zwischen den Geschlechtern heute jedermann offen steht, ist die Errungenschaft eines Ethos der Menschenwürde und einer aufgeklärten Rechtskultur, die in der Diskussion um Notwendigkeit und Grenzen eheanaloger Rechtsformen für nichteheliche Lebensgemeinschaften nicht zur Disposition gestellt werden darf.
10 So der Untertitel der programmatischen Schrift von Herrad Schenk, Freie Liebe, wilde Ehe, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1988. 11 P. Mikat, Ethische Strukturen der Ehe in unserer Zeit, Paderborn 1987, S. 51.
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4. Die Familie als erweiterter Lebensraum ehelicher Liebe
Die Verbindung zweier Einzelbiographien zu einem Lebensprojekt für die gemeinsame Zukunft führt Frau und Mann zur Ehe als der Lebensform ihrer Liebe zusammen. Indem sich diese Zweierbeziehung für die Ankunft ihrer Kinder nochmals öffnet, entsteht die Familie als der eigentliche Lebensraum der Liebe. In der Bereitschaft, Kindern das Leben zu schenken und gemeinsam Elternverantwortung zu übernehmen, kündigt sich eine neue Phase des partnerschaftlichen Lebens an. Die Eltern überschreiten ihre gemeinsame Lebenszeit auf die Zukunft ihrer Kinder hin, aber die Ankunft neuen Lebens gibt zugleich der eigenen Beziehung festeren Zusammenhalt. In seinem Jugendfragment „Entwürfe über Religion und Liebe“ hat Hegel die innere Hinordnung auf das Kind aus dem Wesen der ehelichen Liebe entwickelt. Diese versteht er als Streben des Getrennten nach Einheit: „In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes, (sondern) als Einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige“.12 Das Verlangen nach körperlicher und seelischer Vereinigung kommt jedoch nicht im Zusammensein der Liebenden, sondern erst in einem Einheitspunkt außerhalb ihrer selbst, in einem Dritten als dem „Keim“ ihrer Liebe, dem Kind, zur Vollendung: „Und so ist nun: das Einige, die Getrennten und das Wiedervereinigte. Die Vereinigten trennen sich wieder, aber im Kind ist die Vereinigung selbst ungetrennt worden.“13 Wenn das Zweite Vatikanische Konzil betont, dass die Liebe der Ehepartner ihrem Wesen nach (vgl. Gaudium et spes, Nr. 51: indole sua) auf die Weitergabe des Lebens ausgerichtet ist, will es den Eigenwert und die immanente Sinnhaftigkeit der Partnerbeziehung nicht in Frage stellen. Es vermeidet bewusst alle terminologischen und sachlichen Anspielungen auf die traditionelle Ehezwecklehre, betont jedoch zugleich, dass die Bereitschaft, Kindern das Leben zu schenken und sie zu erziehen, der Liebe nicht fremd ist.14 Die Erweiterung der Ehe zur Familie stellt nicht nur einen äußeren Aufgabenzuwachs dar, sondern sie entspricht der inneren Ausrichtung der ehelichen Liebe auf ein gemeinsames Ziel, das die Eheleute davor bewahrt, den Kreis ihrer Liebe zu eng zu ziehen und sich in der Zweisamkeit einzuschließen. Die Selbstzwecklichkeit ihrer Partnerbeziehung, die ihren Sinn und Eigenwert in sich trägt, darf ja nicht mit einer egoistischen Selbstgenügsamkeit verwechselt werden, die dem Wesen der Liebe widerspricht. In der Zeugung und Erziehung der Kinder, im Geprägtwerden durch das Zusammenleben mit ihnen und in der Selbsterfahrung durch das Vater- und Muttersein erschließt sich den Ehepartnern vielmehr eine neue existentielle Sinndimension, die zur Wirklichkeit ihrer Liebe hinzugehört. Allerdings bedeutet dies nicht, dass die „Fruchtbarkeit“, die zum Wesen der ehelichen Liebe gehört, sich nur durch die biologische Fortpflanzungsfunktion der Sexualität erfüllen könnte. Nicht nur die ungewollt kinderlose Ehe, sondern auch der Einsatz von Ehepartnern für ein gemeinsames Ziel, das über die biologische Ebene hinausführt (Adoption von Kindern, soziales Engagement, Einsatz in Politik, Kunst und Wissenschaft), kann die wesentliche Offenheit ihrer Liebe erfüllen. Allerdings ist die bewusste G. W. F. Hegel, Frühe Schriften (Theorie Werkausgabe, Bd. 1), Frankfurt a. M. 1971, S. 246. Ebd., S. 249. 14 Vgl. N. Lüdecke, Eheschließung als Bund. Genese und Exegese der Ehelehre der Konzilskonstitution „Gaudium et spes“ in kanonistischer Auswertung, Würzburg 1989, S. 527 – 541; S. 772 – 778; S. 819. 12 13
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Entscheidung gegen ein Leben mit eigenen Kindern, sofern sie nicht aus medizinischgenetischen Gründen nahe liegt, als ein Grenzphänomen anzusehen, das aus der Sicht eines umfassenden anthropologischen Verständnisses von Ehe und Familie mit kritischen Anfragen zu konfrontieren ist. Zollen die Eheleute nicht insgeheim doch der Selbstverwirklichungs-Ideologie und dem emanzipatorischen Pathos unserer Zeit einen zu hohen Tribut? Wenn Kinder als Störung und Belastung empfunden werden, weil sie der eigenen Lebensplanung im Wege stehen, nehmen andere Interessen (Karriereplanung, Streben nach persönlicher Unabhängigkeit) den Rang dominanter Lebensziele ein, hinter denen sich ein uneingestandener égoisme à deux verbergen kann. Die Rede von der „verantwortlichen Nicht-Elternschaft“, die heute mancherorts üblich geworden ist, kann daher nicht bedeuten, dass die Elternaufgabe und die Entscheidung gegen ein Leben mit Kindern gleichrangige Möglichkeiten der ehelichen Beziehungsgestaltung wären. Der bewusste Ausschluss von Kindern bringt die eheliche Liebe, die in sich selbst aufgrund ihrer unverwechselbaren gemeinsamen Lebensgestalt sinnhaft und bedeutungsvoll ist, in die Gefahr der Selbstgenügsamkeit. Umgekehrt wächst die Ehe durch die Kinder, in denen das empfangene Leben und die erfahrene Liebe weitergegeben werden, über sich hinaus in den um eine neue Dimension bereicherten Lebensraum der Familie. Durch das gemeinsame Leben mit ihren (eigenen) Kindern machen die Eltern bis in die alltägliche Lebensführung hinein damit Ernst, dass die Ehe in der Gestaltung von Zweisamkeit nicht aufgeht, sondern sich durch die Offenheit für das entstehende Leben in eine neue Qualität überführt, die für das gemeinsame Leben der Partner auch dann noch bedeutsam bleibt, wenn die erwachsenen Kinder das Zuhause verlassen und ihrerseits eine Familie gründen. Der Umstand, dass die Eheleute durch die mit der Ankunft von Kindern vollzogene Familiengründung ihre eigene Lebenszeit in die offene Zukunft einer neuen Generation hinein übersteigen, verweist auf die anthropologische Bedeutung der zeitübergreifenden Dauer sozialer und moralischer Institutionen für das menschliche Leben. Diese erfüllen nicht nur eine kompensatorische Funktion zum (sekundären) Ausgleich der biologischen Mangelausstattung des Menschen, die sich aus dem Vergleich mit der Instinktgesichertheit des Tieres ergibt. Soziale und moralische Institutionen sind als „nach außen gesetzte Strukturgerüste menschlicher Selbstverwirklichung“ (W. Korff) vielmehr primäre Organisationsformen menschlicher Existenz, in denen sich die Selbsttranszendenz des Geistes vollzieht und leibgebundene Individuen ihre existentielle Bedeutsamkeit füreinander und ihre Kooperationsbereitschaft in der Verwirklichung gemeinsamer Lebensaufgaben in dauerhafter, den momentanen Wechsel ihrer Gefühlslagen übersteigenden Weise bekunden.15 Die innere Verschränkung von Ehe und Familie setzt den anthropologischen Vorgang der Selbsttranszendenz des menschlichen Geistes, als dessen strukturelles Medium soziale und moralische Institutionen wirken, nach zwei Richtungen hin frei: Durch die Ehe wird die partnerschaftliche Zuneigung zur „rechtlich sittlichen Liebe, wodurch das Vergängliche, Launenhafte und bloß Subjektive derselben verschwindet“16; durch die Familie wird die gemeinsame eheliche Lebenszeit zum Moment einer offenen Generationenfolge, in der sich die innerweltliche Zukunft des 15 W. Korff, Institutionstheorie. Die sittliche Struktur gesellschaftlicher Lebensform, in: Handbuch der christlichen Ethik I, Freiburg i. Br. 1978, S. 168 – 176, bes. S. 171. 16 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 161, Zusatz (Theorie Werkausgabe, Bd. 7), Frankfurt a. M. 1976, S. 310.
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Lebens darstellt. Von dieser doppelten (vertikalen und horizontalen) anthropologischen Ausgriffsstruktur her ist das kirchliche Familienverständnis ungeachtet seiner historischen Nähe zum kulturellen Leitbild der bürgerlichen Kleinfamilie mit einer Vielfalt soziologischer Familienformen vereinbar, sofern diese die Ehe zur Grundlage haben und diese sich wiederum durch das Dasein der Kinder zum größeren Lebensraum der ehelichen Liebe erweitert.17 Aus sozialethischer Sicht ist das Ideal der frei gewählten Nicht-Elternschaft zudem daraufhin zu befragen, in welcher Form bewusst kinderlos lebende Ehepaare der Verantwortung der Generationen füreinander gerecht werden. Auch wenn es nicht von vornherein ausgeschlossen erscheint, dass man auch auf andere Weise als durch Kinderzeugung und -erziehung für den qualitativen Erhalt der Generationenfolge eintreten kann, bleibt die bewusste Option gegen Kinder von einer gewissen Zweideutigkeit und Selbstwidersprüchlichkeit belastet. Die kinderlosen Ehepaare können nämlich um ihrer eigenen Zukunftssicherung willen nicht auf die kinderzeugenden verzichten, ja sie leben, wenn ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung eine kritische Schwelle übersteigt, auf deren Kosten und von deren materiellen und immateriellen Einsatz. Die Verantwortung der Generationen füreinander lässt sich nun einmal nicht ohne die Bereitschaft wahrnehmen, das empfangene Leben an eigene oder angenommene Kinder weiterzugeben. Es muss deshalb sehr wohl gefragt werden, ob die grundsätzliche Weigerung, Verantwortung für eigene, adoptierte oder zeitweilig in Pflege genommene Kinder zu übernehmen, mit dem inneren Sinn der Ehe vereinbar ist. Während die katholische Ehetheologie und das Kirchenrecht in der Bereitschaft, Kindern das Leben zu schenken, eine Wesenseigenschaft der Ehe sehen, deren bewusster Ausschluss die Ehe überhaupt nicht zustande kommen lässt (vgl. CIC Can. 1096), urteilen protestantische Sozialethiker vorsichtiger. Sie wollen die Entscheidung für ein Leben ohne Kinder nicht völlig ausschließen, stellen dabei jedoch besondere Anforderungen an die ethische Zulässigkeit einer solchen Entscheidung, die dadurch als Grenzfall oder Ausnahmesituation qualifiziert bleibt. So schreibt der Marburger Sozialethiker Manfred Marquardt: „Wenn auch der mitschöpferische Auftrag der Eheleute zur Entelechie der Ehe gehört, kann es dennoch gute Gründe in den eigenen Lebensumständen, in der Lebenswelt insgesamt oder in den persönlichen Zielsetzungen geben, die dafür sprechen, im konkreten Fall auf (eigene) Kinder zu verzichten. Die christlich begründete Ethik wird in der Regel Mut zur Elternaufgabe machen.“18
II. Herausforderungen der herkömmlichen Ehe- und Familienauffassung durch die Akzeptanz alternativer Lebensformen 1. Die wachsende Instabilität menschlicher Lebensläufe
Die in soziologischen Gegenwartsbeschreibungen als Grundzug der modernen Lebenswelt herausgestellte Optionserweiterung, die auch vor tragenden Bindungen und Lebensformen nicht Halt macht, stellt für das christliche Eheverständnis eine epochale Vgl. G. Marschütz, a. a. O., S. 236. M. Marquardt, Ehe – Raum des Lebens, in: W. Härle / R. Preul (Hrsg.), Marburger Jahrbuch Theologie VII, Sexualität, Lebensformen, Liebe, Marburg 1995, S. 94. 17 18
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Herausforderung dar. In Verbindung mit der wachsenden Instabilität und Segmentierung von Einzelbiographien macht sie den Entschluss zur Ehe, wenn er gegenüber anderen ebenfalls offen stehenden Möglichkeiten schließlich getroffen wird, häufig zu einer faktisch korrekturoffenen Entscheidung, die sich in einer nachehelichen Lebensphase auch durch andere Optionen ersetzen lässt. Die innere Distanz des kirchlichen Eheideals zum Druck einer gesellschaftlichen Gegenrealität ist inzwischen so groß geworden, dass auch katholische Moraltheologen zu fragen beginnen, ob die Möglichkeit unwiderruflicher Lebensentscheidungen, mit der die christliche Ethik in der Vergangenheit ganz selbstverständlich rechnete, nicht an die gesellschaftliche Basis einer bürgerlichen Ständegesellschaft gebunden war.19 Auch wenn die christliche Ethik an der prinzipiellen Möglichkeit unwiderruflicher Lebensentscheidungen festhalten wird, weil in ihnen die Einmaligkeit der menschlichen Person und die Unwiederholbarkeit ihrer Lebensgeschichte den angemessensten Ausdruck finden, muss sie nach den gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen fragen, unter denen solche Entscheidungen heute stehen. Sie wird deshalb nicht alle Formen nichtehelichen Zusammenlebens als Zeichen einer prinzipiellen Bindungsunfähigkeit werten, sondern anerkennen, dass solche Vorstufen im Bewusstsein der Betroffenen der Suche nach dauerhafter Bindung und der Vorbereitung einer tragfähigen Lebensentscheidung dienen können. Wenn in der Bejahung partnerschaftlicher Treue, in der Einbettung des sexuellen Lebens in eine als tragfähig erfahrene personale Beziehung und in der Offenheit auf die spätere Ehe hin positive menschliche Werte realisiert werden, entspricht dies zwar nicht der Vollform verbindlicher Liebe und Treue. Ein solches Suchen und Auf-dem-Weg-Sein darf aber auch nicht auf eine Stufe mit unverbindlichen sexuellen Probeverhältnisse gestellt werden, in denen solche Werte keine Rolle spielen und Sexualität außerhalb einer personalen Bindung gelebt wird. Vor allem in den nichtehelichen Partnerschaften, in denen der Entschluss zur späteren Heirat bereits gefallen ist, sind die wesentlichen Elemente personaler Partnerschaft und auch der Wille zur verbindlichen Treue vorhanden, die dem kirchlichen Eheverständnis entsprechen. Die Tatsache, dass über 80 Prozent der Brautpaare vor ihrer kirchlichen Eheschließung in nichtehelichen Lebensgemeinschaften gelebt haben und das bisherige Zusammenleben als ein wichtiges Durchgangsstadium empfinden, das sie zur Ehe hingeführt hat, muss auch in einer theologisch-ethischen Gesamtbewertung Berücksichtigung finden. Vieles spricht dafür, dass diese Form der nichtehelichen Lebensgemeinschaft ein funktionales Äquivalent zur früheren Verlobungszeit darstellt, mit dem Unterschied freilich, dass sexuelle Beziehungen heute schon lange vor dem formellen Eheabschluss aufgenommen werden. Trotz der historischen Analogien, die es als Vorformen zur Ehe auch in der Vergangenheit gab, wird eine ethische Beurteilung die bis in weite kirchliche Kreise hinein selbstverständlich praktizierten vorehelichen Beziehungsformen auch mit kritischen Vorbehalten konfrontieren. Natürlich muss es vielfältige Formen des Einander-Erprobens und Einander-Kennenlernens geben, unter denen sich die Zusammengehörigkeit der Partner im leib-seelischen Ausdrucksfeld ihrer Beziehung klären kann. Aber keine noch so ernsthafte Probe, kein existentielles Experiment kann die freie Entschiedenheit füreinander ersetzen, die sich ein Leben lang in schöpferischer Treue bewähren muss. 19
Vgl. dazu D. Mieth, in: Rheinischer Merkur vom 17. Januar 1997.
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Eine unter den Bedingungen einer Nicht-Ehe vorgeschaltete Probezeit kann deshalb im Grunde immer nur die potentiellen Ehepartner, aber nicht das eheliche Leben selbst erproben. Die eigentliche Existenzentdeckung durch die Liebe ereignet sich nicht am Anfang einer Beziehung, sondern erst im Verlauf ihrer Dauer, wenn aus all dem, was den Partner attraktiv und faszinierend macht, die Person des anderen auch in ihrer bleibenden Fremdartigkeit und Andersartigkeit hervortritt. Zu dieser Entdeckung durch die Liebe gehört auch die Erfahrung, dass überzogene Glückserwartungen zerbrechen und dass miteinander durchgestandene Schwierigkeiten die Beziehung stärken können, weil das dauerhafte Glück durch die Andersartigkeit des Partners gerade gefördert wird. Die eigentliche ethische Problematik vorehelicher Lebensgemeinschaften liegt deshalb weniger in der Aufnahme sexueller Beziehungen vor dem Eheabschluss als in dem Aufschub endgültiger Verantwortungsübernahme füreinander. Man lebt etwas, zu dem man, aus welchen Gründen auch immer, vor der staatlichen und kirchlichen Gemeinschaft noch nicht stehen kann. Das Experiment mit zwar ernst gemeinten, doch vorläufigen Plänen tritt an die Stelle des Wagnisses einer bewussten Lebensführung unter dem Anspruch einer einmaligen, unwiderruflichen Wahl. Der gedankliche Brückenschlag, der es der theologischen Ethik erlaubt, einerseits an einem anspruchsvollen Eheideal festzuhalten und andererseits auch die vor der bewussten Übernahme dieses Ideals gelebten humanen Werte anzuerkennen, ist in dem Grundsatz der christlichen Erziehung und des kirchlichen Lebens zu suchen, den man im Anschluss an eine Formulierung von Papst Johannes Paul II. das „Gesetz der Gradualität“ nennt.20 Danach soll die kirchliche Verkündigung nicht nur auf noch vorliegende Defizite in den Lebenswegen der Menschen achten, sondern ihren bereits zurückgelegten Weg als ein stufenweises Wachstum würdigen, das dem Ziel des Evangeliums entgegenführt. Die Kirche wird keineswegs alles, was heute gängige Praxis ist, als vor dem Evangelium gültige Lebensform akzeptieren können. Aber sie wird auch nicht allen Formen partnerschaftlichen Lebens, in denen sie keine gleichwertige Alternative zur Ehe sehen kann, von vornherein jede moralische Qualität absprechen und die gemeinsamen Erfahrungen, die von den Betroffenen selbst oft als positiv empfunden werden, als wertlos oder irreführend zurückweisen. Wenn die Botschaft des Evangeliums als eine Ermutigung zum Leben gehört werden soll, müssen kirchliche Stellungnahmen erkennen lassen, dass sie um die praktischen Schwierigkeiten, unter denen der Weg zur Eheschließung und Familiengründung heute steht, wissen und diese auch ernst nehmen. Nur eine differenzierte Wahrnehmung, nicht aber pauschale Verurteilung gibt das Recht, die pragmatischen Gründe infrage zu stellen, die zum Eheaufschub auch über lange Zeiträume hinweg führen und an die tiefer liegenden Selbstblockaden zu erinnern, die dem Wagnis einer christlichen Ehe entgegenstehen. Dass viele Menschen heute nicht mehr die Kraft zu unwiderruflichen Lebensentscheidungen finden, lässt sich nicht nur auf das Zerbrechen einer sozialen Ständeordnung, die jedem einen festen Platz im Leben zuwies, und den geänderten Rhythmus von Lebensläufen in einer mobilen Gesellschaft zurückführen. Die gewachsenen Schwierigkeiten, zu tragfähigen Bindungen vorzustoßen und in einer unwiderruflichen Wahl dauerhafte Verantwortung zu übernehmen, hängen auch mit der Herausforderung zusammen, die eine gestiegene durchschnittliche Lebenserwartung für die individuelle Lebensplanung darstellt. Auf einer 20
Vgl. Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, Nr. 9.
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tieferen Ebene, auf der in stärkerem Maß anthropologische Grundaussagen des christlichen Glaubens ins Spiel kommen, wäre schließlich zu fragen, in welchem Zusammenhang die zunehmende Unfähigkeit zu definitiven Lebensentscheidungen mit der Verdrängung des Wissens um die eigene Sterblichkeit steht. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit nötigt den Menschen, sich über die Möglichkeiten seines Lebens im Ganzen Rechenschaft zu geben; die Gewissheit des Todes zwingt zu der Frage, worauf sich im Leben wirklich bauen lässt und verleiht so der individuellen Lebenszeit erst ihren ganzen Ernst. Dagegen führt das Fernhalten des Todes nicht dazu, dass der Mensch seine begrenzte Lebenszeit intensiver erlebt, sondern es verführt ihn zu einem unernsten Spiel mit immer neuen illusionären Möglichkeiten. So löst sich das Ganze des Lebens in eine Fülle von Teilabschnitten auf, deren Bindeglieder nur noch die schnell verdrängten Enttäuschungen sind, wenn ein Lebensinhalt nicht gehalten hat, was er zunächst versprach. Wo der Tod aus dem Leben verbannt wird, schwindet dann zugleich die Fähigkeit, durch Enttäuschungen hindurch zu tragfähigen Lebensinhalten vorzustoßen und mit der Möglichkeit endgültiger Erfüllung ernsthaft zu rechnen.21 2. Die Bedeutung der ehebezogenen Familie
Der Wandel familialer Lebensmuster betraf in den letzten Jahrzehnten nicht nur die Ehe. Er führte auch zu einem Bedeutungswandel der Familie, dessen Tragweite theologisch noch kaum erfasst ist.22 Die fraglose Gleichsetzung von Ehe und Familie war vor einem historisch-sozialen Hintergrund adäquat, in dem der Generationenkreislauf kürzere Rhythmen kannte und der Zeithorizont der individuellen Lebensplanung deutlich geringer war. Die Ablösung aus der Herkunftsfamilie geschah früher durch die eigene Eheschließung, die zugleich der Auftakt zur Gründung einer neuen Familie war. Für die zurückgelassenen Eltern, die mit der Erziehung ihrer Kinder ihre wichtigste Lebensaufgabe abgeschlossen hatten, begannen mit deren Auszug aus der häuslichen Wohngemeinschaft zugleich der Rückzug aus dem Berufsleben und die Vorbereitung auf das Alter. Häufig wurde die noch verbleibende gemeinsame Lebenszeit durch den frühen Tod eines der Partner noch weiter begrenzt, so dass das Ende der Familienphase für den allein zurückbleibenden Teil fast gleichbedeutend mit dem Beginn des Witwenstandes war. Demgegenüber ist heute die Bedeutung der Familienphase innerhalb der Ehe deutlich zurückgegangen; sie stellt aufs Ganze der gemeinsamen Lebensdauer bezogen einen wichtigen, aber nicht mehr den allein ausschlaggebenden Abschnitt dar. Schon die Tatsache, dass sich die Gesamtdauer der gemeinsamen Lebenszeit im Vergleich zu früheren Generationen beinahe verdoppelt hat, zeigt, dass die Bedeutung der Familienphase in der Sequenz der Lebenszyklen zurückgegangen ist. Die frühere Ablösung aus dem eigenen Familienhintergrund, der vorgezogene Beginn der nachfamilialen Phase durch den Weggang der Kinder und die längere Dauer der sogenannten Altersehe machen deutlich, 21 Vgl. dazu N. Hinske, Todeserfahrung und Lebensentscheidung, in: Trierer Theologische Zeitschrift 82 (1973), S. 206 – 227, hier S. 220 – 223, und K. Demmer, Die unwiderrufliche Entscheidung. Überlegungen zur Theologie der Lebenswahl, in: Communio 3 (1974), S. 385 – 398. 22 Vgl. dazu G. Lohfink, Die christliche Familie – eine Hauskirche?, in: Theologische Quartalschrift 163 (1983), S. 227 – 229.
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dass die Ehepartner heute in viel stärkerem Maße auf ihre eigene Partnerschaft zurückgeworfen sind. Die kirchliche Ehetheologie sollte diesem Wechsel der familialen Lebenslagen Rechnung tragen, indem sie das familienbezogene Eheideal durch das Leitbild einer partnerschaftsbezogenen Familie ergänzt.23 Trotz der wesentlichen Offenheit der ehelichen Liebe auf die Fortpflanzung und die Erziehung von Kindern sollte das enge Junktim, das in der kirchlichen Ehelehre zwischen Ehe und Familie herrscht, in Zukunft anders akzentuiert werden. Die eheliche Partnerschaft ist nicht nur Grundlage der Familie, wenngleich sie ihre notwendige Voraussetzung ist. Eine völlige Dissoziation von Ehe und Familie, wie sie von den Vertretern nichtehelicher Lebensgemeinschaften gefordert wird und in der familiensoziologischen und familienrechtlichen Terminologie inzwischen weitgehend üblich ist, würde den notwendigen Schutzraum noch weiter gefährden, in dem Kinder aufwachsen. Es muss im Leben Orte unbedingter Verlässlichkeit geben, die nicht von vornherein durch zeitliche Vorbehalte oder andere Bindungskautelen relativiert sind. Vor allem im Hinblick auf die existentiellen Grenzerfahrungen von Not, Unglück, Krankheit und Alter sind keine alternativen Lebensformen in Sicht, die diese Aufgaben anstelle der Familie gewährleisten könnten.24 Damit die Familie eine soziale Grundeinheit des Lebens bleiben und Kinder an einem Ort aufwachsen können, an dem sie die unbedingte Verlässlichkeit des Lebens modellhaft erleben, sollten die Eltern selbst in ihrer gegenseitigen Beziehung solche Verlässlichkeit repräsentieren. Nur die ehebezogene Familie kann deshalb die Aufgabe einer sozialen Grundeinheit im Vollsinn des Wortes wahrnehmen, die auch unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen unersetzbar bleibt. Wird dagegen der Begriff der Familie nur durch das Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern definiert oder gar auf die Mutter-Kind-Dyade reduziert, können ihre eigenständige anthropologische Bedeutung und ihre genuine Sonderstellung gegenüber allen anderen sozialen Gebilden nicht mehr adäquat erfasst werden. In seiner Studie „Familie als soziales Subjekt“ spricht Savio Antonio F. Vaz deshalb von einem spezifischen Wir-Charakter der Familie, der durch die zukunftseröffnende Verlässlichkeit entsteht, die auf die Beziehung der Ehegatten untereinander gegründet ist: „Familie im christlichen Verständnis ist auch ihrerseits eine lebensoffene Gemeinschaft, ein lebensoffenes Wir. Als solches leistet sie ohne Zweifel unverzichtbare Dienste für die eigene Gemeinschaft wie für die Gesellschaft im allgemeinen – so geht es sicherlich auch darum, eine geordnete Erziehung der Kinder zu gewährleisten, sie begreift selbstverständlich die Sorge und Pflege von kranken und alten Familienmitgliedern als ihre Aufgabe, sie leistet in vielfältiger Hinsicht Dienste, ohne die eine Gesellschaft keinen Bestand haben könnte. Aber sie erschöpft sich eben nicht darin, Dienste zu leisten oder unverzichtbare Funktionen auszuüben. Sie ist darüber hinaus sichtbarer Ausdruck eines Versprechens von Zukunft; und da sie in ihrer Identität, nicht in ihren Funktionen für dieses Versprechen steht, eignet ihr auch ein sozialer Subjektcharakter, der nicht sekundärer Art, sondern ursprünglicher Natur ist.“25 23
Vgl. H. G. Gruber, Christliche Ehe in moderner Gesellschaft, Freiburg i. Br. 1994, S. 272 –
276. 24 Vgl. A. Auer, Artikel „Ehe und Familie“ I. theologisch, in: Staatslexikon, hrsg. v. d. GörresGesellschaft, Bd. 2, 7. Aufl., Freiburg i. Br. 1986, Sp. 86 – 96. 25 Vgl. S. A. F. Vaz, Familie als soziales Subjekt. Eine theologisch-ethische Positionsbestimmung, St. Ottilien 2007, S. 332.
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Eberhard Schockenhoff 3. Der Beitrag der Kirche zum Gelingen von Ehe und Familie
Die Entscheidung für den konkreten Lebenspartner und die Ungewissheit über die gemeinsame Zukunft machte die Lebenswahl der Menschen schon immer zu einer Entscheidung, in die Ungewissheit und Risiko miteinfließen. Dieses natürliche Wagnis der Eheschließung verschärft sich heute durch Veränderungen der gesellschaftlichen Lebenswelt, die das unverrechenbare Risiko eines gemeinsamen Lebens in Ehe und Familie zusätzlich erhöhen. Insofern die größere Riskiertheit des partnerschaftlichen Lebens in Ehe und Familie eine Konsequenz langfristiger Veränderungen der Gesellschaft ist, lässt sich diese Entwicklung durch die Kirche nicht unmittelbar beeinflussen. Sie kann den Ehen und Familien in unserer Gesellschaft jedoch indirekt Hilfe leisten. Christliche Gemeinden können für junge Familien zu Räumen der Begegnung werden, in denen sie ihre Isolation überwinden. Sie können junge Menschen auf ihrem Lebensweg begleiten und sie in die Sinngrundlagen des Glaubens einführen, in denen sie eine Antwort auf die entscheidenden Grundfragen der menschlichen Existenz finden. Den wichtigsten Dienst, der im Raum der Kirche jungen Menschen auf den Weg zu einer reifen Partnerschaft angeboten werden kann, leisten jedoch die Ehepartner und die Familien selbst. Durch die Selbstverständlichkeit ihres Daseins zeigen sie, dass die Institution Ehe und die Institution Familie für viele Menschen noch immer die überzeugendste Antwort auf die Frage nach ihrem Ort in der Welt und ihrer persönlichen Aufgabe in ihr darstellen. Wichtiger als alle soziologischen Analysen und theologischen Begründungen, wichtiger auch als päpstliche Enzykliken, Familiensonntage und ein Internationales Jahr des Kindes ist das Beispiel einer glaubwürdigen „Normalehe“ oder „Durchschnittsfamilie“, das jungen Menschen lebensnah vor Augen führt, wie sich die Idee einer erfüllenden Beziehung zwischen Frau und Mann in Ehe und Familie verwirklichen lässt.
III. Rechtsethische Fragestellungen 1. Der besondere Schutz von Ehe und Familie
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland schreibt in Art. 6 Staat und Politik einen „besonderen“ Schutz von Ehe und Familie vor.26 Der genaue Umfang dieses Schutzauftrages wird in den verfassungsrechtlichen Kommentaren unterschiedlich bestimmt, doch enthält er nach der vorherrschenden Lehre einen „Kerngehalt“, der dem Gesetzgeber einerseits die Förderung von Ehe und Familie auferlegt und andererseits seinen Gestaltungsspielraum in Bezug auf andere Lebensformen begrenzt. Dabei hat der nach Art. 6 I GG garantierte Schutz von Ehe und Familie nicht nur programmatischen Charakter, sondern er stellt nach einer frühen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aktuell bindendes Verfassungsrecht dar, dem mögliche rechtliche Regelungen durch Einzelgesetze nicht widersprechen dürfen.27 26 Vgl. zum Folgenden E. Schockenhoff, Die Schwierigkeiten des Rechts mit der Liebe. Ein theologisch-ethischer Beitrag zum Verhältnis von Ehe und nichtehelichen Lebensgemeinschaften, in: J. E. Scherpe / N. Yassari (Hrsg.), Die Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften. The legal Status of Cohabitants (Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht 81), Tübingen 2005, S. 181 – 201. 27 Vgl. BVerfGE 6, 55 Leitsatz 5 und dazu R. Gröschner, Kommentar zu Art. 6 GG, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1: Art. 1 – 19, Tübingen 1996, Art. 6, Rdnr. 18.
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Das Verfassungsgebot des besonderen Schutzes von Ehe und Familie steht in einem verhältnismäßig jungen verfassungsgeschichtlichen Kontext. Die verfassungsgeschichtliche Tradition des Art. 6 I GG reicht nur bis zur Weimarer Reichsverfassung zurück. Art. 119 – 122 WRV garantierten – und dabei handelte es sich um ein Novum innerhalb der europäischen Verfassungsgeschichte – den Schutz von Ehe, Familie, Mutterschaft, elterlichem Erziehungsrecht, unehelichen Kindern und jugendlichen Personen. Im Vergleich zu diesen früheren verfassungsrechtlichen Bestimmungen fällt die zurückhaltende Formulierung von Art. 6 I GG auf: Die Ehe soll nunmehr um ihrer selbst willen und nicht mehr allein „als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation“ geschützt werden; die Aufgaben des Staates gegenüber der Familie werden auf den Erhalt ihrer Funktionsfähigkeit, aber nicht mehr auf ihre „Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung“ bezogen; schließlich wird die Erziehung der Kinder als vorrangiges Elternrecht bezeichnet, das diese in eigenverantwortlicher Wahrnehmung ausüben. Die elterliche Erziehung wird aber nicht mehr ausdrücklich auf das Ziel der „leiblichen, seelischen und körperlichen Tüchtigkeit“ bezogen. Diese sprachlichen Veränderungen werden von der Verfassungsinterpretation in der Regel als Indiz einer gewachsenen freiheitlichen Tendenz des Grundgesetzes angesehen, die gegenüber dem nationalsozialistischen Missbrauch des Rechts auf die Gewährleistung eines ausreichenden individuellen und sozialen Freiheitsraumes innerhalb der Gesellschaft ausgerichtet ist. Ehe und Familie sind durch die Freiheitsordnung des Grundgesetzes als eine „Sphäre privater Lebensgestaltung“ anerkannt, die staatlicher Einwirkung entzogen ist.28 Ebenso werden die elterlichen Erziehungsziele nicht mehr von Staats wegen definiert, sondern dem Entwurf der Eltern überlassen. Die gegenwärtig zu beobachtende Tendenz der Familienpolitik, dem elterlichen Erziehungsauftrag mit generellem Misstrauen zu begegnen und Erwartungen an die Erziehungskompetenz zu formulieren, die von professionellen Agenturen angeblich besser erfüllt werden können, steht in erkennbarem Widerspruch zu der Hochschätzung, die der Elternaufgabe vonseiten der Verfassung entgegengebracht wird. Die einzelnen Schutzgüter des Art. 6 – Ehe, Familie, Elternverantwortung, Schutz der Mutter und die Stellung des nichtehelichen Kindes – stehen weder vom Wortlaut der Norm noch von ihrer Entstehungsgeschichte noch von ihrem verfassungsrechtlichen Sinnzusammenhang her beziehungslos nebeneinander. In seinem Familiennachzugsurteil aus dem Jahre 1987 hat das Bundesverfassungsgericht seine lange geübte Zurückhaltung aufgegeben und den in Wortlaut und Systematik der Verfassungsnorm von Art. 6 I GG vorausgesetzten Zusammenhang zwischen den beiden Instituten Ehe und Familie deutlicher formuliert: „Die Ehe ist die rechtliche Form umfassender Bindung zwischen Mann und Frau; sie ist alleinige Grundlage einer vollständigen Familiengemeinschaft und als solche Voraussetzung für die bestmögliche körperliche, geistige und seelische Entwicklung von Kindern.“29 Unverkennbar sind hier Ehe und Familie aufeinander bezogen, da die Ehe als „Grundlage“ und „Voraussetzung“ der Familie bezeichnet wird. Dass es daneben auch unvollständige Familien geben kann, in denen durch das Zusammenleben von Eltern und Kindern ähnliche Erziehungs- und Beistandsleistungen erbracht werden, steht dem Leitbild einer „vollständigen“ Familie und der „bestmöglichen“ Verwirklichung dieser Aufgaben nicht entgegen. 28 29
BVerfGE 21, 329 (353). BVerfGE 76, 1 (51).
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Eberhard Schockenhoff 2. Eheanaloge Rechtsformen für nichteheliche Lebensgemeinschaften?
Bei den Diskussionen um eine Verfassungsänderung im wiedervereinigten Deutschland stand erstmals seit der Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat auch der Artikel 6 GG auf dem Prüfstand, ohne dass sich jedoch eine Mehrheit für eine Änderung gefunden hätte. Trotz des engen verfassungsrechtlichen Rahmens werden seitdem verschiedene Anläufe zu einer einfachrechtlichen Übertragung wichtiger Leitgedanken des Ehe- und Familienrechts auf alternative Familienformen unternommen. Im Juli 1996 brachte die Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen eine parlamentarische Gesetzesinitiative zur Regelung der Rechtsverhältnisse in nichtehelichen Lebensgemeinschaften ein. Diese sieht die Schaffung eines eigenen Rechtsinstitutes für nichteheliche Lebensgemeinschaften im Familienrecht vor, das sich in verschiedene Unterformen – solche zwischen Partnern verschiedenen oder gleichen Geschlechts und solche mit und ohne Kinder – differenziert. Für die Anerkennung solcher Ehen minderen Rechts bzw. der neu zu schaffenden Rechtsform für nichteheliche Partnerschaften sollen ausschließlich faktische Gegebenheiten wie die dauerhafte Anlage der Beziehung, die innere Bindung zwischen den Partnern und ihr gegenseitiges Einstehen füreinander maßgeblich sein, die über die Beziehungen einer bloßen Wohngemeinschaft hinausgehen. Dagegen soll bewusst darauf verzichtet werden, das Binnenverhältnis der Partner rechtlich zu regeln. Dahinter steht die These von der prinzipiellen Gleichrangigkeit aller Lebensformen, die den Gesetzgeber dazu verpflichtet, allen Lebensgemeinschaften einen geeigneten Rahmen zur rechtlichen Ausgestaltung ihrer familialen Lebensform bereitzustellen.30 Auch wenn die späteren Gesetzesvorschläge in Einzelheiten von diesem Grundentwurf abweichen, bleiben sie in der Bejahung dieser zentralen Prämisse ganz auf seiner ursprünglichen Linie. Die These von der prinzipiellen Gleichrangigkeit aller Lebensformen stellt jedoch ein politisch-ideologisches Konstrukt ohne verfassungsrechtliche Grundlage dar. Der Gleichheitsgrundsatz rechtfertigt keineswegs eine unterschiedslose Gleichbehandlung aller faktisch vorkommenden Formen des Zusammenlebens; in der Sonderstellung der Ehe als dem verfassungsrechtlich allein anerkannten Leitbild einer umfassenden familialen Lebensgemeinschaft kommt nämlich der Grundsatz zum Ausdruck, dass Gleiches gleich und Verschiedenes verschieden behandelt werden muss. Auch folgt aus dem Umstand, dass unsere freiheitliche Grundordnung den Bürgern kein bestimmtes Ehemodell vorschreibt, sondern die faktische Ausbildung der ihnen passend erscheinenden Familienform ihrer privaten Lebensgestaltung überlässt, noch lange nicht, dass die Wertentscheidung der Verfassung für den Vorrang der ehebezogenen Familie aufgehoben und diese in den Rang einer beliebigen Option unter mehreren prinzipiell gleich gültigen Varianten herabgestuft würde. Aus der Freiheit einzelner Bürger, die verfassungsrechtliche Wertentscheidung für das Leitbild der ehebezogenen Familie für sich nicht übernehmen zu müssen, lässt sich daher kein Gleichstellungsauftrag für andere Lebensformen ableiten. Umgekehrt enthält der besondere Schutzauftrag von Art. 6 I GG allerdings auch kein zwingendes Verfassungsgebot, die Wahl alternativer Bindungsformen durch eine indirekte Bestrafung oder flankierende Repressalien anderer Art zu erschweren. 30
117.
Vgl. dazu M. Wingen, Familienpolitik. Grundlagen und aktuelle Probleme, Bonn 1997, S. 116 –
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Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Blick auf die verschiedenen Formen nichtehelicher Lebensgemeinschaften wird jedoch einerseits durch den Kernbereich des verfassungsrechtlichen Eheverständnisses und andererseits durch die autonome Willenserklärung der Partner selbst begrenzt. Sie haben die konkrete Form ihrer Lebensgemeinschaft bewusst gewählt, um eine Verrechtlichung ihrer Beziehung sowie den Eintritt der Ehewirkungen und ihrer rechtlichen Bindungen zu vermeiden. Eine analoge Übertragung der für die Ehe wesentlichen Rechtsbestimmungen auf solche Partnerschaften widerspräche also nicht nur der erklärten Absicht der Verfassung, sondern auch der ursprünglichen Entscheidung der Partner. Allerdings kann der Respekt des Gesetzgebers vor dieser individuellen Willensäußerung nicht so weit gehen, dass er einen gesellschaftlichen Tatbestand wie den Wandel der faktischen Lebensverhältnisse gänzlich unbeachtet lässt. Auch verzichten nichteheliche Lebenspartner durch den Umstand, dass sie nicht heiraten, nicht schon auf jede Art des rechtlichen Schutzes. Auch wenn sich die Partner dessen zu Beginn ihrer Lebensgemeinschaft nicht ausdrücklich bewusst sein mögen, so stellt diese dennoch keinen rechtsfreien Raum dar. Der Auftrag der Rechtsordnung, den Schwächeren vor ungerechtfertigter Benachteiligung zu schützen, bleibt auch gegenüber einer informellen Bindungsform bestehen, in der die Partner bewusst auf die Übernahme rechtlicher Bindungswirkungen verzichten. Im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit) muss daher auch eine nichteheliche Lebensgemeinschaft als durch die Verfassung geschützt angesehen werden.31 Da das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit aber nur insoweit gewährt wird, als dadurch die Rechte anderer nicht verletzt werden, können auch in informellen Lebensgemeinschaften, zumal wenn diese von langjähriger Dauer sind, faktische Solidaritätspflichten entstehen, deren Eintritt durch das bloße Fehlen oder den bewussten Ausschluss eines rechtlichen Bindungswillens nicht verhindert wird. Wenn der Gesetzgeber versuchen sollte, diesem auf der sittlich-personalen Ebene unbestreitbaren Sachverhalt durch gesetzliche Sonderbestimmungen in den jeweiligen Rechtsgebieten einen auch rechtlich fassbaren Ausdruck zu geben, muss dies nicht zwangsläufig zu einer weiteren Schwächung der Ehe führen. Es kann auch als nachträgliche Korrektur, ja als durch das Diskriminierungsverbot für Ehe und Familie geforderten Ausgleich dafür angesehen werden, dass diese durch die zurückliegende Entwicklung in gewisser Weise benachteiligt wurde. Durch die Reform des Scheidungsrechts hat sich nämlich das rechtliche Risiko des Eheabschlusses insofern erhöht, als eine nur einseitig gewollte Auflösung erleichtert wurde, während die finanziellen Trennungsfolgen für beide Seiten in erheblicher Höhe festgeschrieben bleiben. Es muss daher gefragt werden, ob der Gesetzgeber durch die innere Aushöhlung des Ehebegriffs, durch die Einführung des Zerrüttungsprinzips und durch die Regelung der finanziellen Ausgleichspflichten im Scheidungsfall nicht ungewollt mit dazu beitrug, die Ehewilligkeit der Bevölkerung zu schwächen. Wollte er nunmehr analoge Mindeststandards als nach einem bestimmten Zeitraum automatisch eintretende rechtliche Solidaritätspflichten auch für nichteheliche Lebensgemeinschaften kodifizieren, könnte diese Gleichstellung in den als negativ empfundenen Belastungen sich im gesellschaftlichen Bewusstsein indirekt als der Ehe förderlich erweisen. 31 Vgl. dazu G. Robbers, Kommentar zu Art. 6 GG, in: Christian Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, Präambel, Art. 1 – 19, 4. Aufl., München 1999, S. 776, Rdnr. 43.
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Eine Interventionspflicht der staatlichen Ordnung zugunsten des schwächeren Partners kann insbesondere für den Fall angenommen werden, dass die Partner zur einvernehmlichen Regelung eines Trennungskonfliktes nicht mehr in der Lage sind und sie die Rechtsfolgenprobleme der Auflösung ihrer Lebensgemeinschaft nicht selbst regeln können. Doch erscheint es auch während des Bestehens einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft nicht von vornherein ausgeschlossen, in analoger Anwendung einfachrechtlicher Bestimmungen einzelne Rechtsfolgen der Ehe wie etwa im Mietverhältnis, bei der Sozialhilfe, beim Erbringen unentgeltlicher Pflegeleistungen oder auch bei der Anerkennung von Zeugnisverweigerungsrechten auf nichteheliche Lebensgemeinschaften zu übertragen. Der Gesetzgeber könnte sich dabei an die Unterscheidungslinie halten, dass formelle Ehewirkungen, die eine Bindung auf Dauer voraussetzen, grundsätzlich nicht auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft angewendet werden, während überall dort, wo eine geplante Regelung an eine faktisch enge Verbindung anknüpft, die analoge Übertragung bestimmter Rechtswirkungen möglich ist. Konkret könnte dies bedeuten: keine gesetzliche Erbberechtigung als „de-facto-Ehepartner“, kein gesetzlicher Versorgungsausgleich, kein eheanaloger Unterhaltsanspruch, wohl aber ein rechtlich gesicherter Anspruch auf Entgelt für die Mitarbeit eines Partners beim Beruf oder im Geschäft des anderen, für langjährige Haushaltsführung und ähnliche Dienstleistungen oder für den Verzicht auf eigenes Berufseinkommen wegen der Sorge für ein gemeinsames Kind. Solche subsidiären Hilfestellungen des Rechts können jedoch nur durch privatrechtliche Absprachen der Partner oder – besonders im Konfliktfall – durch richterliche Einzelentscheidung, aber nicht durch die generelle Bereitstellung einer in sich widersprüchlichen Rechtsform minderer Verbindlichkeit sinnvoll sein.32 Ein formelles alternatives Rechtsinstitut in Form eines erst rückwirkend gültigen juristischen Kontrastprogramms würde dem Grundsatz zuwiderlaufen, dass die Vorzüge der Rechtsordnung nur dem offen stehen, der auch die durch sie auferlegten Bindungen zu tragen gewillt ist. Die für den Gedanken rechtlich erzwingbarer Solidarität wesentliche Entsprechung von Rechten und Pflichten lässt sich nicht einseitig und zeitverschoben auflösen, denn man kann nicht in sorglosen Tagen bindungsfrei leben und in Zeiten der Not die Sicherheiten rechtlich geordneter Bindungen in Anspruch nehmen.33 Für das Wertbewusstsein einer Gesellschaft und für die Orientierungsfähigkeit der in ihr lebenden Menschen ist es von erheblicher Bedeutung, dass jedermann weiß, auf welche Art sozialer Beziehungen auch angesichts der Kontrasterfahrungen von Alter und Krankheit, Unglück oder Not Verlass ist. Eben dies ist der Sinn einer rechtlichen Ordnung der Geschlechterbeziehung von Frau und Mann durch die Ehe: Die rechtswirksame Bereitschaft, füreinander Verantwortung zu tragen, entzieht die Ehe dem Belieben der Partner und stiftet so im Binnenverhältnis und gegenüber der Öffentlichkeit eine sichtbare, nach außen transparente Verlässlichkeit, die dem informellen Versprechen nicht eigen ist. Die vom Eherecht geforderte Solidarität, die sich für die Dauer der gesamten Eheführung und selbst noch bei Trennung und Scheidung zeigen muss, entlastet die Gesellschaft aber nur dann, wenn sie nicht beliebig erscheint. Zwar kann partner32 Vgl. H. Lecheler, Schutz von Ehe und Familie, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI: Freiheitsrechte, Heidelberg 1989, S. 211 – 263, bes. S. 251. 33 Vgl. dazu M. Wingen, Nichteheliche Lebensgemeinschaften, Zürich 1984, S. 72.
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schaftliches Füreinander-Einstehen auch in nichtehelichen Lebensgemeinschaften geübt werden; entscheidend ist jedoch, dass dies – vor allem auch im Trennungskonflikt – im Belieben der Partner steht. Beide können das Fortdauern der Partnerschaft jederzeit und folgenlos einstellen, wenn sie nicht bereits beim Eingehen ihrer Lebensgemeinschaft eine vertragliche Regelung ihrer Auflösungsmodalitäten getroffen haben. Aus diesem Grund erscheint es gerechtfertigt, dass die staatliche Rechtsordnung die Ehe als die solidarische Geschlechtsgemeinschaft von Frau und Mann in besonderer Weise schützt und die übernommenen Rechtspflichten durch Vorteile wie Steuererleichterungen, Rentengarantien oder Entlastungen im Erbrecht ausgleicht. Nachdem nichteheliche Lebensgemeinschaften im gesellschaftlichen Bewusstsein heute weitgehend akzeptiert sind, erledigt sich auch das Argument, durch die Schaffung eines eheanalogen Öffentlichkeitsstatus müssten die in ihnen lebenden Familienangehörigen vor gesellschaftlicher Diskriminierung geschützt werden.
3. Das Zusammenleben unverheirateter Eltern mit Kindern
Nochmals anders stellt sich die Lage im Fall nichtehelicher Lebensgemeinschaften dar, in denen die unverheirateten Eltern mit ihren Kindern zusammenleben. Eine grundwertorientierte Rechtspolitik wird solche familialen Lebensformen nicht ausgrenzen wollen, aber dennoch an dem Leitbild der ehebezogenen Familie als einer rechtspolitischen Zielgröße festhalten.34 Die Option für den Vorrang der ehebezogenen Familie stützt sich darauf, dass die verbindliche Bereitschaft, in allen Risiken des Lebens füreinander einzustehen, eine notwendige Voraussetzung für die Fähigkeit ist, Elternverantwortung zu übernehmen. Das Zusammenleben mit Kindern ist mehr als nur eine Privatangelegenheit der Eltern, die ungehindert über ihr Grundrecht der Fortpflanzungsfreiheit verfügen. Die Ordnung dieses Zusammenlebens muss schon um der Kinder willen verlässlich, stabil und nach außen transparent sein. Der Auftrag des Staates, die Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft in besonderer Weise zu fördern, verbietet es daher, der ehebezogenen Familie andere Rechtsformen des Zusammenlebens gleichrangig zur Seite zu stellen. Auch wenn man die Zuträglichkeit bestimmter Familienformen für die psychosoziale Entwicklung der in ihr lebenden Kinder nicht aufgrund eines einzelnen Merkmales beurteilen kann, gibt es doch eine ausreichende Erfahrungsbasis für die Vermutung, dass bestimmte Kriterien hierfür von ausschlaggebender Bedeutung sind. Der frühere Präsident des statistischen Landesamtes von Baden-Württemberg Max Wingen nennt in seiner Studie zu den Grundlagen der Familienpolitik die Vollständigkeit der Paargemeinschaft, die Elternverantwortung übernimmt, die Stabilität der Elternbeziehung, ihre sichtbare Verbindlichkeit und die öffentliche Anerkennung der Lebensgemeinschaft. 35 Einzelne dieser Kriterien, wie etwa die Stabilität der Elternbeziehung, können durchaus auch in nichtehelichen Familienformen gegeben sein, während umgekehrt die formelle Eheschließung der Eltern die Verlässlichkeit ihrer Beziehung nicht schon automatisch garantiert. Dennoch ist es eine im Ganzen tragfähige Präsumption, dass die Kombination solcher Kriterien durch das Leitbild der ehebezogenen Familie in aller Regel am 34 35
Vgl. M. Wingen, Familienpolitik, a. a. O., S. 123 – 125. Vgl. ebd., S. 122.
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sichersten erreicht oder zumindest erleichtert wird. Die Forderung nach Vollständigkeit der Paarbeziehung entwertet nicht die Hochachtung und den Respekt, die alleinerziehende Mütter und Väter verdienen, die von ihren Partnern verlassen wurden und die Aufgabe der Elternverantwortung deshalb unter erschwerten Bedingungen alleine tragen müssen. Solche aus dem Zwang zur Verantwortungsübernahme erwachsenden „EinEltern-Familien“ dürfen jedoch nicht in den Rang eines normativen Ideals erhoben werden, das der ehebezogenen Familie gleichwertig zur Seite gestellt wird. Weil das Leben mit Kindern und die Aufgabe ihrer Erziehung vom Kindeswohl und nicht von den individuellen Wahlentscheidungen der Erwachsenen („free choices“) her zu beurteilen ist, erscheint es um der Kinder willen bedeutungsvoll, dass Mütter und Väter gemeinsam am Erziehungsprozess teilhaben und die Kinder das Zueinander der Geschlechter im unmittelbaren Nahbereich des alltäglichen Lebens erfahren können. Eine erkennbare Stärkung der ehebezogenen Familie durch das staatliche Recht ist darüber hinaus von erheblicher symbolischer Bedeutung, denn das öffentliche Leitbild von Ehe und Familie erbringt für alle Mitglieder der Gesellschaft, auch für die in nichtehelichen Partnerschaftsformen Lebenden, unerlässliche Orientierungsleistungen. Zwei Drittel aller Menschen, die in solchen informellen Beziehungsmustern leben, verstehen ihre derzeitige Lebensform keineswegs als Daueralternative zur Ehe; meist ist die Geburt eines Kindes der Anlass, die aus pragmatischen Gründen aufgeschobene Eheschließung nachzuholen und so die voreheliche Lebensphase in eine rechtsgültige Ehe zu überführen. Dies ist ein starkes Indiz dafür, dass die Ehe keineswegs eine von der gesellschaftlichen Entwicklung überholte Lebensform ist, die dem wachsenden Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Autonomie und Freiheit im Wege steht. Allerdings ist die Erwartung illusorisch, verlässliche familiale Bindungen könnten ohne kulturelle Vorgaben und ohne verbindliche Wertentscheidungen allein aufgrund individueller Präferenzen und biographischer Bedürfnisse entstehen oder auf Dauer erhalten bleiben.36 Eine Gesellschaft, die nicht mehr gewillt wäre, die ehebezogene Familie als Grundeinheit ihres sozialen Zusammenlebens gegenüber anderen Lebens- und Familienformen hervorzuheben, würde daher ihre eigenen Kohäsionskräfte schwächen und zugleich ihren Mitgliedern notwendige Orientierungsvorgaben vorenthalten. Umgekehrt fördert der demokratische Staat das Entstehen demokratischer Tugenden wie Verantwortlichkeit, Solidarität, Bürgerstolz und Gemeinsinn, indem er Ehe und Familie als soziale Grundeinheiten der Gesellschaft achtet und sie durch die Bereitstellung geeigneter Rahmenbedingungen dazu instand setzt, ihren Erziehungsauftrag zu erfüllen. Nur wenn er diesen Auftrag ernst nimmt und ihm in der Familienpolitik den ihm zustehenden Rang einräumt, anerkennt der Staat Ehe und Familie als anthropologisch ursprüngliche, ihm vorgegebene Erlebnis- und Erfahrungsorte, deren Bedeutung für die Subjektwerdung aller Beteiligten, der Eltern wie der Kinder, jede andere menschliche Bindung übersteigt.
36 Vgl. dazu F.-X. Kaufmann, Zukunft der Familie im vereinten Deutschland. Gesellschaftliche und politische Bedingungen, München 1995, S. 183 ff. Vgl. auch P. Kirchhof, Ehe und Familie als Grundlage einer freiheitlichen Gesellschaft, in: Stimmen der Zeit 217 (1999), S. 507 – 516.
Normativ-rechtliche Vorgaben der Familienpolitik Von Paul Kirchhof I. Keine Gesellschaft ohne Kinder, keine Freiheit ohne familiäre Erziehung Jedes Wachstum hat seine Wurzeln im Kind. Nur wenn die nächste Generation einer gut ausgebildeten Jugend in hinreichender Zahl heranwächst, gewinnt der Inlandsmarkt genügend Anbieter und Nachfrager, Firmengründer und Erfinder. Der „Generationenvertrag“ wird nur erfüllt, wenn ein Schuldner – eine leistungsfähige Jugend – existiert. Wissenschaft und Kultur werden nur Fortschritte erzielen, wenn junge Menschen weiter voranschreiten. Das Einlösungsvertrauen in die Währung ist das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der kommenden Generation. Und der innere und äußere Frieden hängen davon ab, dass das demokratische Staatsvolk, die zur Freiheit fähige Kulturgemeinschaft, sich in seinen Kindern eine eigene Zukunft gibt. Staat und Gesellschaft werden deshalb daran gemessen, welche Jugend sie hervorgebracht, welche Prägungen sie der nachfolgenden Generation gegeben haben. Ein Staat ohne freiheitsfähige Jugend wäre ein Staat ohne Zukunft. Der freiheitliche Staat schafft deshalb die Rahmenbedingungen für einen Willen zum Kind und die Bereitschaft zu dessen Erziehung. Das Kind soll in der Geborgenheit der Familie zur Freiheitsfähigkeit heranwachsen, in seiner Muttersprache die Welt begreifen, in der Begegnung mit den Eltern Zuwendung und Sicherheit erfahren, im Vorbild der Eltern zur Religionsfreiheit fähig werden, Eigenständigkeit und wachsende Kräfte zunächst in der Familie erproben, unter der Obhut und Mitverantwortung der Eltern in einen sich ständig erweiternden Kreis von Menschen hineinwachsen, sich schließlich aus der elterlichen Obhut lösen und in Schule, Ausbildung, Beruf und der Gründung einer eigenen Familie Eigenständigkeit gewinnen. Der freiheitliche Staat1 gibt damit seine eigene Zukunft in die Hand der Familie. Die elterliche Erziehung gewährleistet, dass die Kinder hinreichend Selbstbewusstsein, Urteilskraft und Disziplin entwickeln, um in einer freiheitlichen Ordnung leben zu können, aber auch hinreichend Bürgerstolz und Gemeinsinn mitbringen, um als Bürger den demokratischen Staat mitzutragen. Eine besondere Verantwortlichkeit trifft die Eltern bei der religiösen Erziehung. Kein denkender Mensch wird sich der Frage nach dem 1 Zum Verhältnis von Verfassungsstaat und Familienpolitik vgl. Christian Seiler, Entwicklung der Bevölkerung und Familienpolitik, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR), Bd. IV, 3. Aufl., 2006, § 81; Matthias Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, 1994; Udo Di Fabio, Der Schutz von Ehe und Familie: Verfassungsentscheidung für die vitale Gesellschaft, NJW 2003, S. 993 f.; Friederike Gräfin Nesselrode, Das Spannungsverhältnis zwischen Ehe und Familie in Art. 6 des Grundgesetzes, 2007, S. 97 f.
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Ursprung und Ziel der Welt, dem Sinn seines persönlichen Lebens entziehen können und wollen. Die Auseinandersetzung mit dem Religiösen gehört zur Kultur des Menschen. Dennoch darf der weltanschaulich neutrale Staat diese Fragen nicht beantworten, ist vielmehr darauf angelegt, dass die Eltern ihren Kindern im Raum des Religiösen eine gefestigte Lebenssicht und einen orientierenden Lebenssinn erschließen. Dabei bietet die Vielfalt der Familien die Grundlage der Freiheit. Der auf eine freiheitsfähige Jugend angewiesene Rechtsstaat baut somit auf die im Menschen angelegte Bereitschaft, Ehen zu schließen, sich Kinder zu wünschen und diese in familiärer Zuwendung zu erziehen. Diese Verfassungsvoraussetzung2 ist jedoch gegenwärtig in Deutschland nicht mehr selbstverständlich, der demokratische Rechtsstaat deshalb in seiner Existenz gefährdet3: Die Entwicklung von Geburten und Sterbefällen4, die steigende Lebenserwartung der Menschen, die sich vermindernde Zahl von Ehen, die zunehmende Häufigkeit von Scheidungen, der Wiederanstieg der außerehelichen Geburten und die Zahl der Alleinerziehenden belegen, dass der Zusammenhalt der Menschen in der Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Familie gelockert, die gegenseitige Bindung in einer lebenslänglichen Verantwortungs- und Beistandsgemeinschaft5 geschwächt zu werden droht.
II. Drei Ziele der Familienpolitik Dieser Ausgangsbefund veranlasst den Staat, durch eine Familienpolitik seine eigene Zukunft freiheitskonform und wirksam zu sichern. Dabei handelt der Staat im Dienst von drei gegenläufigen Zielen: (1) Junge Menschen wollen eine Lebens-, Zuwendungs- und Verantwortungsgemeinschaft von Ehe und Familie gründen6. Jede Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass sie hinreichend Kinder hervorbringt, diese gut ausbildet, ihnen eine Lebensform bietet, in der ein junger Mensch Sprache und Begegnungsfähigkeit, Freiheitsbewusstsein und Urteilskraft, Wertungssicherheit und Verantwortungsbewusstsein entwickeln kann. (2) Junge Menschen – Männer und Frauen – wollen im Beruf etwas leisten, die dort erlebte Begegnung, Anerkennung und das Einkommen in Anspruch nehmen. Zugleich ist unsere Wirtschaft auf diese Arbeitskräfte angewiesen. Die Wirtschaft beobachtet neben der sinkenden Geburtenrate vor allem auch eine besonders starke 2 Zum Verhältnis von Verfassungsinhalten und Verfassungsvoraussetzungen: Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: HStR Bd. V, 1992, § 115; Paul Kirchhof, Grundrechtsinhalte und Grundrechtsvoraussetzungen, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, § 21. 3 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 1, Gebiet und Bevölkerung 1994, 1996, S. 33 ff.; dass., Fachserie 1, Reihe 3, Haushalte und Familien 1994 (Ergebnisse des Mikrozensus), 1996, S. 211. 4 Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende – der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, 2001; Jürgen Borchert, Renten vor dem Absturz – Ist der Sozialstaat am Ende?, 1993. 5 Vgl. BVerfGE 80, 81 (90 ff.) – Erwachsenenadoption. 6 Vgl. Kurt Biedenkopf / Hans Bertram / Margot Käßmann / Paul Kirchhof / Elisabeth Niejahr / Hans-Werner Sinn / Frans Willekens, Starke Familie. Bericht der Kommission „Familie und demographischer Wandel“, 2005, S. 23 f.
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Verringerung des Bevölkerungsanteils, der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht.7 Der Wirtschaft ist deswegen daran gelegen, dass die Frauenerwerbstätigkeit zunimmt, insbesondere die jungen Mütter möglichst bald in das Erwerbsleben zurückkehren.8 Zugleich wird der Verfassungsauftrag zur Gleichstellung von Mann und Frau9 vor allem auf die berufliche Leistung bezogen,10 Leistung und Erfolg der Familientätigkeit werden vernachlässigt. Die Ökonomisierung des Denkens und der Lebensgestaltung drängt die Familie an den Rand der Gesellschaft. (3) Die Kinder beanspruchen die Zeit ihrer Eltern. Die Eltern nehmen ihr Erziehungsrecht und ihre Erziehungspflicht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) durch Unterhalt, Zuwendung, Verstehen, Autorität wahr. Die Eltern vermitteln ihren Kindern ihre Muttersprache, machen sie durch ihre Aufmerksamkeit, ihre Impulse, ihre Teilhabe an ihrer Entwicklung selbstbewusst und begegnungsfreudig, führen sie in unsere Lebensformen, Werte, Wirtschaftsweisen ein. Auch wenn die Eltern die Erziehung ihrer Kinder fremder Hand überlassen oder sich durch Miterzieher wie die Medien entlasten, bleibt die Pflege und Erziehung der Kinder zuvörderst Sache der Eltern (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG). Diese drei Ziele von Familie, Beruf und Zuwendung zum Kind scheinen gegenläufig, teilweise unvereinbar. Vor allem der Gegensatz von Familie und Beruf scheint oft unüberbrückbar, veranlasst – insbesondere wegen der räumlichen Trennung von Familienort und Berufsort – die jungen Menschen vielfach, sich entweder gegen das Kind oder gegen den Beruf zu entscheiden. Deshalb steht die staatliche Familienpolitik vor allem vor der Aufgabe, Familie und Beruf so vereinbar zu machen, dass für beide Eltern das Angebot der Familienfreiheit (Art. 6 Abs. 1 GG) und das Angebot der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) im Ablauf ihrer Gesamtbiographie von jedem der Beteiligten angenommen werden kann, ohne dass dadurch die Entwicklung des Kindes beeinträchtigt würde. III. Der Schutzauftrag des Grundgesetzes 1. Familie und Elternschaft
Das deutsche Grundgesetz stellt die Lebensgemeinschaft von Ehe und Familie unter den „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ (Art. 6 Abs. 1 GG).11 Dieser Schutzauftrag verpflichtet den Staat, in seiner Rechtsordnung das Institut der Ehe und Familie bereitzustellen, diese Personengemeinschaft als Keimzelle jeder staatlichen Gemeinschaft zu achten und zu schützen, die Ehe und Familie vor Beeinträchtigungen und Belastungen zu bewahren und sie durch geeignete Maßnahmen zu fördern.12 Dabei ist Ehe 7 Bundesministerium für Familie / Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. / Institut der Deutschen Wirtschaft, Bevölkerungsorientierte Familienpolitik – Ein Wachstumsfaktor, 2004, S. 7. 8 A. a. O., S. 14 ff. 9 Vgl. dazu Werner Heun, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2. Aufl., 2004, Art. 3 Rn. 101. 10 Vgl. die Darstellung bei Heun, a. a. O., Rn. 99 ff.; Christian Seiler, a. a. O., Rn. 28 ff., 34 ff. 11 Dazu Gregor Kirchhof, Der besondere Schutz der Familie in Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes, AöR 129 (2004), S. 542. 12 BVerfGE 80, 81 (90 ff.) – Erwachsenenadoption; 88, 203 (258 ff.) – Schwangerschaftsabbruch.
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die frei vereinbarte, durch die Rechtsgemeinschaft anerkannte, grundsätzlich unauflösliche Lebensgemeinschaft von Mann und Frau.13 Sie begründet eine gleichberechtigte Partnerschaft, gegenseitige staatsfreie Privatheit und eine grundsätzlich unauflösliche persönliche Verbundenheit. Die Ehe wird allein durch ernstliche Erklärung der Partner vor dem Standesbeamten geschlossen; ihr Entstehen und ihre Gestaltung bleiben im übrigen Privatsache und werden vom Staat weder gelenkt noch kontrolliert. Der Grundsatz der Lebenslänglichkeit fordert ein Ehe- und Scheidungsrecht, das die Ehe möglichst stärkt und erhält. Die Ehe ist die Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, potentielle Elternschaft,14 die „alleinige Grundlage einer vollständigen Familiengemeinschaft“ und „Voraussetzung für die bestmögliche körperliche, geistige und seelische Entwicklung von Kindern“15. Der besondere Schutz dieser auf das Kind ausgerichteten Ehegemeinschaft gilt der Gemeinschaft von Eltern und Kindern, der Kleinfamilie16; in diesem Schutztatbestand werden nicht die Beziehungen zwischen Großeltern und Enkelkindern, schon gar nicht die Beziehungen unter sonstigen Verwandten einbezogen, um die Schutzintensität nicht in der Mehrgenerationenfamilie zu schwächen. Dieser Schutz wird durch Art. 6 Abs. 5 GG verstärkt, der vom Gesetzgeber fordert, „den unehelichen Kindern“ „die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern“. Auch die Eltern eines außerehelichen Kindes, insbesondere die alleinerziehende Mutter, beanspruchen den verfassungsrechtlichen Schutz für die Rechtsbeziehung zwischen Eltern und Kind, für ihre Familie.17 Zudem hebt Art. 6 Abs. 4 GG die Mutter in ihrem „Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft“ besonders hervor. Art. 6 GG wehrt also nicht nur staatliche Eingriffe in die Familie ab, sondern schützt die Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft und bestimmt ihren Auftrag als verantwortliche Elternschaft durch die prinzipielle Schutzbedürftigkeit des heranwachsenden Kindes. Je mehr die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Kindes wächst, desto mehr treten Verantwortlichkeit und Sorgerecht der Eltern zurück. Die ursprüngliche Lebensgemeinschaft kann später zur bloßen Hausgemeinschaft werden, sich danach zur Begegnungsgemeinschaft wandeln, bei der Eltern und Kinder nur den gelegentlichen Umgang pflegen.18 Stets bleibt die Familie eine lebenslängliche Beistands13 BVerfGE 10, 59 (66); 49 – Elterliche Gewalt; 286 (300) – Transsexuelle I; 62, 323 (330) – Hinkende Ehe; 105, 313 (345) – Lebenspartnerschaftsgesetz; vgl. auch Jörn Ipsen, Staatsrecht II, 10. Aufl., 2007, Rn. 310. 14 BVerfGE 105, 313 (345) – Lebenspartnerschaftsgesetz; Peter Badura, in: Maunz / Dürig, Kommentar zum GG, Art. 6 Rn. 55 ff.; Martin Burgi, Schützt das Grundgesetz die Ehe vor der Konkurrenz anderer Lebensgemeinschaften?, in: Der Staat 39 (2000), S. 487 (491); Gerhard Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, 2005, Art. 6 Rn. 45. 15 BVerfGE 76, 1 (51) – Familiennachzug; BVerfGE 99, 145 (156) – Gegenläufige Kindesentführung. 16 BVerfGE 18, 97 (105 f.) – Zusammenveranlagung; 80, 81 (90) – Volljährigenadoption I; 106, 166 (176) – Zählkindervorteil; 108, 82 (112) – Biologischer Vater; Gregor Kirchhof, AöR 129 (2004), S. 542 (549 f.). 17 Vgl. BVerfGE 24, 119 (135) – Adoption I; 92, 158 (177) – Elternrecht der Mutter eines nichtehelichen Kindes; BVerfGE 92, 158 (177) – Status des Vaters eines nichtehelichen Kindes; für eine Übersicht Rolf Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, a. a. O., Art. 6 Rn. 103 ff. 18 BVerfGE 80, 81 (90 f.) – Volljährigenadoption I.
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gemeinschaft, in der jedes auf eine Lebenshilfe angewiesene Mitglied grundsätzlich die Hilfe des anderen Familienmitglieds erwarten darf.19 2. Institutsgarantie, Abwehrrecht, Gleichheitsrecht, Leistungsanspruch, Grundsatznorm
a) Institutsgarantie Der Schutz der Familie und des Erziehungsrechts der Eltern (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) setzt eine Rechtsordnung voraus, die eine familiäre Lebens-, Erziehungs-, Begegnungs-, Unterhalts-, Erb- und Beistandgemeinschaft regelt und als Lebensform verbindlich gestaltet. Dabei hat der Gesetzgeber insbesondere im Familienrecht das Rechtsinstitut der „Familie“ bereitzustellen, das Eltern und Kinder die rechtliche Sicherheit in der eigenverantwortlichen Gestaltung ihrer Gemeinschaft gibt. Das Recht definiert – begrenzt – die Familie, bestätigt dabei aber deren Freiheit und Selbstorganisation. Deswegen darf das Familienrecht nicht eine Adoption gegen den Willen der leiblichen Eltern vorsehen.20 Die Kinder dürfen gegen den Willen des Erziehungsberechtigten nur bei besonderen Erfordernissen des Kindeswohls von den Eltern getrennt werden (Art. 6 Abs. 3 GG)21. Allgemeines Eingriffsrecht, etwa das Steuerrecht, muss die Vorgaben dieses Rechtsinstituts aufnehmen, im besonderen die Unterhaltsgemeinschaft anerkennen und deshalb bei der Einkommenssteuer den besonderen Existenz-, Betreuungs- und Erziehungsbedarf der Kinder verschonen.22 b) Abwehrrecht Die verfassungsrechtliche Pflicht, das Rechtsinstitut „Familie“ den potentiellen Eltern anzubieten, sichert den rechtlichen Zugang zum Kind, zur Familie. Das Grundgesetz geht von dem Normalfall der „ehebasierten Familie“23 aus, erwartet die rechtliche Ausgestaltung der familiären Lebens-, Erziehungs-, Haus-, Unterhalts-, Beistands- und Begegnungsgemeinschaft24, setzt ein Verwandtschaftsverhältnis im Unterhaltsrecht, im Erbrecht, im Namensrecht voraus25, begründet die – im Gegensatz zur Ehe – unkündbare und unscheidbare Elternschaft, verlangt einen Familienlastenausgleich, der kindbedingte finanzielle Mehraufwendungen rechtlich berücksichtigt,26 und einen Familienleistungsausgleich,27 der die von der Familie für die Gesellschaft erbrachten Leistungen BVerfGE, a. a. O., S. 95. BVerfGE 24, 119 (138) – Adoption I. 21 Dazu Rolf Gröschner, a. a. O., Art. 6 Rn. 123 f. 22 BVerfGE 82, 60 (87) – Steuerfreies Existenzminimum; 99, 216 (241 f.) – Familienlastenausgleich II. 23 Friederike Gräfin Nesselrode, a. a. O., S. 63. 24 Vgl. zu diesem Kerninhalt der Familie und dessen Entwicklung beim Heranwachsen des Kindes: BVerfGE 80, 81 (90 f.) – Volljährigenadoption I. 25 Nesselrode, a. a. O., S. 63 f.; Gröschner, a. a. O., Art. 6 Rn. 67. 26 BVerfGE 39, 316 (326) – Kinderzuschuss in der Knappschaft; zum Begriff kritisch Matthias Pechstein, Familiengerechtigkeit, a. a. O., S. 40 f. 27 BVerfGE 44, 249 (273 f.) – Alimentationsprinzip; 81, 363 (376) – Beamtenbaby; 87, 153 (170) – Grundfreibetrag; 99, 216 (231 f.) – Familienlastenausgleich II; 99, 246 (259 f.) – Kinderexistenzminimum I. 19 20
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erkennt und anerkennt.28 Das Grundgesetz gewährleistet Ehe und Familie „in einem Atemzug“,29 schützt aber auch die nicht ehebasierte Familie.30 Das Rechtsinstitut der Familie muss – wegen des besonderen Schutzniveaus des Art. 6 Abs. 1 GG – die Ehe von anderen Lebensgemeinschaften abheben. Dies gilt insbesondere gegenüber der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft; das Bundesverfassungsgericht hat das Lebenspartnerschaftsgesetz31 für verfassungsgemäß erklärt,32 weil der Gesetzgeber mit der Lebenspartnerschaft kein „anderes Institut mit derselben Funktion“ wie eine Ehe geschaffen habe, sondern „ein aluid“33. Das Abwehrrecht gegen staatliche Einwirkungen schafft also nicht eine prinzipielle Distanz zwischen Familie und staatlichem Recht, sondern schützt die Familie in ihrer Selbstbestimmung, in der die Eltern ihr dienendes Grundrecht zum Wohle des Kindes wahrzunehmen haben34. Die Zuweisung der Elternverantwortlichkeit, das Elternrecht, ist als ein den Kindern dienendes Grundrecht insoweit vor allem als Elternpflicht zu verstehen (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG).35 Das staatliche „Wächteramt“ (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) greift nur, wenn die Eltern ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind.36 Nach Art. 6 Abs. 2 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“. Das „natürliche“ Recht bezeichnet im Kontext der historisch gewachsenen, positivrechtlichen Verfassung weniger eine naturrechtlich vom Verfassunggeber vorgefundene Rechtsposition, sondern meint die in der Wirklichkeit vorgegebene, durch Zeugung und Geburt begründete Verantwortlichkeit der biologischen Eltern.37 Eltern sind die Personen, von denen das Kind abstammt.38 Pflege und Erziehung obliegen den Eltern „zuvörderst“, werden also vorrangig von den Eltern wahrgenommen. Daneben hat der Staat Aufgaben und Pflichten bei der Kindererziehung,39 die er insbesondere in den staatlichen Schulen und in Wahrnehmung seines Wächteramtes (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) erfüllt.40 Diese Familienfreiheit wehrt Bevormundungen des Staates ab, ist gegenwärtig vor allem durch eine Rechtspolitik bedroht, die um der Gleichberechtigung willen die eheinterne Aufteilung von Familienarbeit und Erwerbsarbeit rechtlich vorbestimmen 28 BVerfGE 99, 246 (259 f.) – Kinderexistenzminimum I; Gröschner, a. a. O., Art. 6 Rn. 36; Christian Seiler, a. a. O., § 71 Rn. 26. 29 Nesselrode, a. a. O., S. 172. 30 Vgl. oben sowie Art. 6 Abs. 5 GG. 31 Lebenspartnerschaftsgesetz vom 16. 02. 2001, BGBl. I, S. 266. 32 BVerfGE 105, 313 (342 ff.) – Lebenspartnerschaftsgesetz. 33 BVerfGE 105, 313 (351) – Lebenspartnerschaftsgesetz. 34 BVerfGE 80, 81 (90 f.) – Volljährigenadoption I; 99, 145 (156) – Gegenläufige Kindesrückführungsanträge; Zur Entstehungsgeschichte: Gregor Kirchhof, AöR 129 (2004), S. 542 (555 ff.). 35 BVerfGE 99, 145 (156) – Gegenläufige Kindesrückführungsanträge. 36 BVerfGE 79, 51 (66 f.) – Sorgerechtsprozess. 37 Fritz Ossenbühl, Das elterliche Erziehungsrecht im Sinne des Grundgesetzes, 1981, S. 17 ff.; Gröschner, a. a. O., Art. 6 Rn. 95 f.; Dagmar Coester-Waltjen, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 6 Rn. 69 f. 38 Zu den Sonderfällen von Adoption, Scheinelternschaft, Befruchtungstechnologien: Dagmar Coester-Waltjen, a. a. O., Rn. 72 f.; Gröschner, a. a. O., Rn. 103 f. 39 BVerfGE 24, 119 (135 f.) – Adoption I. 40 Hans F. Zacher, Elternrecht, in: HStR Bd. VI, § 134 Rn. 89; Jestaedt, DVBl. 1997, 693 (694).
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will. Von Verfassung wegen ist es den gleichberechtigten Ehegatten überlassen, diese Aufgaben untereinander autonom zu verteilen41 und zu entscheiden, ob beide einer Erwerbsarbeit nachgehen oder einer zu Hause bleibt und die Haushaltsführung übernimmt.42 Der verfassungsrechtliche Schutz umfasst insbesondere das Selbstbestimmungsrecht der Ehegatten in ihren finanziellen Beziehungen untereinander,43 die gemeinsame Familienplanung,44 eine selbstbestimmte, gleichberechtigte Partnerschaft in der persönlichen und wirtschaftlichen Lebensführung.45
c) Besondere Gleichheit Der verfassungsrechtliche Schutz der Familie enthält damit auch einen Gleichheitssatz, der Familien untereinander im Schutz gleichstellt, Familien gegenüber anderen Gemeinschaften unterscheidet. Art. 6 I GG enthält insbesondere ein Benachteiligungsverbot. Dieses Diskriminierungsverbot verbietet, dass die eheliche Erziehungsgemeinschaft gegenüber Alleinerziehenden 46 und gegenüber der nichtehelichen Erziehungsgemeinschaft47 benachteiligt, sie im Steuerrecht und Sozialrecht schlechter gestellt wird. Die verheirateten Eltern, beide unverheirateten Eltern und der alleinerziehende Elternteil leben mit ihren Kindern jeweils in einer Familie, sodass insoweit eine Gleichbehandlung unter Familien geboten ist. Dieser Maßstab war verletzt, als der einkommensteuerliche Haushaltsfreibetrag ehelichen Erziehungsgemeinschaften vorenthalten blieb und unverheirateten Eltern auch dann gewährt wurde, wenn sie in einer Erziehungsgemeinschaft lebten und beide steuerpflichtig waren48. Das Benachteiligungsverbot schützt Familien auch gegenüber nichtfamiliären Gemeinschaften. Bei diesem Vergleich bietet der Maßstab des Art. 6 Abs. 1 S. 1 GG den „besonderen“ Schutz,49 der insoweit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vorgeht. Eltern dürfen im Sozialrecht50 und im Steuerrecht51 gegenüber Kinderlosen nicht benachteiligt werden.52 Die Benachteiligungen der Familie sind hier vielfach nicht im Gesetzestext angeordnet, sondern erwachsen aus der Nichtbeachtung der Besonderheit der Familie als Unterhalts- und Wirtschaftsgemeinschaft. 53 Der 41 BVerfGE 48, 327 (388) – Familiennamen; 66, 84 (94) – Unterhalt III; 68, 256 (268) – Investitionshilfegesetz; 89, 214 (216) – Bürgschaftsverträge. 42 BVerfGE 68, 265 (268); 89, 214 (216) – Bürgschaftsverträge. 43 BVerfGE 60, 329 (339) – Versorgungsausgleich von Ehegatten. 44 BVerfGE 66, 84 (94) – Unterhalt III. 45 BVerfGE 53, 257 (296 f.) – Versorgungsausgleich I. 46 Vgl. Ingwer Ebsen, Familienlastenausgleich und die Finanzierung der Sozialversicherung aus verfassungs- und sozialrechtlicher Sicht, VSSR 2004, S. 6 (6 f.). 47 BVerfGE 99, 216 (239) – Familienlastenausgleich II. 48 BVerfGE 99, 216 (240) – Familienlastenausgleich II sowie nunmehr § 32 VI EStG. 49 Dazu Gregor Kirchhof, AöR 129 (2004), S. 542 (558 ff.). 50 BVerfGE 87, 1 (37) – Trümmerfrauen. 51 BVerfGE 82, 60 (80) – Steuerfreies Existenzminimum. 52 Zur Parallele eines Vergleichs zwischen Ehegatten und Unverheirateten vgl. BVerfGE 61, 319 (355) – Ehegattensplitting. 53 Margit Tünnemann, Der verfassungsrechtliche Schutz der Familie und der Kindererziehung im Rahmen des staatlichen Kinderleistungsausgleichs, 2002, S. 126.
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„besondere Schutz“ der Familie wird vor allem dadurch verletzt, dass Nichteltern im staatlichen Transfersystem der Umlagefinanzierung gegenüber Eltern besser gestellt werden,54 obwohl den Eltern ein Lasten- und auch ein Leistungsausgleich zustehen. Im einkommensteuerlichen Splittingverfahren (§ 26, 26 b EStG) sind ehebasierte Familien anderen Erwerbsgemeinschaften (Kapitalgesellschaften, Mitunternehmerschaften) gleichzustellen. Andererseits greift der Auftrag zum „besonderen Schutz“ hier nicht, weil bei der Zurechnung von Einkommen zu einzelnen Personen die Ehe keine Sonderbehandlung fordert. d) Leistungsanspruch Der „besondere Schutz“ der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) begründet auch Leistungsrechte der Familien. Der Familie steht ein Anspruch auf staatliche Leistungen zu, sofern sie ihren Unterhalt nicht aus eigener Kraft erwirtschaften kann. Der Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 1 GG hat – insoweit in Parallele zu Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG – eine doppelte Schutzrichtung.55 Der schutzpflichtige Staat darf die intakte Familie nicht stören, die gefährdete nicht sich selbst überlassen. Das Zusammenwirken zwischen Abwehr- und Leistungsanspruch zeigt sich insbesondere in der einkommenssteuerlichen Verschonung des existenznotwendigen Kinderbedarfs (§ 32 VI EStG), dem bei entsprechendem Bedarf ein Leistungsanspruch in Form des Kindergeldes (§§ 62 ff. EStG) an die Seite gestellt ist. Dieser Familienlastenausgleich schafft gleitende Übergänge vom Abwehrrecht gegenüber der Steuer zum Leistungsrecht im Rahmen des aufteilenden sozialen Staates.56 Der Staat achtet die Freiheit der Familie, indem er Eingriffe unterlässt; er fördert die Familie, indem er deren Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten mitgestaltet. Kinder sind zunächst in ihrem Entstehen, ihrer Zugehörigkeit und ihrer Erziehung Privatsache, betreffen aber als werdendes Staatsvolk, als Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft, als Schuldner des Generationenvertrages auch Verantwortlichkeiten des Staates. Achtungsund Förderanspruch wirken dabei nicht gegenläufig, wenn die Förderung freiheitsgerecht gestaltet ist, sie also die familiäre Freiheit stützt, nicht bevormundet. Hier liegt das Kernproblem der gegenwärtigen Familienpolitik, insbesondere bei der Frage, ob Kleinkinder eher in der Familie oder in staatlichen Einrichtungen gepflegt, betreut und erzogen werden sollen.57 e) Grundsatznorm Art. 6 Abs. 1 GG entfaltet schließlich Rechtswirkungen als Grundsatznorm.58 Diese Grundsatznorm nimmt inhaltlich den doppelten Schutzauftrag – Achtung der Familienfreiheit und Förderung der familiären Lebensbedingungen – inhaltlich auf und verdichtet ihn zu einem rechtlichen Grundprinzip, das die Gesetzgebung, insbesondere aber auch die Gesetzesinterpretation anleitet. Das die Familie betreffende Recht ist so zu Tünnemann, a. a. O., Nesselrode, a. a. O., S. 156 f. Jörn Ipsen, Staatsrecht II, a. a. O., Rn. 318. 56 Vgl. Christian Seiler, in: Paul Kirchhof (Hrsg.), Einkommenssteuergesetz, Kommentar, 7. Aufl., 2007, § 31 Rn. 1. 57 Vgl. unten zu V. 2. 58 BVerfGE 6, 55 (72) – Ehegattenbesteuerung; vgl. BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth; 39, 1 (41) – Schwangerschaftsabbruch I; 77, 170 (214 f.) – Lagerung chemischer Waffen. 54 55
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gestalten und anzuwenden, dass die Familien sich in ihrer Freiheit entfalten können und das Kindeswohl – der Schutz der Schwächsten in der Gesellschaft – als Kernmaßstab allen die Familie betreffenden Rechts wirkt. Bei der Bestimmung des Kindeswohls trifft die Eltern eine vorrangige Verantwortlichkeit, bestehend aus Rechten und Pflichten. Der Staat ist – jenseits seiner Schulverantwortlichkeit (Art. 7 GG) – auf ein allein bei Versagen der Eltern eingreifendes Wächteramt verwiesen.
IV. Die Bedrohung der Familie durch die Wirtschafts- und Sozialordnung 1. Familiäre Verantwortungsgemeinschaft als Regelfall
Die Freiheit zu Ehe und Familie ist ein Angebot, dessen Annahme der freiheitliche Staat erwartet, nicht erzwingt. Diese Verfassungsvoraussetzung baut auf eine gediegene Grundlage, den Willen der Menschen zur Familie. Dieser vorgefundene Wille soll nach dem Schutzauftrag des Grundgesetzes gefestigt, gegen Eingriffe abgeschirmt und gefördert werden. Der Wille zum Kind beruht auf der Freiheit der gleichberechtigten Eltern. Die Rechtsbeziehung zwischen Eltern und Kind allerdings ist durch das Erziehungsverhältnis geprägt. Elternrecht ist Elternverantwortung, dient stets dem Wohl des Kindes. Die Familie begründet einen faktischen Generationenvertrag, der die Eltern zur Erziehung, Zuwendung und Betreuung veranlasst, Eltern und Kinder in eine lebenslängliche Unterhalts- und Beistandsgemeinschaft führt. Eine Unterhaltsgemeinschaft sichert zunächst den Unterhalt der Kinder, stützt später die Eltern in Not und Alter. Die Beistandsgemeinschaft verspricht gegenseitige Hilfe bei existenzieller Schwäche. Eine Gemeinschaft des Erbens gibt das Familiengut von der Elterngeneration auf die Kindergeneration – im Lebensführungsvermögen steuerfrei59 – weiter. Diese Familiengemeinschaft wird in der Regel aufgrund der Ehe der Eltern begründet und entfaltet. Die Lebensgemeinschaft von Vater und Mutter ist die Grundlage, auf der die Eltern durch Vorbild und Erziehung Sprache, Wissen, Lebenssicht, Selbstbewusstsein, Entscheidungskraft vermitteln, Kultur, Bindungsfähigkeit, Gemeinschaftsbewusstsein sichtbar machen, im stetigen Dialog die Kinder zum Erwachsensein führen und selbst zukunftsoffen bleiben, ihre Unterhaltspflicht auf die eheliche Erwerbsgemeinschaft stützen, auch ihren Zusammenhalt in stetiger finanzieller Verantwortlichkeit untereinander – für den Fall der Scheidung auch zugunsten des Ehepartners aus erster Ehe – sichern. Elterliche Religiosität führt das Kind zu den Fragen nach Ursprung und Ziel der menschlichen Existenz, nach dem Sinn des Lebens, zur Neugierde für das Danach, gibt dem Kind geistige Weite. Diese familiäre Verantwortungsgemeinschaft hat der Staat rechtlich so auszugestalten, dass sie den Regelfall des Zusammenlebens bildet. 2. Familie und Beruf
Dieser Auftrag ist allerdings gegenwärtig teilweise unerfüllt geblieben und auch verletzt worden. Das Grundgesetz bietet den jungen Menschen gleichzeitig Freiheit zur Familie (Art. 6 GG) und Freiheit zum Beruf (Art. 12 GG) an. Tatsächlich aber werden 59
BVerfGE 97, 1 – Erbschaftsteuer I.
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die jungen Menschen vor die schroffe Alternative gestellt, sich entweder für die Berufstätigkeit oder das Kind zu entscheiden. Diese faktische Alternativität bedroht die Offenheit und Freiheit zur Familie. Die familienfeindliche Struktur der gegenwärtigen Berufs- und Wirtschaftsordnung hat ihren Grund in der Trennung von Erwerbsort und Familienort – von Arbeitsplatz und Familienwohnung – sowie in der rechtlichen Herabstufung der Familientätigkeit zu einer wirtschaftlich unerheblichen Leistung. Während die Eltern sich früher in landwirtschaftlichen und gewerblichen Betrieben gleichzeitig der Erziehung und dem Erwerb gewidmet, sie damit auch die in der Arbeit liegenden Möglichkeiten der Begegnung, der Anerkennung und der Einkommenserzielung wahrgenommen haben, wird der wirtschaftliche Wert der Erziehungsleistung heute nur noch beruflichen Erziehern zuerkannt, die in Schule, Kindergarten oder therapeutischer Einrichtung tätig sind. Die familiäre Erziehung bleibt in der Privatheit des Familienlebens und der eigenen Wohnung und scheint deshalb von vornherein nicht entgeltwürdige Leistung, sondern Konsum, nicht Quelle für Einkommen, Wohlstand und Sicherheit, sondern Aufwand für die persönliche Lebensführung. Unsere Leistungsgesellschaft muss deshalb wieder die Leistung erkennen und anerkennen, insbesondere die unverzichtbaren Zukunftsleistungen der Eltern als Wert und damit als entgeltwürdig behandeln. Das Elterngeld60 wendet den erziehenden Eltern zumindest für das erste Lebensjahr des Kindes ein Honorar zu. Allerdings ist dieses Elterngeld als Lohnersatzleistung ausgestaltet, anerkennt also nicht die Erziehungsleistung als solche, richtet sich vielmehr nach dem vorher erzielten Arbeitseinkommen und bewertet dadurch die Erziehungsleistung von Besserverdienenden als wertvoller als die von Nicht- oder Geringverdienern (§ 2 BEG). Berechtigt ist derjenige, der vor der Geburt ein Nettoerwerbseinkommen erzielt hat, nicht aber derjenige, der vor der Geburt seines weiteren Kindes schon Kinder erzogen hat. Zudem stellt das neueingeführte Elterngeld die Familie kaum besser: Zu seiner Finanzierung wurde das bisherige Bundeserziehungsgeld gestrichen und die Inanspruchnahme von Kindergeld oder Kinderfreibetrag zeitlich gekürzt (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, 3 EStG).61 Wenn sodann erwogen wird, man könne den Eltern das Elterngeld nicht zur freien Verfügung überlassen, weil sie mit diesem Geld nicht umzugehen wissen, müsse ihnen stattdessen Gutscheine geben, die sie lediglich für vorherbestimmte kinderdienliche Güter und Leistungen eintauschen können, so fehlt dem Gesetzgeber jedes Freiheitsvertrauen. Eltern sind mündige Menschen, die in ihrer Verantwortung für ihre Kinder stetig auf deren Wohl hinwirken. Sie brauchen deshalb nicht Gutscheine, sondern gute Scheine. Soweit die Eltern bei Wahrnehmung ihres Erziehungsauftrages versagen, wirkt das staatliche Wächteramt, das insbesondere eingreifen muss, wenn die Eltern die deutsche Sprache nicht vermitteln können, ein deutliches Zurückbleiben des Kindes in seiner motorischen, sprachlichen und sozialen Entwicklung festgestellt wird, die Kinder später den Mindestanforderungen im Kindergarten und Schule nicht genügen. Hier wird der Staat vor allem beratend, aufklärend und auch ergänzend als Erzieher wirken, nur in Notfällen die Eltern verdrängen wollen. 60 Eingeführt durch das Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit, BGBl. I, 2006, S. 2748; dazu Christian Seiler, Das Elterngeld im Lichte des Grundgesetzes, NVwZ 2007, S. 129. 61 In der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2007 vom 19. 07. 2006, BGBl. I, S. 1652 (1654).
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3. Das Arbeitsrecht
Die strikte Trennung von Berufs- und Familienort benachteiligt – in herkömmlicher, verfassungsrechtlich so nicht veranlasster Aufgabenteilung – vor allem die jungen Frauen, die den Willen zu Ehe und Familie haben, aber auch eine Berufstätigkeit ausüben wollen, dann aber den Kinderwunsch um der Berufstätigkeit willen zeitlich immer wieder verschieben, bis letztlich aus der Verschiebung ein Verzicht wird. Diese Entwicklung belastet viele individuellen Biografien erheblich, gefährdet auch die Zukunft der Demokratie. Deswegen muss die Familien- und Erwerbstätigkeit offener und durchlässiger werden. Rechtliche und ökonomische Vorkehrungen müssen ein zeitliches Nebeneinander der Freiheitsbereiche zulassen, vor allem auch nach Erfüllung des Familienauftrags verlässlich eine Rückkehr in die Erwerbstätigkeit ermöglichen.62 Ehe- und Familienfreiheit einerseits und Berufsfreiheit andererseits sind zu einem schonenden Ausgleich zu bringen, so dass beide Freiheiten größtmöglich zur Entfaltung kommen, nicht aber die Ehe- und Familienfreiheit zugunsten der Berufsfreiheit verdrängt wird. Praktisch gefordert sind familienfreundliche Arbeits- und Ferienzeiten, Halbtagesstellen, die den Eltern arbeitsteilig eine gleichzeitige Präsenz in Familie und Beruf erlauben, Computerarbeitsplätze, die eine räumliche Trennung von Familien- und Erwerbsort lockern, Kinderbetreuungseinrichtungen 63 möglichst in der Nähe des Erwerbsortes.
4. Die Dreiteilung des Lebenslaufs
Die Bereitschaft zur Familie leidet gegenwärtig auch unter staatlichen Zeitvorgaben. Der Staat regelt den Zeitpunkt von Schulbeginn, Berufsausbildung und Studium, begrenzt auch die möglichen Unterbrechungszeiten während der Berufstätigkeit, bestimmt sodann das Eintrittsalter in die Rente.64 Diese Dreiteilung des Lebensverlaufs schafft für den jungen Menschen eine „Rushhour“, in der er gleichzeitig eine Familie gründen und sich eine Berufsstellung schaffen soll. Die jungen Menschen stehen meist erst kurz vor Erreichen des 30. Lebensjahrs erstmals ernstlich vor der Frage der Familiengründung. In diesem Alter, in dem der Mensch üblicherweise zur Selbstidealisierung neigt, hat der Heiratswillige aber schon viele Jahre über den idealen Partner nachgedacht, die Erwartungen an diesen dann aber so sehr gesteigert, dass er schließlich feststellt, im Diesseits gebe es einen solchen Idealpartner nicht. Würde hier der Lebens- und Berufsverlauf gelockert, die Menschen etwa mit 23 oder 24 Jahren ihre Ausbildung vorläufig abschließen, dann eine Familienphase einschieben, danach bei der Arbeitsplatzsuche oder bei der Fortsetzung ihrer Ausbildung als Eltern bevorzugt werden, so würde die Familienbiografie wieder den natürlichen Anforderungen angenähert; die jungen Menschen gründeten Anfang 20 freudig und beherzt eine Familie. Gegenwärtig hingegen sind die Lebensläufe der 20- bis 30-jährigen so organisiert, dass der Abschluss der Ausbildung und der Eintritt in das Erwerbsleben für junge MänBVerfGE 88, 203 (260) – Schwangerschaftsabbruch II. Vgl. unten zu V. 2. 64 Vgl. im einzelnen Bericht der Kommission „Familie und demographischer Wandel“, a. a. O., S. 36 f. 62 63
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ner und Frauen das beherrschende Ziel ist, die Familiengründung und die Entscheidung für Kinder trotz prinzipiellen Familien- und Kinderwunsches deshalb verschoben wird und oft unterbleibt.65 5. Der sozialrechtliche Generationenvertrag
Mit der Trennung von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit hat die familiäre Erziehung nur noch den wirtschaftlichen Wert, dass die Eltern bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter und Notfällen einen Unterhaltsanspruch gegen ihre Kinder gewinnen, also durch ihre Kinder soziale Sicherheit erfahren. Auch dieser wirtschaftliche Wert der Erziehungsleistung66 ist aber im „Generationenvertrag“ der öffentlichen Sozialversicherung kollektiviert, von der familiären Erziehungsleistung gelöst und sogar gegenüber der Beitragsleistung als geringwertigerer Beitrag im Generationenvertrag herabgewürdigt worden. Dadurch wird die sozialstaatliche Errungenschaft der öffentlichen Sozialversicherung, die auch den Kinderlosen im Krisenfalle wirtschaftliche Sicherheit bietet, zu einem rechtsstaatlichen Skandalon: Die alleinigen Träger dieses Generationenvertrages, die Eltern und in erster Linie die Mütter, sind in diesem „Vertrag“ nicht oder kaum aus eigenem Recht beteiligt. Sie werden enteignet. Hier fordert der Verfassungsauftrag des Familienschutzes und der Gleichberechtigung von Mann und Frau strukturelle Veränderungen. Die öffentliche Sozialversicherung ist keine beitragsfinanzierte Versicherung, in der ein Versicherter ein Stammrecht erwirbt und aus diesem sein Alter sichert, sondern ein Umverteilungssystem, in dem die arbeitende Generation die ausgeschiedene finanziert. Wenn das Familienrecht den Unterhaltsanspruch der Eltern gegen die Kinder weiterhin anerkennt, das öffentliche Recht der Sozialversicherung die Kinder jedoch vorrangig verpflichtet, die Erwerbstätigen und nicht die Erziehenden zu finanzieren, so kehrt sich der verfassungsrechtliche Gedanke der familiären Unterhaltsgemeinschaft in sein Gegenteil: Im alltäglichen Normalfall muss das Ehepaar mit Kindern zur Erfüllung des Erziehungsauftrags auf die Erwerbstätigkeit eines Elternteils, damit auf dessen Einkommen und Rentenanspruch zeitweilig verzichten, hat dafür aber die Aufwendungen für Kinder zu tragen, während ein Paar ohne Kinder über zwei Einkommen, zwei Rentenansprüche und deren Kumulation im Hinterbliebenenfall verfügt. Der Staat organisiert die sozialstaatliche Errungenschaft einer Sicherung in Alter und Krise für alle – auch die kinderlosen – Erwerbstätigen, zwingt dabei aber die Kinder, die eigenen Eltern, die ihnen Erziehungsleistung und Erziehungsaufwand zugewandt haben, leer ausgehen zu lassen. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht im Urteil zu den „Trümmerfrauen“67 festgestellt, die gesetzgeberische Entscheidung, „dass die Kindererziehung als Privatsache, die Alterssicherung dagegen als gesellschaftliche Aufgabe gilt“, benachteilige die Familie, ohne dass es dafür „angesichts der Förderungspflicht aus Art. 6 Abs. 1 GG einen zureichenden Grund gebe“68. Der Gesetzgeber hat „jedenfalls sicherzustellen, dass sich Bericht der Kommission, a. a. O., S. 54 f. Zur wirtschaftlichen Bedeutung der Familiengemeinschaft vgl. BVerfGE 80, 81 (90) – Volljährigenadoption; 82, 60 (87) – Familienexistenzminimum I; 87, 1 (38 ff.) – Trümmerfrauen; 87, 153 (170) – Einkommensteuerliches Existenzminimum; 88, 203 (258) – Schwangerschaftsabbruch II. 67 BVerfGE 87, 1 (38 f.) – Trümmerfrauen. 68 BVerfGE 87, 1 (38 f.) – Trümmerfrauen. 65 66
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mit jedem Reformschritt die Benachteiligung der Familie tatsächlich verringert“69. Im Urteil zum Schwangerschaftsabbruch hat das Gericht – nunmehr der Zweite Senat – dieses Postulat aufgenommen und nochmals bekräftigt.70 Ausgangspunkt für eine familiengerechte Ausgestaltung des Systems der Sozialversicherung ist die Gleichwertigkeit von Erziehungsleistung und Erwerbsleistung: Zwar kann der Beitrag zur Aufrechterhaltung der Sozialversicherung, der in Form der Kindererziehung geleistet wird, im Unterschied zu den monetären Beiträgen der Erwerbstätigen nicht sogleich in Form von Rentenzahlungen an die ältere Generation ausgeschüttet werden.71 Die materielle Gleichwertigkeit von Kindererziehung und monetärer Beitragsleistung liegt jedoch in der gleichen Arbeitsleistung, dem gleichen Konsumverzicht und dem gleichen Angewiesensein auf Sicherheit und Bedarfsdeckung. Kindererziehung und monetäre Beitragsleistung sind deshalb als Grundlagen der öffentlichen Sozialversicherung gleichwertig und müssen zu gleichwertigen Leistungen führen. Die Eltern – herkömmlich die Mütter – müssen in der Sozialversicherung dem Grund und der Höhe nach als Erste berechtigt sein, weil sie dem Generationenvertrag den Schuldner – die Kinder – gegeben haben. Diese Sicht des Generationenvertrages vermeidet den gegenwärtigen Wirklichkeitsverlust, der die Existenz der nachfolgenden Generation unterstellt, ohne sie als Bedingung der Versicherungsleistungen zu berücksichtigen.
6. Das Steuerrecht
Zur familiengerechten Gestaltung des Einkommensteuerrechts hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, die Familie als Unterhaltsgemeinschaft anzuerkennen und deshalb das Einkommen der Eltern insoweit steuerfrei zu belassen, als es zur Sicherung des existenznotwendigen Aufwandes der Kinder in angemessener, realitätsgerechter Höhe benötigt wird.72 Soweit die Eltern Einkommen beziehen, einen Teil dieses Einkommens aber unterhaltsrechtlich ihren Kindern schulden, können sie über diesen Teil nicht – auch nicht für Zwecke der Besteuerung – verfügen. Dieser Unterhaltsaufwand vermittelt den Eltern deswegen keine steuerbare Leistungsfähigkeit; das Einkommen unterliegt insoweit nicht der Einkommensbesteuerung. Dabei ist es unter den Bedingungen der gegenwärtigen Leistungskraft unseres Rechts-, Sozial- und Kulturstaates geboten, nicht nur den Aufwand für das sächliche Existenzminimum des Kindes von der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage abzuziehen, sondern ebenso die Kosten der Kinderbetreuung, mögen die Eltern diese eigenhändig oder durch einen Dritten leisten, sowie die Aufwendungen für einen Erziehungsbedarf des Kindes, der das Kind durch das Erlernen und Erproben moderner Kommunikationstechniken, den Zugang zu Kultur- und Sprachfertigkeit, die verantwortliche Nutzung der Freizeit oder die Gestaltung der Ferien zu einem verantwortlichen Leben in dieser Gesellschaft befähigt.73 Dabei stellt sich die grundsätzliche Frage, warum beim Erwerbsaufwand der tatsächliche, individuelle Aufwand abgesetzt werden darf, beim familiären ExistenzaufBVerfGE 87, 1 (41) – Trümmerfrauen. BVerfGE 88, 203 (261) – Schwangerschaftsabbruch II. 71 BVerfGE 87, 1 (37 f.) – Trümmerfrauen. 72 BVerfGE 82, 198 (207) – Familienexistenzminimum II; BVerfG EuGRZ, 1999, S. 88 ff. – Familienleistungsausgleich. 73 BVerfGE 99, 216 – Kinderbetreuungskosten, Haushaltsfreibetrag. 69 70
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wand hingegen nur das Existenzminimum berücksichtigt wird, die unterhaltspflichtigen Eltern also oft einen Teil des nach den Vorgaben des Zivilrechts geschuldeten Unterhalts aus versteuertem Einkommen leisten müssen.74 Bei Eltern mit geringem oder ohne Einkommen hat der Staat im Rahmen des Förderungsauftrags gemäß Art. 6 Abs. 1 GG Kindergeld zu leisten. Diese Familien werden durch steuerliche Abzugsbeträge nicht entlastet, sind umso mehr auf eine sozialstaatliche Sicherung des Familienexistenzminimums angewiesen. Ein Prinzip familiengerechter Besteuerung wäre das Familiensplitting, die Ausdehnung des bewährten Prinzips der Ehegattenbesteuerung75 auch auf die Familie. Während die Ehe eine „Gemeinschaft des Erwerbs“76 ist, deswegen ebenso wie alle anderen Erwerbsgemeinschaften den gemeinsam erwirtschafteten Gewinn auf die Beteiligten aufteilen darf, ist die Familie eine Unterhaltsgemeinschaft, in der die Kinder am Einkommen der Eltern teilhaben und weniger zum Einkommen der Familie beitragen. Deshalb ist die Familie als eine vom elterlichen Einkommen lebende Gemeinschaft zu behandeln, der Anteil der Kinder aber nicht in gleicher Höhe wie der Anteil der gemeinschaftlich erwerbenden Eltern zu berücksichtigen. Auch bei der Erbschaftsteuer muss die Familie als eine Gemeinschaft behandelt werden; die Eltern müssen das Familiengut, soweit es Lebensführungsvermögen ist, steuerfrei an ihre Kinder weitergeben können.77 Eine steuergerechte Familienpolitik wahrt auch eine ausgewogene Balance zwischen indirekter und direkter Besteuerung. Wenn gegenwärtig die Belastung durch die Umsatzsteuer und andere Verbrauchsteuern stetig steigt,78 so verschiebt sich die individuelle Last von den Erwerbstätigen zu den Familien. Eltern werden in der Regel ihr gesamtes Einkommen konsumieren, um den Lebensbedarf ihrer Familie decken zu können. Deshalb trifft die indirekte Steuer – mit einer Durchschnittslast von etwa 20 % – die Familieneinkommen voll, während die Kinderlosen bei gleichem Einkommen einen Teil ihres Einkommens sparen und investieren können, sie insoweit indirekte Steuern überhaupt nicht zu tragen haben. Die Einkommensteuer kann auf die Einkommens- und Familienverhältnisse des Steuerpflichtigen zugemessen werden, die indirekte Steuer vermutet in der Kaufkraft eine individuelle Leistungsfähigkeit, mag diese aus Spitzen- oder Familieneinkommen finanziert sein, unterscheidet im übrigen in der Regel nicht zwischen notwendigem und vermeidbarem Bedarf, zwischen Existenzbedarf und Luxusbedarf.79 7. Gesamtsaldo von Lasten und Leistungen
Der deutsche Staat gibt viel Geld für Kinder aus, beteiligt sich vor allem in der Sozial- und Bildungspolitik an den Lasten der Erziehung. Über Steuern und Sozialbeiträge aber, die Kinder im weiterem Verlauf ihres Lebens entrichten, holt er sich am Ende 74 Vgl. Paul Kirchhof, Ehe- und familiengerechte Gestaltung der Einkommensteuer, NJW 2000, S. 2792 (2794 f.). 75 Moris Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, S. 231 f.; Matthias Pechstein, Familiengerechtigkeit, a. a. O., S. 437. 76 BVerfGE 61, 319 (345 f.) – Ehegattensplitting; ebenso schon das Gesetz vom 18. 7. 1958, BGBl. I 1958, S. 158 (437) – Einführung des Ehegattensplitting. 77 BVerfGE 93, 165 – Erbschaftsteuer I. 78 Vgl. dazu Paul Kirchhof, Die Steuern, in: HStR Bd. V, 2007, § 118, Rn. 241 f. 79 Vgl. Paul Kirchhof, a. a. O., § 118, Rn. 191 f.
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deutlich mehr Geld von ihnen zurück.80 Das Steuer- und Fiskalsystem belastet netto die Geburt mit Sonderlasten. Geldmittel werden von der jungen und zukünftigen Generation auf die mittlere und ältere Generation umverteilt, innerhalb jeder Generation werden Finanzmittel von Familien mit durchschnittlicher und überdurchschnittlicher Kinderzahl kinderarmen und kinderlosen zugewiesen.81 Die gesetzlichen Sozialversicherungen für Rente, Krankheit, Pflege und Arbeitslosigkeit belasten das neugeborene Kind in seinem Leben mit mehr als 200.000 Euro.82 Im Gesamtergebnis übersteigen die pro Kind zu erwartenden Steuern und Sozialbeiträge den Gegenwert der rechtlich gewährten staatlichen Leistungen erheblich. Dieses ist ein Preis für die staatlich gewährte Sicherheit und Daseinsvorsorge; seine Bemessung aber benachteiligt Eltern und Kinder, bevorzugt Kinderlose und gegenwärtig Erwerbstätige.
V. Förderungspflichten 1. Mitverantwortlichkeit der Rechtsgemeinschaft
Hat der Staat den rechtlichen Rahmen für die Freiheit zu Ehe und Familie gesichert und störende Einwirkungen auf die familiäre Gemeinschaft abgewehrt, so genügt er dem Schutzauftrag des Art. 6 GG nur, wenn er darüber hinaus die Familie auch festigt und fördert. Es gehört zu den traditionellen Einsichten der allgemeinen Lehren vom Staat, dass die individuelle Vernunftfähigkeit sich unter dem Einfluss von bestimmten „Institutionen der Sittlichkeit“ entfaltet, deren erste die Familie ist, in welcher der Mensch aufwächst und „im Sinne der Nächstenliebe und Tugendhaftigkeit“ erzogen wird.83 Der Zusammenhalt des Staates wird zerstört, wenn die Sicherungsfunktion der Familie entbehrlich erscheint: Ohne Familie gibt es keine wirksame Erziehung, ohne Erziehung keine Persönlichkeit, ohne Persönlichkeit keine Freiheit.84 Auch das Grundgesetz geht davon aus, dass der Freiheitsberechtigte in Distanz zum Staat, im Umfeld und unter Begleitung der sich ihm lebenslänglich zuwendenden Eltern, im Rahmen von deren Mitverantwortlichkeit zu einem Staatsbürger heranwächst, der die ihm angebotenen Freiheiten umfassend wahrnehmen kann und der als Teil des Staatsvolkes zum Garanten für den Bestand der Verfassungsordnung werden soll. Deshalb stellt die Verfassung die Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Dieser Schutzauftrag ist schon zu erfüllen, wenn das ungeborene Kind sein Recht auf Leben beansprucht. Dieses Kind ist besonders schutzbedürftig, weil seine Existenz der Mutter anvertraut ist, dem Kind hingegen die herkömmlichen Instrumente zur Durchsetzung eines Rechts – die Klage, die Demonstration, die Versammlung, die Gründung einer Vereinigung oder Partei – noch verwehrt sind, es nicht einmal durch ein Lächeln die Sympathie seiner Umwelt gewinnen kann. Deshalb haben auch Staat und Recht das Bericht der Kommission, a. a. O., S. 88. Bericht der Kommission, a. a. O., S. 89. 82 Bericht der Kommission, a. a. O., S. 96. 83 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel (Hrsg.), Gesammelte Werke, 1986, § 33, S. 86 f. 84 Montesquieu, Considérations sur les causes de la grandeur des romains et de leur décadence, in: ders., Oevres complètes, Paris 1964, S. 452 ff. 80 81
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ungeborene Kind zu schützen: Die Frau hat das Kind auszutragen, die Rechtsgemeinschaft dieses Kind mitzutragen.85 Diese Mitverantwortlichkeit verwirklicht sich insbesondere in der Rechtsstellung, welche die Berufs- und Wirtschaftsordnung den Eltern zuweist. Der Anspruch jeder Mutter auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft (Art. 6 Abs. 4 GG) verpflichtet den Gesetzgeber, „Grundlagen dafür zu schaffen, dass Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit aufeinander abgestimmt werden können und die Wahrnehmung der familiären Erziehungsaufgabe nicht zu beruflichen Nachteilen führt“86. „Dazu zählen auch rechtliche und tatsächliche Maßnahmen, die ein Nebeneinander von Erziehungs- und Erwerbstätigkeit für beide Elternteile ebenso wie eine Rückkehr in eine Berufstätigkeit und einen beruflichen Aufstieg auch nach Zeiten der Kindererziehung ermöglichen“87. Sodann hat der Gesetzgeber nicht nur im Bereich des Arbeitsrechts, sondern auch in anderen Bereichen des Privatrechts „Regelungen mit besonderer Rücksicht auf Familien mit Kindern zu erwägen“88. Dies gilt insbesondere für das Mietrecht, das Kreditvertragsrecht und die Erhaltung eines Studienplatzes.89
2. Krippenplätze
Da die Zukunft von Demokratie und Freiheitlichkeit des Staates in der Hand der Familien liegt, werden gegenwärtig strukturelle Neuerungen für einen wirtschaftlichen Rahmen der Familienautonomie erwogen. Dabei zeigt sich allerdings erneut, dass die Anliegen der Gegenwart, insbesondere des derzeitigen Erwerbs, stärker sind als die Anliegen der Zukunft. Seit der Antithese zwischen der familiären Erziehung im altgriechischen Athen und der staatlichen Erziehung im altgriechischen Sparta ist umstritten, ob die Kinder in den ersten Lebensjahren besser durch die Eltern oder besser durch den Staat erzogen werden. Dieser Streit ist verfassungsrechtlich beantwortet: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (Art. 6 Abs. 2 Satz 1). Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft (Art. 6 Abs. 2 Satz 2); sie ersetzt die elterliche Pflege und Erziehung nicht. Die Verfassung ist bestimmt vom Vertrauen in die Erziehungskraft und Erziehungsbereitschaft der Eltern. Elterliche Freiheit und Verantwortlichkeit bestimmen, ob die Eltern ihr Kind eigenhändig erziehen oder sich fremder Hilfe bedienen. In diesem Freiheitskonzept entscheidet nicht der Gesetzgeber, ob das Kleinkind zuhause von den Eltern oder in der staatlichen Krippe erzogen werden soll. Vielmehr sollte der Staat die für ihn verfügbaren Finanzmitteln den Eltern in die Hand geben, damit diese entscheiden, ob sie dafür einen Krippenplatz erwerben oder das Kind eigenhändig erziehen wollen. Das Angebot der Krippenplätze bestimmt sich nach elterlicher Nachfrage, die Einrichtungen fühlen sich den Eltern als ihren Financiers verstärkt verantwortlich. Die Frage, ob eine Ersatzerzieherin drei oder zehn Kinder im zweiten Lebensjahr betreut – ob sie also gleichsam Drillinge oder Zehnlinge versorgt –, wird durch die 85 86 87 88 89
BVerfGE 88, 203 (258 f.) – Schwangerschaftsabbruch II. BVerfGE 88, 203 (260) – Schwangerschaftsabbruch II. BVerfGE 88, 203 (260) – Schwangerschaftsabbruch II. BVerfGE 88, 203 (260) – Schwangerschaftsabbruch II. BVerfGE 88, 203 (258 f.) – Schwangerschaftsabbruch II.
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Eltern beantwortet. Nach diesem Freiheitsprinzip werden die verantwortlichen Eltern bald wieder Maßstäbe entwickeln, die eine Arbeitsteilung zwischen Familie und Beruf am Wohl des Kindes, nicht am Bedarf der Wirtschaft oder nach der Werbung einer Ideologie ausrichten. Im Ausnahmefall, in dem die Eltern diese Entscheidung über das Kindeswohl nicht in vertretbarer Weise treffen können, trifft den Staat im Rahmen seines Wächteramtes eine Verantwortlichkeit, die er insbesondere in seiner Einwanderungsund Ausländerpolitik, seiner Sprach-, Schul- und Vorschulpolitik, seiner Sozialpolitik wahrnimmt. Wesentlich bleibt aber, dass die allgemeinen Normen sich nach der Normalität einer verantwortlichen, durch die Freude am Kind und die Hoffnungen auf dessen Zukunft bestimmte Familie richten, das Gesetz den Eltern grundsätzlich nicht das Freiheitsvertrauen verweigert, sie gerade in der für das Kind entscheidenden frühkindlichen Phase nicht durch staatliche Maßnahmen in den Erwerb drängt und Anreize zur Vernachlässigung der Kindesanliegen setzt. Würde der Gesetzgeber den Eltern pro Kind ein angemessenes Erziehungsgehalt anbieten, so gewännen die Familien in der Gegenwart ähnliche wirtschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten wie die Kinderlosen, würden also nicht wegen ihrer Kinder benachteiligt. Dieses Erziehungsgehalt würde Eltern und Familien eine arbeitsteilige Erwerbsund Familientätigkeit ermöglichen, der Familientätigkeit in einer Gesellschaft, in der Honor und Honorar nahe beieinander liegen, Anerkennung zusprechen, im eheinternen Wechsel von Erwerbs- und Erziehungstätigkeit eine dank der Erziehungserfahrung verbreiterte Berufsqualifikation für beide Elternteile erlauben, damit Rückkehr und Aufstieg in die Erwerbsberufe nach Abschluss der Erziehungstätigkeit erleichtern, zudem das Wohnangebot kindgerecht umgestalten, Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten wieder auf die Familie ausrichten. Das Verfassungsrecht ist hier Anstoß, der Gesetzgeber als Erstinterpret des Art. 6 GG Gestalter dieser Entwicklung.
3. Kinderwahlrecht
Das politische System könnte besser auf die Familien ausgerichtet werden, wenn auch die Kinder an der Wahl beteiligt würden.90 Die Demokratie folgt dem Prinzip: Ein Mensch – eine Stimme. Ein Kind ist ein Mensch, sogar der Mensch, der von den politischen Grundsatzentscheidungen – über Friedenspolitik, Umweltschutz, Bildungssysteme, Generationenvertrag, Staatsverschuldung – noch länger betroffen ist als die bisher Wahlberechtigten. Selbstverständlich kann der Minderjährige sein Wahlrecht noch nicht ausüben, soweit ihm dazu die Verstandesreife, die Mündigkeit fehlt. Art. 38 Abs. 2 GG macht das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag deshalb von der Vollendung des 18. Lebensjahres abhängig. Ein Kinderwahlrecht setzt eine Verfassungsänderung voraus. 90 Vgl. Dieter Suhr, Transferrechtliche Ausbeutung und verfassungsrechtlicher Schutz von Familien, Müttern und Kindern, in: Der Staat 29 (1990), S. 69 (73); Hans Hattenhauer, Über das Minderjährigenwahlrecht, JZ 1966, S. 9 (10); Konrad Löw, Kinder und Wahlrecht, ZRP 2002, S. 448 f.; Franz Reimer, Nachhaltigkeit durch Wahlrecht? Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen eines „Wahlrechts von Geburt an“, ZParlR 35 (2004), S. 322 (324); kritisch insbesondere Hans H. Klein, Generationenkonflikt am Beispiel des Kinderwahlrechts, in: Festschrift für Rupert Scholz, 2007, S. 277 f.; Reinhard Mussgnug, Das Wahlrecht für Minderjährige auf dem Prüfstand des Verfassungsrechts, in: Festschrift für Gerd Roellecke, 1997, S. 165; Rainer Wernsmann, Das demokratische Prinzip und der demokratische Wandel. Brauchen wir ein Familienwahlrecht?, in: Der Staat 44 (2005), S. 4366.
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Doch die fehlende Fähigkeit, ein Recht selbst auszuüben, hindert nicht die Berechtigung. Wie ein Säugling Eigentümer sein kann, in seinen Eigentümerrechten aber von seinen Eltern vertreten wird, so könnte ein Kind auch wahlberechtigt sein, wobei das Wahlrecht durch seine Eltern – wegen des Wahlgeheimnisses von Vater und Mutter mit je einer halben Stimme – ausgeübt wird. Damit sind die Kinder nicht mehr Staatsbürger minderen Rechts. Das Parlament ist auch von der kommenden, hauptbetroffenen Generation legitimiert. Wahlkandidaten und Parteien suchen ihre Themen und ihre Programme vermehrt in Wachstum und Zukunft durch das Kind. Die Familie rückt auch politisch in die Mitte von Gesellschaft und Staat.
VI. Erziehung zur Freiheit in kultureller Bindung Bei dem heranwachsenden Kind wirken Familie und Staat, elterlicher und schulischer Erziehungsauftrag zusammen, um die Entfaltung des jungen Menschen zu einer freiheitsbereiten, kulturgeprägten Persönlichkeit zu stützen und zu fördern.91 Dieser staatliche Erziehungsauftrag bündelt nicht nur das Elternrecht zu gemeinsamer, aufeinander abgestimmter Ausübung, sondern steht qualitativ gleichgeordnet neben dem elterlichen Erziehungsauftrag92 und eröffnet dem Staat die Möglichkeit, allen Kindern eine Grundausbildung und Mindestmündigkeit zu vermitteln, sie zum Verständnis der Kultur und Verfassung zu erziehen,93 gerade in der pluralistischen Gesellschaft mit ihren weiten Freiheitsräumen die tragenden Grundwerte der Verfassung zu verwurzeln.94 Die Erziehung zur Achtung der Menschenwürde, zum verantwortlichen Gebrauch der Freiheit, zur Vertrauenswürdigkeit bei Wahrnehmung der Meinungsfreiheit, zu Pflichtbewusstsein, Leistungsbereitschaft, mitmenschlicher Rücksichtnahme und Schonung der materiellen und immateriellen Lebensgrundlagen ist nicht allein der Wahrnehmung des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 GG) überlassen, sondern eigenständiger Auftrag des durch das Grundgesetz gebundenen Staates. Das Grundgesetz und die grundrechtsgeprägte Rechtsordnung sind durch eine Sicht des Menschen bestimmt, der in das soziale Zusammenleben eingebettet und insoweit in seiner Beliebigkeit beschränkt ist.95 Die Garantie der Menschenwürde sieht jeden Menschen dank seiner Individualität oder seiner Personalität im Besitz eines „absoluten inneren Wertes“ kraft moralisch-praktischer Vernunft96 und verspricht jedem Menschen 91 Vgl. Thomas Oppermann, Schule und berufliche Ausbildung, in: HStR Bd. VI, 1989, § 135 Rn. 4. 92 Vgl. BVerfGE 34, 165 (171 f., 183) – hessische Förderstufe; BVerfGE 41, 29 (44 ff.) – christliche Gemeinschaftsschule; BVerfGE 53, 223 (236) – Schulgebet. 93 Vgl. Oppermann, a. a. O., § 135 Rn. 4. 94 Vgl. Martin Heckel, Säkularisierung, staatskirchenrechtliche Aspekte einer umstrittenen Kategorie, in: ders. (Hrsg.), Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. II, 1989, S. 25 (42); ders., Das Kreuz im öffentlichen Raum. Zum „Kruzifix-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts, in: DVBl. 1996, S. 458. 95 Vgl. BVerfGE 4, 7 (16) – Investitionshilfe; BVerfGE 12, 45 (51) – Kriegsdienstverweigerer; BVerfGE 21, 362 (372) – Grundrechtsfähigkeit von juristischen Personen des öffentlichen Rechts; BVerfGE 41, 29 (50) – Simultanschule mit christlichem Charakter; Klaus Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: HStR Bd. V, 1992, § 108 Rn. 8, § 109 Rn. 78; Peter Lerche, Grundrechtsschranken, in: HStR, daselbst, § 122 Rn. 7 a. E.
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in dieser Rechtsgemeinschaft Achtung und Schutz seiner Würde. Jeder Mensch ist in der Gleichheit aller Menschen in diesem Staat Rechtsperson, beansprucht den Schutz der körperlichen und seelischen Unverletzlichkeit, ist in sozialer Anerkennung und in Achtungsansprüchen in die Rechtsgemeinschaft aufgenommen, gewinnt dort den Status eines Beteiligten am Rechtsverkehr, ist Adressat der verfassungsrechtlichen Freiheitsangebote unter den Bedingungen der jeweiligen Freiheitskultur. Dieser mit Würde und Freiheit begabte Mensch lebt nicht in der Vereinzelung, sondern in der Gebundenheit und Betreuung der Familie. Die Familie ist Erlebnis-, Entfaltungs- und Verantwortlichkeitsbereich von Eltern und Kindern, bildet eine eigenständige, selbstverantwortliche Gemeinschaft, deren Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung aller Beteiligten jede andere menschliche Bindung übersteigt. Die Familie ist grundrechtsgeprägter Auftrag,97 in der das Elternrecht als dienendes Grundrecht98 Würde und Freiheit aller Familienmitglieder zur Entfaltung bringt, zugleich aber auch den Achtungs- und Würdeanspruch aller Menschen gegenüber den Heranwachsenden vermittelt. Insoweit regelt Art. 6 Abs. 2 GG Elternrecht und Elternpflicht im Gleichklang, sieht das Elternrecht stets in einer rechtlichen und gesellschaftlichen Ordnung99 und weist die Eltern in die Begleitung von „Miterziehern“, das elterliche Erziehungsrecht auf das Zusammenwirken mit anderen privaten, gesellschaftlichen und öffentlichen Verantwortungsträgern.100 Elterliche Erziehung nimmt die Wertungen der Rechtsund Kulturordnung in Freiheit auf, formt sie für die jeweilige Gegenwart und gibt sie an die nachfolgende Generation weiter. Hier liegt die verlässliche Quelle von Rechtskontinuität, Wertungssicherheit und Gestaltungsoffenheit. Das Elternhaus vermittelt eine wertgebundene Weltsicht und sinnerfüllte Lebensweise, damit die Kinder die vielfältigen Angebote einer freiheitlichen Verfassung auch tatsächlich annehmen können.
VII. Familiäre oder staatliche Lebenshilfe? Die verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit meint grundsätzlich die Freiheit vom Staat. Da der Mensch aber von Geburt an – bei Krankheit, Armut, Enttäuschung, Vereinzelung bis zur Altersgebrechlichkeit – auch hilfsbedürftig ist, braucht er Zuwendung, Erziehung, Beistand und Unterhalt von staatlicher Seite. Die Institution, die diese Gemeinschaft gegenseitiger Verantwortlichkeit und Lebenshilfe begründet, ist die Ehe und Familie. Sie bietet die Voraussetzung für die bestmögliche Entwicklung der Menschen,101 festigt entsprechend der auf Dialog angelegten geistigen Natur des Menschen Zusammengehörigkeit und Zusammenhalt, gedanklichen Austausch und wechselseitige Förderung, bietet Lebenshilfe, die der Einzelne empfängt und die von 96 Hans Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Grundrechte II, 1954, S. 1 ff.; Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HStR Bd. I, 1987, § 20 Rn. 33 ff. Zur Gegenansicht (Menschenwürde als Folge der Leistung) vgl. Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 64 ff. 97 Vgl. Hans F. Zacher, Elternrecht, in: HStR Bd. VI, 1989, § 134 Rn. 2. 98 BVerfGE 59, 360 (376 ff.) – Schweigepflicht der Erziehungsberater gegenüber Eltern. 99 Zacher, a. a. O., § 134 Rn. 10 f. 100 Zacher, a. a. O., § 134 Rn. 6 f. 101 BVerfGE 25, 167 (196) – Nichtehelichkeit; BVerfGE 76, 1 (51) – Familiennachzug.
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grundlegender Bedeutung für die Fähigkeit zur Freiheit und für die Ordnung des Gemeinschaftslebens ist.102 Freiheit vom Staat baut also auf enge Bindung unter den Freiheitsberechtigten. Die Wahrnehmung verantwortlicher Elternschaft erübrigt die staatliche Lebensbegleitung des Kindes. Familiärer Unterhalt erspart öffentliche Sozialhilfe. Private Pflege ersetzt die Dienstleistungen von Seniorenheim und Krankenhaus durch persönliche Zuwendung. Der persönliche Dialog macht eine psychologische und therapeutische Beratung überflüssig. Die eheliche und familiäre Lebensgemeinschaft wirkt bei Orientierungsarmut und drohender Rechtsverletzung ausgleichend und friedenstiftend, schützt damit vor polizeilichen und gerichtlichen Eingriffen. Gäbe es die Ehen und Familien nicht, könnte der Rechtsstaat seine Freiheitlichkeit nicht bewahren, der Sozialstaat würde seine Leistungskraft überfordern. Da der Staat nur Freiheitsrechte anbieten und günstige Rahmenbedingungen für die Annahme dieses Angebotes schaffen kann, die Bereitschaft der Menschen für die Annahme insbesondere der kulturellen Freiheiten aber von ihrer Erziehung abhängt, muss der Staat gerade in der Gegenwart den Erziehungsauftrag der Familien entschieden stützen und stärken. Jede Generation kann nur die Kultur entfalten, deren Wurzeln in vorausgehenden Generationen gelegt wurden. Will sie nicht jeweils das Auto neu erfinden, sondern sich auf dem überkommenen Wissensstand weiterentwickeln, so muss insbesondere auch die kulturelle Grundlage von Staat und Recht in der Generationenfolge kontinuierlich erneuert werden. Ehe und Familie sind Bedingung der Freiheit, der in Demokratie und Rechtsstaat vorausgesetzten Hochkultur.
102 Vgl. BVerfG, a. a. O.; sowie BVerfGE 80, 81 (90 ff.) – Volljährigenadoption I; BVerfGE 99, 145 – gegenläufige Kindesentführung.
Der Erziehungsauftrag der Familie Von Volker Ladenthin
Der Erziehungsauftrag der Familie richtet sich auf diejenigen Elemente des Familienlebens, die intentional gestaltet werden können und daher verantwortlich gestaltet werden müssen. Dabei meint „Familie“ eine biologisch oder sozial verbundene, auf Dauer angelegte und auf Emotionen beruhende intergenerationelle Lebensgemeinschaft mit minderjährigen Kindern außerhalb staatlicher Institutionalisierung. „Familienerziehung“ unterscheidet sich von naturhafter „Prägung“ ebenso wie von implizit sich ereignender „Sozialisation“. Aussagen über den Erziehungsauftrag in der Familie geben Antwort auf Sinn- und Wertfragen sowie sittliche Fragestellungen. Diese Aussagen müssen im Zusammenhang mit Aussagen zum Bildungsauftrag der Familie betrachtet werden, der wiederum nur einen Teil des pädagogischen Auftrags der Familie darstellt; sie können mit rechtlichen und theologischen Aussagen über die Familie in Verbindung gebracht werden. Pädagogisch begründete Forderungen an die Gestaltung von Familie haben Bedeutung für politisch-rechtliche (vgl. Art. 6 Abs. 2 GG) und kirchliche Erwartungen.1 Aussagen über den Erziehungsauftrag betreffen nicht den faktischen Zustand, sondern die normative Dimension des Familienlebens. Deshalb können aus Beschreibungen des Zustands von Familien keine Folgerungen für die Beschreibung des pädagogischen Auftrags gewonnen werden. Umgekehrt kann der pädagogische Auftrag nur angesichts der realen Situation mit Aussicht auf Erfolg formuliert werden. Zu unterscheiden sind daher die universal gültigen Prinzipien der Familienerziehung von ihren zeitbedingten Möglichkeiten. Die folgenden Ausführungen entfalten die Aufgaben der Familienerziehung dadurch, dass Prinzipien pädagogischen Handelns auf die Familie hin ausgelegt werden.
I. Der Erziehungsauftrag Der Erziehungsauftrag der Familien rechtfertigt sich aus der ubiquitären pädagogischen Aufgabe, anlässlich von Bildsamkeit und Geltungsansprüchen mit anderen Menschen so zu agieren, dass Geltungsansprüche sachlich geprüft sowie verantwortungsvoll bewertet werden können und gültige Selbstbestimmung möglich wird. Die grundlegende Bildsamkeit des Menschen und seine grundsätzliche Unversorgtheit (Unselbständigkeit) am Beginn des Lebens begründen eine spezifische, „pädagogisch“ genannte Interaktionsform, die pflegerische, physische und psychische Versorgung und Fürsorge sowie Hilfen zur Teilnahme an der sozialen Ordnung und zum Verstehen und Gestalten der Welt betrifft. 1
Vgl. Kompendium, 2006.
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Volker Ladenthin 1. Die Bedeutung der physischen und psychischen Versorgung und Fürsorge
Ohne eine Versorgung der Kinder entsprechend ihrer physischen Grundbedürfnisse ist pädagogisches Handeln nicht möglich. Daher sind vom Augenblick der Zeugung an gesundheitswissenschaftliche Erkenntnisse für die Lebensgestaltung in der Familie auszuwerten. Pädagogische Handlungsmaxime ist der Anspruch, die Versorgung der Kinder entsprechend ihrer physischen Grundbedürfnisse mit pflegerischem Sachverstand sicherzustellen. Empirische Forschungen haben gezeigt, dass mit einer intensiven pflegerischen Zuwendung zugleich eine emotionale Bindung zwischen den interagierenden Personen entsteht bzw. bei einer Störung dieser Zuwendung physische, besonders aber psychische Schädigungen (Hospitalismus) bei den Kindern auftreten, die das gesamte spätere Leben betreffen. Angesichts dieser Forschungsergebnisse ist zu folgern, dass nur bei Gewährleistung bestimmter Standards diese Versorgungsaufgabe institutionalisiert werden kann, da Versorgung und Bindung nicht voneinander zu trennen sind und eine Auslagerung von Versorgung eine Schwächung oder sogar Verunmöglichung von Bindung zur Folge hätte. Im Bereich der Versorgung der Kinder entsprechend ihrer psychischen Grundbedürfnisse zeigt sich ein der physischen Versorgung vergleichbarer Sachstand. Identitäts- und entwicklungspsychologische Erkenntnisse helfen, die Familiensituation in Bezug auf die psychische Konstitution der Beteiligten der vor- und nachgeburtlichen Situation zu gestalten. Pädagogische Handlungsmaxime für die Familienerziehung ist der Anspruch, den psychischen Grundbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen gemäß zu handeln. Auch im Bereich des psychisch gesunden Aufwachsens haben empirische Forschungen gezeigt, dass mit einer angemessenen Gestaltung der intergenerationellen Interaktion zugleich Qualitäten des Ichs ausgebildet werden, die zu Konstituenten einer gesunden und gelungenen Personalisation gehören: die Bindungsfähigkeit, die Kultivierung von Emotionalität, die Herausbildung von Individualität, die Sicherung von Identität und die Bereitschaft zu verantwortungsvoller Selbsttätigkeit. Die Aufgabe einer kundigen und verantwortungsvollen Gestaltung der psychischen Gesamtsituation kann – analog zur Aufgabe der physischen Versorgung – nur in Notlagen und bei Gewährleistung bestimmter Standards institutionalisiert werden, da die Qualität der psychischen Versorgung die psychische Entwicklung des Kindes beeinflusst. Dabei ist insbesondere wichtig, dass das Kind eine feste weibliche und eine feste männliche Bezugsperson hat, sprich: dass Mutter und Vater sich um das Kind kümmern.
2. Die Bedeutung der Hilfen zur Teilnahme an der sozialen Ordnung
Vom Augenblick der Geburt an leben Menschen in sozialen Ordnungen (Institutionen) mit festen Verhaltensforderungen. Kinder müssen sich in diesen Ordnungen zurechtfinden und zugleich auf die Teilnahme an weiteren sozialen Ordnungen (gesellschaftlichen Institutionen) so vorbereitet werden, dass sie in diesen Institutionen aufwachsen, lernen und später arbeiten können. Die Sorge um eine angemessene (disziplinierte) Interaktion der Beteiligten in diesen Institutionen unter dem Aspekt der bestmöglichen Förderung und Ermöglichung von Bildung der Kinder ist daher Aufgabe jeder Lebensgemeinschaft mit minderjährigen Kindern und deswegen kompetent zu gestalten. Pädagogische Handlungsmaxime ist, die disziplinarischen Anforderungen der Familie und der anderen sozialen Institutionen in den Familien offen zu legen, zu erklären, zu begründen und einzuüben.
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Mangelnde Sorge um die Herausbildung der Fähigkeit und Bereitschaft zur Einhaltung von sozialen Regeln in den Familien führt zu Beeinträchtigungen in jenen Situationen, in denen die Kinder außerhalb der Familie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Freilich darf die Disziplin nicht Selbstzweck werden. Die Verhaltensregeln müssen flexibel dem jeweiligen Alter, dem Entwicklungsstand und den individuellen Bedürfnissen angepasst werden. Sie sollten über Einsicht begründet werden; letztlich ist aus pädagogischer Perspektive Disziplin immer in Selbstdisziplin zu überführen, d. h. in die begründete Bereitschaft, situativ begrenzt regelkonform zu handeln. Sollte es seitens der Familie an Kompetenzen oder Bereitschaft fehlen, die Hilfen zur Teilnahme an der sozialen Ordnung sicherzustellen und die angemessene Vorbereitung der Kinder auf die Eingliederung in die sozialen Bildungsinstitutionen zu gewährleisten, müssen diese Institutionen ihrerseits ihre Erwartungen deutlich machen, die Eltern zur Mitarbeit auffordern und sich schließlich dafür einsetzen, dass kompensatorisch eingegriffen wird (ambulante Unterstützung, Heimeinweisung, Jugendstrafvollzug). 3. Die Bedeutung einer Befähigung zum Verstehen und Gestalten der Welt
Wissen und Können sind Voraussetzungen sittlichen Handelns. In den Familien müssen daher von den Kindern Erfahrungs- und Umgangswissen sowie lebensweltlich relevante Fertigkeiten und Fähigkeiten unter Anleitung der Eltern erworben werden. Pädagogische Handlungsmaxime für die Familienerziehung ist der Anspruch, die sachliche Geltung lebensweltlicher Vorgänge verstehbar werden zu lassen, um es so den Kindern zu ermöglichen, in dieser Lebenswelt verantwortlich mithandeln zu können. Die zunehmende Komplexität der Lebensverhältnisse kann es notwendig machen, Experten hinzuzuziehen, die die Eltern informieren, beraten oder unterstützen. Hierzu könnte die Einrichtung von „Elternbildungsstätten“ sinnvoll sein, in denen pädagogisch relevante Sachverhalte erörtert werden. 4. Die Bedeutung der Organisation der familialen Interaktionsformen
Wie in einer Familie erzogen wird, hängt nicht nur von den gezielten erzieherischen Interventionen ab, sondern auch von den familialen Interaktionsformen, in denen die Erziehung stattfindet. Diese Interaktionsformen bestimmen die Selbstkonstitution der Familie als Gemeinschaft und müssen von den Familienmitgliedern akzeptiert werden. Ihnen kommt daher eine Vorbildfunktion zu. Das, was in den Interaktionen gelernt werden soll, wird als Handlungsmuster bereits praktiziert und daher de facto übernommen. Pathologische oder auch nur deformierte Interaktionsformen gefährden die in diesen Interaktionsformen möglicherweise formulierten positiven normativen Gehalte. Es kommt dann zu Vertrauenskrisen, Glaubwürdigkeitsproblemen, Autoritätsverlust – so dass die Lehr-Lernsituation insgesamt beeinträchtigt ist. Aus dem Umstand, dass ein Zusammenleben mit minderjährigen Kindern in der Familie immer auch eine pädagogische Dimension beinhaltet, ergibt sich also eine normative Forderung für die Gestaltung dieses Zusammenlebens: Die pädagogisch richtige Gestaltung von familialen Interaktionen ist eine ebenso wichtige Aufgabe der Familienerziehung, wie es die aktiven erzieherischen Interventionen sind. Zudem muss die Gesellschaft ein Interesse daran haben, dass Bildungsbemühungen der Öffentlichkeit (z. B. in Schulen) nicht durch
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defizitäre oder unangemessene Interaktionsformen in den Familien erschwert oder sogar verhindert werden. Das Problem liegt darin, dass die Gesellschaft einerseits einer bestimmbaren Qualität von Familienerziehung bedarf, andererseits aber nicht der Staat in die Familien hineinregieren darf. Aufklärung, Information und Schulung können hier Vermittlungsversuche leisten, wobei zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in pathologischen Einzelfällen auch andere Einflussnahmen nötig werden können. Schwierig ist eine staatliche Begleitung in jenen Fällen, in denen die Kinder durch die in ihren Familien üblichen Interaktionsformen nicht genügend gefördert werden, andererseits aber noch keine vom Gesetzgeber legitimierten Eingriffe (gemäß Jugendschutzgesetz) gerechtfertigt sind. Internationale Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Zahl dieser problemhaltigen Familien in Deutschland vergleichsweise groß ist. Institutionen wie die Schule können diese offensichtlichen Defizite nicht ausgleichen, weil Kompensationen dieser Institutionen durch die Interaktionsformen in den betreffenden Familien konterkariert werden. Zudem löst die Betreuung von Kindern dieser Familien durch öffentliche Einrichtungen das Problem nur zum Teil, da die institutionalisierten Ersatzformen für Familie wie Hort, Ganztagsschule oder Internat genau diejenigen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen nicht fördern (sondern vielmehr als intakt voraussetzen), die für ein gesundes Aufwachsen, für eine angemessene psychische Entwicklung und für selbst bestimmtes verantwortungsvolles Handeln zentral sind: nämlich die durch Alltagshandeln ausgebildeten Fähigkeiten zu emotionalen Bindungen und zum Aufbau personaler Beziehungen. Sinnvoll sind also nicht familienersetzende, sondern familienaufbauende, d. h. subsidiäre soziale Hilfsleistungen.
II. Grundfragen der Familienerziehung Prinzipien der Familienerziehung helfen, normative Anforderungen an Familien, aber auch an Institutionen der Familienbildung zu legitimieren. Unabhängig von terminologischen Randfragen unterliegt jede private Lebensgemeinschaft mit minderjährigen Kindern aus pädagogischer Sicht den oben genannten Prinzipien, auf die hin die einzelne Familie vernünftig gestaltet werden muss. Pflege, Eingewöhnung in geltende Ordnungsmuster und Information sind unverzichtbar für das gegenwärtige und zukünftige sittliche Handeln der Kinder und die sinnvolle Gestaltung des Lebens. „Erziehung“ meint die Befähigung zum sittlichen Handeln, d. h. zu einem eigenverantwortlichen Handeln, das die Würde der anderen Menschen und der eigenen Person achtet. Gelegentlich wird ethisches Handeln auch auf die Achtung der Natur bezogen. Sittliches Handeln beruht letztlich auf einer autonomen Gewissensentscheidung; daher kann zu sittlichem Handeln nur aufgefordert, es selbst aber nicht „vermittelt“ oder gar erzwungen werden. Dieser Grundsatz gilt für alle Lebensalter. Fürsorge und Disziplinierungen sowie institutionelle Lebensformen können Bedingungen für sittliches Handeln schaffen, dürfen dieses aber nicht ersetzen. Die folgenden Ausführungen erläutern Aufgabenfelder für die Erziehungsaufgabe der Familie.
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1. Inhalte der Familienerziehung
Sittliches Handeln gründet auf der Fähigkeit zu sittlicher Urteilskraft. Diese entwickelt sich analog zur allgemeinen Urteilskraft (vgl. Piaget), ist also mit dem Einsetzen willentlicher Bekundungen vorhanden – und daher zu fordern wie zu fördern. Sittliche Urteilsfähigkeit unterliegt einer sowohl natürlich wachsenden wie pädagogisch zu beeinflussenden Entwicklung (vgl. Kohlberg), deren Kenntnis Voraussetzung für das Verstehen juveniler sittlicher Urteile und Handlungen ist. In den westlichen Kulturen gilt ein Urteil (und die ihm folgende Handlung) dann als sittlich gut, wenn es sachlich richtig ist und die Würde der Person(en) so achtet, dass das zur Anwendung kommende Prinzip für alle Menschen gelten kann (vgl. Kant). Der Gebrauch dieses sittlichen Imperativs kann ebenso als Erziehungsziel angesehen werden wie als Regel, die in den Interaktionen der Familie bereits zu gelten hat. Sittlichen Entscheidungen der Eltern eignet wohl eine erhebliche Tunlich- und Vorbildhaftigkeit für die Kinder; ihre Geltung und Autorität erhalten diese Entscheidungen aber durch die in ihr zur Anwendung kommende Vernunft. Die Befähigung zum sittlichen Handeln erwerben Kinder und Jugendliche durch Einsicht in die Gründe der elterlichen Handlungen. Familienerziehung heißt also erstens, es anlässlich von faktischen Urteilen den Heranwachsenden zu ermöglichen, sittlich urteilen zu lernen (das heißt: so, dass dabei die Würde der von dem Urteil bzw. der Handlung betroffenen Personen geachtet wird). Sittliche Urteile sind an Werte gebunden, die im Handeln verwirklicht werden. Werte sind Sachverhalte oder Handlungen, die für oder zu etwas gut sind. Maßstab für einen Wert in erziehungstheoretischer Hinsicht ist seine Bedeutung für die Ermöglichung menschlicher Lebensverhältnisse (conditio humana). Daher unterscheidet man zwei Wertungsvorgänge: Im ersten Wertungsvorgang wird die mögliche Werthaftigkeit eines Sachverhalts oder einer Handlung für die conditio humana geprüft. Diese Prüfung führt zu einem Kanon an für eine Kultur und ihr Gelingen wertvollen Sachverhalten und Handlungen. In der konkreten Handlungssituation erfolgt der zweite Wertungsvorgang: Aus den möglichen, in der Handlung zu realisierenden Werten wird faktisch jener Wert bevorzugt, der sachlich und situativ angemessen ist, die Würde der anderen und eigenen Person (und der Natur / Schöpfung) nicht verletzt und individuell sinnvoll ist. Familienerziehung kann daher nicht durch Weitergabe eines Wertekanons gelingen, sondern sollte in der Befähigung der nachwachsenden Generation bestehen, angesichts von möglichen Werten zu einer situativ angemessenen Wertung fähig und bereit zu sein. Dazu müssen Sachverhalte und Handlungen der Umwelt als Werte erkannt und erfahren, sowie Fragen nach dem Gelingen des Lebens und dem Lebenssinn reflektiert werden. Auch dieses Prinzip des Wertens gilt bereits für die Gestaltung der familialen Interaktion, in der es gelernt wird. Familien stehen daher unter dem Anspruch, Vollzüge sinnvollen und gelingenden Lebens zu sein. Wenn diesem Anspruch nicht genügt wird, findet Familie aus pädagogischer Perspektive nur in reduzierter Form statt und zeitigt die oben genannten negativen Folgen für die betroffenen Personen und die Gesellschaft. Werteerziehung in der Familie geschieht zuvörderst durch die bewusst wertende Lebensweise aller Familienmitglieder. Erfahrungen allein reichen allerdings nicht aus, sondern bedürfen (um gelernt werden zu können) der Reflexion. Familienerziehung heißt also zweitens, es anlässlich familialer Erfahrungen den Heranwachsenden zu ermöglichen, bewusst werten zu lernen (das heißt: reflektiert und schließlich so, dass der Maßstab der Wertung die Idee eines sittlich gelingenden und sinnvollen Lebens ist).
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Das Kriterium, nach dem beim Handeln ein Wert bevorzugt wird, ist letztlich die Frage, ob mit dieser Entscheidung sinnvoll gelebt wird. Die Inhalte dieser letzten Sinnoption können nicht wieder diskursiv begründet werden, weil sie Ausdruck der Individualität und Einmaligkeit (christlich: Gottesebenbildlichkeit) des Menschen (der Person) sind. Erziehung muss diese Grenze achten; Eltern dürfen daher keine Sinnoptionen für ihre Kinder festlegen. Sie können nur gemäß der eigenen Sinnoption leben und darauf vertrauen, dass das eigene Leben als Beispiel (Vorbild) für ein gelungenes, nach einem Sinn ausgerichtetes Leben verstanden und bewertet wird und daher Überzeugungskraft bekommt. Sittliche Entscheidungen und Sinnentscheidungen können nicht in Stellvertretung gefällt werden; sie dürfen nicht kollektiv gefällt und keinesfalls durch Sanktionen oder Nötigung erzwungen werden. Eltern müssen sich in diesem Bereich auf die (schwierige und persönlich manchmal schwer zu ertragende) Position des Beratenden zurückziehen. Es ist vorstellbar, dass das Vertrauen in den Beratenden mit dem Grad der biologisch-sozialen Nähe zunimmt; allerdings kann die Beachtung einer Außenperspektive die immer begrenzte Perspektive einer Familie überschreiten bzw. innerfamiliale Beratungen mit fremder Autorität versehen. Familienerziehung heißt also drittens, gelebte Sinnentwürfe familialer Entscheidungen zu leben, offen zu legen und zu ermöglichen. Die Frage nach einem gültigen Lebenssinn wird in der Familie vor aller Thematisierung faktisch beantwortet. Die Familie muss daher ein weitestgehend vor allen äußeren Einflüssen geschützter Raum sein, der die Verwirklichung persönlicher Ansprüche zu gewährleisten sucht. Diese Forderung widerspricht nicht dem empirischen Befund, dass das Familieninnenleben faktisch von ökonomischen, sozialen, juristischen, politischen und religiösen Gegebenheiten abhängig ist, weil diese in das Familienleben hineinwirken (Sozialisationsforschung), differenziert aber zwischen Deskription und Präskription. Viele traditionale Gesellschaften, fundamentalistische Konzepte oder totalitäre politische Systeme versuchen, die in den Familien gelebten Sinnoptionen durch Offenlegung des Familieninnenlebens zu erkunden und zu normieren. Damit wird die identitätsermöglichende Funktion der Familie zerstört. Umgekehrt ergibt sich für demokratische Staaten die Verpflichtung, die Familie und ihr Innenleben zu schützen und die Individualisierung von Lebensformen in den Familien zu fördern. Staatliche Eingriffe in Familien sind also nur dann zu rechtfertigen, wenn die Schutzfunktion der Familie nicht gewährleistet ist. Die Begründung der Sinnoption unterliegt nur begrenzt rationaler Argumentation: Sicherlich kann die Bestimmung von Lebenssinn nicht außerhalb der Ansprüche von Wahrheit und Sittlichkeit stattfinden, ohne dass diese Ideen schon Sinn garantierten. Aber die Frage, warum es sinnvoll ist, sinnvoll zu leben, bedarf einer eigenen Klärung. Eine der Möglichkeiten, diese Frage zu klären, stellt die Religion (stets in Form von Konfessionen) dar. Diese Art der Klärung kann nicht mit rationalen oder disziplinierenden Mitteln verbindlich gemacht, sondern nur je individuell geglaubt werden. Ohne einen Bezug auf derartige Klärungsversuche besteht jedoch beim vernünftig handelnden Menschen ein Legitimationsdefizit, was das letzte Motiv für das eigene Handeln betrifft. Religiöse Antworten auf die Frage nach dem letzten Sinn für die begründete Entscheidung zum richtigen Leben können nicht so lange suspendiert werden, bis die nachfolgende Generation religionsmündig ist. Die familiale Lebensgemeinschaft befindet sich immer schon in einer Sinnoption, d. h. beispielsweise in einem religiösen Verhält-
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nis, das immer auch konfessionell (also praktisch) ausgestattet ist, wenn man Religion ganz allgemein als Frage nach dem Verhältnis zur eigenen Endlichkeit deutet. Dieses Verhältnis muss, um der Vernünftigkeit willen, offen gelegt, erläutert und ergründet werden. Familienerziehung heißt also viertens: anlässlich familial gelebten (z. B. konfessionell vollzogenen) Lebenssinns über die (religiösen) Motive und Motivationen zu sprechen. 2. Formen der Familienerziehung
Formen der Familienerziehung dürfen den pädagogischen Grundsätzen einer Aufforderung zur Selbsttätigkeit und den genannten Prinzipien nicht widersprechen. Auf sie bezogen lassen sich Handlungsnormen oder -möglichkeiten, d. h. Erziehungstechniken und Verfahren (z. B. „autoritärer Stil“, „Laisser-faire-Stil“, „liberaler Stil“, „demokratischer Stil“ oder „antiautoritärer Stil“) situativ angemessen finden. Die Forderung, Erziehungsrezepte zu geben, führt oft zu zeitverhafteten Allgemeinplätzen, die der konkreten Situation und der Individualität der Beteiligten nicht gerecht werden. Vor Interventionsverfahren, die die Autonomie der Betroffenen unterlaufen, ist aus pädagogischer Sicht zu warnen. Sie gehören in den Bereich der Pathologie und der ihr folgenden Therapie. Explizite Formen der Familienerziehung ergeben sich da, wo bestimmte Elemente des familiären Zusammenlebens entweder bewusst zu erzieherischen Zwecken initiiert und kultiviert werden oder man gemeinsame Aktivitäten so gestaltet, dass die erzieherische Wirkung dabei bewusst berücksichtigt wird. Im Erzählen (etwa anlässlich gemeinschaftlicher Mahlzeiten) werden familienbezogene Ereignisse aufgearbeitet und reflektiert, Lebensgeschichten von Familienmitgliedern entfaltet und Sinnbezüge erfahrungsgefüllt vorgestellt. Im Gespräch werden persönliche oder familienrelevante Probleme behandelt, Informationen verständlich und situationsbezogen weitergegeben, Entscheidungen dargelegt und begründet, offene Fragen und anstehende Entscheidungen erörtert und dialogisch Gründe abgewogen. Im vertraulichen Zwiegespräch können Beratungen erfolgen, im gemeinschaftlichen Gespräch wird eine Multiperspektivität erreicht. Die Mediennutzung ist heute ebenfalls zu einer Weise familialer Selbstkonstitution geworden und lediglich dann problematisch, wenn sie familienzerstörende Wirkungen durch Missbrauch (Fernsehen als Babysitter) zeitigt. Traditionelles und wohl auch weiterhin wichtiges Medium für die Familienerziehung ist geeignete Kinder- und Jugendliteratur. Die Auswahl sollte (unter dem Aspekt der Erziehung) darauf gerichtet sein, die je eigene Situation aus fremder Perspektive betrachtet zu sehen. Die moderne Kinder- und Jugendliteratur thematisiert Familie und trägt zugleich zu ihrer Konsistenz bei. Musischkünstlerische Betätigungen wie das Musizieren werden in ihrer Bedeutung – im Hinblick auf die Kultivierung von Emotionen und als soziale Ereignisse, bei denen zum Beispiel die Regeln einer musikalischen Aufführung regulierend in das Familienleben eingreifen – derzeit zu wenig beachtet. Spiele können durch sinnvolle Regeln ebenfalls regulierende Bedeutung haben und dienen zudem noch dem Erwerb von Fähigkeiten, Fertigkeiten und oft von Wissen. Die Hausaufgaben geben den Eltern die Möglichkeit, den sachstrukturellen Entwicklungstand ihrer Kinder detailliert zu erkunden und in ein Gespräch über Sachen erfahrungsbezogen einzutreten. Die erziehungsrelevante Frage nach dem Wert des in der Schule Gelernten stellt sich dabei anlassbezogen ebenso wie die Frage nach dem Umgang mit dem Gelernten im Familienleben.
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Zu den impliziten Formen der Familienerziehung gehören stillschweigend vorausgesetzte und in der Regel nicht thematisierte Elemente der Familienkultur, also Zeitrhythmen, Rituale oder Aufgabenverteilungen. Alltagshandlungen werden hier durch das Ausüben implizit gelernt, Urteile werden anlässlich aktueller Aufgaben eingefordert. Vorbildhaftigkeit und Nachahmung, Vormachen und Nachmachen, gemeinsames Handeln und Mittun sind daher pädagogisch bedeutsame Handlungsformen. In diesen familialen Handlungen realisieren sich Wertentscheidungen. Die Bewältigung des Alltags hat deswegen für die Familienerziehung hohe Relevanz. Ebenso haben Freizeit und Ferien eine erzieherische Bedeutung, weil sich in ihnen Wert- und Sinnentscheidungen oft mit relativer Unabhängigkeit von (zeit-)ökonomischen oder außerfamilialen Handlungszwängen realisieren und so zur verstehenden Teilnahme an der Institution Familie anregen können. Bei Festen und Feiern (Familienfeste, Jahresfeste, kirchliche Feste) kommt es zu zweckentlastetem Handeln, das das sinnvolle Ausgestalten von Individualität ermöglicht. Die Vollzüge religiöser Praktiken nehmen die jungen Menschen mit hinein in eine Sinnoption, aus der heraus sie angenommen wurden. Der Verdacht, all diese Lebensformen seien nur künstliche Inszenierungen, verkennt, dass Leben immer in sich verfestigenden Formen stattfindet. Der Zwang zur Übernahme unverständlicher Abläufe ist sicherlich kontraproduktiv im Hinblick auf die Erziehungsaufgabe; um aber Leben zu gestalten, müssen immer Zeiten verbindlich eingeteilt, Handlungsabläufe entlastend zu Ritualen verfestigt, Aufgaben gerecht verteilt, Freizeit und Ferien sinnvoll gefüllt, Feste und Feiern organisiert und religiöse Vorschriften gelebt werden. Aufgabe ist es folglich, in jeder Familie nach authentischen und spezifisch passenden Formen der Gestaltung zu suchen. Zur Frage steht nicht, ob Familienleben stattfindet, sondern nur, wie es verantwortungsvoll stattfindet. Aus pädagogischer Sicht kann gesagt werden, dass es so stattfinden muss, dass erzogen werden kann.
III. Grenzen der Familienerziehung Die pädagogischen Forderungen an eine gelungene Familienerziehung, bei der Prinzipien benannt werden, die beim Handeln zu berücksichtigen sind, dürfen nicht mit einer Idealisierung von Familie verwechselt werden. Dass diese Prinzipien in jeder Familie anders beachtet werden, ist geradezu ihr Sinn: nämlich Individualität zu ermöglichen. Aus der Verpflichtung, eine gelungene intergenerationelle Lebensform außerhalb staatlicher Institutionalisierung zu gestalten, werden Eltern so lange nicht entlassen, wie sie mit ihren minderjährigen Kindern zusammenleben. Untersuchungen aus dem Bereich der Verhaltens- und Biographieforschung deuten hierbei auf die besondere Bedeutung der biologischen Eltern hin. Familienformen, die den ausgewiesenen Prinzipien nicht entsprechen, wurden und werden in ihrer individuellen und sozialen Problematik besonders in der erzählenden Literatur breit dokumentiert und in der Wissenschaft gründlich erforscht. Das Pathologische einer Familie kann in der unpädagogischen Verweigerung oder aber Übersteigerung von Fürsorge (Verwahrlosung oder Verwöhnung), in zu rigider Disziplinierung und in unangemessenen Umgangsformen bestehen. Als häufige Fehlform der Familienerziehung kann die Verwechslung von Erziehung mit Disziplinierung oder Fürsorge verstanden werden. Als weitere typische Fehlform ist die unreflektierte Differenz zwischen erzieherischem Anspruch und erzieherischer Praxis zu nennen. In der psychologischen
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Literatur sind besonders die negativen Folgen einer über sich selbst nicht aufgeklärten Familienerziehung bzw. Familiensozialisation offen gelegt worden. Oft wird dann Familienbildung nicht als pädagogische Befähigung von Eltern zu pädagogischem Handeln, sondern als Therapie verstanden. Durch ihre Erziehungsarbeit leistet die Familie für die Bildung des Einzelnen und damit für die Konstitution einer Gesellschaft einen grundlegenden Beitrag – ein Umstand, der unter ökonomischem Aspekt bisher in Staat und Gesellschaft weder richtig noch angemessen gewürdigt wurde.
Literaturverzeichnis Bauer, Frank: Zeitbewirtschaftung in Familien. Konstitution und Konsolidierung familialer Lebenspraxis im Spannungsfeld von beruflichen und außerberuflichen Anforderungen, 2000. Beck-Gernsheim, Elisabeth: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen, 2000. Bowlby, John: Mutterliebe und kindliche Entwicklung. Beiträge zur Kinderpsychologie, Band 13, 1985. – Frühe Bindung und kindliche Entwicklung, (4. neugestaltete Auflage) 2001. Ernung, Günter: ,Früher war alles besser. . . ?‘ Zur Geschichte von Familienformen, in: Macha, Hildegard / Mauermann, Lutz (Hrsg.): Brennpunkte der Familienerziehung, 1997, S. 34 – 51. Fthenakis, Wassilios E.: Väter. Zur Vater-Kind-Beziehung in verschiedenen Familienstrukturen; 2 Bde., 1985. Herzberg, Kurt: Lebens-Wege – Erziehungs-Wege. Erziehungsziele und Erziehungsstile in Ostund Westdeutschland, 2001. Juul, Jesper / Jensen, Helle: Vom Gehorsam zur Verantwortung. Für eine neue Erziehungskultur, 2005. Kapfhammer, H.-P.: Entwicklung der Emotionalität, 1995. Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. v. Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Freiburg i. Br. 2006. König, Oliver: Familienwelten. Theorie und Praxis von Familienaufstellungen, 2004. Ladenthin, Volker: Zum Verhältnis von Familienbildung und Schulbildung, in: Ladenthin, Volker / Rekus, Jürgen (Hrsg.): Die Ganztagsschule. Alltag, Reform, Geschichte, Theorie, 2005. Lohaus, Arnold: Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention im Kindes- und Jugendalter, 1993. Richter, Horst-Eberhard: Patient Familie. Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in Ehe und Familie, 1972. Schmidtchen, Stefan: Allgemeine Psychotherapie für Kinder, Jugendliche und Familie, 2001. Schnabel, Michael: Thema: religiöse Erziehung im Kleinkindalter. Dokumentation, Kurzanalyse und Kategorisierung der Veröffentlichungen zum Thema aus den Jahren 1945 bis 1992, 1993. Schneewind, Klaus A.: Familienpsychologie, 1999.
Aufgaben und Ziele der Familienpolitik Von Heinz Lampert
Staatliche Einflussnahmen auf Familienstrukturen und auf die Wahrnehmung von Aufgaben der Familien gab es im europäischen Raum schon in germanischen Stammesverbänden und im Römischen Reich. Auch in den europäischen Nationalstaaten des 18. Jahrhunderts wurden Rechte und Pflichten der Familienmitglieder geregelt, Maßnahmen zur Erhaltung und Vermehrung der Bevölkerung ergriffen und familiale Individualrechte erweitert. Es handelte sich jedoch jeweils um punktuelle Maßnahmen. Eine Familienpolitik im Sinne bewusst ergriffener, zielgerichteter und planvoll eingesetzter Maßnahmen und Einrichtungen zur Beeinflussung der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Lage von Familien durch staatliche und staatlich sanktionierte Träger der Politik wird in der einschlägigen Literatur für Deutschland erst für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg festgestellt.1
I. Die Bedeutung der Familienpolitik Die Bedeutung der Familienpolitik und der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergibt sich aus der Bedeutung der Familien für die Gesellschaft und die Wirtschaft. Die Bedeutung der Familien wird in der Katholischen Soziallehre ausführlich gewürdigt. Nach ihr gehören „Ehe und Familie zu den kostbarsten Gütern der Menschheit“.2 Die Familie gilt als „Grund- und Lebenszelle der Gesellschaft“.3 Sie ist „in einzigartiger Weise“ geeignet, „kulturelle, ethische, soziale, geistige und religiöse Werte zu lehren und zu übermitteln“.4 Das Kompendium der Soziallehre der Kirche hebt die Bedeutung der Familie für die Gesellschaft hervor und weist darauf hin, dass die Familie „als natürliche Gemeinschaft“ „einen einzigartigen und unersetzlichen Beitrag zum Wohl der Gesellschaft“ leistet.5 Auch in den Wissenschaften, die sich mit der Familie und der Familienpolitik befassen, gilt die Familie als unverzichtbares, schutzbedürftiges und schutzwürdiges Fundament der Gesellschaft. Diese Bewertung ergibt sich zum einen daraus, dass die Familie als personaler Schutz-, Entfaltungs- und Regenerationsraum eine wesentliche Voraussetzung der „zweiten, soziokulturellen Geburt des Menschen“ ist,6 zum anderen 1 2 3 4 5 6
Vgl. Gerlach, S. 142 ff. Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, Nr. 1. Ebd., Nr. 42, sowie Kompendium, Nr. 211. Charta der Familienrechte, Präambel. Kompendium, Nr. 213. Claessens, S. 69.
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Heinz Lampert
aus den Wirkungen, die durch die Erfüllung der Familienaufgaben hervorgerufen werden. Diese Wirkungen stellen aus gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Perspektive Leistungen zugunsten der Gesellschaft dar. Sie entstehen – bei der Geburt, Versorgung, Betreuung und Erziehung der Kinder; – bei der Produktion von Gütern und Leistungen im Familienhaushalt; – bei der Erbringung gegenseitiger Hilfe für Familienmitglieder, insbesondere bei Hilfen und bei der Pflege für ältere, behinderte und kranke Familienmitglieder.
Familien nehmen diese Aufgaben natürlich für die Mitglieder ihrer Familie wahr. Ehen werden überwiegend geschlossen, weil sich die Partner lieben und in einer Gemeinschaft leben wollen. Eltern bringen Kinder nicht um der Gesellschaft willen auf die Welt, sondern weil sie sich Kinder wünschen oder sie wenigstens akzeptieren. Die „privaten“ Entscheidungen der Eltern für Kinder und die ganz auf die eigene Familie konzentrierte und „privat“ motivierte Wahrnehmung familialer Aufgaben haben jedoch positive externe Effekte.7 Als solche werden in den Wirtschaftswissenschaften Wirkungen bezeichnet, die als unbeabsichtigte „Neben“-Wirkungen auftreten und auch für Dritte unentgeltlich Nutzen stiften. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass familiale Aktivitäten nicht immer positive interne und externe Effekte haben. Kinder können unzureichend versorgt und betreut werden, ihre Erziehung kann misslingen, sie können zu Straßenkindern, süchtig oder kriminell werden. Sie können – wie auch erwachsene Familienmitglieder – misshandelt und missbraucht werden. Der Gesellschaft können dadurch erhebliche Kosten für die Bekämpfung und Heilung dieser Schäden entstehen. Um die Kosten gering zu halten, muss die Gesellschaft darauf bedacht sein, Verletzungen von Menschenrechten zu vermeiden und diejenigen, die Familien gründen, zu befähigen, ihre Familienaufgaben bestmöglich zu erfüllen. Familienbildung im Sinne der Vermittlung von Wissen und Kenntnissen über die Erfüllung von Familienaufgaben und der Einsatz prophylaktischer Maßnahmen wie z. B. der Familienberatung, der Jugendhilfe, des Kinder- und des Jugendschutzes sind zu einem wichtigen Bestandteil familienpolitischer Aktivität geworden. Externe Effekte dieses Leistungsspektrums sind die quantitative und die qualitative Sicherung des Nachwuchses, d. h. die Bereitstellung der quantitativen Komponente des Humanvermögens und – in Verbindung mit den Sozialisations- und Bildungseinrichtungen der Gesellschaft – seine qualitative Prägung. Mit der quantitativen Nachwuchssicherung erfüllt die Familie ein Erfordernis eines jeden Systems, das das Ziel der Selbsterhaltung verfolgt. Darüber hinaus ist die Vermeidung einer Bevölkerungsschrumpfung eine Voraussetzung für die Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung und für die finanzielle Stabilität sowie für das Leistungsvermögen der Systeme der sozialen Sicherung. 7 Vgl. die ausführliche und differenzierte Darstellung familialer Leistungen im Gutachten „Gerechtigkeit für Familien“ des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfamilienministerium, veröffentlicht in: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (im Folgenden zitiert als BMFSFJ) (Hrsg.), 2001, 4. Kapitel. Dort wird verdeutlicht, welche materiellen, psychischen und mentalen Anforderungen an die Eltern im Zusammenhang mit der Versorgung, Betreuung und Erziehung der Kinder gestellt werden. Vgl. auch die systematische Darstellung der Leistungen von Familien bei Wingen, S. 25 ff.
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Das Leistungsspektrum der Familien Intrafamiliale Leistungen
Positive externe Effekte
I. Leistungen für Kinder und Jugendliche 1. Geburt 2. materielle Versorgung 3. Pflege 4. Betreuung 5. Erziehung
g ! quantitative Sicherung des Nachwuchses ! Erhaltung der Gesundheit des Nachwuchses
Prägung des Humanvermögens durch g ! qualitative – Erhaltung der körperlichen, psychischen – – – –
und geistigen Gesundheit Förderung der Begabungen und Talente Vermittlung und Einübung sozialen Verhaltens Tradierung sozialer, kultureller und religiöser Werte – Vermittlung des Willens und der Fähigkeit zur Bildung II. Leistungen für die erwachsenen Familienmitglieder 1. Gemeinsamer Lebensvollzug 2. Pflege bei Krankheit bei Behinderung im Alter
! Entlastung der Krankenversicherung ! Entlastung der Behinderteneinrichtungen ! Entlastung der Alten- und Pflegeeinrichtungen
3. Beiträge zur Regeneration
! Erhaltung des Humanvermögens ! Entlastung der Krankenversicherung
4. Materielle Hilfe im Bedarfsfall
! Entlastung des Systems sozialer Mindestsicherung
Gewichtiger noch als die Sicherung der Zahl der Gesellschaftsmitglieder ist die qualitative Prägung des Humanvermögens. Das Humanvermögen – definiert als die Gesamtheit der körperlichen, psychischen und mentalen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Bevölkerung – ist eine entscheidende Bestimmungsgröße des wirtschaftlichen Potenzials einer Gesellschaft und seiner Entwicklungsmöglichkeiten. Die wirtschaftlich relevanten handwerklichen, körperlichen, mentalen, intellektuellen und sozialen Fähigkeiten beeinflussen die Leistungs-, die Innovations- und die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft und damit die wirtschaftliche Wohlfahrt der Gesellschaft. Die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft und das soziale Klima in der Wirtschaft hängen auch ab von sozialen Eigenschaften und Fähigkeiten, die vor allem in den Familien vermittelt werden, wie Achtung der Menschenwürde, Zuverlässigkeit, Korrektheit, Einordnungsbereitschaft, Rechtsbewusstsein, Kollegialität, Solidarität und psychische Stabilität. Nicht geringer einzuschätzen als die Qualität des Humanvermögens für die Volkswirtschaft ist seine Bedeutung für die Politik, die Wissenschaft sowie das geistige und das kulturelle Leben der Gesellschaft.8 8 Diesen Beitrag der Familien hat schon Friedrich List hervorgehoben: „Der größte Teil der Konsumtion einer Nation geht auf die Erziehung der künftigen Generation, auf die Pflege der künftigen Nationalproduktivkraft“ (List, S. 227). Er hat auch beklagt, dass dieser Beitrag der Familien zur Humanvermögensbildung verkannt und wirtschaftlich nicht gewürdigt wird: „Wer Schweine erzieht, ist . . . ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft“ (List, S. 231).
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Die Bereitschaft und die Fähigkeit heranwachsender Generationen, sich im gesellschaftlichen Leben zu engagieren und etwas zu leisten, hängen vom Erziehungs- und Sozialisationserfolg ab, den die Familien in Verbindung mit den öffentlichen Bildungseinrichtungen erreichen.9 Von Bedeutung sind auch die Leistungen der Familie für die erwachsenen Familienmitglieder. Die materielle Versorgung, die Pflege im Falle der Krankheit und die Beiträge zur Regeneration und Erholung der Familienmitglieder stellen – wie die Leistungen für die Kinder – Beiträge zur Erhaltung des Human-, insbesondere des Arbeitsvermögens, dar. Sie sind aber auch sozialpolitisch bemerkenswert. Denn die häusliche Pflege von Familienangehörigen im Krankheitsfall entlastet die Krankenhäuser und das Krankenversicherungssystem. Die Pflege im Falle von Behinderung und altersbedingter Pflegebedürftigkeit entlastet die Behinderten- und die Altenpflegeeinrichtungen sowie das Kranken- bzw. das Pflegeversicherungssystem. Die Beiträge zur Regeneration und Erholung beeinflussen Gesundheit und Arbeitsfähigkeit positiv. Schließlich entlasten die materielle Versorgung nicht erwerbstätiger Familienmitglieder und die Hilfe für Familienmitglieder im Bedarfsfall die Sozialhilfe. Durch die aufgeführten Leistungen, die auf andere Weise nicht oder nicht in vergleichbarer Qualität erbracht werden können, erbringen die Familien dem ökonomischen Wert nach erhebliche Beiträge zur Bildung und Pflege des Humanvermögens der Gesellschaft. Aus dieser Perspektive erweist sich Familienpolitik als Politik zur Sicherung der Gesellschafts- und Wirtschaftsgrundlagen. Der wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie hat den Wert des Beitrags der Familien zur Humanvermögensbildung geschätzt.10 Das von ihm erarbeitete, in der folgenden Tabelle wiedergegebene Zahlenwerk zeigt, welche Aufwendungen die Familien im Jahr 1996 für die Versorgung, die Betreuung und die Erziehung der Kinder erbrachten. Bezieht man auch die öffentlichen Aufwendungen für Erziehungszeiten, für die beitragslose Krankenversicherung der Kinder sowie die öffentlichen Aufwendungen für Kindergärten und Schulen ein, dann ergibt sich, dass die öffentlichen Hände zwischen 28,6 % der Gesamtaufwendungen pro Kind für die Ein-Kind-Ehepaar-Familie und 39,7 % der Gesamtaufwendungen pro Kind für die Ein-Kind-Familie Alleinerziehender übernahmen. Bei der Beurteilung dieses öffentlichen Anteils ist jedoch zu berücksichtigen, dass die öffentlichen Leistungen zu einem großen Teil durch die Familien selbst in Form der direkten und indirekten Steuern mitfinanziert werden.11 9 Die PISA-Studie belegt in Übereinstimmung mit den Befunden früherer wissenschaftlicher Untersuchungen, dass die Grundlagen für schulische Lern- und lebenslange Bildungsprozesse in den Familien geschaffen werden. Vgl. dazu BMFSFJ (Hrsg.), 2002. 10 Um nicht das Missverständnis zu erwecken, dies sei ein untauglicher und vor allem ethisch unzulässiger Versuch, den Wert des Humanvermögens und damit von Menschen zu ermitteln, sei darauf hingewiesen, dass es nicht um einen Versuch der Abschätzung des Wertes des Humanvermögens geht, sondern um eine Abschätzung von Aufwendungen zur Humanvermögensbildung. Die Schätzungen machen es möglich, (1) die Veränderung der materiellen Lebensbedingungen zu beurteilen, die durch die Geburt von Kindern eintreten, (2) die Unterschiede in den materiellen Lebensbedingungen zwischen Menschen, die Kinder versorgen und erziehen, und solchen, die das nicht tun, festzustellen, (3) zu beurteilen, ob und in welchem Umfang familienpolitischer Handlungsbedarf existiert, und (4) die Größenordnung des ökonomischen Beitrags der Familien zur Sicherung der biologischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Reproduktion der Gesellschaft zu erkennen.
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Aufwendungen für Kinder bis zum 18. Lebensjahr in unterschiedlichen Familientypen im früheren Bundesgebiet pro Kind Ehepaar
Zeitaufwand Lebenshaltungsaufwendungen Summe privater Aufwendungen Öffentliche monetäre Beteiligung an den privaten Aufwendungena) Anteil der öffentlichen Beteiligung an den privaten Aufwendungen
mit 1 Kind
mit 2 Kindern
mit 3 Kindern
Alleinerziehende(r) mit Kind
161 863 A
120 042 A
109 786 A
148 008 A
78 484 A
49 191 A
42 714 A
31 391 A
240 347 A
169 234 A
152 503 A
179 400 A
23 928 A
24 544 A
24 495 A
46 065 A
9,1 %
12,7 %
13,8 %
20,6 %
Sonstige öffentliche Aufwendungenb)
72 171 A
74 097 A
73 763 A
72 171 A
Summe der öffentlichen Aufwendungen
96 099 A
98 642 A
98 310 A
118 236 A
336 447 A
267 876 A
250 761 A
297 637 A
28,6 %
36,8 %
39,2 %
39,7 %
Summe privater und öffentlicher Aufwendungen Anteil der öffentlichen Aufwendungen an den Gesamtaufwendungen a) b)
Kindergeld, Erziehungsgeld, Haushaltsfreibetrag. Erziehungszeiten, beitragsfreie Krankenversicherung, Aufwendungen für Kindergärten und Schulen.
Die von den Familien zu tragenden ökonomischen Lasten bestehen nicht nur aus den aufgezeigten Aufwendungen, sondern umfassen auch – befristete Verzichte auf die Teilnahme am Erwerbsleben und entsprechende Verluste an Erwerbseinkommen; – die Inkaufnahme einer Verringerung des Pro-Kopf-Einkommens;12 – Verluste an eigenständiger sozialer Sicherung des eine Erwerbstätigkeit unterbrechenden Elternteils, insbesondere an Altersrentenansprüchen; – Einkommensverluste, die durch die während der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit entstehenden Erfahrungs- und Qualifikationsverluste verursacht sind,13 sowie 11 Im Fünften Familienbericht wurde der durch die Einkommens-, die Lohn- und die Mehrwertsteuer erbrachte Selbstfinanzierungsanteil der Familien an den Leistungen des Familienlasten- und des Familienleistungsausgleichs auf rd. ein Drittel geschätzt. Vgl. dazu BMFuS 1994, S. 294. 12 Die bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommen sind in Haushalten mit Kindern deutlich niedriger, die relativen Armutsquoten und die Sozialhilfequoten deutlich höher als in Haushalten ohne Kinder. Während Paare ohne Kinder ein Pro-Kopf-Einkommen in Höhe von 114 % des Durchschnitts aller Haushalte erreichen, erreichen Haushalte mit 2 Kindern 95 %, die Haushalte Alleinerziehender 68 %. Die Armutsquote von Paaren ohne Kind liegt bei 6,3 %, die der Alleinerziehenden bei 31,4 %. Einer Sozialempfänger-Quote von 1,6 % bei Paar-Haushalten mit einem Kind stehen die Alleinerziehenden mit einer Quote von 22,4 % gegenüber. Quelle: BMFSFJ (Hrsg.), 2003.
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– Beeinträchtigungen von Karrierechancen von Vätern und Müttern, weil diese regional und zeitlich weniger mobil und weniger verfügbar sind als Arbeitnehmer ohne Kinder.
Von diesen ökonomischen Lasten werden vor allem die „Familienfrauen“ betroffen, die nach der Geburt von Kindern um der Kinder und der Versorgung des Haushalts willen auf eine Erwerbstätigkeit verzichten. Sie nehmen den Verlust eines zweiten Einkommens in Kauf, die Absenkung des Pro-Kopf-Einkommens, den Vorwurf, „NurHausfrau“ zu sein, und eine beträchtliche Beeinträchtigung ihrer Altersversorgung. Wolfgang Zeidler bezeichnete diese Familienfrauen in seiner hervorragenden Analyse der Ehe und der Familie als „Packesel des Sozialstaates“ und wies darauf hin, dass eine höhere Bereitschaft der jungen Frauen, Familienfrau zu werden, erst dann zu erwarten ist, wenn die derzeitigen Rahmenbedingungen für eine Familie mit mehreren Kindern auf dem Gebiet des Steuer- und Sozialrechts so nachhaltig geändert werden, dass es den jungen Frauen wieder leichter fällt, die für viele von ihnen nach wie vor erstrebenswerte und als natürlich empfundene Rolle der Familienfrau als dauerhafte Lebensform zu übernehmen.14 Er hat damit eine zentrale Aufgabe der Familienpolitik angesprochen. Die Dauer, die Intensität und die Qualität, in der die Familien ihren Beitrag zur qualitativen Ausprägung des Humanvermögens leisten und leisten können, hängt von den Determinanten der Lebenslage der Familien ab, d. h. von dem verfügbaren Einkommen und Vermögen, den Wohnverhältnissen, der Erziehungsbereitschaft und der Erziehungsfähigkeit der Eltern, von der Unterstützung durch die öffentlichen Bildungs- und Beratungseinrichtungen, aber auch vom Angebot an Infrastruktureinrichtungen, die die Betreuung und Erziehung der Kinder komplementär oder auch substitutiv übernehmen können, und von Art und Umfang der Erwerbsmöglichkeiten für Mütter.15 Die Leistungen der Familien für die Gesellschaft hängen aber auch von spezifischen Faktoren ab, nämlich davon, ob die Familie vollständig ist oder ob sie eine durch das Fehlen eines Elternteils strukturell geschwächte Ein-Eltern-Familie ist und davon, ob sie auf festen rechtlichen Grundlagen beruht oder auf einer nicht-ehelichen Beziehung der Eltern. Aufgrund dieser Fakten scheint langfristig eine merkliche Erhöhung der staatlichen Leistungen für die Familien unverzichtbar zu sein. Und dies nicht nur, weil die Familientätigkeit erhebliche positive externe Effekte hat, die der Gesellschaft zugutekommen, sondern auch zur Sicherung der sozialen Gerechtigkeit. II. Aufgaben und Ziele der Familienpolitik Familienpolitik wird meist definiert als eine Politik, die dem Schutz und der Förderung der Familien als Institution dient und die Familie instand setzen will, ihre Aufgaben gegenüber den Familienmitgliedern unter Beachtung der individuellen Rechte 13 Heinz Galler hat (in: Galler, S. 120) die Einbußen an Lebenseinkommen aus Erwerbsarbeit ermittelt, die sich bei drei- bis zehnjähriger Erwerbsunterbrechung bei Frauen mit unterschiedlichem Bildungsabschluss ergeben. Er hat dabei auch die Einbußen berücksichtigt, die sich aus den mit der Unterbrechung verbundenen Qualifikationsverlusten ergeben, und die Verluste an Rentenansprüchen in die Berechnung einbezogen. Es zeigte sich, dass die Gesamteinbußen Größenordnungen von rd. 110 000 DM bei einer Hauptschülerin und bis zu rd. 540 000 DM bei einer Hochschulabsolventin erreichen können. 14 Zeidler, S. 601. 15 Vgl. dazu auch Mückl, S. 307 ff.
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ihrer Mitglieder optimal zu erfüllen. Diese Definition ist jedoch zu eng. Sie verkennt die Bedeutung der Familienpolitik für eine erfolgreiche Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Sie übersieht, dass Familienpolitik als Politik der Verbesserung der Voraussetzungen für die Erfüllung familialer Aufgaben auch die positiven externen Effekte der Familienarbeit verstärkt und dadurch zu einem Aufgaben- und Zielbereich wird, der – über die Beeinflussung der Rahmenbedingungen des generativen Verhaltens bevölkerungspolitisch relevante Wirkungen erzeugt; – über die Verbesserung der Voraussetzungen für ein gesundheitsbewusstes Leben gesundheitspolitisch erwünschte Wirkungen hervorruft; – über die Verbesserung der Bildungsvoraussetzungen der Familienmitglieder, vor allem der Kinder und der Jugendlichen, bildungspolitische Ziele fördert; – über die Verbesserung der Qualität des Humanvermögens die Qualität des Arbeitskräftepotenzials erhöht, also positive arbeitsmarkt- und wachstumspolitische Wirkungen erzeugt, darüber hinaus aber für die Politik, die Wissenschaft und die Kultur Bedeutung hat und – über die Verstärkung des Solidaritätspotenzials der Familien die soziale Sicherheit und den sozialen Frieden fördert.
Aus den Aufgaben der Familien für ihre Mitglieder, aus den Leistungen der Familien für die Wirtschaft und die Gesellschaft, aus den erwähnten faktisch bestehenden Leistungsbehinderungen und den normativ-rechtlichen Vorgaben der Familienpolitik 16 ergeben sich vier Aufgabenbereiche bzw. Zielkomplexe der Familienpolitik: (1) die Beeinflussung der Einkommens- und Vermögenslage der Familien mit dem Ziel einer gerecht erscheinenden Verteilung der mit der Versorgung, Betreuung und Erziehung von Kindern verbundenen ökonomischen Aufwendungen auf die Familien einerseits und die öffentliche Hand andererseits. Dazu gehören als Unterziele – die Herstellung der Steuergerechtigkeit durch die Freistellung des Minimumbedarfes für die Versorgung, die Betreuung und die Erziehung der Kinder von der Besteuerung durch Steuerfreibeträge oder entsprechend hohe Kindergeldleistungen; – die aus dem Sozialstaatsgebot folgende Sicherung der genannten Minimumbedarfe für einkommensschwache Familien durch die öffentliche Hand; – ein angemessener Ausgleich der Leistungen der Familien für die Gesellschaft, d. h. eine finanzielle Anerkennung der externen Effekte der Familienarbeit. Dazu gehören: ein partieller Ausgleich der durch die familieninterne Betreuung der Kinder entstehenden Verluste an Erwerbseinkommen (z. B. durch Erziehungsgeld), ein Ausgleich der versorgungsrechtlichen Nachteile, die Eltern entstehen, wenn sie zugunsten der Kinderbetreuung vorübergehend oder dauernd auf Erwerbstätigkeit verzichten (z. B. durch die Anerkennung von Erziehungsjahren in 16 Zu diesen Vorgaben gehören vor allem Artikel 6 des Grundgesetzes, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, weitere Grundrechtsverbürgungen wie Art. 2 (Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit), Art. 3 (Gleichberechtigung von Frauen und Männern) und Art. 28 (Sozialstaatsgebot) sowie das Sozialgesetzbuch VIII, das die Kinder- und Jugendhilfe regelt. Vgl. zu diesen Vorgaben insbesondere den Artikel über diese Grundlagen in diesem Handbuch.
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der Rentenversicherung) und ein Abbau des familienpolitischen Systemfehlers in der Alterssicherung. Dieser besteht darin, dass die Altersversorgung weder in ihrer Höhe noch hinsichtlich der Verteilung der Rentenansprüche daran geknüpft ist, wer in welchem Umfang an der Humanvermögensbildung beteiligt ist;17 – die Anpassung der genannten Leistungen an veränderte Lebenshaltungskosten und Veränderungen des Einkommensniveaus (Dynamisierung) und – die strikte Beibehaltung bzw. ein Ausbau der Familienorientierung der Systeme sozialer Sicherung im Sinne einschlägiger Urteile des Bundesverfassungsgerichts.18 (2) Förderung der Vereinbarkeit von Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit19 durch – die Übernahme der Kosten außerfamilialer Betreuung der Kinder für Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen; – die Sicherung eines quantitativ ausreichenden und qualitativ hochwertigen außerfamilialen Betreuungsangebotes; – großzügige Freistellungen von der Erwerbsarbeit bei der Geburt und im Falle der Erkrankung von Kindern; – eine familienfreundliche Arbeitswelt u. a. durch Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und der Arbeitszeiten; – die Weckung der Bereitschaft der Ehemänner und der Väter zu einer stärkeren Beteiligung an hauswirtschaftlichen und an Familienaufgaben; – die Gleichbewertung von Familienarbeit und Erwerbsarbeit; – die Förderung der Reintegration von Eltern in die Erwerbsarbeit nach der Elternpause. (3) Familiengerechte Wohnungsversorgung durch – die Festsetzung von Mindeststandards für die Wohnungsversorgung nach Größe, Struktur und Ausstattung der Wohnungen; – einen ausreichenden Mieterschutz; – die Entlastung von Familien, die zur Miete wohnen, durch einkommens- und familiengrößenabhängige Mietzuschüsse und ihre regelmäßige Anpassung an die Mietenentwicklung; – die Förderung des Baues von Wohnungen durch die Gewährung öffentlicher Mittel in Form von Darlehen oder Zuschüssen, die bevorzugt für einkommensschwache Familien zur Verfügung gestellt werden und für Familien, die wegen persönlicher Merkmale ihrer Mitglieder oder wegen besonderer Lebensumstände Schwierigkeiten haben, öffentlich nicht geförderte Wohnungen anzumieten oder Wohnungseigentum zu erwerben; – die Förderung des Erwerbs von familiengerechtem Wohnungseigentum. 17 Vgl. zu diesem Problemkreis das von der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz angeregte, von Jörg Althammer und Andreas Mayert erstellte Gutachten zu einer familiengerechten Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. 18 Vgl. dazu die in Kapitel III. angeführten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. 19 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Lampert (2001), S. 16 ff.
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(4) Ausbau der Infrastruktur für Familien, d. h. Ausbau – der familienunterstützenden Kinderbetreuungseinrichtungen; – der verschiedenen Arten familienrelevanter Beratungsinstitutionen; – familienunterstützender Sozialeinrichtungen; – die Sicherstellung einer familiengerechten Orientierung des Gesundheitssystems, d. h. vor allem einer beitragsfreien Mitversicherung von Kindern und Kinder versorgenden Müttern. Dieser Überblick über familienpolitische Aufgaben und Zielsetzungen macht erkennbar, dass die Diskrepanz zwischen dem zur Zielerreichung erforderlichen Mittelbedarf und den Mitteln, die verfügbar sind bzw. verfügbar gemacht werden können, erheblich ist. III. Defizite und aktuelle Probleme der Familienpolitik Es ist in diesem Artikel nicht möglich, die in verschiedener Hinsicht defizitäre Familienpolitik vollständig kritisch zu durchleuchten.20 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass in der Bundesrepublik weder der Bundesgesetzgeber noch die Ländergesetzgeber in den vergangenen Jahrzehnten die entscheidenden Träger der Familienpolitik waren, sondern das Bundesverfassungsgericht, das im Rahmen zahlreicher familienpolitisch relevanter Urteile insbesondere für zwei Aufgabenbereiche wesentliche Fortschritte erzwungen hat. Das erste Urteil betraf die Verbesserung der Alterssicherung von Kinder erziehenden und Familienmitglieder pflegenden Personen durch das sogenannte „Mütterurteil“ vom 07. Juli 1992 (BVerfGE 87,1). In diesem Urteil hat das Gericht ausgeführt: – das bestehende Alterssicherungssystem benachteiligt Kinder erziehende gegenüber kinderlosen Personen, die durchgängig der Erwerbstätigkeit nachgehen können; – die Kindererziehung hat für das System der Altersversorgung bestandssichernde Bedeutung; – die Benachteiligung von Familien, in denen ein Elternteil sich der Kindererziehung widmet, wird weder durch staatliche Leistungen noch auf andere Weise ausgeglichen; – daher ist der Gesetzgeber verpflichtet, die erhebliche Benachteiligung der Erzieher von Kindern in weiterem Umfang als bisher schrittweise abzubauen.
Bisher ist der Bundestag dieser Verpflichtung nur zögernd und in geringem Umfang nachgekommen. In mehreren sensationell anmutenden Urteilen vom 29. Mai 1990 (BVerfGE 82, 60), vom 12. Juni 1990 (BVerfGE 82, 198) und vom 18. November 1998 (BVerfGE 99, 216 und 246 ff.) hat das Gericht eine massive Verfassungswidrigkeit der bisher praktizierten Familienbesteuerung gerügt. In diesen Entscheidungen stellte es fest: „Bei der Einkommensbesteuerung muß ein Betrag in Höhe des Existenzminimums steuerfrei bleiben; nur das darüber hinausgehende Einkommen darf der Besteuerung unterworfen werden.“ Demgegenüber lagen die Steuerfreibeträge für Kinder vor 1990 weit unter den existenzminimalen Aufwendungen der Eltern. Eine weitere Verbesserung der steuerrechtlichen 20
Vgl. dazu Lampert (1996), S. 143 ff. und Lampert (2003).
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Position der Familien trat ein, als das Gericht 1998 verfügte, dass die steuerliche Leistungsfähigkeit der Eltern über den für die Existenzsicherung erforderlichen Sachbedarf hinausgehend auch durch die Deckung des Betreuungsbedarfs und eines minimalen Erziehungsbedarfs beeinträchtigt wird. Dementsprechend mussten ein Betreuungs- und ein Erziehungsfreibetrag eingeführt werden. Die Lage der Familien wurde auch durch das sogenannte „Pflegeurteil“ vom 03. April 2001 verbessert. In ihm wurde festgestellt, dass es mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht vereinbar ist, „daß Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden“. Die vom Verfassungsgericht kritisierte Nachrangigkeit der Familienpolitik wurde erst abgeschwächt, als Politiker – reichlich spät – wahrnahmen, dass die für eine Erhaltung des Bevölkerungsbestandes zu niedrigen Geburtenzahlen die Leistungsfähigkeit der Systeme der Alters-, der Gesundheits- und der Pflegesicherung gefährden. Die Defizite der Familienpolitik dürften auch damit zusammenhängen, dass die Familienpolitik eine „Querschnittsdisziplin“ ist. Die Verwirklichung ihrer Ziele ist abhängig vom Einsatz rechtlicher, finanz-, sozial-, beschäftigungs-, arbeitsmarkt-, wohnungsund bildungspolitischer Instrumente und vom Zusammenwirken von Bund, Ländern und Gemeinden. Die Zuständigkeit mehrerer Ressortminister und verschiedener staatlicher Ebenen für die Familienpolitik wirken neben dem Fehlen einer starken Lobby der Familien und neben der Rücksichtnahme der politischen Parteien auf die stark wachsende Zahl Wahlberechtigter, die keine Verantwortung für Kinder tragen, als Hemmnisse der Familienpolitik. 21 Eine knappe Bilanz der Familienpolitik in der Bundesrepublik kann auf der Aktivseite vermerken: die Ergänzung des im System sozialer Sicherung angelegten Familienlastenausgleichs durch eine schrittweise Ausdehnung der Kindergeldzahlungen auf Kinder höherer Ordnungszahl und eine Anhebung des Niveaus der Kindergeldleistungen, die Einführung von Erziehungsurlaub, Erziehungsgeld und einer Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, eine zwar nicht voll befriedigende, aber doch merkliche Verbesserung der Stellung der Frau in der Familie und in der Gesellschaft und eine allerdings bei weitem noch nicht ausreichende Verbesserung der familienrelevanten Infrastruktur (Kinderbetreuungsplätze, Beratungsstellen, Familienbildungseinrichtungen). Auf der Passivseite sind festzuhalten: Unzulänglichkeiten und mangelnde Verlässlichkeit auf den Familienlastenausgleich aufgrund mehrfacher Änderungen der Gewichtung von Steuerfreibeträgen und Kindergeld, eine jahrzehntelang verfassungswidrige Besteuerung der Familien, gegenüber den politischen Zusagen zu geringe steuerliche Entlastungen der Familien im Vergleich zu Kinderlosen im Rahmen der Steuerreformen und eine hohe Selbstfinanzierung der Leistungen für Familien (zu etwa einem Drittel) durch die Familien. 21 Während 1972 im früheren Bundesgebiet der Anteil der Bevölkerung in Haushalten ohne Kinder unter 18 Jahren an der Erwachsenenbevölkerung 45 % betrug, hat sich dieser Anteil bis 2000 auf 58,6 % erhöht. In Gesamtdeutschland belief sich dieser Anteil im Jahr 2000 auf 59,1 %. Quelle: BMFSFJ (Hrsg.), 2003, S. 36.
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Neuerdings droht eine negativ zu beurteilende Änderung des Leitbildes der Familie, und zwar eine Neudefinition einer zentralen Zielsetzung der Familienpolitik, nämlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Um sie zu erreichen, wurden bisher drei komplementäre Instrumente eingesetzt: ein dreijähriger Erziehungsurlaub, ein zwei Jahre lang gezahltes einheitliches Erziehungsgeld und eine Anerkennung von drei Jahren Erziehungszeit als rentenanspruchsbegründende und eine Rentenzahlung bewirkende Zeit.22 Dieses Instrumentarium sollte neben der simultanen Vereinbarkeit, d. h. der gleichzeitigen Wahrnehmung einer Erwerbsarbeit und der Familienarbeit, die sequentielle Vereinbarkeit fördern, d. h. eine mehrjährige Unterbrechung einer Erwerbsarbeit zugunsten der Familienarbeit ohne die Gefahr einer Kündigung sowie großer Einkommens- und Altersversorgungsverluste. Man ging seinerzeit von der Auffassung aus, dass Kleinstkinder nach Möglichkeit von den Eltern betreut und erzogen werden sollten – jedenfalls dann, wenn die Eltern dieser Auffassung sind. Dieses Leitbild der Vereinbarkeit entspricht auch der Verfassung.23 Demgegenüber wurde im Jahr 2007 das einheitliche Erziehungsgeld durch ein Elterngeld abgelöst. Es wird nur für ein Jahr gezahlt und ersetzt 67 % des vor der Geburt erzielten Nettoarbeitseinkommens. Eine Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit schon nach einem Jahr soll durch eine Ausweitung des Krippenangebotes erleichtert werden. Das Konzept des Elterngeldes neuer Art wird auch von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände unterstützt, die sich von diesem Instrument eine Verringerung der ab 2010 zu erwartenden Arbeitskräfteknappheit verspricht. Die neuerdings verfolgte familienpolitische Konzeption ist aus folgenden Gründen ideologisch verengt: – Sie schränkt das Ziel „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ merklich ein und bevorzugt die simultane Vereinbarkeit gegenüber der sequentiellen. – Hinter der Konzeption verbirgt sich eine problematische Unterschätzung des Wertes der Haus- und Familienarbeit für die Qualität der Erfüllung familialer Aufgaben und für die Qualität des Familienlebens. Die wichtige Frage, wie aus pädagogischer und psychologischer Perspektive einerseits die simultane Vereinbarkeit und andererseits die sequentielle Vereinbarkeit zu beurteilen sind, wird überhaupt nicht aufgeworfen. Sie begünstigt wegen der Einkommensabhängigkeit des Elterngeldes das doppelt erwerbstätige und gut verdienende (Akademiker-)Ehepaar und instrumentalisiert die Familienpolitik für arbeitsmarktpolitische Zwecke. – Die Kürzung der Bezugszeit gegenüber dem Erziehungsgeld würde die vermutlichen Präferenzen von vielen Müttern verfehlen, die nicht akademisch vorgebildet und nicht karrieren-orientiert, sondern im einfachen Dienstleistungsbereich und an den Mon22 Für eine Erhöhung der Zahl anrechnungsfähiger Erziehungsjahre hat sich die Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz ausgesprochen. Vgl. dazu Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), 2006. 23 In einem Beschluss vom 10. November 1998 hielt das Bundesverfassungsgericht fest: „Der Staat hat dafür Sorge zu tragen, daß es Eltern gleichermaßen möglich ist, teilweise und zeitweise auf eine eigene Erwerbstätigkeit zugunsten der persönlichen Betreuung ihrer Kinder zu verzichten wie auch Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden.“
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tagebändern tätig sind und ihre Kinder vermutlich länger als ein Jahr selbst betreuen und erziehen wollen. Bisher konnten sich die Eltern frei für die simultane oder die sukzessive Vereinbarkeit entscheiden. Diese Freiheit wird durch die neuerdings verfolgte und propagierte erwerbsorientierte Familienpolitik erheblich eingeschränkt. Die „neue“ Familienpolitik führt auch zu einer Vernachlässigung eines breiteren Ausbaus der Familienpolitik. 24 Es ist zu befürchten, dass sie von vielen Parlamentariern wohl auch deswegen akzeptiert wird, weil sie es ihnen möglich macht, zu behaupten, dass die für sich „selbstverantwortliche“ Zwei-Verdiener-Familie für sich selbst sorgen und deswegen der Bedarf an Mitteln für die Familienpolitik reduziert werden kann.
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Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. v. Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Freiburg i. Br. 2006. Lampert, Heinz: Priorität für die Familie. Plädoyer für eine rationale Familienpolitik, Berlin 1996. – Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familienarbeit als aktuelle und zentrale Zielsetzung der Familienpolitik. Volkswirtschaftliche Diskussionsreihe des Instituts für Volkswirtschaftslehre der Universität Augsburg, Beitrag Nr. 211, Augsburg 2001. – Die Bedeutung der Familien und der Familienpolitik für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Volkswirtschaftliche Diskussionsreihe des Instituts für Volkswirtschaftslehre der Universität Augsburg, Beitrag Nr. 219, Augsburg 2002. – Ein halbes Jahrhundert Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, in: Deufel, Konrad / Geißler, Clemens (Hrsg.): Gerechtigkeit für Familien, Freiburg i. Br. 2003, S. 26 ff. Lampert, Heinz / Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin u. a. 82007. List, Friedrich: Das nationale System der politischen Ökonomie, Jena 41922. Mückl, Wolfgang (Hrsg.): Familienpolitik. Grundlagen und Gegenwartsprobleme, Paderborn 2002. Wingen, Max: Familienpolitik, Stuttgart 1997. Zeidler, Wolfgang: Ehe und Familie, in: Benda, Ernst / Maihofer, Werner / Vogel, Jochen (Hrsg.): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Berlin u. a. 1983, S. 555 – 607.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf Von Notburga Ott
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird in der politischen Diskussion als ein Schlüsselproblem für die niedrigen Geburtenraten angesehen. Dabei meint man das Vereinbarkeitsproblem von Frauen mit Familie, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollen, bzw. von erwerbstätigen Frauen, die gerne Kinder hätten. Hintergrund ist das Leitbild der sogenannten „traditionellen“ geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, das im letzten Jahrhundert in unserer Gesellschaft die Organisation von Arbeit in Wirtschaft und Familie dominiert hat. Dieses war charakterisiert durch die Verantwortlichkeit des Mannes für den Einkommenserwerb und der Frau für die Hausarbeit. Seit den 1970er-Jahren beobachten wir jedoch eine zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen, insbesondere auch von Müttern. Gleichzeitig sind die Geburtenraten drastisch gesunken. Die tradierten Rollenbilder werden offensichtlich immer weniger gelebt. Frauen wie Männer wünschen heute andere Formen, Beruf und Familienleben auszubalancieren. Dass dies in Deutschland nur schwer gelingt, wird als eine wesentliche Ursache für die im internationalen Vergleich sehr niedrigen Geburtenziffern angesehen.
I. Wirtschaftlicher Wandel und Veränderung der familialen Arbeitsteilung Die Veränderung der familialen Aufgabenteilung muss im Kontext der wirtschaftlichen Entwicklung betrachtet werden. Lange Zeit war eine innerfamiliale Arbeitsteilung und Spezialisierung auf Markt- und Hausarbeit effizient, da neben dem Konsum von Marktgütern ein hohes Maß an Haushaltsproduktion erforderlich war, die entsprechende hauswirtschaftliche Fähigkeiten verlangte. Dies hat sich mit dem wirtschaftlichen Fortschritt der letzten Jahrzehnte geändert, der mit einer starken Verlagerung von Haushaltstätigkeiten auf dem Markt verbunden war und weiterhin ist. Zum einen haben steigende Löhne und ausdifferenzierte Arbeitsmärkte die Markteinkommensmöglichkeiten von Frauen erheblich verbessert. Damit entgehen dem Haushalt beträchtliche Einkommensmöglichkeiten, wenn das traditionelle Modell gelebt wird und nur ein Partner einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Zum anderen sind viele Bereiche der Hausarbeit unrentabel geworden, da insbesondere die Warenproduktion bei industrieller Fertigung deutlich kostengünstiger ist, wie dies z. B. bei der Herstellung von Kleidung und Nahrungsmitteln zu beobachten ist. Die Arbeit im Haushalt hat sich daher in der Vergangenheit erheblich gewandelt. Der verstärkte Einsatz von konsumreifen Marktgütern sowie komfortablen Haushaltsgeräten, die die Haushaltsproduktion stark vereinfachen, so dass hierzu kaum mehr spezifische Kenntnisse notwendig sind, reduzieren die Hausarbeit in vielen Bereichen auf eine „individuelle Endmontage von industriell gefertigten Zwi-
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Notburga Ott
schenprodukten“. Unter solchen Bedingungen ist es dann effizient, die zur Verfügung stehende Zeit verstärkt zur Einkommenserzielung zu verwenden, da dadurch eine wesentlich höhere Wohlfahrt für den gesamten Haushalt erzielt werden kann. Folge ist eine Reduzierung der wirtschaftlichen Aktivitäten im Haushalt. Hier verbleiben vor allem die zum Markt komplementären Aktivitäten, d. h. jene Tätigkeiten, die notwendig sind, um Marktgüter zur Bedürfnisbefriedigung verwenden zu können, und die die sehr individuellen Bedürfnisse und Neigungen der Haushaltsmitglieder berücksichtigen, wie dies z. B. bei der Zubereitung von Mahlzeiten oder der Wohnungsgestaltung der Fall ist. Grundlage dieser Tätigkeiten ist jedoch ein ausreichendes Markteinkommen, womit dieses gegenüber der Hausarbeit eine höhere Notwendigkeit erhält. Ein längerer Ausfall des Einkommens führt unter den heutigen wirtschaftlichen Bedingungen zu einer stärkeren Wohlfahrtseinbuße als der Wegfall von Hausarbeit, da nahezu alle hauswirtschaftlichen Tätigkeiten durch den Einsatz entsprechender Marktgüter mit sehr geringem Zeitbedarf erledigt oder durch Inanspruchnahme von Dienstleistungen zu erschwinglichen Preisen am Markt eingekauft werden können. Dies gilt jedoch nicht bei personenspezifischen Tätigkeiten wie der Kindererziehung oder der Pflege von Familienangehörigen. Diese sind nach wie vor sehr zeitintensiv und erfordern die Anwesenheit von vertrauten Personen. Vor allem aber handelt es sich hier überwiegend um Beziehungen, bei denen die Beteiligten selbst auch ein hohes Interesse an gemeinsam verbrachter Zeit haben.
II. Folgen für die Familienarbeit Diese Veränderung der Bedingungen häuslicher Arbeit führen zu widersprüchlichen Anforderungen in den Familien. In Lebensphasen ohne Kinder oder pflegebedürftige Haushaltsmitglieder ist die traditionelle Arbeitsteilung wirtschaftlich ineffizient. In Phasen mit betreuungsbedürftigen Angehörigen ist dagegen ein zeitlich sehr umfangreiches Engagement erforderlich, das bei Kleinkindern und schwer Pflegebedürftigen eine permanente Anwesenheit erfordert. Der hohe zeitliche Einsatz wird dabei von den Betroffenen überwiegend nicht als Last empfunden, wenn die Beziehung durch starke emotionale Verbundenheit geprägt ist. Insbesondere bei Kleinkindern haben Eltern meist selbst ein hohes Interesse, viel Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, um ihnen einen möglichst guten Start in ihr Leben zu ermöglichen. Dennoch führt der Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit zu erheblichen Wohlfahrtseinbußen. Zwar kann in diesen Familienphasen auch verstärkt hauswirtschaftlichen Tätigkeiten nachgegangen werden, die aber im Vergleich zu den entgangenen Marktgütern einen erheblichen materiellen Verzicht bedeuten. Dazu kommt noch, dass in Familienphasen berufliche Fähigkeiten veralten, so dass auch nach einer Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit mit einem verringerten Einkommen gerechnet werden muss. Dies gilt umso mehr, je länger die Erwerbsunterbrechungen sind, weil dann meist eine Rückkehr in das alte Berufsfeld nicht mehr möglich ist und sich somit nachhaltige Brüche in der beruflichen Laufbahn manifestieren. Darüber hinaus birgt die traditionelle Arbeitsteilung noch das Risiko, dass bei Arbeitslosigkeit oder Erkrankung des einzigen Erwerbstätigen die wirtschaftliche Grundlage für die gesamte Familie wegfällt, die gerade in unsicheren Arbeitsmarktzeiten nur
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schwer durch eine Arbeitsaufnahme des anderen Partners ausgeglichen werden kann. Schließlich entsteht auch noch für die Frauen ein individuelles Risiko, da sie bei einer Aufgabe der Erwerbsarbeit ihre Berufserfahrung schmälern. Im Falle eines Scheiterns der Partnerschaft fallen sie daher auf verminderte Einkommensmöglichkeiten zurück, die nach heutigem Unterhaltsrecht kaum kompensiert werden. Die Forderung nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist vor diesem Hintergrund Ausdruck des Wunsches, die Einkommenseinbußen und den Verlust an Berufserfahrung möglichst gering zu halten. Eltern sind in hohem Maße bereit, für das Leben mit ihren Kindern materielle Einschränkungen hinzunehmen. Doch sollten diese nicht unnötig hoch ausfallen. Eltern wünschen sich daher andere und vielfältige Möglichkeiten, Beruf und Familienleben zu organisieren und entsprechend ihrer persönlichen Vorstellungen untereinander aufzuteilen. Dazu gehört für viele Paare, Erwerbsunterbrechungen kurz zu halten, um die Berufschancen beider Partner zu erhalten, aber auch im zunehmenden Maße eine verstärkte Familienarbeit der Väter, was entsprechende Möglichkeiten der Reduzierung der beruflichen Tätigkeit auch für Männer voraussetzt. Das Problem der Vereinbarkeit trifft aber nicht nur Eltern mit betreuungsbedürftigen Kindern. Auch wenn dies in der öffentlichen Diskussion häufig nicht mitgedacht wird, treten vergleichbare Probleme auf, wenn Familienangehörige pflegebedürftig werden. Verschärft wird die Situation noch dadurch, dass eine Pflege häufig überraschend notwendig wird und die Familien keine Vorbereitungen für individuelle Lösungen treffen können. III. Bedingungen für eine gelingende Vereinbarkeit von Familie und Beruf Unter heutigen Bedingungen stehen Familien daher vielfach vor dem Dilemma der Wahl zwischen nur wenigen meist gleichermaßen unattraktiven Alternativen: (a) die Aufgabe des Berufs eines Partners mit allen damit verbundenen Problemen; (b) die Übertragung der Familienaufgaben an Externe in einem Umfang, der eine Fortführung der Berufstätigkeit erlaubt, aber meist die gemeinsamen Familienzeiten auf ein unerwünschtes Maß reduziert; diese Alternative ist jedoch überhaupt nur möglich, wenn externe Betreuungs- bzw. Pflegemöglichkeiten vorhanden sind; (c) die Aufnahme einer Teilzeittätigkeit, die zwar den Raum für Familienzeit lässt, aber meist mit den gleichen beruflichen Nachteilen verbunden ist; denn eine Reduzierung der Arbeitszeit ist im bisherigen Beruf vielfach nicht möglich und erfordert zudem aufgrund des mangelnden Angebots flexibler Einrichtungen weitere Kompromisse, wie lange Wegezeiten oder restriktive Zeitschemata, die die Erwerbsmöglichkeiten noch weiter einschränken; (d) der Verzicht auf Familie. Ohne Unterstützung durch die Gesellschaft und entsprechende politische Maßnahmen werden Familien dieses Dilemma nicht lösen können. Eine einfache Forderung nur nach mehr Kinderbetreuungsplätzen zur Entlastung der Frauen von Familienarbeit wird dieser Situation nicht gerecht, ebenso wenig wie die Forderung nach einem Erziehungsgehalt. Der in der Öffentlichkeit häufig ideologisch geführte Streit um unterschiedliche Familienleitbilder verfestigt eher das Dilemma, da nur isolierte Maßnahmen gefordert werden. Die Grundprinzipien der Katholischen Soziallehre weisen hier andere Wege. Das Personalitätsprinzip verlangt, bei politischen Maßnahmen die Entfaltungschancen aller Fa-
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milienmitglieder zu beachten. Dies betrifft zuerst die Kinder als die besonders schutzwürdigen Mitglieder der Gesellschaft. Sie brauchen, um ihre Persönlichkeit entwickeln zu können, verlässliche Personen, die sich ihnen liebevoll zuwenden und zu denen sie eine Bindung aufbauen können, und eine anregungsreiche Umwelt, um die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und in die sozialen Beziehungen der Gesellschaft hineinzuwachsen. Voraussetzung ist ein mit wenig Sorgen belastetes Elternhaus, in dem die Eltern ihre Zeit stressfrei den Kindern widmen können. Betreuungseinrichtungen können dann weitere Lernorte für soziale Erfahrungen bieten, die Eltern in ihrem Umfeld oft allein nicht herstellen können. Für die Eltern bedeutet die Wahrung der Entfaltungsmöglichkeiten vor allem ein Höchstmaß an gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten. Auch wenn Eltern bereit sind, zugunsten ihrer Kinder viele Einschränkungen hinzunehmen, so sollten diese doch nicht über Gebühr ausfallen. Dies setzt eine hinreichende wirtschaftliche Basis voraus. Insbesondere gilt es dabei, auch die beruflichen Chancen zu erhalten, um die wirtschaftlichen Risiken der Zukunft zu mindern. Hierbei wäre es verfehlt, einen Gegensatz zwischen Kindeswohl und den Interessen von Müttern an einer Berufstätigkeit zu konstruieren, denn ohne wirtschaftliche Basis und ohne Zukunftsvertrauen werden Eltern ihrem Kind nicht die notwendige liebevolle Zuwendung geben können. Wie Eltern die Aufteilung zwischen Erwerbs- und Familienarbeit regeln, muss ihnen überlassen bleiben. Das Personalitätsprinzip verbietet es der Gesellschaft, ein bestimmtes Familienmodell vorschreiben zu wollen, solange die Eltern bei ihren Entscheidungen das Kindeswohl nicht missachten. Das Solidaritätsprinzip fordert gesellschaftliche Anstrengungen, die Eltern bei ihren Aufgaben zu unterstützen. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt dafür Maßnahmen, die den Entscheidungsspielraum der Eltern vergrößern und es ihnen ermöglichen, ein individuelles, der persönlichen Konstellation angemessenes Arrangement der zeitlichen Aufteilung von Familienaufgaben in Verbund mit externer Kinderbetreuung zu wählen. Bedingungen, die den Eltern ein hohes Maß an Wahlfreiheit für die persönliche Lebensgestaltung mit ihren Kindern ermöglichen, müssen daher an verschiedenen Ebenen ansetzen. Dazu gehören eine hinreichende finanzielle Entlastung der Eltern, die ihnen eine Reduzierung der Erwerbsarbeit ohne wirtschaftliche Not erlaubt, sowie familienergänzende Betreuungseinrichtungen, die den Eltern zeitliche Freiräume für eine Berufstätigkeit eröffnen und den Kindern einen erweiterten Erfahrungsraum bieten. Besonders wichtig sind jedoch Maßnahmen, die in der Arbeitswelt ansetzen und das Risiko von Erwerbsunterbrechungen begrenzen sowie Möglichkeiten der Reduzierung der Erwerbstätigkeit in qualifizierten Berufen für Frauen und Männer schaffen.
Literaturverzeichnis Ott, Notburga: The Economics of Gender – Der neoklassische Ansatz zur Erklärung des Geschlechterverhältnisses, in: Fabel, O. / Nischik, R. (Hrsg.), Femina Oeconomica: Frauen in der Ökonomie, München / Mehring 2002, S. 33 – 66. – Wie sichert man die Zukunft der Familie?, in: Goldschmidt, N. (Hrsg.), Was ist Generationengerechtigkeit? (Ordnungs-)ökonomische Antworten, Reihe: Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, Tübingen 2008.
Viertes Kapitel
Ethische Grundfragen des Lebens
Sozialethische Fragen des Lebensschutzes Von Manfred Spieker
Probleme des Lebensschutzes waren lange Zeit kein Gegenstand der Katholischen Soziallehre. Dies gilt für die klassischen Probleme Abtreibung und Euthanasie, die es gibt, seit es Menschen gibt. Es gilt aber auch für die modernen Probleme der Kryokonservierung von Embryonen, der Präimplantationsdiagnostik, des Klonens und der embryonalen Stammzellforschung. Dies war verständlich, solange die Rechts- und Verfassungsordnungen der zivilisierten Staaten Abtreibung und Euthanasie als Verstöße gegen das Menschenrecht auf Leben verboten haben. Anfang der 1970er-Jahre aber hat sich dies grundlegend geändert. Zahlreiche Staaten haben das Abtreibungsverbot und manche, wie Belgien und die Niederlande, auch das Euthanasieverbot gelockert oder ganz aufgehoben. Nachdem sich die künstliche Befruchtung in den 1980er-Jahren nahezu weltweit ausgebreitet hatte und zu zahllosen kryokonservierten, sogenannten „überzähligen“ Embryonen geführt hatte, die keine Chance mehr auf einen Transfer in eine Gebärmutter haben, und nachdem es 1998 erstmals gelungen war, embryonale Stammzellen zu isolieren, legalisierten viele Staaten auch die Forschung mit embryonalen Stammzellen, das (therapeutische) Klonen und die Präimplantationsdiagnostik. Forschung mit embryonalen Stammzellen aber bedeutet die Tötung des Embryos. Die Gesetzgeber degradierten damit den „überzähligen“ Embryo zu einem biomedizinischen Rohstoff und beraubten das Verbot privater Gewaltanwendung und der Tötung unschuldiger Menschen seiner Verbindlichkeit. Dies ist nicht nur für den demokratischen Rechtsstaat, sondern auch für die Kirche eine Herausforderung. Papst Johannes Paul II. verglich diese Herausforderung in der Enzyklika Evangelium vitae 1995 mit jener der sozialen Frage am Ende des 19. Jahrhunderts. Wie die Kirche sich damals der Arbeiterklasse angenommen habe, so habe sie sich am Ende des 20. Jahrhunderts der ungeborenen Kinder anzunehmen.1 Die Christliche Gesellschaftslehre hat gegenüber der Lockerung bzw. Aufhebung des Abtreibungs- und Euthanasieverbotes und der Legalisierung der embryonalen Stammzellforschung die zentrale Legitimitätsbedingung eines demokratischen Rechtsstaates zur Geltung zu bringen: das Verbot privater Gewaltanwendung und der Tötung unschuldiger Menschen. Wenn im Abtreibungsstrafrecht weltweit das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren über das Lebensrecht des Kindes gestellt, mithin privater Gewalt zur Konfliktlösung der Weg geebnet wird, hebt sich der Rechtsstaat selbst auf. Die Aufhebung dieses Tötungsverbotes auch noch rechtsstaatlich regeln zu wollen, ist ein Widerspruch in sich. Ein Rechtsstaat kann die Zerstörung seiner Konstitutionsbedingung nicht rechtsstaatlich regeln. Dies ist der Grund, weshalb die Debatten um die Legalisierung der Abtreibung nie an ein Ende kommen werden. 1
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Johannes Paul II. hat diese Entwicklung in seiner Enzyklika Evangelium vitae mehrfach thematisiert. Entscheidungen, die einstimmig als Verbrechen betrachtet wurden, würden nun nicht nur toleriert, sondern für rechtmäßig erklärt und vom staatlichen Gesundheitssystem bezahlt. Darin komme nicht nur ein schwerer moralischer Verfall, sondern die „Struktur der Sünde“ zum Ausdruck, die zu einer irreparablen Schädigung des Gemeinwohls und einer „Kultur des Todes“ führe.2 „Kultur des Todes“ ist ein sperriger Begriff. Sie hat nichts zu tun mit der ars moriendi, jener Kunst des Sterbens eines reifen Menschen, der dem Tod ebenso bewusst wie gelassen entgegengeht. Sie hat auch nichts zu tun mit Mord und Totschlag, die es unter Menschen gibt, seit Kain seinen Bruder Abel erschlug, auf denen aber immer der Fluch des Verbrechens lag. „Kultur des Todes“ meint vielmehr ein Verhalten einerseits und gesellschaftliche sowie rechtliche Strukturen andererseits, die bestrebt sind, das Töten gesellschaftsfähig zu machen, indem es als medizinische Dienstleistung und als Sozialhilfe getarnt und mit dem Mantel der Legalität umkleidet wird. Sie ist somit nicht nur ein Angriff auf einzelne Menschen, die der Gefahr der Abtreibung oder der Euthanasie ausgesetzt sind, sondern ein tödliches Gift für die rechtsstaatliche Demokratie. Wenn sich die Kirche dieser Entwicklung in den Weg stellt, wenn sie „die unbedingte Achtung vor dem Recht auf Leben jedes unschuldigen Menschen – von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Tod – zu einer der Säulen erklärt, auf die sich jede bürgerliche Gesellschaft stützt, ,will sie lediglich einen humanen Staat fördern. Einen Staat, der die Verteidigung der Grundrechte der menschlichen Person, besonders der schwächsten, als seine vorrangige Pflicht anerkennt‘“.3 Wenn die Verteidigung des Lebensrechtes ihren Fokus somit auf den humanen Staat, die bürgerliche Gesellschaft und die Bedingungen der rechtsstaatlichen Demokratie richtet, dann kann sich die Katholische Soziallehre der Problematik des Lebensschutzes nicht entziehen, fragt sie als Sozialethik doch immer nach den gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für das Gelingen des menschlichen Lebens.
I. Abtreibung 1. Lehre der Kirche
Abtreibung ist die beabsichtigte und direkte Tötung eines menschlichen Geschöpfes in dem zwischen Empfängnis und Geburt liegenden Anfangsstadium seiner Existenz. An der Verwerflichkeit einer Abtreibung hat die Kirche nie einen Zweifel gelassen. Seit den Anfängen christlicher Gemeinden und moralischer Reflexionen im Licht des Evangeliums im ersten Jahrhundert wird die Abtreibung als „besonders schwerwiegende sittliche Verwilderung“ eingestuft und „Mord“ genannt.4 Das Zweite Vatikanische Konzil Johannes Paul II., Evangelium vitae 4, 11, 59 und 72. Johannes Paul II., Evangelium vitae 101. Diese Stelle zitierte Johannes Paul II. auch in seinem Brief an die deutschen Bischöfe vom 11. 1. 1998, Ziffer 8, mit dem er die Kirche in Deutschland bat, in der Schwangerschaftskonfliktberatung auf die Ausstellung des Beratungsscheines zu verzichten. 4 Johannes Paul II., Evangelium vitae 61 unter Verweis auf Athenagoras, Tertullian und die Didaché, die älteste außerbiblische christliche Lehrschrift. Vgl. auch Joseph Kardinal Höffner, der in einer Kontroverse mit dem damaligen Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) Abtreibung 2 3
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hat die Abtreibung deshalb ein „verabscheuungswürdiges Verbrechen“ genannt, das die menschliche Kultur zersetzt.5 Johannes Paul II. hat dies vielfach wiederholt, ausführlich und systematisch in seiner Enzyklika Evangelium vitae.6 Auch der Katechismus der katholischen Kirche ist eindeutig: „Seit dem ersten Jahrhundert hat die Kirche es für moralisch verwerflich erklärt, eine Abtreibung herbeizuführen. Diese Lehre hat sich nicht geändert und ist unveränderlich“.7 Das Kirchenrecht zieht daraus die Konsequenz: „Wer eine Abtreibung vornimmt, zieht sich mit erfolgter Ausführung die Tatstrafe der Exkommunikation zu“.8 Diese Strafe, die automatisch durch die Tat und nicht erst durch das Urteil eines Bischofs oder eines kirchlichen Gerichts eintritt, trifft alle, die an der Abtreibung mitwirken, also nicht nur die Mütter, sondern auch Druck ausübende Väter, Ärzte, Krankenschwestern und Beraterinnen, die den einer Tötungslizenz gleichkommenden Beratungsschein aushändigen.
2. Legalisierungsversuche
Die Versuche, Abtreibung zu legalisieren, begannen Ende der 1960er-Jahre in Großbritannien und in den skandinavischen Ländern. In den 1970er-Jahren erfassten sie ganz Westeuropa.9 In den kommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas galt Abtreibung als Methode der Geburtenregelung und als „Recht“ der Frau. Die Legalisierungskampagnen in Westeuropa bedienten sich meist des gleichen Begründungsmusters: Illegale Abtreibungen führten zu zahlreichen Todesfällen unter den schwangeren Frauen. Durch die Legalisierung könnten die Vorgänge transparent gemacht und sowohl die Mütter als auch die Kinder besser geschützt werden, weil die Abtreibungen in professionelle ärztliche Hände gelegt und auch Hilfen für die Schwangere und ihr Kind angeboten werden könnten. So könnten auch die Abtreibungszahlen gesenkt werden. Um das Ziel der Legalisierung zu erreichen, wurden meist horrende Abtreibungszahlen und ebenso horrende Zahlen für die Todesfälle unter den Schwangeren präsentiert. Die Kritik an den maßlosen Schätzungen konnte die Legalisierung der Abtreibung nirgends aufhalten. Die Abtreibungsmentalität verbreitete sich parallel zum Aufkommen der hormonellen Empfängnisverhütung. Die Pille erwies sich nicht als die viel beschworene Alternative, sondern geradezu als Katalysator der Abtreibungsmentalität. Sie suggeriert bis heute die perfekte Beherrschbarkeit der Fruchtbarkeit und fördert bei Versagen die Bereitschaft, in der Abtreibung einen Notausgang aus der unerwünschten Lage zu sehen. Gynäkologische Vergleichsstudien unter Wöchnerinnen legen einen signifikanten Zusammenhang zwischen Methoden der Empfängnisregelung und der Abtreibungshäufigkeit nahe.10 wiederholt als „Mord“ bezeichnete, so z. B. in seinem Interview mit der Katholischen NachrichtenAgentur am 21. 2. 1972, in: ders., In der Kraft des Glaubens, Bd. II, Kirche – Gesellschaft, Freiburg i. Br. 1986, S. 74 ff. 5 Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes 27 und 51. 6 Johannes Paul II., Evangelium vitae 58 – 63. 7 Katechismus der Katholischen Kirche 2271. 8 Codex Iuris Canonici c. 1398. Zur Lehre der Kirche über Abtreibung vgl. auch Manfred Spieker, 2008, S. 107 ff. 9 Vgl. Albin Eser / Hans-Georg Koch, 1988. 10 Rafael Mikolajczyk, 2001, S. 121 ff.
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Die Legalisierung selbst orientierte sich entweder am Modell der Fristenregelung oder an dem der Indikationenregelung. Die Fristenregelung stellte die Abtreibung in der Regel in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft straflos, die Indikationenregelung legalisierte die Abtreibung nach verschiedenen Indikationen. In einer engen Indikationenregelung wurde die Abtreibung von Strafe befreit, wenn das Leben oder die Gesundheit der Mutter gefährdet waren (engere oder weitere medizinische Indikation), wenn die Schwangerschaft auf eine Vergewaltigung zurückzuführen war (kriminologische Indikation) oder wenn beim Kind durch die Pränataldiagnostik eine Behinderung oder eine schwere Erkrankung festgestellt wurde (eugenische oder embryopatische Indikation). In einer weiten Indikationenregelung kam zu den genannten drei Indikationen noch eine vierte, eine „soziale“ Indikation hinzu, d. h. die Mutter musste eine nicht weiter überprüfte Notlage behaupten, um straflos abtreiben zu können. Die Abtreibung blieb in der Regel rechtswidrig, aber von Strafe befreit. Alle Legalisierungen der Abtreibung wurden von Erklärungen begleitet, dadurch den Schutz der ungeborenen Kinder zu verbessern und die Abtreibungszahlen zu senken. Dieses Ziel wurde überall verfehlt. Die Abtreibungszahlen schnellten in allen Reformländern in die Höhe, um dann geringfügig zurückzugehen und sich auf einem Niveau zu stabilisieren, das wesentlich höher war als vor der Reform.11 In Deutschland wurde das Abtreibungsstrafrecht nach der Wiedervereinigung erneut reformiert mit dem Ziel, die ungeborenen Kinder besser zu schützen und die Abtreibungszahlen zu senken. An die Stelle der Androhung strafrechtlicher Sanktionen gegen die Schwangere und den abtreibenden Arzt im Falle einer Abtreibung trat nun das Beratungskonzept, mit dem der Gesetzgeber glaubte, den Schutz ungeborener Kinder besser sicherstellen zu können. Die Schwangere wurde verpflichtet, eine Beratungsstelle aufzusuchen, wenn sie eine Abtreibung in Erwägung zieht. Danach sollte sie frei entscheiden können, ob sie das Kind austrägt oder die Schwangerschaft durch eine Abtreibung beendet. Das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren wurde somit über das Lebensrecht des Kindes gestellt. Dass die Pflicht der abtreibungswilligen Schwangeren, eine Beratungsstelle aufzusuchen, bedeutet, dass die Schwangere sich auch beraten lassen muss, ist eine weit verbreitete Illusion, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Oktober 1998 zum Bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz ignoriert. Darin stellte das Gericht fest, dass die Schwangere ein Recht auf den Beratungsschein hat, „obwohl sie die Gründe, die sie zum Schwangerschaftsabbruch bewegen, nicht genannt hat“.12 Es verwarf damit die Bestimmung des bayerischen Gesetzes, das die Beratungsstellen verpflichten wollte, den Schein erst dann auszuhändigen, wenn die Schwangere „die Gründe mitgeteilt hat, deretwegen sie einen Abbruch der Schwangerschaft erwägt“. Hinter dem Beratungskonzept verbirgt sich somit eine Fristenregelung. Die Schwangere ist nach § 218a Abs. 1 StGB frei, in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft abzutreiben. Sie muss nur den Beratungsschein vorlegen, der den Straftatbestand der Tötung eines ungeborenen Kindes in eine medizinische Dienstleistung verwandelt, für den Abtreibungsarzt also zur Tötungslizenz wird. Weil das deutsche AbtreiEvert Ketting / Philip van Praag, 1985. BVerfGE 98, 324 f. Auch das Buch von Johannes Reiter, 1999, ignoriert dieses Urteil; darüber hinaus enthält es in der „Chronologie der Ereignisse“ von Christoph Götz eine Reihe von Irrtümern (a. a. O., S. 181 ff.). So hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner einstweiligen Anordnung vom 4. 8. 1992 keineswegs die Fristenregelung verhindert und die Reform des § 218a von 1995 lässt von der Rechtswidrigkeit der Abtreibung nach Beratung nichts mehr erkennen. 11 12
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bungsstrafrecht, wie Kardinal Angelo Sodano in einem Brief vom 20. Oktober 1999 an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz schrieb, „in unentwirrbarer Weise Ja und Nein verknotet, den Lebensschutz durch Beratung über den Nachweis der Beratung zugleich zum Mittel der Verfügung über menschliches Leben macht, kann die Kirche an diesem zentralen Teil des Gesetzes nicht mitwirken“.13 Sie setzt sich dagegen in praktischer Sozialarbeit für den Lebensschutz ein. Mit den Einrichtungen der Caritas, des Sozialdienstes katholischer Frauen und freier Initiativen, den Beratungsstellen, die keine Scheine ausstellen, den Heimen, Hilfsfonds und Netzwerken ist sie die größte und zugleich basisnächste Institution zum Schutz der Schwangeren und der ungeborenen Kinder. Darüber hinaus versucht sie zusammen mit der evangelischen Kirche und in manchen Bistümern auch mit den christlichen Lebensrechtsgruppen durch die jährliche Woche für das Leben die Öffentlichkeit auf Probleme hinzuweisen und die Politik zu beeinflussen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Abtreibungsstrafrecht vom 28. Mai 1993 sollte eine Abtreibung nach der Beratungsregelung zwar straflos, aber nichtsdestotrotz rechtswidrig bleiben. Die vom Bundestag daraufhin verabschiedete Reform von 1995 aber lässt diese Rechtswidrigkeit nicht mehr erkennen. Sie erklärt die Abtreibung nach einer Beratung durch den Tatbestandsausschluss in § 218a Abs. 1 StGB schlicht zu einem strafrechtlichen Nullum. Eine Abtreibung nach dieser Regelung wird rechtlich einfach nicht zur Kenntnis genommen. Dies war „aus strafrechtlicher Sicht ein in die Rechtsordnung implantiertes rechtsfremdes Unikat“.14 Abtreibungen nach der in § 218a Abs. 2 geregelten medizinischen und der in Abs. 3 geregelten kriminologischen Indikation dagegen sind seit 1992 rechtmäßig. Sie müssen von den Krankenkassen bezahlt werden, während die Abtreibungen nach der Beratungsregelung in etwa 85 Prozent der Fälle nach dem „Gesetz zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen“ von den Sozialbehörden der Bundesländer bezahlt werden, die dafür jährlich etwa 42 Millionen Euro ausgeben.15 Der Paradigmenwechsel im Abtreibungsstrafrecht gründete auf der Erwartung, dass die Pflichtberatung den Verzicht auf die Androhung von Strafen auszugleichen und letztlich mehr Kinder vor einer Abtreibung zu bewahren vermag. Diese Erwartung war nicht nur trügerisch, wie die Abtreibungsstatistik seit 1996 ausweist, die keinen Rückgang der Abtreibungshäufigkeit erkennen lässt,16 sie verstieß auch gegen die Vorgabe des Verfassungsgerichtsurteils vom 28. Mai 1993, das die Schutzpflicht des Staates ausdrücklich „auf das einzelne Leben, nicht nur auf menschliches Leben allgemein“ bezog.17 Die Auflage des Bundesverfassungsgerichts, „nach hinreichender Beobachtungszeit“ den Erfolg der Reform zu kontrollieren und das Gesetz gegebenenfalls zu korrigieren,18 wird bisher von allen im Bundestag vertretenen Parteien ignoriert. Das Beratungskonzept der Reformen von 1992 und 1995 schützt nicht mehr das Leben der einzelnen Kinder, sondern die Tötungsbefugnis der Schwangeren und ihres Abtrei13 Brief von Kardinal Sodano an Bischof Karl Lehmann vom 20. 10. 1999, Ziffer 3, dokumentiert in: Manfred Spieker, 2008, S. 176 ff. 14 Herbert Tröndle, 1998, S. 1392. 15 Stefan Rehder / Veronika Blasel, 2003, S. 4 ff. 16 Manfred Spieker, 2005, S. 19 ff. 17 BVerfGE 88, 203 und 252. 18 BVerfGE 88, 269 und 309.
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bungsarztes. Wäre der Gesetzgeber wirklich überzeugt gewesen, dass dieses Konzept ungeborenes Leben besser schützen kann als Strafandrohungen bei Abtreibungen, dann ist nicht einzusehen, warum er es nur für die ersten drei Monate und nicht für die gesamte Dauer einer Schwangerschaft gelten lassen will. Das Ergebnis des Paradigmenwechsels war somit keine Verbesserung des Schutzes ungeborener Kinder, sondern die Gewährleistung einer absoluten Autonomie der Frau und damit die strafrechtliche Freigabe der Abtreibung. 3. Sozialethische Perspektiven
Die Rechtsfragen des Lebensschutzes sind in allen demokratischen Rechtsstaaten ein Legitimitätsstachel. Wie kann ein Staat Legitimität, d. h. Gehorsam für seine Rechtsordnung, beanspruchen, der eine bestimmte Gruppe von Menschen aus der Rechtsgemeinschaft ausschließt? Wie kann er Legitimität beanspruchen, wenn er das Verbot, seine eigenen Interessen mit Gewalt gegen Unschuldige durchzusetzen und um dieser Interessen willen Unschuldige zu töten, aufhebt? Wie kann er schließlich Legitimität beanspruchen, wenn er dem Hobbes’schen bellum omnium contra omnes den Weg ebnet und die tödliche Gewalt gegen Unschuldige auch noch legalisieren will? Ein Rechtsstaat kann die Zerstörung seiner eigenen Konstitutionsbedingung nicht auch noch rechtsstaatlich regeln. Die Versuche, dies dennoch zu tun, sind ein Widerspruch in sich, der alle Rechtsstaaten in eine Krise gestürzt hat. Ein Gesetz, das die Abtreibung legalisiert, verstößt nicht nur gegen das Lebensrecht des Ungeborenen, sondern auch gegen das Gemeinwohl. Es hat, schreibt Johannes Paul II. in Evangelium vitae, „nicht den Charakter eines Gesetzes, sondern vielmehr den einer Gewalttätigkeit“.19 Den Charakter eines Gesetzes könne es nur haben, „insoweit es vom Naturgesetz abgeleitet wird. Wenn es aber in irgendetwas von dem Naturgesetz abweicht, dann wird es nicht mehr Gesetz, sondern die Zersetzung des Gesetzes sein“.20 Ein Gesetz, das die Abtreibung legalisiert, kann deshalb nicht zum Gehorsam verpflichten. Es verpflichtet vielmehr zum Widerstand. Schon 1974, am Anfang der Legalisierungsversuche, erklärte die Glaubenskongregation: „Was immer die staatlichen Gesetze in dieser Sache festlegen, es kann keine Diskussion darüber geben, dass der Mensch nie einem Gesetz gehorchen kann, das in sich unmoralisch ist. Dies trifft zu, wenn ein Gesetz beschlossen wird, das die Abtreibung grundsätzlich erlaubt. . . Er kann sich außerdem nicht . . . an einer öffentlichen Meinungskampagne beteiligen, die ein solches Gesetz begünstigt, noch kann er es bei Abstimmungen durch seine Stimme unterstützen. Er kann auch nicht bei der Anwendung eines solchen Gesetzes mitwirken.“21 Die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen des Lebensschutzes sind schon bald nach der Reform des Abtreibungsstrafrechts 1995 im Hinblick auf die Spätabtreibungen wieder in Frage gestellt worden. Spätabtreibungen sind alle Abtreibungen jenseits der zwölften Woche. Meistens aber werden nur die Abtreibungen im letzten Drittel einer Schwangerschaft als Spätabtreibungen bezeichnet. In dieser Phase ist der Fötus Johannes Paul II., Evangelium vitae 72. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I – II, q. 95, a. 2, zitiert in: Johannes Paul II., Evangelium vitae 72. 21 Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung zur vorsätzlichen Abtreibung vom 18. 11. 1974, Ziffer 22, in: Herder-Korrespondenz 29 (1975), S. 21. 19 20
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auch außerhalb der Gebärmutter bereits lebensfähig. Je nach der Abtreibungsmethode kann er eine Abtreibung überleben. Das Abtreibungsstrafrecht erlaubt solche Abtreibungen infolge einer weiten medizinischen Indikation in § 218a Abs. 2 bis zur Geburt. Der Verdacht einer Behinderung oder Krankheitsdisposition nach einer Pränataldiagnostik reicht trotz des Wegfalls einer embryopathischen Indikation als Grund, um das Kind zu töten. In allen Parteien gibt es Bemühungen, die Spätabtreibungen zu begrenzen. Doch in der Regel wird nur vorgeschlagen, eine Pflichtberatung zwischen Pränataldiagnostik und Abtreibung einzuführen. Dies wäre jedoch der falsche Weg. Er würde zu einer neuen Scheindebatte führen. Der entsprechende Beratungsschein würde für das Kind zu einem sicheren Todesurteil. Der einzige Weg zur Reduzierung der Spätabtreibungen ist die Beschränkung der medizinischen Indikation auf eine enge, nur bei Lebensgefahr für die Schwangere greifende medizinische Indikation. Sie würde eine Änderung des § 218a Abs. 2 StGB erfordern. Auch in den USA hat die Abtreibungsdiskussion durch die Spätabtreibungen eine Wende erfahren. Mit dem Partial Birth Abortion Ban Act von 2003 hat der Kongress nur die grausamste Methode der Spätabtreibung, bei der das Kind während des Geburtsvorgangs durch Absaugen des Gehirns gezielt getötet wird, verboten. Der Supreme Court hat dieses Gesetz am 18. April 2007 als verfassungskonform bestätigt. Die Debatte über die Spätabtreibungen hat das Klima in der amerikanischen Öffentlichkeit zugunsten des Lebensschutzes verändert. Die katholische Kirche spielt in diesen Auseinandersetzungen eine führende Rolle.22 Ihr Einsatz auf dem Feld der Politik und der Auseinandersetzung mit Präsidentschafts-, Gouverneurs- und Parlamentskandidaten, 23 ihre Aufklärungsarbeit in der Gesellschaft durch die Pro-Life-Sekretariate der Bischofskonferenz und der einzelnen Diözesen und auch ihr pastoraler Einsatz für den Lebensschutz, aber auch für Frauen, die abgetrieben haben – all dies ist überaus eindrucksvoll trotz der Konflikte, die es auch unter amerikanischen Katholiken und ihren Bischöfen gibt, z. B. in der Frage, ob Politikern, die in der Abtreibungsgesetzgebung die Lehre der Kirche missachten, die Kommunion gespendet werden darf. Die Erfahrungen in den USA, aber auch in einigen europäischen Ländern wie Polen, Malta, Italien oder jüngst den Niederlanden zeigen, dass die Kultur des Todes kein unabwendbares Schicksal ist. Rechtsordnungen spiegeln nicht nur – gleichsam notariell – gesellschaftliche Trends, sie vermögen auch, diese Trends zu beeinflussen, ja sogar zu wenden. II. Euthanasie 1. Lehre der Kirche
Die Lehre der Kirche zur Euthanasie ist nicht weniger klar als die zur Abtreibung. Die Euthanasie ist als „eine Handlung oder Unterlassung“ zu verstehen, „die ihrer Natur nach und aus bewusster Absicht den Tod herbeiführt, um auf diese Weise jeden Schmerz zu beenden“.24 Sie ist ein Verbrechen, das immer und überall zu verwerfen ist. Sie ist wie die Abtreibung die vorsätzliche Tötung einer menschlichen Person, die sittlich Manfred Spieker, 2006, S. 110 – 117. Das Evangelium des Lebens leben. Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA vom 24. 11. 1998, deutsch in: Die Neue Ordnung 54 (2000), S. 244 ff. 24 Johannes Paul II., Evangelium vitae 65. 22 23
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nie zu akzeptieren ist. Eine Handlung oder eine Unterlassung, so der Katechismus der katholischen Kirche, „die von sich aus oder der Absicht nach den Tod herbeiführt, um dem Schmerz ein Ende zu machen, ist ein Mord, ein schweres Vergehen gegen die Menschenwürde und gegen die Achtung, die man dem lebendigen Gott, dem Schöpfer, schuldet. Das Fehlurteil, dem man gutgläubig zum Opfer fallen kann, ändert die Natur dieser mörderischen Tat nicht, die stets zu verbieten und auszuschließen ist“25. Das Zweite Vatikanische Konzil nannte die Euthanasie zusammen mit der Abtreibung „eine Schande“, die die menschliche Kultur zersetzt.26 Sie will das Leiden eliminieren, indem sie den Leidenden beseitigt. Die Kirche verlangt keine Therapie um jeden Preis. „Außerordentliche oder zum erhofften Ergebnis in keinem Verhältnis stehende aufwendige und gefährliche medizinische Verfahren einzustellen, kann berechtigt sein. Man will dadurch den Tod nicht herbeiführen, sondern nimmt nur hin, ihn nicht verhindern zu können.“27 Während die aktive Sterbehilfe also in jedem Fall verworfen wird, kommt es bei der passiven und der indirekten Sterbehilfe auf die Intention des Helfers an. Beendet der Helfer bei der passiven Sterbehilfe belastende lebensverlängernde Maßnahmen, weil sie in keinem Verhältnis zum erhofften Ertrag stehen oder nimmt er bei der indirekten Sterbehilfe in einer palliativmedizinischen Behandlung lebensverkürzende Nebenwirkungen einer Schmerzbekämpfung in Kauf, macht er sich nicht schuldig. Maßnahmen, die das Sterben erleichtern, sind sittlich erlaubt. Allerdings können auch solche Maßnahmen mit der Absicht durchgeführt werden, den Tod schneller herbeizuführen. Dann sind auch sie sittlich verwerflich. Umstritten ist, welche Maßnahmen zu den medizinischen Therapien gehören, die in einem Sterbeprozess legitimerweise eingestellt werden können, und welche zur Basispflege gehören, die niemals eingestellt werden darf. Gehört z. B. die künstliche Nahrungszufuhr bei einem Wachkomapatienten zur medizinischen Therapie oder zur Basispflege? Die Lehre der Kirche ist eindeutig: Sie gehört zur Basispflege. Anlässlich eines Kongresses der Päpstlichen Akademie für das Leben zum Thema „Lebenserhaltende Behandlungen und vegetativer Zustand: Wissenschaftliche Fortschritte und ethische Dilemmata“ erklärte Papst Johannes Paul II. am 20. März 2004, „dass die Verabreichung von Wasser und Nahrung, auch wenn sie auf künstlichen Wegen geschieht, immer ein natürliches Mittel der Lebenserhaltung und keine medizinische Handlung ist. Ihre Anwendung ist deshalb prinzipiell als normal und angemessen und damit als moralisch verpflichtend zu betrachten.“28
2. Legalisierungsversuche
In Deutschland war die Euthanasie jahrzehntelang tabu, weil sie während der Herrschaft der Nationalsozialisten in großem Stil betrieben wurde. Sie war Teil der nationalsozialistischen Rassenideologie und zielte auf die Beseitigung von Behinderten, unheilbar Kranken und Schwachen, deren Leben als lebensunwert und die Volksgemeinschaft 25 26 27 28
Katechismus der Katholischen Kirche 2277. Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes 27. Katechismus der Katholischen Kirche 2278. Osservatore Romano (deutschsprachige Wochenausgabe) vom 9. 4. 2004 und 28. 9. 2007.
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belastend galt. Auch in den anderen europäischen Ländern war die Euthanasie bis Anfang der 1990er-Jahre tabu. Mit der Legalisierung der Euthanasie in den Niederlanden ging die Tabuisierung der Euthanasie in Europa zu Ende. Das holländische Parlament verabschiedete am 10. April 2001 das Gesetz zur „Überprüfung der Lebensbeendigung auf Verlangen und bei der Hilfe zur Selbsttötung“, das am 1. April 2002 in Kraft trat. Es legalisierte eine Praxis der Euthanasie, die auf dem Umweg einer Änderung des Bestattungsgesetzes und durch Richtlinien der Niederländischen Ärztegesellschaft schon 1994 eingeführt worden war. Allerdings wurde die Euthanasie 2002 mit der Einführung eines Rechtfertigungsgrundes für die Tötung eines Patienten auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt. Galt der Arzt, der einen Patienten tötete, bis Anfang der 1990er-Jahre als Mörder, dann bis zur Verabschiedung des Euthanasiegesetzes als geduldeter Delinquent, so soll er fortan ein Wohltäter sein, der die Realisierung einer finalen Selbstbestimmung und einen schmerzfreien Tod ermöglicht. Auch Belgien verabschiedete am 28. Mai 2002 ein Gesetz zur Sterbehilfe, das die Euthanasie legalisierte und am 23. September 2002 in Kraft trat.29 Im Europarat gab es mehrere, bisher im Plenum immer gescheiterte Versuche, Empfehlungen an alle Mitgliedsstaaten zur Legalisierung der Euthanasie nach dem niederländischen und belgischen Vorbild zu beschließen. Die Argumente zur Begründung der Legalisierungsversuche gleichen jenen, die Anfang der 1970er-Jahre zur Legalisierung der Abtreibung präsentiert wurden. Zum einen wird behauptet, Euthanasie werde überall und täglich praktiziert, weshalb der Gesetzgeber verpflichtet sei, sie aus der Grauzone der Illegalität herauszuholen und durch eine Legalisierung die Kluft zwischen Recht und Alltag zu schließen. Zum anderen wird behauptet, niemand habe „das Recht, einem todkranken oder sterbenden Menschen die Pflicht aufzuerlegen, sein Leben unter unerträglichen Leiden oder Qualen fortzusetzen, wenn er selbst beharrlich den Wunsch geäußert hat, es zu beenden“.30 Gegen das erste Argument wäre einzuwenden, dass sich die Kluft zwischen Recht und Alltag in Grundfragen rechtsstaatlichen Zusammenlebens nur dadurch schließen lässt, dass dem hier in Frage stehenden Verbot der Tötung Unschuldiger Geltung verschafft wird. Dies ist auch schon die Antwort auf das zweite Argument. Es geht bei der Euthanasie wie bei der Abtreibung nicht um ein Recht, anderen eine Pflicht aufzuerlegen, sondern allein um die Einhaltung des Tötungsverbotes, das die Legitimitätsbedingung des Rechtsstaates ist. Wenn eine Rechtspflicht wie die, die Tötung Unschuldiger zu unterlassen, mit einer Tugendpflicht wie der, anderen – Sterbenden oder Schwangeren – zu helfen, kollidiert, kommt in einem Rechtsstaat und in einer humanen Gesellschaft immer der Rechtspflicht der Vorrang zu. Die Gesetze, die Euthanasie legalisieren, versuchen die Voraussetzungen zu regeln, unter denen Euthanasie rechtmäßig sein soll. Diese Voraussetzungen sollen die Selbstbestimmung des Patienten gewährleisten. Sein Euthanasiewunsch soll freiwillig, wohlüberlegt und dauerhaft sein und auf vollständiger ärztlicher Aufklärung beruhen. Sein Leiden – sowohl physisches als auch psychisches Leiden – soll unerträglich und ohne Aussicht auf Besserung sein. Es darf keine medizinische Alternative geben und die ärzt29 Zur Euthanasie in den Niederlanden und in Belgien vgl. Henk Jochemsen, 2004, S. 235 ff.; Roland Kipke, 2004, S. 251 ff. 30 So Dick Marty, liberaler Abgeordneter aus der Schweiz, in seinem Bericht für den Ausschuss für Soziales, Gesundheit und Familie vom 10. 9. 2003, Council of Europe, Dokument 9898, Ziffern 7 und 61.
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liche Diagnose und die Prognose müssen durch einen zweiten Arzt bestätigt werden. Nach vollzogener Euthanasie muss der Fall in den Niederlanden an die zuständige Regionale Kontrollkommission gemeldet werden, die aus einem Juristen, einem Mediziner und einem Ethiker besteht und zu prüfen hat, ob der Arzt die im Euthanasiegesetz genannten Sorgfaltskriterien eingehalten hat. Die mehrfach untersuchte Praxis der Euthanasie in den Niederlanden und in Belgien zeigt, dass die Vorstellung, Euthanasie werde nur bei Vorliegen eines freiwilligen, beharrlichen und wohl überlegten Wunsches des Patienten vorgenommen, eine Illusion ist. In über 20 Prozent der 4632 Euthanasiefälle des Jahres 2001 erfolgte die Euthanasie ohne Einwilligung des Patienten. In rund 25 Prozent der Fälle unterblieb die vorgeschriebene Konsultation eines zweiten unabhängigen Arztes und in ca. 50 Prozent der Fälle unterblieb auch die obligatorische Meldung an die Regionale Kontrollkommission. Dass die Euthanasie auch ohne Verlangen des Patienten praktiziert wird, zeigen nicht nur ähnliche Quoten in früheren, von der niederländischen Regierung in Auftrag gegebenen Untersuchungen,31 es wird auch in der Ausweitung der Euthanasie auf Neugeborene und Kleinkinder manifest, die 2004 von einer Gruppe von Neonatologen und Kinderärzten der Universitätsklinik Groningen im sogenannten „Groningen-Protokoll“ angestoßen und dann Ende 2005 von den niederländischen Ministern für Justiz und für Gesundheit gleichsam auf dem Verwaltungsweg durch einen Brief an das Parlament geregelt wurde.32 In Deutschland scheint eine Legalisierung der Euthanasie gegenwärtig unvorstellbar zu sein. Die nationalsozialistische Euthanasiepraxis ist noch präsent. Die Legalisierung der Euthanasie in den Niederlanden und in Belgien wurde von den im Bundestag vertretenen Parteien sowie den Verbänden der Ärzte und der Juristen heftig kritisiert. Aber verschiedene demoskopische Untersuchungen zeigen, dass die aktive Sterbehilfe bei mehr als zwei Dritteln der Deutschen Zustimmung findet. Selbst bei den Christen wird sie von deutlichen Mehrheiten befürwortet. Die Debatte konzentriert sich einstweilen auf die gesetzliche Regelung von Patientenverfügungen, die dem Patienten nicht die Befugnis einräumen sollen, von Ärzten und Pflegern eine aktive Sterbehilfe zu verlangen. Sie sollen nur die Patientenautonomie gewährleisten, also das Recht einräumen, Festlegungen zum Schutz vor Übertherapie zu treffen, die unter Umständen zu einem Behandlungsabbruch führen. Der Gesetzgeber soll die Form, die Verbindlichkeit, die Reichweite und die Wirksamkeitsvoraussetzungen solcher Verfügungen regeln. Die Debatte über Patientenverfügungen wird von der Illusion getragen, den eigenen Sterbeprozess steuern zu können. Dahinter steht einerseits die Angst vor dem Sterben und andererseits der Mangel an Vertrauen in eine humane ärztliche und pflegerische Fürsorge in den letzten Lebenstagen. Patientenverfügungen sollen klare Anweisungen für die ärztliche Behandlung in einer bestimmten Situation geben, in der der Patient 31 Vgl. die Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Untersuchungen bei Antonia Grundmann, 2004. 32 Vgl. den Brief der Minister für Gesundheit und Justiz an den Vorsitzenden der Zweiten Kammer des Parlaments „Levensbeeindigung bij pasgeborenen“ vom 29. 11. 2005, in: http: // minvws. nl / images / levensbeeindiging_tcm19–102052.pdf; vgl. auch Wesley J. Smith, Killing Babies, Compassionately. The Netherlands follows in Germany’s footsteps, in: Weekly Standard vom 27. März 2006.
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nicht mehr entscheidungsfähig ist. Umstritten ist, ob die Bindungswirkung von Patientenverfügungen im Falle einer Altersdemenz aufgehoben werden kann, wenn der entscheidungsunfähige Patient Anzeichen von Lebenswillen bekundet. Wenn eine schriftliche Patientenverfügung ausdrücklich „Bindungskraft über den späteren bloßen Lebenswillen des Betroffenen haben (soll)“, wie der Nationale Ethikrat in seiner Stellungnahme „Patientenverfügung – Ein Instrument der Selbstbestimmung“ vom 2. Juni 2005 erklärte, können sie zur tödlichen Falle werden. Umstritten bleibt, ob Patientenverfügungen nur für Krankheiten gelten sollen, die unumkehrbar zum Tode führen oder für alle schweren Erkrankungen sowie psychische Leiden, die nicht zum Tode führen. Umstritten ist auch, ob die konkrete Situation, in der eine Patientenverfügung zur Anwendung kommen soll, genau der Situation entspricht, die der Patient bei ihrer Unterzeichnung oder einer entsprechenden mündlichen Willensäußerung lange Zeit zuvor im Auge hatte. Über die Grenze zwischen Therapie und Übertherapie können auch Ärzte verschiedener Meinung sein. Konflikte zwischen dem verfügten Willen und dem Wohl des Patienten, dem der Arzt immer den Vorrang zu geben hat, sind vorprogrammiert. Der Verlust des Vertrauens in den Arzt lässt sich nicht durch Patientenverfügungen ausgleichen. 3. Sozialethische Perspektiven
Die Legalisierung der Euthanasie verändert das Selbstverständnis der Gesundheitsberufe. Ärzte, Schwestern und Pfleger werden von Helfern der Kranken, die seinen Subjektstatus achten, seine Genesung fördern, ihn im Sterben begleiten und im Angesicht des Todes ihre eigene Ohnmacht akzeptieren, zu Herrschern, die nicht nur die Therapie einer Krankheit wie Manager regeln, sondern auch das Sterben ihrem technischen Zugriff unterwerfen wollen. Das ärztliche Handeln, die Praxis im aristotelischen Sinn, mutiert zur Tötungstechnik. Die Legalisierung der Euthanasie zerstört das Vertrauen des Patienten zum Arzt. Davor haben die katholischen Bischöfe der Niederlande schon bei der Einbringung des Euthanasiegesetzes in das Parlament gewarnt.33Angesichts des hohen Anteils der Fälle unfreiwilliger Euthanasie und der Ausweitung der Euthanasie auf Personengruppen, die ihrer Natur nach unfähig sind, ihre Zustimmung zu erteilen wie Neugeborene und Kleinkinder, kann sich der Patient nicht mehr sicher sein, ob der Arzt seine Gesundung oder wenigstens die Linderung seines Leidens oder aber seinen Tod ansteuert. Wie sehr die Legalisierung der Euthanasie das Vertrauen in die Ärzte zerstören kann, zeigt die Ausbreitung der ,,Credo-Card“ in den Niederlanden. Die ,,Credo-Card“ ist ein Ausweis mit dem Namen des Trägers und dem Aufdruck „Maak mij niet dood, Doktor“, der dem Arzt signalisiert, dass der Inhaber bei Äußerungsunfähigkeit auf keinen Fall euthanasiert werden will. Die Legalisierung der Euthanasie und die Ausbreitung der Patientenverfügungen verändern schließlich auch das Verhältnis des Patienten zu seiner Umgebung. Der schwerkranke Patient wird vom leidenden Subjekt, dem Mitleid und Solidarität der Gesellschaft zuteil werden, zum Objekt, das der Gesellschaft – seinen Angehörigen, seinem Pflegeheim, seiner Krankenkasse – zur Last fällt. Nicht der Patient kann länger das Mitleid der Gesellschaft erwarten, die Gesellschaft erwartet vielmehr das Mitleid des 33 Vgl. z. B. die Erklärung des Vorsitzenden der Niederländischen Bischofskonferenz Adrianus Simonis, Care during Suffering and Dying vom 7. 4. 2000, in: P. Kohnen / G. Schumacher, 2002, S. 152.
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Patienten, der sie von allen Lasten befreien könnte, wenn er nur endlich bereit wäre, den Euthanasiewunsch zu äußern. Schon die Patientenverfügung kann hier zur Falle werden. Je mehr derartige Patientenverfügungen verbreitet sind, desto größer ist die Gefahr einer negativen Selbstbewertung bei alten und kranken Menschen, zumal zahlreiche Formulare solcher Patientenverfügungen gerade in Pflegeheimen einen Behandlungsverzicht für schwerwiegende Krankheiten als Wahlmöglichkeit enthalten. So entsteht ein Druck, den medizinischen, pflegerischen und finanziellen Aufwand zu vermeiden und sich dem Trend zum sozialverträglichen Frühableben anzuschließen. Die Selbstbestimmung mündet über die Patientenverfügung in die Selbstentsorgung. Die dunkle Ahnung einer solchen Falle scheint weit verbreitet zu sein, weil der Anteil derer, die eine verbindliche Patientenverfügung ihr eigen nennen, trotz vieler Werbekampagnen weder in Deutschland noch in den USA steigen will. „Viele haben einen Vordruck, wenige füllen ihn aus, kaum einer unterschreibt.“34 Auch wenn 80 Prozent der deutschen Bevölkerung erklären, sie bejahten eine Patientenverfügung, so verfügten 2003 nur zehn Prozent über eine solche. Was ist die Alternative zur Euthanasie und zur Illusion der Selbstbestimmung am Lebensende? Eine Wiederbelebung der ars moriendi. Sterben ist Teil des Lebens, ist mehr als die schriftlich verfügte Übergabe des eigenen Leibes an die Euthanasietechniker. Nicht erst das Begräbnis, das Sterben selbst muss wieder ein soziales Ereignis werden. Die stationären Hospize, aber auch die ambulanten Hospizdienste sind ein Schritt in diese Richtung. Ein menschenwürdiges Sterben erfordert von den Angehörigen nicht nur „Respekt vor einer angeblich unbeeinflussten Selbstbestimmung des Sterbenden“, sondern in belastenden Situationen auch „die Bereitschaft zum Dableiben, zum geduldigen Ausharren und zuletzt: zum gemeinsamen Warten auf den Tod“.35 Für den Christen ist das Sterben noch mehr. Es ist das Ende des irdischen Pilgerstandes, ein Tor zum Leben.36 III. Assistierte Reproduktion 1. Lehre der Kirche
Die modernen Probleme der Bioethik, die sozialethische Fragen des Lebensschutzes aufwerfen, hängen mit der künstlichen Befruchtung zusammen. Ob es um die Kryokonservierung von Embryonen oder Vorkernstadien geht, um die Präimplantationsdiagnostik, das Klonen oder die Forschung mit embryonalen Stammzellen, für alle diese Entwicklungen der Biomedizin ist die Assistierte Reproduktion der Schlüssel. Ohne die künstliche Erzeugung eines Embryos im Labor wären diese Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen ethischen Probleme gegenstandslos. Zur Assistierten Reproduktion hat sich die Kirche bereits 1956 geäußert. In einer Ansprache an die Teilnehmer eines Weltkongresses zum Studium der Fruchtbarkeit und der Sterilität erklärte Papst Pius XII. am 19. Mai 1956, dass sie „als unmoralisch und abso34 Stephan Sahm, Wollen Sie Patient zweiter Klasse sein? Zu Risiken und Nebenwirkungen von Patientenverfügungen: Ernüchterndes aus Amerika, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. November 2004. 35 Eberhard Schockenhoff, 2001, S. 10. 36 Peter Christoph Düren, 2002; Hubert Windisch, 2004, S. 145 ff.
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lut unstatthaft zu verwerfen ist“.37 Neun Jahre nach der Geburt des ersten künstlich erzeugten Mädchens in Großbritannien prüfte die Glaubenskongregation 1987 in der Instruktion Donum vitae über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung die künstliche Befruchtung zum einen aus der Perspektive der Eheleute oder Paare, die Eltern eines Kindes werden wollen und zum anderen aus der Perspektive des Kindes und seines Rechts auf einen menschenwürdigen Lebensbeginn. Aus beiden Perspektiven kommt die Kirche erneut zu einer Ablehnung der Assistierten Reproduktion. Sie verteidigt den ehelichen Liebesakt in seiner leibseelischen Einheit als den einzig legitimen Ort, der der menschlichen Fortpflanzung würdig ist. Die Eheleute haben das Recht und die Pflicht, „dass der eine nur durch den anderen Vater oder Mutter wird“.38 Die Fortpflanzung werde ihrer eigenen Vollkommenheit beraubt, wenn sie nicht als Frucht des ehelichen Liebesaktes, sondern als Produkt eines technischen Eingriffs angestrebt werde. Die Menschenwürde und die aus ihr abgeleitete Pflicht, den anderen Menschen nicht ausschließlich als Instrument – zur Erfüllung des Kinderwunsches – zu benutzen, gebieten eine Form der Fortpflanzung, in der sich Mann und Frau als Personen begegnen und im biblischen Sinn „erkennen“. Sie gebieten, in Zeugung und Schwangerschaft nicht nur technische Vorgänge, sondern anthropologische Grundbefindlichkeiten zu sehen.39 Mit dem ehelichen Geschlechtsakt verteidigt die Kirche zugleich die Würde des Kindes. Das Kind hat das Recht, so Donum vitae, „die Frucht des spezifischen Aktes der ehelichen Hingabe seiner Eltern zu sein“.40 Doch auch dann, wenn ein Kind nach künstlicher Befruchtung, mithin als Produkt eines Reproduktionsmediziners, ins Leben tritt, hat es von der Empfängnis an die gleichen Rechte wie jedes andere Kind. „Von der Empfängnis an“ – das gilt nicht nur für den Embryo in utero, sondern auch für den Embryo in vitro. Sowohl Johannes Paul II. als auch Benedikt XVI. haben wiederholt unterstrichen, dass das menschliche Leben „in jedem Augenblick seiner Existenz, auch in jenem Anfangsstadium, das der Geburt vorausgeht, heilig und unantastbar (ist)“.41 Dieses moralische Urteil, so Benedikt XVI., gilt „vom Beginn des Lebens eines Embryos an, noch vor dessen Einnistung im mütterlichen Schoß“.42 Daraus folgt, dass das Verbot, einen unschuldigen Menschen seines Lebens zu berauben, auch für den Embryo in vitro gilt. Es kann „weder als Ziel noch als Mittel zu einem guten Zweck gestattet werden“, ihn zu töten.43 In der Logik dieses Ansatzes liegt es, dass alle an die Assistierte Reproduktion anknüpfenden Entwicklungen, wie die embryonale Stammzellforschung, die Präimplan37 Pius XII., Sittliche Probleme um die Beseitigung der Unfruchtbarkeit in der Ehe, Ansprache vom 19. 5. 1956, in: Utz-Groner, Soziale Summe Pius’ XII., 4726. 38 Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion Donum vitae über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung vom 10. 3. 1987, II.1 und II.4. Vgl. auch Katechismus der Katholischen Kirche 2376 und 2377. 39 Vgl. auch Robert Spaemann, 1987, S. 91 f. und Walter Mixa, 2002, S. 237 ff. 40 Donum vitae II.8; Katechismus der Katholischen Kirche 2378. 41 Johannes Paul II., Evangelium vitae 61. 42 Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer eines Kongresses der Päpstlichen Akademie für das Leben zum Thema „Der menschliche Embryo in der Phase vor der Implantation“ am 27. 2. 2006, in: Osservatore Romano (deutschsprachige Wochenausgabe) vom 10. 3. 2006. In einer weiteren Ansprache am 16. 9. 2006 an die Teilnehmer eines Kongresses der Päpstlichen Akademie für das Leben über adulte Stammzellen bekräftigte er diese Lehre, die „auch vor der Einnistung in die Gebärmutter“ gelte, in: Osservatore Romano vom 29. 9. 2006. 43 Johannes Paul II., Evangelium vitae 57.
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tationsdiagnostik und das Klonen für die Kirche moralisch verwerflich sind, da sie alle mit der Tötung des Embryos verbunden sind. Der Zweck kann nie die Mittel heiligen. Wenn das Gebot, Kranke zu heilen, mit dem Verbot, Unschuldige zu töten, kollidiert, hat immer und unter allen Unständen letzteres den Vorrang. Keine Therapie, und sei sie noch so phantastisch, kann es rechtfertigen, einen unschuldigen Embryo, und sei er noch so chancenlos im Hinblick auf einen Transfer in eine Gebärmutter, zu töten. 2. Legalisierungsversuche
Die Assistierte Reproduktion hat sich nach dem ersten Erfolg 1978 in Großbritannien völlig ungeregelt ausgebreitet. In Deutschland sind seit der ersten Geburt nach künstlicher Befruchtung 1982 in der Erlanger Universitätsklinik bis 2005 etwa 110.000 Kinder auf diese Weise erzeugt worden. Durch das Embryonenschutzgesetz vom 13. Dezember 1990 hat der Gesetzgeber wichtige Restriktionen für die Assistierte Reproduktion eingeführt, die den Zweck haben, den außerhalb des Mutterleibes erzeugten Embryo in seinem Lebensrecht und in seiner Menschenwürde zu schützen. Embryonen dürfen nur zum Zweck einer Schwangerschaft bei der Frau, von der die Eizelle stammt, künstlich erzeugt werden. Eine Leihmutterschaft ist also ebenso verboten wie die Herstellung von Embryonen für Forschungszwecke. Letzteres würde den Embryo zum Objekt für andere werden lassen und damit gegen die Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG verstoßen. Es dürfen nach § 1 Abs. 1 Ziffer 3 des Embryonenschutzgesetzes auch nur drei Embryonen auf eine Frau übertragen werden.44 Das Stammzellgesetz vom 28. Juni 2002 verfolgt zwei Ziele, die durchaus in Spannung miteinander stehen. Es will einerseits den Embryonenschutz im Zusammenhang mit der Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen sicherstellen und verbietet deshalb die Einfuhr von embryonalen Stammzellen, die die Fähigkeit besitzen, sich in einem entsprechenden Nährmedium durch Zellteilung unbegrenzt zu vermehren, wovon sich die Biomedizin neue Therapiemöglichkeiten für bisher unheilbare Krankheiten verspricht. Die Herstellung solcher Zellen ist in Deutschland bereits durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Andererseits will das Stammzellgesetz die Freiheit der Forschung gewährleisten und erlaubt deshalb die Einfuhr von Stammzellen für „hochrangige Forschungsziele“, sofern diese Zellen vor dem im Gesetz festgelegten Stichtag 1. Januar 2002 hergestellt wurden. Der Stichtag soll einerseits sicherstellen, dass von deutschen Forschungsinteressen kein Anreiz ausgeht, weitere Embryonen zwecks Gewinnung von Stammzellen zu töten. Andererseits besagt er, dass die Tötung jener Embryonen, von denen die importierten Stammzellen kommen, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Der im Vergleich mit vielen anderen Ländern starke Schutz der künstlich erzeugten Embryonen in Deutschland wird immer wieder in Frage gestellt. Das Embryonenschutzgesetz wird von Reproduktionsmedizinern kritisiert, weil es die Präimplantationsdiagnostik verbietet, die es ermöglichen würde, nur jene Embryonen für den Transfer in die Gebärmutter auszuwählen, die zum einen frei von Krankheitsdispositionen sind und zum anderen die besten Chancen haben, sich einzunisten. Dadurch könnten wiederum die Risiken von Mehrlingsschwangerschaften, die bei der Assistierten Reproduktion um 44 Eine gute Übersicht über die rechtlichen Regelungen sowohl des Embryonenschutzgesetzes als auch des Stammzellgesetzes bietet Ruth Reimann, 2003, S. 224 ff.
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ein Vielfaches höher sind, als bei natürlichen Schwangerschaften, vermindert und gleichzeitig die Erfolgsquoten der künstlichen Befruchtung verbessert werden.45 Der Preis wäre die Verwerfung jener Embryonen, die Krankheitsdipositionen, das falsche Geschlecht oder geringere Einnistungschancen haben. Die Degradierung des Embryos zum Objekt des Reproduktionsmediziners wäre noch deutlicher als es bei der Assistierten Reproduktion ohnehin schon der Fall ist. Das Stammzellgesetz wird von den mit embryonalen Stammzellen forschenden Biomedizinern und Zellbiologen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Frage gestellt, weil die vor dem Stichtag hergestellten Stammzellen durch das Konservierungsmedium kontaminiert und für die Forschung deshalb nicht mehr geeignet seien. Sie fordern die Beseitigung der Stichtagsregelung.46 Der Bundestag beugte sich am 11. April 2008 den Forderungen der DFG. Er beseitigte die Stichtagsregelung zwar nicht komplett, aber er beschloss den 1. Mai 2007 als neuen Stichtag für den Import embryonaler Stammzellen. Die Kontroversen um die Forschung mit embryonalen Stammzellen haben deutlich werden lassen, dass die Assistierte Reproduktion die Quelle der Probleme ist. Die künstliche Befruchtung ist selbst für die DFG der „Rubikon“, mit dessen Überschreiten sich die Reproduktionsmedizin in das Dilemma zwischen Lebensschutz und Forschungsfreiheit gebracht habe.47 Im Kampf um die Legalisierung der Forschung mit embryonalen Stammzellen werden von den Anwälten dieser Forschung zwei zusammenhängende Argumentationslinien verfolgt. Die eine setzt den Akzent auf die „Ethik des Heilens“, die andere auf das anthropologische Argument, der Embryo in vitro sei noch kein Mensch. In der ersten Argumentationslinie wird die Forschung mit embryonalen Stammzellen angesichts der therapeutischen Verheißungen „für die Transplantationsmedizin, . . . für Parkinsonpatienten, . . . für Infarktopfer, . . . für Diabetiker und für Leukämiekranke“ geradezu zu einer „ethischen Verpflichtung“.48 Über mangelnden verfassungsrechtlichen Flankenschutz kann sich diese Position nicht beklagen. „Soweit die Stammzellforschung Heilzwecken dient, ihre Forschungsergebnisse also menschliches Leiden zu verhindern oder vermindern bestimmt sind“, lasse sich aus der Menschenwürde „allenfalls ein Gebot, niemals aber ein Verbot dieser Forschung verfassungsrechtlich rechtfertigen.“49 Begründungspflichtig ist somit nicht die Stammzellforschung, sondern ihre Unterlassung. Aus dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG und aus dem UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966, der jedem das Recht „auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ gewährleistet, wird ein Verbot abgeleitet, die Entwicklung therapeutischer Maßnahmen einzuschränken, soweit nicht „ein höheres Rechtsgut“ gefährdet ist.50 Auf den 45 Der Anteil der Mehrlingsschwangerschaften liegt bei etwa 22 Prozent, die Erfolgsquote bei etwa 15 Prozent. 46 Deutsche Forschungsgemeinschaft, Stammzellforschung in Deutschland – Möglichkeiten und Perspektiven, Stellungnahme vom Oktober 2006. 47 Deutsche Forschungsgemeinschaft, Empfehlungen zur Forschung mit menschlichen Stammzellen vom 3. Mai 2001, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Mai 2001, Ziffer 9.2 und 14. 48 So im Interview von Oliver Brüstle und Ottmar Wiestler in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Juni 2001. Vgl. auch Oliver Brüstle, 2000. 49 Jörn Ipsen, 2001, S. 996. 50 Rüdiger Wolfrum, 2001a. Vgl. auch ders., 2001b, S. 4 und die Stellungnahme im Hearing des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zum Entwurf eines Stammzellgesetzes am 11. 3. 2002, Ausschuss-Drucksache 14 – 574 f.
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nahe liegenden Einwand, dass das Leben des Embryos doch wohl ein höheres Rechtsgut sei, der Embryo also nicht der Therapie eines Dritten geopfert werden darf, antworten die Anwälte der Forschung mit embryonalen Stammzellen mit dem Argument, der Embryo in vitro sei noch kein Mensch. Erst mit der Einnistung des befruchteten Eis in die Gebärmutter beginne die Entwicklung des Menschen. In dieser Argumentation erhält die Gebärmutter einen geradezu ontologischen Status. Sie erst macht den Menschen zum Menschen. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Menschsein und damit auch das Personsein in der Tat mit der Befruchtung der Eizelle beginnt. Die Befruchtung wiederum beginnt mit dem Eindringen des Spermiums in das weibliche Ei. Sie ist nach einigen Stunden mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle abgeschlossen. Mit der Befruchtung beginnt eine kontinuierliche Entwicklung, die bis zum Tod dauert. Der Embryo entwickelt sich von der Empfängnis an „nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch“, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Abtreibungsurteil vom 28. Mai 1993 mit Recht feststellte.51 Alle in der Debatte um die embryonale Stammzellforschung präsentierten Argumente für einen anderen Beginn des menschlichen Lebens als die Empfängnis sind deshalb willkürlich, sei es die Nidation, der Beginn der Gehirntätigkeit, die Schmerzempfindlichkeit, die Diskurs- oder Kommunikationsfähigkeit, die extra-uterine Lebensfähigkeit oder die Geburt. Besonders deutlich wird diese Willkür in den unterschiedlichen Fristen, bis zu denen der Embryo in vielen Ländern keinen staatlichen bzw. rechtlichen Schutz genießt. Wenn Personsein, Menschenwürde, Zugehörigkeit zur Rechtsgemeinschaft und Schutzpflicht des Staates davon abhängen, eine bestimmte Etappe der Entwicklung abgeschlossen zu haben, muss jeder fürchten, seinen Status als Person und damit den Anspruch auf Anerkennung sowie auf staatlichen Schutz zu verlieren, wenn er eine neu definierte Zulassungshürde nicht überwindet. Der Mensch ist deshalb von der Empfängnis an Person – auch der Embryo in vitro. Er hat Würde und Würde ist Anspruch auf Achtung. „Kein Mensch (muss) sich sein Lebensrecht oder seine Menschenwürde erst durch seine Fähigkeiten oder Leistungen verdienen.“ Sie sind ihm vielmehr „mit seinem Dasein gegeben“, erklärten 14 katholische und evangelische Sozialethiker in einer gemeinsamen Erklärung 2006.52 Der Status der Person stehe und falle damit, so Robert Spaemann, „dass er nicht verliehen wird, sondern dass jede Person kraft eigenen Rechts in den Kreis der Personen eintritt“. Wenn Menschenrechte verliehen oder eingeräumt würden, „dann gibt es sie gar nicht. Denn dann ist es eine Frage der Definitionsmacht, wem diese Rechte zuerkannt werden und wem nicht“.53 Eine kritische Sichtung der Argumente Pro und Contra embryonale Stammzellforschung kann deshalb nur zu dem Ergebnis kommen, dass auch der Embryo in vitro Anspruch auf den Schutz des Staates hat.54 Die natürliche Finalität der befruchteten menschlichen Eizelle ist eine Vorgegebenheit des Rechts, die sich einer beliebigen Wer51 BVerfGE 88, 252. Schon im ersten Abtreibungsurteil vom 25. 2. 1975 stellte das Gericht fest, dass der mit der Empfängnis „begonnene Entwicklungsprozess . . . ein kontinuierlicher Vorgang (ist), der keine scharfen Einschnitte aufweist und eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen nicht zulässt“. Er sei „auch nicht mit der Geburt beendet“ (BVerfGE 39, 37). 52 Bernhard Vogel (Hrsg.), Im Zentrum: Menschenwürde. Politisches Handeln aus christlicher Verantwortung, Berlin 2006, S. 17 ff. 53 Robert Spaemann, 2001a. Vgl. auch ders., 2001b, S. 41 ff. 54 Zu diesen Argumenten Pro und Contra vgl. Manfred Spieker, 2005, S. 67 – 74.
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tung entzieht. Diese Finalität beginnt bereits im Vorkernstadium, das deshalb aus dem Schutzbereich des staatlichen Embryonenschutzes nicht ausgeklammert werden darf.55 Deshalb steht der Embryo unter dem Schutz der Menschenwürdegarantie. Die Menschenwürdegarantie verbietet jede Instrumentalisierung des Embryos. Die „Unbehaustheit“ des Embryos in vitro ist kein Argument, „um seine Entwicklungsfähigkeit in Frage zu stellen und ihn der Forschung anheim zu geben“. Deshalb habe der Embryonenschutz „ein strenges Konnexitätsverhältnis zwischen In-Vitro-Fertilisation und Einpflanzung der so erzeugten Embryonen in die Gebärmutter normiert“.56 Auch die sogenannten „überzähligen“ Embryonen, die keine Chance auf einen Transfer in eine Gebärmutter haben, dürfen deshalb nicht fremden Zwecken dienstbar gemacht werden. Die Menschenwürde gebietet, sie sterben zu lassen. Ihr „nutzloser Tod ist kein sinnloser“ Tod.57
3. Sozialethische Perspektiven
Die Assistierte Reproduktion und die embryonale Stammzellforschung werfen eine Reihe gravierender sozialethischer Probleme auf. Die Assistierte Reproduktion widerspricht einer wesentlichen Voraussetzung humaner zwischenmenschlicher Beziehungen: dem Gleichheitsprinzip. Das aus ihr hervorgehende Kind wird zwar von seinen Eltern gewünscht. Das unterscheidet es nicht von den meisten natürlich gezeugten Kindern. Aber es ist im Unterschied zu diesen nicht die Frucht eines ehelichen Liebesaktes, die zwar erhofft, aber nie gemacht werden kann, sondern das Produkt des Reproduktionsmediziners und der Gametenspender, die sich ihm anvertrauen. Es verdankt seine Entstehung einem technischen Verfügungs- und Herrschaftswissen, einer „instrumentellen Vernunft“ (Max Horkheimer), die schon Aristoteles als Poiesis deutlich von der Praxis als dem richtigen Handeln des Menschen im Hinblick auf sein höchstes Ziel unterschied. Als Produkt aber befindet sich der Mensch in einer existentiellen Abhängigkeit von denen, die ihn machen. Der Beginn seiner Existenz steht unter dem Vorbehalt des Willens der Gametenspender und des Wissens des Fortpflanzungsingenieurs. Dies gilt für jede IVF-Behandlung, also nicht nur für jene, die mit einer Präimplantationsdiagnostik verbunden wird. Diese bedingte Existenz widerspricht der Symmetrie der Beziehungen, die eine wesentliche Voraussetzung für interpersonale Beziehungen und für den egalitären Umgang von Personen ist. Sie widerspricht seiner fundamentalen Gleichheit wie auch seiner Freiheit. Sie verletzt auch das Prinzip der Gerechtigkeit, das sich in der Goldenen Regel niederschlägt, nach der jeder von den Mitmenschen anerkannt werden will, „nicht weil seine Existenz einem Wunsch oder Gefallen dieser anderen entspricht, . . . sondern . . . aufgrund seiner bloßen Existenz“.58 Die künstliche Befruchtung widerspricht deshalb nicht nur dem Gleichheitsprinzip, sondern auch der Menschenwürdegarantie, auch wenn der künstlich erzeugte Mensch zum geliebten Kind seiner Eltern wird und als Mitbürger die gleichen Rechte und Pflichten hat wie jeder andere. Die Assistierte Reproduktion zerstört Ehe und Familie. Das zeigt nicht nur die Scheidungsrate bei Ehepaaren, die sich der künstlichen Befruchtung unterziehen und die 55 56 57 58
Vgl. Mareike Klekamp, 2007. Christian Starck, 2002, S. 1067. Christian Hillgruber, 2002, S. 6 f. Martin Rhonheimer, 1993, S. 54 f.
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mehr als doppelt so hoch ist wie bei anderen Ehepaaren, sondern vor allem die Möglichkeit der anonymen und auch vielfachen Elternschaft. Das Kind kann bis zu drei Mütter und zwei Väter haben: die beiden Gametenspender, die Leihmutter für die Schwangerschaft, die „soziale“ oder Pflegemutter nach der Geburt und den Pflegevater. Die Assistierte Reproduktion verwischt die Generationenfolge, deren Kenntnis für das Kind eine Bedingung seiner Identitätsfindung ist.59 Sie macht das Kind zum Dekor seiner Eltern. Die Forschung mit embryonalen Stammzellen wirft ebenfalls eine Reihe sozialethischer Probleme auf. Sie bedient sich der künstlich erzeugten Embryonen als Rohstoff für die Gewinnung der Stammzellen bzw. die Entwicklung neuer Therapien für bisher unheilbare Krankheiten. Diesen Zugriff auf kryokonservierte, „verwaiste“ oder eigens zu Forschungszwecken hergestellte Embryonen kritisiert die Katholische Soziallehre als Instrumentalisierung des Menschen in seiner frühesten Lebensphase. Die Ethik des Heilens und das Recht auf Forschungsfreiheit haben eine gemeinsame Grenze: das Lebensrecht des Embryos bzw. das Verbot, Unschuldige zu töten. Dies ist eine Konstitutionsbedingung des Rechtsstaates. Zu den Konstitutionsbedingungen des Rechtsstaates gehört auch das Verbot der Sklaverei. Die Assistierte Reproduktion aber macht die sogenannten überzähligen Embryonen zu den Sklaven des 21. Jahrhunderts. Sie beansprucht ein Verfügungsrecht über diese Embryonen. Sie setzt damit voraus, sie könnten wie eine Sache behandelt werden, über die wie über jedes Eigentum frei verfügt werden könne. Aber weder die Eltern noch die Reproduktionsmediziner sind Eigentümer dieser Embryonen. Eigentumsansprüche können sich nur auf Sachen, nie auf Menschen beziehen, auch wenn diese noch so klein, äußerungsunfähig und hilflos sind.60 Eigentumsansprüche auf Menschen zu erheben, heißt sie versklaven. Die embryonale Stammzellforschung gehört deshalb wie die Abtreibung und die Euthanasie zu den Entwicklungen, die die Legitimität der rechtsstaatlichen Demokratie in Frage stellen. Keine Mehrheitsentscheidung kann sie rechtfertigen. Diesen Entwicklungen entgegenzutreten ist die Aufgabe der Katholischen Soziallehre und der kirchlichen Verkündigung. Der Marsch in eine posthumane Zukunft ist nicht unabwendbar. Die verbreitete Ansicht, der technische Fortschritt ließe sich nicht aufhalten oder nationale Regeln seien angesichts der Globalisierung ineffizient, nach Francis Fukuyama das größte Hindernis bei der humanen Regulierung der Biotechnologie61, ist überwindbar, wie nicht nur das italienische Beispiel einer Revision des Reproduktionsmedizingesetzes 2004 zeigt. Wer über den Rubikon der In-Vitro-Fertilisation gegangen ist, muss nicht im Reich der Präimplantationsdiagnostik, der embryonalen Stammzellforschung, des Klonens und der Zertifizierung der Zeugung weitermarschieren. Er kann auch umkehren. Die Menschenwürde und der Rechtsstaat gebieten eine solche Umkehr.
Helen Alvare, 2007. Das Embryonenschutzgesetz stellt in § 2 die „missbräuchliche Verwendung menschlicher Embryonen“ unter Strafe. Indem es sie dem Handel, der Forschung und der therapeutischen Nutzung entzieht, gibt es zu verstehen, dass sie nicht als Sache zu betrachten sind. 61 Francis Fukuyama, 2002, S. 26 und S. 260. 59 60
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Der Umgang mit kranken, behinderten und alten Menschen Von Bernd Kettern
Die soziale Kultur einer Gesellschaft lässt sich besonders in ihrem Umgang mit kranken, behinderten und alten Menschen näher bestimmen, zählen diese doch zu den schwachen Gliedern innerhalb der Gesellschaft. Zudem werden sie bisweilen auf bestimmte Merkmale reduziert, vor diesem Hintergrund auf ihre gesellschaftliche Relevanz befragt und bisweilen einseitig zu Kostenproblemen stilisiert. Es ist auffällig, dass sich – zumindest mit den Themen Krankheit und Alter – in zahlreichen Staaten erhebliche politische Reformprogramme verbinden, die teilweise explizit mit der Fragestellung verknüpft werden, wie sozial ein zukunftsfähiges Staatswesen ausgestaltet werden kann. Der Katholischen Soziallehre ist es deshalb immer wieder wichtig gewesen, den bleibenden Wert eines kranken, behinderten oder alten menschlichen Lebens ausdrücklich zu benennen und auf die ihm gleichermaßen innewohnende Würde hinzuweisen. Die angedeuteten Verkürzungen sind deshalb kritisch auf ideologische Einseitigkeiten im Menschenbild zu hinterfragen und entsprechend zu korrigieren. Bleibende Aufgabe von Politik und moderner Gesellschaft ist es, das unverkürzte Lebensrecht der betroffenen Menschen zu sichern und ihre Mitwirkung am und im Sinne des Gemeinwohles zu ermöglichen. In diesem Beitrag soll deshalb gefragt werden: Wie haben sich Lebenssituationen der betreffenden Gruppen verändert und was hat der Wandel der sozialen wie familiären Verhältnisse für Auswirkungen nach sich gezogen? Welche Herausforderungen stellen sich für die Zukunft? Die Kirche selbst wird durch dieses Thema in ihrer Glaubwürdigkeit auf die Probe gestellt. In der Nachfolge Jesu und damit im christlichen Verständnis von der Würde der menschlichen Person wurzelt das caritative Engagement der Christen für die kranken, behinderten oder alten Menschen. Als Kirche in der Nachfolge Jesu wird der caritative Einsatz zu einer zentralen Bestimmungsgröße ihrer pastoralen Sendung. Sie realisiert damit das Selbstverständnis Jesu: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben!“ (Joh 10,10). Die Kirche hat deshalb den Auftrag, den Menschen zu helfen, das Leben in seiner Ganzheit und im umfassenden Sinn zu gewinnen (Mt 19,16; Mk 10,17; Hebr 10,39)1. Die Ernsthaftigkeit dieses Prinzips beweist sich besonders in der Wahrung und Verteidigung der Rechte und Ansprüche schwacher Personen. Die Verlassenheit im Alter oder bei Krankheit, die Erfahrung von Ausgrenzung oder sozialer 1 Vgl. Die deutschen Bischöfe, Die eine Sendung und die vielen Dienste. Zum Selbstverständnis weltkirchlich orientierter Einrichtungen und Initiativen heute, Bonn 2000; H. Pompey, Die Diakonie des Glaubens, Hoffens und Liebens als Ausgangspunkt der Evangelisation, in: Lebendiges Zeugnis 61 (2006), S. 185 – 200.
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Diskriminierung zählt Papst Johannes Paul II. folgerichtig in seinem Apostolischen Schreiben „Novo millennio ineunte“2 unter anderem zu den drängenden Herausforderungen der Zeit. Die Entwicklung im Bereich der Sorge um kranke, behinderte oder alte Menschen hat je nach Themengebiet in den vergangenen Jahren tief greifende Veränderungen erfahren. Gemeinsam ist allen Bereichen das Abrücken von einem Denken, das vorrangig vom Aufbau und Bedarf der entsprechenden Hilfeinfrastruktur geprägt war (institutionenorientiert), hin zu einer deutlicheren Wahrnehmung des Subjektcharakters von betroffenen Menschen (personenorientiert).3 Gemeinsam ist allen Bereichen aber auch die Befürchtung, dass sich angesichts der Finanznöte der Sozialversicherungssysteme eine zunehmende Dominanz des Kostenaspektes ergeben könnte. Wichtige Erkenntnisse und Entwicklungen der letzten Jahre stünden damit unter dem Vorbehalt der Kassenlage. Vor dem Hintergrund beider Entwicklungen lässt sich sozialethisch die Aussage ableiten, dass gerade der Umgang mit betroffenen Menschen sehr viel aussagt über die soziale Kultur einer Gesellschaft. Wie bei anderen Themenfeldern dieses Handbuchs (z. B. Hospiz) ist es Aufgabe der katholischen Sozialethik, die christlichen Auffassungen in den gesellschaftlichen und politischen Wertediskurs aktiv einzubringen. Überzeugungskraft kann dieses Vorhaben gerade durch die enge Verzahnung mit der vielfältigen praktischen Verwirklichung in caritativen Einrichtungen der Kirche finden. Durch Rekurs auf die gelebte Praxis ambulanter und stationärer Dienste und Einrichtungen, durch Aktivierung eines breiten ehrenamtlichen Engagements im Bereich der Alten- und Behindertenhilfe sowie durch die Vielzahl von kirchlichen Initiativen bzw. Gruppen, insbesondere die in der pfarrlichen und verbandlichen Caritas organisierten, lassen sich ohne Schwierigkeit tragfähige Alternativen zu letztlich menschenverachtenden Restriktionsmodellen aufzeigen.
I. Krankheit im Wandel Krankheit ist ein zu interpretierender Begriff, seine spezifische Unschärfe kontrastiert heute mit seiner enormen gesellschaftlichen Bedeutung. Ohne Zweifel besitzen Krankheit und damit das positive Gegenstück, die Gesundheit, einen hohen Stellenwert in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Gesundheit stellte immer schon ein hohes und wünschenswertes Gut dar, heute verbinden sich jedoch mit ihr Vorstellungen der Machbarkeit oder genauer gesagt, ihrer Wiederherstellbarkeit, die die Bedeutung des Begriffes zusätzlich überhöht haben. Der rasante medizinische Fortschritt sowie die Technisierung der Behandlungsmethoden, vor allem in den Krankenhäusern, aber auch die Einsparbemühungen zur Sicherung der finanziellen Tragfähigkeit der Krankenversicherungssysteme bergen die Gefahr in sich, den Kranken nur noch als Objekt und nicht mehr als Subjekt zu sehen. In diesen Kontext gehört auch die Entwicklung des Gesundheitssektors zum volkswirtschaftlich bedeutsamsten weil umfangreichsten Teilsektor des Wirtschaftslebens, sein politisch gewolltes Umgestalten zu einem marktkonformen Austarieren von Angebot und NachVgl. Nr. 50 f., in: AAS 93 (2001), S. 303 f. Vgl. der bahnbrechende Ansatz der Psychiatrie-Enquete 1975: H. Schott / R. Tölle, Geschichte der Psychiatrie, München 2006, S. 312 – 319. 2 3
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frage. Gesundheit wird gleichsam zur herstellbaren Ware, die man sich leisten oder nicht leisten kann. Ethisch zumindest fragwürdig sind dann Überlegungen von Gesundheitsökonomen, das Kostenproblem u. a. durch eine Kontingentierung von Leistungen in den Griff zu bekommen – haben sie doch oft ganz spezielle Bevölkerungsgruppen im Blick. Hier kann nicht aufgezeigt werden, dass hinter diesen Entwicklungen der Versuch einer Anpassung des Menschenbildes an das vorherrschende moderne Weltbild steht, in dem die conditio humana, die früher als eine fundamental tragische verstanden wurde, durch eine conditio technogena ersetzt wird. Kritische Stimmen sehen hier die traditionelle Notwendigkeit, eine kulturell bestimmte „Kunst“ des Lebens, Leidens und Sterbens entwickeln zu müssen, in Gefahr. Man befürchtet, dass sie durch eine bio- und psychologische Verwaltung ersetzt wird, bei der die Menschen an eine technisch hervorgebrachte und verwaltete Welt lebenslänglich angepasst werden.4 Im stationären Bereich konzentriert sich der Blick auf das Krankenhaus als dem bei weitem umfangreichsten Sektor. Krankenhäuser, und hier besonders katholische Krankenhäuser, müssen heute überzeugende Reaktionen auf diese problematische Entwicklung finden. Die Dominanz der wissenschaftlichen Medizin sah im Patienten vorwiegend den organisch kranken Menschen. Entsprechend wurde die betriebliche Organisation des Krankenhauses ausgerichtet. Eine optimale Krankenhausstruktur wurde gleichgesetzt mit differenzierter Fachspezialisierung, apparativem Höchststand und technisch einwandfrei abgestimmten Teilfunktionen. Die Krankenpflege mit ihrer Aufgabe der Befriedigung von spezifischen Grundbedürfnissen der Patienten verlor ihre Eigenfunktion und wurde zum Ausführungsorgan der ärztlichen Anordnungen. Zudem wurde sie Gegenstand von Einsparungen. Der Personalabbau im stationären Bereich stellt in dieser Hinsicht immer noch ein großes Problem dar. Gerade im kirchlichen Bereich sind jedoch sowohl im stationären wie ambulanten Bereich Gegenbewegungen eingeleitet worden. Zahlreiche Leitbildprozesse wurden erfolgreich gestaltet, man kann sogar von der Wiederentdeckung der Spiritualität in diesen Einrichtungen sprechen.5 Den Qualitätsanforderungen hat man sich aktiv gestellt und sucht in diesem Kontext bewusst die Transparenz nach innen und außen, indem Zertifizierungsprozesse begonnen wurden. Ziel all dieser Bemühungen muss es sein, insbesondere kirchliche Träger nicht auf die Rolle einer betriebswirtschaftlichen Umsetzungsinstanz staatlicher Politik zu reduzieren. Im Bereich der ambulanten Pflege haben die Einführung der Pflegeversicherung sowie immer deutlicher werdende gesellschaftliche Entwicklungen in den letzten Jahren ihre Spuren hinterlassen. Einerseits findet sich hier eine erhebliche Ausweitung des Beschäftigungssektors, die begleitet ist von einer fachlichen Professionalisierung der Pflegedienste, andererseits werden in diesem Bereich die Auswirkungen der demographischen Veränderungen bereits deutlich und teilweise schmerzlich spürbar (das Weg4 Vgl. z. B. B. Duden / B. Zimmermann, Aspekte des Wandels des Verständnisses von Gesundheit / Krankheit / Behinderung als Folge der modernen Medizin. Einleitung und Schlussfolgerungen eines Gutachtens für die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, in: A. T. May / C. Söling (Hrsg.), Gesundheit, Krankheit, Behinderung. Gottgewollt, naturgegeben, gesellschaftlich bedingt? Paderborn 2006, S. 25 – 38, hier: S. 32. Zur religiösen Deutung von Krankheit vgl. E. Schockenhoff, Ethik des Lebens, Mainz 1993, S. 268 – 286. 5 Vgl. z. B. Sr. E. M. Magar, Christliches Profil macht zukunftsfähig, in: neue caritas 108 (2007), Heft 1, S. 9 – 14.
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brechen familiärer Unterstützungsstrukturen, die Vereinsamungsproblematik). Im Sinne eines werteorientierten Ansatzes versuchen deshalb seit geraumer Zeit kirchlich-caritative Dienste, den Einsatz für den erkrankten Nächsten bewusst werbend zu thematisieren. In dieser Hinsicht stimmen die jüngsten Erfahrungen zur Aktivierung eines breiten ehrenamtlichen Engagements in den Bereichen der Betreuung demenzerkrankter Menschen bzw. der Hospizarbeit zuversichtlich. Die Katholische Soziallehre sollte im Dickicht der aktuellen Reformbemühungen an die zentralen Gerechtigkeitserfordernisse erinnern. Der moderne Mensch braucht bei Erkrankung das Erleben von gelebter Solidarität und menschlicher Nähe. Um sein Leben jenseits eines falschen Machbarkeitswahnes mit den natürlichen Limitationen annehmen zu können, darf er sich nicht ausgeschlossen oder kontingentiert fühlen. Es ist Aufgabe des Staates, hier für geeignete Rahmenbedingungen Sorge zu tragen.
II. Menschen mit Behinderungen Das Sozialgesetzbuch (SGB) IX orientiert sich an der 2001 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Kraft gesetzten Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Vorherige Definitionen gingen von einer Behinderung aus, wenn eine Schädigung vorliege, die mit Fähigkeitsstörungen verbunden sei und zu einer Beeinträchtigung der allgemeinen Lebensführung führe. Internationale Verbände behinderter Menschen kritisierten das zugrunde liegende Menschenbild als vorrangig von Defiziten geprägt und die vorhandenen Fähigkeiten eines behinderten Menschen ausblendend. Entsprechend gilt heute in Deutschland die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben der Gesellschaft als ein wesentliches Kriterium einer Behinderung, wenn sie in Verbindung mit körperlichen Funktionen, geistigen Fähigkeiten oder der seelischen Gesundheit steht. Behinderte waren lange in unwürdiger, ja oft grausamer Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt.6 Eugenik und Nationalsozialismus versuchten gar ein Leben mit Behinderungen als schädlich und damit als „auszumerzen“ zu definieren. Es war ein langer und für die Betroffenen wie für ihre Angehörigen schmerzlicher Weg zur Erkenntnis, dass „der Umgang mit diesen Menschen ein Gradmesser für die Humanität unserer Gesellschaft“ ist.7 Immer noch sehen viele zunächst die mit einer Behinderung verbundenen Beeinträchtigungen und damit vielfach unbewusst behindertes Leben als eine Minusvariante des „normalen“ Lebens. In den fünfziger Jahren ergaben sich erste Verbesserungen für das Leben von Menschen mit Behinderungen. Die Verbände der Kriegsversehrten machten auf die Nöte ihrer Mitglieder aufmerksam, 1954 wurde gesetzlich die Pflicht des Staates verankert, für die Betreuung von Menschen mit Behinderungen zu sorgen. Das folgende Jahrzehnt brachte dann die Entwicklung der zivilen Behindertenverbände, z. B. sind die Lebenshilfevereinigungen aus Zusammenschlüssen von betroffenen Eltern hervorgegangen. Ab 1968 entstanden erste Selbsthilfegruppen von Menschen mit Behinderungen. Sechs Vgl. K. E. Müller, Der Krüppel. Ethnologia passionis humanae, München 1996. Vgl. Erklärung des Deutschen Caritasverbandes vom 24. 4. 1991: „Würde des menschlichen Lebens“, in: caritas ’92 (1991), Heft 8, S. 380 – 382. 6 7
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Jahre später wurde die Version des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) formuliert, die – ergänzt durch zahlreiche Erweiterungen – bis zum Inkrafttreten des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (2001) Gültigkeit behielt. 2008 wird ein weiterer wichtiger Entwicklungsschritt vollzogen: Erstmals wird ein allgemeiner Rechtsanspruch auf ein sogenanntes trägerübergreifendes persönliches Budget bestehen, der dem Betroffenen und seinen Angehörigen weitergehende Selbstbestimmungsrechte ermöglichen soll. Gegenwärtig erscheint der Begriff der Teilhabe zentral. Um Teilhabe zu ermöglichen, werden Rehabilitationsleistungen entwickelt. Rehabilitation wird dabei als umfassender Begriff beruflich, medizinisch, pädagogisch und sozial verstanden. Die Hilfen orientieren sich an den Bedürfnissen der Lebensführung und der Eingliederung. Leistungen werden nach dem Bedarfsprinzip und individuell zugeteilt. Menschen mit Behinderungen, aber auch z. B. ihre Arbeitgeber haben bei Vorliegen bestimmter Kriterien Anspruch auf Nachteilsausgleich. Dafür werden dann Finanzmittel aus der sogenannten Ausgleichsabgabe eingesetzt. Grundsätzlich gilt der Vorrang der ambulanten Betreuung vor der stationären, sie soll zudem wohnortnah erfolgen. Zur Zeit entwickeln sich die Hilfen vorrangig unter dem Paradigma des selbstbestimmten Lebens weiter. Seit 1998 werden in Deutschland Modellversuche zur persönlichen Assistenz durchgeführt. Auch stark unterstützungsbedürftigen Menschen mit Behinderungen soll das Leben außerhalb von stationären Einrichtungen ermöglicht werden. Die Selbsthilfegruppen haben sich zunehmend nach dem Vorbild der amerikanischen Independent-Living-Bewegung organisiert, sie arbeiten in Netzwerken zusammen. Sorge bereitet den öffentlichen Kostenträgern die Entwicklung des Hilfebedarfes. Ein im Dezember 2006 vorgelegter Bericht der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe errechnet für die Zeit von 2000 bis 2010 Steigerungsquoten der Plätze im Bereich der stationären Wohneinrichtungen von 21,3 % (von 160.000 auf 199.000), im Bereich des ambulant betreuten Wohnens von 108,6 % (von 38.400 auf 80.100) und im Bereich der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen von 39,4 % (von 176.400 auf 245.900).8 Im Rahmen der Eingliederungshilfe gewinnt der ambulante Bereich immer mehr an Bedeutung, aber auch diese Unterstützungsformen benötigen erhebliche Finanzmittel. Erschrocken nimmt man zur Kenntnis, dass bereits öffentlich Ergebnisse biomedizinischer Forschungen als Instrumente bevölkerungs- bzw. gesellschaftspolitischer Zieloptionen eingesetzt werden. Im März 2003 wurde in Dänemark in aller Offenheit das Einsparpotential der Einführung eines Scanningprogramms für alle Schwangeren in der Hauptstadtregion im Hinblick auf die Vermeidung der Geburt von am Down-Syndrom beeinträchtigten Menschen diskutiert.9 Die Aussagen der Katholischen Soziallehre stehen im krassen Widerspruch zu solchen Kosten-Nutzen-Rechnungen. Menschen mit Behinderungen sind in vollem Sinn menschliche Subjekte und Inhaber von Rechten und Pflichten. Sie machen „gerade angesichts der dem Körper und seinen Fähigkeiten auferlegten Behinderungen und Leiden 8 BAG Überörtliche Sozialhilfe, Entwicklung der Fallzahlen in der Eingliederungshilfe. Auswertung einer Erhebung der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, Münster Dezember 2006 (www. bagues.de). 9 Kritisch setzt sich A. Lob-Hüdepohl mit diesem und anderen aktuellen Vorgängen auseinander: Biopolitik und die soziale Inszenierung von Behinderung, in: K. Hilpert / D. Mieth (Hrsg.), Kriterien biomedizinischer Ethik. Theologische Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs, Freiburg 2006, S. 234 – 254, hier: S. 234.
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die Würde und Größe des Menschen besonders sichtbar“.10 Ihnen gelte es zu „helfen, ihre Stellung und ihre Würde zu verteidigen in einer durch Wettbewerb und Erfolgsstreben geradezu unmenschlich gewordenen Gesellschaft“11. Die soziale Integration von Menschen mit Behinderungen, wie sie gegenwärtig in gutem Sinne entwickelt und vorangetrieben worden ist, darf angesichts der Kostenentwicklung nicht wieder rückgängig gemacht werden. Selbstverständlich ist der effiziente Einsatz der erforderlichen Gelder zu prüfen. Neue, vernetzte Formen von Unterstützung und Betreuung können hier hilfreich und sinnvoll sein. Auch sie müssen jedoch so angelegt sein, dass sie den Betroffenen das Gefühl vermitteln, tatsächlich in die Gesellschaft eingegliedert zu sein. Nicht zuletzt die Teilhabe am Arbeitsleben hat deshalb in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Es ist auffällig, dass die Katholische Soziallehre in dieser Hinsicht Akzente setzt. In „Laborem exercens“ heißt es: „Der Behinderte ist personales Subjekt mit allen Rechten eines solchen, darum muss ihm die Teilnahme am Leben der Gesellschaft in allen Bereichen und auf allen ihm angesichts seiner Fähigkeiten erreichbaren Stufen ermöglicht werden. Der Behinderte ist einer von uns und teilt voll und ganz unsere Menschennatur. Es wäre des Menschen von Grund aus unwürdig und eine Verleugnung der gemeinsamen Menschennatur, wollte man zum Leben der Gesellschaft und so auch zur Arbeit nur voll Leistungsfähige zulassen, denn damit verfiele man in eine schwere Form von Diskriminierung, nämlich Aufteilung in Starke und Gesunde auf der einen und in Schwache und Kranke auf der anderen Seite. Auch hier muss die Arbeit im objektiven Sinn der Würde des Menschen untergeordnet werden, das ist dem Subjekt der Arbeit und nicht dem wirtschaftlichen Ertrag.“12 Alle gesellschaftlichen Gruppen sind bei der Ausgestaltung und Lösung dieser Aufgabe gefordert, einschließlich der Betroffenen selbst. Zu solchen Möglichkeiten treten neben die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen zunehmend die sogenannten Integrationsbetriebe. Eine große Herausforderung wird das Thema Alter im Bereich der Eingliederungshilfe sein. Hier stellen sich ähnliche Fragen wie sie im nächsten Abschnitt formuliert werden. Die Katholische Soziallehre ist im Zusammenwirken mit den kirchlichen Organisationen gefordert, tragfähige und werteorientierte Lösungen zu entwickeln.
III. Das Alter zwischen Kostenproblem und neuentdeckter Lebensphase Noch nie war Altern von einer solchen Varianz an Chancen und Risiken geprägt. Die Menschen werden heute immer älter, die Zahl älterer Menschen wächst, und ihnen stehen, sofern der gesundheitliche Zustand und die finanziellen Mittel es zulassen, immer mehr Möglichkeiten zur erfüllten Gestaltung dieses Lebensabschnittes zur Verfügung. Eigentlich wäre diese Entwicklung positiv im Sinne eines soziokulturellen Fortschrittes zu werten, wenn im Kontext nicht stets irritierende Nachrichten mitgesendet würden. Sie sprechen in der Regel von den mit dem Altern verbundenen Defiziten, seien es die biologisch bedingten Faktoren, seien es die infolge der demographischen Schieflage auf10 11 12
Johannes Paul II., Laborem exercens, Nr. 22, in: AAS 73 (1981), S. 634. Paul VI., Octogesima adveniens, Nr. 15, in: AAS 63 (1971), S. 412 f. Vgl. Johannes Paul II., Laborem exercens, Nr. 22, in: AAS 73 (1981), S. 634.
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tretenden finanziellen Belastungen für die Sozialkassen. Der gesellschaftliche Spannungsbogen ist beträchtlich: Einerseits werden ältere Menschen immer mehr als Werbeträger und damit als interessante Marktteilnehmer mit eigenständigen Bedürfnissen entdeckt – z. B. ist die Angebotsfülle bei den jüngst entstandenen Seniorenfachmessen erstaunlich –, andererseits mehren sich die Propheten, die angesichts der Kostenexplosion im Gesundheits- und Pflegewesen die Unbezahlbarkeit des Systems vorhersagen. Bisweilen wird das Schreckgespenst einer lebensalterbedingten und vor allem lebensalterbemessenen Kontingentierung von Leistungen gezeichnet. In einer Phase der zunehmenden Emotionalisierung der Diskussion ist es sozialethisch betrachtet wichtig, zwei wesentliche Aufgabenstellungen in Zukunft auf der Basis eines breiten gesellschaftlichen Konsenses zu lösen. Die Reform des Rentenversicherungssystems mit einer Kombination aus solidar-finanzierten Grundsicherungselementen und privaten Zusatzelementen muss in absehbarer Zeit gelingen; die soziale Integration von älteren Menschen ist gleichfalls längerfristig sicherzustellen. Im modernen Hochhausblock einer anonymen Großstadt, die überwiegend von Singles bewohnt wird, wird sonst das Alter zu einer bedrückenden Belastung. Das Alter wird in der Katholischen Soziallehre meist im Kontext des Themas Familie angesprochen. Familiärer Zusammenhalt, wie er sich aus der Liebe in ihrer gemeinschaftsbildenden Kraft ergibt, wird hier konkret in seiner Ausprägung als aufmerksame Fürsorge für ältere Menschen gezeigt. Die Anwesenheit Älterer bereichert die Familie. Die Verbundenheit zwischen den Generationen wird zur Quelle des Wohlergehens der Familie selbst wie der gesamten Gesellschaft: „Nicht nur können sie (die älteren Menschen [B. K.]) für die Tatsache Zeugnis geben, dass gewisse Aspekte des Lebens, wie menschliche und kulturelle, moralische und soziale Werte, nicht nach wirtschaftlichen oder funktionalen Kriterien gemessen werden; ebenso sind sie in der Lage, einen konkreten Beitrag im Bereich der Arbeit und als Verantwortungsträger zu leisten. Schließlich geht es nicht allein darum, etwas für die alten Menschen zu tun, es gilt vielmehr, diese Personen auf konkrete Weise auch als verantwortliche Mitarbeiter, als Förderer von Projekten, zu akzeptieren, an denen sie sowohl in der Phase der Planung als auch des Dialogs und der Durchführung teilnehmen“ 13. Ältere Menschen sind nicht einseitig von ihrem Pflegebedarf her zu definieren – er ergibt sich meist erst in den letzten drei Lebensjahren. Die Folge wäre erneut ein von vermeintlichen Defiziten geprägtes Menschenbild, das letztlich auf eine Schreckensvision des Alterns selbst hinausliefe. Es gibt tatsächlich oft eine Traurigkeit des Alterns oder das Gefühl der scheinbaren Vergeblichkeit des Lebens. Teilweise empfinden ältere Menschen eine schmähliche Entwertung des Daseins, gerade angesichts des Bewusstwerdens der Unvermeidlichkeit des Todes. Solche Einstellungen begegnen jedoch vor allem bei Menschen, die im Alter alleine stehen, deren familiäre Unterstützungsstrukturen als Folge der modernen Mobilität im Auflösen begriffen sind. Hier andere Lebenschancen zu eröffnen gehört zu den wichtigen Aufgaben von Politik und Gesellschaft.
13 Johannes Paul II., Botschaft zur Zweiten Weltversammlung über das Altern (3. April 2002), in: AAS 94 (2002), S. 582; vgl. ders., Familiaris consortio, Nr. 27, in: AAS 74 (1982), S. 113 f.
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Menschenwürdiges Sterben und Hospizbewegung Von Clemens Breuer
„Viele sterben zu spät, und einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: ,stirb zur rechten Zeit!‘“1 Diese Aussage von Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), die er vor 120 Jahren machte, wird uns in Bezug auf den späten Todeszeitpunkt als Anmaßung erscheinen und uns abstoßen. Doch wissen wir alle, dass in einer Zeit, in der die Medizin in vielfältiger Art und Weise lebensverlängernde Maßnahmen ergreifen kann, die Versuchung groß erscheint, es vielleicht nicht auszusprechen aber eventuell zu denken, dass jemand „spät“ stirbt. Der Trend ist eindeutig: Die Menschen in unserer Zeit leben im Durchschnitt deutlich länger. Gegenwärtig liegt die Lebenserwartung in der Bundesrepublik Deutschland im Durchschnitt bei Männern bei 76,21 Jahren und bei Frauen bei 81,78 Jahren. Eine weitere Zunahme der Lebenserwartung um vier bis fünf Jahre bei beiden Geschlechtern bis zum Jahr 2050 wird als realistisch prognostiziert. Eine steigende Lebenserwartung bedeutet jedoch, dass auch das Risiko zunimmt, im Alter an Siechtum zu leiden. Grundsätzlich sind die medizinischen Fortschritte und die veränderten sozialen Bedingungen zu nennen, die beispiellos in der Geschichte der Menschheit sind. Die in früheren Jahrhunderten anzutreffende Großfamilie, bei der häufig drei oder gar vier Generationen nahe beieinander lebten, ist seit einigen Jahrzehnten kaum mehr existent. Nicht nur die räumliche Trennung der Generationen, sondern auch die damit einhergehende Singularisierung innerhalb der Generationen (Ehescheidung, Ein-Kind-Familie) bringen es mit sich, dass Angehörige in vielen Fällen die Betreuung und Pflege von alten, kranken und behinderten Menschen nicht übernehmen können oder aber nicht wollen. Während noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 80 Prozent aller Menschen zu Hause starben, wo sie von Angehörigen umfassend – in seelischer, sozialer und religiöser Hinsicht – gepflegt und betreut wurden, stirbt heute der größte Teil aller Menschen in der fremden Umgebung eines Krankenhauses oder Pflegeheimes. In der Bundesrepublik Deutschland erfüllt sich nur noch für weniger als 20 Prozent der Deutschen die Sehnsucht, in der gewohnten Lebenswelt den letzten Schritt tun zu können. In Ballungszentren sterben sogar bis zu 90 Prozent aller Menschen in einem Krankenhaus oder Pflegeheim. Diese Verschiebung ist kaum verwunderlich, wenn man bedenkt, dass bereits im Jahre 1989 35,3 Prozent der Haushalte in Deutschland Einpersonenhaushalte waren, wobei es sich überwiegend um allein stehende ältere Menschen handelte. Zwar übersteigt die in Krankenhäusern und Alten- und Pflegeheimen den Menschen zukommende medizinische Betreuung in der Regel den Intensitätsgrad im Vergleich zu 1 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen, Frankfurt a. M. 1982, S. 74.
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früheren Zeiten um ein mehrfaches und in vielen Fällen stabilisiert sich der körperliche Zustand bettlägeriger Menschen; doch ist das Krankenhaus nach seinem eigenen Selbstverständnis nicht dazu da, bettlägerige Personen umfassend bis zum Tod zu pflegen. Es ist zwar unvermeidlich, dass viele Menschen im Krankenhaus sterben, aber im Prinzip ist das Krankenhaus nicht für das Sterben konzipiert. Im Gegenteil: Es erschwert in nicht wenigen Fällen das Akzeptieren und Erkennen des Zeitpunktes, von dem an nichts mehr gegen die Krankheit getan werden kann.
I. Die Hospizidee Die überwiegend naturwissenschaftlich-positivistische Entwicklung der Medizin hat die Verdrängung des Todes in den vergangenen Jahrzehnten gefördert. Aus diesem Grunde liegt es nahe, Ausschau nach „alternativen“ Lebenseinstellungen zu halten. Hierbei wird der Blick unwillkürlich auf palliativmedizinische Maßnahmen gelenkt, die sich an der Idee des Hospizes ausrichten und eine jahrhundertealte Tradition aufgreifen, die ohne das christliche Gedankengut nicht gedacht werden kann. Die in der heidnischen Antike vielfach praktizierte – wenn auch nicht unumstritten vorgetragene – Gleichsetzung von körperlicher Vollkommenheit und moralischer Rechtschaffenheit führte in vielen Fällen zu eine Ächtung von hässlichen und kranken Menschen. „Die Tatsache, dass man im Altertum keine öffentliche Fürsorge für Behinderte kannte, verdammte diese in der Regel, sofern sie nicht den Schutz einer Familie genossen, zu Bettelei und Ausgestoßensein.“2 Im Alten Rom wurde besonders der assistierte Suizid propagiert. Euthanasia, „gutes Sterben“, bedeutet hier ein Ende nach eigenem Willen und vorsätzlicher Planung. Mit dem Eintritt des Christentums in die Geschichte fand ein deutlicher Gesinnungswandel statt. Die von Jesus verkündete Botschaft vom Gottesreich wurde besonders den in geistiger, aber auch materieller Hinsicht Armen zugesagt. Die tätige Hinwendung zu den Armen und von der Gesellschaft Ausgestoßenen wurde in Ableitung zu der gütigen Hinwendung Gottes zur Menschheit gesehen und propagiert. Spätestens seit dem Mailänder Toleranzedikt (313) gab es christliche Institutionen zur Betreuung Hilfsbedürftiger. „Die durch das Konzil von Nizäa (325) in jeder Diözese vorgeschriebenen Hospize (Xenodocheia) wurden zu ,Keimstätten des Hospitalwesens christlicher Prägung‘“.3 Als Prototyp galt das vom Kirchenvater Basilius von Caesarea in Kappadokien um 372 errichtete Hospiz für Aussätzige. Die Gründung des ersten westlichen Klosters in Montecassino im Jahr 529 durch Benedikt von Nursia hat das Selbstverständnis der Medizin nachhaltig beeinflusst. Die Aufnahme und Pflege von bedürftigen Menschen, die von außen die Klöster aufsuchten, wurde richtungweisend für die weiteren Jahrhunderte. Durch die Gründung des Johanniter-Ordens im 11. Jahrhundert entstanden entlang der Kreuzfahrerrouten zahlreiche Hospize, wobei es in den Klöstern als Ideal angesehen wurde, wenn Arzt und Kleriker in einer Person vereint waren. „Der ideale Arzt rettet so Körper und Seele.“4 2 3 4
Bergdolt, S. 40. Ebd., S. 73. Ebd., S. 77.
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Mit dem Hospizwesen im Mittelalter war auf das Engste die „ars moriendi“, die Kunst des Sterbens, verbunden. Sie galt als „gottwohlgefälliges Sterben“ und die Kirche unterstützte die Menschen bei ihren Bemühungen um eine entsprechende Vorbereitung auf den Tod. Ursprünglich als pastorale Handreichung für jene Priester gedacht, die am Sterbebett saßen, entstanden Anleitungen für die Kunst des heilsamen Sterbens (z. B. von Anselm von Canterbury und Bernhard von Clairvaux). Als die Pest die Zahl der Priester dahinraffte, wurden die Texte aus dem Lateinischen in die Volkssprache übersetzt, so dass auch das Volk Hilfen besaß, um den Sterbenden beistehen zu können. Am Ende des 19. Jahrhunderts haben sich in England Initiativen auf religiöser, karitativer und privater Basis gebildet, die Heime für unheilbar Kranke bereitstellten. 5 Im Jahre 1906 gründeten englische Caritasschwestern das St. Joseph’s Hospiz im Osten von London, das bis zum heutigen Tag erfolgreich arbeitet. Als eigentliche Begründerin der modernen Hospiz-Bewegung wird Cicely Saunders angesehen6, der wir es verdanken, dass Sterbende in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zunehmend den ihnen gebührenden Platz unter den Lebenden bekamen. Die Sterbenden wurden umsorgt und gepflegt mit der Kompetenz, der Zuwendung und Achtung, die ihre Würde verlangte und die sie als Individuen verdienten. II. Der Dienst am sterbenden Menschen Wenn wir die Hospizinitiativen im Ganzen betrachten, so können wir sagen, dass sie eine ideale Ergänzung zum herkömmlichen Krankenhaus darstellen. Umfragen haben ergeben, dass eine überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung Wert darauf legt, zu Hause bzw. in einer vertrauten Umgebung zu sterben. In unserem modernen Verständnis steht „Hospiz“ im weitesten Sinne für eine Bewegung und Idee, die es sich zur Aufgabe macht, Menschen in ihrer letzten Phase einer unheilbaren Erkrankung zu unterstützen und zu pflegen. Im engeren Sinne versteht man unter Hospiz die stationäre Unterbringung und Betreuung unheilbar Kranker in einem Gebäude mit eigener Infrastruktur. Im Wesentlichen werden bei den Hospiz-Diensten fünf Grundelemente genannt, die sie von ähnlichen Angeboten unterscheiden und das Eigentliche der Hospizidee aussagen:7 (1) Der sterbende Mensch und seine Angehörigen sind gemeinsame Adressaten des Hospizdienstes, weswegen die Wünsche des sterbenden Menschen und seiner Angehörigen im Mittelpunkt stehen. (2) Die Betroffenen werden durch ein interdisziplinär arbeitendes Team von Fachleuten unterstützt. Diesem Team gehören mindestens ein Arzt, Krankenschwestern, Sozialarbeiter und ein Seelsorger an, die sich auch untereinander gut verstehen. Die Hospizbewegung wird in Deutschland von mehreren 10.000 ehrenamtlichen Helfern unterstützt. 5 Vgl. Markus von Lutterotti, Sterbebegleitung als Aufgabe des Arztes, in: Johann-Christoph Student (Hrsg.), Das Hospiz-Buch, Freiburg i. Br. 41999, S. 50. 6 Vgl. Reinhold Iblacker, Wie haben Sie das gemacht, Dr. Saunders? Die Gründerin der Hospizbewegung, in: Anzeiger für die Seelsorge 5 / 1996, S. 240. 7 Vgl. Johann-Christoph Student, Was ist ein Hospiz?, in: ders. (Hrsg.), Das Hospiz-Buch, Freiburg i. Br. 41999, S. 24 – 25.
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(3) Freiwillige Helfer werden in den Hospiz-Dienst einbezogen und stellen einen wichtigen Bestandteil dar. Sie gelten nicht als „Lückenbüßer“, sondern versehen ihre eigenständigen Dienste. (4) Das Hospiz-Team verfügt über spezielle Kenntnisse und Erfahrungen in der palliativen (lindernden) Therapie. Da quälende Schmerzen zu den häufigsten Ursachen für Selbsttötungsabsichten gehören, liegt hier ein besonderer Schwerpunkt. (5) Hospize gewähren Kontinuität der Betreuung auch für die Angehörigen über den Tod hinaus. Die Sterbebegleitung im Hospiz dient der Vorbeugung von aktiver Sterbehilfe. Die Begleiter sind darum bemüht, Lebensqualität schmerztherapeutisch, psychosozial und spirituell bis zuletzt zu sichern, auch wenn es ein Leben zum Tode hin ist.8 Der Hospizidee gemäß sollen ambulante Dienste nach Möglichkeit im Vordergrund stehen und in Anspruch genommen werden. Erst wenn eine häusliche Betreuung Schwerstkranker und Sterbender nicht – oder nicht mehr – möglich ist, sollen stationäre Hospize in Erwägung gezogen werden.
III. Die Bedeutung der Palliativmedizin Gemäß der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der 1994 gegründeten „Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin“ ist Palliativmedizin die Behandlung von Patienten mit einer nicht heilbaren und weit fortgeschrittenen Erkrankung sowie begrenzter Lebenserwartung, für die das Hauptziel der Begleitung die Lebensqualität ist.9 Mit Lebensqualität ist hier ein möglichst schmerzfreies Leben gemeint, da die Menschen in den meisten Fällen Angst vor großen Schmerzen haben. In jüngster Zeit ist besonders darauf hingewiesen worden, dass Palliativmedizin weit mehr ist, als eine „humanistisch angereicherte“ Schmerztherapie: Palliativmedizin ist eine „Betreuung für die letzte Lebensphase und nicht nur in der letzten Lebensphase ( . . . ) Palliativmedizin beginnt schon bei der Mitteilung der Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung.“10 Aus diesem Grunde „hat die psychosoziale und spirituelle Begleitung der Patienten eine mindestens ebenso große Bedeutung wie die medizinische Symptomkontrolle.“11 Für die Palliativmedizin ist charakteristisch, dass sie sich bemüht, die Hospizidee in die Schulmedizin zu integrieren. In Deutschland geschah diese Integration erstmals Anfang der 80er Jahre in Form einer Palliativstation. Sie ist – neben dem Hospiz – eine weitere Umsetzung der Hospizidee im stationären Bereich. Sie ist entweder in ein Krankenhaus integriert oder diesem angegliedert. Wurden 2002 in Deutschland 74 Palliativstationen gezählt, so waren es zu Beginn 2006 bereits 104.12 Im Jahr 2006 betrug die Anzahl an stationären Hospizen 144, von 8 Vgl. Johannes Horlemann, Ganzheitliche Schmerztherapie in der Hospizbewegung Deutschlands, Stuttgart 2002, S. 19. 9 Vgl. Husebø / Klaschik, S. 2. 10 Gian Domenico Borasio / Matthias Volkenandt, Palliativmedizin – weit mehr als nur Schmerztherapie, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 52 (2006), S. 215. 11 Ebd.
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denen ein Großteil zum Caritasverband und zur Diakonie gehören. Hinzu kommen nach Schätzungen über 1.000 ambulante Hospiz-Initiativen. Der Anteil der hospizlichen Versorgung an der Begleitung Sterbender in Deutschland betrug zu Beginn 2006 4,3 Prozent, der Palliativ-Care-Versorgung 2,3 Prozent. Ein grundsätzliches Problem ist, dass die Palliativmedizin bis heute nicht als Pflichtlehr- und Prüfungsfach in das Medizinstudium integriert ist. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin hat aus diesem Grunde die Aufnahme der Palliativmedizin als Weiterbildungsinhalt in den Gebieten, in denen schwerkranke und sterbende Patienten betreut werden, sowie die Aufnahme der Palliativmedizin als eigenständige Zusatzweiterbildung gefordert. Inzwischen gibt es von zahlreichen Ärztekammern angebotene Weiterbildungskurse zur Erlangung des Zertifikats „Palliative Care Grundkurs“. Allerdings: Therapeutischer Übereifer auf der einen Seite und aktive Sterbehilfe auf der anderen wollen die Begegnung mit dem Tod verhindern. Jeder Mensch hat das Recht, in Würde zu sterben. „Die Änderung des Therapieziels von kurativ zu palliativ muss ( . . . ) immer individuell erarbeitet werden und darf nicht von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig sein.“13 IV. Sterbebegleitung Der beste Sterbebegleiter ist nicht in erster Linie der kluge Ratgeber, der studierte Fachmann, sondern es ist zunächst jemand, der geduldig mitgeht und zuhören kann. Weltweit bekannt geworden in diesem Sinne ist das karitative Engagement der albanischen Ordensfrau Mutter Teresa und das von ihr gegründete „Haus der Sterbenden“ in Kalkutta (Indien), dessen Bestimmung darin besteht, die Ärmsten der Armen beim Sterben zu begleiten. Weil der Tod zum Ganzen des Lebens gehört, kann er nur von einem Lebensentwurf her Sinn erhalten, der auf das ganze Leben zielt. Viele Untersuchungen haben ergeben, dass Sterbende nie ohne Hoffnung sind, insbesondere wenn ihre Begleiter nicht vor der eigenen Ohnmacht davonlaufen. Christen lernen, gerade in Stunden der Anfechtung an Gott festzuhalten, wodurch sie Kraft, Geborgenheit und Sicherheit erhalten. Doch wie das Ausatmen zum Einatmen gehört, so ist das Loslassen ebenso notwendig für den Glauben wie das Sich-Festhalten an Gott. Der gläubige Mensch sieht sein irdisches Leben als eine ihm von Gott her zugedachte Zeitspanne, die er am Ende seines Lebens zurückgibt. Das Gebet kann hierbei eine Hilfe zur Bewältigung der Ohnmacht werden, wenn der Betreuer mit dem Erleben des Sterbenden mitgeht. Nach dem biblischen Zeugnis will Jesus Christus selbst im Sakrament der Krankensalbung dem Menschen in seiner bedrückenden Lebenssituation im tiefsten Sinne des Wortes begegnen. Das eigentliche Sakrament des Heimgangs für den Glaubenden ist nach der Tradition der Kirche die hl. Eucharistie, die ihm für das letzte Wegstück Kraft gibt. Auch Christen stehen heute bisweilen in der Gefahr, „zu jenseitsvergessenen Kandidaten des Diesseits zu werden. Die Moderne scheint viele Christen endlich eingeholt 12 Vgl. Husebø / Klaschik, S. 6 – 7. Die Zahlen von 2006 beruhen auf den Angaben der Deutschen Hospiz Stiftung (vgl. www.hospize.de / ftp / statistik_2006.pdf). 13 Eggert Beleites, Über die Diskussion in der deutschen Ärzteschaft zum Thema „aktive Sterbehilfe“, in: Klaus-M. Kodalle (Hrsg.), Das Recht auf ein Sterben in Würde. Eine aktuelle Herausforderung in historischer und systematischer Perspektive, Würzburg 2003, S. 45 – 46.
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zu haben.“14 Das Dilemma ist in einigen europäischen Ländern offensichtlich: auch katholischen Krankenhäusern in Belgien beispielsweise droht der Entzug der Lizenz oder staatlicher Förderung, wenn sie sich weigern, aktive Sterbehilfe durchzuführen. Wenn Gesellschaften die vorbehaltlose Annahme des Menschen in seiner körperlichgeistigen Kontingenz verweigern und es sich immer mehr zum Programm machen, ihn nach fremden Interessen zu bevormunden, mit der Verneinung seines Wertes als Selbstzweck, wird der Kernbereich seiner Existenz angetastet. Der Mensch gibt damit Schritt für Schritt die Subjektstellung seines Selbst auf, um die er im Laufe seiner Geschichte immer wieder ringen musste. Der christliche Gedanke der Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Aussage von Immanuel Kant zur Selbstzwecklichkeit des Menschen drohen in den diskursiven Auseinandersetzungen, deren Vertreter jeweils für sich das Attribut „vernünftig“ beanspruchen, unterzugehen. Sterbebegleitung ist nicht allein eine Aufgabe des Arztes, der Krankenschwester, der Pfleger und der Angehörigen, Sterbebegleitung ist vielmehr eine Aufgabe, die jeden Menschen in der Gesellschaft angeht. Die „Kunst des Sterbens“ besteht nicht in irgendeiner speziellen Technik, sondern sie wird vielmehr mitten im Leben eingeübt, nicht an den Rändern des Lebens, sondern gerade dort, wo wir am intensivsten leben: in der Liebe zu Gott und zum Nächsten.
Literaturverzeichnis Albrecht, Elisabeth / Orth, Christel / Schmidt, Heida: Hospizpraxis. Ein Leitfaden für Menschen, die Sterbenden helfen wollen, Freiburg i. Br. 52006. Beckmann, Rainer u. a. (Hrsg.): Sterben in Würde. Beiträge zur Debatte über Sterbehilfe, Krefeld 2004. Bergdolt, Klaus: Das Gewissen der Medizin. Ärztliche Moral von der Antike bis heute, München 2004. Eibach, Ulrich: Aktive Sterbehilfe – Recht auf Selbsttötung? Eine Stellungnahme aus christlicher Sicht und aus Sicht der Krankenhausseelsorge, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 52 (2006), S. 249 – 267. Husebø, Stein / Klaschik, Eberhard: Palliativmedizin. Grundlagen und Praxis, Heidelberg 42006. Oduncu, Fuat S.: Freiheit zum Tod oder Unfreiheit zum Leben?, in: Stimmen der Zeit 131 (2006), S. 597 – 610. Saunders, Cicely: Ein Leben für Sterbende, Innsbruck u. a. 1987. – Hospiz und Begleitung im Schmerz. Wie wir sinnlose Apparatemedizin und einsames Sterben vermeiden können, Freiburg i. Br. 41999. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Schwerstkranken und Sterbenden beistehen / Menschenwürdig sterben und christlich sterben (= Die deutschen Bischöfe 47), Bonn 1991. Student, Johann-Christoph: Das Hospiz-Buch, Freiburg i. Br. 41999. Tolmein, Oliver: „Keiner stirbt für sich allein“. Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung, München 2006.
14 Hubert Windisch, Der Tod – Tor zum Leben? Ein theologischer Essay, in: Rainer Beckmann u. a. (Hrsg.), Sterben in Würde. Beiträge zur Debatte über Sterbehilfe, Krefeld 2004, S. 151.
Fünftes Kapitel
Schöpfung und Umwelt
Anthropozentrische und ökozentrische Ethik Von Eberhard Schockenhoff I. Worterklärungen Der Begriff „Anthropozentrik“ (von griechisch anthropos = Mensch) bezeichnet eine kosmologische Theorie, in deren Mittelpunkt der Mensch steht. Dieser gilt als eigentliches Sinnziel oder als Endzweck der Natur, da er einerseits als Natur- und Bedürfniswesen auf diese angewiesen ist, ihr aber andererseits als zu Erkenntnis, Freiheit und Verantwortung fähiges Vernunftwesen gegenübersteht und nach dem biblischen Schöpfungsbericht zur verantwortlichen Herrschaftsausübung über sie bestimmt ist. Eine anthropozentrische Ethik räumt dem Menschen entsprechend seiner Sonderstellung als Glied, Mitte und Herr der Natur das Recht ein, zur Sicherung seiner eigenen Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wärme) und für hochrangige Ziele von Wissenschaft und Forschung (medizinisches Grundlagenwissen, Gewinnung von Arzneimitteln und Therapie von Krankheiten) auf außermenschliche Lebensformen zurückzugreifen und z. B. Tiere zu töten. Der Kontrastbegriff „Ökozentrik“ (von griechisch oikos = das Haus) dient als Sammelbezeichnung für solche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Ethikmodelle, die eine radikale Abkehr von dem anthropozentrischen Ansatz verlangen, weil sie diesem die Hauptschuld an der Störung des ökologischen Gleichgewichts und der damit einhergehenden Selbstgefährdung der Menschheit geben. Im Einzelnen sind die folgenden Varianten zu unterscheiden: a. eine pathozentrische Ethik (von griechisch pathos = Schmerz / Leid) legt dem Menschen eine unmittelbare und gleichrangige Verpflichtung gegenüber allen leidensfähigen bzw. schmerzempfindlichen Lebewesen auf; b. eine biozentrische Ethik (von griechisch bios = Leben) behauptet moralische Pflichten des Menschen gegenüber allem Lebendigen und bezieht auch niedere, nur rudimentär empfindungsfähige Tierarten und Pflanzen gleichberechtigt in den Ausdehnungsbereich dieser moralischen Schutzpflichten ein; c. eine physiozentrische (von griechisch physis = Natur) oder holistische (von griechisch holos = ganz) Ethik lehrt eine unmittelbare und gleichartige Verpflichtung des Menschen gegenüber der gesamten Natur und räumt infolgedessen nicht nur Tieren und Pflanzen, sondern auch Landschaften, Bergen und Flüssen moralische Rechts- und Schutzansprüche ein.
II. Grundzüge einer anthropozentrischen Ethik 1. Darstellung
Die anthropozentrische Weltsicht und Ethik, die sich auf dem Boden des christlichen Schöpfungsglaubens durch die Rezeption des teleologischen Denkens der antiken Naturphilosophie (Aristoteles, Stoa) ausbildete, darf nicht mit den dualistischen Konzep-
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tionen verwechselt werden, die zu Beginn der Neuzeit entstehen. Diese bringen den Menschen in einen prinzipiellen Gegensatz zur Natur, indem sie seine Naturverwandtschaft leugnen und für ihn ein Recht zur unbeschränkten Herrschaftsausübung über die Natur postulieren. Für Francis Bacon stellt die Herrschaft über die Natur die vornehmste Form menschlicher Machtausübung dar, da sie zur Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse überall auf der Erde beiträgt und somit den Bewohnern aller Länder zugute kommt.1 René Descartes vollzieht durch die Trennung von Bewusstsein (res cogitans) und Materie (res extensae) eine durchgängige Mathematisierung und Geometrisierung der Natur, die zur Grundlage der Verbindung von Naturwissenschaft und Technik wird. Er sieht in der gesamten außermenschlichen Natur unter Einschluss seines eigenen Körpers nur noch gestaltlose Materie, über die der Mensch als maître et possesseur de la nature (= Herr und Besitzer der Natur) beliebig verfügen darf, indem er sie seinen eigenen Zwecksetzungen unterwirft. Da dieser neuzeitliche Dualismus die Abkehr von der teleologischen Naturbetrachtung voraussetzt und deren Annahme einer immanenten Zweckhaftigkeit aller Naturdinge und Lebewesen verwirft, ist er als ideengeschichtlicher Ursprung der Fehlentwicklungen zu betrachten, die im 20. Jahrhundert zu einer ökologischen Krise globalen Ausmaßes führten. Die Depotenzierung der Natur zum bloßen Rohmaterial menschlicher Zwecksetzungen, die mit der dualistischen Trennung von Geist und Materie einhergeht, kann aber nicht als eine radikale Variante anthropozentrischer Ethik interpretiert werden; sie setzt vielmehr den Bruch mit der teleologischen Naturbetrachtung voraus, auf der diese ruht. Demgegenüber sieht die anthropozentrische Ethik des Christentums den Menschen als ein körperhaftes Wesen, das durch seinen Leib und seine natürliche Bedürfnisstruktur in die Natur eingebettet bleibt und sie gleichwohl aufgrund seines Geistes und seiner Vernunft überragt. Durch diesen dialektischen Naturbezug, der ihm die Distanznahme gegenüber seiner Umwelt erlaubt, unterscheidet sich der Mensch prinzipiell von den übrigen Naturwesen, auch wenn diese Unterschiede sich empirisch nur als graduelle Steigerung bestimmter Merkmale (Koordination von Wahrnehmungsleistungen, Selbstbewusstsein) zeigen, der zudem die relativen Defizite der biologischen Mängelausstattung des Menschen gegenüberstehen. Was sich im Mensch-Tier-Vergleich als graduelle Differenz innerhalb eines kontinuierlichen Übergangsfeldes zeigt, deutet aus Sicht der philosophischen Anthropologie auf spezifische Fähigkeiten des Menschen, die seine moralisch relevante Sonderstellung im Gesamtentwurf der Schöpfung begründen. Allein der Mensch nimmt gegenüber der Natur eine Subjektstellung ein, die es ihm ermöglicht, volles Ich-Bewusstsein und reflexives Selbstempfinden auszubilden. Als Subjekt seines Handelns lebt er nicht wie das Tier aus der Unmittelbarkeit instinktiv-biologischer Lebensvollzüge heraus; er kann vielmehr die empirische Motivation reiner Lust-UnlustEmpfindungen übersteigen und sein Handeln durch Überlegung und Vernunftgründe bestimmen. Die Fähigkeit zur Begriffsbildung aufgrund der Abstraktion von der sinnlichen Einzelwahrnehmung und zur Verallgemeinerung seiner moralischen Urteile durch die Einbeziehung der Fremdperspektive der anderen ermöglicht es ihm, einen universalen Standpunkt des Erkennens und Wollens einzunehmen. Dieser hebt sich von den Wahrnehmungsleistungen eines tierischen Organismus durch ein qualitativ neues Reflexions1
Vgl. Novum Organon I, Vorrede, hrsg. von W. Krohn, Hamburg 1990, S. 77.
Anthropozentrische und ökozentrische Ethik
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vermögen ab, auch wenn Tiere in quantitativer Hinsicht auf vielen Feldern – etwa bezüglich ihres Hörvermögens in bestimmten Frequenzbereichen oder ihrer schärferen Sehleistungen bei Dämmerung und Dunkelheit – den menschlichen Parallelfähigkeiten überlegen sind. Dementsprechend ist die menschliche Sprache mehr als der Austausch von Lautsignalen zur Reizauslösung oder Gefahrenabwehr; als spezifisch menschliches Phänomen ist die Sprache vielmehr das Ausdrucksmedium der Vernunft und ein Vermögen zur Sinndeutung der Welt. Durch Denken und Sprechen, Vernunft und Wort vermag der Mensch die Wirklichkeit zu erkennen, seine Erkenntnisinhalte nach Begriffen zu ordnen und über das Erkannte in einen sprachlich vermittelten Austausch mit anderen einzutreten. Nur der Mensch bildet darüber hinaus ein dreidimensionales Bewusstsein für die zeitliche Verlaufsstruktur seiner Existenz aus: Während das Tier an das unmittelbare Erleben des Augenblicks gebunden bleibt, kann der Mensch ein bewusstes Leben führen und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Momente der eigenen Biographie erfahren. Er kann sich an Vergangenes erinnern und Zukünftiges vorausschauend vergegenwärtigen, um so die Vorstellung einer gerichteten Lebenszeit und der inneren Einheit seines geschichtlichen Daseins zu entwickeln. Dieser horizontalen Ersteckung seines Zeitbewusstseins entspricht die Fähigkeit, nach dem Sinn seiner Existenz zu fragen und – je nach Antwort – aus einer bewussten Welt- und Existenzdeutung heraus zu leben oder zu verzweifeln. Nur der Mensch kann sich im Modus der Sorge (M. Heidegger) und Angst (S. Kierkegaard) auf das Ganze seines Daseins beziehen und nach dem tragenden Grund fragen, auf dem er steht. Er existiert als geschichtliches Wesen, das die Dimension von Raum und Zeit, in die er hineingestellt ist, zu übersteigen und Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit, als den schöpferischen Ursprung von Raum und Zeit zu erkennen vermag (Transzendenzbezug oder religiöses Apriori des Menschen). Für eine anthropozentrische Ethik ergibt sich aus dieser kosmologischen Sonderstellung des Menschen eine wichtige Konsequenz, die unter anderen metaphysischen Annahmen auch von ökozentrischen Ethikentwürfen nicht in Abrede gestellt wird: Der Mensch ist das einzige moralfähige Wesen im Kosmos. Nur er kann Verantwortung für sich selbst und die ihn umgebende Natur übernehmen, indem er seine Lebensführung und sein Handeln an den moralischen Maßstäben von Gut und Böse ausrichtet. Während Tiere untereinander vielfache moralanaloge Verhaltensleistungen (Kooperation, Brutpflege, Konkurrenz- und Aggressionsverhalten usw.) zeigen, kann allein der Mensch aus dem Wissen um Gut und Böse heraus handeln, Schuld empfinden, um Vergebung bitten oder Lob und Tadel aussprechen. Die Moralfähigkeit des Menschen benennt den eigentlichen Grund, warum ihm ein Vorrang gegenüber den subhumanen Lebensformen im Reich der Natur zukommt; sie erklärt zugleich, warum er zu seiner eigenen Lebensfristung und Daseinssicherung über diese verfügen darf. Nicht schon deshalb, weil er die Macht, das Wissen und das technische Können dazu besitzt, darf er sich die Natur nutzbar machen. Das Recht dazu ergibt sich allein aus dem Umstand, dass er diese Macht und dieses Wissen nach Vernunftgründen gebrauchen kann. Der Mensch ist Selbstzweck – er soll sich und die anderen niemals als bloßes Mittel, sondern immer zugleich als Zweck an sich selbst (I. Kant) behandeln –, weil er die Fähigkeit besitzt, sein Handeln durch Vernunftgründe bestimmen zu lassen und sich über die Natur hinausgehende Zwecke zu setzen. Nur insofern er sich dem Vernunftgesetz unterwirft, ist es ihm daher erlaubt, die Naturdinge und die
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subhumanen Lebensformen als Mittel für seine eigenen Zwecke zu gebrauchen. Die Bestimmbarkeit seines Handelns durch die Vernunft und das moralische Gesetz stellen dabei zugleich den Rechtfertigungsgrund und die einschränkende Bedingung dafür dar, warum und inwieweit er über die Natur verfügen darf. Ein ungebundenes, willkürliches Herrschaftsrecht über die Natur kommt dem Menschen auf der Grundlage der anthropozentrischen Ethik gerade nicht zu. Sein Gebrauch der Naturdinge und der subhumanen Lebewesen ist vielmehr durch die Bedingung eingeschränkt, dass er die Zwecke seines eigenen Handelns in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz wählt. In diesem Grundsatz stimmt die philosophische Vernunftethik Kants mit der anthropozentrischen Perspektive des biblischen Schöpfungsberichtes überein: Der Mensch ist Endzweck der Natur, insofern er Subjekt des moralischen Gesetzes und als solches Zweck an sich selbst ist; darin gründet die vom Eigenwert der Tiere unterscheidbare Würde, die ihm als Vernunftwesen zukommt. Aus biblischer Sicht ist sein Herrschaftsauftrag über die Natur daran gebunden, dass er ihn im Gehorsam gegenüber seinem Schöpfer zugunsten der ganzen Schöpfung ausübt. Daneben darf nicht übersehen werden, dass die anthropozentrische Ethik, die sich unter dem Vorzeichen des biblischen Schöpfungsauftrages und einer teleologischen Naturbetrachtung im Christentum herausbildete, nur die schöpfungsimmanente Kehrseite einer radikalen Theozentrik darstellt, der die Schöpfung als ganze unterstellt ist. Der priesterliche Schöpfungsbericht hebt zwar die Erschaffung des Menschen durch den Hinweis auf seine Gottebenbildlichkeit (vgl. Gen 1,27) und die besondere Billigungsformel (vgl. Gen 1,31: „Es war sehr gut“) gegenüber der Erschaffung der Pflanzen- und Tierwelt hervor, doch ist der Mensch nicht der letzte Zielpunkt der Schöpfung. Das Schema der Sieben-Tage-Schöpfung kulminiert vielmehr in der Ruhe Gottes und im göttlichen Segen über den siebten Tag (vgl. Gen 2,2 – 3). Die Formel vom Menschen als der Krone oder Aufgipfelung der Schöpfung bedarf daher aus der Sicht des ersten biblischen Schöpfungsberichtes der Korrektur. Die anthropozentrische Ethik ist ursprünglich zudem in eine theozentrisch ausgerichtete schöpfungstheologische Rahmenkonzeption eingebettet, die den Menschen einerseits an die Spitze der scala naturae stellt und ihn andererseits vom Dienst der Geschöpfe abhängig sein lässt. Weil die Schöpfung aus dem Willen Gottes hervorgeht, andere Wesen an seinem Leben teilhaben zu lassen, tragen alle Geschöpfe die Tendenz in sich, Gottes Gutheit in der geschaffenen Welt darzustellen. Diese similitudo mit ihrem göttlichen Grund ist den einzelnen Seienden im Maß ihrer unterschiedlichen Fähigkeit geschenkt, diese Teilhabe zu vollziehen.2 Die hierarchische Ordnung der kreatürlichen Seinsformen kulminiert im Menschen, aber der gesamte Kosmos wird nun nicht mehr als ein sich selbst genügender Ordo mit dem Menschen als Mittelpunkt gedacht, sondern nochmals einer äußersten, über die Natur hinausweisenden Teleologie unterstellt. Die Welt kommt nicht anders als dadurch zur Vollendung, dass sie im Menschen ein Wesen hervorbringt, das in der Welt und durch sie hindurch Gott als seinem Schöpfer antworten, ihn lieben und an seinem Wesen teilhaben kann. Gottes Absicht, endlichen Wesen seine eigene Gutheit mitzuteilen, erreicht darin ihr Ziel, dass „der Mensch ihn selbst genießt und die Vollendung der Schöpfung (complementum universi) ist“3. Dabei 2 3
Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles III, 222 – Nr. 2029; Summa theologiae I – II 1,8. Summa theologiae I 19,5 ad 3.
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verkennt diese Form der teleologischen Naturbetrachtung keineswegs, dass der an die Spitze der Schöpfung gestellte Mensch von äußerster Bedürftigkeit und Hinfälligkeit ist. Er muss sein Dasein nackt und ungesichert fristen und ist in allem auf die Hilfe der anderen Geschöpfe angewiesen, die ihm auf dem Weg zu seinem letzten Ziel Wärme, Kleidung und Nahrung spenden.4 Diese Deutung des Verhältnisses von Gott, Mensch und Natur kommt auch in dem Sonnengesang des Franziskus von Assisi zum Ausdruck, in dem die Mitgeschöpfe des Menschen als „selbstwertige Wesen“ in ihrem eigenen Ausdrucksinn wahrgenommen werden.5 Von Franziskus wurde der Sonnengesang, der heute vielen als exemplarisches Beispiel für eine ökologische Schöpfungsspiritualität gilt, als Aufforderung zur Danksagung für den Dienst der Schöpfung verstanden. Dabei kommt der Anrede der Geschöpfe als „Schwestern“ und „Brüder“ nicht nur poetische Bedeutung, sondern die Funktion zu, unter allen Menschen um geschwisterlichen Respekt und ehrfürchtige Wertschätzung für die Geschöpfe zu werben.6
2. Naturwissenschaftliche und philosophische Kritik
Die Verabschiedung des teleologischen Weltbildes durch die neuzeitliche Naturwissenschaft beraubte die anthropozentrische Ethik ihrer Einbettung in eine naturphilosophisch-metaphysische Rahmentheorie. Für Kant lassen sich über Zweck-Mittel-Verhältnisse unter den Lebewesen keine objektiv gültigen Aussagen mehr treffen; ob die Pflanzen für die Tiere oder diese für den Menschen da sind, entzieht sich unserer Naturerkenntnis.7 Nach der erkenntniskritischen Wende zum Subjektstandpunkt des Denkens gilt die Natur nicht mehr als in sich teleologisch verfasst; vielmehr betrachtet sie die teleologische Urteilskraft des Menschen notwendig so, als ob sie zweckmäßig und auf die Hervorbringung von Freiheit und Vernunft ausgerichtet sei.8 Auch aus der Perspektive der darwinistischen Evolutionslehre lässt der Verlauf der Evolution kein klares Ziel erkennen. Mit der Zurückweisung der Idee eines Schöpfungsplans wird nicht nur die Rede von „niederen“ und „höheren“ Lebewesen obsolet; die Kritik richtet sich darüber hinaus auf die Annahme einer Sonderstellung des Menschen überhaupt. Philosophische Einwände gegen die teleologische Naturbetrachtung betreffen vor allem die Annahme einer finalen Steuerung des gesamten Naturprozesses durch ein zukünftiges Entwicklungsziel, die mit dessen kausaler Determination durch die zurückliegenden Entwicklungsfaktoren unvereinbar sei; insbesondere dürfe der Zweck eines Lebewesens nicht als „vorherbestehendes Musterbild“ gedeutet und eine nur rückblickend mögliche teleologische Interpretation des bisherigen Entwicklungsverlaufs nicht als „Vorwegnahme der Zukunft“ angesehen werden.9 Schließlich wird dem teleologischen Denken vorVgl. Summa contra gentiles III, 22 – Nr. 2031. Vgl. M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (Gesammelte Werke VII), Bern 1974, S. 97 – 100, hier: S. 99. 6 Vgl. R. D. Sorell, St. Francis of Assisi and Nature. Tradition and Innovation in Western Christian Attitudes toward the Enviroment, New York / Oxford 1988, S. 114. 7 Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Akademie-Ausgabe Bd. 5, S. 427. 8 Vgl. R. Löw, Philosophie des Lebendigen. Der Begriff des Organischen bei Kant, sein Grund und seine Aktualität, Frankfurt a. M. 1980, S. 216 f. 9 Vgl. H. Bergson, Schöpferische Entwicklung (franz.: L’évolution creatrice, Paris 1908), Jena 1921, S. 58. 4 5
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geworfen, es verwechsle die zeitliche Abfolge in der Evolution und die Unterscheidung zwischen „niederen“ und „höheren“ Entwicklungsstufen mit einer unterschiedlichen seinsmäßigen Vollkommenheit der einzelnen Lebewesen.10 Diese Einwände richten sich allerdings nur gegen die naturphilosophische Rahmentheorie, mit der die anthropozentrische Ethik historisch verbunden ist. Da deren Grundannahme, dass allein der Mensch ein moralfähiges Wesen ist, das Verantwortung für sich selbst und die Natur übernehmen kann, auch unabhängig von diesem historischen Entstehungszusammenhang Geltung beansprucht, bleibt sie von den Einwänden gegen die Annahme einer teleologischen Ordnung aller Naturdinge unberührt. Zudem widerspricht die These, dass jedes Seiende in seiner Art vollkommen ist, keineswegs der Annahme, dass es unter den Arten eine Rangfolge im Sinne einer größeren seinsmäßigen Vollkommenheit gibt. Schließlich lehrt auch die moderne Entwicklungsbiologie keine in jeder Hinsicht zufällige Entwicklung der Naturgeschichte. Sie führt das Auftreten neuer Arten oder das Verschwinden anderer auf den Mechanismus von Selektion und Mutation zurück, aber sie behauptet nicht, dass das Erscheinen des Menschen und damit das Auftreten von Freiheit und Vernunft in der Natur als Ergebnis einer undurchschaubaren Kette reiner Zufälle begreifbar seien. Zufällig sind die einzelnen Mutationsschritte (z. B. die Entstehung eines neuen Genmusters), aber keineswegs der Gesamtverlauf der Entwicklung, weil sonst nur Chaos herrschen würde und der hohe, im Gang der Entwicklung zunehmende Ordnungsgrad des Lebendigen sowie eine Reihe weiterer Phänomene (z. B. das Auftreten gerichteter Evolutionsreihen an unterschiedlichen Orten oder deren Wiederholung auf verschiedenen Stufen) unverständlich blieben.11 Sowohl die Tatsache, dass es den Menschen gibt, wie auch der Umstand, dass er so entstand, wie er ist (d. h. als sprachfähiges, vernunftbegabtes Wesen mit einer biologischen Mängelausstattung), lässt sich auch unter den Voraussetzungen der gegenwärtigen Evolutionsbiologie nicht als reiner Zufall begreifen. Vielmehr ist das Auftreten des Menschen das Ergebnis eines langfristigen Optimierungsvorganges, der ein Wechselspiel zwischen Umwelt und Organismen voraussetzt, das gemäß dem anthropischen Prinzip bereits bei geringfügigen Abweichungen zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Wo einzelne evolutionsbiologische Denkansätze den Menschen als reines Zufallsprodukt erklären wollen, überschreiten sie die Grenzen gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis und nehmen den Charakter weltanschaulicher Globaltheorien an. Ein derartiger Evolutionismus, wie er gegenwärtig im Gewand einer evolutionären Erkenntnislehre, einer evolutionären Ethik oder der Soziobiologie auftritt, kann nicht einfach als wissenschaftliche Weiterentwicklung der klassischen Evolutionslehre angesehen werden; vielmehr müssen seine weltanschaulichen Implikationen aufgedeckt und philosophisch kritisiert werden.12
Vgl. N. Hartmann, Teleologisches Denken, 2. Aufl., Berlin 1966, S. 135. Vgl. E. Mayr, Evolution und die Vielfalt des Lebens, Berlin u. a. 1979, S. 203 f. und F. Cramer, Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen, Stuttgart 1988, S. 30 ff. 12 Vgl. R. Spaemann u. a. (Hrsg.), Evolutionismus und Christentum, Weinheim 1986 und A. Knapp, Soziobiologie und Moraltheologie. Kritik der ethischen Folgerungen moderner Biologie, Weinheim 1989. 10 11
Anthropozentrische und ökozentrische Ethik
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III. Gegenmodelle zur anthropozentrischen Ethik Gemeinsam ist den ökozentrischen Gegenmodellen zur anthropozentrischen Ethik, dass sie zwischen einem Eigenwert der außermenschlichen Natur und der besonderen Würde des Menschen keinen Unterschied annehmen und infolgedessen unmittelbare Schutz- und Achtungspflichten des Menschen gegenüber der Natur postulieren, die den moralischen Pflichten gegen andere Menschen gleichkommen. Ökozentrische Ethikansätze verwerfen daher im Allgemeinen auch die Differenzierung zwischen Pflichten im strikten, engeren Sinn und einem weiteren Pflichtbegriff (Kant: „Pflichten gegen . . .“, die nur unter freiheitsfähigen Vernunftwesen bestehen und „Pflichten in Ansehung von“, die auch gegenüber außermenschlichen Wesen anzuerkennen sind); ebenso halten sie die Unterscheidung zwischen der sozialen Mitwelt des Menschen und seiner natürlichen Umwelt für moralisch irrelevant. Sie unterscheiden sich dagegen hinsichtlich des Radius, in dem sie innerhalb der außermenschlichen Welt die Trägerschaft moralischer Rechte annehmen. 1. Die pathozentrische Ethik
Die pathozentrische Ethik fordert auf der Grundlage des klassischen Utilitarismus (J. Bentham), einer empiristischen Gefühlsethik (D. Hume) oder einer allgemeinen Mitleidsmoral (A. Schopenhauer), dass der Mensch allen schmerzempfindlichen Wesen moralische Rechte zuerkennen müsse. Die Empfindungsfähigkeit bezeichnet demnach eine elementare Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Tier, die schwerer wiegt als das moralische Sonderstellungsmerkmal der Vernunft: „Die Frage ist weder: Können sie denken, noch: Können sie sprechen, sondern: Können sie leiden?“13 Gegenüber allen Lebewesen, die Schmerzen empfinden können, hat der Mensch daher die moralische Pflicht zur gleichen Rücksichtnahme, die er entsprechend der Goldenen Regel für sich selbst von anderen Menschen erwartet. Dieser Grundansatz wird von gegenwärtigen utilitaristischen und mitleidsethischen Konzeptionen in verschiedener Richtung weitergeführt. Nach P. Singers Tierbefreiungsethik vollendet sich die Philosophie der Freiheit erst dadurch, dass der bürgerliche Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebewesen ausgedehnt wird, während jedwede Bevorzugung des Menschen als ungerechtfertigte Selbstprivilegierung der eigenen Art Missbilligung verdient. In historischer Hinsicht soll dieser so genannte Speziesismus als letztes Relikt früherer Diskriminierungen (Rassismus, Sexismus) anzusehen und daher ebenso verabscheuungswürdig wie diese sein.14 Auch für andere Tierrechtsvertreter wie L. Nelson oder T. Regan begründet das Interesse der Tiere, frei von Schmerzen oder Unlustempfindungen zu sein, ihre Anerkennung als „Rechtssubjekte“; gegen Kant wird ihnen auch „Würde“ im moralischen Sinn zuerkannt.15 Zwar unterscheidet Regan innerhalb der moralischen Gemeinschaft zwischen moralischen Subjekten (moral agents) und moralischen Objekten (moral patients), doch sieht er darin keine Differenz hinsichtlich des Respekts vor dem Eigenwert der Tiere 13 J. Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, hrsg. von H. Burns / H. L. Hard, London 1970, S. 283. 14 Vgl. P. Singer, Befreiung der Tiere (engl.: Animal Liberation, London 1976), München 1982, S. 25. 15 Vgl. L. Nelson, System der philosophischen Ethik und Pädagogik, 2. Aufl., Hamburg 1949, S. 118 f.
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begründet, die ihm aufgrund der Fähigkeit, Interessen zu haben, in analoger Weise ebenfalls als Subjekte gelten.16 Dagegen leitet Ursula Wolf die Verleihung moralischer Rechte an alle leidensfähigen Wesen nicht unmittelbar aus deren Interessen, sondern aus der menschlichen Fähigkeit zum generalisierten Mitleid ab, die der strikten Gerechtigkeitsmoral vorausliegt und eine unerlässliche Motivationsquelle für altruistisches Handeln darstellt.17 In ihren praktischen Zielsetzungen stimmen diese Ansätze pathozentrischer Ethik mit der Tierschutzbewegung des 20. Jahrhunderts überein, die in den zurückliegenden Jahrzehnten beträchtlichen gesellschaftlichen Einfluss gewann und ihre Anliegen in den Rechtsordnungen vieler Länder verankern konnte. Die modernen Tierschutzgesetze dienen dem individuellen Wohl des einzelnen Tieres; das 1986 novellierte deutsche Tierschutzgesetz formuliert in § 1 den Grundsatz, aus „der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen“. Der Begriff „Mitgeschöpf“ dient im philosophischen Kontext dazu, die dem Eigenwert der Tiere unangemessene Dichotomie zwischen Personen und Sachen zu überwinden, nach der nur Vernunftwesen Personen und Zwecke an sich selbst, alle anderen Naturwesen dagegen Sachen sind, über die der Mensch beliebig verfügen darf. In der theologischen Literatur begegnet die Rede von den Tieren als Mitgeschöpfen des Menschen seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts (F. Blanke und J. Bernhard). Er bildete ursprünglich ein Gegengewicht gegen die damalige vom dialogischen Personalismus abhängige theologische Ethik, die im Rahmen der Ich-Du-Beziehung nur Pflichten des Menschen gegen andere Menschen kannte. Das Grundgebot eines ethischen Tierschutzes fordert, jedes Tier um seiner selbst willen und nicht nur aus Gründen der menschlichen Selbstachtung (anthropologischer Tierschutz) zu schützen. Die moralischen Verpflichtungen, die dem Menschen aus der dem Eigenwert der Tiere geschuldeten Achtung erwachsen, lassen sich in weitere Schutzansprüche aufgliedern, die im allgemeinen Sprachgebrauch heute als Tierrechte bezeichnet werden. So hat sich die Rede vom Recht der Tiere auf Schmerzfreiheit, auf angemessene Ernährung und Pflege, auf eine verhaltensgerechte Unterbringung und einen artgemäßen Bewegungsraum eingebürgert. In dieser Verwendung wird der Begriff moralischer Rechte allerdings nur in einem abgeleiteten, erweiterten Sinn gebraucht, da er nicht den Handlungsspielraum von Personen, sondern den Anspruch eines Lebewesens bezeichnet, etwas zu erhalten. In einem strikten Sinn ist die Vorstellung moralischer Rechte dagegen nur auf freie Vernunftwesen anwendbar, die Adressaten von moralischen Forderungen sowie von Lob und Tadel sein können. Zwar lässt sich sinnvollerweise auch in der Natur von einer Vorgeschichte der Freiheit sprechen, insofern auch Tiere sich innerhalb ihrer artgemäßen Fähigkeiten und Kräfte „frei“ bewegen können; als moralisches Handlungsvermögen ist Freiheit jedoch nur dort gegeben, wo ein Wesen die instinktive Verhaltenssteuerung durchbrechen und die Vernunft zum Bestimmungsgrund seines Willens machen kann. Da Rechte in der moralischen Verantwortung von Personen gründen, Tiere aber keine reziproken Verantwortungsbeziehungen mit dem Menschen eingehen können, lässt sich der Begriff moralischer Rechte auf Tiere nicht unmittelbar anwenden. Es sollte daher besser von Schutzansprüchen der 16 17
Vgl. T. Regan, The Case for Animal Rights. London u. a.1983, S. 324 ff. Vgl. Ursula Wolf, Das Tier in der Moral, Frankfurt a. M. 1990.
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Tiere gegenüber dem Menschen oder von menschlichen Pflichten gegenüber diesen gesprochen werden. Vor allem aber sollten Tiere nicht als Personen angesprochen werden, wie es in einigen tierethischen Begründungsansätzen üblich ist. Tiere sind empfindungsfähige, fühlende Lebewesen, die eine eigene animalische Seele besitzen; sofern Schmerzempfindung notwendigerweise eine Selbstwahrnehmung als distinktes Wesen voraussetzt, kann auch von einem anfänglichen Selbstbewusstsein der Tiere oder einem Vorschein der Subjektivität im Tierreich gesprochen werden. Doch sind Tiere keine Personen, die ihr Handeln verantworten und voreinander oder dem Menschen gegenüber schuldig werden könnten. (Wenn ein Hund einen Menschen verletzt, ist ihm sein Verhalten nicht moralisch vorwerfbar.) Auch höherrangige Tiere wie Schimpansen und Delphine, die als mögliche Kandidaten für eine Übertragung des Personstatus genannt werden, können mit dem Menschen keine Verträge schließen oder ihm gegenüber Verpflichtungen eingehen; sie sind weder dazu in der Lage, ihr instinktives Verhalten zu verantworten noch können sie von ihm im moralischen Sinne dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Die beiden von einem pathozentrischen Ethikansatz ausgesehen stärksten Einwände gegen die Bezeichnung von Tieren als Quasi-Personen lautet jedoch: Ein Sprachgebrauch, der einige höhere Tierarten aufgrund ihrer größeren Übereinstimmung in den empirischen Merkmalen des Menschseins bevorzugt, trägt eine unklar verlaufende Grenzlinie in das Tierreich hinein, so dass sich unter dieser Voraussetzung unter den empfindungsfähigen Lebewesen mögliche Personen und sichere Nicht-Personen gegenüberstehen. Zudem lassen sich alle wichtigen praktischen Anliegen der Tierethik auch ohne die ungeklärte Behauptung begründen, dass manchen Tierarten möglicherweise Personstatus zukommt. Die grundlegende These vom Eigenwert der Tiere und von der Verpflichtung des Menschen, auf ihre Schmerzempfindlichkeit Rücksicht zu nehmen, erscheint auch ohne das umstrittene Personenargument plausibel. Das Sparsamkeitsprinzip, nach dem eine ethische Argumentation umso überzeugender ist, je weniger sie auf strittige metaphysische Annahmen zurückgreifen muss, spricht gegen den ungewohnten Sprachgebrauch, der Tiere als Personen bezeichnet. 2. Die biozentrische Ethik
Eine biozentrische Ethik weitet den Umfang menschlicher Schutzpflichten über die schmerzempfindlichen Tiere auf alle Lebewesen, also auch auf Insekten, Gräser, Pflanzen und Bäume aus. In seiner radikalen Form (A. Schweitzer) verwirft sie jede Differenzierung zwischen „niederen“ oder „höheren“ Lebewesen; eine gemäßigte Variante biozentrischer Ethik (H. Jonas) nimmt dagegen an, dass die moralische Relevanz von Lebewesen mit ihrer jeweiligen Organisationshöhe zunimmt. Der protestantische Theologe A. Schweitzer verbindet die vernunftkritischen Motive aus der Philosophie des 19. Jahrhunderts (Schopenhauers Mitleidsethik und Nietzsches Willen zum Leben) mit dem christlichen Liebesgebot. Dadurch erweitert er den Gedanken der Liebe zu einem Mitleiden und Sich-Mitfreuen mit der ganzen Kreatur. „Was wir Liebe nennen, ist seinem Wesen nach Ehrfurcht vor dem Leben.“18 Da sie von der 18
Gesammelte Werke in 5 Bänden, hrsg. von R. Grabs, München 1974, Bd. 2, S. 659 f.
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Gleichwertigkeit aller Lebensformen ausgeht, bürdet eine biozentrische Ethik dem Menschen eine unterschiedslose und gleich unmittelbare „ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt“ auf.19 Zugleich erhebt eine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben den Anspruch, das abstrakte Moralsubjekt der europäischen Philosophiegeschichte in die lebendige Einheit der Natur zurückzuholen. Sie benötigt weder den Gedanken der wechselseitigen Anerkennung freier Vernunftwesen noch eine andere Form transzendentaler Letztbegründung, sondern beruft sich auf eine schlichte, unbestreitbare Gemeinsamkeit, die den Menschen mit allen Lebewesen verbindet: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“20 Im Unterschied zu H. Bergson, in dessen Analyse der Verzweigungen des élan vital der selbstbewusste Lebenswille des Menschen scharf von den nichtbewussten, rein instinktiven Manifestationen des Lebensdranges abgehoben wird, stellt Schweitzer den universalen Lebenswillen der Natur dem menschlichen Überlebenswillen gleichberechtigt zur Seite. In Anlehnung an das oberste Moralprinzip der klassischen Ethik lautet der Grundgedanke der Erfurcht vor dem Leben daher: „Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; Böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen.“21 Da der Mensch jedoch der Notwendigkeit nicht entrinnen kann, fremdes Leben zu schädigen, wird das Ehrfurchts-Prinzip durch einen weiteren Grundsatz ergänzt, der jede Schädigung fremden Lebens auf ein unerlässliches Mindestmaß begrenzt. Über die Grenze des zu seiner eigenen Lebensfristung absolut Notwendigen darf der Mensch auch in scheinbar unbedeutenden Handlungen (eine Blume pflücken, einen Grashalm niedertreten usw.) nicht hinausgehen. Selbst dort, wo derartiges unvermeidlich ist, soll der Mensch sein Mitleiden mit der Kreatur dadurch bekunden, dass er das Unvermeidliche im Bewusstsein seiner Schuld auf sich nimmt. Die Stärke einer biozentrischen Ethik ist vor allem darin zu sehen, dass die Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben und einer habituellen Achtsamkeit (Christina Aus der Au) dem Menschen eine starke Motivation zur Selbstbeschränkung gegenüber der Natur vermittelt und ihn für die Lebensäußerungen der außermenschlichen Natur sensibilisieren kann.22 Dem stehen jedoch ein theoretisches Begründungsdefizit und ein praktischer Mangel gegenüber. Das anthropomorphe Konstrukt eines Willens zum Leben ist abhängig von den metaphysischen Voraussetzungen der Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts; die Übertragung dieses Konzepts auf alles Lebendige führt zudem zu fragwürdigen Ergebnissen, da die Natur selbst auch den Kampf ums Dasein kennt und der Wille zum Leben sich in einem „grausige[n] Schauspiel der Selbstentzweiung“23 als Fressen und Gefressenwerden manifestiert. Eine weitere Schwachstelle zumindest der radikalen Varianten biozentrischer Ethik liegt darin, dass sie keine Konfliktregeln für die Auflösung von Güterkollisionen und Interessengegensätzen an die Hand geben. Eine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben kann dem Menschen zwar ein neues Naturverhältnis vermitteln und ihn zu einer größeren Wertschätzung alles Lebendigen führen, aber sie lässt ihn im Stich, wo rationales Abwägen gefordert ist. Die Haltung der Ehrfurcht stellt als A. a. O., S. 379. A. a. O., S. 378. 21 Ebd. 22 Vgl. Christina Aus der Au, Achtsam wahrnehmen. Eine theologische Umweltethik, Neukirchen-Vluyn 2003, S. 174 – 196. 23 A. a. O., S. 378. 19 20
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solche nur einen „Richtungssinn“ dar, der ohne weitere normative Kriterien nicht zur Erkenntnis moralischer Pflichten führt.24 Ohne Vorzugsregeln und rationale Entscheidungskriterien für die Auflösung von Interessenkonflikten droht die universale Entgrenzung der Verantwortung für alles Lebendige kontraproduktiv zu werden: „Wer ohne Beschränkung allem Lebendigem gegenüber verantwortlich ist, ist niemandem gegenüber tatsächlich verantwortlich.“25 Gleiches gilt für die Übersteigerung des Schuldempfindens gegenüber der Natur, denn das unvermeidliche Wissen ohnehin schuldig zu werden, kann die Suche nach ethisch vertretbaren Handlungsweisen oder der bestmöglichen Alternative vergeblich erscheinen lassen.
3. Physiozentrische Ethik
Eine physiozentrische Ethik (von griechisch physis = Natur) legt dem Menschen nicht nur Pflichten gegenüber schmerzempfindlichen Lebewesen und Pflanzen auf, sondern bezieht alle Erscheinungsformen der Natur in seine Schutzpflichten ein. Alles, was ist, soll erhalten bleiben und der Mensch ist moralisch dazu verpflichtet, diesen Anspruch der Natur auf Bewahrung ihrer Vielfalt zu achten. Das Grundgebot der Lebensförderung wird in seinen beiden Komponenten der Schadensvermeidung und Nutzenoptimierung holistisch auf das Ganze der Natur bezogen, ohne dass der Mensch irgendwelche Sonderrechte für sich beanspruchen darf. Die physiozentrische Ethik betont daher ausschließlich das Eingebundensein des Menschen in die Natur. Seine Sonderstellung als handlungsfähiges Wesen bleibt auf der theoretischen Begründungsebene unberücksichtigt. Folgerichtig ist nicht mehr von der Natur als Umwelt des Menschen die Rede, wie dies in einer anthropozentrischen Perspektive der Fall ist. Der Mensch ist vielmehr unterschiedslos wie alle anderen Naturwesen Teil des Gesamtsystems der Natur. Holistische oder systemische Ansätze der Naturethik sprechen daher von der natürlichen Mitwelt des Menschen und übertragen so den Begriff, der in der Sozialethik für die zwischenmenschlichen Beziehungen und die politische Existenzweise des Menschen gebraucht wird, auf sein Verhältnis zur Natur. Damit die Achtung, die wir den Naturwesen schulden, nicht unverbindlich und folgenlos bleibt, muss sie ebenso wie unsere moralischen Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen durch Rechte und Schutzverträge abgesichert werden. Auch Flüsse und Wälder, Berge und Landschaften werden so als eigenständige Rechtsträger anerkannt, mit denen wir innerhalb der Verfassungsgemeinschaft der Natur in ein verbindliches Rechtsverhältnis treten.26 Ein dauerhafter Friede in der Natur und mit der Natur ist daher nur möglich, wenn der Mensch analog zur Pazifizierung der menschlichen Gemeinschaft auf jede Gewaltanwendung gegen Naturwesen verzichtet und den Friedenszustand mit der Natur nach rechtsstaatlichen Maßstäben ausgestaltet. Das neuzeitliche Menschenrechtsethos soll dadurch seine Vollendung finden, dass seine Forderungen auf alle Lebewesen und die elementaren Bausteine der natürlichen Mitwelt übertragen werden. Eine ökozentrische Ethik muss sich folglich dagegen verwahren, dass wir „in Bezug auf Vgl. M. Schlitt, a. a. O., S. 103. A. a. O., S. 109. 26 Vgl. K. M. Mayer-Abich, Wege zum Frieden mit der Natur. Umweltphilosophie für die Umweltpolitik, München / Wien 1984, S. 138. 24 25
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das Töten von Bäumen nicht dieselbe ethische Urteilskraft und Sorgfalt gelten lassen wie in Bezug auf den Mord an Mitmenschen“27. Die naturphilosophische Basis der ökozentrischen Ethik bilden animistische oder pantheistische Naturkonzeptionen (F. Capra, G. Altner), in denen die Natur als ein großes Lebewesen oder als Erscheinungsform des Göttlichen vorgestellt wird; in religiöser Hinsicht soll die Entzauberung der Natur durch den biblischen Schöpfungsglauben widerrufen und im Anschluss an afrikanische, indische und fernöstliche Religionen eine Remythisierung der Natur (E. Drewermann) erreicht werden. Gemeinsam ist diesen synkretistischen Vorstellungen die Auffassung von der Natur als der einen, alles hervorbringenden Schöpferkraft im Sinne der natura naturans Spinozas, die alles trägt und durchweht und von der wir Menschen nur ein verschwindend geringer Teil sind. Die Spezies homo sapiens ist nur eine unter Millionen Arten am Baum des Lebens, die zusammen mit Tieren und Pflanzen, Erde und Wasser, Feuer und Luft aus der Naturgeschichte hervorgegangen ist. Weil das Ökosystem der Natur gegenüber dem Menschen das ontologisch Primäre ist, ohne dass es auch den Menschen nicht gäbe, kommt ihr unter diesen naturphilosophischen Voraussetzungen innerhalb einer ökozentrischen Ethik zugleich die Bedeutung einer normativen Letztinstanz zu, der gegenüber der Mensch sein Handeln rechtfertigen muss. Zur Umsetzung ihrer Forderungen sieht die ökozentrische Ethik neben der Anerkennung eigener Rechte von Tieren und Pflanzen, Bergen und Wäldern, Flüssen und Seen juristische Vertretungsformen und Klagewege vor, wie sie aus der Gerichtsbarkeit unter Menschen bekannt sind. Ebenso wie sich Minderjährige oder juristische Personen eines Stellvertreters bedienen, der ihre Rechte wahrnimmt, sollen sich natürliche Wesen anwaltlich vertreten lassen können. Dazu kommen Naturschutzverbänden, ökologische Interessengruppen oder staatlich beauftragte Naturanwälte und Pflichtverteidiger in Frage. Diese würden nicht nur die menschlichen Grundrechte auf saubere Luft, gesundes Wasser und intakte Landschaften oder die Verwirklichung des Staatszieles „Umweltschutz“, sondern die von menschlicher Gewalt und Zerstörung bedrohten Rechte der Natur selbst einklagen. Auf diese Weise könnte ein Fluss Klage gegen den Chemiekonzern erheben, der seine Abwässer in ihn einleitet und diesen zu Strafzahlungen verurteilen lassen, die wiederum der Reinigung des Flusses zugute kämen. Die Forderung, der Mensch solle die Naturwesen als Rechtssubjekte betrachten, mit denen er in paritätischer Partnerschaft Friedensabkommen und Verträge schließt, scheitert jedoch an der Einseitigkeit, in die sie den dialektischen Naturbezug des Menschen auflöst. Der Umstand, dass der Mensch ein Teil der Natur ist und wie alles Lebendige von ihr abhängt, hebt die grundlegenden Unterschiede nicht auf, die zwischen Naturwesen mit Selbstbewusstsein und Reflexionsvermögen und solchen bestehen, die über diese Fähigkeiten nicht verfügen.28 Die Rechtsträgerschaft setzt jedoch Handlungsfähigkeit und Zurechenbarkeit und somit Merkmale voraus, die innerhalb des ökologischen Gesamtsystems den meisten Naturwesen gerade nicht zukommen. Nur weil sie diesen unbestreitbaren Sachverhalt übersieht und Naturwesen wie Flüsse, Berge und Meer zu handelnden und fühlenden Subjekten verklärt, kann die ökozentrische Ethik den AnA. a. O., S. 186. Vgl. H.-J. Höhn, Umweltethik und Umweltpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 49 / 94, S. 13 – 21. 27 28
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spruch erheben, der Mensch müsse die Natur als einen gleichberechtigten Partner behandeln. Die Rede von der „Persönlichkeit“ von Flüssen und Bergen ist allenfalls metaphorisch sinnvoll; real möglich sind reziproke Verantwortungsbeziehungen nur unter prinzipiell ebenbürtigen Partnern (was das Bestehen relativer Unterschiede wie zwischen unmündigen Kindern und Erwachsenen nicht ausschließt). Wo hingegen die Fähigkeit zu Selbstverpflichtung, Zustimmung und gegenseitiger Verabredung fehlt, kann von Frieden und Partnerschaft im eigentlichen Sinn nicht gesprochen werden. Daraus lässt sich freilich nicht ableiten, dass die Natur keinen intrinsischen Eigenwert besäße oder der Mensch für ihre Erhaltung nicht verantwortlich wäre. Doch folgt diese Verantwortung nicht aus einer angeblichen Subjektqualität und Rechtsträgerschaft der Natur, sondern aus dem Umstand, dass der Mensch als vernunftbegabtes Wesen Verantwortung für die Natur und die Erhaltung seiner eigenen Lebensgrundlagen übernehmen kann. Insofern erweist sich die Einebnung wichtiger Unterschiede zwischen den Menschen und den außermenschlichen Naturwesen für die praktischen Belange des Naturschutzes sogar als kontraproduktiv. Die Forderungen einer ökozentrischen Ethik richten sich zwar ganz selbstverständlich an den Menschen und nicht an Tiere oder Pflanzen, aber sie kann nicht begründen, warum diesem eine besondere Verantwortung zukommt, die nur er allein wahrnehmen kann. In noch stärkerem Maße als gegenüber einer biozentrischen Ethik trifft der folgende Einwand für ökozentrische Ethikansätze zu: Sie verfügen über keine geeigneten Kriterien, die menschliche Eingriffe in die Natur in Konfliktfällen rechtfertigen und damit auch begrenzen könnten. Unter der Voraussetzung einer strikten Gleichwertigkeit von tierischem, pflanzlichem und menschlichem Leben gibt es keinerlei Spielräume des Abwägens mehr. Sofern alles menschliche Handeln mit Eingriffen in die Natur verbunden ist, in dem es diese verwandelt, veredelt und in neue Zustandsformen überführt, hebt sich der Begriff des menschlichen Handelns und damit auch der moralischen Verantwortung des Menschen in einer holistischen Naturethik selbst auf. Anstatt in die Natur einzugreifen, müsste der Mensch ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten respektieren und den Dingen ihren freien Lauf lassen, was einer Paralysierung menschlicher Verantwortung gleichkäme. Praktisch gestehen allerdings auch physiozentrische Ethikansätze dem Menschen zu, dass seine elementaren Bedürfnisse nach Nahrung und Flüssigkeit, Wohnung und Wärme, Gesundheit und Freizeit in notwendigen Abwägungsprozessen den Ausschlag gegenüber den Interessen der außermenschlichen Natur geben dürfen, weil nicht nur die Gleichheit aller Lebewesen, sondern auch „die Differenzierung nach Funktionen und nach jeweiliger lebensweltlicher (biotopischer) Eingebundenheit“ Berücksichtigung verdienen.29 Dieses Zugeständnis an die Überlebens- und Handlungsfähigkeit des Menschen kann auf dem Boden einer physiozentrischen Naturethik jedoch nur als Resignation vor dem Unvermeidlichen hingenommen, aber nicht mehr stringent begründet werden. IV. Praktische Konvergenzen Zwischen einer anthropozentrischen Ethik und ihren ökozentrischen Gegenmodellen gibt es trotz ihrer alternativen Begründungsansätze Konvergenzen in theoretischer und 29 G. Altner, Naturvergessenheit. Grundlagen einer umfassenden Bioethik, Darmstadt 1991, S. 203 f.
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praktischer Hinsicht. Sie lassen sich daher als Interpretamente verstehen, die sich nicht in allem ausschließen, sondern in wichtigen Anliegen übereinkommen. Insofern sie den relativen Eigenwert der außermenschlichen Natur anerkennt, überlässt eine ihrer ökologischen Verantwortung bewusste anthropozentrische Ethik die außermenschlichen Lebensformen nicht der Willkür des Menschen; diese gehören der moralischen Gemeinschaft zwar nicht als selbstzweckliche Subjekte, wohl aber als schutzberechtigte Objekte an, die der menschlichen Obhut und Sorge anvertraut sind. Umgekehrt setzt eine ökologische Ethik die Sonderstellung des Menschen, die ihre radikalen Varianten auf der theoretischen Ebene in Abrede stellen, zumindest faktisch voraus, da nur der Mensch ihre Forderungen erfüllen kann. Aufgrund dieser Konvergenzen gilt: „Beide Interpretamente betonen zwei Aspekte des einen Sachverhalts.“30 Eine ökologisch aufgeklärte anthropozentrische Ethik zeichnet sich allerdings durch ihre größere Kohärenz und ihre Fähigkeit aus, Entscheidungskriterien für die Lösung von Interessenkonflikten zwischen dem Menschen und allen übrigen Naturwesen zu begründen. Eine anthropozentrische Ethik kann den konkreten Anliegen des Tierschutzes und der Umweltpolitik (Rücksichtnahme auf die Schmerzempfindlichkeit der Tier, Erhalt der Biodiversität, Schonung natürlicher Ressourcen, Kontrolle der Schadstofffreisetzung, Sauberkeit des Grundwassers, Klimaschutz usw.) Rechnung tragen, während die meisten ökozentrischen Modelle im Konfliktfall Abwägungen zugunsten des Menschen nur als pragmatische Konzessionen zulassen, die im Widerspruch zu ihren theoretischen Annahmen stehen. Um die Verantwortung des Menschen für seine natürlichen Lebensgrundlagen und die Belange des Naturschutzes zu unterstreichen, werden die Grundsätze der Nachhaltigkeit und ökologischen Vernetzung (Retinität) häufig als eigenständige Prinzipien der Sozialethik neben dem Personprinzip, dem Gemeinwohlprinzip, dem Solidaritätsprinzip und dem Subsidiaritätsprinzip aufgeführt.
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Das Konzept der Nachhaltigkeit Von Markus Vogt I. Begriffsklärungen und ökologische Grundlagen Bei der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro 1992 hat sich die internationale Völkergemeinschaft auf das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung verpflichtet (vgl. BMU 1992). Sein ethischer Ausgangspunkt ist die Verantwortung für künftige Generationen (intergenerationelle Gerechtigkeit). Zugleich versteht es Umweltschutz als eine der wichtigsten Sozialleistungen für Armutsbekämpfung (vgl. Hauff 1987; SRU 1994, Nr. 1 – 15; Altner / Michelsen 2001). Der methodische Schlüssel des Konzeptes nachhaltiger Entwicklung liegt in einer vernetzten Perspektive, die soziale Ausgewogenheit, ökologische Tragfähigkeit und ökonomische Effizienz als sich wechselseitig bedingende Größen versteht. Die Sicherung der ökologischen Qualität des Lebensraumes ist nicht nur eine Randbedingung des sozioökonomischen Fortschritts, sondern ein eigenständiges Ziel gesellschaftlicher Entwicklung (vgl. BUND / Misereor 1996, 149 – 285; Vogt 1999, 238 – 243). 1. Umweltökonomischer Kern: Zirkuläre Ökonomie
Natürliche Ressourcen werden dann nachhaltig genutzt, wenn der Grundbestand auf einem optimalen Niveau erhalten bleibt und nur die Zuwachsrate verbraucht wird (vgl. Schanz 1996; Münk 1998). Die Wiederentdeckung des Nachhaltigkeitskonzeptes ist vor allem der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion über das Wachstumsparadigma zu verdanken, in der „sustainable development“ als Gegenbegriff zur Vorstellung des „selfsustained growth“ (sich selbst tragendes resp. verstärkendes Wachstum) gegenübergestellt wurde. Erst in den 90er-Jahren hat sich der Begriff klar aus dem Kontext ökonomischer Wachstumstheorien gelöst und eine allgemeine Verbreitung gefunden. Gleichwohl hat das Konzept der Nachhaltigkeit einen harten umweltökonomischen Kern bewahrt, nämlich das Modell der zirkulären Ökonomie, das in seiner erweiterten Fassung auf vier Grundregeln aufbaut (vgl. SRU 1994, Nr. 11 – 13; Bund / Misereor 1996, 23 – 88): (1) Von nachwachsenden Ressourcen darf nicht mehr verbraucht werden, als die Natur regeneriert. (2) Es dürfen nicht mehr Rest- oder Schadstoffe in die Natur abgegeben werden, als die ökologischen Systeme verarbeiten (assimilieren) können. (3) Der Verbrauch von nicht nachwachsenden Ressourcen muss durch die Schaffung entsprechender Substitute kompensiert werden, die künftigen Generationen gleiche Wohlstandschancen ermöglichen.
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Markus Vogt
(4) Um Risiken zu vermeiden, ist die Eingriffstiefe in ökologische Systeme so gering wie möglich zu halten; die Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit muss erhalten bleiben. Bei der zirkulären Ökonomie handelt es sich eher um ein offenes Forschungsprogramm als um eine normativ eindeutige Vorgabe. Diskussionsbedürftig sind besonders die beiden letzten Punkte. Mit Blick auf das Substitutionsparadigma (vgl. Hampicke 1992, 109 – 120 u. 133) verbietet es der Ansatz „starker Nachhaltigkeit“, Naturkapital durch andere natürliche oder technische Ressourcen zu ersetzen. Die Version einer „schwachen Nachhaltigkeit“ dagegen erlaubt Substitutionen und ist damit einerseits offener für technische und wirtschaftliche Innovationen, andererseits normativ unverbindlicher; daher müssen Substitutionsregeln entwickelt werden. Die Schwierigkeit des Risikobegriffs besteht insbesondere darin, dass sich die Definition ökologischer Risiken nur selten aus naturalen Schwellenwerten und ohne Bezug auf gesellschaftliche Präferenzen ableiten lässt. Die Einlösung des Anspruchs der Nachhaltigkeit steht noch weitgehend aus (vgl. UNEP 1999). Dies liegt primär in den Strukturproblemen des globalisierten Wohlstandsmodells der entwickelten Gesellschaften begründet. Insbesondere fehlen auf der Ebene der Weltwirtschaft adäquate ökologische und soziale Rahmenordnungen, wie sie v. a. vom ordnungspolitischen Konzept der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft angedacht werden. 2. Soziokulturelle Ausdeutung
In seiner allgemeinen Bedeutung meint das Nachhaltigkeitsprinzip: mit Systemen so umgehen, dass sie sich selbst regenerieren können. Insofern handelt es sich um eine Leitlinie für die Steuerung komplexer ökologischer und sozialer Systeme (Vogt 1999, 247 f.). Wegen der Gleichrangigkeit seiner Teilziele ist das Leitbild nachhaltiger Entwicklung eher ein Konflikt- als ein Harmoniemodell. Es gibt keine eindeutigen Handlungsanweisungen vor. Vielmehr kann es unter den Voraussetzungen des weltanschaulichen und ethischen Pluralismus moderner Gesellschaften als Orientierungsrahmen für den gesellschaftlichen Diskurs dienen. Nachhaltigkeit befördert in dieser Hinsicht einen pluralistischen und subsidiären Suchprozess. Die Offenheit des Leitbildes der Nachhaltigkeit fordert zur verstärkten zivilgesellschaftlichen Mitgestaltung des öffentlichen Lebens auf. Eine „teilhabende Demokratie“ ist nicht nur Mittel, sondern zugleich fundamentaler Inhalt des Konzepts nachhaltiger Entwicklung (vgl. BMU 1992, Agenda 21, Kap. 23 – 32, sowie ebd. Rio-Deklaration, Grundsatz 11). In dieser Hinsicht steht es für ethisch-kulturelle Neubestimmungen. Diese betreffen neben dem politisch-zivilgesellschaftlichen Aspekt auch das Verhältnis von Mensch und Natur. Das neuzeitliche Fortschrittsparadigma ist durch die Leitvorstellung einer in die Stoffkreisläufe und Zeitrhythmen der Natur eingebundenen Entwicklung abzulösen. Als Fortschritt kann künftig nur bezeichnet werden, was von den Bedingungen der Natur mitgetragen wird (Diefenbacher 2001, 133 – 170). Damit sind nicht zuletzt auch die Vorstellungen vom guten Leben angesprochen. Kulturelle Zielvorstellungen und Wohlstandsdefinitionen sind von umweltverbrauchendem
Das Konzept der Nachhaltigkeit
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Konsum zu entkoppeln. Naturschutz muss als Kulturaufgabe erkannt und Umweltqualität muss als fundamentaler Wert in die soziokulturellen Zielvorstellungen integriert werden. II. Ethische Maßstäbe Nachhaltigkeit ist ein normatives Konzept. Es verlangt eine Erweiterung des Verständnisses von Gerechtigkeit auf eine weltweite und generationenübergreifende Dimension. Diese Forderung geht nicht nur mit dem ethischen Anspruch der Demokratie konform (Unteilbarkeit des Gerechtigkeitsbegriffs in seiner Gültigkeit für alle Menschen), sondern entspricht auch der gegenwärtigen Entwicklung der Weltlage (Globalisierung der sozialen und ökologischen Frage durch die Weltwirtschaft und durch die Langfristigkeit der Wirkung des heutigen Gebrauchs der Technik). Die räumliche und zeitliche Entgrenzung sozialer, wirtschaftlicher und technischer Interaktionen fordert eine entsprechende räumliche und zeitliche Erweiterung der Ethik (vgl. Vogt 2000). Die Postulate der Nachhaltigkeit lassen sich aus vier ethischen Grundentscheidungen ableiten (vgl. Bund / Misereor 1996, 24 – 36).
1. Gleiche Lebenschancen für künftige Generationen
„Nachhaltigkeit ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der heutigen Generation erfüllt, ohne den künftigen Generationen die Möglichkeit zu nehmen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen.“ (Hauff 1987, Nr. 27; vgl. Birnbacher / Brudermüller 2001) Hinter dieser scheinbar klaren und einfachen Forderung verbergen sich jedoch nicht nur vielfältige praktische Probleme, sondern auch grundlegende ethische Interpretationsfragen: Sie betreffen u. a. die zeitliche Reichweite dieses Prinzips, Erkenntnisfragen (Bedürfnisse und Ressourcen der Künftigen) oder Motivationsprobleme (weil die Künftigen unsere – evtl. unterlassenen – Anstrengungen nicht vergelten können). Einige skizzenhafte Bemerkungen zu diesen Fragen müssen hier genügen: Da die Bedürfnisse der künftigen Generationen nicht bekannt sind und aufgrund des Selbstbestimmungsrechtes auch möglichst wenig vordefiniert werden sollen und da sich zudem Kultur und Technik unabsehbar ändern (können), kann intergenerationelle Gerechtigkeit nicht nach dem Muster einer Gleichverteilung der Ressourcen zwischen den Generationen konkretisiert werden. Entscheidend ist vielmehr die Aufrechterhaltung der Innovationsfähigkeit und der Lebensqualitätschancen. Wir sind folglich nicht für die Wohlfahrt der Künftigen, sondern für ihre Wohlfahrtschancen verantwortlich. Die Forderung eines völligen Verzichts auf die Nutzung der nicht nachwachsenden Rohstoffe wäre eine offensichtliche Überforderung. Aus der Perspektive einer verantwortungsethischen Folgenbewertung ist das Konzept einer „schwachen Nachhaltigkeit“ (s. o. I.1.) zumindest für Übergangszeiten vorzuziehen. Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass das Ressourceneigentumsrecht einer Generation nur das Recht umfasst, sich die Erträge anzueignen (usus fructus), solange die Ertragskraft erhalten bleibt.
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Markus Vogt 2. Konstantes Naturkapital
Da ein maßgeblicher Engpass für die Lebenschancen künftiger Generationen die Schädigung des Naturraumes und der Funktionstüchtigkeit der Biosphäre ist, konkretisiert sich die Forderung nach intergenerationeller Gerechtigkeit wesentlich in dem Postulat „konstantes Naturkapital“. Hierfür muss man die Natur in irgendeiner Weise auch als physische, nicht nur als monetäre Größe in die Berechnungen mit einbeziehen. Deshalb ist es sinnvoll, das Theorem „konstantes Naturkapital“ durch die Grundfunktionen der ökologischen Systeme zu interpretieren: Produktions-, Senken- (Assimilation), Regelungs- und Informationsfunktion. Erhalten werden soll demnach nicht unbedingt ein bestimmter Zustand der Natur, sondern ihre Evolutionsfähigkeit. Auf globaler Ebene ist heute die Senkenfunktion der Natur, d. h. ihre Fähigkeit, vom Menschen produzierte Schadstoffe aufzunehmen, der maßgebende Engpass. Aber auch die beträchtliche Reduktion der genetischen Information des Biosystems infolge des rapiden Rückgangs der Artenvielfalt wird sich weltweit negativ auswirken (vgl. auch SRU 1994, Nr. 99 – 101). Hinsichtlich der differenzierten ethischen Bewertungskriterien für den Biosphärenschutz schlägt der „Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen“, ein Beratungsgremium der Bundesregierung, folgende Unterscheidung vor: Nach kategorischen Prinzipien sind Eingriffe in wichtige Stoff- und Energiekreisläufe auf globaler Ebene oder die Schädigung der Vielfalt von Ökosystemen sowie primärer Schlüsselarten verboten, da sie die Existenz des Menschen gefährden. Die übrigen Güter- bzw. Naturraumpotentiale sind gemäß den kompensatorischen Prinzipien teleologischen Bewertungsverfahren zugänglich, wie sie in der heutigen Debatte um Nutzungsregeln für die Natur überwiegen (vgl. WBGU 1999, 14 f., 38 ff., 47 – 80).
3. Gleiches Recht auf global zugängliche Ressourcen
Dieser Grundsatz bemisst lokales Handeln am Anspruch einer globalen Solidarität. Da die Knappheit an Trinkwasser, die Versteppung und Erosion von fruchtbarem Boden oder die klimabedingten Veränderungen der Naturraumpotentiale schon heute zu den dominanten Armutsursachen und zugleich Armutsfolgen gehören, besteht hier ein unlösbarer Zusammenhang zwischen ökologischen und sozialen Problemen. Deshalb hat die UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg (2002) den Akzent auf Armutsbekämpfung gesetzt. Die entscheidende gerechtigkeitstheoretische Frage ist, ob sich ein Anspruch aller Menschen auf gleiche Nutzungschancen der global zugänglichen Ressourcen begründen lässt. Nimmt man dies an, muss man die gegenwärtige Situation als fundamental ungerecht charakterisieren, da ca. 20 % der Menschheit weit über 80 % der Ressourcen verbrauchen (vgl. Bund / Misereor 1996, 89 – 148). Man kann diese Ungleichverteilung jedoch nur insofern als ungerecht kennzeichnen, als man sie entweder als Folge des gesellschaftlichen Handelns oder als Gegenstand eines ausdrücklichen Solidarvertrages einstuft. Denn auf eine natürliche Ungleichverteilung kann die ethische Differenz „gerecht / ungerecht“ nicht angewandt werden, weil die Natur kein möglicher Adressat sittlicher Postulate ist.
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Die Forderung nach gleichem Recht auf Nutzung natürlicher Ressourcen ist deshalb primär auf die Rahmenbedingungen der Weltwirtschaft sowie auf die solidarische Armutsbekämpfung zu beziehen (vgl. Vogt 2005, 154 f.). In manchen Bereichen, wie etwa beim CO2-Ausstoß, sind allerdings globale Gleichheitsforderungen durchaus anwendbar, wobei ein Mittelweg aus vier Gerechtigkeitsansätzen zu wählen ist: (1) absolute Gleichverteilung der Nutzungs- bzw. Emissionsrechte (ca. 2 t pro Person pro Jahr gelten als Grenze zur Vermeidung von gefährlichem Klimawandel), (2) Gleichheit der relativen Anstrengung (gleiche Prozentzahl der Reduktion, nach dem Kyoto-Protokoll 5,2 % bis 2005, gemessen am CO2-Ausstoß des Jahres 1990), (3) Beanspruchung je nach Leistungsfähigkeit und Anteil an der Problemverursachung (Mehrleistungen der Industrieländer, die die Hauptverursacher des Klimawandels sind), (4) Einbeziehung von Kompensationsmaßnahmen (Senkenfunktion der Wälder; Förderung CO2 sparender Technologien in anderen Ländern). Ferner ist der Bezugspunkt für die Forderung nach weltweit gerechter Ressourcenverteilung zu klären: der Einzelne oder – wie in der Studie Zukunftsfähiges Deutschland – die Nation. Die Ansprüche von Deutschland werden auf der methodischen Basis des Umweltraum-Konzeptes anhand der Bevölkerungszahl ermittelt. Damit lässt sich z. B. berechnen, dass der „ökologische Rucksack“ (d. h. die ökologischen Kosten) des Raumund Ressourcenverbrauchs der Deutschen zu ca. zwei Dritteln außerhalb des Landes liegt (vgl. Bund / Misereor 1996, 26 – 53).
4. Zeitmaße und Regenerationsraten natürlicher Prozesse
Menschliche Eingriffe müssen in einem angemessenen Verhältnis zum Zeitmaß der natürlichen Prozesse stehen, so das Grundprinzip des Forschungsprogramms zur „Ökologie der Zeit“ (Held / Geißler 1995). Die „zeitökologische“ Perspektive ist insofern ethisch bedeutsam, als Analysen der Zeitskalen eine dynamische Interpretation des Postulates „konstantes Naturkapital“ ermöglichen. Denn dieses zielt auf Gleichgewichtsprozesse, die als Synchronisation der Zeitskalen miteinander verknüpfter Systeme zu verstehen sind. Das Kriterium des „angemessenen Verhältnisses“ ist allerdings zu offen, um normative Kraft entfalten zu können. Aus den vier genannten Wertentscheidungen ergeben sich weit reichende Konsequenzen. Freilich dürfen auch die Defizite nicht übersehen werden. Die Suche nach tragfähigen Maßstäben für globale, auch künftige Generationen einschließende Gerechtigkeit steht erst am Anfang. Die Vorstellung der Gerechtigkeit als Gleichverteilung der Ressourcen stößt sowohl in der intergenerationellen wie in der globalen Dimension an deutliche Grenzen. Die Gleichheitsforderung muss stärker formalrechtlich interpretiert und damit auf faire Interaktionsbedingungen bei der Ressourcennutzung verlagert werden. Die Heterogenität der Gerechtigkeitsvorstellungen im bisherigen Nachhaltigkeitsdiskurs ist eine seiner größten Schwächen.
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III. Nachhaltigkeit und Katholische Soziallehre 1. Annäherungen in der bisherigen Soziallehre
In seinem integrativen Ansatz entspricht das Nachhaltigkeitskonzept wesentlich dem ethischen Ansatz des christlichen Schöpfungsglaubens (vgl. DBK 1998, Münk 1998). Es weist grundlegende Parallelen zu dem Dreiklang des konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung auf. Der Ökumenische Weltrat der Kirchen hat sich bereits 1974 für eine „sustainable society“ ausgesprochen (vgl. Stückelberger 1997, 195 – 205). Das Worldwatch-Institute in Washington, das sich mit der Rolle der Religionen im Nachhaltigkeitsdiskurs auseinandergesetzt hat, geht davon aus, dass eine nachhaltige Entwicklung der Weltgesellschaft nur bei engagierter Beteiligung der Religionen gelingen könne (vgl. Gardner 2003). Prägend für den Zugang und die umweltethische Positionierung des Vatikans ist das Konzept der ökologischen Humanität (vgl. Johannes Paul II. 1991, Nr. 38). Fragen der ökologischen Ethik sind von kulturellen Zusammenhängen her und auf der Basis des Personprinzips anzugehen. Insofern das Konzept der Nachhaltigkeit programmatisch Fragen der Armutsbekämpfung (als einen zentralen Aspekt der Menschenwürde) und des Umweltschutzes verbindet, erleichtert es den Zugang des katholischen Lehramtes zur ökologischen Thematik erheblich. In der deutschen Kirche beziehen vor allem zwei Dokumente positiv Stellung zum Leitbild nachhaltiger Entwicklung: 1. Im 1997 veröffentlichten Gemeinsamen Wort der EKD und DBK „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ wird Nachhaltigkeit erstmals zu den „Grundorientierungen“ christlicher Ethik gerechnet (vgl. Nr. 122 – 125.224–232; Siep 1997, 138 f.). 2. Die Schrift der Kommission VI der DBK „Handeln für die Zukunft der Schöpfung“ (1998) entfaltet diesen Gedanken durch eine normative Verknüpfung von Nachhaltigkeit und christlicher Schöpfungstheologie sowie durch eine Konkretisierung für zentrale kirchliche Handlungsfelder. Die deutschen Bischöfe waren damit Schrittmacher für die Integration des Gedankens der Nachhaltigkeit in die kirchliche Sozialverkündigung. In der sozialethischen Auseinandersetzung wird der ethische und theologische Stellenwert des Nachhaltigkeitsprinzips allerdings sehr unterschiedlich eingeschätzt (vgl. Wulsdorf 2005; Reis 2003; Münk 1998; Stückelberger 1997). 2. Herausforderungen für eine Erweiterung der Sozialprinzipien
Die theologisch-ethische Brisanz des Nachhaltigkeitskonzeptes liegt in der Erkenntnis, dass sich die heutige Umwelt- und Entwicklungsfrage nicht in Einzelproblemen erschöpft, sondern die ethischen Grundlagen, Regeln und Ziele des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der sich herausbildenden Weltgesellschaft betrifft. Nachhaltigkeit ist eine Voraussetzung globaler und intergenerationeller Gerechtigkeit, die ohne eine systematische Integration des Naturfaktors gegenüber zentralen Problemstellungen, vor allem gegenüber strukturethischen Aspekten, blind bliebe. Nachhaltigkeit ist das „missing link“ zwischen Schöpfungsglauben und gesellschaftlichem Umweltdiskurs. Mit Hilfe des Nachhaltigkeitskonzepts kann der Schöpfungsglaube in ordnungsethische Kategorien übersetzt und auf diese Weise politikfähig und justiziabel werden sowie die konkreten Konsequenzen in den organisatorischen Strukturen und wirtschaftlichen Entscheidungen deutlich machen.
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Die ökosoziale Problematik der Nachhaltigkeit fordert die Katholische Soziallehre auch methodisch heraus. Die drei klassischen Sozialprinzipien sind um das Prinzip der Nachhaltigkeit zu ergänzen, dessen zentrales Anliegen die Vernetzung von Perspektiven und Bereichen ist. Damit hat Umweltethik nicht mehr den Charakter einer Bereichsethik, sondern wird zum Impuls, den Natur- und Zukunftsfaktor in alle wesentlichen Fragen aktueller Sozialethik zu integrieren. Auf diese Weise werden die Prinzipien der Personalität, Solidarität und Subsidiarität sowohl aufgegriffen und in eigener Weise aktualisiert als auch um einen prinzipiell neuen Problemhorizont erweitert. – Ohne die anthropozentrische und damit personale Rückbindung würde der Versuch, die umfassenden Forderungen des Nachhaltigkeitsprinzips zu begründen, in naturalistische Konzepte münden. – Ohne das Solidaritätsprinzip und die vielen Institutionen zur Armutsbekämpfung bliebe das Nachhaltigkeitsprinzip politisch und gesellschaftlich isoliert und ohne Zusammenhang zum stärksten ethischen Motivationspotential. Die Chance nachhaltiger Entwicklung steht und fällt mit dem ernsthaften Bemühen um weltweite Armutsbekämpfung. – Das Subsidiaritätsprinzip ist das organisatorische Herzstück einer nachhaltigen Entwicklung. Auch aus ökologischer Sicht müssen Strukturen der Freiheit und der Anpassung an die jeweiligen soziokulturellen und natürlichen Lebensräume gefördert werden.
Aufgrund der global erfolgreichen Expansionsdynamik der Wirtschaft ist ein neues Feld ethischer Verantwortung entstanden, von deren Wahrnehmung das Überleben der Menschheit abhängt. Solange der Umweltaspekt in der Sozialethik nicht als eigenständiges Prinzip thematisiert wird, wird die Sozialethik kaum in der Lage sein, eine systematische Antwort auf die ökologische Herausforderung zu geben.
3. Nachhaltigkeit: Eine ordnungsethische Ausgestaltung der Schöpfungsverantwortung
Zwischen dem christlichen Schöpfungsglauben und dem Prinzip der Nachhaltigkeit vollzieht sich eine doppelte Aktualisierungsbewegung. Zum einen kann der christliche Glaube im Kontext des Nachhaltigkeitsdiskurses einen originären Beitrag zum Verständnis und zur Umsetzung von Nachhaltigkeit leisten. Zum anderen aktualisiert das Sozialprinzip der Nachhaltigkeit den Schöpfungsglauben und integriert die christliche Schöpfungsverantwortung in die Katholische Soziallehre. Hier ergibt sich jedoch eine Schwierigkeit: Die klassischen Sozialprinzipien Personalität, Solidarität und Subsidiarität, die deren systematischen Kern ausmachen, sind auf den zwischenmenschlichen Bereich bezogen. Der Katholischen Soziallehre fehlt bislang ein prinzipieller Zugang zur globalen Umweltfrage, was dazu führt, dass ihre Reflexion in heterogene Kontexte verlagert und zersplittert wird, so dass kein kohärentes Konzept entsteht. Daher gibt es bisher auch keine Enzyklika zu ökologischen Fragen. Die qualitativ neue Herausforderung der christlichen Soziallehre und -ethik besteht darin, dass die vielfältigen Phänomene der global beschleunigten Entwicklung von Armut und Umweltzerstörung in einem engen inneren Zusammenhang stehen und deshalb auch nur gemeinsam analysiert und bewältigt werden können. Wirtschaftlicher Wohl-
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stand, soziale Gerechtigkeit und ökologische Tragfähigkeit stehen heute aufgrund der engen Verflechtung weltweiter Wirkungszusammenhänge so sehr in einer wechselseitigen Abhängigkeit, dass sie nicht einzeln oder gar gegeneinander gesichert werden können. Erst eine systematische Verknüpfung in globaler Perspektive kann die Wirtschafts-, Sozial- und Umweltethik aus ihrer Befangenheit in kurzatmiger Symptomorientierung befreien. Literaturverzeichnis Altner, G. / Michelsen, G. (Hrsg.) (2001): Ethik der Nachhaltigkeit, Frankfurt a. M. Birnbacher, D. / Brudermüller, G. (Hrsg.) (2001): Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, Würzburg. BUND / Misereor (Hrsg.) (1996): Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung. Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, Basel. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) (Hrsg.) (1992): Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro (Dokumente), Bonn. Die deutschen Bischöfe [DBK] – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen (1998): Handeln für die Zukunft der Schöpfung (Erklärungen der Kommissionen 19), Bonn. Diefenbacher, H. (2001): Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Zum Verhältnis von Ethik und Ökonomie, Darmstadt. EKD / DBK [Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland / Deutsche Bischofskonferenz] (1997): Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (Gemeinsame Texte 9), Hannover / Bonn. Gardner, G. (2003): Die Einbeziehung der Religion in der Suche nach einer nachhaltigen Welt, in: Worldwatch Institute (Hrsg.), Zur Lage der Welt 2003, Münster, S. 291 – 327. Hampicke, U. (1992): Ökologische Ökonomie. Individuum und Natur in der Neoklassik (Natur in der ökonomischen Theorie, Teil 4), Opladen. Hauff, V. (Hrsg.) (1987): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (= Brundtland-Bericht), Greven. Held, M. / Geißler, K.-H. (Hrsg.) (1995): Von Rhythmen und Eigenzeiten. Perspektiven einer Ökologie der Zeit, Stuttgart. Johannes Paul II. (1991): Centesimus annus, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 101), Bonn. Münk, H. (1998): Nachhaltige Entwicklung und Soziallehre, in: Stimmen der Zeit, Bd. 216, S. 231 – 245. Reis, O. (2003): Nachhaltigkeit – Ethik – Theologie. Eine theologische Beobachtung der Nachhaltigkeitsdebatte, Münster. Schanz, H. (1996): Forstliche Nachhaltigkeit. Sozialwissenschaftliche Analyse der Begriffsinhalte und -funktionen, Freiburg i. Br. Siep, L. (2004): Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik, Frankfurt a. M. SRU (Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen) (1994): Umweltgutachten 1994. Für eine dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung, Stuttgart. Stückelberger, Ch. (1997): Umwelt und Entwicklung. Eine sozialethische Orientierung, Stuttgart. United Nations Environment Programme (UNEP) (1999): Global Environment Outlook. Geo 2000, Nairobi.
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Vogt, M. (1999): Das neue Sozialprinzip „Nachhaltigkeit“ als Antwort auf die ökologische Herausforderung, in: W. Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Gütersloh, Bd. I, S. 237 – 257. – (2000): Globale Nachbarschaft. Christliche Sozialethik vor neuen Herausforderungen, München. – (2005): Natürliche Ressourcen und intergenerationelle Gerechtigkeit, in: M. Heimbach-Steins, Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, Bd. II: Konkretionen, Regensburg, S. 137 – 162. WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen) (1999): Welt im Wandel. Umwelt und Ethik. Sondergutachten, Marburg. Wulsdorf, H. (2005): Nachhaltigkeit. Ein christlicher Grundauftrag in einer globalisierten Welt, Regensburg.
Umweltschutz, Naturschutz, Tierschutz Von Markus Vogt
Die Untergliederung ökologischer Ethik in Umweltschutz, Naturschutz und Tierschutz spiegelt nicht nur unterschiedliche Handlungsfelder wider, sondern steht zugleich für drei unterschiedliche Begründungszugänge ethischer Reflexion: Im Umweltdiskurs dominiert eine anthropozentrische Begründung, insofern es primär um die langfristige Sicherung menschlicher Lebensgrundlagen und Lebensräume geht. Im Naturschutz steht heute die Biodiversität im Mittelpunkt, deren Bedeutung kaum angemessen von ihrem Funktionsnutzen für den Menschen her erfasst werden kann und insofern nach einer Begründung auf der Basis des Eigenwertes der Natur und der Lebewesen verlangt (vgl. Korff 2003, 42). Im Tierschutz hat das Kriterium der Schmerzvermeidung besondere Bedeutung, das freilich seinerseits in Konzeptionen einer Abstufung eingebunden werden muss, die im Kontext christlicher Ethik noch relativ wenig entwickelt sind (vgl. Münk 1997; Höffe 1993, 221 – 224; Ricken 1987).
I. Umweltschutz 1. Zum Begriff „Umwelt“
Umwelt ist die Gesamtheit der belebten und unbelebten Umgebungsfaktoren, die auf einen Organismus einwirken und / oder auf die er einwirkt. Sie bildet die arttypische Merk- und Wirkwelt eines Lebewesens (vgl. Uexküll / Kriszat 1983). Im Unterschied zum Tier, das in der Regel eng an eine bestimmte Umwelt angepasst ist, vermag der Mensch als „weltoffenes Wesen“ (Scheler) auch Umwelten, die ihm zunächst unzuträglich sind, kulturell und technisch seinen Bedürfnissen entsprechend umzugestalten. Dabei wurde die natürliche Umwelt meist unter dem Aspekt ihrer Unerschöpflichkeit und Regenerierbarkeit gesehen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Notwendigkeit eines aktiven Umweltschutzes deutlich ins Bewusstsein getreten (vgl. Haber / Steiger 1998). Das Wort Umweltschutz wurde 1969 anlässlich der Gründung einer dafür zuständigen Abteilung im Bundesinnenministerium in die deutsche Sprache eingeführt. Der Begriff umfasst den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen von Menschen, Tieren und Pflanzen (vgl. SRU 1988, Nr. 1 – 18). In der Entwicklung des Umweltschutzes in Deutschland treten zunehmend großräumige Zusammenhänge in den Blick: In den 70er-Jahren dominierten lokale Umweltgefahren wie Wasser- und Luftverschmutzung den Diskurs, in den 80er-Jahren regionale Probleme wie z. B. Waldschäden. Seit den 90er-Jahren stehen globale Umweltgefährdungen wie Klimaveränderungen oder Wüstenausdehnung im Vordergrund. Mit dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung, das in der UNCED-Konferenz in Rio de Janeiro
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(1992) internationale Verbindlichkeit gewonnen hat, ist Umweltschutz – zumindest dem Anspruch nach – zu einem Teil globaler Entwicklungspolitik geworden (siehe 14. Kapitel in diesem Band). 2. Zur Entwicklung des Umweltbewusstseins und des Umweltrechts
Die Umweltbewegungen haben in den verschiedenen Ländern häufig ganz unterschiedliche Entwicklungen genommen. Zugleich spiegeln sie das allgemeine Bewusstsein ihrer Zeit wider. Ihr eigentlicher Beginn liegt in den frühen 70er-Jahren. Das Buch, das als Inbegriff dieser ökologischen Epoche gelten kann, ist 1972 erschienen und seither immer wieder ein Schlagwort in den Debatten: „Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit“ von Dennis Meadows u. a. Geprägt von der gesellschaftskritischen Grundstimmung dieser Zeit nahm die Umweltbewegung die Form eines Katastrophen- und Anklagediskurses an. In den 80er-Jahren verlagerte sich das Hauptaugenmerk auf den technischen Umweltschutz, und die Ökologie professionalisierte und institutionalisierte sich. So wurden 1986 das Bundesumweltministerium als Reaktion auf den Reaktorunfall in Tschernobyl und 1987 die United Nations Conference for Environment and Development (UNCED) gegründet. In den 90er-Jahren verbanden sich der ökologische und der weltweite Armutsdiskurs im Nachhaltigkeitskonzept. Damit hat sich der ökologische Diskurs einerseits auf breiter Basis etabliert, andererseits ist unter dem Eindruck des Klimawandels sowie des Ausverkaufs der Ressourcen durch ungeregelte Globalisierung deutlich geworden, wie unzureichend bisher alle Versuche bleiben, den Naturfaktor in die technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zu integrieren (zur Situationsanalyse vgl. UN – World Ressources Institute 2005). Mit der Technisierung, Professionalisierung und Institutionalisierung hat sich auch eine zunehmende Verrechtlichung des Umweltschutzes vollzogen. Während es anfangs genügte, Schadstoffe am Ende des Fertigungsprozesses zu filtern (sogenannte End-ofthe-pipe-Methoden), wird inzwischen verstärkt darauf geachtet, bereits beim Produktionsvorgang die Umwelt möglichst wenig zu belasten. Das Umweltrecht wird immer weiter ausgebaut, zentral sind die Umwelthaftung und die Umweltinformationspflicht. Desiderate sind eine Harmonisierung der vielfältigen Vorschriften des Umweltrechts sowie der Schritt von äußerer Kontrolle zu Regeln und Mentalitäten, die verlässliche Eigenverantwortung fördern. Umweltschutz hat seinen bereichsspezifischen Charakter verloren, er wird als Querschnittsaufgabe verstanden, die gemäß dem Konzept der Nachhaltigkeit in die verschiedenen Politikfelder zu integrieren ist (nicht zuletzt in den Umweltprogrammen der EU). All dies ist Grund genug, dass sich auch die christliche Sozialethik mit diesem Thema befasst. 3. Christliche Zugänge zur Umweltethik
Im Fokus der Diskussion christlicher Umweltethik steht die Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur, die teilweise zu radikalen Anfragen an die Tradition anthropozentrischer Konzeptionen führt (vgl. in diesem Band Schockenhoff, Anthropozentri-
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sche und ökozentrische Ethik). Entscheidend ist es hier, einen falschen Dualismus zwischen Anthropozentrik und Bio- / Patho- oder Ökozentrismus zu vermeiden. Dies gelingt, wenn der Mensch immer auch als Teil der Natur und die Natur immer auch als sich entwickelnde und kulturell gestaltbare Ordnung berücksichtigt werden (vgl. Vogt 2006, 141 ff.). Gefragt ist christliche Umweltethik besonders dann, wenn nicht nur technische Lösungen im Blickfeld stehen, sondern darüber hinaus ein Wandel der Wohlstandsvorstellungen und ein Ethos freiwilliger Verantwortung für die Schöpfung. Ein umweltgerechter Lebensstil kann sich an den klassischen Tugenden orientieren und neue Dimensionen für deren heutige Interpretation erschließen: Gerechtigkeit (weltweit und intergenerationell), Klugheit (bei der Abwägung komplexer ökologischer und sozioökonomischer Zusammenhänge), Genügsamkeit („Suffizenz“ im Sinne maßvoller Wohlstandsmodelle); Stärke (Mut im zivilgesellschaftlichen Engagement und Konsequenz im Lebensstil). In der Motivation ökologischer Verantwortung können christliche Schöpfungsethik und -spiritualität wichtige Impulse beitragen: Sie nehmen die Erde als Raum des geschenkten Lebens wahr, in dem der Mensch nur dann seinen angemessenen Ort findet, wenn er sich nicht allein an seinem Nutzwert orientiert, sondern an seiner religiösen, ästhetischen und symbolischen Bedeutung (Link 1991; EKD / DBK 1985; DBK 1998, Nr. 65 – 85). Zugleich kann und muss sich christliche Umweltethik im interdisziplinären Diskurs um Begründungen, Normen und Institutionen des Umweltschutzes bewähren. Hierfür haben vor allem die Frage der Anthropozentrik, der Zusammenhang von ökologischen und sozialen Fragen sowie die Übersetzung der ethischen Impulse in die Funktionsgesetze von Wirtschaft, Recht und anderen Bereichen gesellschaftlicher Gestaltung zentrale Bedeutung (Korff 2003; Höhn 2001; Lochbühler 1996; Rappel 1996; Schramm 1994; Irrgang 1992). 4. Ökologisch-soziale Marktwirtschaft als notwendiges Rahmenkonzept globaler Umweltpolitik
Entsprechend der drei Grunddimensionen gesellschaftlicher Zukunftsfähigkeit (Ökologie, Ökonomie und Soziales) ist der adäquate Ausdruck des Leitbilds der nachhaltigen Entwicklung eine Ökologisch-soziale Marktwirtschaft. Diese ist von den Kirchen in Deutschland bereits 1985, also noch vor den großen Volksparteien, ausdrücklich gefordert worden (vgl. EKD / DBK 1985, Nr. 79 – 87; dies. 1997, Nr. 11 f. und 148). Sie nutzt erstens den Markt als effektivstes Mittel zur Schaffung von Wohlstand (vgl. Schramm 1994, 148 – 251) und als unverzichtbares Innovationspotential, um die Ressourcenproduktivität zu erhöhen. Zweitens verpflichtet sie sich dem Ziel der sozialen Gerechtigkeit durch entsprechende Ausgleichsmaßnahmen und durch Ausweitung der gesellschaftlichen Beteiligungsmöglichkeiten aller. Drittens werden alle wirtschaftlichen Prozesse von Anfang an durch ökologische Standards, eine stärkere Beachtung öffentlicher Güter, ein verändertes Verständnis von Arbeit und Wohlstand sowie eine radikale Reform des Steuersystems und der Anreize so gestaltet, dass die natürlichen Existenzgrundlagen geschont werden. Ökosoziale Marktwirtschaft bedeutet, dass der Naturschutz nicht nur mit Hilfe defensiv-nachsorgender Maßnahmen als Begrenzungsfaktor die gesellschaftlichen Entwicklung berücksichtigt, sondern dass er als Zielfaktor und integraler Bestandteil des Wohlstandsmodells anerkannt wird.
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Das Modell der Ökologisch-sozialen Marktwirtschaft ist eine der wichtigsten Traditionen, die Europa in die Gestaltung der Globalisierung einzubringen hat. Dazu muss allerdings zunächst gemäß dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung die fehlende Kompatibilität der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Regelungssysteme auf Weltebene hergestellt werden (vgl. in diesem Band: Vogt, Nachhaltigkeit). Eine Initiative, die hierfür bereits ein weit verzweigtes weltweites Netz von anerkannten Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur gewonnen hat, ist der Global Marshall Plan für eine weltweite ökosoziale Marktwirtschaft. Den institutionellen Akzent legt der Global Marshall Plan auf die kohärente Verknüpfung der internationalen Regime sowie eine Co-Finanzierung von Entwicklung in südlichen Ländern durch eine steuerliche Abschöpfung der Weltfinanzmärkte (vgl. Radermacher 2004, 22 – 26, 47 – 54, 139 – 165, 258 – 283). II. Naturschutz 1. Historischer Überblick und aktuelle Entwicklungen
Die Idee des Naturschutzes entstand im gut situierten städtischen Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts als gefühlsbetonte Sehnsucht nach der ländlichen Natur angesichts der Auswirkungen der Industrialisierung (vgl. Haber / Steiger 1998). Eine Renaissance erlebte der Naturschutz in den 70er-Jahren, als sich unterschiedliche Initiativen für großräumigen Biotopschutz oder integrierte Nutzungskonzepte (etwa für Landwirtschaft und Wasserschutz) einsetzten. Die Schutzmaßnahmen sollten sich auf den gesamten Naturhaushalt und nicht bloß auf einzelne Arten beziehen. 1976 trat dann das erste Bundesnaturschutzgesetz in Kraft, in dem Naturschutzrecht und Landschaftspflege einen wesentlichen Teil bilden und das sich somit von der alten, strikt anthropozentrischen Ausrichtung verabschiedete. In der Gesetzesnovelle von 2002 wird als Ziel angegeben, die gesamte Flächennutzung in Deutschland künftig umwelt- und landschaftsverträglich zu gestalten. Neu ist die Möglichkeit der Verbandsklage. Ein wichtiges Element im Naturschutz sind die Biosphärenreservate: d. h. großflächige Ausschnitte von Naturund Kulturlandschaften, in denen Naturschutz und nachhaltige Bewirtschaftung miteinander vereinbart werden sollen. Sie sind unter dem Dach der UNESCO zu einem weltweiten Verbund zusammengeschlossen. In Deutschland gibt es derzeit (2008) 13 Biosphärenreservate sowie 14 Naturparks, denen jedoch noch ein einheitliches Konzept fehlt. Die Fläche der großräumig geschützten Naturschutzgebiete wurde in Deutschland seit 1990 mehr als verdoppelt. Dennoch schreitet der Trend zu Landschaftsverarmung durch Versiegelung und Zerschneidung von Flächen voran. Etwa zwei Drittel aller Biotoptypen (und fast alle wertvollen Biotoptypen) sind als gefährdet eingestuft, mindestens 39 % aller Tierarten und 28 % aller Pflanzenarten gelten als stark gefährdet oder bereits ausgestorben (vgl. Volkery 2003, 140 f.). Dies hat u. a. damit zu tun, dass die Naturschutzvorschriften viele unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, wie z. B. „erhebliche Beeinträchtigung des Naturhaushaltes“. Ferner können sich die Experten nur schwer auf einheitliche Naturbewertungsmethoden einigen, was kaum verwundert angesichts der Uneinigkeit der Gesellschaft, welche Natur wie und aus welchen Motiven zu schützen sei. Naturschutz müsste als Bestandteil nachhaltiger Regionalentwicklung konzipiert werden, die neue Entwicklungsperspekti-
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ven für Arbeit, Erholung, Tourismus und Landwirtschaft eröffnet. Gelungene Beispiele für solche integrativen Strategien finden sich in der Rhön und der Eifel sowie in Teilen der Nordseeküste und Oberbayerns. 2. Artenschutz
Ein zentrales Thema im Rahmen des Naturschutzes ist der Artenschutz. Damit wird die Summe aller rechtlichen und planerischen Maßnahmen zum direkten Schutz einzelner Tier- und Pflanzenarten bezeichnet. Derzeit gelten 23 % der Wirbeltiere und 57 % der Nichtwirbeltiere als gefährdet. Insgesamt ist das Aussterben von Arten gegenüber dem evolutionären Durchschnitt mindestens um den Faktor 1.000 erhöht (vgl. Berié / Kobert 2006, 726; WBGU 1993, 102 – 113). Wesentliche Ursachen sind die Beeinträchtigung oder Vernichtung von Lebensräumen, vor allem der Regenwälder, die Übernutzung von Ökosystemen, die Einfuhr fremder Arten, die allgemeine Umweltverschmutzung sowie die globale Erwärmung. Deshalb steht heute nicht mehr der isolierte Schutz einzelner Arten im Vordergrund, sondern „Biodiversität“ als Ausdruck ökologischer Vielfalt. Die lange übliche Begründung des Artenschutzes, dass Vielfalt eine notwendige Bedingung für ökologische Stabilität sei, gilt heute nicht mehr als wissenschaftlich gesichert. Aktuelle ethische Begründungen setzen daher beim Eigenwert der Lebewesen an, ohne deswegen notwendigerweise ein biozentrisches Weltbild vorauszusetzen. Im Ganzen besteht weltweit eine signifikante Korrelation zwischen der Bedrohung kultureller und biologischer Vielfalt.
3. Naturschutz als Thema der Sozialethik
In den aktuellen Diskussionen werden „Umweltschutz“ und der ältere Ausdruck „Naturschutz“ teilweise synonym verwandt, wobei in gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen der Begriff Umweltschutz dominiert und häufig als übergeordnete Kategorie verwendet wird. Für die Sozialethik bietet jedoch der Naturbegriff den grundlegenden semantischen Bezugspunkt (Vogt 2001; Höffe 1993, 104 – 239). Denn er weist stärker als der Umweltbegriff auf die hermeneutische Problematik der komplexen Beziehung zwischen Ethik und Natur hin: Erstens ist der Mensch von Natur aus Kulturwesen und zweitens sind zahlreiche Landschaften, die man gerne als natürlich bewundert, letztlich Kulturlandschaften. Aus sozialethischer Sicht ist die Frage nach dem Wert der Natur zu differenzieren: Neben dem Nutzwert wird im Umweltdiskurs auch vom (ästhetischen oder ontologischen) Eigenwert der Natur gesprochen. Doch dessen Feststellung ist erkenntnistheoretisch und ethisch betrachtet wiederum ein kulturspezifisches Phänomen (vgl. Höhn 2001, 88 – 92; Vogt 2001). Deshalb ist mit dem Plädoyer für den Eigenwert der Arten noch nichts für den ethischen Streit zwischen den verschiedenen Begründungsmodellen der Anthropo-, Patho-, Bio- oder Physiozentrik entschieden, die jeweils in Abgrenzung gegen die anderen Modelle Menschsein, Leidensfähigkeit, Leben oder Dasein als Basisbezug der Ethik wählen. Da allein der Mensch als Subjekt des Erkennens und Entscheidens und als Adressat moralischer Forderungen angenommen werden kann, ergibt sich die methodische Kon-
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sequenz einer unaufgebbaren Begründung des Naturschutzes vom Menschen her (vgl. Münk 1997; Höhn 2001, 88 – 92). Diese kann mit zwei klassischen Figuren der Sozialethik verbunden werden: mit Solidarität und Gerechtigkeit. Die Natur und damit auch die Artenvielfalt stellen ein gemeinsames Gut der Menschheit dar, das darum nicht von einigen wenigen konsumiert bzw. zerstört werden darf (vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 466 – 487). III. Tierschutz 1. Einführung: Das gespaltene Bewusstsein
Tierschutz umfasst alle Gesetze, Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutz der Tiere vor Missbrauch und unnötiger Gewalt durch den Menschen. Der Schutz soll alle Arten der Tiernutzung und -behandlung umfassen (Haltung, Handel, Jagd, Beeinträchtigung der Lebensräume, Schlachtung, Transport, Versuche und Züchtung) (vgl. Irrgang 1998; Höffe 1993, 218 – 238). Die gegenwärtige ethische Diskussion um Tierschutz ist von einer tiefen Diskrepanz geprägt: Auf der einen Seite steht das zunehmende Wissen über Empfinden, Bedürfnisse und Sozialverhalten von Tieren, das in der Wissenschaft zur Annahme eines fließenden Übergangs zwischen Mensch und Tier und in der Bevölkerung zum verbreiteten Bedürfnis nach einer emotionalen Annäherung an Tiere führt (vgl. Singer 1982). Auf der anderen Seite findet sich eine historisch wohl nicht vergleichbare Entfremdung von Tieren im Rahmen der modernen Nutztierhaltung sowie der zunehmend urbanisierten Zivilisation, deren Alltag kaum Raum für Begegnungen mit Tieren bietet (vgl. Röhrs / Sambraus 1998). Diese Diskrepanz eines gespaltenen Bewusstseins bietet Anlass zu einem ethischen Diskurs, der als „Reflexionstheorie der Moral“ unterschiedliche Argumentationsmuster vergleicht und als Sozialethik nach gesellschaftlich verbindlichen Konfliktlösungen sucht. Die ethischen Begründungsansätze beim Tierschutz sind dabei vielfältig. Sie reichen von einer anthropozentrischen Ausrichtung, die besagt, dass Tierschutz nur insofern ethisch relevant sei, als das Quälen von Tieren auch die Moral unter Menschen schwäche (Kant), bis zur Anerkennung des ethischen Eigenwerts der Tiere als Mitgeschöpfe. 2. Zum theologisch-ethischen Verständnis von „Mitgeschöpflichkeit“
Nach dem Zeugnis der Bibel sind die Tiere „Mitgeschöpfe“ des Menschen (Gen 1,20 – 25). Sie sind ihm untergeordnet (Gen 1,28), was zugleich eine Verantwortung des Menschen für die Tiere einschließt (Gen 2,15). Nutztiere werden als selbstverständliche Hausgenossen betrachtet, für die beispielsweise auch der Schutz des Sabbatgebotes gilt (Ex 20,10). Im Noah-Bund werden die Tiere eigenständig als Bundespartner Gottes benannt (Gen 9,10). Im Neuen Testament wird die ganze Schöpfung, also mitsamt den Tieren, in die Erwartung einer endzeitlichen Vollendung eingeschlossen (Röm 8,19 – 21; Kol 1,15 – 20; Eph 1,3 – 14). Schöpfungstheologisch betrachtet kann „die Herrschaft über die belebte und die unbelebte Natur“, wie der Katechismus der Katholischen Kirche ausführt, „nicht absolut
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[sein]. . . .sie verlangt Ehrfurcht vor der Unversehrtheit der Schöpfung“ und „Wohlwollen“ gegenüber den Tieren (Nr. 2415 f.). Die Würde des Menschen lässt sich nicht gegen den Eigenwert von Tieren ausspielen. Denn sie liegt nicht in bestimmten Eigenschaften, die nur ihm und nicht dem Tier zukommen, sondern in der Beziehung zu Gott, die sich niemals gegen die Mitgeschöpfe richtet (vgl. Münk 1997). Die nüchterne, jedoch selbstverständliche Wertschätzung der Tiere, die die biblische und große Teile der christlichen Tradition geprägt haben, muss heute neu entdeckt und gestaltet werden (vgl. EKD / DBK 1985, Nr. 63; vgl. auch EKD 1992). Auf Initiative der Kirchen hat der Begriff „Mitgeschöpf“ an prägender Stelle Eingang in das 1986 in Kraft getretene deutsche Tierschutzgesetz gefunden (§ 1). Um seine Wirksamkeit zu entfalten, muss der Begriff „Mitgeschöpf“ in ethische Kategorien übersetzt werden: Tiere besitzen nicht bloß einen Nutzwert, sondern auch einen Existenzwert. Ihr ethischer Status unterscheidet sich sowohl von dem einer Sache als auch von dem einer (moralischen) Person. Sie können zwar kein Adressat normativer Forderungen sein, haben aber einen Anspruch auf ein moralisches Verhalten gegenüber ihrer Existenz.
3. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier
In der Philosophie herrschte bis zum Mittelalter die von Aristoteles stammende Lehre vor, dass das Tier nur eine empfindende und strebende, aber keine vernünftige Seele besitze (vgl. Höffe 1993, 228 – 233). In der Neuzeit wandelte sich das Bild. Descartes sah das Tier als einen Automaten ohne geistiges Leben, was einer weiteren Versachlichung und Verzweckung von Tieren Vorschub leistete. Die aktuelle (ethologische) Forschung arbeitet immer mehr ein komplexes Verhältnis von Ähnlichkeit und Verschiedenheit zwischen Tier und Mensch heraus. Der Alltag moderner Gesellschaften ist durch eine weitgehende Entfremdung von Tieren geprägt. Dies führt teilweise zu Gleichgültigkeit, teilweise zu einer romantischen Emotionalisierung des Tierschutzgedankens. Daher gestalten sich Konflikte in der Tierethik häufig sehr heftig und polarisiert. Die größte Herausforderung für den Tierschutz ist heute die anonymisierte Industrialisierung der Nutztierhaltung in der modernen Landwirtschaft, in der die Tiere millionenfach – bis hin zu genetischer Umgestaltung – einzig und allein als Produktionsmittel für Fleisch, Milch, Eier oder andere organische Stoffe gehalten werden (vgl. Röhrs / Sambraus 1998, 539 – 554).
4. Philosophische und ethische Fragen in der Diskussion um Tierrechte
Die ethische Begründung des Tierschutzes setzt häufig bei dem Streben nach Lust und der Vermeidung von Schmerz an (Pathozentrik). So argumentierte bereits Jeremy Bentham, der Gründungsvater einer ethischen Theorie des Tierschutzes (1748 – 1832), und ähnlich liest sich auch das Buch „Animal Liberation“ des Australiers Peter Singer (1975), der die inzwischen weltweite „Tierrechtsbewegung“ begründet hat. Singer zufolge sollen gleiche Interessen bzw. gleicher Schaden gleich beurteilt werden. Daher seien die ethischen Rechte von höheren Säugetieren teilweise höher als die von menschlichen Föten oder komatösen Menschen zu bewerten. Diesem präferenzutilitaristischen
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Ansatz wird entgegengehalten, dass Empfindungsfähigkeit und Bewusstsein zwar ethisch relevante empirische Tatsachen darstellen, die in Tierschutzfragen eine wichtige Rolle bei Abstufungen spielen können, dass ihnen aber nicht der Status eines ethischen Grundsatzes zukommt (vgl. Irrgang 1998). Eine Alternative zu pathozentrischen Ansätzen utilitaristischer Provenienz bietet die Kategorie der Verantwortung. Es handelt sich dabei um einen „vierstelligen“ Begriff, der festlegt, wer vor wem für was nach welchen Kriterien rechenschaftspflichtig ist (vgl. Vogt 2003). Eine moderne Verantwortungsethik kombiniert deontologische Elemente (Pflichten) mit teleologischen (Folgenabwägung). Folglich sind – neben fundierten biologischen und ethologischen Kenntnissen – eine Wertehierarchie sowie Regeln vonnöten, die klären, welche Güter in welcher Weise relevant und vergleichbar sind.
5. Ethische Kriterien für Tierversuche und artgerechte Tierhaltung
In der aktuellen Tierethik werden vor allen Dingen drei Themenkomplexe behandelt: Tierversuche, gentechnische Manipulation von Tieren sowie artgerechte Tierhaltung insbesondere in der Landwirtschaft (vgl. EKD / DBK 2003, Nr. 23 – 26.51–56.86; Irrgang 1998; DBK 1993; Höffe 1993, 233 – 238; EKD 1992). (1) Tierversuche wurden in Deutschland bereits 1871 gesetzlich geregelt (RStGB § 360). Gemäß dem zurzeit geltenden Tierschutzgesetz (1986) dürfen Tiere nur für die „wesentlichen Bedürfnisse des Menschen“ in Anspruch genommen werden (§ 7,3 TSchG), wodurch Tierversuche für Kosmetika ausgeschlossen sind. Pro Jahr sterben weltweit etwa 300 Millionen Tiere in Tierversuchen, in Deutschland ca. 1,6 Millionen. Umstritten ist die Vertretbarkeit von Tierversuchen im medizinischen Bereich. Denn hypothetische Heilungschancen für Menschen können nicht beliebig gegen das faktische Leiden von Tieren ausgespielt werden. (2) Für die gentechnische Veränderung von Tieren ist aus zwei Gründen eine klare Regelung erforderlich. Erstens kann gentechnische Tierzüchtung als Herabwürdigung der Kreatur zum reinen Produktionsfaktor gewertet werden, die den Eigenwert des Tieres fundamental missachtet. Zweitens müssen Gefahren für Mensch und Umwelt vermieden werden. Denn durch die beschleunigte Veränderung des Wesens von Tieren wird das „fein verwobene Netz“ vielfältiger ökologischer Beziehungen beeinträchtigt (vgl. DBK 1993, 14). Dennoch kann „ein maßvoller Einsatz der Gentechnologie unter genauer Beachtung verschiedener Zulassungskriterien“ „gleichwohl ethisch vertretbar zu sein“ (ebd., 15). (3) Die Forderung artgerechter Tierhaltung betrifft in besonderer Weise die Landwirtschaft. Durch den enormen Druck zur Produktionssteigerung und durch zunehmende Transporte ist die Nutztierhaltung trotz des verbesserten Rechtsschutzes für Tiere in eine tiefe Krise geraten (vgl. EKD / DBK 2003, Nr. 15). Besonders am Pranger öffentlicher Kritik steht die Massentierhaltung (vgl. Röhrs / Sambraus 1998, 546). Sowohl Ursache als auch Folge der Massentierhaltung ist der hohe Fleischkonsum, der weltweit proportional weit schneller als die Bevölkerungszahl ansteigt. Ein zentrales Problem im Zusammenhang mit artgerechter Haltung ist das Tierfutter. So dürfen dem Futter teilweise Kadavermehl oder wachstumsfördernde und leistungssteigernde Mittel untergemengt werden. Trotz der gravierenden Konflikte in
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Einzelfragen wächst allmählich das Verständnis zwischen Tierrechtlern und landwirtschaftlichen Praktikern, u. a. weil sich eine artgerechte Haltung sowohl ethisch wie ökonomisch begründen lässt. Ursache von Skandalen sind immer wieder Tiertransporte. Diese sind infolge der Einführung von Exportprämien 1989 sprunghaft angestiegen. Aus ethischer Sicht können die wirtschaftlichen Vorteile die oft tagelangen Qualen für die Tiere nicht ausgleichen (vgl. Röhrs / Sambraus 1998, 552 f.; DBK 1993, 129). Tiertransporte über den nächstgelegenen Schlachthof hinaus sollten genehmigungspflichtig sein. Die fortschreitende Zentralisierung von Schlachthöfen ist daher tierethisch problematisch. Im internationalen Vergleich sind die deutschen Tierschutzstandards relativ hoch. Dennoch lassen sie unter ethischen Gesichtspunkten manches zu wünschen übrig. Priorität muss die Verringerung der Vollzugsdefizite sowie die Vermeidung ihrer Unterbietung in der internationalen Konkurrenz haben. Politisch bedeutet dies, dass Tierschutz als anerkannter Teil der christlichen und europäischen Kulturordnung stärker in den EU- und WTO-Richtlinien zu verankern ist. Er sollte als grundsätzliches Ziel neben Belangen wie „gleiche Wettbewerbsbedingungen“ und „freier Warenverkehr“ formuliert werden.
IV. Stellungnahmen des katholischen Lehramtes zu Umwelt-, Natur- und Tierschutz Prägend für den Zugang und die ethische Positionierung des katholischen Lehramtes bei Verlautbarungen zu Fragen des Umwelt-, Natur- und Tierschutzes ist die theologische Ethik einer umfassenden Verantwortung für die Schöpfung, in der Natur und Kultur, Armutsbekämpfung und Umweltschutz sowie Menschenwürde und Sorge für die Mitgeschöpfe als Einheit gedacht werden (vgl. Lochbühler 1997). Bei der ersten UN-Konferenz zur Umweltthematik 1970 in Stockholm war der Vatikan mit einer Delegation sowie einem eigenen Positionspapier vertreten, das sich insbesondere der Konsumfrage widmet und in Anlehnung an die Terminologie von Erich Fromm „mehr zu sein“ anstatt „mehr zu haben“ als Weg zur Harmonie mit der Natur fordert (vgl. Muñoz 2007). Papst Johannes Paul II. hat sich wiederholt eindringlich zu ökologischen Fragen geäußert. Sein Leitkonzept ist das der „ökologischen Humanität“, das die Würde des Menschen in den Mittelpunkt rückt und diese durch die Begriffe „Respekt vor dem Leben“, „Arbeit“ und „Verantwortung“ in den Kontext der Schöpfung stellt. Folgende Aspekte sind besonders zu erwähnen: – Die Antrittsenzyklika Redemptor Hominis (1979) hebt hervor, dass der Mensch der Weg der Kirche ist (Nr. 14). Da die ökologischen Probleme, die ein Zeichen der Zeit sind, den Menschen bedrängen, sind sie zugleich Herausforderungen an die Kirche. Als konkrete Gefahren und „Entfremdungen“ werden genannt: Umweltverschmutzung infolge der Industrialisierung (Nr. 8), Gefahren durch Atomwaffen (Nr. 8), eine bloß auf Nutzen ausgerichtete Beziehung zur Natur (Nr. 15), das Missverhältnis zwischen Konsumorientierung und Überfluss auf der einen sowie Armut und Hunger auf der anderen Seite (Nr. 16), Energieverschwendung (Nr. 16) und insgesamt eine Versklavung des Menschen durch seine eigenen Produkte aufgrund einer falschen Rangordnung der Werte (Nr. 15 f.). Die Enzyklika betont den Vorrang des Ethischen vor der Technik, des Menschen vor den Dingen und des Geistes vor dem Materiellen (Nr. 16).
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– Die Sozialenzyklika Sollicitudo rei socialis (1987, Nr. 26, 29, 30, 34) anerkennt die Sorge vieler Menschen für die Umwelt als ein positives Zeichen der Zeit (Nr. 26). Die Gottebenbildlichkeit des Menschen und der biblische „Gärtnerauftrag“ sind Orientierung für eine verantwortliche Gestaltung der Natur (Nr. 29 f.). Die Grenzen der Natur sind für den Menschen wesentlich moralischer Art (Nr. 34). – Die Botschaft zur Feier des Weltfriedenstags im Jahre 1990 mit dem Titel „Friede mit Gott, dem Schöpfer – Friede mit der ganzen Schöpfung“ (vgl. Osservatore Romano vom 15. 12. 1989) ist die bisher gewichtigste und differenzierteste päpstliche Stellungnahme zu ökologischen Fragen. Die „Ausbeutung natürlicher Ressourcen“ infolge fehlender Achtung der Natur bedroht den Weltfrieden (Nr. 1). Maßstab einer Neuorientierung sind die „Achtung vor dem Leben“ (Nr. 7) sowie ein nachhaltiger Wandel des westlichen Lebensstils (Nr. 10 – 13). – Die Sozialenzyklika Centesimus annus (1991) hat den für die ökologische Diskussion im Kontext der Katholischen Soziallehre bedeutsamen Begriff der „Humanökologie“ eingeführt: „Außer der sinnlosen Zerstörung der natürlichen Umwelt muss hier die noch schwerwiegendere Zerstörung der menschlichen Umwelt erwähnt werden; man ist noch weit davon entfernt, ihr die notwendige Beachtung zu schenken. Während man sich [ . . . ] darum kümmert, die natürlichen Lebensbedingungen der verschiedenen vom Aussterben bedrohten Tierarten zu bewahren [ . . . ], engagiert man sich viel zu wenig für die Wahrung der moralischen Bedingungen einer glaubwürdigen „Humanökologie“. Nicht allein die Erde ist von Gott dem Menschen gegeben worden, dass er von ihr unter Beachtung der ursprünglichen Zielsetzung des Gutes, das ihm geschenkt wurde, Gebrauch machen soll. Aber der Mensch ist sich selbst von Gott geschenkt worden; darum muss er die natürliche und moralische Struktur, mit der er ausgestattet wurde, respektieren.“ (Nr. 38). Parallel zu dem Begriff der Humanökologie wird der Begriff „Sozialökologie“ eingeführt, der sich zum einen auf die Arbeitsbedingungen, zum anderen auf die Notwendigkeit einer am Wohl der Menschen ausgerichteten Stadtplanung bezieht (Nr. 38). – In der Enzyklika Evangelium vitae (1995; vgl. Golser 2005, 17 – 19) wird die ökologische Frage unter dem Leitbegriff der Humanökologie und einer „Kultur des Lebens“ (Nr. 21. 28. 50.77. 88. 92. 98. 100) gestellt. Die Ökologie im Sinne einer umfassenden Ethik des Lebens und des natürlichen Lebensraumes als Habitat des Menschen (Nr. 42) ist der Rahmen, in dem das Hauptthema diskutiert wird: bioethisch-medizinische und sozial-familiäre Fragen. – In der Botschaft zur Feier des Weltfriedenstags am 1. Januar 1999 fordert Johannes Paul II. einen Wandel der Konsumgewohnheiten in den reichen Nationen sowie eine Verbesserung beim Bodenschutz und in der landwirtschaftlichen Ausbildung in den südlichen Ländern. Auch hier ist die Begründung anthropozentrisch (Nr. 10).
Das „Kompendium der kirchlichen Soziallehre“ widmet den ökologischen Fragen ein eigenes Kapitel (vgl. Kapitel 10, Nr. 451 – 487). Im Mittelpunkt des Sozialkompendiums stehen der Begriff des solidarischen Humanismus (z. B. Nr. 1 – 19) sowie der Gedanke des Gemeinwohls und der universalen Widmung der Güter, mit der auch – ohne Rückgriff auf Konzept der Nachhaltigkeit – die ökologische Verantwortung begründet wird (Nr. 466 – 471). Das Sozialkompendium leitet daraus das „Recht auf eine sichere und gesunde natürliche Umwelt“ ab und fordert eine stärkere rechtliche Absicherung
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des Umweltschutzes (Nr. 468). Die globale ökologische Krise wird eindringlich geschildert (Nr. 461 – 465), der Wert der Artenvielfalt hervorgehoben (Nr. 466). Aus der ökologischen Ökonomie werden Gedanken der Kreislaufwirtschaft sowie der Internalisierung externer Kosten aufgegriffen (Nr. 470). Schließlich wird die Beziehung einheimischer Völker zu ihrem Land und ihren Ressourcen als „fundamentaler Ausdruck ihrer Identität“ gekennzeichnet (Nr. 471). Neu ist vor allem eine eingehende Auseinandersetzung mit der Grünen Gentechnik, also ihrer Anwendung im landwirtschaftlichen Bereich (Nr. 472 – 480). Vor dem Hintergrund einer positiven Bewertung des Schöpfungsauftrages als Gestaltungsauftrag, der auch Wissenschaft und Technik einschließt (z. B. Nr. 457), werden die Chancen der Gentechnik prinzipiell begrüßt (Nr. 473); die Chancen und Risiken sind anhand von ethischen Kriterien, die sich an den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der weltweiten Solidarität orientieren, abzuwägen. Die wesentlichen Anliegen des Vatikans hinsichtlich der ökologischen Fragen sind folgende (vgl. Mun˜oz 2007; Vogt 2006): Reflexion über den Begriff „Humanökologie“; Beginn einer „ökologischen Umkehr“; Unterstützung von veränderten Produktions- und Konsummodellen; Bekämpfung der Armut, die immer häufiger Ursache und Folge ökologischer Belastungen ist. Da Bildung in den christlichen Kirchen eine wichtige Rolle spielt, beteiligt sich der Vatikan auch an der von der UNO ausgerufenen Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, die von 2005 bis 2015 dauern soll.
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Sechstes Kapitel
Arbeit
Sinn und Bedeutung der Arbeit Von Elmar Nass
Die Frage nach der Wertschätzung von Arbeit gewinnt in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit einerseits und einem geringen familiären Zusammenhalt andererseits eine außerordentliche gesellschaftliche Brisanz, die neben der sozialwissenschaftlichen wie politischen auch die theologische Kompetenz herausfordert. Der kirchlichen Tradition entsprechend ist dabei mit der menschlichen Arbeit selbstverständlich immer auch die Erwerbsarbeit gemeint. Sie ist zweifellos die bekannteste Form der Arbeit, aber keineswegs die einzige. Denn auch das Ehrenamt, die bildende Kunst oder familiäre und freundschaftliche Erziehungs- und Pflegeleistungen von Hausfrauen oder Hausmännern gehören selbstverständlich mit dazu.1 Solche Tätigkeiten setzen eine lohnunabhängige Motivation voraus und prägen im Geist des Subsidiaritätsprinzips entscheidend das Wertfundament einer Gesellschaft. Aus dem christlichen Verständnis des Menschen in seiner Bestimmung zur Person kommt ihnen deshalb eine besondere Wertschätzung zu. Dem Thema „Über die menschliche Arbeit“ (LE) widmete Papst Johannes Paul II. bereits 1981 eine eigene Enzyklika, welche die Bedeutung und den Sinn der Arbeit aus Sicht der Katholischen Soziallehre entfaltet. Der reiche Schatz dieser programmatischen Enzyklika erschließt sich durch ihre Auslegung im Licht des göttlichen Schöpfungsauftrags und des Erlösungswerks Jesu Christi auf die konkreten Gegebenheiten der modernen Arbeitswelt hin. Johannes Paul II. weiß darum, dass aus einer individuellen Perspektive Arbeit für den einen mehr Last, für den anderen mehr Erfüllung ist. Einer relativen Bewertung treten in der Enzyklika zeitlos gültige Maßstäbe zu Bedeutung und Sinn der Arbeit entgegen. Eine rechte Lesart des Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital verbietet deshalb einseitige ideologische Verfremdungen, die aus dem Rundschreiben einen Aufruf zu Klassenkampf oder Maschinensturm herauslesen wollen.2 In einer Zeit sich wandelnder Arbeitswelten mit auch neuen politischen und ethischen Herausforderungen ist es umso wichtiger, unter Würdigung sozialwissenschaftlicher Fragestellungen und Impulse in diesem Beitrag die kirchlichen Leitlinien zu Bedeutung und Sinn der Arbeit am Beginn des Kapitels herauszustellen.
I. Subjektive und objektive Bedeutung Zu unterscheiden sind die objektive und die subjektive Bedeutung der Arbeit.3 Als objektiv gelten die sich wandelnden Rahmenbedingungen, wie z. B. technischer Fort1 2 3
Vgl. Roos, S. 123. Vgl. Brüggemann. Vgl. dazu ausführlich Kompendium, Nr. 270 – 275.
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schritt sowie politische oder kulturelle Einflüsse. Die subjektive Bedeutung stellt die personale Dimension in den Mittelpunkt. Das Letztziel der menschlichen Tätigkeit ist die Entfaltung der Person. Menschenwürde im Sinne des Personalitätsprinzips fordert die Entfaltung der gottgegebenen natürlichen Bestimmung des Menschen mit seiner Individual- und Sozialnatur ein: „Wollen wir mit einem Wort ausdrücken, dass für den Menschen sein Selbststand als Einzelwesen und seine gesellschaftliche Wesensanlage gleich wesentlich sind, dann sagen wir: er ist Person; individualitas und socialitas zusammen machen seine personalitas aus.“4 Der tätige Umgang des Menschen mit Technik und Natur schafft differenzierte Beziehungen. In der objektiven Bedeutung machen die technischen Mittel, die selbst das Ergebnis kreativer menschlicher Arbeit sind, die soziale Verflechtung in der arbeitsteiligen Gesellschaft erfahrbar. „Der mechanisierte Handlungsablauf kann nur beim feinsten Zusammenspiel aller Beteiligten funktionieren.“5 Ein Wissen darum begründet die gegenseitige Wertschätzung verschiedenster Arbeitsleistungen, spornt zur Kreativität an und erinnert daran, dass wir in unserem Tun stets auf die Mitarbeit anderer Menschen angewiesen sind. Diese motivierende Sicht mündet in eine soziale Identität gegenseitiger Wertschätzung. Kultivieren wir mit unserem Geist und / oder unserem Körper die natürlichen Ressourcen, so begegnen wir darin unmittelbar Gottes Schöpfungswerk. Die objektiven Bedingungen sind daran zu bemessen, inwieweit sie der Normativität der subjektiven Dimension entsprechen. Vor allem die Tätigkeiten mit und am Menschen sind daraufhin zu prüfen, welche Gestaltungsräume sie zur Entfaltung von Individualität und Sozialität der Beteiligten schaffen. Der Wert einer Arbeit bemisst sich entsprechend ihrer subjektiven Bedeutung nicht in erster Linie am Marktpreis oder am wirtschaftlich messbaren Output, sondern am Dienstwert für die Entfaltung der Person. Der auf dem Arbeitsmarkt gezahlte Lohn für Erwerbsarbeit ist deshalb für sich allein noch kein hinreichend verlässlicher Gradmesser für den subjektiven Wert der Arbeit. Eine oft hohe Wertschöpfung im Sinne der Personalität erbringen etwa familiäre Leistungen (Erziehung, Pflege) ohne Lohnerwerb. Sie verdienen als eigen- wie sozialverantwortlicher Dienst an der Entfaltung des Menschen als Person eine besondere Wertschätzung, die die individuelle wie die soziale Dimension umschließt. Sie bezieht sich auf die mit der Arbeit verbundene Personwerdung des Nichterwerbstätigen selbst wie auf den damit verbundenen Beitrag für die Personwerdung der durch die Arbeitsleistungen betroffenen Menschen.
II. Arbeit im Licht der Sozialprinzipien Voraussetzung für eine positive Bewertung der Arbeit ist die zwangfreie Wahl der entsprechenden Tätigkeit. Die selbstbestimmte Arbeit ermöglicht die Entfaltung des Menschen auf die ihm von Gott gegebene Bestimmung hin und macht ihn damit frei. Sie ist zu unterscheiden von einer fremdbestimmten Arbeit. Dort, wo mit der Arbeit Eigen- und Sozialverantwortung absterben, wo Lohn und Freizeit so knapp bemessen sind, dass sie keine befreiende Wirkung entfalten, wo also letztlich individualitas und / oder socialitas unterdrückt werden, wird der Mensch an der Entfaltung seiner ihm gott4 5
Von Nell-Breuning (1985), S. 36. Höffner, S. 159.
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gegebenen Bestimmung gehindert. Eine solche Depersonalisierung in der nicht selbstbestimmten Arbeit entfremdet die Menschen von sich, voneinander und von Gott. Sie lässt sie dann nicht „mehr . . .“, sondern weniger „. . . Mensch“ sein (LE 9). Dies gilt für jede Art von Zwangsarbeit, aber auch für einen mit der Arbeit erzwungenen Raubbau an Gesundheit, Bildung und Familie wie etwa während der industriellen Revolution. Sie spiegeln in neuem Gesicht auch den Zeitgeist anonymisierter Arbeitsverhältnisse der Gegenwart wider, wenn die utilitaristische Funktionalität so genannten „Humankapitals“ als vordringliches Ziel an die Stelle der Personalität tritt. Mit derartigen Verstößen gegen das Personalitätsprinzip muss eine solche Arbeit vor allem aus ethischer Sicht verurteilt werden. Sie führt darüber hinaus auf Dauer auch zum Verlust von Arbeitsmotivation und ökonomischer Effizienz.6 Die menschliche Befreiung durch eine dagegen selbstbestimmte Arbeit veranschaulichen die kirchlichen Sozialprinzipien ,Personalität‘, ,Subsidiarität‘ und ,Solidarität‘. Die menschliche Arbeit hat ihr erstes Vorbild im Schöpfungsakt Gottes und nimmt uns damit in eine soziale Verantwortung (LE 4,2). Sie ist auch ein kulturschöpferisches Gemeinschaftswerk der Nächstenliebe, das die Sozialnatur des Menschen zur Geltung bringt (Vorwort zu LE). Sie ermöglicht die Bereitstellung von geistigen und materiellen Gütern im Dienst an der Allgemeinheit und dabei auch für die schwächeren Glieder, um ihnen ein der gottgegebenen menschlichen Bestimmung entsprechendes Leben ermöglichen zu können. Die Arbeit ist damit solidarisch, weil sie die Möglichkeitsbedingungen für die personale Entfaltung schafft. Die Solidarität bezeichnet ihrem Ursprung nach ein bestimmtes Rechtsverhältnis von Schuldnern untereinander, nach dem jeder für jeden eintritt. Solidarität übt zum einen jeder, der in den Prozess der Arbeitsteilung integriert ist, zum anderen jeder, der für die Verbindlichkeit eines leistungsunfähigen Mitschuldners einsteht. Gefordert und geschätzt ist die arbeitsteilige Leistung jedes fähigen Gliedes. Geschätzt wird vor allem diejenige Arbeit, deren Früchte selbst wiederum der Befähigung des Menschen auf seine Bestimmung hin dienen, nicht aber der konsumistischen Vergeudung knapper Ressourcen zugunsten privilegierter Gesellschaften und Schichten auf Kosten von Hunger und Krieg in den ärmsten Regionen der Erde (GS 34). Diese soziale Dimension wird vor allem in der Erfahrung des dienenden Miteinanders und Füreinanders in der Arbeit erfahrbar.7 Als ein Leib mit vielen Gliedern und mit Christus als dem Haupt ist jeder im Sinne der Subsidiarität mitverantwortlich, seinen Beitrag zu leisten, die ihm geschenkten Gaben für das Ganze einzubringen. In diesem Sinne lernen wir die gegenseitige Wertschätzung auch einfacher Arbeiten ebenso wie die soziale Verantwortung, im Sinne der Solidarität Leistung zu erbringen und füreinander einzustehen (1 Kor 12,12 – 27).8 Personalität setzt das (nicht allein formale, sondern auch) materiale Recht und in gleichem Sinne die materiale Pflicht des Menschen zur Übernahme von Verantwortung und zur Nutzung seiner kreativen Potentiale voraus. Die soziale Identität des einen Leibes, auf deren Entfaltung unsere menschliche Sozialnatur drängt, geht aber noch weit über die bloße Pflicht hinaus. Sie schenkt uns die Freiheit, unsere gottgegebene Bestimmung im Einsatz unserer Talente zu entfalten. Sie ist zudem erfüllt von einem Geist 6 7 8
Vgl. Nass / Müller-Vorbrüggen. Vgl. Höffner, S. 144. Vgl. von Nell-Breuning (1985), S. 54 ff.
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des Miteinanders, der sich aus der gemeinsamen Liebe zum Haupt Jesus Christus nährt (Kol 3,17). Ein solcher Geist ermöglicht den unterschiedlichen Gruppen der arbeitsteiligen Gesellschaft ein „Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit als Glieder einer großen Familie, als Kinder eines und desselben himmlischen Vaters“ (QA 137). Die durch die Gottesbeziehung und durch die daraus abgeleitete soziale Liebe mit intrinsischem Wert ausgestattete Arbeit dient der Entfaltung der uns von Gott gegebenen natürlichen Bestimmung und realisiert damit das Personalitätsprinzip. 9 Denn die selbstbestimmte und damit befreiende Arbeit bringt sowohl individualitas als auch socialitas zur Entfaltung. III. Der Mensch und seine Arbeit 1. Arbeit als göttliches Gebot
Die Arbeit ist oft auch Mühsal, deren Sinn sich nicht unmittelbar erschließt. Aus Sicht der Katholischen Soziallehre liegt auf der Arbeit keinesfalls der Fluch der Ursünde, im Gegenteil: Sie hat ausdrücklich Teil am göttlichen Erlösungswerk des Menschen.10 Die Mühsal ist dennoch eine Folge der menschlichen Hybris. Schon vor dem Griff nach dem Apfel vom Baum der Erkenntnis im Paradies gehörte die Arbeit zum Menschen. Danach erst folgt Gottes Fluch, aber nicht über die Arbeit, sondern über den Ackerboden, der vom Menschen mit von da an mühseliger Arbeit Quelle seiner Nahrung ist (Gen 3,17b). Dieses realistische Bewusstsein tritt etwa der marxistischen Utopie einer klassenlosen Gesellschaft entgegen, in der jeder mit ungetrübter Freude völlig selbstlos und aus reiner Liebe zur Gesellschaft seine Arbeiten verrichte.11 Die real erfahrene Mühe hat etwas Heilendes. Sie erinnert uns daran, dass wir Geschöpfe und nicht selbst der Schöpfer sind. Sie mahnt uns damit, nicht selbst Gott zu spielen. Die Mühsal lässt uns auch teilhaben an dem uns aus dem Sündenkreislauf befreienden Erlösungswerk Christi: „Indem der Mensch die Mühsal der Arbeit in Einheit mit dem für uns gekreuzigten Herrn erträgt, wirkt er mit dem Gottessohn an der Erlösung auf seine Weise mit“ (LE 27). Durch das Kreuz Christi sind wir erlöst, die Schuld des Adam ist gesühnt. Erfahrene Mühsal ist bewusst erlebte Befreiung aus dem Sündenkreislauf (Röm 8,21). Sie ist kein Fluch, sondern im Gegenteil der Bann dieses Fluches. Und damit schenkt uns auch die Mühsal einer selbstbestimmten Arbeit Freiheit im Sinne der Personalität. Die Hereinnahme in die Befreiung aus dem Sündenkreislauf verhilft uns zur bewussten Versöhnung mit Gott. Sie ermutigt uns, trotz Adams Schuld, uns als von Gott Geliebte zu erfahren und deshalb auch unsere eigene Existenz als solche nicht nur anzunehmen, sondern sie auch zu lieben. Dies motiviert unsere Freundschaft zu uns selbst und erhöht unsere Bereitschaft zu Kreativität und Leistung.12 Der arbeitende Mensch, der diesen geistlichen Sinn erkennt oder erahnt, fühlt sich dem absolut vorgegebenen Plan Gottes unbedingt verpflichtet und versteht sich selbst erst aus dem Bewusstseinshorizont, in diesen Plan hineingenommen zu sein und darin eine gottgegebene Aufgabe zu erfüllen.13 Der Einblick in den geistlichen Sinn der mit der Arbeit Vgl. Nass (2006). Vgl. Höffner, S. 147 f., Kompendium, Nr. 263, von Nell-Breuning (1949), S. 121. 11 Vgl. Lenin, S. 667. 12 Spaemann, S. 40. 13 Vgl. Losinger. 9
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verbundenen Mühe und das Verstehen des Menschen in seiner Bestimmung zur Person sind untrennbar miteinander verbunden. 2. Das Recht auf Lohn
Der Lohn der Erwerbsarbeit ist kein Selbstzweck. Vielmehr ist auch sein Einsatz dem Schöpfungsauftrag und damit dem dreifachen Liebesgebot sich selbst, dem Nächsten und Gott gegenüber verpflichtet.14 Er schafft einen Freiheitsraum zur Entfaltung von Eigen- und Sozialverantwortung. Ohne Lohn bliebe der Arbeitende der Willkür der Besitzenden ausgeliefert und auf Almosen oder Sozialtransfers angewiesen. Die materielle Unabhängigkeit schützt davor. Der Lohnerwerb schafft den Raum für eigenverantwortliches Entscheiden und für Kreativität, so dass er der individualitas zur Entfaltung verhilft. Als Anerkennung stärkt er zudem Selbstvertrauen und Eigenliebe. Er motiviert zu einer der Personalität entsprechenden Leistung, die wiederum der Allgemeinheit zugute kommt. Die mit solcher Unabhängigkeit gegebene Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortung fordern daneben auch die Sozialverantwortung im Umgang mit dem Arbeitslohn heraus. Wie die anderen materiellen oder auch geistigen Früchte der Arbeit, so ist ebenfalls der Lohn Möglichkeitsbedingung materialer Solidarität. Denn – so stellt es das Lehramt bis in die Gegenwart immer wieder heraus – er stattet die Erwerbstätigen mit materiellen Ressourcen aus, die sie erst dazu befähigen, ihre solidarischen Pflichten gegenüber den Schwachen zu erfüllen.15 Er schafft auch einen Raum für Akte konkreter Nächstenliebe wie etwa für über die solidarische Pflicht hinausgehende freiwillige Wohlfahrtsgaben (Eph 4,28). Vor allem schafft er die materiellen Grundlagen für subsidiär zu leistende Bildungs- und Erziehungsleistungen in der Familie. Weil der Lohn auch die vordringliche Sorge um die physische Existenzsicherung vermindert, ermöglicht er eine nicht von Erwerbsarbeit geprägte Freizeitgestaltung, die Zeit lässt für wichtige familiäre Aufgaben, für unentgeltliche kulturelle Bildung und Schöpfung oder andere ehrenamtliche Betätigung. So hat der Mensch auch mehr Freiraum für die zweckfreie Pflege seiner Gottesbeziehung. In diesem Sinne verbessert das materielle Gut des Arbeitslohnes auch die Bedingungen für die dem Christen aufgetragene Entfaltung des immateriellen Gutes seiner Liebe zu Gott. 3. Mehr als Erwerbsarbeit
Nichterwerbsarbeit wie Ehrenamt, familiäre Haus-, Erziehungs- und Pflegeleistungen fehlt die Anerkennung durch Lohn. Nicht die Knappheit am Markt bestimmt aber in erster Linie den Wert der Arbeit, sondern ihr Beitrag zur Entfaltung der menschlichen Person in seiner Eigen- und Sozialverantwortung vor Gott und den Menschen und damit auch ihr Beitrag zur Gestaltung einer Gesellschaftsordnung, die für diese Entfaltung der gottgegebenen Bestimmung die entsprechenden Rahmenbedingungen schafft. Die Arbeit hat einen unentgeltlichen, intrinsischen Wert. Aus ihrem Verständnis von Personalität und Familie misst die katholische Tradition der Nichterwerbsarbeit eine besondere Wertschätzung zu, auch weil sie ohne Lohn geleistet wird und deshalb eine Motivation der Tugend oder Liebe voraussetzt. 14 15
Vgl. Kompendium, Nr. 262 f. Vgl. ebd., Nr. 264 – 266.
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Angesichts zunehmender Arbeitsproduktivität wird nun bisweilen gar eine Abkehr von der Erwerbsarbeitsgesellschaft gefordert. Dem Sozialphilosophen P. Van Parijs zufolge etwa erfüllt ein leistungsunabhängiges Basiseinkommen für alle wünschenswerte sozialpolitische Lenkungsfunktionen.16 Mit diesem jedem als Transferleistung zu zahlenden Grundeinkommen sollen vermeintlich Freiräume für die Kindererziehung geschaffen werden, und auch ehrenamtliches Engagement wie die Beschäftigung mit Kultur erhalte einen Auftrieb: zum Beispiel die Geisteswissenschaften, Theater, Bildhauerei u. a. Solche Freiräume für Kultur und Familie zu weiten, dies kann nun zweifellos ein politisch begrüßenswertes Ziel sein. Ein leistungsunabhängiges Grundeinkommen für alle ist mit seinen negativen Leistungsanreizen dafür aber ein ungeeignetes Mittel. Es verkennt zugleich den Sinn erfüllenden Charakter der selbstbestimmten Erwerbsarbeit. Deshalb muss es vielmehr darum gehen, den Stellenwert der Nichterwerbsarbeit im Kontext der Erwerbsarbeitsgesellschaft im Sinne eines subsidiären Förderns und Forderns zu stärken. Eine dazu im Bildungsbereich langfristig anzustrebende, zunehmend positive Wertschätzung von Familie und Kulturtradition, von Werten und Tugenden wie Treue und ehrliche Liebe ist auch nur vordergründig ein ,vormoderner Paternalismus‘. Vielmehr belegen zahlreiche Studien, dass die Sehnsucht nach solchen Orientierungen in der gottgegebenen menschlichen Bestimmung verankert liegt.17 Die in der modernen Gesellschaft erlebte Realität konfrontiert aber mit zerplatzten Träumen. Steigende Scheidungsraten und ein populistisch forcierter Drang nach Neuem machen Familienträume oftmals zunichte. Ein stark auf Egoismus zugeschnittener Zeitgeist wirkt depersonalisierend und macht deshalb unfrei. Denn er ist meist stärker als es die Ideale junger Menschen sind. Diese Spannung weckt jedoch gerade das Bedürfnis nach einer Orientierung, die auch eine soziale Wertidentität mit Pflichtbereitschaft und sozialer Liebe ermöglicht. Einen solchen neuen Zeitgeist ehrlicher Liebe mit familiärer Wertidentität gebietet das Personalitätsprinzip. Und er befreit die Menschen in der Übernahme nicht erwerbstätiger, sozialverantwortlicher Arbeiten zur weiteren Entfaltung ihrer personalen Bestimmung. IV. Arbeit und personale Würde Grundsätzlich setzt die Katholische Soziallehre auf den Leistungsgedanken und verbindet ihn mit dem Bekenntnis zu einem befreienden Arbeitsethos. Von Jesus überliefern die Synoptiker keine eigenen Äußerungen über die Arbeit. Dies deutet darauf hin, dass Jesus, der selbst als Zimmermann bezeichnet wird (Mk 6,3), Arbeit als etwas Selbstverständliches betrachtete. Das Christentum achtet deshalb die Würde der Arbeit. Arbeit hilft den Menschen, den Willen Gottes zu erfüllen, sich zu entwickeln, „mehr Mensch“ zu werden (LE 9) und so zu ihrem wahren Selbst zu kommen. Wer sich der Arbeit entzieht – obwohl dazu fähig – verfehlt dagegen dieses Ziel. Für den Fall der bewussten Vergeudung der uns von Gott anvertrauten Talente zum Schaden von Person und Gesellschaft gilt deshalb: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“ (2 Thess 3,10). Denn der Arbeitsunwillige hat in der Marktwirtschaft zwar ein Recht auf Faulheit, doch er verstößt gegen das Gebot der Personalität wie gegen eine gottgegebene Pflicht. Er bestraft sich selbst durch eine von ihm selbst verursachte Unfreiheit. 16 17
Vgl. Van Parijs. Vgl. dazu die entsprechenden Verweise bei Schroers / Nass.
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Durch die selbst bestimmte Arbeitsleistung aber entfaltet der Mensch seine Personalität, er wird frei für seine gottgegebene Bestimmung. Arbeit und Lohn bieten die Chance, Fähigkeiten zur personalen Erfüllung und zum gesellschaftlichen Wohl einzusetzen. Anreizstruktur und Erziehung schaffen dazu den Rahmen. Die aus Effizienzgründen zu vermeidende Verschwendung menschlicher Talente (als Leistungspotential) kann dabei in einem Widerstreit zwischen individueller Präferenz (z. B. zum Nichtstun) und schlummernder Genialität (etwa zum Künstler) konkret werden. Der Arbeitsscheue kann in einem freiheitlichen Staat aber nicht zur wirtschaftlichen Nutzung seiner Talente gezwungen werden. Wohl aber können entsprechende Anreize und ethische Leitlinien gesetzt werden, das individuelle Verhalten den Leistungspotentialen entsprechend zu ändern. Leistungsmotivation aus christlicher Sicht steht im Dienst an der Entfaltung der gottgegebenen personalen Bestimmung des Menschen. Das Leistungsprinzip ist eine normativ-humane Forderung an die Arbeitsmotivation, weil es die individuellen Leistungsressourcen im Dienst an Personalität, Gesellschaft, Schöpfung und damit am Reich Gottes herausfordert. Christlich motivierte Leistung entspringt auch einer Gesinnung von nicht-egoistischer Pflicht und Liebe. Ökonomische und ethische Dimension der Arbeitsmotivation sind so ineinander verschränkt. Adam Smith zufolge wird die Leistung durch eine gezielte Anreizsteuerung eigennütziger Motivationen erreicht. Der Eigennutz ist dabei so zu steuern, dass er als Mittel zum Zweck (und nicht als Selbstzweck) dem Wohlstand aller dient. Dieses Denken deutet die Relevanz einer altruistischen Motivation schon an.18 Die anthropologische Frage nach der Bedeutung einer solchen Motivation für Personalität und Leistung wurde in der Nachfolge von Smith aber weitgehend verdrängt. Gleichermaßen entfaltete individualitas und socialitas schaffen mehr Leistungsbereitschaft deshalb, weil sowohl die individuelle als auch die soziale Bestimmung des Menschen auf ihre Entfaltung drängen.19 Das Personalitätsprinzip fordert deshalb, auch die gruppenrationale Sympathie des Menschen zu stimulieren, um das Gleichgewicht der miteinander konkurrierenden menschlichen Motivationen zu fördern. Eine durch materiale Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortung realisierte Personalität motiviert gerade auch zu mehr Leistung. Wird die Personalität als Maxime der auf die Erfüllung der gottgegebenen Bestimmung hin ausgerichteten Selbstbestimmung als Sinn der Arbeit realisiert, so schenkt uns dies im Tätigsein mehr Selbstachtung, bringt uns unserem Nächsten nahe, stiftet eine Werteidentität aus einem Geist sozialer Liebe, macht uns Gottes Nähe auch im Alltag erfahrbar, motiviert zur Leistung und stiftet selbst der Mühsal Sinn. Eine solche Grundhaltung schützt davor, sich durch den Scheinsinn von Arbeitsfetisch oder Konsumrausch versklaven zu lassen (Lk 9,25).20 Sie erschließt so in der Arbeit eine vielseitige Sinnperspektive auf die Erfüllung der von Gott gegebenen personalen Bestimmung hin. Eine in diesem Sinne befreiende und fruchtbringende Arbeit schenkt uns deshalb Sinn in der individuellen Selbstentfaltung, weil wir in der angenommenen Herausforderung wachsen und „mehr Mensch“ werden (LE 9). Deshalb ist die Arbeit ein Akt der Freiheit und Selbstliebe, der die Individualnatur zur Entfaltung bringt. Darüber hinaus sind Kreativi18 19 20
Vgl. vor allem Smith, S. 1. Vgl. Nass (2004). Roos, S. 112.
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tät und Innovationsbereitschaft nicht bloßer Selbstzweck, denn sie korrelieren eng mit der Sozialverantwortlichkeit. Sie erweisen zudem den uns gottgegebenen Talenten die nötige Ehre und stehen im Dienst am Aufbau des Reiches Gottes in der Welt (LE 25). Damit sind sie – recht verstanden – auch ein Gottesdienst und Ausdruck unserer Liebe zueinander und zu Gott. Die selbstbestimmte Arbeit wirkt befreiend auch in der Freude darüber, mitverantwortlich sein zu dürfen für die uns von Gott geschenkten Talente und den eigen- wie sozialverantwortlichen Umgang mit der uns anvertrauten Schöpfung (LE 10). Literaturverzeichnis Brüggemann, Ernst: Die menschliche Person als Subjekt der Arbeit. Das ,Prinzip des Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital‘ und seine Umsetzung in der heutigen Gesellschaft, Paderborn u. a. 1994. Höffner, Joseph Kardinal: Christliche Gesellschaftslehre. Herausgegeben von Lothar Roos, Kevelaer 1997. Johannes Paul II.: Enzyklika ,Laborem exercens‘, in: Texte zur katholischen Soziallehre, hrsg. vom Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands – KAB, Bornheim u. a. 1992 [1981], S. 529 – 601 (LE). Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Freiburg i. Br. 2006 (Kompendium). Lenin, Wladimir I.: Ausgewählte Werke II, Moskau 1947. Losinger, Anton: Ökonomische Rationalität in allen Lebensbereichen? Der ökonomische Ansatz Gary S. Beckers im Kritikfeld der theologischen Anthropologie, in: Norbert Glatzel / Eugen Kleindienst (Hrsg.), Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens, Berlin 1993, S. 93 – 108. Nass, Elmar: Die richtige Portion Moral, in: Personal 56 / 4, 2004, S. 38 – 41. – Soziale Gerechtigkeit (Reihe: Kirche und Gesellschaft, Bd. 327), Köln 2006. Nass, Elmar / Müller-Vorbrüggen, Michael: Personalführung und Menschenbild. Ethische Orientierungsmerkmale für Unternehmen, in: Personal 55 / 5, 2003, S. 18 – 21. Nell-Breuning, Oswald von: Zur Sozialen Frage (Wörterbuch der Politik, Heft 3), Freiburg i. Br. 1949. – Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, 2. Aufl., München 1985. Pius XI.: Enzyklika ,Quadragesimo anno‘, in: Texte zur katholischen Soziallehre, hrsg. vom Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands – KAB, Bornheim u. a. 1992 [1931], S. 61 – 122 (QA). Roos, Lothar: Das christliche Menschenbild, in: Robert Eiter / ders. (Hrsg.), Der Mensch im Betrieb. Arbeit – Verantwortung – Lebenssinn, Trier 1994, S. 88 – 132. Schroers, Cornelia / Nass, Elmar: Analyse ist gut. Verstehen noch besser. Die 14. Shell-Studie im kritischen Licht christlicher Sozial- und Bildungsarbeit, in: Lebendiges Zeugnis 59 (2004), S. 52 – 62. Smith, Adam: The Theory of Moral Sentiments, 6. Aufl., London 1790, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: ders., Theorie der ethischen Gefühle, übersetzt und herausgegeben von Walther Eckstein, Hamburg 1994. Spaemann, Robert: Moralische Grundbegriffe, 5. Aufl., München 1994.
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Van Parijs, Philippe: Real freedom, the Market and the Family. A Reply to seven critics, in: Analyse und Kritik 23 (2001), S. 106 – 131. Zweites Vatikanisches Konzil: Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute ,Gaudium et spes‘, in: Karl Rahner / Herbert Vorgrimler (Hrsg.): Kleines Konzilskompendium, 20. Aufl., Freiburg i. Br. 1987 [1965], S. 449 – 552 (GS).
Arbeit und Kapital Von Jörg Althammer
Die industrielle Revolution ist nicht nur die Geburtsstunde der modernen Sozialpolitik, sondern auch auslösendes Moment für die Entwicklung einer eigenständigen Sozialverkündigung der katholischen Kirche. Die radikalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die mit der Aufhebung des ständischen und feudalen Systems und der Ersetzung traditional normgeleiteter Arbeitsbeziehungen durch den Abschluss freier Arbeitsverträge einhergingen, erforderten eine Antwort, die über das caritative Wirken Einzelner und der Kirchen hinausgehend die Struktur gesellschaftlichen Wirtschaftens sozialethisch bewertet. Zwar wurden die sozialen Verwerfungen des 19. Jahrhunderts nicht ausschließlich durch den Wandel der Produktionsweise und der Besitzverhältnisse hervorgerufen. Die soziale Frage war nicht nur eine Frage des „Kapitalismus“.1 Aber die Trennung von Arbeit und Kapital und die Verfassung der Arbeitsmärkte haben doch so maßgeblich zur Verschärfung der sozialen Ungleichheit und der politischen Instabilität beigetragen, dass sie als eigenständige Erklärungsfaktoren der Arbeiterfrage thematisiert werden müssen. In den Sozialverkündigungen fand diese sozialstrukturelle Dimension der Arbeiterfrage ihren Niederschlag im Prinzip des „Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital“ (vgl. z. B. LE 12), das sich aus dem personalen Charakter der Arbeit und dem Primat des Menschen gegenüber den Dingen ableitet.
I. Begriffsbestimmung Während diese Entgegensetzung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital für frühindustrielle Gesellschaften durchaus ihre Berechtigung hat, ist die Analyse des Verweisungszusammenhangs von Arbeit und Kapital aus heutiger Sicht vielschichtiger geworden. Zum einen hat sich der Kapitalbegriff innerhalb der sozialwissenschaftlichen Literatur erheblich ausdifferenziert und vom Alltagsverständnis zunehmend entfernt. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden unter dem „Kapital“ einer Person oder eines Unternehmens sowohl die Arbeitsmittel (Geräte, Maschinen etc.) als auch die Finanzierungsmittel (Wertpapiere, Sparguthaben etc.) verstanden. Die amtliche Statistik weist im Rahmen ihrer Nebenrechnungen zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht das Kapital, sondern das Vermögen einer Volkswirtschaft aus. Dieses umfasst den gesamtwirtschaftlichen Bestand an Sachgütern, immateriellen Gütern (Patente und Rechte) und die Forderungen und Verbindlichkeiten einer Volkswirtschaft. Die marxistische 1 Zu den wirtschaftssystemexogenen Gründen der Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts vgl. Lampert / Althammer (2007), S. 31 ff. und die dort angegebene Literatur.
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Theorie subsumiert unter den Kapitalbegriff hingegen nur das Finanzkapital, während das Sachkapital zu den „Produktionsmitteln“ zählt. In der traditionellen volkswirtschaftlichen Theorie wird der Faktor Kapital – hier als Sachkapital zu verstehen – neben den Produktionsfaktoren Arbeit und Boden unter die wertschöpfenden Faktoren gefasst. Die moderne ökonomische Theorie erweitert den Kapitalbegriff jedoch erheblich: Unter „Kapital“ ist danach jeder wirtschaftlich produktive Faktor zu verstehen, der – in der Regel durch Konsumverzicht – akkumulierbar ist. Unter diesen Kapitalbegriff fallen somit nicht nur die betrieblichen Produktions- und Finanzmittel, sondern insbesondere auch die Summe der erworbenen, am Markt verwertbaren Fähigkeiten einer Person (das sogenannte „Humankapital“ bzw. Arbeitsvermögen). In der soziologischen Literatur finden sich noch weitergehende Ausdifferenzierungen des Kapitalbegriffs. Bourdieu (1983) versteht unter Kapital „die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen“, die eine Teilhabe am Netz sozialer Beziehungen ermöglichen und die selbst wiederum aus diesen Interaktionen resultieren. Damit tritt neben die bereits erwähnten Formen des „ökonomischen“ Kapitals nun das „Sozialkapital“ – also der Zugang zu sozialen Netzwerken sowie Unterstützungs- und Hilfeleistungen – sowie das „kulturelle Kapital“ einer Person. Unter dem kulturellen Kapital ist insbesondere die durch familiäre Primärerziehung erworbene Bildung zu verstehen. Neben dieser inhaltlichen Unschärfe des Kapitalbegriffs wird die Diskussion auch dadurch erschwert, dass das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital sowohl die Wirtschaftsweise, also insbesondere die Arbeitsteilung und das Institut des freien Arbeitsvertrags, wie die Eigentumsordnung, also die Verteilung des Kapitalbestands auf Personen und soziale Gruppen, meinen kann. Der ideologisch aufgeladene Begriff „Kapitalismus“ umfasst beides: eine dezentrale Steuerung des Wirtschaftsprozesses über Märkte und freie Verträge sowie die einseitige Verteilung des Vermögensbesitzes.2 Bereits diese eher kursorische Analyse des modernen Kapitalbegriffs zeigt, dass sich der klassische Dualismus von Arbeit und Kapital weder theoretisch noch praktisch aufrechterhalten lässt. Wenn im Folgenden von der Beziehung zwischen Arbeit und Kapital die Rede ist, so sind stets die Vertragsbeziehungen auf den Arbeitsmärkten und die Akkumulationsbedingungen privaten Geld- und Sachvermögens gemeint. Beides ist für die Lebenslage der Person von Relevanz. Denn wenngleich das Humanvermögen sowie das soziale und kulturelle Kapital für die Handlungspotenziale einer Person von zentraler Bedeutung sind, entscheiden doch die jeweilige Struktur und die Verfasstheit der Arbeitsmärkte über die faktischen Verwendungsmöglichkeiten der individuellen Handlungsressourcen.
2 Es ist bemerkenswert, dass der theoretisch unscharfe Begriff des „Kapitalismus“ in den frühen Sozialenzykliken gar nicht auftaucht. Insbesondere die „Arbeiterenzyklika“ Rerum novarum vermeidet einen direkten Bezug auf den damaligen Kapitalismusdiskurs. „Kapitalismus“ als Begrifflichkeit findet sich erstmals in Laborem exercens, hier jedoch gehäuft und mit zahlreichen negativen Konnotationen (siehe LE II,7; III,11, 13 und 14). Eine differenziertere Position nimmt Centesimus annus ein. Die ethische Qualität des Kapitalismus wird hier an der Frage festgemacht, ob die wirtschaftliche Freiheit in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist oder nicht (vgl. CA 42).
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II. Lohnbildung und gerechtes Einkommen 1. Die Problematik des freien Arbeitsvertrags
In modernen, arbeitsteiligen Gesellschaften ist die Wertschöpfung eines Unternehmens das Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlicher Produktionsfaktoren. Die Aufteilung des Produktionsergebnisses auf die beteiligten Produktionsfaktoren erfolgt in marktwirtschaftlichen Systemen über den Abschluss freier Verträge auf den Faktormärkten. Bei vollständigem Wettbewerb entspricht die Kompensation des Faktors Arbeit seinem Grenzwertprodukt, d. h. dem produktiven Beitrag des Faktors zur Wertschöpfung des Unternehmens. Wie die theoretische und empirische Analyse des unregulierten Arbeitsmarktes jedoch zeigt, sind die Bedingungen vollkommener Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten in der Regel gravierend verletzt. Auf dem unregulierten Arbeitsmarkt befindet sich der Arbeitnehmer in einer schwächeren Verhandlungsposition. Dadurch kommt es zur sogenannten „monopsonistischen Ausbeutung“ des Faktors Arbeit. In diesem Fall entfällt ein Teil der auf die Arbeitsleistung entfallenden Wertschöpfung nicht auf den Arbeitnehmer, sondern – marktformbedingt – auf die Unternehmenseigentümer. Diese Differenz zwischen dem ökonomischen Wert des Faktors Arbeit und dem Marktlohn ist umso größer, je unelastischer das Arbeitsangebot auf Lohnänderungen reagiert, d. h. je dringlicher die Arbeitnehmer auf die Verwendung ihrer Arbeitskraft als Einkommensquelle angewiesen sind. Die wirtschaftliche Situation auf vermachteten Arbeitsmärkten unterscheidet sich von jener auf funktionsfähigen Märkten in dreifacher Hinsicht. Zum einen fällt der Lohnsatz niedriger aus; er unterschreitet insbesondere den ökonomischen Wert der Arbeit. Zum zweiten werden weniger Arbeitskräfte beschäftigt.3 Und schließlich resultiert aus dieser Marktform ein ökonomischer Wohlfahrtsverlust, da die produktive Verwendung eines Teils des Arbeitskräftepotenzials unterbleibt. Ein weiteres Problem des unregulierten, nicht-institutionalisierten Arbeitsmarktes ist die Gefahr, dass das Arbeitsangebot bei sinkendem Lohnsatz nicht ab-, sondern zunimmt. Denn da das Arbeitseinkommen die Existenzgrundlage des abhängig Beschäftigten ist, ist er bei sinkendem Lohnsatz gezwungen, sein Arbeitsangebot auszudehnen, um das bisherige Einkommensniveau aufrechtzuerhalten und seine Existenz sicherzustellen. Neben diesen Funktionsdefiziten, den sogenannten „allokativen“ Ineffizienzen des unregulierten Arbeitsmarktes, existiert bei der Marktentlohnung eine besondere verteilungspolitische Problematik. Denn bestimmte Personengruppen weisen eine so geringe Produktivität auf, dass ihr Arbeitseinkommen selbst bei produktivitätsorientierter Entlohnung und vollständigem Einsatz der Arbeitskraft nicht ausreicht, um das in der Gesellschaft für notwendig erachtete soziokulturelle Existenzminimum des Haushalts sicherzustellen. Auch bei allokativ effizienten Arbeitsmärkten besteht bei reiner Marktentlohnung somit die Gefahr des distributiven Marktversagens.4
3 Obwohl das Beschäftigungsvolumen auf dem vermachteten Arbeitsmarkt geringer ist als im kompetitiven Fall, ist der Arbeitsmarkt dennoch „geräumt“. Denn jeder Arbeitnehmer, der bereit ist, seine Arbeitskraft zum gängigen Marktlohn anzubieten, findet auch eine Nachfrage. 4 Nell-Breuning (1977), S. 37 hält deshalb das Kriterium der Marktgerechtigkeit für die Kompensation am Arbeitsmarkt als grundsätzlich nicht anwendbar.
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Jörg Althammer 2. Lösungsmöglichkeiten
a) Lösungsmöglichkeiten der allokativen Ineffizienzen des freien Arbeitsmarktes Zur Überwindung der ökonomischen Ineffizienzen des unregulierten Arbeitsmarktes existieren mehrere Instrumente, die sich hinsichtlich ihrer Zielsetzung und bezüglich ihrer jeweiligen Eingriffsintensität unterscheiden. Der marktkonforme Ansatz staatlicher Arbeitsmarktpolitik zielt darauf ab, die Funktionsdefizite des Arbeitsmarktes durch institutionelle Maßnahmen zu verringern, die ökonomischen Ineffizienzen zu minimieren und den realen Markt bestmöglich an das Ideal vollständiger Konkurrenz anzupassen. Als Instrumente kommen die Erhöhung der Markttransparenz durch Informations- und Beratungsleistungen, die Förderung der räumlichen Mobilität durch Umzugskostenbeihilfen und die Förderung der fachlich-beruflichen Mobilität durch die Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung sowie der Höherqualifikation von Arbeitslosen in Betracht. Das Instrumentarium der marktkonformen Arbeitsmarktpolitik umfasst also alle Maßnahmen, die unter der Rubrik der „aktiven Arbeitsmarktpolitik“ zusammengefasst werden. Wenn man jedoch realistischerweise unterstellt, dass der Arbeitsmarkt ein „notorisch unvollkommener“ Markt ist, der durch marktkonforme Maßnahmen nicht dem Ideal der vollständigen Konkurrenz angenähert werden kann, so ist eine grundsätzlich andere Form der Lohnfindung als durch den Individualarbeitsvertrag erforderlich. Die erforderliche Festlegung der Löhne kann entweder direkt durch den Staat – sei es in Form staatlicher Mindestlöhne oder durch eine umfassende staatliche Lohnpolitik – oder durch tarifvertragliche Lösungen geschehen. Aus ökonomischer Sicht spricht viel für eine vertragliche Regelung des Lohnproblems durch die betroffenen Parteien, also für tarifvertragliche Lösungen. Auch die Katholische Soziallehre hat kollektivvertraglichen Lösungen stets den Vorzug vor direkten staatlichen Interventionen eingeräumt, begründet dies jedoch mit einem Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip. Laborem excercens bezeichnet die Bildung von Gewerkschaften sogar als das „natürliche Recht“ der Arbeitnehmer und als unentbehrliches Element des sozialen Lebens.5 In der Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland fand diese Auffassung ihren Niederschlag im verfassungsrechtlichen Schutz der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) und dessen Konkretisierung durch das Tarifverfassungsgesetz. Danach haben kollektivvertragliche Regelungen grundsätzlich Vorrang vor staatlichen Maßnahmen. Des Weiteren sind alle privaten Maßnahmen, die sich gegen die Koalitionsfreiheit richten, nichtig. Wie die ökonomische Theorie institutionalisierter Arbeitsmärkte zeigt, lassen sich die oben beschriebenen Unvollkommenheiten des unregulierten Arbeitsmarktes durch eine Kartellierung des Arbeitsangebots beseitigen. So ist – zumindest in Branchen mit tarifgebundenen Unternehmen – eine mindestlohnbedingte anomale Reaktion des Arbeitsangebots ausgeschlossen und der gezahlte Lohn entspricht dem ökonomischen Wert des Faktors Arbeit.6 Allerdings besteht nun umgekehrt die Gefahr, dass der Arbeitsmarkt über die Angebotsseite vermachtet wird. Dies bedeutet, dass die Gewerkschaften den Zur Bedeutung der Gewerkschaften in der Katholischen Soziallehre vgl. insbesondere LE 20. Zu den Wirkungen des institutionalisierten Arbeitsmarktes auf Lohnsatz und Beschäftigung vgl. Booth (1995) und Franz (2006). 5 6
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vorhandenen Lohnsetzungsspielraum ausnutzen können, um überhöhte Löhne zulasten des Beschäftigungsgrads durchzusetzen. Diese Gefahr ist umso größer, je stärker die Gewerkschaften die Einkommensinteressen der Beschäftigten im Vergleich zu den Beschäftigungsinteressen der Arbeitsuchenden vertreten und je stärker die Machtasymmetrie zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern zugunsten der Arbeitnehmervertretungen ausfällt. Die Gefahr der einseitigen Berücksichtigung von Beschäftigteninteressen zulasten der Interessen arbeitsuchender Arbeitnehmer ist insbesondere dann gegeben, wenn der Staat für die Beschäftigungseffekte des Handelns der Tarifvertragsparteien einsteht, d. h. sofern er die ökonomischen Kosten der Arbeitslosigkeit trägt und gleichzeitig eine beschäftigungspolitische Verantwortung übernimmt.
b) Lösungsmöglichkeiten für die verteilungspolitischen Mängel des freien Arbeitsmarktes aa) Allgemeine Lösungsmöglichkeiten Wie bereits erwähnt, ergibt sich die verteilungspolitische Problematik der freien Lohnfindung aus der Tatsache, dass bei Tätigkeiten mit geringer Produktivität der Lohn so gering ausfallen kann, dass durch die Verwertung der Arbeitskraft das soziokulturelle Existenzminimum nicht sichergestellt ist oder die Beschäftigten von sozialer Ausgrenzung bedroht sind. In diesen Fällen konfligiert das Leistungsprinzip des Marktes mit dem Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit. Dieser Konflikt führt zu der populären Forderung, eine verteilungsorientierte Lohnpolitik zu betreiben, d. h. den Preis für die Arbeitsleistung auf ein Niveau anzuheben, das der Bedarfslage der Beschäftigten entspricht. Eine Ausrichtung der Lohnpolitik an allgemeinen verteilungspolitischen Zielen ist jedoch mit zwei gravierenden Problemen verbunden. Zum einen führt die Anhebung des Lohnsatzes über das (quasi-)kompetitive Niveau zu lohnbedingter Arbeitslosigkeit; die ökonomischen Kosten der Lohnerhöhung tragen in diesem Fall die von Arbeitslosigkeit Betroffenen. Zum anderen müsste ein bedarfsgerechter Lohn die gesamte individuelle Bedarfslage, d. h. auch den Familienstand und die konkrete familiäre Situation des Beschäftigten, mit berücksichtigten. Ein nach Familienstand oder Kinderzahl differenzierter Lohn wäre jedoch ein spezifisches Beschäftigungshemmnis für den zu schützenden Personenkreis: anstatt Familien zu entlasten, würde ein nach familienpolitischen Kriterien ausgestaltetes Arbeitsentgelt die soziale Situation der Familien noch verschärfen. Aufgrund der Schwierigkeiten, einen sowohl allokativ wie verteilungspolitisch adäquaten Lohnsatz extern festzusetzen, fanden direkte staatliche Eingriffe in die Preisbildung am Arbeitsmarkt bislang nur sehr zurückhaltend statt. Eine Anhebung des Lohnes ist nach der geltenden Rechtslage nur erforderlich, wenn der Lohn sittenwidrig gering ist (gem. § 138 BGB). In diesem Fall ist der Arbeitsvertrag zwar gültig, aber es wird nicht der vertraglich vereinbarte, sondern der „übliche“ Lohn geschuldet. Sittenwidrigkeit liegt vor, wenn die Lohnvereinbarung „in einem auffälligen Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung“ steht (BAG Urteil vom 24. März 2004, 5 AZR 303). Die Rechtsprechung unterstellt Sittenwidrigkeit teilweise bereits dann, wenn der vertraglich vereinbarte Lohn zwei Drittel des Tariflohns unterschreitet. Die Definition von Sittenwidrigkeit bei der Entlohnung macht aber auch deutlich, dass dieses Instrument un-
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geeignet ist, um das hier aufgeworfene Problem distributiver Lohngerechtigkeit zu lösen. Denn das Kriterium der Sittenwidrigkeit stellt nicht auf die individuelle Bedarfslage ab, sondern auf das Missverhältnis von Leistung zu Gegenleistung. Es knüpft also am Leistungsprinzip der Entlohnung an. Insofern ist es für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit der Entlohnung auch unerheblich, ob der vereinbarte Marktlohn unterhalb des Sozialhilfesatzes liegt. Zur Festlegung gesetzlicher Mindestvorschriften für Arbeitsentgelte existiert das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen vom 1. November 1952. Da in Deutschland die Aushandlung der Arbeitsinhalte Sache der Tarifvertragsparteien ist, kam dieses Gesetz bislang kaum zur Anwendung; ein allgemein gültiger gesetzlicher Mindestlohn existiert derzeit nicht. Unter bestimmten Bedingungen7 kann der Bundesminister für Arbeit einen Tarifvertrag jedoch für allgemeinverbindlich erklären (§ 5 Abs. 1 TVG). Die von der Allgemeinverbindlichkeit erfassten Rechtsnormen des Tarifvertrags gelten dann auch für nicht tarifgebundene Unternehmen. Aufgrund des Arbeitnehmerentsendegesetzes finden die für allgemeinverbindlich erklärten Arbeitsbestimmungen des Bauhaupt- und -nebengewerbes auch auf die von ausländischen Unternehmen nach Deutschland entsandten Arbeitnehmer Anwendung.8 Obwohl die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland derzeit (noch) keinen expliziten gesetzlichen Mindestlohn kennt, greift der Sozialstaat über die Vergabe von Transferleistungen mittelbar in das Tarifgefüge ein. Die Vergabe von Sozialtransfers beeinflusst die Marktentlohnung auf mehrfache Weise. Zum einen wirken die Höhe der Transferleistungen und die Modalitäten der Anrechnung von Einkommen auf die Bereitschaft der Arbeitnehmer, ihre Arbeitskraft am Markt anzubieten (Breyer 2003). Des Weiteren müssen die tariflich vereinbarten Arbeitsentgelte aus Sicht der Gewerkschaften über dem Transferanspruch liegen, um den Beschäftigten einen Anreiz zu geben, den Gewerkschaften beizutreten. Und schließlich ist ein gewisser Abstand zwischen Sozialtransfers und der Marktkompensation auch aus Sicht des Arbeitgebers erforderlich, um den Arbeitsanreiz der Beschäftigten aufrechtzuerhalten (Effizienzlohntheorie). Inwieweit die Transfereinkommen eine Lohnanpassung nach unten verhindern, ist in der Literatur allerdings umstritten. Denn zum einen unterliegen die Transferleistungen dem Lohnabstandsgebot9 und zum anderen sind erwerbsfähige Arbeitsuchende verpflichtet, auch geringfügig entlohnte Arbeitsgelegenheiten anzunehmen. bb) Das Problem des „gerechten Lohns“ in der Katholischen Soziallehre Die verteilungspolitischen Ergebnisse der Marktentlohnung stellen auch für die Katholische Soziallehre ein besonderes Problem dar. Laborem exercens bezeichnet die 7 Das Bundesarbeitsministerium kann im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber bestehenden Ausschuss auf Antrag einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, wenn 1. die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und 2. die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse liegt. 8 Vgl. Arbeitnehmerentsendegesetz vom 25. 02. 1996 in der Fassung vom 21. 12. 2007. 9 Unter dem Lohnabstandsgebot versteht man den Grundsatz, wonach das durch Sozialtransfers zu erzielende Einkommen geringer ausfallen soll als das durch abhängige Arbeit und ergänzende Sozialleistungen zu erzielende Einkommen; vgl. § 28 Abs. 4 SGB XII sowie § 20 Abs. 4 SGB II.
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Frage nach dem gerechten Lohn für die geleistete Arbeit als das „Schlüsselproblem der Sozialethik“ und den „Prüfstein für die Gerechtigkeit des gesamten sozio-ökonomischen Systems“ (LE 19).10 Die kirchlichen Rundschreiben konkretisieren das Kriterium der Lohngerechtigkeit in mehrfacher Hinsicht. Zum einen schuldet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer den vertraglich vereinbarten Lohn (RN 17). Dies ist nicht nur als moralischer Appell zur Vertragstreue zu verstehen; vor dem konkreten sozialgeschichtlichen Hintergrund lässt sich diese Forderung durchaus als Kritik am Truck-System11 interpretieren. Daneben impliziert die Forderung nach Lohngerechtigkeit auch einen Anspruch an die Höhe des Erwerbseinkommens. Zwar kann kein sozialethisches Konzept den „gerechten“ Lohn exakt quantifizieren; zumindest in einer Wohlstandsgesellschaft12 ist jedoch ein Erwerbseinkommen, das das physische Existenzminimum unterschreitet, ein Verstoß gegen die personale Würde des arbeitenden Menschen und gegen das Prinzip der gemeinsamen Nutzung der irdischen Güter. Die Katholische Soziallehre hat dieses „Recht auf Lebensunterhalt“ (QA 71) grundsätzlich nicht nur auf den Arbeitnehmer selbst, sondern auf seine gesamte Familie bezogen und daraus zunächst die Forderung nach einem „Familienlohn“ abgeleitet. 13 Während sich diese Forderung nach einer „familiengerechten Entlohnung“ zunächst an den Arbeitgeber richtete, werden in Laborem exercens hierfür „besondere Sozialleistungen“ für die Familie eingefordert (LE 19). Normadressat einer familiengerechten Entlohnung ist somit nicht das arbeitgebende Unternehmen, sondern die staatliche Sozialpolitik. III. Breite Vermögensstreuung als gesellschaftspolitische Aufgabe 1. Notwendigkeit und Ziele der Vermögenspolitik
Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital wäre unvollständig, würde man nur den Lohnbildungsprozess und die sozialstaatlichen Rahmenbedingungen der Arbeitsmärkte berücksichtigen. Denn die Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts ergab sich neben den Funktionsdefiziten des Arbeitsmarkts aus der Tatsache, dass die Lebenslage der Haushalte fast vollständig durch die funktionale Einkommensverteilung, d. h. durch die Stellung im Produktionsprozess, determiniert war. Zwar wurden die wesentlichen sozialen Verwerfungen durch den modernen Sozialstaat weitgehend ausgeschaltet. Wie die einschlägigen Untersuchungen14 jedoch zeigen, sind sowohl der Vermögensbestand wie die Chancen des Vermögenserwerbs nach wie vor stark ungleich verteilt. Es wäre jedoch unzulässig, bereits aus dem Vorliegen dieser Ungleichverteilung die Notwendigkeit einer (staatlichen) Korrektur der Vermögensverteilung abzuleiten. Die Notwendigkeit einer breiten Streuung des Vermögens ergibt sich vielmehr aus den Funktionen, die dem Vermögen in marktwirtschaftlichen Systemen zukommt. Dies sind Vgl. zur Frage der Lohngerechtigkeit auch RN 34 – 36, QA 70 – 75, MM 71 ff. Unter dem Truck-System versteht man die Entlohnung mit Waren aus der eigenen Produktion. Durch diese Form der Vergütung wird dem Arbeitnehmer das Verwertungsrisiko der Produkte aufgebürdet. 12 Unter einer „Wohlstandsgesellschaft“ ist eine Gesellschaft zu verstehen, in der – auch unter Berücksichtigung negativer Anreizeffekte – das Existenzminimum aller Gesellschaftsmitglieder durch verteilungspolitische Maßnahmen sichergestellt werden kann. 13 Vgl. hierzu ausführlich Stein (1956). 14 Vgl. Stein (2004) sowie die dort angegebene Literatur. 10 11
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die Einkommens- und Sekuritätsfunktion, die Entproletarisierungsfunktion sowie die Freiheitsförderungsfunktion.15 Erwerbswirtschaftlich genutztes Vermögen ist die Quelle von Vermögenseinkommen. Eine breite Streuung des Vermögensbestands ist somit gleichbedeutend mit einer breiten Streuung der Vermögenseinkommen. Insbesondere vor dem Hintergrund tendenziell stagnierender Arbeitseinkommen bei gleichzeitig sich dynamisch entwickelnden Kapitaleinkünften erhält dieser Aspekt eine besondere verteilungspolitische Relevanz. Vermögensbesitz schützt darüber hinaus vor den wirtschaftlichen Folgen des Eintritts bestimmter Risiken und erhöht die soziale Sicherheit des Einzelnen. Diese Sekuritätsfunktion ist zwar prinzipiell allen fungiblen Vermögenstiteln zu eigen; sie ist jedoch im Versicherungsvermögen besonders ausgeprägt, das die sogenannten „biometrischen Risiken“ wie Langlebigkeit oder unplanmäßig hohe Ausgaben im Krankheitsfall systematisch abdeckt. Beide Funktionen – die Einkommens- wie die Sekuritätsfunktion – erhöhen die ökonomische Wohlfahrt des Einzelnen und die individuelle Freiheit, insbesondere die Freiheit vor dem Staat. Eine Politik der breiten Streuung des Vermögens ist deshalb gleichbedeutend mit einer breiten Streuung persönlicher materialer Freiheit und der persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten in der Gesellschaft. Die besondere Bedeutung einer breiten Vermögensstreuung für die Katholische Soziallehre ergibt sich aus der Tatsache, dass Vermögenslosigkeit und die Erblichkeit des sozialen Status wesentliche Merkmale der Proletarität waren. Wie insbesondere Erich Preiser (1978) zeigte, ist der aus der Vermögenslosigkeit resultierende Arbeitsangebotszwang eine entscheidende Ursache für die Unvollkommenheiten des Arbeitsmarktes und die daraus resultierende Lebenslage der Arbeiterschaft. Vermögensbesitz reduziert diesen Arbeitsangebotszwang und erhöht die Lohnelastizität des Arbeitsangebots; dadurch sinkt der Monopsongrad auf dem Arbeitsmarkt und der Marktlohn nähert sich dem ökonomischen Wert des Faktors Arbeit an. Zusammen mit einer Politik zur Herstellung gleicher Bildungs- und Entwicklungschancen sowie gleicher Chancen zur Partizipation am Arbeitsmarkt ist eine erfolgreiche Vermögenspolitik ein zentrales Instrument zum Abbau schichtspezifischer Unterschiede in der Gesellschaft. Schließlich trägt eine breite Vermögensstreuung auch zur politischen Akzeptanz einer marktwirtschaftlichen, auf Wettbewerb und Privateigentum basierenden Wirtschaftsordnung bei.
2. Instrumente der Vermögenspolitik
Eine breite Vermögensstreuung kann entweder über die Umverteilung des Vermögensbestandes oder über eine gleichmäßige Verteilung der Chancen des Vermögenserwerbs erfolgen. Eine Umverteilung des Vermögensbestandes hätte den Vorteil, dass die verteilungspolitischen Effekte dadurch schnell realisiert werden könnten. Aufgrund der zentralen ökonomischen Funktion, die der Institution des Privateigentums in marktwirtschaftlichen Systemen zukommt, ist ein verteilungspolitischer Eingriff in bestehende Eigentumsrechte zwischen privaten Wirtschaftssubjekten jedoch rechtlich nur in Ausnahmefällen zulässig.16 Eine verteilungspolitisch motivierte Umverteilung des Zu den Zielen der Vermögenspolitik vgl. EKD / DBK (1993). Die im Grundgesetz in den Art. 14 und 15 vorgesehene Enteignung ist nur in Verbindung mit einer adäquaten Entschädigungsleistung möglich; eine entschädigungslose Enteignung wäre ver15 16
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Vermögensbestandes findet deshalb im Wesentlichen bei der Privatisierung staatseigenen Vermögens statt. Mit einer auf individueller Freiheit und Privatautonomie beruhenden Gesellschaftsordnung ist deshalb nur eine Politik der breiten Streuung des Vermögenszuwachses kompatibel. Dies ist – wenngleich aus einem anderen Begründungszusammenhang abgeleitet – auch die Position der Sozialenzykliken. Dies klingt bereits in Rerum novarum an (vgl. hier insbes. RN 35) und wird insbesondere in Quadragesimo anno unter dem Stichwort der „Überwindung der Proletarität durch Vermögensbildung“ (RA 61) weiter entfaltet.
a) Staatliche Förderung durch Steuer- oder Prämienbegünstigung Die Instrumente der Vermögensbildungspolitik lassen sich dahingehend unterscheiden, ob sie am gegebenen Einkommen und damit an der gegebenen Sparfähigkeit ansetzen, oder darauf abzielen, das Einkommen und damit die Sparfähigkeit der Haushalte zu erhöhen. Die Beeinflussung der Sparneigung, also der Ersparnis aus gegebenem Einkommen, hat in der Bundesrepublik Deutschland eine lange Tradition. Sie erfolgt über eine steuerliche Freistellung von Sparleistungen und über die Vergabe von Sparprämien. Eine steuerliche Berücksichtigung des Versicherungssparens findet über die Sonderausgabenregelung der §§ 10 a und 10 c EStG statt.17 Kapitalerträge sind nach Abzug der Werbungskosten in Höhe des sogenannten „Sparerfreibetrags“ (§ 20 VI EStG) steuerfrei. Gegen die Ausnahme der Ersparnisbildung von der Einkommensbesteuerung wird eingewandt, dass aufgrund des progressiven Steuertarifs Haushalte mit hohem steuerpflichtigen Einkommen überproportional profitieren würden. Diese Kritik übersieht jedoch, dass auch die Einkünfte aus Vermögen bzw. die Versicherungsleistungen der Steuerpflicht unterliegen. Um eine steuerliche Doppelbelastung von Sparleistungen zu vermeiden, müssen deshalb entweder die Erträge steuerfrei gestellt werden („vorgelagerte“ Besteuerung), oder es werden die Aufwendungen zum Erwerb des Vermögensanspruchs von der Besteuerung ausgenommen („nachgelagerte“ Besteuerung). Bis 2004 wurden Rentenleistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung, den berufsständischen Versorgungswerken und der Alterssicherung für Landwirte mit dem Ertragsanteil besteuert, während Pensionen sowie Leistungen der betrieblichen Altersvorsorge nahezu in voller Höhe der Einkünfte besteuert wurden. Aufgrund des Alterseinkünftegesetzes wird bei der Besteuerung von Alterseinkünften schrittweise bis zum Jahr 2040 zur nachgelagerten Besteuerung übergegangen. Damit unterliegen alle Vermögensanlagen, die nicht den Anforderungen des Altersvermögensgesetzes entsprechen (z. B. Lebensversicherungen mit Kapitalwahlrecht und Wertpapiere), weiterhin einer Doppelbesteuerung.18 fassungswidrig. Eine – allerdings nicht primär verteilungspolitisch motivierte – Umverteilung des Vermögensbestands fand im Zuge der Währungsreform im Jahr 1948 und bei der Umstellung der DDR-Mark auf die DM statt. Aber selbst der Lastenausgleich war so konzipiert, dass die Ausgleichszahlungen nicht aus der Vermögenssubstanz, sondern aus den Vermögenserträgen finanziert werden konnten. 17 Die Steuerfreiheit setzt voraus, dass das Vorsorgeprodukt bestimmte Anforderungen erfüllt. So muss es sich um individuelle Versicherungsleistungen handeln (d. h. das Guthaben darf nicht abtretbar oder vererbbar sein) und die Versicherungsleistungen müssen als Leibrente ausgezahlt werden. 18 Lediglich Überlassungen von Vermögensbeteiligungen an Arbeitnehmer sind gem. § 19a EStG steuerfrei, sofern der Vorteil 135 A im Kalenderjahr nicht übersteigt.
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Während die steuerliche Freistellung von Sparleistungen also lediglich eine Doppelbesteuerung von Kapitaleinkünften verhindert, findet über die Prämienvergabe eine explizite Förderung von Versicherungs- und Ansparleistungen statt. Prämienbegünstigt sind zum einen die Altersvorsorgeprodukte des Altersvermögensgesetzes sowie die vermögenswirksamen Leistungen des Arbeitgebers nach dem 5. Vermögensbildungsgesetz. Durch die Prämienvergabe kann die staatliche Förderung auf Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen beschränkt werden. Allerdings setzt die faktische Inanspruchnahme dieser Instrumente ein gewisses Maß an Sparfähigkeit voraus. Zumindest für die Leistungen der Vermögensbildungsgesetze lässt sich zeigen, dass sie insbesondere von Beziehern mittlerer Einkommen in Anspruch genommen werden.19 Des Weiteren ist nicht geklärt, ob es sich bei den geförderten Anlagen tatsächlich um zusätzliche Ersparnisse handelt, oder ob die Prämienbegünstigung bestimmter Vermögensformen nicht lediglich zu einer Substitution von nicht-förderungsfähigen Anlagen durch begünstigte Vermögensformen führt (Portfolio-Effekt).
b) Investivlohn und Ertragsbeteiligung Eine durchgreifendere Wirkung auf die Verteilung des Vermögenszuwachses erhofft man sich von den Instrumenten, die das Einkommen und damit die Sparfähigkeit der Haushalte beeinflussen. Instrumente hierfür sind der Investivlohn und die investive Ertragsbeteiligung. Unter einem Investivlohn versteht man jenen Teil des Lohns, der nicht bar ausbezahlt, sondern an die Beschäftigten als Forderung übertragen wird. Beim additiven Investivlohn tritt der investive Lohnanteil zum produktivitätsorientierten Lohn hinzu, beim alternativen Investivlohn ist die Unternehmensbeteiligung ein Teil der produktivitätsorientierten Entlohnung. Da der alternative Investivlohn lediglich eine Zwangsersparnis darstellt, ohne die Sparfähigkeit der Beschäftigten zu erhöhen, wird im Folgenden nur auf den additiven Investivlohn eingegangen. Der Investivlohn wurde von katholischer Seite insbesondere von Oswald von Nell-Breuning und Wilfrid Schreiber in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht.20 In den Gründungsjahren der Bundesrepublik wurden zahlreiche Modelle zur Umsetzung eines Investivlohns entwickelt.21 Für von NellBreuning und Schreiber ist der Investivlohn ein Instrument zur Beteiligung der Arbeitnehmer am Vermögen, ohne dass dadurch der Güterkonsum der Beschäftigten eingeschränkt werden muss („Sparen ohne Konsumverzicht“). Allerdings ist dieser Effekt das spezifische Ergebnis einer rein kreislauftheoretischen Analyse des Produktionsund Verteilungsprozesses. Unter allgemeineren Annahmen zeigt sich, dass der additive Investivlohn ebenso wie eine Barlohnerhöhung die Beschäftigungskosten des Faktors Arbeit verteuert – unabhängig davon, ob die zusätzlichen Lohnanteile gespart oder konsumtiv verausgabt werden. Damit gefährdet ein Investivlohn, der den ProduktivitätsVaubel (1990). Zum vermögenspolitischen Konzept Oswald von Nell-Breunings vgl. ausführlich Losinger (1994). 21 Vgl. den „Sozialkapitalplan“ von Bruno Gleitze, das Modell des „Volkskapitalismus“ von Wolfgang Drechsler, den „Dräger-Schreiber-“ und der „Burgbacher-Plan“ sowie den Vorschlag des „Miteigentum-Sparens“ von Karl Arnold. In jüngerer Zeit wurde ein tarifliches Investivlohnmodell von der IG-Steine-Erden vorgestellt; vgl. Köbele / Schütt (1992). 19 20
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fortschritt übersteigt, das Ziel eines hohen Beschäftigungsgrades. Da in Phasen der Arbeitslosigkeit in aller Regel Vermögen aufgelöst wird, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, verfehlt eine beschäftigungsfeindliche Einkommenspolitik auch das vermögensverteilungspolitische Ziel. Unter dem Eindruck der hohen und lang anhaltenden Arbeitslosigkeit der letzten Jahrzehnte hat sich die vermögenspolitische Diskussion deshalb vom Investivlohn auf die Beteiligung der Arbeitnehmer am ökonomischen Gewinn22 der Unternehmen verlagert. Bevor jedoch die Gewinnbeteiligung als vermögenspolitisches Instrument gewürdigt werden kann, ist zunächst zu überprüfen, wie die Existenz von Gewinnen ökonomisch gerechtfertigt werden kann. Denn ungerechtfertigte Profite werden nicht dadurch sozial akzeptabel, dass sie (teilweise) an die Mitarbeiter ausgeschüttet werden. Die ökonomische Theorie unterscheidet zwei Arten von Gewinnen: die statischen Marktformen- und Marktlagengewinne einerseits sowie die dynamischen Pioniergewinne andererseits. Statische Marktformengewinne sind auf Monopolstellungen des Unternehmens auf den Absatz- oder Beschaffungsmärkten zurückzuführen. Verglichen mit der wettbewerblichen Lösung resultiert aus dieser Marktform eine quantitativ schlechtere Güterversorgung zu überhöhten Verbraucherpreisen und ein gesellschaftlicher Wohlfahrtsverlust. Gewinne, die aus statischen Monopolstellungen resultieren, können insofern kein Ansatzpunkt für vermögenspolitische Maßnahmen sein. Es müsste vielmehr Ziel der Wirtschaftspolitik sein, diese Monopolgewinne durch geeignete wirtschaftspolitische Maßnahmen abzubauen. Marktlagengewinne (windfall profits) resultieren aus nicht-antizipierten, in der Regel kurzfristigen Schwankungen der Güternachfrage. Auf funktionsfähigen Märkten stehen diesen Gewinnen entsprechende Verluste (windfall losses) gegenüber, so dass auch diese Gewinnform keinen Anknüpfungspunkt für eine langfristig erfolgreiche Vermögenspolitik abgibt. Im Gegensatz zu den statischen Gewinnen gehen die dynamischen Gewinne auf eigenständige unternehmerische Leistungen zurück. Durch die Entwicklung neuer Produkte (Produktinnovation) oder neuer Produktionstechniken (Prozessinnovation) verschafft sich das Unternehmen eine temporäre Monopolstellung bzw. einen temporären Kostenvorsprung vor seinen Mitwettbewerbern. Erfolgreiche Innovationen werden nach einer gewissen Zeit von Mitwettbewerbern übernommen (Imitationsphase), wodurch der ökonomische Gewinn des Pionierunternehmens langfristig erodiert. Dauerhafte Pioniergewinne lassen sich also nur durch eine anhaltende Innovationstätigkeit aufrechterhalten. Im Gegensatz zu den statischen Gewinnen sind Pioniergewinne keine funktionslosen Profite. Denn nur die Aussicht auf eine temporäre Überrendite setzt Anreize zu innovatorischem Handeln und der Bereitschaft zur Übernahme unternehmerischer Risiken. Aus dieser Eigenschaft des dynamischen Pioniergewinns ergibt sich auch die sozialethische Begründung der Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer. Denn in dynamischen Marktgesellschaften tragen nicht nur die Eigenkapitalgeber ökonomische Risiken; auch die Arbeitnehmer sind Träger des unternehmerischen Risikos, da sie bei schlechter Ertragslage des Unternehmens Einkommenseinbußen in Kauf nehmen oder sogar mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes rechnen müssen. 22 Wenn im Folgenden von Gewinnen die Rede ist, so sind damit stets die ökonomischen, nicht die buchhalterischen Gewinne gemeint. Der ökonomische Gewinn ist der Überschuss der Erträge über alle relevanten (Opportunitäts-)Kosten, also einschließlich der Eigenkapitalverzinsung sowie gegebenenfalls des kalkulatorischen Unternehmerlohns.
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Allerdings erfordert eine investitions- und beschäftigungskonforme Gewinnbeteiligung auch eine entsprechende Beteiligung der Arbeitnehmer an entstehenden Verlusten. Denn wenn sich durch die Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer die Rendite-RisikoRelation für das Unternehmen verschlechtert, reduzieren sich die Anreize für Innovation, Investitionen und Beschäftigung. Durch die Übernahme von Einkommensrisiken muss sich die gesamte Risikosituation des Arbeitnehmers jedoch nicht verschlechtern: An die Stelle des Arbeitsplatzrisikos tritt nun das Einkommensrisiko der Gewinnbeteiligung. Wenn man realistischerweise unterstellt, dass die Arbeitnehmer Beschäftigungssicherheit höher gewichten als Einkommensstabilität, so kann sich dadurch die Gesamtsituation der Beschäftigten sogar verbessern. Umstritten ist die Frage nach der Anlage der investiven Mittel. Denn in dieser Frage stehen sich Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen diametral gegenüber. Aus unternehmerischer Perspektive wäre eine Anlage im arbeitgebenden Unternehmen aus mehreren Gründen sinnvoll. Das Unternehmen könnte sich zum einen zu günstigen Konditionen mit liquiden Mitteln und Eigenkapital versorgen. Zum anderen wird vermutet, dass durch eine betriebliche Vermögensbeteiligung das Interesse der Beschäftigten an der wirtschaftlichen Situation des arbeitgebenden Unternehmens steigt und sich dadurch ihre Produktivität erhöht und die Streikbereitschaft sinkt.23 Aus Sicht des Arbeitnehmers ist die Anlage der Gewinnanteile im arbeitgebenden Unternehmen jedoch höchst risikoreich, da sich dadurch ihr Beschäftigungsrisiko und das Vermögensrisiko kumulieren. Ebenso unzweckmäßig sind überbetriebliche Tariffondslösungen unter paritätischer Verwaltung der Tarifvertragsparteien. Ein derartiger Branchenfonds kann zwar das unternehmensspezifische Risiko diversifizieren. Durch die kollektive Anlage der Mittel ist es aber nicht möglich, die Mittelverwendung an den spezifischen Bedarfen und Präferenzen der Arbeitnehmer auszurichten. Zum anderen ist nicht ausgeschlossen, dass das durch den Tariffond akkumulierte Vermögen zu einer (branchenspezifischen) Anlagepolitik verwendet wird.24 Auch in diesem Fall erhöht sich die Risikoposition des Arbeitnehmers, da er nun ein branchenspezifisches Einkommens- und Vermögensrisiko trägt. Eine langfristig Erfolg versprechende, an freiheitlichen Zielen ausgerichtete Vermögenspolitik muss die Verwendungsentscheidung dem Einzelnen überlassen. Fondlösungen und sonstige Einschränkungen der Verwendungsfreiheit widersprechen den primären Zielen einer freiheitlichen Vermögenspolitik.
Literaturverzeichnis Beteiligung am Produktiveigentum, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (EKZ / DBK), Hameln 1993.
23 Diese Vermutung ist jedoch keineswegs evident, da die Arbeitnehmer ohnehin mit ihrem betriebsspezifischen Humankapital im Unternehmen engagiert sind und insofern bereits ein originäres Interesse an der wirtschaftlichen Situation haben müssten. Auch die empirisch feststellbare Korrelation zwischen Mitarbeiterkapitalbeteiligung und Arbeitsproduktivität ist noch kein Beleg für diese Hypothese. Denn es ist nicht geklärt, ob die Mitarbeiterbeteiligung tatsächlich die Produktivität erhöht, oder ob nicht umgekehrt überdurchschnittlich produktive Unternehmen ihren Mitarbeitern Kapitalbeteiligungen anbieten. 24 Im bereits erwähnten Ertragsbeteiligungsmodell der IG Bau-Steine-Erden ist eine solche zweckgebundene Mittelverwendung sogar explizit vorgesehen.
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Wandel der Arbeitsgesellschaft Von Jörg Althammer I. Einleitung In den vergangenen Jahrzehnten ist die Arbeitswelt nachhaltig in Bewegung geraten. Die äußeren Anzeichen dieses sozialen Wandels, der Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen erfasst, sind die deutlich gestiegene Erwerbsbeteiligung der Frau, Veränderungen in den Erwerbsverläufen und Verschiebungen in der Struktur der Arbeitskräftenachfrage. Diese Veränderungsprozesse stellen das Steuer- und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland vor erhebliche Herausforderungen. Denn beide Systeme rekurrieren in vielfältiger Weise auf tradierte Erwerbsmuster und Familienleitbilder, die in zunehmendem Maße an normativer wie faktischer Bindungskraft verlieren. Die Entwicklung vom traditionellen „Ernährermodell“ hin zu ausdifferenzierten Formen innerfamilialer Arbeitsteilung und das verstärkte Auftreten atypischer Erwerbsverläufe wirft die Frage auf, inwieweit das auf dem Versicherungsprinzip und einer traditionellen Rollenverteilung beruhende Modell sozialer Sicherung diesen neuen Anforderungen gerecht werden kann. Daran schließt sich die Frage an, inwieweit die an tradierten Rollenmustern anknüpfenden Regelungen wie das Splittingverfahren bei der Einkommensbesteuerung oder die beitragsfreie Mitversicherung nicht erwerbstätiger Ehepartner in der Sozialversicherung formativen, verhaltensbeeinflussenden Charakter aufweisen, der sich als zunehmend dysfunktional erweist. Dieser Diskurs, der sich primär mit der institutionellen Ausgestaltung des „korporatistischen“ Sozialstaatsmodells1 beschäftigt, ist auch für die Entwicklung der Katholischen Soziallehre von Relevanz. Dies gilt selbst dann, wenn man die Katholische Soziallehre nicht als sozialpolitisches Lehrgebäude auffasst, sondern als Heuristik begreift, aus der sich allenfalls grundsätzliche Anforderungen an den Sozialstaat ableiten lassen. Denn zahlreiche der im Sozialstaatsdiskurs kontrovers diskutierten Normen sind in hohem Maße kompatibel zu zentralen Positionen der katholischen Sozialverkündigung. Dies gilt insbesondere für ihre Positionen zur sozialen Stellung von Ehe und Familie und zur Rollenverteilung von Mann und Frau. Eine kritische Anfrage an das kontinentaleuropäische Sozialstaatsmodell ist deshalb auch als kritische Reflexion der sozialstrukturellen Grundlagen katholisch-sozialen Denkens zu verstehen.
1 Die Konzeption des „kontinentaleuropäischen Sozialstaatsmodells“ geht auf die Sozialstaatstypologie des schwedischen Soziologen Esping-Andersen (1990) zurück. Er unterscheidet den liberalen Sozialstaat anglo-amerikanischer Provenienz, den in Kontinentaleuropa dominierenden „konservativen“ oder korporatistischen Sozialtypus und den „sozialdemokratischen“ Wohlfahrtsstaat Skandinaviens.
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II. Wandel der Arbeitsgesellschaft: Ein Überblick Die wohl nachhaltigste und in ihren sozialen Konsequenzen tiefgreifendste Veränderung auf dem Arbeitsmarkt ist die lang anhaltende, strukturell verfestigte Massenarbeitslosigkeit. Seit über zwei Jahrzehnten entwickelt sich das Arbeitskräfteangebot dynamischer als die Nachfrage nach Arbeit. Des Weiteren fällt der Beschäftigungszuwachs in den Phasen des wirtschaftlichen Aufschwungs deutlich geringer aus, als der Beschäftigungsabbau im Abschwung. Dadurch steigt die Arbeitslosenquote von Rezession zu Rezession auf immer neue Höchststände. Als gesellschaftspolitisch besonders problematisch erweist sich die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit in hohem Maße strukturell geprägt ist. So sind insbesondere Geringqualifizierte in weit überproportionalem Maß von lang anhaltender Arbeitslosigkeit bedroht. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen 2 beträgt seit über zehn Jahren mehr als 35 % aller Arbeitslosen, mit steigender Tendenz. Personen ohne Berufsausbildung oder mit einer staatlich geförderten überbetrieblichen Ausbildung sind in überdurchschnittlichem Ausmaß von lang anhaltender Arbeitslosigkeit betroffen. Dies bedeutet, dass ein bestimmter Teil der Bevölkerung von der gesellschaftlichen Teilhabe über die Erwerbsarbeit ausgeschlossen ist. Ein zweiter Faktor, der sozialstrukturell auf die Arbeitsmärkte einwirkt, sind die gestiegenen Qualifikations- und Flexibilitätsanforderungen, die an die Beschäftigten gestellt werden. Wie die statistischen Daten zeigen, steht dem Rückgang der Nachfrage nach unqualifizierten Tätigkeiten eine tendenziell steigende Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften gegenüber. Aber auch hochqualifizierte Arbeitnehmer müssen ihren Bestand an betrieblichem und überbetrieblichem Humanvermögen durch einen Prozess des lebenslangen Lernens ständig erneuern, um ihre Beschäftigungsfähigkeit auf Dauer aufrecht zu erhalten. Und schließlich wird den Beschäftigten Flexibilität nicht nur in Bezug auf ihre Qualifikation, sondern auch in räumlicher und zeitlicher Hinsicht in zunehmendem Maße abverlangt. Ein drittes Moment, dessen Bedeutung für Deutschland erst in den letzten Jahren in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert wird, betrifft die Rolle der Frau in der Gesellschaft. So ist die Erwerbsquote3 der Mütter in den vergangenen Dekaden in den westlichen Bundesländern von ca. 40 % (1972) auf über 60 % (2005) gestiegen. In den neuen Bundesländern liegt dieser Anteil mit fast 90 % unverändert hoch und nimmt einen internationalen Spitzenwert ein. Dabei ist sowohl die Partizipationsquote als auch das Stundenvolumen erwerbstätiger Mütter vom Alter des jüngsten im Haushalt lebenden Kindes abhängig. Während die Müttererwerbsquote bei den unter Dreijährigen 35 % im Westen und 44 % im Osten Deutschlands beträgt, steigt dieser Anteil bei Müttern mit Kindern über zehn Jahren auf deutlich über 70 % in beiden Teilen Deutschlands.4 Die zunehmende Erwerbsorientierung der Frau ist zum größten Teil auf das deutlich gestiegene Ausbildungsniveau der Frauen zurückzuführen. Dadurch erhalten sie in breitem Umfang Zugang zu qualitativ hochwertigen und selbstbestimmten Arbeits2 Als langzeitarbeitslos gelten Arbeitslose, die seit mindestens zwölf Monaten ununterbrochen arbeitslos gemeldet sind. 3 Die Erwerbsquote ist definiert als der Anteil der erwerbstätigen oder Arbeit suchenden Personen an allen Personen der betrachteten Kategorie. 4 Statistisches Bundesamt (2006).
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feldern. Frauen haben damit erstmals in der Geschichte die Möglichkeit, sich neben der tradierten Rolle als Hausfrau und Mutter auch über den Beruf selbst zu verwirklichen. Ein weiterer Faktor für die gestiegene Erwerbstätigkeit der Frau ist in der erhöhten Instabilität der Ehe zu sehen, die als Versorgungsinstitution sowohl gesellschaftlich wie rechtlich zunehmend in Frage gestellt wird. Alle drei Faktoren – die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit, die gestiegenen Qualifikations- und Flexibilitätsanforderungen und das geänderte Rollenverständnis von Mann und Frau in der Gesellschaft – stellen das sozialökonomische Fundament des tradierten Sozialstaats sowohl leistungs- wie einnahmeseitig in Frage. Aufgrund der gestiegenen Erwerbstätigkeit der Frau müssen soziale Dienstleistungen, die bislang innerhalb der Familie erbracht wurden, von der öffentlichen Hand übernommen werden. Insbesondere in den Bereichen Kinderbetreuung und Pflege wachsen damit dem Sozialstaat neue Aufgaben zu.5 Gleichzeitig verringert die anhaltende Arbeitslosigkeit die Bemessungsgrundlage des Systems sozialer Sicherung und schmälert damit seine ökonomische Leistungsfähigkeit. Weitgehend ungeklärt sind hingegen die Auswirkungen, die die gestiegenen Flexibilitätsanforderungen für den Sozialstaat haben. Diese Frage wird seit einiger Zeit unter dem Stichwort der „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ kontrovers diskutiert.
III. Zur Diskussion um das Normalarbeitsverhältnis 1. Definition und normative Bedeutung des Normalarbeitsverhältnisses
Die Idee eines „Normal“-arbeitsverhältnisses ist so alt wie das Vertragsarbeitsverhältnis selbst. Denn in dem Maße, in dem sich die unselbständige Arbeit als dominierende Beschäftigungsform durchgesetzt hat, wurden die Normen des Arbeitsvertrags zum Referenzpunkt für die Forderung nach menschenwürdigen und existenzsichernden Lebens- und Arbeitsbedingungen. Dies fand seinen Niederschlag zum einen in den rechtlichen Vorgaben des Arbeitsvertragsverhältnisses und zum anderen in der Tatsache, dass das System sozialer Sicherung in der Regel an einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis anknüpft, d. h. „um die Erwerbsarbeit herum“ konzipiert wurde. Dabei zielen die arbeitsrechtlichen Normierungen im Wesentlichen darauf ab, abhängig Beschäftigte vor Überforderung im Arbeitsleben zu schützen; sie konstituieren somit bestimmte Obergrenzen der Einbindung in den Arbeitsmarkt. Demgegenüber formuliert das Konzept des Normalarbeitsverhältnisses Mindestanforderungen einer vollständigen Integration in das Arbeitsleben. Nach Mückenberger (1989, S. 420) ist unter einem Normalarbeitsverhältnis ein „Sozialmodell abhängiger Arbeit zu verstehen, das die Existenzsicherung der Individuen [ . . . ] aus ihrer Rolle im Erwerbsleben herleitet und speist.“ Damit weist die Konzeption des Normalarbeitsverhältnisses deutlich über die institutionellen Vorgaben des Arbeitsrechts hinaus: Es versteht die Erwerbsarbeit als „zentrale Vergesellschaftungsinstanz“, über die die Individuen sozial integriert werden (Bonß 2001). Konstitutive Elemente dieser Normalitätsfigur sind das Vollbeschäftigungs- und 5 Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass ein Großteil dieser Leistungen nach wie vor innerhalb der Familien erbracht wird. Ohne eine funktionsfähige häusliche Pflege wäre die soziale Pflegeversicherung finanziell völlig überfordert; gleiches gilt für die innerfamiliäre Betreuung und Erziehung der Kinder.
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das Kontinuitätsprinzip sowie das Prinzip sozialer Einbindung. Unter einem Normalarbeitsverhältnis ist somit eine durchgängige Vollzeitbeschäftigung zu verstehen, die auf einem unbefristeten Arbeitsvertrag beruht. Alle Beschäftigungsformen, die von dieser Normalitätsfigur abweichen, wie beispielsweise befristete Beschäftigung und Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse, gelten als „atypische“ Erwerbsformen. 2. Erosion des Normalarbeitsverhältnisses – Krise des Sozialstaats?
Seit Mitte der 1980er-Jahre ist der Anteil dieser atypischen Beschäftigungsverhältnisse deutlich gestiegen (Buch / Rühmann 1998). Waren zu Beginn der 1970er-Jahre noch etwa 80 % aller Arbeitnehmer in einem Normalarbeitsverhältnis beschäftigt, so sind es mittlerweile knapp 60 %. Wenn man das Konzept des Normalarbeitsverhältnisses als normative Referenzgröße versteht, so muss diese Entwicklung als Strukturkrise am Arbeitsmarkt aufgefasst werden. Denn die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse erhöht die individuellen Lebensrisiken in einem auf dem Versicherungsprinzip basierenden System sozialer Sicherung auf zweifache Weise. Zum einen werden während der Zeiten sozialversicherungsfreier Beschäftigung keine eigenständigen Versicherungsansprüche erworben. In dem Maße, in dem der Leistungsanspruch auf individuellen Vorleistungen beruht, ergeben sich hieraus Lücken in der Versichertenbiografie, die sich in einer Unterversorgungssituation niederschlagen können. Zum anderen erodiert die Bemessungsgrundlage und damit die ökonomische Leistungsfähigkeit des Systems sozialer Sicherung. Inwiefern atypische Beschäftigungsverhältnisse die soziale Lage der Beschäftigten aber tatsächlich negativ tangieren, hängt im Wesentlichen von den Ursachen ab, auf die der gestiegene Umfang atypischer Beschäftigungsverhältnisse zurückzuführen ist. Denn die Determinanten dieser verstärkten Inanspruchnahme sind vielschichtig und nicht prinzipiell als krisenhafte Erscheinung interpretierbar. So ist die Zunahme der Teilzeitbeschäftigung primär auf das bereits angesprochene geänderte Rollenverständnis von Mann und Frau zurückzuführen. Denn in dem Maße, in dem das Modell der lebenslangen Hausfrauenehe durch Modelle der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ersetzt wird, gewinnen die Formen der partiellen Erwerbsintegration an Bedeutung. Gerade das Angebot an Teilzeitbeschäftigung leistet einen wesentlichen Beitrag zur „Balance“ von Familien- und Erwerbsarbeit (work-life-balance). Da die Erziehungsleistungen im Rahmen des sogenannten „moderaten Ernährermodells“ nach wie vor überwiegend von den Müttern wahrgenommen werden, werden Teilzeitarbeitsverhältnisse insbesondere von Frauen im Anschluss an die Erziehungsphase nachgefragt. Der Zuwachs an sozialversicherungsfreier Teilzeitbeschäftigung ist demgegenüber ein Resultat der spezifisch institutionellen Ausgestaltung des sozialen Sicherungssystems, die ihrerseits wiederum einen geänderten politischen Stellenwert atypischer Beschäftigungsverhältnisse widerspiegelt. Ursprünglich sah die Sozialversicherung eine beitragsfreie Mitversicherung des Ehegatten vor, sofern der Ehepartner nur einer geringfügigen Beschäftigung nachging. Dahinter stand die Idee, dass geringfügig Beschäftigte ihren Lebensunterhalt nicht über das Arbeitsverhältnis bestreiten, sondern allenfalls einen Hinzuverdienst zum Familieneinkommen leisten. Da diese Beschäftigungsverhältnisse steuer- und sozialabgabenfrei sind, aber gleichzeitig einen umfassenden sozialen Schutz über die beitragsfreie Familienmitversicherung gewährleisten, sind sie aus Arbeitnehmersicht in hohem Maße attraktiv und werden dementsprechend stark nachgefragt.
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Auch in der politischen Bewertung der Nicht-Normalarbeitsverhältnisse hat eine bemerkenswerte Veränderung stattgefunden. Ursprünglich wurde die Zunahme der atypischen Beschäftigungsverhältnisse als Problem für den einzelnen Versicherten wie für die Versichertengemeinschaft angesehen. Dementsprechend wurde versucht, die Ausweitung dieser Beschäftigungsform durch Einschränkung der Ausnahmetatbestände zu verhindern. Mit den Arbeitsmarktreformen zu Beginn dieses Jahrzehnts hat sich die politische Perspektive grundlegend geändert.6 Atypische Beschäftigungsverhältnisse werden nun als Instrument zur Aktivierung Arbeitsloser und zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes eingesetzt. Im Sozialversicherungsbereich wurden die Ausnahmetatbestände von der Sozialversicherungspflicht durch die Einführung der Mini-Jobs und der sogenannten „Gleitzonenbeschäftigung“ (Midi-Jobs) deutlich erweitert. Die Einnahmeverluste der Sozialversicherungen wurden dabei ebenso in Kauf genommen wie die Tatsache, dass sich für die Versicherten die Ansprüche gegen das System sozialer Sicherung verringern und in Verbindung mit der Absenkung des Sicherungsniveaus die Bedürftigkeit im Alter zunehmen wird. In der aktiven Arbeitsmarktpolitik wurde die Arbeitnehmerüberlassung durch die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen verstärkt. Die beschäftigungspolitischen Effekte dieser Maßnahmen werden mittlerweile jedoch als eher gering eingeschätzt.7 Und da die Regulierungsdichte des Normalarbeitsverhältnisses beibehalten wurde, ist eine Spaltung des Arbeitsmarktes in ein arbeitsund sozialrechtlich weitgehend geschütztes Segment und in einen Bereich mit deutlich geringeren arbeits- und sozialrechtlichen Schutzvorschriften eingetreten (sogenannter „dualer“ Arbeitsmarkt).
IV. Bedingungsloses Grundeinkommen als sozialpolitische Antwort auf den Wandel der Arbeitsgesellschaft? Als Reaktion auf die als zunehmend fragil wahrgenommenen Erwerbsbiografien werden in jüngster Zeit verstärkt Modelle diskutiert, die die Flexibilitätsanforderungen des Arbeitsmarktes mit den Sicherungsinteressen der Erwerbstätigen in Übereinstimmung bringen sollen. Die wirtschafts- und sozialpolitischen Antworten reichen von der Stärkung verteilungsorientierter Elemente in der Sozialversicherung mit dem Ziel, das bestehende System sozialer Sicherung „armutsfest“ zu machen, bis hin zu einer vollständigen Umgestaltung des Systems sozialer Sicherung zu einem Grundeinkommensmodell.8 Diese Reformmodelle sind ihrem Selbstverständnis nach nicht nur eine reaktive Anpassung an strukturelle Veränderungen des Arbeitsmarktes, sondern zielen auf eine neue Ausrichtung und Verhältnisbestimmung von Erwerbsarbeit, individueller und gesellschaftlicher Tätigkeit. Bedingungsloses Grundeinkommen und nicht-beitragbezogene Leistungen im System sozialer Sicherung verstehen sich weitgehend als Kompensation 6 Vgl. insbesondere das zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002. 7 Die Arbeitnehmerüberlassung durch Personal-Service-Agenturen wird sogar als beschäftigungspolitisch kontraproduktiv eingeschätzt, da sie den Anreiz des Arbeitslosen reduziert, sich eigenständig um eine Beschäftigungsmöglichkeit zu bemühen. Dadurch wird die Integration der Arbeitsuchenden in den ersten Arbeitsmarkt verzögert; vgl. Eichhorst / Zimmermann (2008). 8 Zur solidarischen Alterssicherung vgl. KAB (2007), zum Modell eines Grundeinkommens Althaus (2007).
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gesellschaftlich wertvoller Tätigkeiten, die nicht über Märkte erbracht und entgolten werden. Die Problematik derart weit reichender Eingriffe in das Sozialversicherungs- und Transferrecht liegt in ihren kaum abschätzbaren kurz- wie mittelfristigen Anreizwirkungen. Ökonometrische Simulationstudien zu den Beschäftigungs- und Finanzierungseffekten eines bedingungslosen Grundeinkommens zeigen, dass die negativen Wirkungen auf das Arbeitsangebot erheblich sein dürften.9 Damit ist auch die Finanzierbarkeit dieser Modelle fragwürdig. Aus sozialethischer Perspektive ist das Problem der Finanzierbarkeit aber gar nicht zentral. Wesentlich gravierender ist die Tatsache, dass die pauschale Honorierung von Zeiten der Nichterwerbstätigkeit keine Gewähr dafür bietet, dass die so honorierten Zeiten auch tatsächlich in gesellschaftlich produktiver Weise verwandt werden. Das bloße Postulat einer entsprechend stark ausgeprägten intrinsischen Motivation ist empirisch kaum haltbar. Die negativen Effekte würden sich vermutlich noch verschärfen, wenn der Staat ein – mehr oder minder glaubwürdiges – Versprechen abgäbe, das soziokulturelle Existenzminimum „von der Wiege bis zur Bahre“ bedingungslos zu garantieren. Zu den negativen Arbeitsangebotseffekten treten dann noch Lern- und Habitualisierungseffekte, die sich negativ auf die Bildungs- und Ausbildungsbereitschaft auswirken können. In jedem bedingungslosen Grundeinkommensmodell besteht die Gefahr der – auch intergenerationalen – Verfestigung prekärer Lebensläufe. Aus diesen Gründen ist es grundsätzlich sinnvoller, gesellschaftlich produktive Tätigkeiten wie die Kindererziehung und die Pflege von Angehörigen direkt zu honorieren. Die entsprechenden sozialpolitischen Instrumente liegen mit der Anrechnung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten in der Rentenversicherung sowie – mit Einschränkungen – durch das Elterngeld10 vor; ein Ausbau dieser Maßnahmen ist jedoch weiterhin ein Gebot sozialer Gerechtigkeit und eine bleibende Herausforderung für den Sozialstaat. Literaturverzeichnis Althammer, Jörg (2002): Erwerbsarbeit in der Krise? Berlin u. a. Althaus, Dieter (2007): Das Solidarische Bürgergeld, in: Borchard, M. (Hrsg.), Das Solidarische Bürgergeld – Analyse einer Reformidee, Stuttgart, S. 1 – 12. Bonin, Holger / Schneider, Friedrich (2007): Beschäftigungswirkungen und fiskalische Effekte einer Einführung des Solidarischen Bürgergeldes, Bonn. Bonß, Wolfgang (2001): Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. Tendenzen und Konsequenzen, in: Rauscher, A. (Hrsg.), Arbeitsgesellschaft im Umbruch, Berlin, S. 69 – 86. Eichhorst, Werner / Zimmermann, Klaus (2008): Dann waren‘s nur noch vier . . . Wie viele (und welche) Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik brauchen wir noch? Eine Bilanz der Evaluation der Hartz-Reformen, IZA discussion paper Nr. 2605. Esping-Anderson, Gosta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton. Fuest, Clemens u. a. (2007): Beschäftigungs- und Finanzierungswirkungen des Bürgergeldkonzepts von Dieter Althaus, in: ifo Schnelldienst Heft 60, S. 36 – 40. Vgl. Bonin / Schneider (2007), Fuest u. a. (2007). Das Elterngeld ist nur eingeschränkt als leistungsadäquate Kompensation zu werten, da die Höhe des Leistungsanspruchs von den Opportunitätskosten der Kindererziehung und nicht vom gesellschaftlichen Wert der erbrachten Leistungen abhängt. 9
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Katholische Arbeitnehmerbewegung Deutschlands (KAB) (2007): Solidarisch und gerecht. Das Rentenmodell der katholischen Verbände, Bonn. Mückenberger, Ulrich (1985): Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses, in: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 31, S. 414 – 434, 457 – 475. – (1989): Der Wandel des Normalarbeitverhältnisses unter Bedingungen einer Krise der „Normalität“, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 4. Statistisches Bundesamt (2006): Leben und Arbeiten in Deutschland, Wiesbaden.
Rechte des Arbeitnehmers Von Bernd Rüthers
I. Das Arbeitsrecht als Grundlage der Arbeitnehmerrechte Arbeitnehmer ist, wer aufgrund eines Arbeitsvertrages weisungsgebundene Arbeiten zu verrichten hat. Der Arbeitsvertrag ist also die Grundlage der Rechte und Pflichten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Er begründet auch die Geltung und Anwendung des gesetzlichen Arbeitsrechts. Das moderne Arbeitsrecht (Vorläufer dazu gab es bereits im Altertum und im Mittelalter) ist entstanden, weil die Eingliederung der Arbeitnehmer in Betrieb und Unternehmen sie der Weisungsmacht der Arbeitgeber und deren Vertreter („Vorgesetzte“) unterwarf. Die Fremdbestimmtheit ihres Lebens am Arbeitsplatz löste, vor allem durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert, die Verelendung der Arbeiterschaft aus. Staatliche Schutzgesetze verschiedenster Art (Kinderschutz, Arbeitszeitschutz, Gesundheitsschutz, Mutterschutz, Kündigungsschutz, Sozialversicherung u. v. a.) wurden notwendig, teils als Folge gewerkschaftlichen und politischen Drucks, teils aus staatspolitischer Einsicht der Regierung.
II. Sozialschutz als Entstehungsgrund und andere Normzwecke des Arbeitsrechts Die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten als Folge der ersten industriellen Revolution im 19. Jahrhundert zwang den Staat, in die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen durch die Schaffung von Schutzgesetzen einzugreifen. Es entstand, ausgehend vom Kinder- und Jugendschutz, ein umfangreiches Instrumentarium zur Wahrung von Mindestarbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer. Neben die staatlichen Schutzgesetze traten die Betriebsverfassung, das Koalitionsrecht, die Tarifautonomie und die Unternehmensmitbestimmung. In seiner Verantwortung als „sozialer Staat“ (Art. 20 Absatz 1, Art. 28 Absatz 1 GG) hat der Staat dafür zu sorgen, dass auch in der Arbeitswelt die Menschenwürde und die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer nicht verletzt werden. Dazu gehören u. a. ein gesetzlicher Entgeltschutz (auch im Krankheitsfall), Gesundheitsschutz (Höchstarbeitszeiten, Mindesturlaub, Mutterschutz, Unfallverhütung) sowie ein Schutz gegen willkürliche („sozial ungerechtfertigte“) Kündigungen des Arbeitgebers. Allerdings hat der staatliche Sozialschutz, wie die Entwicklung am Arbeitsmarkt mit einer ständig gewachsenen „Sockelarbeitslosigkeit“ seit 1982 von derzeit (2006) um die vier und fünf Millionen registrierten Arbeitslosen zeigt, ökonomische Funktionsgrenzen. Schon Friedrich Engels hat erkannt, dass die ökonomischen Gesetze einer Gesell-
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schaftsformation mächtiger sind als alle juristischen Gesetze.1 Ein staatlicher Sozialschutz, der das nicht beachtet, kann das Gegenteil des Gewollten und gut Gemeinten bewirken. Diese Doppelwirkung überzogenen Sozialschutzes, die etwa im Bereich des Kündigungsschutzes an der hohen Arbeitslosenquote besonders geschützter Arbeitnehmergruppen sichtbar wird, ist von den Normsetzern des Arbeitsrechts (neben der Gesetzgebung die Tarifparteien und das Bundesarbeitsgericht) lange übersehen und unterschätzt worden. Nur zögernd setzt sich die Einsicht durch, dass arbeitsrechtlicher Sozialschutz nur insoweit dauerhaft gewährleistet ist, als er aus der real vorhandenen Produktivität des Wirtschaftsprozesses finanziert werden kann. Die Normsetzer sozialer Schutznormen müssen daher die ökonomischen Folgewirkungen überzogenen Sozialschutzes einkalkulieren, wenn sie ihre Regelungsziele erreichen wollen. Der Sozialschutz der Arbeitnehmer ist, das wird oft verkannt, nicht der einzige Normzweck des Arbeitsrechts. Es erfüllt in entwickelten Industriegesellschaften daneben weitere wichtige Aufgaben: – Es schafft durch die Betriebsverfassung, die Unternehmensmitbestimmung und die Tarifautonomie die Integration der Arbeitnehmerschaft in eine auf fairen Ausgleich ausgerichtete, freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. – Es fördert durch seine befriedende Funktion zwischen den unterschiedlichen kollektiven Interessen der Arbeitsmarktparteien eine möglichst reibungslose, konfliktbegrenzende und effektive Produktion von Waren und Dienstleistungen im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Wirtschaftsstandorte und der Sicherung eines ausreichenden Wachstums als Grundlage möglichst hoher Beschäftigungsraten. – Es sichert so die Stabilität der Gesellschafts- und Staatsordnung durch die Kanalisierung der schichtspezifischen Gegensätze der Arbeitsmarktparteien.
III. Der Arbeitsvertrag Anknüpfungspunkt und Geltungsbedingung des Arbeitsrechts ist ein gültiger bestehender Arbeitsvertrag. Der Arbeitsvertrag wird zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber frei (ohne staatlichen Zwang) abgeschlossen (§ 105, 1 Gewerbeordnung). Danach ist jeder im Grundsatz frei darin, ob und mit wem er einen Arbeitsvertrag schließt. Allerdings darf der Arbeitgeber beim Vertragsschluss nicht gegen europarechtliche und nationale Diskriminierungsverbote (Geschlecht, Religion, Rasse) verstoßen. Der Arbeitsvertrag ist nach § 611 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) auf den dauerhaften Austausch der „versprochenen Dienste“ des Arbeitnehmers und der „vereinbarten Vergütung“ des Arbeitgebers gerichtet. Er kann befristet, also auf eine bestimmte Zeit (Beispiele: Spargelernte, Weinlese), oder unbefristet abgeschlossen werden. Der grundsätzlichen „Abschlussfreiheit“ beider Parteien beim Vertragsschluss stehen bei der inhaltlichen Gestaltung und bei der Beendigung von Arbeitsverträgen beträchtliche gesetzliche Schranken gegenüber. Das folgt aus der besonderen Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer. Schon Karl Marx hat erkannt, dass die „Ware“ Arbeit, die am „Arbeitsmarkt“ verhandelt wird, nur „in Behältern von Fleisch und Blut“ verfügbar ist. Die Ar1
MEW, Bd. 19, Berlin 1962, S. 251.
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beitnehmer sind im Vollzug ihrer Arbeitspflicht weitgehend fremdbestimmt, den vom Arbeitgeber gesetzten, sachlichen und personellen Umweltbedingungen ausgesetzt. Der besondere Personenbezug des Arbeitsvertrages zeigt sich auch darin, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung „im Zweifel in Person“ (§ 613, 1 BGB) zu leisten hat. Er kann also nicht einen „Ersatzmann“ zur Arbeit schicken. Umgekehrt ist auch der Anspruch des Arbeitgebers auf die Arbeitsleistung „im Zweifel nicht übertragbar“ (§ 613, 2 BGB). Abweichungen können vereinbart werden. Die gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung („Leiharbeit“) bedarf grundsätzlich der Erlaubnis der zuständigen Behörde. Der Arbeitsvertrag ist demnach kein Vertrag wie jeder andere. Die Arbeitnehmer bringen sich mit ihrer Arbeitsleistung in diesem „Dauerschuldverhältnis“ als Person, gleichsam mit „Haut und Haar“, in die Erfüllung ihrer Pflichten ein. Daraus erwachsen dem Arbeitgeber, wie die Väter des BGB schon vor 1900 erkannten (§§ 617, 618 BGB), besondere Schutzpflichten, die für den Arbeitnehmer entsprechende Ansprüche begründen. Außerdem ist der Arbeitsvertrag für die meisten Arbeitnehmer und ihre unterhaltsberechtigten Familienmitglieder, also für die große Mehrheit der Bevölkerung, die maßgebliche wirtschaftliche Existenzgrundlage. Arbeitsrecht ist daher insoweit ein Existenzund Statusrecht der Arbeitnehmer. Seine Entwicklung in Deutschland kennzeichnet den Weg vom „Proletarier“ des 19. zum „Wirtschaftsbürger“ des 21. Jahrhunderts.
IV. „Recht auf Arbeit“ und „Pflicht zur Arbeit“ 1. Kein individuelles Grundrecht auf Arbeit
Das Recht zu arbeiten, wird in einer auf Vertragsfreiheit und Marktwirtschaft gegründeten Wirtschafts- und Arbeitsrechtsordnung durch frei geschlossene Arbeitsverträge begründet und geregelt. Der einzelne arbeitsuchende Arbeitnehmer hat keinen klagbaren Anspruch gegenüber einem nicht durch einen Vertrag an ihn gebundenen Arbeitgeber auf den Abschluss eines Arbeitsvertrages. Auch gegen den Staat kann keine Klage auf die Gewährung oder Gewährleistung eines Arbeitplatzes erhoben werden. Die bisweilen anzutreffende Rede von einem verfassungsgesetzlichen „Menschenrecht auf Arbeit“ für jedermann2 ist also irreführend. Ein einklagbares Recht auf Arbeit kann der liberale Verfassungsstaat mit marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnung nicht gewährleisten. „Nemo dat quod non habet.“ Gegen wen sollte sich eine gerichtliche Klage eines Arbeitslosen auf einen ihm zu gewährenden Arbeitsplatz richten? Grundund Menschenrechte sollten nur verkündet werden, wenn eine Chance auf ihre garantierte Durchsetzung besteht. Sonst sind herbe Enttäuschungen, wie derzeit bei einer millionenfachen Arbeitslosigkeit seit 1982, unvermeidbar. Im Rahmen seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik hat der soziale Staat (Art. 20 Absatz 1, Art. 28 Absatz 1 GG) allerdings die Pflicht, seinerseits auf die Bekämpfung der 2 Vgl. Gemeinsames Wort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hannover / Bonn 1997, Abschnitt 152.
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Arbeitslosigkeit mit dem Ziel einer möglichst weitgehenden Vollbeschäftigung hinzuwirken. Das schließt die Pflicht zur Beseitigung von Beschäftigungshindernissen ein und gilt auch für solche Teile des Arbeits- und Sozialrechts, die, entgegen den guten Absichten der Normsetzer, den Interessen der Arbeitslosen auf Rückkehr in den Arbeitsprozess entgegenstehen. Dazu gehört auch die Ausgewogenheit von Rechten und Pflichten der Parteien des Arbeitsvertrages. Wo diese fehlt, wird der Abschluss von Arbeitsverträgen für beide Seiten uninteressant. Auf der Arbeitgeberseite spielt hier die Belastung der Arbeitsverträge mit vertragsfremden Risiken eine erhebliche Rolle. Das gilt für die Teile der Lohnfortzahlung, des Mutterschutzes und des Kündigungsschutzes, die dem Arbeitgeber sach- und zweckwidrige Risiken aufladen, die mit dem Arbeitsvertrag in keinem Zusammenhang stehen und die oft zu einer Diskriminierung der vermeintlich „geschützten“ Personengruppen am Arbeitsmarkt führen (Beispiele: Lohnfortzahlung und Kündigungsschutz bei nicht betriebsbedingten Langzeiterkrankungen / Suchterkrankungen, bei Verletzungen aus gefährlichen Sportarten, Mutterschutzlohn als Arbeitgeberrisiko entgegen Art. 6 GG). Auf der Arbeitnehmerseite sind solche Sozialleistungen zu überdenken und neu zu bestimmen, die das Nichtarbeiten attraktiver machen als die Aufnahme einer angebotenen und zumutbaren Arbeit. Über Jahrzehnte hin hat die Bundesanstalt, später die Agentur für Arbeit, unter führender Beteiligung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in ihrer Selbstverwaltung, die Massenarbeitslosigkeit mehr verwaltet als bekämpft, nicht zuletzt durch umfangreiche „Zu-früh-Verrentungen“ und den Aufbau einer lukrativen privaten „Arbeitslosenindustrie“ aus Mitteln der Sozialversicherung.
2. Vertraglicher Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers
Besteht ein Arbeitsvertrag, so hat der Arbeitnehmer grundsätzlich ein Recht darauf, vertragsgemäß beschäftigt zu werden (Beschäftigungspflicht des Arbeitgebers). Insoweit hat er ein vertragliches Recht auf Arbeit. Der Arbeitsvertrag ist also nicht auf den Austausch von Arbeitsleistung und Entgelt beschränkt. Der Arbeitgeber ist vertraglich verpflichtet, seine Arbeitnehmer nicht nur zu bezahlen, sondern auch zu beschäftigen. Für viele Berufe ergibt sich das bereits aus den offenkundigen, elementaren Interessen der Arbeitnehmer, etwa bei Journalisten, Ärzten, Ingenieuren, deren „Marktwert“ von ihrer praktischen Berufsbewährung abhängt. Heute ist das für alle Arbeitnehmer anerkannt. Das BAG folgert das zusätzlich aus den Grundrechten auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und aus der personalen Würde (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG).3 Die Beschäftigungspflicht kann allerdings vertraglich ausgeschlossen werden (Vertragsfußballer, Schauspieler etc.). Sie entfällt, wenn Gründe vorliegen, die eine Beschäftigung für den Arbeitgeber unzumutbar machen (Auftragsmangel, schwerwiegender, nicht geklärter Diebstahlsverdacht). Eine gesetzliche „Pflicht zur Arbeit“ gibt es, anders als in totalitären Systemen (NSStaat, DDR), in der freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik nicht. Die Eigenverantwortung der Bürger schließt lediglich die Obliegenheit ein, für 3
BAG AP Nr. 2 ff. zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht.
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die eigene Existenz in der Weise zu sorgen, dass staatliche Sozialleistungen nur beansprucht werden können, wenn der Antragsteller bereit ist, zumutbare Beschäftigungsangebote der staatlichen Agentur für Arbeit anzunehmen. Verweigert er mehrfach solche Angebote, so können diese Leistungen gekürzt oder gestrichen werden.
V. Der Anspruch auf Arbeitsentgelt 1. Arten des Entgelts
Das Arbeitsentgelt ist grundsätzlich in Geld zu zahlen. Sachleistungen (Wohnung, Kleidung, Kost, „Deputate“ aus der Produktion des Arbeitgebers in Getränken, Nahrungsmitteln oder Brennmaterial) als Arbeitsentgelt bedürfen der Vereinbarung und machen in der Regel nur einen Teil der Vergütung aus. Als Sonderformen des „Naturallohnes“ spielen auch Spezialrabatte beim Kauf von Jahreswagen oder das Recht zur privaten Nutzung von Dienstwagen sowie der Bezug von Anteilsrechten am Unternehmen („Belegschaftsaktien“) eine Rolle. In der Berechnungsweise sind Zeitlohn und Leistungslohn (etwa Akkord- und Prämienlohn) zu unterscheiden. Die Lohngestaltung, insbesondere die Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und die Erarbeitung, Einführung und Anwendung neuer Entgeltsysteme, ist im Laufe der rasanten technologischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu einer eigenen Wissenschaft mit zahlreichen Teildisziplinen geworden. Das gilt ebenso für die verschiedenen Methoden der Festsetzung von Akkord- und Prämiensätzen sowie vergleichbarer leistungsbezogener Entgelte einschließlich der Geldfaktoren.
2. Regelungskompetenz
Die Lohngestaltung liegt nach dem deutschen Arbeitsrecht primär in der Kompetenz der Tarifparteien. Zwar haben die Betriebsräte nach § 87 I Nr. 10 und 11 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ein erzwingbares, vollparitätisches Mitbestimmungsrecht in den genannten Entgeltfragen. Wenn aber die Tarifparteien darüber eine Regelung getroffen haben, sind Betriebsvereinbarungen insoweit gesetzlich ausgeschlossen (§ 77 III BetrVG – Vorrang der Tarifautonomie).
3. Was ist der „gerechte Lohn“?
Die Frage nach dem gerechten Preis und dem gerechten Lohn für menschliche Arbeit hat die Katholische Soziallehre über Jahrhunderte hin beschäftigt.4 Jesus selbst zeichnet 4 Vgl. vor allem die Enzyklika „Quadragesimo anno“ Pius’ XI. vom 15. Mai 1931, Nr. 64 – 75, zu der Oswald v. Nell-Breuning maßgebliche Vorarbeiten geleistet hat; Oswald v. Nell-Breuning, Kapitalismus und gerechter Lohn, Freiburg 1960; ferner J. Höffner, Christentum und Menschenwürde, Das Anliegen der spanischen Sozialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1947, S. 270 ff., S. 278 zu „gerechten Preisen“ für gesunde Sklaven; G. Lenz, Menschenwürdige Arbeit und gerechter Lohn – Gemeinsame Forderungen von Gewerkschaften und Kirchen zum 1. Mai, in: Ev. Presseverband Bayern, 26. 4. 2006; vgl. auch L. Nelson, Gerechter Lohn, in: ders., System der philosophischen Rechtslehre und Politik, Hamburg 1964, Gesammelte Schriften Bd. VI, S. 302 ff.
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im Gleichnis der Arbeiter im Weinberg (Mt 20, 1 – 16) ein Bild himmlischer Lohngerechtigkeit, das für das heutige Arbeitsrecht weder gedacht noch geeignet ist. Was gerechter Lohn sein könnte, bestimmt sich nach den vorausgesetzten und angewendeten Kriterien der Lohngerechtigkeit. Wie beim allgemeinen Gerechtigkeitsbegriff beruhen diese Kriterien, soweit es nicht um formale („Jedem das Seine“), sondern um materiale Aussagen handelt, auf geglaubten philosophischen, weltanschaulichen oder religiösen Vorverständnissen oder auch auf handfesten materiellen oder politischen Interessen.5 Einen einheitlichen Begriff der materialen Gerechtigkeit gibt es folgerichtig nur in Glaubensgemeinschaften. Darauf beruhen auch die Aussagen der katholischen und der evangelischen Soziallehren. Andererseits ist materiale Gerechtigkeit ein Urbedürfnis aller Menschen, das auch auf die Gestaltung der Lohngerechtigkeit einwirkt. So hat die Enzyklika Quadragesimo anno bewirkt, dass nach allgemeiner Überzeugung der „gerechte Lohn“ neben der Arbeitsleistung auch den zur Menschenwürde gehörenden Lebensbedarf des Arbeiters und seiner Familie, die Lebensfähigkeit des Unternehmens und die allgemeine Wohlfahrt zu beachten hat. Auch die Relationen zwischen Arbeiterlöhnen und Arbeitsentgelten der Spitzenmanager sind eine Frage der Lohngerechtigkeit. In einer Demokratie, die keine Glaubensgemeinschaft bildet, besteht eine dauerhafte Konkurrenz unterschiedlicher Gerechtigkeitsvorstellungen, wie die parlamentarischen Debatten in Grundsatzfragen der Rechtsgestaltung zeigen. Die Erfahrung lehrt, dass im rationalen Diskurs meistens Einverständnis erzielt werden kann über das, was als grob ungerecht zu gelten hat. Die Definition der Gerechtigkeit hingegen ist meistens kontrovers. Gerade im Arbeitsrecht ist der Gerechtigkeitsbegriff in allen Grundsatzfragen dauerhaft umstritten. Weil in einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung über das, was material gerechte Löhne („Preise am Arbeitsmarkt“) sind, die Meinungen weit auseinandergehen, überlässt der Staat mit der Gewährleistung der kollektivrechtlichen Institutionen (Tarifautonomie und Betriebsverfassung) die Preisbildung am Arbeitsmarkt den privatrechtlich organisierten Arbeitsmarktparteien. Als „gerecht“ gelten im Sinne der marktwirtschaftlichen Systemgerechtigkeit diejenigen Arbeitsentgelte und Arbeitsbedingungen, die im Rahmen der Arbeitsrechtsordnung von den Arbeitsmarktparteien in Verträgen (Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen) vereinbart werden. Sie sind auch dann gültig, wenn sie gesamtwirtschaftlich problematische Folgen auslösen, etwa in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit auf hohem Niveau ein weiteres Ansteigen derselben oder Standortverlagerungen ganzer Branchen bewirken.6
5 B. Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 2. Aufl., Zürich 1993, S. 24 ff., S. 133 ff.; ders., Rechtstheorie, 2. Aufl., München 2005, S. 239 ff. und S. 283 ff.; A. Hollerbach, Katholische Kirche und Katholizismus vor dem Problem der Verfassungsstaatlichkeit, in: A. Rauscher (Hrsg.), Der soziale und politische Katholizismus, Bd. 1, München 1981, S. 46 – 71; ders., Erwägungen zum Verhältnis von Recht und Religion, in: E. V. Heyen, Vom normativen Wandel des Politischen, Berlin 1984, S. 173 ff. 6 Vgl. dazu im Handbuch „Die Verantwortung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände“.
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VI. Weitere arbeitsvertragliche Arbeitnehmerrechte 1. Der Personenbezug im Arbeitsverhältnis
Aus dem engen Personenbezug des Arbeitsverhältnisses (vgl. oben unter II. und III.) ergeben sich – ähnlich wie bei anderen Dauerschuldverhältnissen – wechselseitige Schutz-, Treue- und Fürsorgepflichten für beide Vertragsparteien. Die den Arbeitgeber treffenden Schutzpflichten sind heute überwiegend gesetzlich geregelt. Die nachstehend skizzierten Schutzpflichten des Arbeitgebers sind zugleich Schutzrechte des Arbeitnehmers. 2. Die Schutzpflichten des Arbeitgebers
a) Der Arbeitgeber hat dafür zu sorgen, dass die Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz vor Schäden aller Art bewahrt bleiben. Beispiele: §§ 612 a, 616, 618 I, 619 BGB, § 62 I, IV HGB, § 3 ff. ArbSchG. Diese Schutzpflichten umfassen etwa den Betriebsschutz, den Arbeitszeitschutz (Höchstarbeitszeiten, obligatorische Ruhezeiten etc.), den Gesundheitsschutz, den Kündigungsschutz, den Bedingungs- und Befristungsschutz, den Arbeitsplatzschutz (beim Wehr- und Ersatzdienst und als Weiterbeschäftigungspflicht bei laufendem Kündigungsschutzprozess), den Mutter- und Elternschutz (Mutterschutzgesetz, Elternzeit nach dem BundeserziehungsgeldG), den Jugendarbeits- und Kinderschutz (JArbSchG und Kinderarbeitsverbot), den Schwerbehindertenschutz (SGB IX) sowie den Heimarbeiterschutz (HeimarbG). b) Der Arbeitgeber hat die bei ihm Beschäftigten vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu schützen (Beschäftigtenschutzgesetz von 1994). c) Eine gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers zur Leistung einer zusätzlich zur staatlichen Rentenversicherung gewährten, betrieblichen Altersversorgung (SGB VI) besteht nicht, soweit es sich um eine „Entgeltumwandlung“ handelt. Der Arbeitnehmer kann aber nach § 1 a des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (BetrAVG) verlangen, dass von seinen künftigen Entgeltansprüchen bis zu 4 % der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung durch Entgeltumwandlung für seine betriebliche Altersversorgung verwendet werden.7 d) Bei Erfindungen, die der Arbeitnehmer im Rahmen seiner vertraglichen Tätigkeit macht, kann der Arbeitgeber zur Zahlung einer Vergütung verpflichtet sein. Die Einzelheiten regelt das Gesetz über Arbeitnehmererfindungen von 1957. Die Rechte der Arbeitnehmerurheber sind in den §§ 43, 79 UrhG geregelt.8 3. Gleichbehandlungspflichten und Diskriminierungsverbote
Den Arbeitgeber treffen in unterschiedlichem Maße Pflichten zur Gleichbehandlung der Arbeitnehmer. Das allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgebot hat auf vielfältige Weise in unterschiedlichen Gesetzen Ausdruck gefunden. Es verschafft dem 7 8
Brox / Rüthers / Henssler, Arbeitsrecht, 16. Aufl., 2004, Rdnr. 343 – 356. Einzelheiten bei Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 11. Aufl. 2005, § 115.
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Arbeitnehmer Schutz gegen rechtswidrige Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen im Arbeitsleben. Der zutreffende und im Kern unbestrittene Grundgedanke ist in Art. 3 GG verankert. Danach ist eine sachlich nicht begründete Benachteiligung einzelner Arbeitnehmer oder ganzer Arbeitnehmergruppen unzulässig. Das gilt für alle Maßnahmen und Entscheidungen des Arbeitgebers, etwa Entgeltfestsetzungen, Arbeitsbefreiungen, Zulagen, Anrechnung von Tariferhöhungen auf bestehende Zulagen, Anordnung von Kurzarbeit, Kürzungen des Weihnachts- und des Urlaubsgeldes etc. Bereits im Gründungsvertrag der EWG 1957, später in einer Reihe von europäischen Richtlinien über Gleichbehandlung, Lohngleichheit für Frauen u. a. ist der Gleichheitsgedanke im Sinne eines generellen Diskriminierungsverbotes immer weiter zu verbindlichen europarechtlichen Regelungen ausgebaut worden. Die Bundesregierung setzte im Sommer 2006 die Richtlinien 2000 / 43, 2000 / 78 und 2004 / 113 in nationales Recht um. Sie geht bei diesem „Antidiskriminierungsgesetz“, jetzt „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG) über die europarechtlich verbindlichen Vorgaben hinaus.9 Die Richtlinien und das AGG richten sich objektiv gegen die Reste von Vertragsfreiheit im Arbeitsrecht. Er wird durch ein Urteil des EuGH vom 22. 11. 200510 noch überboten. Unter eigenmächtiger Überdehnung seiner Kompetenz hat das Gericht hier die unmittelbare Geltung der „Antidiskriminierungsrichtlinie“ entgegen der europarechtlichen Kompetenzregelung bereits bejaht, bevor die Umsetzungsfrist der Richtlinie abgelaufen war. Das Gericht hat gegen das Subsidiaritätsprinzip ein allgemeines verfassungsrechtlich begründetes Diskriminierungsverbot aller Mitgliedstaaten behauptet. Einem absolut verstandenen Gleichbehandlungsgebot des Arbeitgebers steht jedoch die Vertragsfreiheit gegenüber. Es gibt berechtigte Interessen des Arbeitgebers und der Arbeitnehmer, sachgerechte Differenzierungen vertraglich zu vereinbaren. Das gilt etwa, wenn besonders bewährte, zuverlässige und erfolgreiche Leistungsträger der Belegschaft durch die Gewährung zusätzlicher Entgeltfaktoren oder anderer Vorteile belohnt werden, um sie dauerhaft an das Unternehmen zu binden.11
VII. Die Grundrechte im Arbeitsverhältnis Zu den Pflichten des Arbeitgebers gehören die Wahrung und der Schutz der Grundrechte der Arbeitnehmer im Rahmen des Arbeitsverhältnisses. Zu den im Arbeitsverhältnis relevanten Grundrechten gehören insbesondere der Schutz der Menschenwürde (Art. 1 GG), das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Absatz 1, Art. 1 Absatz 1 GG), der Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 GG), die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG), das Recht der freien Meinungsäußerung (Art. 5 GG), der Mutterschutz Art. (6 Absatz 4 GG), die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG), die Freizügigkeit (Art. 11 GG), das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildung frei zu wählen (Art. 12 Absatz 1 GG) und das Verbot jeglicher Zwangsarbeit (Art. 12 Absatz 2 und 3 GG). Daneben gibt der Grundsatz des „sozialen Staates“ (Art. 20 Absatz 1, Art. 28 Absatz 1 9 Kritisch dazu K. Adomeit, Auf Biegen oder Brechen, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Juli 2006, S. 10; ders., Political correctness – jetzt Rechtspflicht!, in: NJW 2006, 2169 – 2171. 10 EuGH NJW 2005, 3695 – „Mangold“; kritisch dazu J.-H. Bauer / Ch. Arnold, in: NJW 2006, 6; B. Rüthers, in: NJW 2006, 1640, 1642. 11 BAG NZA 2000, 1050; BAGE 49, 346; Brox / Rüthers / Henssler, Rdnr. 330 ff.
Rechte des Arbeitnehmers
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GG) für die Gesetzgebung und die Rechtsanwendung im Arbeitsrecht eine Richtlinie, den Anforderungen des sozialen Wandels Rechnung zu tragen. Als selbständige Anspruchsgrundlage kommt er nach der herrschenden Meinung nicht in Betracht.12 Die Einwirkung der Grundrechte auf das Arbeitsrecht ist ein komplexes Problemgebiet. Dabei ist zu unterscheiden zwischen solchen Grundrechten, die kraft ihres eindeutigen arbeitsrechtlichen Regelungsgegenstandes im Arbeitsrecht unmittelbar wirken (Art. 3 Absatz 2, Art. 9 Absatz 3, 12 GG) und anderen, die über die Generalklauseln des Zivilrechts eine nur mittelbare Wirkung haben. Die Grundrechtsregelungen gehen als höherrangiges Recht allen anderen nationalen Rechtsquellen vor. Über Grundrechtsverstöße entscheidet über den Weg einer Verfassungsbeschwerde des betroffenen Arbeitnehmers das Bundesverfassungsgericht. Das Konkurrenzverhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof bei widerstreitenden Entscheidungen ist noch nicht eindeutig geklärt. Träger von Grundrechten sind beide Arbeitsvertragsparteien. Aus dem Personenbezug des Arbeitsverhältnisses ergeben sich freiwillig eingegangene Beschränkungen der Grundrechtsausübung auch für den Arbeitnehmer. Die Anwendung der Grundrechte im Arbeitsverhältnis führt daher in den Geltungsbereichen der Einzelgrundrechte oft zu schwierigen Abwägungsproblemen. Den Grundrechten der Arbeitnehmer stehen die des Arbeitgebers bei der Gestaltung der Unternehmens- und Betriebsorganisation (Unternehmerfreiheit, Berufsfreiheit, Eigentum) gegenüber. Mit dem Abschluss des Arbeitsvertrages tritt der Arbeitnehmer freiwillig in eine betriebliche Ordnung ein, die ihn in seinen persönlichen Entscheidungsfreiheiten erheblich einengen kann. Er verpflichtet sich mit dem Eintritt in das Unternehmen, die dort geltenden, umfangreichen und rechtlich verbindlichen „Spielregeln“ gegenüber der Unternehmensleitung und seinen Arbeitskollegen einzuhalten. Besondere Probleme möglicher Grundrechtsbeschränkungen ergeben sich für Arbeitnehmer in kirchlichen Einrichtungen wegen der in Art. 140 GG i.V. m. 137 III WRV gewährleisteten Kirchenautonomie. Das Arbeitsrecht der Kirchen kann von diesen entsprechend den kirchenspezifischen Loyalitätsanforderungen insoweit autonom geregelt werden. Die beiden christlichen Kirchen haben dazu in ihren arbeitsrechtlichen Grundordnungen sowie im Bereich der Mitarbeitervertretungen ein eigenes kirchliches Arbeitsrecht mit eigener Gerichtsbarkeit geschaffen.13 Einen arbeitsrechtlichen Sonderstatus haben auch die sogenannte Tendenzbetriebe (§ 118 BetrVG). Die Vorschrift nimmt Tendenzunternehmen mit politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bestimmungen sowie solche des Medienbereichs aus dem Geltungsbereich der betrieblichen Mitbestimmung weitgehend aus. Der Betriebsrat ist hier auf die Vermeidung sozialer Härten und Wahrnehmung der Belegschaftsinteressen beim Ausgleich und der Milderung wirtschaftlicher Nachteile durch Betriebsänderungen beschränkt. Auf Religionsgemeinschaften und ihre Einrichtungen findet das BetrVG keine Anwendung. Schaub, § 3 I 1. R. Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche: Staatliches Arbeitsrecht und kirchliches Dienstrecht, 4. Aufl., München 2003; G. Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, Tübingen 2006. 12 13
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Die Bedeutung der Vorschrift liegt in ihrem Verfassungsbezug. Sie schützt die speziellen Grundrechte der genannten Unternehmen und Betriebe (z. B. Art. 4, 5, 7, 9 Absatz 3, Art. 12, 21, 140 GG). Der Grundgedanke der Vorschrift reicht also über das Betriebsverfassungsrecht hinaus und ist auch im Individualarbeitsrecht zu beachten. Auch der Inhalt der Einzelarbeitsverträge wird durch die ideellen „Unternehmenszwecke“ der Religionsgemeinschaften und der Tendenzunternehmen beeinflusst. Die darin tätigen Arbeitnehmer verpflichten sich, den Zielen ihrer Arbeitgeber nicht öffentlich entgegenzutreten. Diese „Loyalitätsobliegenheiten“ reichen in mancher Hinsicht über die betrieblichen Tätigkeiten hinaus und binden die „Tendenzarbeitnehmer“ auch im außerbetrieblichen Bereich. So darf etwa der Chefarzt eines konfessionellen Krankenhauses, der Redakteur einer Gewerkschaftszeitung oder der Leiter einer Parteistiftung keine öffentlichen Erklärungen abgeben, die den programmatischen Zielen seiner Institution unmittelbar widersprechen und ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen. Auch in normalen, nicht tendenzgebundenen Arbeitsverhältnissen gibt es Schranken der Meinungs- und Betätigungsfreiheit am Arbeitsplatz. Vertragswidrig sind etwa Aktivitäten, die geeignet sind, den Betriebsfrieden zu stören, etwa partei- oder gewerkschaftspolitische Werbetätigkeit im Betrieb, die bei Kollegen auf Ablehnung stößt. Der Bankangestellte, der eine Verstaatlichung des privaten Bankwesens politisch für wünschenswert hält, darf entsprechende Flugblätter nicht in der Bank, erst recht nicht an Bankkunden verteilen. Der Arbeitsvertrag schränkt insoweit sein Grundrecht aus Art. 5 GG ein. Literaturverzeichnis Brox, H. / Rüthers, B. / Henssler, M.: Arbeitsrecht, 16. Aufl., Stuttgart 2004. Dieterich, Th. / Müller-Glöge, R. / Preis, U. / Schaub, G. (Hrsg.): Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 4. Aufl., München 2004. Henssler, M. / Willemsen, H. J. / Kalb, H.-J. (Hrsg.): Arbeitsrecht, Kommentar, Köln 2004. Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht, hrsg. von R. Ricardi, Bde. 1 – 3, 2. Aufl., München 2000. Schaub, G.: Arbeitsrechts-Handbuch, 11. Aufl., München 2005.
Die Verantwortung der Arbeitgeber und Gewerkschaften Von Bernd Rüthers I. Einführung Das Thema betrifft die Aufgaben, die Funktionspraktiken und die Verantwortlichkeiten mächtiger Interessenverbände in der Bundesrepublik. Als „Verantwortung“ ist dabei die ethische Zurechnung der absehbaren Folgen des Verbandshandelns zu verstehen. Interessenverbände verfolgen nach ihrem Gründungszweck und ihren satzungsgemäßen Aufgaben die Interessen ihrer Mitglieder. Daneben entstehen, wie das einschlägige organisationsoziologische Schrifttum vielfach belegt, eigene Interessen der Verbandsführer und Verbandsbürokratien (Profilierungs- und Wahlkalkulationen, Bestandsinteressen, Karriereinteressen, Image- und Vergütungsinteressen der Verbandsbürokratien etc.). Dadurch werden die Rollen sowohl der Verbände als auch ihrer Funktionäre geprägt. Letztere werden dafür bezahlt, befördert oder abberufen.1 Die Existenz und das Betätigungsrecht staatsfreier Verbände sind eine Funktionsbedingung und ein Kennzeichen freiheitlicher Gesellschaftsordnungen. In Diktaturen aller Art werden solche Zusammenschlüsse verboten oder der Direktion der Herrschenden unterstellt (z. B. die „Deutsche Arbeitsfront“ im NS-Staat, der „Freie Deutsche Gewerkschaftsbund“ in der DDR). Die Katholische Soziallehre hat seit der Enzyklika Rerum novarum (Leo XIII. vom 15. Mai 1891) den naturrechtlichen Rang und die besondere Bedeutung freier Vereinigungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber für die Lösung der sozialen Frage betont (Nr. 36 – 40). Interessenverbände verfolgen ihre politischen Ziele auch gegenüber den staatlichen Organen, also gegenüber Gesetzgebung, Exekutive und Gerichtsbarkeit auf allen denkbaren Ebenen. Das ist im Grundsatz legitim, ja oft ihre satzungsgemäße Aufgabe. Diese Tätigkeit schließt zugleich das von Theodor Eschenburg früh geschilderte Risiko einer „Herrschaft der Verbände“ ein. Da es sich bei den sozialen Koalitionen des Arbeitsmarktes um ökonomisch wie gesellschaftspolitisch herausragend mächtige Verbände handelt, ist dieser Zusammenhang von Verbandsmacht und Staatsmacht in ihren Aktivitäten besonders hervorzuheben. Die gesellschaftliche Entwicklung hat dazu geführt, dass große Verbandsbürokratien weitgehend von akademisch gebildeten Stabseliten dirigiert werden. Diese werden überwiegend nicht aus der jeweiligen Mitgliedschaft, sondern am akademischen Arbeitsmarkt rekrutiert, sind also „milieufremd“. Sie bringen eigene gesellschaftspolitische 1 Selbst Arbeitskämpfe sind in der Geschichte der Bundesrepublik nicht immer im Interesse der Verbandsmitglieder, sondern bisweilen auch zur Profilierung neu gewählter oder vor der Wiederwahl stehender Verbandsführer beider Seiten ausgelöst worden.
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Vorstellungen mit, die nicht unbedingt mit denen der jeweiligen Mitgliederbasis übereinstimmen. Außerdem wird ihr Verhalten im Verband, schon wegen ihrer Karriereplanung, vom Bedürfnis nach der Anpassung an die jeweilige „Verbandsideologie“ mitgeprägt. Das führt nicht selten zu einer Radikalisierung der verbandspolitischen Vorstellungen und Aktivitäten. Diese Feststellung gilt für die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände. Mit diesem Hinweis wird die Problematik einer Verantwortungsethik des Verhaltens der Verbände gekennzeichnet. Verbandspolitik zeichnet sich nicht selten dadurch aus, dass Forderungen, die partikularen Interessenperspektiven entspringen, feierlich unter der Beschwörung des gemeinen Wohls vorgetragen und begründet werden. Das trifft, wie etwa der Tarifstreit über die Arbeitsbedingungen der Klinikärzte gezeigt hat, regelmäßig für beide Seiten zu. Von Interessenverbänden ein besonderes Maß von Verantwortlichkeit in ihrer Verbandspolitik zu erwarten, ist daher nicht ohne Risiko. Es setzt jedenfalls die sorgfältige Analyse der jeweils wahrgenommenen Funktionen und die von den Funktionären gespielten Rollen im Einzelfall voraus. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände („soziale Koalitionen“) nehmen in der Arbeits- und Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik eine herausragende Stellung ein. Die Grundlage ihrer Sonderstellung ist das „Koalitionsrecht“ des Art. 9 III GG. Es schützt nicht nur das individuelle Koalitionsrecht der einzelnen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sondern zugleich die kollektive Koalitionsfreiheit der daraus entstehenden Verbände. Diese sind in ihrem Bestand geschützt. Der Schutz umfasst ferner ihre „spezifisch koalitionsgemäße Betätigung“.2 Dazu gehören die staatsfreie Tarifautonomie, das Recht zum Arbeitskampf als Hilfsinstrument zur Durchsetzung tarifpolitischer Forderungen, die Interessenwahrnehmung ihrer Mitglieder innerhalb der Betriebsverfassung, in der Unternehmensmitbestimmung, in Gesetzgebungs- und Gerichtsverfahren und in der Arbeitsverwaltung. Umfang und Grenzen dieser Gewährleistungen sind im Einzelnen oft ungeklärt. Es handelt sich bei den genannten Aufgaben nicht um grundrechtliche Befugnisse, sondern um Einrichtungsgarantien, die dem Schutz der Individualgrundrechte aus Art. 9 III GG dienen3 und dem Gestaltungsermessen der Gesetzgebung offenstehen. Daneben üben die sozialen Koalitionen beider Seiten auf vielfältige Weise politische Einflüsse aus. Ihre Spitzenfunktionäre sind häufig im Bundestag oder in Landtagen und in Führungsgremien der politischen Parteien vertreten.4 Beide Seiten betreiben eine intensive Öffentlichkeitsarbeit. Dazu dient insbesondere die Herausgabe eigener Presseorgane. Beide Seiten unterhalten ferner verbandseigene und verbandsnahe Einrichtungen und Institute, die mit wissenschaftlichen Gutachten, Bildungsveranstaltungen, Publikationen aller Art die Bildung der öffentlichen Meinung zu beeinflussen suchen. Beide Seiten sind in den Rundfunk- und Fernsehbeiräten der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten vertreten und nehmen so auf die Programmpolitik maßgeblicher MassenBVerfGE NZA 1996, 381. BVerfGE 50, 290 ff; MünchArbR / Richardi, Bd. 3, 2. Aufl., § 241 Rdnr. 40. 4 Aktuelles Beispiel sind die auch innerverbandlichen Diskussionen über die Hauptgeschäftsführer sowohl des BDI wie der BdA, die neben ihrer Tätigkeit als Spitzenfunktionäre ihrer Verbände Bundestagsmandate und parteipolitische Führungsfunktionen wahrnehmen. Seit Jahrzehnten ist es üblich, dass Gewerkschaftsvorsitzende zugleich Bundestagsabgeordnete waren (Leber, Wiesehügel, Rappe). 2 3
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medien Einfluss. Ähnliches gilt für die Einflussnahme auf die politische Ausrichtung wichtiger privatrechtlicher Medienkonzerne, besonders für die Ballung von Medienmacht in den Händen einzelner politischer Parteien. Aus dem vorstehenden knappen Aufriss der Kompetenzen und Machtpotentiale wird deutlich, dass der folgende Überblick keine vollständige Darstellung dieser komplexen Zusammenhänge von Macht und Verantwortung der sozialen Koalitionen bieten kann. Es geht vielmehr darum, die politischen und rechtlichen Dimensionen der Verbandseinflüsse und damit die sozialethischen Aspekte der korporativen Strukturen des gegenwärtigen „Verbändestaates“ am Beispiel der Arbeitsverfassung der Bundesrepublik zu verdeutlichen. II. Die Tarifautonomie 1. Der Tarifvertrag
Die staatsfreie, von den sozialen Koalitionen praktizierte Tarifautonomie wurde in der Phase der Verelendung breiter Schichten der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert von den Gewerkschaften gegen den Widerstand der Arbeitgeber und des Staates auf nationaler und internationaler Ebene erkämpft. Sie ist heute verfassungsrechtlich (Art. 9 III GG) sowie durch internationale Vereinbarungen (Art. 11 I Europäische Menschenrechtskonvention; Art. 6 Europäische Sozialcharta; EG-Vertrag) gewährleistet. Das Tarifrecht ist – wie das gesamte Arbeitsrecht – zunächst zum Schutz der Arbeitnehmer entstanden, die gegenüber den Arbeitgebern aufgrund der Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln wirtschaftlich und sozial hoffnungslos unterlegen waren. Die individuelle Vertragsfreiheit führte wegen dieser Unterlegenheit zur Ausbeutung der Arbeitnehmer und zu menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. Die Tarifautonomie sollte dazu dienen, das Verhandlungsgleichgewicht, das auf der Ebene des Einzelarbeitsvertrages dauerhaft verloren war, auf der kollektiven Ebene wiederherzustellen. Art. 9 III 1GG gewährleistete nach seinem Wortlaut 1949 zunächst nur das individuelle Koalitionsrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch bereits 1954 die kollektive Koalitionsfreiheit, also ein eigenes Grundrecht der Verbände, durch Art. 9 III GG als gewährleistet angesehen.5 Mit der Aufnahme des Satzes 3 in Art. 9 III GG im Rahmen der „Notstandsverfassung“ 1968 ist das durch die Gewährleistung der Arbeitskampffreiheit sogar für den Fall des Staatsnotstandes mittelbar bestätigt worden.6 Nach allgemeiner Auffassung steht den sozialen Koalitionen u. a. das Recht zu, die Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder privatautonom durch normativ wirkende Tarifverträge zu regeln. Die staatsfreie Tarifautonomie ist also als Einrichtung durch die Verfassung gewährleistet. Der Staat ist verpflichtet, den sozialen Koalitionen die gesetzlichen Rahmenbedingungen für ein Tarifsystem zur Verfügung zu stellen, das es ihnen erlaubt, in dem von staatlicher Rechtsetzung freien Raum das Arbeitsleben durch Tarifverträge zu ordnen.7 Damit verbunden ist ein Verbot der staatlichen (auch gerichtlichen) 5 6 7
BVerfGE 4, 96, 102. B. Rüthers, Arbeitskampf und Notstandsverfassung, DB 1968, 1948. BAG AP Nr. 24 zu § 2 TVG.
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Zweckmäßigkeits- oder Angemessenheitskontrolle von Tarifverträgen, also ein Verbot staatlicher Tarifzensur. Tarifverträge unterliegen daher nach § 310 IV 1 BGB nicht der AGB-Kontrolle. Ebenso ist eine staatliche Zwangsschlichtung verboten.8 Auch die zur Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erforderlichen Koalitionsmittel, insbesondere die Arbeitskampffreiheit, sind durch Art. 9 III GG geschützt.9 Der Tarifvertrag ist als das Instrument der staatsfreien Bildung der Preise am Arbeitsmarkt der mit Abstand wichtigste Ordnungsfaktor des Arbeitsrechts. Mit den Gewerkschaften treten den Arbeitgebern potentiell gleichgewichtige Verhandlungspartner beim Aushandeln der Arbeitsbedingungen für die Gewerkschaftsmitglieder gegenüber. Die staatsfreie Tarifautonomie ist die Schwester einer marktwirtschaftlichen Gestaltung der Wirtschaftsordnung. Es gibt sie nur in marktwirtschaftlich ausgerichteten Staatsund Gesellschaftsordnungen. Das Grundgesetz ist also, anders als das Bundesverfassungsgericht im Investitionsurteil 1954 meinte,10 nicht „wirtschaftspolitisch“ (gemeint war „wirtschaftsverfassungsrechtlich“) neutral. Indem es die Koalitionsfreiheit, die Tarifautonomie und die Arbeitskampffreiheit gewährleistet, setzt es indirekt eine marktwirtschaftliche Ordnung voraus. Mit einer staatlich gelenkten Zentralverwaltungswirtschaft wären die Art. 1, 2, 9 und 12 GG unvereinbar. Folgerichtig verbieten totalitäre Systeme wie der NS-Staat und die DDR staatsfreie Gewerkschaften und Tarifverträge. Der liberale Verfassungsstaat des Grundgesetzes überträgt die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen im Rahmen der gesetzlich geregelten Grenzen ihrer Vereinbarungsbefugnis den Tarifparteien, also auf privatautonome Verbände, denen er zu diesem Zweck sogar Normsetzungsbefugnisse einräumt. Die Tarifautonomie verleiht den sozialen Koalitionen die Befugnis, die Mindestarbeitsbedingungen ihrer Mitglieder kollektivrechtlich verbindlich zu regeln. Die Koalitionsfreiheit ist in der auf Privateigentum an den Produktionsmitteln gegründeten Wirtschaftsordnung (Art. 14 GG) das Mittel einer freiheitlichen Selbstgestaltung der Arbeitsbeziehungen unter den Arbeitsmarktparteien.11 Sie ist das systemkonforme Instrument, um die marktbedingte Unterlegenheit der Arbeitnehmer auszugleichen. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind Kartelle des Arbeitsmarktes. Die Preise am Arbeitsmarkt werden also – abweichend vom Kartellverbot aller übrigen Waren- und Dienstleistungsmärkte – durch Arbeitsmarktkartelle nach dem Prinzip der Bildung von Marktmacht und Gegenmacht unter Monopolisten oder Oligopolisten ausgehandelt. Den Koalitionen wächst durch diese Aufgabenzuweisung (Preisbildung am Arbeitsmarkt; Arbeitskampffreiheit) eine erhebliche Macht und Verantwortung bei der Gestal8 Brox / Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rdnr. 706; MünchArbR / Otto, Bd. 3, 2. Aufl., § 296 Rdnr. 15. 9 BVerfGE 84, 212; 88, 103; so schon B. Rüthers, Streik und Verfassung, Köln 1960. 10 BVerfGE 4, 7, 18. 11 F. Böhm, Kartelle und Koalitionsfreiheit, Frankfurt a. M. 1933; G. Briefs, Das Gewerkschaftsproblem gestern und heute, Berlin 1955, S. 39; E. Picker, Die Tarifautonomie in der deutschen Arbeitsverfassung, in: Walter-Raymond-Stiftung (Hrsg.), Tarifautonomie – Informationsgesellschaft – globale Wirtschaft, Köln 1997, S. 113 ff.; D. Reuter, ZfA 1995, 1 ff.
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tung des gesamten Wirtschaftsprozesses zu. Die Wirkungen der Tarifautonomie bleiben wegen der Vernetzung aller Märkte nicht auf den Arbeitmarkt beschränkt. Die staatliche Übertragung von Normsetzungsmacht an private Interessenverbände ist ein Ausnahmefall. Ihr kommt wegen der volkswirtschaftlichen Folgen der Tarifpolitik eine für das gesamte Gemeinwesen wirksame, ökonomisch wie rechtlich erhebliche Bedeutung zu. 2. Schranken der Tarifautonomie
Die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien ist in doppelter Weise beschränkt. Nach Art. 9 III GG gelten Tarifverträge zwar unmittelbar nur für ihre beiderseitigen Mitglieder. „Außenseiter“ (das sind Nichtmitglieder oder Andersorganisierte) werden formell nur erfasst, wenn ein Tarifvertrag für „allgemeinverbindlich“ erklärt wird (§ 5 TVG). Die Beschränkung der Geltung von Tarifverträgen auf die Mitglieder der vertragschließenden Tarifparteien ist einerseits durch die auf die Mitglieder beschränkte Vertretungsmacht, daneben auch durch die „negative Koalitionsfreiheit“ der Außenseiter begründet. Sie besteht in dem Recht des Einzelnen, einer Koalition fernzubleiben oder aus ihr auszutreten, ohne deswegen Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Die negative Koalitionsfreiheit ist durch Art. 9 III GG ebenfalls geschützt.12 Die negative Koalitionsfreiheit ist für einzelne, nicht beitrittswillige Arbeitnehmer bei Bewerbungen um einen Arbeitsplatz und im betrieblichen Alltag von Unternehmen mit hohem gewerkschaftlichem Organisationsgrad ein häufig gefährdetes und verletztes Grundrecht. Wegen der Mitwirkungsrechte des dort meist von Gewerkschaftsmitgliedern besetzten Betriebsrates wird er schon bei Einstellungsgesprächen, aber auch später an seinem Arbeitsplatz nicht selten unter Druck gesetzt, der im Betrieb mächtigen Gewerkschaft beizutreten. Die Unternehmensleitung ist nur selten bereit, den betroffenen Arbeitnehmer gegenüber solchen Gefährdungen seiner negativen Koalitionsfreiheit in Schutz zu nehmen. Die Gestaltungswirkung bestehender Tarifverträge über den Kreis der Tarifgebundenen hinaus wird dadurch verstärkt, dass auch nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich beim Abschluss von Arbeitsverträgen in der Regel am jeweils gültigen Branchentarif orientieren und einzelvertraglich entsprechende Bezugnahmeklauseln auf den jeweils geltenden Tarifvertrag vereinbaren. Dieser hat also eine über seinen eigentlichen Geltungsbereich hinaus gesamtwirtschaftlich wirkende Steuerungsfunktion. Eine zweite Schranke der Tarifautonomie ist wegen ihrer weitreichenden Ausstrahlungen sorgfältig zu beachten: Tarifverträge sind, unbeschadet der Autonomie der Tarifparteien, ein Teil der Rechtsordnung. Die Tarifparteien haben bei ihren Abschlüssen alle höherrangigen Rechtsnormen zu wahren.13 Seit 1982 verzeichnet die Bundesrepublik ein kontinuierlich gewachsenes Millionenheer von anfangs 2 Mio., zeitweilig 5 Mio., im Dezember 2006 immer noch über 4 Mio. registrierten arbeitslosen Menschen. Gleichzeitig wandern erhebliche Teile des produzierenden Gewerbes, zunehmend auch von Dienstleistungsbranchen in Länder mit ge12 13
H. M. BVerfGE 50, 290, 370; BAG NJW 1968, 1903; Brox / Rüthers / Henssler, Rdnr. 661 ff. H. M. ErfK / Schaub, § 1 TVG, Rdnr. 130; Brox / Rüthers / Henssler, Rdnr. 682.
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ringeren Arbeitskosten ab. In den glücklichen Zeiten der Vollbeschäftigung und des stetigen Wirtschaftswachstum vor 1982 und später wurden tarifliche Arbeitsbedingungen vereinbart (Entgelte, Wochenarbeitszeiten bis zu 28 Stunden, Urlaubsdauer, Frühverrentungen etc.), die sich im verschärften internationalen Wettbewerb als standortfeindlich erwiesen haben. Das nährt den Verdacht, dass die Tarifautonomie in Deutschland reale Funktionsstörungen aufweist und in Teilen reformbedürftig ist. An diesem Sachverhalt wird zugleich die ungemein weitreichende wirtschaftliche und soziale Verantwortung aller am Tarifgeschehen in der Bundesrepublik beteiligten Institutionen und Kräfte (Tarifparteien, Betriebsparteien, Gesetzgebung, Arbeitsgerichtsbarkeit, Wissenschaftler, Medien etc.) deutlich.
3. Funktionsbedingungen der Tarifautonomie
Für das Verständnis des kollektiven Arbeitsrechts ist die Koalitionsfähigkeit von der Tariffähigkeit zu unterscheiden.14 Bei den sozialen Koalitionen (Verbänden) muss es sich um freiwillige Zusammenschlüsse von Arbeitgebern oder Arbeitnehmern auf privatrechtlicher Grundlage handeln. Die Vereinigungen müssen auf Dauer angelegt sein. Ihr Hauptzweck muss die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Sinne von Art. 9 III 1 GG sein. Ein wichtiges Kriterium für die Anerkennung als soziale Koalition ist die Gegnerfreiheit und Gegnerunabhängigkeit der Vereinigung in personeller, finanzieller und organisatorischer Hinsicht.15 Die Vereinigung muss vom Staat und von gesellschaftlichen Gruppen unabhängig sein (Weisungsfreiheit). Innerverbandlich muss eine demokratische Willensbildung gewährleistet sein. Einen Tarifvertrag kann nur schließen, wer tariffähig ist (§ 2 TVG). Tariffähig sind Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und einzelne Arbeitgeber. Für die Tariffähigkeit von Gewerkschaften wird zusätzlich eine gewisse soziale Mächtigkeit gefordert.16 Ihre Durchsetzungskraft gegenüber der gegnerischen Tarifpartei soll sicherstellen, dass diese eine an sie gestellte Verhandlungsforderung nicht einfach übergehen kann. Das ist im Grundsatz richtig. Überzogene Anforderungen an die soziale Mächtigkeit haben allerdings in der Vergangenheit gelegentlich dazu geführt, kleineren Konkurrenzgewerkschaften die Tariffähigkeit abzusprechen und diesen damit den Marktzutritt in das Tarifgeschäft zu verweigern. Nutznießer solcher Entscheidungen17 sind die marktbeherrschenden Großgewerkschaften. Die skizzierten bedeutsamen arbeitsschutzrechtlichen und gesamtwirtschaftlichen Funktionen kann der Tarifvertrag nur erfüllen, wenn unter den Tarifparteien ein hinreichendes Verhandlungs- und Kampfgleichgewicht besteht.18 Keine Seite darf der anderen wegen eines dauerhaften Übergewichts ihren tarifpolitischen Willen aufzwingen 14 15 16 17 18
Brox / Rüthers / Henssler, Rdnr. 650 ff. und 689 ff. BVerfGE 4, 96; 18, 18 std. Rspr. BAG AP Nr. 9 zu § 2 TVG; BVerfGE 58, 233, 249. Vgl. etwa ArbG Stuttgart vom 12. 9. 2003; dazu Rieble, BB 2004, 885. Grundlegend BAG (GS) 1, 191 und 23, 292.
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können. Nur dann besteht die Vermutung einer „materiellen Richtigkeitsgewähr“ der erzielten Tarifabschlüsse.19 Die Tarifvertragsparteien können nur Mindestarbeitsbedingungen regeln. Das ist eine Folge des Schutzzweckes der Tarifverträge und des „Günstigkeitsprinzips“ (§ 4 III TVG). Der Tarifvertrag soll die Arbeitnehmer vor Ausbeutung schützen, nicht aber die Vereinbarung von günstigeren Arbeitsbedingungen als die tariflich vereinbarten verhindern. Die tarifliche Regelung von „Höchstarbeitsbedingungen“, etwa für Arbeitnehmer, die nicht Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft sind, ist unzulässig. In Tarifverträgen können nach den §§ 1 I, 4 I TVG Normen vereinbart werden: Inhaltsnormen, Abschlussnormen und Beendigungsnormen für die Arbeitsverhältnisse seines Geltungsbereichs. Ferner können tariflich Betriebsnormen festgelegt werden. Sie gelten auch für Außenseiter, haben also einen Bezug zu deren negativer Koalitionsfreiheit. Nach der Rechtsprechung des BAG sind sie zulässig und wirksam, wenn eine einzelvertragliche Regelung evident unzweckmäßig wäre und deshalb eine betriebseinheitliche Regelung sachlich erforderlich ist.20 Dazu zählen Fragen, die unmittelbar die Organisation und Gestaltung des Betriebes, also der Betriebsmittel und der Belegschaft betreffen. Die Grenze dieser Erforderlichkeit ist bis heute nicht geklärt. Betriebsverfassungsrechtliche Normen in Tarifverträgen behandeln die Rechtsstellung der Arbeitnehmerschaft im Betrieb und deren Organe, soweit das Betriebsverfassungsgesetz solche ergänzende Regelungen zulässt (vgl. etwa §§ 3, 47 IV, 76 VIII, 86 BetrVG). Tarifliche Normen über gemeinsame Einrichtungen der Tarifparteien enthalten Regeln über die Errichtung, Erhaltung und Nutzung solcher Einrichtungen (§ 4 II TVG). Tarifliche Normen wirken nach § 4 I TVG unmittelbar und zwingend auf die ihnen unterworfenen Arbeitsverhältnisse ein. Sie gelten als Rechtsnormen wie ein Gesetz und können nicht durch einzelvertragliche Abreden zum Nachteil der Arbeitnehmer abgedungen werden. Vom Tarifvertrag abweichende Abmachungen zuungunsten der Arbeitnehmer sind nur zulässig, soweit sie vom Tarifvertrag gestattet sind. 4. Sonderproblem „Günstigkeitsprinzip“ (§ 4 III TVG)
Primärer Zweck der Tarifautonomie ist nach Art. 9 III GG der Schutz des Individualgrundrechts der einzelnen Arbeitnehmer. Deshalb haben die Tarifnormen nur eine einseitig zwingende Wirkung. Grundlage dieser Regelung ist die durch Art. 2 und 12 I GG gewährleistete Arbeitsvertragsfreiheit der Arbeitnehmer. Ihre Selbstbestimmung („Privatautonomie“) soll durch tarifvertragliche Bestimmungen nicht eingeschränkt werden, wenn die tarifliche Regelung für sie ungünstiger ist als die individualrechtlich ausgehandelte. Damit wird die Kartellwirkung der Tarifverträge zugunsten der individuellen Freiheitsrechte eingeschränkt, soweit die Arbeitnehmer selbst einzeln oder als Belegschaft in der Lage sind, unter Verzicht auf die Vertretung durch ihre Tarifpartei für sie günsti19 20
BAG EzA Nr. 36 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. BAG NZA 1998, 213 f.
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gere Arbeitsbedingungen zu vereinbaren. Das Tarifvertragsgesetz überlässt den Markt übertariflicher Arbeitsbedingungen der freien einzelvertraglichen Vereinbarung und damit dem Wettbewerb. Das dient den Interessen beider Seiten. Die Arbeitnehmer können für besondere Kenntnisse und Fähigkeiten bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Die Arbeitgeber können besonders gesuchte Arbeitskräfte durch übertarifliche Leistungen gewinnen oder dauerhaft an sich binden. Die Frage, wann eine „Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers“ vorliegt (§ 4 III TVG), ist im Gesetz nicht geregelt. Es handelt sich um einen auslegungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriff. Die Auslegung, die allein vom Richterrecht des BAG bestimmt wird, ist lebhaft umstritten. Sowohl Unternehmen wie auch Arbeitnehmer, Betriebsräte und ganze Belegschaften verlangen zunehmend mehr Flexibilität bei der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse sowie die Öffnung der Tarifverträge für abweichende Vereinbarungen. Das gilt besonders für „betriebliche Bündnisse für Arbeit“, in denen die große Mehrheit der Belegschaften und ihre Betriebsräte sich etwa bereit erklären, die Wochenarbeitszeiten bei gleichem Lohn zu erhöhen, wenn ihnen dafür befristete Arbeitsplatzgarantien (Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen) geboten werden. Da eine Abänderung der Rechtsprechung des beim BAG zuständigen 4. Senats nicht absehbar ist, müsste der Gesetzgeber sich des Selbstbestimmungsrechtes der Arbeitnehmer durch eine Konkretisierung des § 4 III TVG annehmen. Bis dahin gilt die Feststellung: Recht ist das, was die letzten Instanzen sagen. Das Richterrecht ist unser Schicksal, auch wenn es gelegentlich zu Unrecht führt.
III. Der Arbeitskampf 1. Notwendiges Hilfsinstrument staatsfreier Tarifautonomie
Die staatliche Anerkennung der Tarifautonomie in der Weimarer Republik führte folgerichtig auch zur Duldung, später in der Bundesrepublik zur verfassungs- und privatrechtlichen Anerkennung der Arbeitskampffreiheit. Das war ein durch die Tarifautonomie vorgezeichneter Prozess der Rechtsentwicklung. In tariflichen Spannungslagen, wenn sich die Tarifvertragsparteien nicht einigen können, ist ein Lösungsinstrument für solche Konfliktsituationen erforderlich, damit es zur Festlegung von „Preisen“ am Arbeitsmarkt in einem außerstaatlichen, privatautonom gestalteten Verfahren kommen kann. Ohne die Arbeitskampffreiheit beider Seiten wären die Tarifverhandlungen ein „kollektives Betteln“, meint das BAG.21 Arbeitskampf ist ein Preiskampf am Arbeitsmarkt, bei dem sich die Anbieter (Gewerkschaften) und die Nachfrager (Arbeitgeberverbände) als Monopolisten oder Oligopolisten gegenüberstehen. Wegen dieser in einer staatsfreien Tarifautonomie unverzichtbaren Funktion ist der Arbeitskampf als ein Hilfsinstrument der Tarifautonomie im Sinne einer verfassungsrechtlichen Einrichtungsgarantie geschützt. Zulässige Arbeitskämpfe gibt es nur in liberalen Verfassungsstaaten. In Diktaturen (NS-Staat, DDR) sind Arbeitskämpfe verboten und strafbar. 21
BAG AP Nr. 64 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (A I. 2a).
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Mittel des Arbeitskampfes sind Maßnahmen, mit denen kollektiv organisierte Störungen der Arbeitsbeziehungen, also des reibungslosen und friedlichen Vollzuges der Arbeitsverträge bewirkt werden. Die historisch gewachsenen Hauptkampfmittel sind Streik, Aussperrung und Boykott. Die Veränderungen der wirtschaftlichen und technischen Rahmenbedingungen führen zur Erprobung neuer Kampftechniken wie etwa Betriebsbesetzungen oder Betriebsblockaden.22 2. Die Rechtmäßigkeit von Arbeitskämpfen
Arbeitskämpfe sind darauf gerichtet, den Kampfgegner durch die Androhung oder Zufügung wirtschaftlicher Schäden zum Eingehen auf die erhobenen Forderungen (Kampfziele) zu veranlassen. Die Schäden der Kampfmittel sollen zuerst den Kampfgegner, die gegnerische Tarifpartei und deren Mitglieder, treffen. In einer vernetzten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung treffen die Kampfmaßnahmen aber auch unbeteiligte Dritte (Ärztestreik, Müllabfuhr, Streik von Flugleitern, Piloten, Zivildienstleistenden oder Kindergärtnerinnen). Bei Streiks im öffentlichen Dienst werden in der Regel nur die Nutzer der bestreikten Einrichtungen und die Steuer- oder Gebührenzahler geschädigt. Das Arbeitskampfrecht hat also einerseits die funktionelle Notwendigkeit der Kampffreiheit für die Tarifautonomie zu gewährleisten, andererseits vermeidbare, unvertretbare Schädigungen des Gemeinwohls zu verhindern. Eine gesetzliche Regelung des Arbeitskampfes fehlt und ist angesichts der Regelungsunwilligkeit (Unfähigkeit?) der Gesetzgebung nicht zu erwarten. So ist das Arbeitskampfrecht ganz überwiegend vom BAG gemachtes Richterrecht. Es gelten die folgenden Grundsätze23: (1) Arbeitskämpfe dürfen nur zwischen Tarifvertragsparteien geführt werden. „Wilde“ Arbeitskämpfe sind unzulässig. (2) Das verfolgte Kampfziel muss vom Kampfgegner tariflich regelbar sein. Unzulässig sind Demonstrations- und Sympathiearbeitskämpfe, weil sie keine eigene tarifliche Regelung anstreben. (3) Zwischen den Kampfparteien muss ein Mindestmaß von Kräftegleichgewicht (Verhandlungs- und Kampfparität) bestehen. (4) Dem Staat ist es untersagt, eine der Kampfparteien zu begünstigen (Gebot der Staatsneutralität). (5) Der Einsatz der Kampfmittel muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot!) entsprechen. Arbeitkämpfe, die ein politisches Kampfziel verfolgen, etwa eine gesetzliche Regelung, ein bestimmtes Regierungshandeln oder eine Gerichtsentscheidung erzwingen wollen, sind verboten.24 Sie verstoßen gegen die Verfassung, weil sie die demokratische Brox / Rüthers / Henssler, Rdnr. 770 ff. BAG GS 1, 291 ff.; 23, 292 ff.; Brox / Rüthers, Rdn. 128 ff.; G. Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 11. Aufl. 2005, § 193; ErfK-Dieterich, Art. 9 GG Rdnr. 99 ff., 109 ff. 24 Das gilt auch für Beamtenstreiks. Die Entgelte der Beamten werden gesetzlich geregelt. Der Beamtenstreik liefe auf eine Parlamentsnötigung hinaus. 22 23
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politische Willensbildung (Art. 20 GG) durch eine Diktatur der kämpfenden Tarifpartei ersetzen wollen.25 Die Einzelheiten des Arbeitskampfrechts, das vom Bundesarbeitsgericht unter Verstoß gegen die Grundsätze seines Großen Senats vielfältig verändert wurde,26 lassen sich im Rahmen dieses Handbuchs nicht darstellen. Das Gericht hat durch die Liquidation des Grundsatzes, dass Arbeitskämpfe nur als letztes Mittel eingesetzt werden dürfen („ultima ratio“-Prinzip), durch die faktische Beseitigung der Aussperrungsmöglichkeit (Quotenrechtsprechung) und andere Entscheidungen das Verhandlungs- und Kampfgleichgewicht zu Lasten der Arbeitgeber verschoben. Die gesamtwirtschaftlich sachgerechte Preisbildung am Arbeitsmarkt wurde gestört. Deutschland bekam die kürzesten Wochenarbeitszeiten bei vollem Lohn (VW 28 Stunden / 4-Tage-Woche), die längsten Urlaubszeiten, den stärksten Kündigungsschutz und die früheste Verrentung in der EU – allerdings auch stets wachsende Quoten der Massenarbeitslosigkeit, eine Schlussposition im Wirtschaftswachstum und eine steigende Staatsverschuldung. Ganze Branchen verlegten in den letzten zwanzig Jahren ihre Produktion ins Ausland. IV. Tarifautonomie und Arbeitskampf im Umbruch? Die seit 1989 rasant vorangeschrittene Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen rund um den Erdball hat die ökonomischen Rahmenbedingungen der Tarifautonomie und des Arbeitskampfes auf der nationalen Ebene von Grund auf verändert. Nahezu in allen Kontinenten und Ländern ist die Produktion von Waren und Dienstleistungen in Spitzenqualität möglich. Das hat den internationalen Wettbewerb bei der Wahl der günstigsten Standorte erheblich verschärft. Die traditionelle Tarifautonomie ging noch von einer Dominanz der Interessengegensätze der Tarifparteien aus. Im scharfen internationalen Wettbewerb hat sich gezeigt, dass die nationalen Standorte nur durch ein partnerschaftliches Verhalten der Tarifparteien und Betriebsparteien erhalten und ausgebaut werden können. Die ökonomische Wirklichkeit hat die beiderseits lange gepflegten Konfrontationsideologien („Klassenkampf“) überholt und obsolet werden lassen. Die meisten Arbeitskämpfe, besonders soweit sie den internationalen Wettbewerb berühren, schaden in dieser Lage den fundamentalen Mitgliederinteressen beider Seiten und dem Gemeinwohl. Sie sind sinnlos, weil sie die nationale Wettbewerbslage verschlechtern, Arbeitsplätze in Deutschland kosten und weitere Verlagerungen in kostengünstigere Regionen auslösen. Arbeitskämpfe sind zur Spielwiese überholter Ideologien geworden. Weiterhin bestehende Interessenkonflikte am Arbeitsmarkt verlangen nach neuen systemkonformen, verhandlungsorientierten Lösungsmöglichkeiten. Das schweizerische Friedensabkommen der Metall- und Uhrenindustrie, das dort seit 1938 Tarifarbeitskämpfe verhindert hat, könnte einen Weg weisen.
Brox / Rüthers, Rdnr. 103 ff. Leider sehr unklar ErfK-Dieterich Art. 9 GG Rdnr. 114. B. Rüthers, Beschäftigungskrise und Arbeitsrecht, Frankfurter Institut, Bad Homburg 1996, S. 104 ff. 25 26
Die Verantwortung der Arbeitgeber und Gewerkschaften
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Literaturverzeichnis Brox / Rüthers: Arbeitskampfrecht, 2. Aufl. 1982. Brox / Rüthers / Henssler: Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2004, Rdnr. 649 – 857. Däubler: Tarifvertragsrecht, 3. Aufl. , 1993. – (Hrsg.): Arbeitskampfrecht, 2. Aufl. 1987. Gamillscheg: Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, 1997, §§ 20 ff. Kalb: Arbeitskampfrecht, 1986. Kissel: Arbeitskampfrecht, 2002. Löwisch (Hrsg.): Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 1997. Löwisch / Rieble: Tarifvertragsgesetz, 2. Aufl. 2004. Richardi / Wlotzke (Hrsg.): Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 3 (Kollektives Arbeitsrecht), 2. Aufl. 2000.
Arbeitsmarktordnung Von Gerhard D. Kleinhenz
Für die Mehrzahl der Menschen in modernen Gesellschaften spielt die Erwerbsarbeit eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit und der Verwirklichung ihrer Lebenspläne an Existenzsicherheit, Wohlstand und Zufriedenheit für sie selbst, ihre Familienangehörigen und Freunde. Die zivilgesellschaftliche und politische Ordnung des arbeitsteiligen Arbeits- und Erwerbslebens steht daher auch im Mittelpunkt einer kirchlichen Heilslehre für die Menschen in dieser Welt. Die Arbeitsmarktordnung ist ein Kernbereich der staatlichen Ausgestaltung einer humanen Gesellschaftsverfassung und eines leistungsfähigen Wirtschaftssystems. Die Arbeitsbedingungen sind zentral für die Akzeptanzurteile und die Standortentscheidungen von Menschen als Staats- und Weltbürger. Dieser Beitrag zur Arbeitsmarktordnung ist ein Versuch, die Perspektive der Katholischen Soziallehre mit der fachwissenschaftlichen Perspektive der Ökonomik zu verbinden. Allerdings scheint gerade die besondere Bedeutung der Arbeitswelt für den Einzelnen und die Gesellschaft eine solche integrierte Betrachtung und Analyse zu erschweren. Zwar wird heute kaum mehr der Begriff des Arbeitsmarktes abgelehnt. Allerdings wird doch eher davon ausgegangen, dass das Erkenntnisinteresse der Ökonomik gerade auf „anonyme“ Marktbeziehungen statt auf zwischenmenschliche Arbeitsbeziehungen und auf „ökonomische Effizienz“ im Gegensatz zu Bedarfs- und Beteiligungsgerechtigkeit ausgerichtet ist. Auf der anderen Seite hat sich die moderne Mikroökonomik (Neue Institutionenökonomik) zunehmend auch unvollkommenen Märkten und der Berücksichtigung von Informations- und Transaktionskosten zugewandt und dabei die Besonderheiten von Arbeitsmärkten und deren Anreiz- und Optimierungsprobleme bei unvollständigen Verträgen zwischen Prinzipal (Arbeitgeber) und Agent (Arbeitnehmer), bei beschränkter Rationalität und bei unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen in ihre Analyse einbezogen. Auf dieser Grundlage ist heute eine integrierte Darstellung und Analyse der Arbeitsmarktordnung möglich. Hierbei soll grundsätzlich der institutionellen Ausgestaltung einer der Katholischen Soziallehre gemäßen Ordnung nachgegangen, sowie die bestehende Arbeitsmarktordnung und ihre gegenwärtige Reform auf ihre Vereinbarkeit mit der Soziallehre überprüft und beurteilt werden.
I. Katholische Soziallehre als Bündel von Seins- und Wertvorstellungen für den Arbeitsmarkt Versteht man als Arbeitsmarkt das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage für den Austausch der grundlegend definierten Arbeitsleistungen von Menschen, dann sind damit sowohl die reine Objektrolle des Menschen (Versklavung) und Sklavenmärkte als
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auch der reine Charakter einer „Ware Arbeit“ (Karl Marx) als außerhalb der Betrachtung liegende Extrempunkte einer Skala bestimmt. Die Austauschbeziehungen auf dem Arbeitsmarkt sind zum einen freie Vereinbarungen über Leistung und Gegenleistung von rechtlich selbständigen Individuen (Parteien), also Marktprozesse. Sie sind aber wegen der Erbringung der Leistung durch Menschen auch keine Tauschbeziehung für eine Ware im reinen (extrem typischen) Sinne (Homogenität der Güter, Fehlen persönlicher, örtlicher und zeitlicher Präferenzen). Der Arbeitsmarkt ist damit (per definitionem) ein besonderer Markt, auf dem die in der Ökonomik sonst erstrebte Abstraktion von der tatsächlichen gesellschaftlichen (zwischenmenschlichen) Einbindung der Marktbeziehungen wegen der (existenziellen) Verbundenheit zwischen der Arbeitsleistung und dem Menschen, der sie erbringt, besonders unzureichend gelingt. Daher wird die Rede von einem „Arbeitsmarkt“ vielfach auch als unbefriedigend empfunden. Gleichwohl kann diese Perspektive der Ökonomik der Arbeit im Sinne erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnismethoden nicht a priori oder normativ als irrelevant abgetan werden. Für die christliche Glaubensbotschaft mit dem Bild vom Menschen als Ebenbild Gottes und der Aufforderung zur Gestaltung einer Gott wohlgefälligen gesellschaftlichen Ordnung ist damit der Zusammenhang zwischen den Marktbeziehungen auf dem (so definierten) Arbeitsmarkt einerseits und den Menschen als Anbieter und Nachfrager von Arbeitsleistungen andererseits grundsätzlich von besonderer Wichtigkeit. Im Zuge der Industrialisierung, der Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts und der historischen Zunahme abhängiger Erwerbsarbeit als vorherrschende Form der Existenzsicherung der Menschen bis in die Gegenwart hat sich die allgemeine christliche Heilslehre als Soziallehre der Kirche auf die Erscheinungsformen und Bedingungen der gesellschaftlich arbeitsteiligen Erwerbsarbeit der Arbeitnehmer konkretisiert. Die (eigentlichen) päpstlichen Sozialenzykliken von Rerum novarum (1891) über Quadragesimo anno (1931) und Laborem exercens (1981) zu Centesimus annus (1991) beinhalten die konkrete pastorale Auseinandersetzung der Kirche mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen dieser gut einhundertjährigen Entwicklung in ihrer Bedeutung für die Würde des Menschen und für eine dieser Würde entsprechenden vollkommenen, humanistischen Ordnung des Zusammenlebens der Menschen (Kompendium 2006). Für den Arbeitsmarkt und die Arbeitsmarktordnung sollen dabei (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ausreichende Differenzierung) die folgenden Seins- und SollensVorstellungen der Katholischen Soziallehre vorrangige Berücksichtigung finden. (1) Das menschliche Leben und die Würde des Menschen werden als oberste Werte über eine anthropologische oder naturrechtliche Argumentation hinaus transzendental begründet und für alle Menschen dieser einen Welt universell anerkannt. Eine Instrumentalisierung, eine bloße Objektrolle, Fremdbestimmung und Ausbeutung des Menschen als Ressource oder als Ware verbieten sich damit auch im Wirtschaftsleben. Dabei wird der Mensch nicht als isoliertes Individuum, sondern als auf Vergesellschaftung (in Familie, Gemeinde, Staat und Welt) angelegte Person verstanden, die ihre werthafte Erfüllung in der Ehre Gottes und der Liebe zum Nächsten, zu ihren Mitmenschen, finden soll. (2) Der Mensch nimmt in der Arbeit zum einen den Schöpfungsauftrag Gottes und die Verantwortung für die Erde wahr. Andererseits ist er nach dem Verlust des Paradieses auf Arbeit (auf Wertschöpfung) zur Sicherung seiner Existenz angewiesen. Arbeit „adelt“ den Menschen und trägt – auch insoweit sie „Arbeitsleid“ verursacht –
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mit zur Selbstverwirklichung des Menschen als Person bei. Auch die „abhängige Erwerbsarbeit“ in industriellen oder „anonymen“ Groß-Unternehmen und in der modernen Wirtschaftsgesellschaft sollte dem Arbeitnehmer daher die personale menschliche Teilhabe an der gesellschaftlich organisierten Erwerbsarbeit und einen Spielraum zur Selbstverwirklichung durch diese Arbeit eröffnen. (3) Für die politische Ausgestaltung des in den gegenwärtigen Lebensverhältnissen tatsächlich so bedeutsamen Lebensbereichs der Teilnahme an gesellschaftlich arbeitsteiliger Erwerbsarbeit gelten alle aus dem christlichen Glauben hergeleiteten Fundamentalprinzipien der Gestaltung einer Gesellschafts- und Weltordnung: Die menschliche Person und ihre unantastbare Würde sind die für alle Menschen dieser Erde (als Geschöpf Gottes) gleichermaßen gültige Grundlage der einzelnen für das gesellschaftliche Leben relevanten Werte der Freiheit der Entfaltung der Persönlichkeit, der Gerechtigkeit, Wahrheit, Frieden und Liebe sowie der Prinzipien des Gemeinwohls als der Daseinsberechtigung politischer Autorität, der allgemeinen Bestimmung der Güter, der Solidarität und der Subsidiarität. Das Bild des Menschen als auf gesellschaftliche Gemeinschaft angelegtes Wesen (Sozialität) lässt Privateigentum und freiwillige Vereinbarungen (Vertragsfreiheit) als Grundlage der persönlichen Entfaltungsfreiheit zu, schließt aber über die Gleichheit des Rechts auf Persönlichkeitsentfaltung (Gerechtigkeit) Vereinbarungen zu Lasten Dritter aus und fordert den friedlichen Ausgleich von Interessengegensätzen und möglichen Konflikten. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wird mit Hilfe dieser Werte und Prinzipien auf die Verantwortung aller Individuen für das Gemeinwohl und die gemeinschaftliche Nutzung von Gütern und Ressourcen konkretisiert, wobei über die Norm der Gerechtigkeit und das Prinzip der Solidarität der Fokus insbesondere auf die gleichen Entfaltungsrechte von Armen und Behinderten gerichtet wird, denen nicht nur die vorrangige Sorge der Katholischen Soziallehre sondern auch der staatliche Auftrag zur Gewährleistung eines Mindestmaßes an Verfügung über Güter und an Teilhabe am gesellschaftlichen Arbeitsleben zuzusprechen ist. Das von der Katholischen Soziallehre am meisten bekannte Subsidiaritätsprinzip beinhaltet ein wechselseitiges Verantwortungs- und Kompetenzzuweisungsverhältnis zwischen dem Einzelmenschen und der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft eines gesellschaftlichen Gebildes (Familie, Gemeinde, Region, Nationalstaat) soll der Person Hilfe bei der Entfaltung und Erlangung ihrer Menschenwürde gewähren. Sie soll dann an der Grenze der persönlichen Leistungsfähigkeit mit ergänzender „subsidiärer“ Hilfe einspringen. Sie soll aber dem Einzelnen und den kleineren Gemeinschaften keine Verantwortung abnehmen, die diese im Rahmen eigener Leistungsfähigkeit (Selbsthilfe) wahrnehmen können. Abgesehen von den Problemen der Anwendung dieses Prinzips im Verhältnis von EUOrganen und Mitgliedsstaaten beim Arbeits- und Sozialschutz in Europa sowie bei der föderalen Kompetenzverteilung im Bundesstaat und beim Verhältnis von staatlicher oder tarifvertraglicher Regelung bleibt beim Subsidiaritätsprinzip letztlich die empirische Bestimmung der Selbsthilfefähigkeit der Person schwierig und vielleicht unlösbar. Die Annahme einer Grenze der Eigenverantwortlichkeit und Selbsthilfefähigkeit kann beim „Hilfebedürftigen“ im Vertrauen auf die Wohltätigkeit der Mitmenschen und der Gemeinschaft oder auf den Staat die Reaktion auslösen, sein persönliches Leistungspotential gar nicht erst zu entfalten und dann auch nicht zum Einsatz zu bringen.
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Die Gründerväter der deutschen Ordnungskonzeption der Sozialen Marktwirtschaft dürften bei ihren Vorstellungen für eine besondere Ordnung des Arbeitsmarktes aufgrund christlicher oder naturrechtlicher Überzeugungen von gleichen allgemeinen Menschenrechten und von weitgehend konformen konkreten Wertvorstellungen ausgegangen sein. Bei der Wiedereinführung von Marktwirtschaft und Wettbewerbsordnung war ihr Anliegen, die Entwicklungen der Frühindustrialisierung mit der Entstehung eines Proletariats und einer Gefährdung der Gesellschaftsordnung nun vor allem durch den Staat als Ordnungsmacht auszuschließen und die Akzeptanz der Marktwirtschaft auch bei den Arbeitnehmern nachhaltig zu erreichen. Bei vermutlich gleicher Wertschätzung der Würde des Menschen und der grundlegenden Menschenrechte folgten sie den dargestellten weitergehenden inhaltlichen Normen und Prinzipien der Katholischen Soziallehre für die Ausgestaltung einer Arbeitsmarkt- und Sozialordnung nur noch bedingt. Die Soziallehre enthält z. B. mit den Postulaten der Gemeinwohlverantwortung und gemeinsamen Bestimmung der Güter und Ressourcen sowie der Solidarität auch einen hohen Anspruch an moralischen Tugenden (Kompendium, Nr. 193). Dies würde noch vermehrt gelten, wenn man auch das moralische Gebot der Liebe berücksichtigen und auf Arbeitsbeziehungen und konkrete Arbeitsverträge anwenden wollte. Die Katholische Soziallehre beschreibt mit ihrem normativen Gehalt und den geforderten moralischen Tugenden der Akteure im gesellschaftlichen Leben eine (nach Vernunft und Empirie zwar) mögliche Ordnung eines wahrhaft umfassenden Humanismus (Kompendium Nr. 18). Die Verwirklichung dieser Ordnung setzt jedoch jene tugendhaften Menschen voraus und bedingt letztlich „mit der notwendigen Hilfe der göttlichen Gnade wahrhaft neue Menschen und Erbauer einer neuen Menschheit“. (Gaudium et spes, Nr. 30, zitiert nach Kompendium Nr. 18) Die Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft sind in klassischer ökonomischer Tradition von Ordnungskonzepten in dieser Hoffnung auf einen neuen Menschen der Katholischen Soziallehre nicht gefolgt. Man wird ihnen deswegen aber nicht unterstellen können, dass Sie sich eine solche Gesellschafts- und Weltordnung nicht wünschen würden. Das Anliegen mit der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft war gleichwohl sehr anspruchsvoll: eine ordnungspolitische Synthese der Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit zu erreichen, die historische Arbeiterfrage zu überwinden und neuen sozialen Fragen ordnungspolitisch vorzubeugen sowie eine ebenso leistungsfähige wie menschenwürdige, also eine geradezu „ideale Ordnung“ zu verwirklichen (vgl. Kleinhenz 1997, S. 393). Die Soziale Marktwirtschaft als solche ideale Ordnung sollte zudem bei eher geringen Anforderungen an die moralischen Tugenden der Menschen vor allem durch die weise Gestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen für ein überwiegend als eigennutzorientiert angenommenes Verhalten der Menschen erreicht werden. Ein solcher Versuch der Systemgestaltung sollte eigentlich übereinstimmendes Anliegen der Katholischen Soziallehre und der Ordnungsökonomik sein können, ungeachtet der Wertvorstellung, dass die Menschen ihr Handeln auch in Gesellschaft und Wirtschaft stärker am Gemeinwohl, an Solidarität und Liebe orientieren sollten, um eine ideale Welt eines wahren, umfassenden Humanismus hervorzubringen.
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II. Regulierung des Arbeitsmarktes in der Sozialen Marktwirtschaft Aus ökonomischer Perspektive werden meist – auch jenseits einer politischen Norm des sozialen Ausgleichs – Besonderheiten des Arbeitsmarktes als Begründung für besondere institutionelle Arrangements geltend gemacht. Insbesondere in Bezug auf das immer noch verbreitet verwendete Referenzmodell der vollständigen Konkurrenz ist der Arbeitsmarkt kein Markt wie jeder andere, sondern ein typisch unvollkommener Markt. Es gibt keinen einheitlichen Arbeitsmarkt (schon gar nicht gesamtwirtschaftlich oder gar weltweit), sondern eine Vielzahl von qualitativ, räumlich und zeitlich zu differenzierenden Teil- oder Elementar-Arbeitsmärkten, über deren Konditionen auch ein gut ausgebautes Arbeitsmarktinformationssystem nur bedingt ausreichend informieren kann. Arbeitsleistung und Arbeitsvergütung (Gegenleistung) auf diesen einzelnen Marktsegmenten sind in hohem Maße für die Marktteilnehmer intransparent. Vor allem die längerfristigen Entwicklungsmöglichkeiten, Berufs- und Tätigkeitsprofile (Erwerbsbiographie) sind auch von der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nur sehr begrenzt vorhersehbar. Auch wenn man diese Unvollkommenheit des Arbeitsmarktes im Vergleich zu realen Verhältnissen unvollständiger Konkurrenz auf Gütermärkten nur als ordnungspolitisch unerhebliche Unterschiede unter Berücksichtigung von Problemen und Kosten der Information, Transaktion, Raumüberwindung, Gewährleistung, Haftung etc. einstuft, bleibt der Arbeitsvertrag ein typisch unvollständiger Vertrag. Leistung und Gegenleistung auf einem Arbeitsmarkt sind ex ante selten vollständig definierbar und u. a. von der Motivation des Arbeitnehmers oder von immaterieller Entlohnung durch ein bestimmtes Betriebsklima abhängig. Die Konsequenzen dieser Problematik unvollständiger Arbeitsverträge wären u. a., dass wegen der Gefahr opportunistischer Ausnutzung ohne Vertrauensverhältnisse und ohne Rechtsrahmen Arbeitsverträge nicht in dem Maße zustande kämen, wie dies für die moderne, hoch arbeitsteilige Wirtschaft erforderlich ist, dass institutionelle Regeln für freie Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer entständen und wegen ihrer Bewährung Beständigkeit aufwiesen (Probezeit, Befristung, Leistungslohn, duale Berufsausbildung etc.) sowie dass rationale Arbeitgeber (auch ohne gesetzliche Verpflichtung oder Tarifzwang) zur Gewährung von Entlohnungsbedingungen bereit sind, die über dem markträumenden Gleichgewicht liegen. Die sogenannten Effizienzlohntheorien zeigen dies u. a. für die Vermeidung der üblichen Fluktuationskosten, für die Abwehr von Bummelei oder mangelnder Leistungsmotivation sowie für die Gewinnung der besonders leistungsbereiten Mitarbeiter. Auf dem Arbeitsmarkt wird die Marktsteuerung zudem durch verschiedene Aspekte der Vermachtung beeinträchtigt. Der Vielzahl von (auch heute meist) vermögenslosen oder nur mit bescheidenem Konsumvermögen, Humanvermögen und geringen Anteilen am Produktivvermögen ausgestatteten Arbeitnehmern stehen auf regionalen Arbeitsmärkten oft nur wenige Arbeitgeber gegenüber (oligopsonistische bis monopsonistische Arbeitsnachfrage). Zwischen dem Arbeitgeber und dem einzelnen Arbeitnehmer besteht eine Machtasymmetrie, die bei der Marktbewertung der Arbeit im Ergebnis zu einer Ausbeutung der Arbeitnehmer führen kann. Eine weitere Beeinträchtigung des Vertrauens auf die Fairness und Leistungsgerechtigkeit der Marktbewertung für Arbeitsleistungen ergibt sich für viele Haushalte aus dem existenziellen Zwang zur Verwertung ihrer Arbeitskraft, der sich als Angebotsanomalie darstellen lässt und in der Frühindustrialisierung zum Verfall der Löhne auf
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das physische Existenzminimum führte („Ehernes Lohngesetz“ nach F. Lasalle). Auch heute könnte das Streben nach Erhalt eines erreichten Lebensstandards im Falle einer Lohnsatzsenkung zu einer Ausweitung des Arbeitsangebots der Haushalte und damit zu weiterem Druck auf die Lohnsätze führen. Diesen Besonderheiten der Arbeitsmärkte trugen zum einen historische gesellschaftliche Entwicklungen, gesetzliche Arbeitnehmerschutznormen und auf verfassungsrechtlicher und gesetzlicher Grundlage geschaffene oder sanktionierte Arbeitsmarktinstitutionen Rechnung (Institutionalisierter Arbeitsmarkt). Die Gesamtheit der institutionellen Arrangements der Arbeitsmarktordnung in der Sozialen Marktwirtschaft erscheint dann insofern als ausgewogen in Bezug auf die Werte von Freiheit und Gerechtigkeit als den Besonderheiten des Arbeitsmarktes in fünf Säulen der Arbeitsmarktordnung (Institutionen) Rechnung getragen und eine Absicherung gegen den Verfall der Arbeitsnormen gewährleistet wird. Oberhalb der gesetzlichen und tariflichen Mindestnormen kann sich der freie Einzelarbeitsvertrag (als Krönung) entfalten. Der Arbeits- und Sozialschutz für die zunächst „sozial schwachen“ Arbeitnehmer findet sich im Individualarbeitsrecht und reicht von den historisch ersten Arbeitnehmerschutznormen (Verbot der Kinderarbeit), dem Schutz besonderer Arbeitnehmergruppen (Frauen, Mütter, Jugendliche, Behinderte, Betriebsräte) über den Schutz vor Betriebsund Gesundheitsgefahren, den Bestandsschutz für das Arbeitsverhältnis (Kündigungsschutz), den Arbeitszeit- und -vertragsschutz. Die Bundesagentur für Arbeit (1927 als Reichsanstalt eingerichtet) hat die klassischen Funktionen der Information und Beratung über Berufe, Tätigkeitsprofile und Stellen sowie der Vermittlung von Beschäftigungsverhältnissen. Daneben übernimmt sie die Sicherung im Falle der Arbeitslosigkeit (durch Einkommensersatz und Beiträge zur Gesundheits-, Pflege- und Rentenversicherung). Die Organisation repräsentativer Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen mindert die Gefahr einer Objektstellung der Arbeitnehmer. Zentrale Säule des Schutzes der Arbeitnehmer ist die Tarifautonomie, die auf der verfassungsmäßigen (Ausnahme von den liberalen Grundsätzen der Koalitions- und Kartellverbote in Form der) „Koalitionsfreiheit“ zur Bildung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden beruht. Die sachnahen und dem Subsidiaritätsprinzip entsprechenden Vereinbarungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften in Tarifverträgen stellen Mindestnormen für die Einzelarbeitsverträge dar. Dabei haben die Tarifnormen heute meist den gesetzlichen Arbeitnehmerschutz inhaltlich übertroffen und in der Bedeutung in den Hintergrund gerückt, auch wenn Tarifverträge (außer bei Allgemeinverbindlicherklärung) infolge abnehmender Organisation der Arbeitnehmer in Gewerkschaften vielfach nicht streng juristische Geltung haben, sondern eher eine Orientierungsfunktion. Für die Entwicklung und die Ausgestaltung der Arbeitsmarktordnung sowie für deren konkrete Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben Gewerkschaften als Interessenverbände der schutzbedürftigen abhängigen Erwerbstätigen historisch eine besondere Rolle gespielt, die im Rahmen der Tarifautonomie staatliche Anerkennung für die Mitwirkung an der Normsetzung für den Arbeitsmarkt erlangte. Neben der zentralen Stellung der Gewerkschaften in der Tarifpolitik wirkten sie entsprechend ihrer Verbandsmacht (Mitgliederzahl und Organisationsgrad) auf die arbeitsmarkt- und sozialpolitische Willensbildung ein. Zudem erlangten sie über die Mitbestimmung (Betriebsräte, Vertreter in Vorstand und Aufsichtsrat) Einfluss auf Unternehmensentscheidungen und waren über
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die Selbstverwaltung der Einrichtungen der Sozialen Sicherung an der Implementation von Arbeitsmarkt- und Sozialgesetzgebung beteiligt. Entsprechend sind die (historisch konkreten) Arbeitsmarktordnungen verschiedener Länder auch über die staatlichen ordnungspolitischen Grundentscheidungen hinaus in starkem Maß durch die Ausrichtung, Organisation und Handlungsstrategien der jeweiligen Organisationen der Arbeiterbewegung geprägt.
III. Auswirkungen der Sozialen Ausgestaltung der Arbeitsmarktordnung Die Institutionen und komplexen institutionellen Arrangements der Arbeitsmarktordnung, die sich seit der Frühindustrialisierung in gesellschaftlichen Prozessen (Betriebliche Sozialpolitik, Partnerschaftsmodelle und Human-Ressource-Management-Konzepte) im Bargaining zwischen den Tarifparteien („Sozialpartner“) und durch staatliche Regulierung ergeben haben, haben die Einbettung der Marktbeziehungen zwischen den Anbietern und Nachfragern auf Arbeitsmärkten auf vielfältige Weise verändert. Da solche Institutionen zwar das Verhalten innerhalb gewisser Restriktionen kanalisieren und durch Anreize (Belohnung / Bestrafung) ausrichten, aber nicht determinieren können, würden moralische, soziale Tugenden der Akteure die Ergebnisse weiter verbessert haben können. Das Fehlen solcher Tugenden und das Vorherrschen (oder die allmähliche Ausbreitung) eigennutzorientierter Verhaltensweisen dürfte die intendierten Wirkungen der Arbeitsmarktordnung um nicht-intendierte Wirkungen und um (vielfach vernachlässigte) Interdependenz-Effekte verändert haben. Der in einer Sozialen Marktwirtschaft konzeptionelle Kompromiss von marktwirtschaftlicher Effizienz und humaner / sozialer Gestaltung kann dabei unter veränderten Bedingungen zwischen Komplementarität und Zielkonkurrenz variieren und möglicherweise auch nicht zeitkonsistent beurteilt werden. Während die Arbeitsmarkt- und Sozialordnung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg in internationalen Systemvergleichen als Teil des Wirtschaftswundermodells galt, wird dieser weitgehend unveränderten Ordnung heute eine Mitverantwortung für eine ca. 30jährige Periode unzureichenden Wachstums und eines schrittweise gestiegenen hohen Niveaus persistenter Arbeitslosigkeit zugeschrieben. Eine Evaluation der gesamten Arbeitsmarktordnung in der Sozialen Marktwirtschaft erscheint beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft nicht durchführbar. Im Rahmen dieses Beitrages ist weder eine umfassende Wirkungsanalyse noch eine endgültige und empirisch gesicherte Zuordnung von Wirkungen zu einzelnen Institutionen möglich. Dennoch sollen hier einige Gesamteindrücke sowie positive (intendierte) und negative (nicht intendierte) Wirkungen hervorhebend aufgelistet werden, ohne damit eine abschließende Bilanzierung zu versuchen oder für eines der gängigen journalistisch-politischen Pauschalurteile über die Arbeitsmarktordnung zu plädieren. Insgesamt scheinen die institutionellen Arrangements für die Arbeitsmärkte das erwünschte Steuerungspotenzial zu besitzen. So kann historisch besonders der Umsetzung des Verbots der Kinderarbeit eine entscheidende Verbesserung der Arbeitsmarktbedingungen zugerechnet werden. Das anfangs auch von Arbeitnehmern abgelehnte Verbot trug zur Verknappung von Arbeit und damit tendenziell zur Erhöhung der Löhne bei, es war eine notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung einer allgemeinen Schulpflicht und eines Anstiegs der Qualifikation der Arbeitskräfte und es beförderte in Ver-
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bindung mit medizinischen Fortschritten eine steigende Lebenserwartung bei längerer Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Dieser Ansatz einer humanen Ordnung des Arbeitsmarktes war also auch Wirtschaftsgrundlagenpolitik im Sinne einer Vorsorge für die Verbesserung der quantitativen und qualitativen Verfügbarkeit von Humanvermögen und insofern eine Zielkomplementarität von humanen sozialen Werten und wirtschaftlicher Effizienz. Im internationalen Vergleich kann vor allem die Entfaltung der Tarifautonomie und die Entwicklung eines Systems der industriellen Arbeitsbeziehungen als Erfolg der Arbeitsmarktordnung gewertet werden. Über die Tarifautonomie und ihre überwiegend verantwortungsbewusste und friedliche Anwendung konnte in Deutschland eine angemessene Beteiligung der Arbeitnehmer am steigenden Wohlstand erreicht werden. Die Mitbestimmung bewährte sich als Instrument kooperativer Bewältigung von teilweise erheblichen strukturellen Anpassungsprozessen (z. B. Montan- und Textilindustrie). Insgesamt könnte man der Arbeitsmarktordnung durchaus einen erheblichen Beitrag zur Besserstellung der Arbeitnehmer und zur Überwindung der historischen Arbeiterfrage bescheinigen. In Deutschland hat die politische Entwicklung allerdings offenbar besonders zum Aufbau teilweise doppelter oder gar mehrfacher Absicherungen der Arbeitnehmer geführt. Die Verschränkung der Institutionen von Arbeitsmarkt und Sozialstaat über die Interessenvertretung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer hat eine Dominanz des Interessenkonflikts der Tarifpolitik für die anderen Institutionen ermöglicht. Bei aller zeitweiligen und persönlich verantwortlichen Gemeinwohlorientierung der „Sozialpartner“ bleibt das Verständnis vom Arbeitsleben noch zu sehr von einem (teilweise mühsam gepflegten) Rest an Klassenkampfdenken bestimmt, selbst bei den der Katholischen Soziallehre nahestehenden Arbeitnehmerorganisationen, denen die Ausrichtung auf friedliche Zusammenarbeit in der Arbeitswelt verbindlich sein sollte. Dass eine Ideologie vom (unüberbrückbaren) Klassengegensatz immer wieder durch Beispiele belegt wird, aber nicht durch wechselseitige Schuldzuweisungen, sondern nur durch ein gemeinschaftliches Committment zu friedlichem und fairen Umgang miteinander überwunden werden kann, zeigt die lange Bewährung des Friedensabkommens in der Schweizer Uhren- und Metallindustrie. Negative (nicht intendierte) Wirkungen der Arbeitsmarktordnung können darin gesehen werden, dass trotz der institutionellen Ausgestaltung des Arbeitsmarktes und der seit 1969 gesetzlich begründeten und stetig weiterentwickelten „Aktiven Arbeitsmarktpolitik“ (Arbeitsförderungsgesetz [AFG], später Sozialgesetzbuch III) weder die Wohlfahrtsverluste von Massenarbeitslosigkeit vermieden noch ein Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt im Sinne des Stabilitätsziels eines hohen Beschäftigungsstandes noch gar „die Sicherung“ ununterbrochener, den individuellen Neigungen und Fähigkeiten entsprechender Beschäftigung aller Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen zu bestmöglichen Beschäftigungsbedingungen (Lampert / Bossert 2004, S. 308) erreicht werden konnte. Insbesondere das hohe Niveau der nicht friktionellen und nicht konjunkturellen Arbeitslosigkeit, nämlich der oft (z. B. von der OECD) als „strukturell“ (manchmal auch als „natürlich“) bezeichneten, von der mangelnden Anpassungsflexibilität der Arbeitsmarktinstitutionen bedingten Arbeitslosigkeit, die überproportional hohe Arbeitslosenquote der beruflich gering Qualifizierten und der hohe Anteil an Langzeitarbeitslosigkeit erscheinen zumindest nicht als Ausdruck einer hervorragenden Leistungsfähigkeit der Arbeitsmarktordnung.
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Von politischen (exogenen) Erschütterungen (Wiedervereinigung, 11. Sept. 2001, EUOsterweiterung) und der Globalisierung abgesehen, könnten frühere Fehler und mangelndes Umsteuern bei der Tarifpolitik sowie bei der Expansion der Sozialen Sicherung als „Versagen“ der Akteure im Umgang mit der Arbeitsmarktordnung vermutet werden. Die Tarifpolitik hatte in der Wachstumsphase der Bundesrepublik zu einer breiten Teilhabe von Arbeitnehmern an der Wohlstandsentwicklung und zum sozialen Aufstieg vieler Arbeitnehmerfamilien in eine breite „Mittelschicht“ geführt. In Verbindung mit dem Ziel der Lebensstandardsicherung, das nach der Rentenreform von 1957 in andere Sozialversicherungs- und Versorgungsbereiche einfloss und letztlich auch die Orientierung der Sozialhilfe an „sozialkulturellen“ Standards bestimmte, konnten über die lange Phase der Wachstumsschwäche, der Wiedervereinigung und der hohen persistenten Arbeitslosigkeit hinweg kollektive „Besitzstände“ an tariflichen Normen und an Sicherungsansprüchen weitgehend gewahrt werden. Einer „neuen Moral“ der Mitnahme und des Missbrauchs von Solidarleistungen sowie einer individuellen Strategie der Maximierung von Ausschüttungen aus den Solidarsystemen wurde zu wenig Widerstand geleistet. Neue Wege der Flexibilisierung von Tarifnormen, der tariflich gesicherten Integration für Outsider, insbesondere Langzeitarbeitslose (z. B. Einstiegstarifverträge) sowie erfolgsorientierter Entlohnung und Mitarbeiterbeteiligung (sogenannte Flexicurity) wurden zu wenig beschritten. Die sogenannten Hartz-Reformen haben inzwischen über eine Strategie- und Organisationsreform für die Bundesagentur für Arbeit (BA) und die systemkonforme Zusammenfassung der Arbeitsförderung für Versicherungspflichtige und erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger hinaus vor allem mit der Begrenzung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld I (auf max. 12 bzw. 18 Monate) die lange gehegte Schutzerwartung breiter Arbeitnehmerschichten auf die nachhaltige Sicherung eines einmal erreichten Lebensstandards – auch im Falle länger dauernder Arbeitslosigkeit – begrenzt und beeinträchtigt. IV. Soziallehre, Arbeitsmarktreformen und die Einheit aller Menschen dieser Welt Die Katholische Soziallehre geht uneingeschränkt von den gleichen Entfaltungsrechten und der Würde aller Menschen auf dieser Erde aus und fordert eine diesen gleichen Menschenrechten entsprechende Ordnung und Gestaltung des Arbeits-, Gesellschaftsund Wirtschaftslebens. Hinzu kommt noch die Forderung nach besonderer Solidarität mit den Armen und Schwachen, die bei globaler Betrachtung wohl in den arbeitenden Menschen und Arbeitsuchenden in den weniger entwickelten Ländern dieser Erde zu finden sind. Die Soziallehre kann daher eindeutig nicht für den Schutz privilegierter Besitzstände gegen („neoliberale“) Reformen der Arbeitsmarktordnung in den hoch entwickelten Ländern mit hohen Lohn- und Sozialstandards herangezogen werden. So ist die heute politisch propagierte Ausrichtung der Arbeitsmarktordnung auf eine Verstärkung von „Fordern und Fördern“ im Grunde nur die der Soziallehre konforme Wiederentdeckung des Subsidiaritätsprinzips. Allerdings bleiben die Probleme der Bestimmung der Potenziale eigenverantwortlicher Persönlichkeitsentfaltung und Selbsthilfe nach wie vor bestehen. Die Einforderung der Selbsthilfe des Einzelnen zur Sicherung der Existenz durch eigene Arbeit ist aus Sicht der Katholischen Soziallehre keine Zumutung sondern
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eine Chance zur Selbstverwirklichung der Person und die Sicherung von Teilhabegerechtigkeit. Die Soziallehre der Kirche befürwortet keinen Protektionismus für den Binnenmarkt der hoch entwickelten Länder, keine Abwehr von freiem Welthandel und letztlich auch keine Migrationsbarrieren für Menschen auf der Suche nach einem Standort. Die christlichen Wertvorstellungen für die Gestaltung des Erwerbsarbeitslebens sind universell für alle Menschen dieser Welt. Die Bedeutung, die gerade diesen universell einheitlichen Wertvorstellungen der Katholischen Soziallehre zukommt, wird in den nationalstaatlichen Reformdiskussionen oft völlig ausgeblendet. Dies kann am Beispiel der Debatte um die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland gut verdeutlicht werden. Abgesehen von der Systeminkonformität in Verbindung mit der Entscheidung für die Tarifautonomie soll durch gesetzliche Mindestlöhne nach 2011 ein Lohndumping infolge der Freizügigkeit von Arbeitnehmern aus den neuen EU-Mitgliedsländern verhindert werden. Mit Bezug auf die Soziallehre müsste die eingängige Formel „ein Mensch müsse von anständiger Arbeit auch anständig leben können“ für alle Menschen dieser Erde gelten. Mit der Soziallehre lässt sich kein Lohnsatz bestimmen, der den universellen Menschenrechten entspräche, ohne auch die übrigen Bedingungen „anständiger Arbeit“ vergleichend zu berücksichtigen. Der Schutz und die Unterstützung der Katholischen Soziallehre kann nicht für die Erhaltung von Besitzständen (wie z. B. eine 35-Stundenwoche) nur für die Arbeitnehmer in den hoch entwickelten Ländern eingefordert werden.
Literaturverzeichnis Kleinhenz, Gerhard D.: Verfassung und Struktur der Arbeitsmärkte in marktwirtschaftlichen Systemen, in: Heinz Lampert (Hrsg.), Arbeitsmarktpolitik (Reihe „Wirtschaftswissenschaftliches Seminar“), Stuttgart u. a. 1979, S. 8 – 20. – Tarifpartnerschaft im vereinten Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 12 / 92, S. 14 – 24. – Marktwirtschaft und Sozialstaat: Zukunftsmodell Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 43 / 2005, S. 33 – 40. – Die Zukunft des Sozialstaats. Spielraum für sozialen Fortschritt unter veränderten Rahmenbedingungen, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 37. Jg. 1992, S. 43 – 71. – Sozialstaatlichkeit in der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 216 / 4+5, Stuttgart 1997, S. 392 – 412. – (Hrsg.): Soziale Ausgestaltung der Marktwirtschaft, Festschrift für Heinz Lampert, Berlin 1995. Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Freiburg i. Br. 2006. Lampert, Heinz / Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, 7. Aufl., Berlin u. a. 2004. Lampert Heinz / Bossert, Albrecht: Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl., München 2004. Lampert Heinz / Englberger, Josef / Schüle, Ulrich: Ordnungs- und prozesspolitische Probleme der Arbeitsmarktpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991.
Siebtes Kapitel
Eigentum
Das Eigentum und seine Formen – Philosophische Begründungen Von Wolfgang Kersting
In der philosophischen Geschichte der Eigentumstheorie lassen sich fünf unterschiedliche eigentumstheoretische Konzeptionen unterscheiden: I. die ethisch-politische Eigentumskonzeption; II. die patristisch-naturrechtliche Eigentumskonzeption; III. die naturrechtsjuristisch-kontraktualistische Eigentumskonzeption; IV. die freiheitlich-grundrechtliche Eigentumskonzeption; V. die sozialstaatlich-gerechtigkeitstheoretische Eigentumskonzeption.
I. Die ethisch-politische Eigentumskonzeption Als ethisch-politische Eigentumskonzeption bezeichne ich die Überlegungen der klassischen Philosophie über die Bedeutung des Besitzes für den sittlichen Charakter der Individuen und die politische Verfassung des Gemeinwesens. Praktische Philosophie ist für Platon und Aristoteles Glücksethik und Tugendlehre; daher berücksichtigt die normative Beurteilung individueller Handlungen und gesellschaftlicher Institutionen ausschließlich ihren Einfluss auf die individuelle Charakterbildung und den sittlichen Zustand der koinonia politike. Dass diese sittliche Bewertung trotz geteilter eudämonistischer Voraussetzungen gleichwohl zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann, zeigt ein vergleichender Blick auf Platons Politeia und Aristoteles’ Politik. Für Platon hängt das Schicksal der idealen Gerechtigkeitsgemeinschaft an der Frauen-, Kinderund Besitzgemeinschaft des Wächterstandes. Nur dann, wenn die für die Sicherheit und politische Leitung der Gemeinschaft verantwortlichen Wächter und Regenten alles gemeinsam besitzen, wenn weder das Wohl der eigenen Familie noch Interesse und Freude an dem eigenen Besitz sie von der Sorge um das Allgemeine ablenken können, ist der sittliche Bestand des Gemeinwesens garantiert. Das Allgemeine kann nur dann blühen, wenn es Individuen gibt, die es ausschließlich als Eigenes betrachten, die kein davon getrenntes Eigenes kennen. Besitz und Familie individualisieren, binden Interesse, konkurrieren mit dem Allgemeinen um die Aufmerksamkeit und die Einsatzbereitschaft der Bürger.1 In seiner Politik kritisiert Aristoteles dieses Konzept der entindividualisierenden Besitzgemeinschaft entschieden. Nicht nur lehnt er die sich darin bekundende Einheitsvorstellung als einer politischen Lebensordnung unangemessen ab, auch bezweifelt er die Annahme, dass Platons gemeinsame Sorge für das Besorgte zuträglich sei: Nicht nur gäbe es eine grundlegende Neigung der Menschen zu exklusiven Familien- und 1
Vgl. Wolfgang Kersting, Platons ,Staat‘, 2. Aufl., Darmstadt 2006.
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Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch ein tiefverwurzeltes Bedürfnis, Dinge als privates Eigentum zu betrachten. Außerdem lehre die Erfahrung, dass Gemeinbesitz Unverantwortlichkeit erzeuge und die Dinge verkommen lasse, während Privatbesitz Eigenverantwortlichkeit stärke, für eine pflegliche Behandlung der Dinge sorge und zudem auch zuverlässig ökonomische Wertsteigerung sichere. Das solle jedoch nicht dazu führen, dass Eigentum ausschließlich dem Eigentümer nützlich sei; im Gegenteil: Sittlich lobenswert sei es, mit seinem Eigentum der Allgemeinheit nützlich zu sein, es für die Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt einzusetzen.2
II. Die patristisch-naturrechtliche Eigentumskonzeption Durch die christliche Überzeugung, dass Gott die Welt geschaffen und dem Menschengeschlecht als gemeinsam und friedlich zu nutzenden Lebensraum geschenkt habe, wird der sittliche Eigentumsdiskurs der klassischen Philosophie beträchtlich verschärft. Die biblische Gemeinbesitzprämisse bürdet dem Prinzip der privaten Verfügung über die Güter der Welt eine schwere Begründungslast auf. Die frühen christlichen Denker3 haben der Gemeinbesitzidee das größere normative Gewicht gegeben und Okkupationslehre und das Recht auf private Verfügung über die Dinge als mit dem Schöpfungsprinzip des gemeinsamen Besitzes unvereinbar angesehen; die Befugnis, etwas aus dem Gemeinbesitz herauszubrechen und als privates Eigentum zu betrachten und somit andere von seinem Gebrauch auszuschließen, führe zu unsittlichen Verhältnissen, gäbe dem Erzübel der Pleonexia Raum und würde Unfrieden stiften.4 Bei Thomas von Aquin weicht dieser ethische Rigorismus einer gelasseneren Betrachtungsweise, die in mancherlei Hinsicht aristotelische Eigentumsgedanken aufnimmt und naturrechtlich reformuliert. So kommt es zu einer weltklugen, erfahrungsgestützten Rehabilitierung von Okkupationstheorie und Eigentumsprinzip. Die Vorstellung vom Gemeineigentum sei aufgrund der Sündhaftigkeit der Menschen kein angemessenes Prinzip zur rechtlichen Organisation des Gebrauchs der Güter der Welt. Die Einführung des Privateigentums sei unerlässlich und darüber hinaus auch angesichts der menschlichen Natur überaus zweckmäßig: Es sorge für übersichtliche Verhältnisse, würde Konflikte minimieren und sei zudem von wirtschaftlichem Vorteil, da Menschen nun einmal mit Eigenem sorgfältiger umgehen würden als mit Dingen, die sich im Besitz aller befänden. Da durch diese Argumentation der Gemeinbesitzgedanke seine rechtliche Verbindlichkeit für die postlapsarische Zeit verloren hat, sind die Dinge der Welt rechtlich gesehen nach Thomas von Aquin herrenlose Güter, die legitim angeeignet werden können. Mit der Rehabilitierung des Privateigentums ist also im thomistischen Naturrecht eine Rehabilitierung des Okkupationsprinzips verbunden. Freilich sorgt der allgemeine teleologische Charakter des Naturrechts dafür, dass der privaten Verfügung über die Dinge ethische Grenzen gesetzt sind. Stets sind die Auswirkungen privaten Gütergebrauchs an den vorgegebenen naturrechtlichen Zwecken zu messen, denen im Konfliktfall immer der Vorzug zu geben ist. Diese normative Vorstellung, dass Eigentumsgebrauch sozialverträglich sein muss, dass Privatbesitz überhaupt eine soziale Funktion besitzt und darum Aristoteles, Politik, 1260 b – 1264 b. Etwa die Kirchenväter Basilios der Große, Ambrosius, Cyprianus, Gregorius von Nazians, Chrysostomos. 4 Vgl. Künzli (1986), S. 137 – 168. 2 3
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immer nur relativ legitim sein kann, liegt auch der heutigen Moraltheologie zugrunde. Eigentum kann weder Selbstzweck sein noch als unantastbar gelten. Rechtlich definiert es exklusive Verfügungsbefugnis, aber sittlich ist es als Gemeingut zu betrachten, das zum Nutzen der Gesamtheit zu verwenden ist.5
III. Die naturrechtsjuristisch-kontraktualistische Eigentumskonzeption Während Thomas von Aquin eine konsequentialistische Betrachtung wählt und das relative Eigentumsrecht durch seine empirisch einsichtigen Vorzüge zu rechtfertigen versucht, erblicken die Naturrechtsjuristen Grotius und Pufendorf in der Eigentumsbegründung vor allem ein rechtliches Problem. Insbesondere können sie sich nicht der These anschließen, dass die Okkupation herrenlosen Gutes einen legitimen Übergang vom Gemeinbesitzzustand zum Zustand des Privateigentums erlaubt und eine rechtliche Exklusionsbefugnis bewirken kann. Nur dann darf man von einem legitimen Übergang vom Gemeinbesitz zum Privatbesitz sprechen, wenn dieser selbst auf rechtlich zulässige Weise zustande gekommen ist. Und das heißt: Wenn er im Einvernehmen mit allen zustande gekommen ist, die von einem solchen Akt der eigentumsrechtlichen Inbesitznahme betroffen sind, weil sie durch ihn ja in ihrer Freiheit hinsichtlich des Gebrauchs äußerer Güter eingeschränkt werden, mit einem Wort: Wenn er sich auf einen Vertrag stützen kann, durch den sich alle auf die Einführung des Prinzips des Privateigentums einigen. Diese vertragstheoretische Eigentumsbegründung hat Grotius in die naturrechtliche Diskussion eingeführt. Durch den bloßen Willen – animi actu solo – könne niemand festlegen, was andere als sein Eigentum zu respektieren hätten. Nur ein naturrechtlich begründeter – und wie der Staatsbegründungsvertrag des staatsphilosophischen Kontraktualismus –, vorstaatlich geschlossener Vertrag kann die Aufteilung des Gemeinbesitzes in Privatbesitz rechtlich rechtfertigen, sei es, dass dieser „ausdrücklich abgeschlossen wurde, wo man eine Aufteilung vornahm“, oder sei es, dass man ihn „als abgeschlossen ansah, wo durch einseitige Besitzergreifung die Bildung von Eigentum erfolgte“6. Damit also die Okkupationshandlung eigentumsrechtliche Folgen haben kann, muss sie in den Kontext vertraglicher Zustimmung integriert werden. Die Rechtsfigur des Vertrages überwölbt den kontingenten empirischen Okkupationsakt und gibt ihm eine rechtsbegründende Bedeutung.
IV. Die freiheitlich-grundrechtliche Eigentumskonzeption Als freiheitlich-grundrechtliche Eigentumskonzeption können die eigentumstheoretischen Vorstellungen bezeichnet werden, die in der klassischen politischen Philosophie der Neuzeit von Locke bis Hegel entwickelt wurden. Die neuzeitliche politische Philosophie ist die begrifflich avancierteste Reflexionsform der Selbstverständigung der neuen, bürgerlichen, individualistischen und kapitalistischen Gesellschaft. Sie hebt auch das Nachdenken über das Privateigentum auf ein hohes konzeptuelles Niveau, ja gibt ihm überhaupt erst durch ihre philosophische Begründungsargumentation theore5 Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Freiburg u. a. 2004, S. 137 ff. 6 Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, Leyden 1939, II, 2, § 2.3.
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tischen Zuschnitt. Gemeinsam ist diesen philosophischen Eigentumskonzeptionen, dass sie Eigentum als rechtlichen Ausdruck der Freiheit verstehen, die Notwendigkeit des Privateigentums auf der Grundlage fundamentaler freiheitsphilosophischer und subjektphilosophischer Annahmen zu erweisen suchen. Und da diese Freiheits- und Subjektkonzepte systembedingt differieren, erhält auch der Eigentumsbegriff in den unterschiedlichen philosophischen Kontexten eine spezifische Färbung. Locke betrachtet die Arbeit eigentumsbegründend, da sich durch Bearbeitung das Subjektive der Rechtspersonalität mit der Natur vermische. Kant entwickelt ein Argument der freiheitsrechtlichen Konsistenz und begründet die vernunftrechtliche Notwendigkeit, äußere Güter als rechtlichen Privatbesitz zu betrachten, im freiheitsrechtlichen Basisprinzip. Und für Hegel ist Eigentum unerlässlich, weil der nach Selbsterkenntnis strebende Geist sich vergegenständlichen, der Wille sich ein Dasein geben muss.
1. Eigentum und Arbeit: Locke
Das Grundprinzip der Locke’schen Konzeption des Arbeitseigentums lautet: Wenn jemand in ein natürliches Gut Arbeit investiert und dabei seine natürliche Gestalt verändert, dann erhält diese Person ein Eigentumsrecht an diesem Gegenstand und darf alle anderen rechtmäßig von seinem Gebrauch ausschließen. Durch die Arbeit „vermischt“ sich die Person mit der Natur, fügt dieser Eigenes hinzu und verändert so einen Teil des ursprünglichen Gemeinbesitzes, so dass dieser nicht mehr unter das „gemeinsame Recht der anderen Menschen“ fällt.7 Locke hat nicht der empirischen Arbeitshandlung als solcher eine eigentumskonstitutive Funktion zugesprochen. Ihm ist kein naturalistischer Fehlschluss vorzuwerfen. Erst dann werden die normativen Konsequenzen sichtbar, wenn die Arbeitshandlung ihrerseits in einen normativen Kontext integriert wird, den Locke als Eigentum an der eigenen Person bezeichnet. Mit der in einen Gegenstand investierten Arbeit wird die Rechtsqualität der Person auf den Gegenstand übertragen. Der Gegenstand wird somit in die menschenrechtlich geschützte ursprüngliche Eigensphäre integriert und zu einem Teil der Person. Diese Vorstellung von der Übertragung der rechtspersonalen Qualität auf Gegenstände durch Arbeit, dieses Subjektivierungsmodell, bildet den systematischen Kern der Locke’schen Eigentumsbegründung. Die Konzeption des Arbeitseigentums sucht einen Übergang von dem inneren Mein zum Eigentum ohne irgendeine Vermittlung durch die Allgemeinheit zu finden, die bei den Naturrechtsjuristen als stillschweigender oder ausdrücklicher Vertrag fungiert, die bei Kant in Gestalt der Vernunftidee vom ideellen Gesamtbesitzer aus der empirischen Bemächtigungshandlung überhaupt erst eine rechtsbedeutsame Erwerbung macht. Mit der Eliminierung des Konsensgedankens aus der Eigentumstheorie verliert bei Locke auch der Gemeinbesitzbegriff seine rechtlichen Implikationen. Die durch den Gemeinbesitz hervorgerufenen Schwierigkeiten werden nur noch als verteilungsökonomische Probleme angesehen. Der Miterdbewohner ist nicht mehr der Rechtspartner in einer über die rechtliche Figur des Gemeinbesitzes vermittelten Rechtsgemeinschaft, sondern nur noch der Bedürftige, der durch das Eigentumsrecht nicht in seinem grundlegenden Subsistenzrecht gekränkt werden darf.
7
John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a. M. 1977, II, § 26.
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2. Eigentum und Freiheit I: Kant
Das Vernunftrecht Kants fordert, den Gütergebrauch in Übereinstimmung mit dem grundlegenden Freiheitsrecht zu bringen. Daher verlangt es die Ermöglichung privaten Eigentums. Es ist „eine Voraussetzung a priori der praktischen Vernunft, einen jeden Gegenstand meiner Willkür als objectiv mögliches Mein oder Dein anzusehen und zu behandeln“8. Des Näheren besagt dieses „rechtliche Postulat der praktischen Vernunft“ dreierlei: I. Es ist möglich, einen jeden äußern Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben. II. Es ist erlaubt, Dinge in meinen Besitz zu bringen und sie rechtlich zu besitzen, d. h. alle anderen rechtmäßig von ihrem Gebrauch auszuschließen. III. Jedermann ist verpflichtet, gegenüber anderen sich so zu verhalten, „daß das Äußere (Brauchbare) auch das Seine von irgend jemanden werden könne“9. Das rechtliche Vernunftpostulat stellt also einmal die rechtliche Notwendigkeit des Prinzips des Privateigentums heraus, erteilt zum anderen die generelle, keine ausschließende Befugnis zur Erstaneignung äußerer Gegenstände, und begründet drittens eine ebenfalls generelle, jeden betreffende Verpflichtung auf das Eigentumsprinzip und damit auf alle Handlungen, die zu seiner Realisierung erforderlich sind. Und da diese Institutionalisierung des Privateigentums nur im Rahmen einer staatlichen Ordnung möglich ist, impliziert das Vernunftpostulat aufgrund der Forderung, dass privates Eigentum an äußeren Willkürgegenständen möglich sein soll, die Pflicht zum Staat. „Wir können nicht verstehen“, so schreibt Pufendorf in seinem Naturrecht von 1672, „wie eine lediglich körperliche Handlung, wie es eine Bemächtigung und Besitzergreifung ist, in der Lage sein könnte, Rechtswirkung zu entfalten und das Recht und die Verfügungsmacht anderer einzuschränken, wenn nicht deren bestätigende und sanktionierende Zustimmung hinzukäme, wenn nicht ein Vertrag geschlossen würde“10. Lockes Theorie der ursprünglichen Erwerbung durch Arbeit widerspricht dieser These von der Unmöglichkeit, durch einseitige Handlungen ein die Welt verpflichtendes Eigentumsrecht zu konstituieren und verwirft darum auch ihre kontraktualistische Konsequenz. Im Rahmen des rechtsphilosophischen Apriorismus Kants ist Pufendorfs These jedoch eine blanke Selbstverständlichkeit.11 Gleichwohl übernimmt Kant nicht die vertragstheoretische Lösung: Der obligationstheoretische Voluntarismus des Vertrags unterbietet das metaphysische Niveau unbedingter praktischer Notwendigkeit, an dem sich Kants Philosophie der gesetzgebenden Vernunft orientiert. Aber auch Kants Konzept der ursprünglichen Erwerbung bedarf des Konsensmomentes, weil eben einseitigen Willkürakten keine Verpflichtungswirkung zugeschrieben werden kann. Kants Ausweg aus dieser Situation ist die paradoxieverdächtige Konstruktion einer nicht-voluntaristischen Konsenstheorie des Eigentums. Ihre systematische Pointe besteht darin, dass erstens eine rechtsphilosophische Deutung der empirischen Erstaneignung eines Landstücks als Zueignungsakt seitens des allgemeinen Willens des ideellen Gesamtbesitzers alles ursprünglich Erwerblichen überhaupt ermöglicht wird. Zweitens wird eine Verpflichtung Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Bd. VI, S. 246. Ebd., S. 252. 10 Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo, Amsterdam 1672, IV, IV, S. 5. 11 Zur Rechtsphilosophie Kants im Allgemeinen und seiner Eigentumstheorie im Besonderen vgl. Wolfgang Kersting, Kant über Recht, Paderborn 2005; ders., Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 3. Aufl., Paderborn 2007. 8 9
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begründet, sich mit allen zum Zwecke der Etablierung eines öffentlichen Systems der Rechtsbestimmung und Rechtsprechung zusammenzuschließen. Die Konstruktion der vereinigten Willkür a priori besitzt den Status einer notwendigen geltungstheoretischen Annahme. Sie ermöglicht eine mit dem allgemeinen Gesetz der äußeren Freiheit zusammenstimmende Interpretation der Aneignungshandlung. Die prima occupatio ist nur als gedachte „Austheilung durch den gemeinschaftlichen Willen“ im Sinne einer allseitigen „Verwilligung“ Rechtserwerb.12 Die a priori notwendige Vereinigung der Willen aller Besitzer aller möglichen eigentumsfähigen Gegenstände ist genau die normative Prämisse, die den empirischen Handlungen der Inbesitznahme und Deklaration des Besitzwillens hinzugefügt werden muss, um der Behauptung, dieser Gegenstand ist mein, und der damit verbundenen Anmaßung, alle anderen von seinem Gebrauch auszuschließen, Rechtsgültigkeit zu verleihen. Sie ist geltungstheoretisch den empirischen Aneignungshandlungen vorgeordnet und reduziert diese auf die Funktion der gegenständlichen Identifikation und inhaltlichen Bestimmung.
3. Eigentum und Freiheit II: Fichte; Hegel
Die idealistische Rechtsphilosophie hat sich nicht an dem konsentischen Eigentum Kants und der naturrechtlichen Kontraktualisten, sondern am Arbeitseigentum Lockes orientiert. Die komplizierten, die traditionellen eigentumstheoretischen Vorstellungen des Gemeinbesitzes und der legitimierenden Vertragsallgemeinheit rechtsmetaphysisch reformulierenden Konstruktionen des Kantischen Vernunftrechts fügten sich aufgrund ihres geltungstheoretischen Zuschnitts nicht in den – sei es subjektivitätstheoretischen, sei es geistesphilosophischen – Theorierahmen von Fichte und Hegel. Lockes Konzeption hingegen ließ sich mühelos mit der Subjektiv-Objektiv-Dialektik des idealistischen Freiheitsverständnisses verbinden. In seiner Arbeitslehre spiegelt sich die neue naturbeherrschende Weltstellung des modernen Individuums, die in den identitätsphilosophischen Konstruktionen des Idealismus ihren begrifflich radikalsten Ausdruck findet. Eigentum entsteht nach Fichte, indem durch Einsatz unserer Kräfte wir die Herrschaft der Vernunft über den Körper auf die Dingwelt ausdehnen. Die Vernunft, die Eigentümer des gesamten Restmenschen ist, überträgt durch körperliche Tätigkeit ihren Eigentumsanspruch auf herrenlose Dinge. Diese werden dem Eigentum, das die Vernunft an der Gesamtperson hat, einverleibt und gelten als vergegenständlichte, nach Außen getretene Vernunft. „Wir sind unser Eigenthum: sage ich, und nehme dadurch etwas Zweifaches in uns an: einen Eigenthümer und ein Eigenthum. Das reine Ich in uns, die Vernunft, ist Herr unserer Sinnlichkeit, aller unserer geistigen und körperlichen Kräfte; sie darf sie als Mittel zu jedem beliebigen Zwecke gebrauchen. Um uns herum sind Dinge, die nicht ihr eigenes Eigenthum sind; denn sie sind nicht frei: ursprünglich aber auch nicht das unsere; denn sie gehören nicht unmittelbar zu unserem sinnlichen Ich. Wir haben das Recht, unsere eigenen sinnlichen Kräfte zu jedem beliebigen Zwecke zu gebrauchen, den das Vernunftgesetz nicht verbietet. Das Vernunftgesetz verbietet nicht, durch unsere Kräfte jene Dinge, die nicht ihr eigenes Eigenthum sind, als Mittel für unsere Zwecke zu gebrauchen, noch, sie geschickt zu machen, es zu seyn. Wir haben also das Recht, unsere Kräfte auf diese Dinge zu verwenden. Haben wir Dingen diese 12
Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe Bd. XXIII, S. 223, S. 286.
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Form eines Mittels für unsere Zwecke gegeben, so kann kein anderes Wesen sie gebrauchen, ohne entweder die Wirkung unserer Kräfte, mithin unsere Kräfte selbst, die doch ursprünglich unser Eigenthum sind, für sich zu verwenden; oder ohne diese Form zu zerstören, d.i. unsere Kräfte in ihrer freien Wirkung aufzuhalten.“13 Der sich im Eigentum vergegenständlichende Herrschaftsanspruch der Vernunft ist grundsätzlich unbegrenzt. Jede Erinnerung an das teleologische Naturrecht, an den Zweck der Erhaltung der menschlichen Gattung ist verblasst. Während bei Locke noch die laboristische Aneignung mit den Subsistenzansprüchen der anderen abgestimmt werden musste, kennt das idealistische Eigentum keinerlei externe erhaltungsteleologische Limitation mehr. Das Zusammenspiel von Vergegenständlichung des Subjektiven und Subjektivierung des Objektiven prägt auch Hegels Eigentumslehre. Die delphische Natur des Geistes verurteilt ihn zur Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis erlangt er jedoch nicht durch Introspektion, sondern durch begriffliche Aneignung der Welt und willentliche Gestaltung der Natur. Nur dann, wenn er sich gegenständlich wird, Gestalt bekommt und sich begegnet, wird er sich seiner Freiheit bewusst, kann er sich in seiner Freiheit erkennen. Und die Rechtsphilosophie beschreibt den institutionellen Weg dieser Wirklichkeitswerdung des Geistes. Er reicht von dem Privatrecht über die gesellschaftlichen Strukturen und politischen Institutionen bis zur staatlichen Herrschaftsordnung. Und das Eigentum bildet den Eröffnungszug. Im Formieren der Natur wird „das Subjektive und Objektive vereinigt“14; im Formierten gewinnt der Wille Gegenständlichkeit, gewinnt er Dasein. Indem das Eigentum in den geistesphilosophischen Systemkontext eingefügt wird, wächst ihm eine Bedeutung zu, die weit über die philosophisch-geltungstheoretische Klärung einer Rechtsfigur hinausgeht. Das in Naturunterwerfung und Formgebung gründende Eigentum wird zu einem notwendigen Schritt innerhalb der Autobiographie des Geistes, innerhalb der Geschichte seiner Selbsterkenntnis. Aber auch für das Eigentum gilt, was für jede einzelne Geistesgestalt zutrifft: Es ist zwar ein notwendiges Element innerhalb des gesamten teleologischen Entwicklungsganges, jedoch nur ein Moment, dessen Geltung mit der Geltung anderer und übergeordneter institutioneller Momente vermittelt werden muss. Daher darf man sich von der freiheitsphilosophischen Emphase nicht täuschen lassen: Hegel redet nicht dem absoluten Eigentum das Wort.
V. Die sozialstaatlich-gerechtigkeitstheoretische Eigentumskonzeption Während die politische Philosophie der Moderne in ihrer Frühzeit durchwegs eine politische Philosophie des Eigentums war und Gerechtigkeit als Funktion und Instrument des Eigentums betrachtete, ist sie in der Gegenwart vornehmlich eine Philosophie der Gerechtigkeit, die das Eigentum als Funktion und Instrument der Gerechtigkeit betrachtet. Damit bietet sie in mancherlei Hinsicht ein deontologisches Gegenstück zur teleologisch orientierten, sittlichen Zwecken dienenden Katholischen Soziallehre. Nach den Vorstellungen Lockes und Kants etwa herrscht Gerechtigkeit, wenn die Privatrechtsordnung staatlichen Schutz genießt, wenn die Grundrechte gesichert, das Eigentum geschützt und vertragliche Verpflichtungen respektiert werden. Das systematische Inte13 Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, in: Fichtes sämtliche Werke, Band VI, Berlin 1965, S. 117 f. 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 56.
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resse der politischen Philosophie galt daher der Begründung des grundrechtlichen Fundaments, insbesondere der eigentumsrechtlichen Befugnis. Für die politische Philosophie der Gegenwart hingegen gehört die Eigentumsbegründung nicht mehr zu den systematisch wichtigen Aufgaben. Sie setzt die Gültigkeit des Prinzips des Privateigentums schlicht voraus. Überdies würde auch jeder philosophische Begründungsversuch an der theoretischen Unzugänglichkeit der modernen Eigentumswirklichkeit scheitern: Angesichts der existierenden Typenvielfalt des Eigentums verbietet sich jede paradigmatische Vereinheitlichung, ist eine konzeptuelle Orientierung am Landbesitz, der für die klassische neuzeitliche Philosophie eigentumstheoretischer Inbegriff war, hinfällig. Das Eigentum ist für die politische Philosophie der Gegenwart nur noch als Gerechtigkeitsproblem von Interesse. Ihr systematisches Engagement richtet sich darauf, Prinzipien einer Verteilungsgerechtigkeit zu finden, um den Gerechtigkeitsabstand zwischen der existierenden Eigentumsordnung und einer theoretisch imaginierten Idealverteilung der Güter zu verkürzen.15 Dieser gerechtigkeitsfunktionalen Depotenzierung des Eigentumsdenkens versuchen die libertären Gegner des Sozialstaats mit einer eigentumsfunktionalen Depotenzierung der Gerechtigkeitstheorie zu begegnen. Im Zentrum dieser Apologie des absoluten Eigentums steht die wiederbelebte self-ownership-These Lockes. Das klassische liberale Argument soll rehabilitiert werden, dass Gerechtigkeit nichts anderes sein könne als staatlicher Schutz der Grundrechte. So will der libertarianism das private Eigentum vor dem Zugriff der staatlichen Funktionäre der sozialstaatlichen Verteilungsgerechtigkeit schützen. Freilich stützt sich die libertäre Begründung des Dingbesitzes in Selbstbesitz auf einen Kategorienfehler. In der naturrechtlichen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts hatte die Rede vom Selbstbesitz einen durchaus vernünftigen Sinn, denn die Frage der Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit von Sklaverei und Selbstversklavung war ein etablierter Diskussionstopos. Die eigentumsrechtliche Konnotation im Begriff des Selbstbesitzes, des inneren meum, der sui-iuris-Formel wurde durch diesen Zusammenhang nahegelegt, da ja das Sklavereiinstitut ebenfalls eigentumsrechtlich und herrschaftsrechtlich ausgelegt wurde: In der Rede vom Selbstbesitz spiegelt sich negativ der Fremdbesitz, die Fremdherrschaft des Sklavereiinstituts. Selbstbesitz heißt also vor allen Dingen: Nicht-Fremdbesitz, nicht einem anderen Willen unterworfen sein, nicht fremder Verfügung zu unterstehen. Selbstbesitz ist also ein logisch sekundärer, ein sklavereipolemischer Ausdruck. Keinesfalls wird mit ihm ein genuines, besitzrechtliches Verhältnis zum Ausdruck gebracht. Aus meinem natürlichen Freiheitsrecht folgt, dass ich rechtmäßig nicht irgend jemandes Sklave sein kann. Aus meinem natürlichen Freiheitsrecht folgt jedoch nicht, dass ich mich selbst besitze, dass ich mein Eigentum bin. Ich gehöre niemandem, noch nicht einmal mir selbst. Mit der Entwicklung der eigentumsrechtlichen Diskussion in der frühen Neuzeit ist die freiheitsrechtliche Komponente im Begriff des Selbstbesitzes zunehmend von der eigentumsrechtlichen Bedeutungsschicht überlagert worden. Das Selbstbesitzkonzept wurde zu einem begründungstheoretischen Mythos der neuzeitlichen Eigentumstheorie. Während jedoch bei Locke und insbesondere dann bei den Idealisten dieser Mythos vornehmlich als kulturelle Selbstbeschreibung des modernen Subjekts zu lesen, als Ausdruck moderner Weltbemächtigungsfreiheit aufzufassen ist, bekommt er bei den liber15
Vgl. Wolfgang Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 2000.
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tarians unserer Tage einen ideologischen Zuschnitt. Ihre Rehabilitierung der self-ownership-These dient vordringlich dazu, eine Quelle absoluter property rights freizulegen,16 die gegen die übergeordneten steuer- und abgabenfinanzierten Versorgungsprogramme des Sozialstaats in Stellung gebracht werden sollen. Fallen Selbstbesitz, Körperbesitz und Dingbesitz, inneres Mein und äußeres Mein zusammen, dann können die normativen Wertprädikate, die die Einmaligkeit und Unverletzlichkeit der Person anzeigen, umstandslos auf das Sacheigentum übertragen werden, dann wird das Sacheigentum unter den Schutz des natürlichen und unveräußerlichen Freiheitsrechts gestellt, so dass eine Verletzung des Eigentums einer Verletzung des Freiheitsrechts des Eigentümers gleichkommt. Wenn der wohlfahrtliche Steuerstaat, wenn das System der sozialstaatlichen Umverteilung als System der Fremdbestimmung, Freiheitsberaubung und Zwangsarbeit denunziert wird, stellt sich der libertäre Steuerbürger mit den Opfern totalitärer Fremdbestimmung, politischer Verfolgung und sozialdiktatorischer Ausbeutung auf eine Stufe. Das ist eine Verharmlosung menschenrechtsverletzender Regime und eine Verhöhnung ihrer Opfer. Aber das folgt mit Notwendigkeit aus der von der self-ownership-These getragenen Gleichsetzung von Mensch und Sache. In einem System des absoluten Eigentums, der absoluten kapitalistischen Verfügungsrechte ist das Eigentum dem Eigentümer nicht mehr äußerlich; der Eigentümer hat es sich einverleibt, es ist sein Körper, es ist er selbst. Kehrseite dieser Vermenschlichung des Eigentums ist die Verdinglichung der Eigentumslosen. Literaturverzeichnis Brandt, Reinhard: Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgart 1974. Brocker, Manfred: Arbeit und Eigentum. Der Paradigmenwechsel in der neuzeitlichen Eigentumstheorie, Darmstadt 1992. Buckle, Stephen: Natural Law and the Theory of Property. Grotius to Hume, Oxford 1991. Carter, Alan B.: The Philosophical Foundations of Property Rights, New York 1989. Christman, John: The Myth of Property. Towards an Egalitarisn Theory of Ownership, Oxford 1994. Cohen, Gerald Allan: Self-Ownership, Freedom and Equality, Cambridge 1995. Harris, James W.: Property and Justice, Oxford 1996. Kersting, Wolfgang: Transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung, in: ders., Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, Frankfurt a. M. 1997, S. 41 – 73. Kramer, Matthew: John Locke and the Origins of Private Property, Cambridge 1997. Künzli, Arnold: Mein und Dein. Zur Ideengeschichte der Eigentumsfeindschaft, Köln 1986. Lantz, Göran: Eigentumsrecht – ein Recht oder ein Unrecht?, Stockholm 1977. Munzer, Stephen R.: A Theory of Property, Cambridge 1990. – (Hrsg.): New Essays in the Legal and Political Theory of Property, Cambridge 1981. Parel, Anthony / Flanagan, Thomas (Hrsg.): Theories of Property. Aristotle to the Present, Waterloo 1979. 16
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Die christliche Lehre über das Eigentum Von Anton Rauscher
Die Arbeits- und Lebensmöglichkeiten der Menschen werden seit jeher von den bestehenden Besitz- und Eigentumsverhältnissen beeinflusst und geprägt. Was die christliche Lehre über das Eigentum betrifft, so reichen ihre Wurzeln auf die Lebensverhältnisse im Volk Israel zurück, wie sie im Alten Testament beschrieben werden. Von besonderer Bedeutung wurde nach dem Auszug aus Ägypten das Geschehen am Berg Sinai, wo Mose die Gesetzestafeln erhält, die das Zusammenleben der Israeliten ordnen sollten. Das Siebte Gebot lautet: Du sollst nicht stehlen! (Ex 20,15). Damit wird die Unterscheidung und die Achtung von Mein und Dein, die in der Antike verbreitet war, von Gott selbst bekräftigt. Es soll die Grundlage bilden, auf der sich die Nutzung von Grund und Boden, die Arbeit und das Zusammenleben der Großfamilien entfalten. Wer das Eigentum nicht achtet und sich daran vergreift, verstößt nicht nur gegen den gesunden Menschenverstand oder gegen eine weltliche Autorität, sondern gegen Gott. Es gehörte zur religiösen Überzeugung des Volkes Israel, dass die Nutzung der Erdengüter und die wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen so zu geschehen haben, wie es dem Willen Gottes entspricht.
I. Die andere Perspektive Jesus, der verheißene Messias, bekräftigt seinerseits, dass er nicht gekommen sei, um das Gesetz (des Alten Bundes) aufzuheben, sondern es zu erfüllen. Dazu gehört selbstverständlich auch das Siebte Gebot. Allerdings sind die Aussagen Jesu, die das Verhältnis des Menschen zu den materiellen Gütern betreffen, immer bezogen auf seine Sendung, dem Volk Israel und allen Menschen das Reich Gottes und den universalen Heilswillen des „Vaters“ zu verkünden. Deshalb geht es Jesus nicht einfach um die Befolgung des Dekalogs, sondern darum, wie der Mensch sein letztes Ziel erreichen und ins Reich Gottes gelangen kann. Diese andere Perspektive zeichnet sich schon in den Umständen ab, unter denen die Menschwerdung des Sohnes Gottes geschieht. Jesus ist nicht im Palast des Königs, auch nicht im Haus eines Schriftgelehrten oder eines Vornehmen auf die Welt gekommen, sondern, wie es bei Lukas heißt, in einem Stall bei Betlehem (vgl. Lk 2,7). Er gehörte nicht zu den Wohlhabenden und Reichen. Seine Kindheit und die Jugendjahre verbrachte er in Nazaret, wo Josef als Zimmermann den Unterhalt für seine Familie erarbeitete. Auch Jesus erlernte dieses Handwerk, wie es in der stationären Gesellschaft die Regel war. Mit etwa dreißig Jahren verließ Jesus das elterliche Haus und machte sich auf den Weg, um seine Sendung zu erfüllen. In den drei Jahren seines öffentlichen Wirkens hatte Jesus keinen festen Wohnsitz, auch kein festes Einkommen. Er nahm für sich
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und die zwölf Apostel Einladungen, wie die zur Hochzeit in Kana oder die des reichen Pharisäers oder des Oberzöllners Zachäus, an. Aber es kamen auch Tage, wo sie fasten und ihren Hunger durch Ährenlesen auf abgeernteten Feldern stillen mussten. Gerne kehrte Jesus bei den drei Geschwistern in Betanien ein, die begütert waren und ein großes Haus bewohnten, in dem auch die Apostel unterkamen. Vermutlich gab es an einzelnen Orten Familien, die ebenso gastfreundlich waren und Jesus einluden. Hier sei auch darauf hingewiesen, dass Judas die „gemeinsame Kasse“ führte, die mit Almosen der Leute, die Jesus zuhörten, gefüllt wurde. Daraus wurden auch Arme und Notleidende unterstützt. Diesen Lebensverhältnissen entspricht die Lehre Jesu. In den Evangelien finden sich zahlreiche markante Äußerungen, die die Einstellung Jesu zu den äußeren Gütern erkennen lassen. Matthäus berichtet über die Begegnung mit einem jungen Mann, der Jesus fragt, was er Gutes tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen (Mt 19,16 – 26; vgl. auch Mk 10,17 – 27; Lk 18,18 – 27). Als Jesus antwortet: Halte die Gebote! und der junge Mann wissen möchte: welche?, erinnert Jesus an den Dekalog, fügt jedoch hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Der Mann erwidert: Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir jetzt noch? Darauf sagt Jesus: Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach. Als der junge Mann das hörte, ging er traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen. Die Jünger waren schockiert. Aber anstatt sein Wort abzuschwächen, verschärft es Jesus: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Als die Jünger darauf mit Entsetzen reagieren, wer dann noch gerettet werden könne, sagt Jesus: Für Menschen ist dies unmöglich, für Gott aber ist alles möglich. Nicht nur die Jünger, auch heute noch sind Menschen, die diese Stelle lesen, bisweilen schockiert. Genügt es nicht, die Gebote zu halten, um das ewige Leben zu gewinnen? Warum rät Jesus dem jungen Mann, seinen Besitz zu verkaufen und das Geld den Armen zu geben, wenn er „vollkommen“ sein wolle? Haftet einem „großen Vermögen“ etwas „Unrechtes“ an? Und wie ist die Metapher vom „Nadelöhr“ zu verstehen? Verbirgt sich dahinter eine grundsätzliche Absage an Besitz und Eigentum? Können sich diejenigen darauf berufen, die mit der bestehenden Einkommens- und Vermögensverteilung unzufrieden sind und einer „sozialen“ Umverteilung das Wort reden? Was macht es dem Reichen so schwer, das ewige Leben zu erlangen? Worauf es Jesus ankommt, ist jedoch nicht die Abschaffung eines großen Vermögens und die Überführung des Privateigentums in Gemeineigentum. Aber wenn einer, der ein großes Vermögen besitzt, nur noch darauf bedacht ist, wie er es vermehren kann, dann verschiebt sich die Achse seines Denkens und Handelns. Der Besitz und seine Vergrößerung werden für ihn zum Höchstwert, wohingegen das letzte Ziel für ihn immer weiter zurücktritt. Was zählt ist einzig und allein der Reichtum auf dieser Welt; eine Frage wie diejenige nach dem Schatz im Himmel wird zweit-, wenn nicht gar drittrangig. Der Reiche ist in Gefahr, dass sich sein Herz zusehends verhärtet und er für Arme und Notleidende nichts mehr übrig hat. Die soziale Verantwortung für den Mitmenschen, die Nächstenliebe und die Barmherzigkeit sterben ab. Noch ein anderes Gleichnis, das Lukas aufgezeichnet hat, gibt wichtige Anhaltspunkte. Es ist die Rede von einem reichen Bauern, der eine besonders gute Ernte erwartet und deshalb die alte kleine Scheune durch eine neue, größere ersetzen lässt. Denn dann
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könne er zu sich selber sagen: Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink und freu dich des Lebens! Da sprach Gott zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du aufgehäuft hast? So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist (Lk 12,16 – 21). Lukas fügt ein weiteres Wort Jesu hinzu: Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. Das Leben ist wichtiger als die Nahrung und der Leib wichtiger als die Kleidung . . . Euer Vater weiß, dass ihr das braucht. Euch jedoch muss es um sein Reich gehen, dann wird euch das andere dazugegeben (Lk 12,22 ff.).
II. Die innere Einstellung zu Besitz und Eigentum Jesus will das Siebte Gebot ebenso wenig wie die anderen Gebote aufheben oder neu „interpretieren“. Es bleibt die sittliche Grundlage der sozialen Ordnung der Menschen bei der Nutzung der Erdengüter. Aber es geht ihm um die innere Einstellung des Menschen zu Besitz und Eigentum und darum, in welchem Zusammenhang das Leben der Menschen hier auf dieser Welt mit der Berufung zum Reich Gottes steht. Wenn der Mensch nicht bereit ist, zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen, wenn er sich nicht darum bemüht, Schätze zu sammeln, die vor Gott reich machen, dann baut er sein Leben auf Sand und kann sein Ziel verfehlen. Gibt es einen Weg, der die Menschen befähigt, den Stellenwert von Besitz und Vermögen, also des Eigentums, richtig einzuordnen und der Versuchung zu entgehen, die Prioritäten falsch zu setzen? Diesen Weg eröffnet das neue Gebot der Nächstenliebe, das im Dekalog als solches nicht genannt wird, das aber dem Volk Israel aus einer Reihe von Stellen des Alten Testaments vertraut war, so dass Jesus, als er den jungen Mann an die Gebote erinnerte, hinzufügen konnte: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Es ist dieselbe Antwort, die er dem Schriftgelehrten gegeben hatte, der ihn auf die Probe stellen und von ihm wissen wollte: Welches Gebot ist das erste von allen? (Mk 12,28 – 31). Jesus nennt die Gottesliebe und die Nächstenliebe und betont: Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden. Bei Lukas verdeutlicht Jesus dies mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 12,29 – 37). Die Nächstenliebe kann nicht die Ordnungsfunktion des Eigentums ersetzen, aber sie drängt den Christen, von seinem Besitz und Vermögen den Menschen, die in Not und die arm sind, mitzuteilen und wirksam zu helfen. Auf diese Weise kann er Schätze vor Gott sammeln und Neid und Habgier, Wucher und Egoismus in Schach halten. Die Nächstenliebe ist deshalb ein „neues Gebot“, weil sie über das Almosengeben, das dem gläubigen Israeliten geläufig war, hinausgeht. Sie betont nämlich die persönliche Zuwendung zu den Armen und Notleidenden. Es geht nicht nur um milde Gaben; die Unterstützung erhält einen personalen Charakter. Nächstenliebe verlangt das persönliche Engagement. Wenn sich einer persönlich um diejenigen kümmert, die in Not sind, die in der Gesellschaft isoliert und vernachlässigt sind, die sich nicht zu helfen wissen, dann erhält das solidarische Miteinander einen neuen Anschub. In der Apostelgeschichte wird berichtet, dass alle, die gläubig geworden waren, eine Gemeinschaft bildeten und alles gemeinsam hatten. Sie verkauften Hab und Gut und
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gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte (Apg 2,44 f.; 4,32 – 35). Offensichtlich sammelten sich in der Urgemeinde zu Jerusalem viele von denen, die Jesus persönlich gesehen und gehört hatten. Die Ereignisse am Karfreitag hatten diese Jünger völlig verstört. Sie hatten dann wohl von der Auferstehung des Herrn an Ostern gehört; aber erst das Pfingstereignis räumte die Zweifel beiseite und weckte in ihnen die Bereitschaft, Jesus nachzufolgen. Manche erinnerten sich an die Begegnung Jesu mit dem jungen Mann; sie fühlten sich von dem Wort Jesu getroffen und verkauften ihren Besitz und gaben den Erlös den Armen. Aber dies geschah auf freiwilliger Grundlage. Weder in Jerusalem noch in den christlichen Gemeinden, die von den Aposteln gegründet wurden, kam es zur Einführung einer Gütergemeinschaft, wie sie später der kommunistischen Ideologie vorschwebte. Das frühe Christentum war vor allem darauf bedacht, Habgier und Wucher, Neid und Geiz zu bekämpfen und die Vermögenden zu bewegen, nach Kräften für die Armen und Notleidenden zu sorgen. In der damaligen Gesellschaft waren es oft mehr als zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht einmal das Nötigste hatten und auf Unterstützung angewiesen waren. Neben der Verkündigung des Wortes und der Feier der Eucharistie gehörte es zu den vordringlichen Aufgaben und Pflichten der christlichen Gemeinden, karitativ tätig zu werden. Auch viele Bischöfe der frühen Kirche engagierten sich persönlich für die Armen. Aber die lebendige Praxis der Nächstenliebe, die dem Christentum eine große Anziehungskraft verlieh, beinhaltete keineswegs eine offene oder verdeckte Absage an das Eigentum – im Gegenteil: Sie setzte voraus, dass es in den Gemeinden gut verdienende und vermögende Leute gab und diese freigebig Sachgüter oder Finanzmittel aus ihrem Vermögen mit den Armen zu teilen bereit waren. Die Kirchenväter im 4. und 5. Jahrhundert traten ebenfalls nicht für eine kommunistische Gütergemeinschaft ein, auch wenn sie der Meinung waren, dass im Paradies der Ungeist der Habsucht und der Zwietracht nicht geherrscht hätte.1 Im Übrigen hat das Ideal der freiwilligen Armut in der Nachfolge Jesu viele Christen bewogen, in ein Kloster oder in eine Ordensgemeinschaft einzutreten, von denen wiederum zahlreiche soziale Initiativen und Impulse ausgingen. In der Mönchsregel des heiligen Benedikt heißt es: „Allen sei alles gemeinsam . . . , und keiner nenne etwas sein eigen . . . Man soll es halten, wie geschrieben steht: Einem jeden wurde zugeteilt nach Bedarf . . . Wer weniger braucht, danke Gott, . . . wem aber mehr vonnöten ist, der verdemütige sich wegen seiner Schwäche . . . So bleiben alle Glieder in Frieden.“ Die Klöster haben wesentlich das Antlitz und die Kultur des christlichen Europas geformt.
III. Der Ausgangspunkt des christlichen Denkens über das Eigentum Die Heilige Schrift und die Kirchenväter entwickeln keine Eigentumslehre. Fragen von Besitz und Eigentum werden hauptsächlich im Zusammenhang mit der Kritik von Habsucht und Wucher, Neid und Geiz behandelt, ohne die Eigentumsverhältnisse grundsätzlich in Frage zu stellen. Wichtig ist der Ausgangspunkt des christlichen Den1 Vgl. Anton Rauscher, Das Eigentum. Persönliches Freiheitsrecht und soziale Ordnungsinstitution, in: ders., Kirche in der Welt. Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung, Bd. I, Würzburg 1988, S. 346 ff. – Ignaz Seipel, Die wirtschaftsethischen Lehren der Kirchenväter, Wien 1907. – Otto Schilling, Reichtum und Eigentum in der altkirchlichen Literatur, Freiburg i. Br. 1908.
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kens über das Eigentum, der auch in der modernen Sozialverkündigung der Kirche besonders betont wird. Angefangen vom Schöpfungsbericht im Buch Genesis durchzieht das Alte und Neue Testament der Gedanke, dass Gott die Welt geschaffen und den Menschen als sein Abbild ins Dasein gerufen hat. Gott selbst erscheint als der „Eigentümer“ der Schöpfung (z. B. Ps 50), wohingegen der Mensch nur der „Verwalter“ ist, der einmal darüber Rechenschaft ablegen muss, wie er mit dem, was Gott ihm anvertraut hat, umgegangen ist. Als Leib-Geist-Wesen sind die Menschen auf die äußeren Güter angewiesen, um leben und sich entfalten zu können. Dies gilt für alle Menschen, für alle Generationen, für das ganze Menschengeschlecht. Da Gott die Erde und alles, was sie enthält, nicht einzelnen Menschen oder bestimmten Völkern zugewiesen hat, müssen alle Menschen, in welchem Teil der Erde und in welcher Zeit sie auch leben, Zugang haben zu den Erdengütern. Aus dieser Einsicht entwickelten sich die Ansätze für den Grundsatz der allgemeinen Bestimmung der Güter der Erde für alle Menschen, der den Ausgangspunkt des christlichen Denkens über das Eigentum bildet. Thomas von Aquin ist der Erste, der die christliche Lehre über das Eigentum systematisch entwickelt. Er greift dabei auf Überlegungen des griechischen Philosophen Aristoteles zurück, der sich dafür aussprach, dass der Güterbesitz im Eigentum bleibe, aber durch die Nutzung gemeinsam sei (Politik, II, 5). Auch Thomas unterscheidet die Nutzung der Güter („usus“) und die Bewirtschaftung und Verwaltung der Güter („potestas procurandi et dispensandi“). Was die Nutzung betrifft, soll der Mensch die Güter „nicht als sein eigen betrachten, sondern als gemeinsam, indem er sie leicht, wenn andere in Not sind, mitteilt“ (Summa theologiae II. II. 66, 1 und 2). Niemand darf die Güter gebrauchen bzw. verbrauchen ohne Rücksicht auf die Situation, die Bedürfnisse, insbesondere auf eine Notlage der Mitmenschen. Um diese Überlegungen besser nachvollziehen zu können, dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass Thomas die Lebensverhältnisse der damaligen Agrargesellschaft vor Augen hat. Notlagen entstanden dann, wenn schlechte Ernten drohten, Seuchen ausbrachen oder Kriege das Land heimsuchten und die Elementarbedürfnisse vieler Menschen nicht befriedigt werden konnten. Unter Bezugnahme auf die allgemeine Bestimmung der Erdengüter wurde in der Moraltheologie der Grundsatz formuliert: in extrema necessitate omnia sunt communia (In äußerster Not ist alles gemeinsam). Das heißt, dass in existentiellen Notlagen die Besitzenden bereit sein müssen, ihre Güter mit denen zu teilen, die den notwendigen Bedarf nicht decken können. Auch heute könnte eine derartige Situation bei großen Naturkatastrophen und Hungersnöten eintreten. In den fortgeschrittenen Ländern kommt die Berufung auf „äußerste Not“ kaum noch vor, da für solche Fälle ein soziales Netz die notwendige Hilfeleistung garantiert. Was nun die Bewirtschaftung und Verwaltung der Güter angeht, so lässt Thomas keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie beim Eigentümer liegen soll. Es ist interessant zu verfolgen, wie Thomas fast wie ein Soziologe vorgeht und untersucht, warum die Bewirtschaftung und Verwaltung der Güter, wenn diese in Gütergemeinschaft stehen, große Nachteile und Probleme mit sich bringen im Vergleich zur Privateigentumsordnung. Es sind vor allem folgende Gründe, die Thomas zugunsten des Privateigentums ins Feld führt: Die Gütergemeinschaft führe zu Trägheit und Arbeitsunlust, da ein jeder die Arbeit auf den anderen abzuwälzen suche. Auch verwende der Mensch mehr Sorgfalt bei der Beschaffung und Erhaltung der Güter, die ihm allein gehören, wohingegen
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er weniger sorgsam mit Gütern umgehe, die im Gemeineigentum stehen. Das Privateigentum diene der klaren Aufgliederung und Abgrenzung der Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche, während die Gütergemeinschaft zu Unordnung und Unfrieden führe. Das Privateigentum fördere die friedliche Zusammenarbeit der Menschen und damit die Rechtssicherheit. Thomas begründet das Eigentum als Erfordernis der sozialen Ordnung, nicht als subjektives Recht der menschlichen Person. In diesem Zusammenhang sei auf die Frage eingegangen, die sich schon in der Agrargesellschaft stellte und die in der Industriegesellschaft an Bedeutung gewonnen hat. Es geht um die produktive Nutzung der Erdengüter. Die Formulierung von der Gemeinbestimmung der Erdengüter für alle Menschen lässt nicht ohne weiteres erkennen, dass es sich bei den „Erdengütern“ im Wesentlichen um „Ressourcen“ handelt, nicht aber bereits um Wirtschaftsgüter, die in aller Regel erst durch die Arbeit des Menschen an den Ressourcen entstehen. Wenn die Natur die Güter sozusagen frei Haus liefern würde, so könnte man sich damit begnügen, die Güter auf die Menschen zu verteilen. Wenn jedoch die Güter, die die Menschen brauchen, erst produziert werden müssen, spitzt sich die Frage – unbeschadet des Grundsatzes der Gemeinbestimmung – darauf zu, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen die Güter in ausreichender Quantität und Qualität hergestellt werden können. Die Frage kann auch so formuliert werden: Unter welchen Umständen sind die Menschen bereit, zu arbeiten und produktiv tätig zu werden? In der Regel nur dann, wenn das Arbeitsergebnis ihnen zugute kommt und sie darüber verfügen können. Die gute Versorgung der Menschen mit Gütern ist auch für Thomas primär nicht ein Verteilungsproblem, sondern eine Frage der produktiven Nutzung der Ressourcen. Erst recht gilt dies für die fortgeschrittene Industriegesellschaft. Nicht allein die hoch entwickelten Maschinen und die Produktionstechnik, sondern – sogar in erster Linie – die innovativen Fähigkeiten und die Motivation der arbeitenden Menschen entscheiden auf allen Stufen des Produktionsprozesses über den wirtschaftlichen Erfolg. Der Grundsatz der Gemeinbestimmung der Erdengüter kann umso besser verwirklicht werden, je mehr die Arbeitsgesellschaft in der Lage ist, die benötigten Güter in der erforderlichen Quantität und Qualität zu produzieren und dann auch dafür sorgt, dass die Güter nach Recht und Billigkeit allen Menschen zufließen.
IV. Die Epoche der Einseitigkeiten In der Aufklärung und in der Französischen Revolution (1789) setzte sich eine neue Sicht des Eigentums durch. Diese hatte sich schon seit langem angebahnt, weil die vielfachen Bindungen und Beschränkungen, die Abgaben und Belastungen des Eigentums an Grund und Boden, die sich im Mittelalter entwickelt hatten, und die feudalständische Ordnung immer weniger in der Lage waren, den sich ankündigenden Veränderungen in Wirtschaft und Handel, in Gesellschaft und Kultur Rechnung zu tragen. Die Beschränkungen des Eigentums waren in einer weithin stationären Gesellschaft durchaus dem Grundsatz der Bestimmung der Erdengüter für alle Menschen angemessen. Jetzt aber wurden sie immer mehr zu starren Fesseln, die die weitere Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft hemmten. Mit dem Zerfall der alten ständischen Ordnung kam es zu einer Beseitigung der Eigentumsschranken im Grundstücksverkehr und zur Ablösung der gutsherrlichen Rechte und der auf dem Grund und Boden liegen-
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den Abgaben. Auch die Gewerbefreiheit und die Vertragsfreiheit waren unerlässliche Voraussetzungen für die Entstehung der modernen Wirtschaftsgesellschaft und der Marktwirtschaft. Das Eigentum wird zu einem Freiheitsrecht des Menschen als Individuum, der mit den Gütern, die in seinem Eigentum stehen, nach Belieben verfahren kann. Dem Eigentümer wurde die Befugnis zuerkannt, die Sache mit Ausschluss aller anderen nicht nur zu eigenem Nutzen zu verwenden und zu gebrauchen, sondern auch zu veräußern, zu verpfänden, zu belasten oder sonst nach Gutdünken damit zu verfahren. Das Eigentum wurde als „unverletzliches und heiliges Recht“ proklamiert. Als privates Herrschaftsrecht gab es keine innere soziale Bindung wie im älteren deutschen Recht. Der Liberalismus verfocht die Freiheit des Eigentums, des Vertrags und des Wettbewerbs als die Grundgesetze einer „natürliche Ordnung“, die im 19. Jahrhundert Bedingung für den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Umbruch wurde. Das individualistische Eigentumsverständnis war zusammen mit der individualistischen Gesellschaftsauffassung, wie sie die liberale Bewegung vertrat, ein Freibrief für die kapitalistische Wirtschaftsweise. Wenn sich diese Wirtschaftsweise ohne größere Unruhen in der arbeitenden Bevölkerung durchsetzen konnte, dann vor allem deshalb, weil mit ihr die Produktivität der Wirtschaft so anstieg, wie man dies früher nicht für möglich gehalten hätte. Damit wuchs die Hoffnung, dass die seit etwa 1750 zunehmende Bevölkerung Arbeit und Brot finden werde und Hunger und Not überwunden werden könnten. Es herrschte eine euphorische Erwartungshaltung zu Beginn der Industrialisierung. Man dachte nicht darüber nach, ob das individualistische Eigentumsverständnis und die Marktstrukturen der Wirtschaft das innere Gleichgewicht der Gesellschaft wahren oder über kurz oder lang zur Herrschaft des Stärkeren und des Rücksichtsloseren führen werden. Weder in der Praxis noch in den Wissenschaften, auch nicht in der Kirche und in der Theologie, die durch die revolutionären Ereignisse und die Säkularisierung der Kirchengüter arg geschwächt waren, wurde die Frage erörtert, ob anstelle der früheren Bindungen des Eigentums, die obsolet geworden waren, nicht neue und der kapitalistischen Wirtschaftsweise gemäße soziale Bindungen treten müssen, die die Beziehungen zwischen den „Fabrikherren“ und den Arbeitern regeln und dem dynamischen Wirtschaftsprozess Ordnungsstrukturen einziehen könnten. Diese Problemstellung wurde auch dann noch nicht erkannt, als sich abzeichnete, wie sehr viele Arbeiter und ihre Familien unter die Räder kamen und ausgebeutet wurden. Unter diesen Umständen konnte sich der sogenannte Früh- und Hochkapitalismus ausbreiten. Die „soziale Frage“ entstand. Zu den ersten, die die unmenschlichen Verhältnisse der Arbeiter, die oft Hungerlöhne trotz überlangen Arbeitszeiten erhielten und keine soziale Sicherheit hatten, anklagten, gehören die „Frühsozialisten“. Sie vertraten die These, dass das individualistische Privateigentum den Menschen habgierig, eigensüchtig und lieblos mache und zur „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ führe (Saint-Simon). Der französische Sozialkritiker Joseph Pierre Proudhon prägte im Blick auf die kapitalistische Wirtschaftsweise das Wort: „Eigentum ist Diebstahl“. Für Karl Marx war das Eigentum die Erbsünde der Menschheit und der Grund der „Selbstentfremdung“ des Menschen. Das Privateigentum bewirke Ungleichheit und Abhängigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung. Nach Abschaffung des Privateigentums werde der Mensch ein Vorbild an Selbstlosigkeit sein, sodass dann die „Vorgeschichte
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der menschlichen Gesellschaft“ enden und das „wahre Reich der Freiheit“ beginnen werde. An die Stelle des Privateigentums würden die „Kooperation“ und der „Gemeinbesitz der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel“ treten. Das individualistische Eigentumsverständnis erhielt durch die staatliche Sozialpolitik, die in Deutschland seit den 1880er-Jahren einsetzte, aber auch durch die 1917 in Gang gekommene Tarifordnung in der Wirtschaft ein gewisses Gegengewicht. Gleichzeitig verschärften sich der vom marxistischen Sozialismus nach der kommunistischen Revolution in Russland (1917) entfesselte Klassenkampf in der Arbeiterschaft und die radikale Eigentumsfeindlichkeit.
V. Erneuerung und Klärung der katholischen Eigentumslehre Im Zuge der Industrialisierung wurde auch die Kirche mit der „sozialen Frage“ konfrontiert. Wache Priester und Laien, die die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiter und ihrer Familien in den Pfarrgemeinden kennenlernten, wollten sich mit der Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiter nicht abfinden. Das war die Geburtsstunde des sozialen Katholizismus in Deutschland. Allerdings tat sich die Kirche schwer, die Grundlagen und Strukturen der neuen Wirtschaftsweise zu durchschauen und sich ein klares Bild über die Ursachen der „sozialen Frage“ zu machen. Sehr bald rückte die Frage der Eigentumsordnung in den Vordergrund, zumal der revolutionäre Sozialismus das Privateigentum abschaffen wollte. Sowohl der Mainzer Bischof Wilhelm E. von Ketteler als auch Papst Leo XIII. holten sich Rat bei Thomas von Aquin und bei den katholischen Sozialwissenschaftlern, die die naturrechtliche Argumentation wiederentdeckten.2 In der Sozialverkündigung der Päpste, angefangen von Leo XIII. über die beiden Pius-Päpste bis hin zu Johannes Paul II., wurde die katholische Eigentumslehre erneuert und eine Klärung der Fragen herbeigeführt, die in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft gelöst werden mussten. (1) An erster Stelle wird der Grundsatz der Bestimmung der Erdengüter für alle Menschen ins Bewusstsein der Moderne gerückt. Er ist und bleibt der Ausgangspunkt des christlichen Denkens über das Verhältnis der Menschen zu den Gütern der Erde. 2 Große Verdienste um die Wiedererweckung des Naturrechts hatten die Jesuiten, die im Kulturkampf aus Deutschland ausgewiesen wurden und vom Exil in Valkenburg / Niederlande aus eine große Ausstrahlungskraft entwickelten. Genannt seien Theodor Meyer, Heinrich Pesch, Viktor Cathrein, später Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning. Sie waren bemüht, die naturrechtliche Argumentation unter den neuen Verhältnissen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zur Geltung zu bringen. Auch das Staatslexikon der Görres-Gesellschaft verdankt seinen großen Einfluss im deutschsprachigen Raum diesem Denkansatz. Léon de Sousberghe SJ stellt in einer 1951 erschienenen Schrift einen Widerspruch fest zwischen Thomas von Aquin, der das Privateigentum nicht im ius naturae, sondern im ius gentium begründete, und der Eigentumslehre der Päpste Leo XIII., Pius XI. und Pius XII., die erst von Luigi Taparelli stamme. Joseph Höffner hat diesen Verdacht als unhaltbar zurückgewiesen, weil das ius gentium bei Thomas als „sekundäres Naturrecht“ bezeichnet werde und als solches selbst naturrechtlichen Charakter trage. Zudem hätten die großen Theologen der spanischen Spätscholastik und viele andere längst vor Taparelli das Privateigentum ausdrücklich „ius naturae“ genannt; vgl. Joseph Höffner, Artikel: Eigentum, in: Staatslexikon, hrsg. v. der Görres-Gesellschaft, Bd. II, 6. Aufl., Freiburg i. Br. 1958, Sp. 1072.
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Wie immer die Vermögens- und Eigentumsverhältnisse geregelt sein mögen, müssen sie diesen Grundsatz berücksichtigen, und zwar so, dass nicht nur kein Mensch von der Nutzung ausgeschlossen werden darf, sondern dass jeder Mensch tatsächlich Zugang haben muss. Es gehört zum Kernbestand der christlichen Auffassung, dass Gott die Erde und alles, was sie enthält, allen Menschen, dem ganzen Menschengeschlecht gewidmet hat.3 In diesem Grundsatz ist die soziale Bindung allen Eigentums verankert. Die christliche Tradition hat deshalb das Recht auf Privateigentum nie als absolut und unantastbar betrachtet. (2) Ebenso fundamental ist die Einsicht, dass jedem Menschen „von Natur“ aus, „ja vom Schöpfer selbst“ das individuelle Nutzungsrecht an den Erdengütern verliehen ist.4 Der Grund liegt darin, dass der Mensch als Bild Gottes mit Vernunft und freiem Willen ausgestattet ist und dies auch die Art der Nutzung der Erdengüter betrifft. Pius XII. erklärt: „Das naturgegebene Nutzungsrecht an den Erdengütern steht in engster Beziehung zur Persönlichkeitswürde und zu den Persönlichkeitsrechten des Menschen. Es gibt dem Menschen die sichere materielle Grundlage, die ihm für die Erfüllung seiner sittlichen Pflichten von höchster Bedeutung ist.“ Und: „Die Anerkennung des Privateigentums steht und fällt mit der Anerkennung der persönlichen Würde des Menschen, mit der Anerkennung der unveräußerlichen Rechte und Pflichten, die der freien Persönlichkeit unzertrennbar innewohnen und die sie von Gott empfangen hat“.5 In der Nutzung der Erdengüter unterscheidet sich der Mensch grundlegend von der Tierwelt, weil er nicht nur von der Hand in den Mund lebt, sondern Vorsorge übt und darauf bedacht ist, in Gemeinschaft mit den anderen Menschen den Kultursachbereich Wirtschaft aufzubauen und damit die Grundlage für die übrigen gesellschaftlichen Lebensbereiche zu schaffen. Diese Art von Nutzung ermöglicht das Privateigentum, wodurch die Person in die Lage versetzt wird, im Sachgüterbereich verantwortlich zu handeln. Verantwortlich heißt auch, dass ihr dieses Handeln nicht von der Gemeinschaft, schon gar nicht von einem Kollektiv abgenommen werden darf. (3) Wenn das Privateigentum so unmittelbar in der personalen Würde des Menschen verankert ist, dann muss die Wirtschaft und ebenso die Rechtsordnung dafür sorgen, dass jeder Mensch Zugang zum Privateigentum hat. Auch hier können die konkreten Formen verschieden sein. In einer Gesellschaft, deren Rückgrat die bäuerliche Großfamilie bildet, nehmen alle, die zur Großfamilie gehören, an den Eigentumsrechten und -pflichten teil. In der Industriegesellschaft verstößt es massiv gegen das Privateigentumsrecht und gegen die soziale Gerechtigkeit, wenn die Früchte der gemeinsamen Arbeit im Produktionsbereich so verteilt würden, dass sich das Eigentum an den Produktionsmitteln nur bei den Besitzenden ansammelte, der Arbeiter aber über seinen Lohn nicht Vermögen und Eigentum bilden könnte und dazu ver3 Leo XIII. in Rerum novarum Nr. 7; Pius XI. in Quadragesimo anno Nr. 45; Pius XII. in Rundfunkbotschaft vom 1. Juni 1941 (Utz / Groner, Nr. 507); Johannes XXIII. in Mater et magistra Nr. 43; Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes Nr. 69; Johannes Paul II. in Laborem exercens Nr. 14 und in Centesimus annus Nr. 31 [zu den Rundfunkbotschaften von Pius XII. vgl.: Arthur-Fridolin Utz / Joseph-Fulko Groner (Hrsg.), Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII., 3 Bde., Freiburg (Schweiz) 1954 – 1961]. 4 Rerum novarum Nr. 5; Quadragesimo anno Nr. 45. 5 Pius XII., Rundfunkbotschaft vom 1. Juni 1941, in: Utz / Groner, a. a. O., Nr. 507. – Und: ders., Ansprache vom 20. Mai 1948, in: Utz / Groner, a. a. O., Nr. 417.
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urteilt wäre, von der Hand in den Mund zu leben („Nurlohnarbeiter“), ja nicht selten einen Lohn bekäme, der nicht einmal das Überleben sicherte. Diese Zusammenhänge sind dafür maßgebend, dass schon Leo XIII. die Klassenspaltung der Gesellschaft verurteilte und für die Arbeiter den gerechten Lohn forderte, der es ihnen ermöglicht, zu einem „kleinen Grundbesitz“ zu gelangen.6 Diese Linie verfolgt auch Pius XI. in Quadragesimo anno, indem er für alle unselbständig Arbeitenden den „gerechten Lohn“ fordert (Nr. 63 ff.) und eine Wirtschaftsordnung verlangt, in der der Arbeitnehmer über seinen Lohn und über „Mitbesitz“ oder „Gewinnbeteiligung“ zu Eigentum gelangt („Produktionsmittelbesitzer“) (Nr. 65). Erstmals ist die Rede von der „Überwindung der Proletarität durch Vermögensbildung“ (Nr. 61 f.). Sie ist sozusagen der Schlussstein der Integration der Arbeitnehmer, aber auch der kleinen Selbstständigen, in die Industriegesellschaft. Pius XI. spricht von der Individual- und Sozialfunktion des Eigentums. Es sei Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass sich die Eigentumsverhältnisse gemeinwohlgerecht entwickeln. „Sozialfunktion“ bedeutet nicht einfach eine „soziale Hypothek“, die auf dem Eigentum liegt, sondern dessen innere soziale Bezogenheit, sodass alle Schichten einen menschenwürdigen Lebensunterhalt und die konkrete Möglichkeit haben, auch Eigentum an bleibenden Gütern (Eigenheim, Produktionsmitteln) zu erwerben. Mit Nachdruck sprach sich auch Pius XII. für die sozialgerechte Einkommens- und Eigentumsverteilung aus. Der wirtschaftliche Reichtum eines Volkes liege nicht eigentlich in der produzierten Güterfülle, sondern darin, dass diese Fülle die hinreichende Grundlage für die persönliche Entfaltung aller Schichten der Gesellschaft bilde. Wo dies nicht erreicht werde, wäre das um seinen Anspruch betrogene Volk keineswegs wirtschaftlich reich, sondern arm. Wo aber die genannte gerechte Verteilung wirklich und dauernd erreicht werde, könne ein Volk auch bei geringerer Menge verfügbarer Güter ein wirtschaftlich gesundes Volk sein.7 (4) Die Sozialpflichtigkeit allen Eigentums, wie sie von der christlichen Lehre betont wird, ist im Grundgesetz in Art. 14 Abs. 2 ausdrücklich festgehalten: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist verschieden, je nachdem um welche Güter es sich handelt, die im Eigentum stehen. Was den Konsum- und Gebrauchsgüterbereich betrifft, so tendiert die Sozialpflichtigkeit bei Gütern, die dem persönlichen Bedarf dienen, gegen Null. Auf der anderen Seite gilt hier besonders die Liebespflicht des Helfens und Mitteilens für die Bedürftigen und Armen, die die öffentliche Fürsorge nicht ersetzen kann. Anders verhält es sich beim Eigentum an Grund und Boden. Grundbesitzer können sich nicht auf ihr Eigentumsrecht berufen und wertvollen Boden brachliegen lassen oder ihn nur extensiv als Weideland bewirtschaften, wenn gleichzeitig die Versorgung der Bevölkerung mit preisgünstigen Nahrungsmitteln nicht gesichert ist. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage der Agrarreform in verschiedenen Ländern gesehen werden, die allerdings nur dann sinnvoll ist, wenn eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität erreicht und dauerhaft gesichert werden kann. 6 7
Rerum novarum Nr. 4, 28; passim. Pius XII., Rundfunkbotschaft vom 1. Juni 1941, in: Utz / Groner, a. a. O., Nr. 509.
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Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums an Grund und Boden spiegelt sich ebenfalls in den vielen Vorschriften und Bestimmungen, die die Nutzung und Bebauung von Grundstücken regeln. Ohne sie wäre die in vielen europäischen Ländern gewachsene Dorf- und Stadtkultur nicht denkbar. Auch die Probleme, die heute in den urbanen Ballungszentren und im Zuge der gestiegenen Mobilität der Menschen auftreten, lassen sich nur lösen, wenn die verbindlichen Richtlinien eingehalten und die anfallenden Kosten gerecht von allen getragen werden. In der Industriegesellschaft haben sich die sozialen Pflichten, die mit dem Eigentum an Produktionsmitteln, an Betrieben und Unternehmen gegeben sind, stark vermehrt. Darunter fallen nicht nur die vielfältigen kommunalen Auflagen, die bei der Ansiedlung von Unternehmen oder deren Erweiterung zu beachten sind, sondern auch die gesetzlichen Vorkehrungen zum Schutz der Umwelt. Noch einschneidender sind die rechtlichen Regelungen für die Beschäftigung von Arbeitnehmern. Der oder die Eigentümer sowie die Betriebs- und Unternehmensleitungen sind gebunden an das Arbeitsrecht und an die Tarifvereinbarungen. Auch der Verkauf oder die Verlagerung von Produktionsstätten in andere Länder müssen die Folgen für die davon betroffenen Mitarbeiter berücksichtigen. Je größer der Betrieb ist und je schwieriger es für die Mitarbeiter ist, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, umso größer ist die soziale Verantwortung der Eigentümer für die Mitarbeiter (z. B. „Sozialpläne“). Nur eine von der Bevölkerung als einigermaßen „gerecht“ empfundene Einkommensund Vermögensverteilung wird der gewachsenen Wirtschaft- und Gesellschaftsordnung eine dauerhafte Stabilität geben. Zugleich muss sie in der Lage sein, neue Probleme, die die Eigentumsverhältnisse tangieren, nicht vor sich herzuschieben, sondern sie aufzugreifen, zu diskutieren und einer gerechten Lösung zuzuführen.
Weiterführende Literatur Beteiligung am Produktiveigentum, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hameln 1993. Cathrein, Victor: Das Privateigentum und seine Gegner, Freiburg i. Br. 1892 (4. Aufl. 1907). Coester, Franz: Miteigentum und Vermögensbildung der Arbeitnehmer in der Marktwirtschaft (Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln. Untersuchungen, Nr. 8), Köln 1954. Höffner, Joseph: Die Funktionen des Privateigentums in der freien Welt, in: Wirtschaftsfragen der freien Welt. Festschrift für Ludwig Erhard, Frankfurt a. M. 1957. Küng, Emil: Eigentum und Eigentumspolitik, Tübingen 1964. Lau, Ludwig: Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, Würzburg 1997. Losinger, Anton: Gerechte Vermögensverteilung. Das Modell Oswald von Nell-Breunings, Paderborn u. a. 1994. Macpherson, Crawford B.: Die politische Theorie des Besitzindividualismus, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1980. von Nell-Breuning, Oswald: Eigentumsbildung in Arbeiterhand, 2. Aufl., Paderborn 1955. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975. Schilling, Otto: Der kirchliche Eigentumsbegriff, 2. Aufl., Freiburg i. Br. 1930.
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Anton Rauscher
Spieß, Christian: Sozialethik des Eigentums. Philosophische Grundlagen – kirchliche Sozialverkündigung – systematische Differenzierung (Schriften des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität; 51), Münster 2004. Utz, Arthur-Fridolin: Freiheit und Bindung des Eigentums, Heidelberg 1949.
Eigentums- und Wettbewerbsordnung Von Ulrich van Suntum
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs gibt es mit Ausnahme von Kuba und Nordkorea praktisch keine reinen Zentralverwaltungswirtschaften mehr. Die früher sozialistischen Volkswirtschaften Osteuropas sind zu Marktwirtschaften geworden, in denen Privateigentum und Wettbewerb nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt werden. Selbst China, wenngleich politisch noch immer eine Diktatur, hat sich marktwirtschaftlichen Prinzipien geöffnet und ist dadurch inzwischen auch wirtschaftlich zu einer Großmacht geworden. Allerdings ist dieser Transformationsprozess der früheren Planwirtschaften teilweise noch sehr unvollkommen. Die größten Probleme sind Korruption, Monopolisierung, fehlende Rechtssicherheit sowie eine immer noch starke staatliche Einflussnahme auf das Wirtschaftsgeschehen. Diese Defizite behindern das Funktionieren der neuen Wirtschaftsordnungen und drohen sie bei der Bevölkerung wieder in Misskredit zu bringen. Damit bieten die Transformationsökonomien gutes Anschauungsmaterial dafür, dass Markt und Wettbewerb nicht einfach im luftleeren Raum gedeihen können, sondern bestimmter Rahmenbedingungen bedürfen. So hatte es ja auch schon Walter Eucken gesehen, der in diesem Zusammenhang von der Interdependenz der Ordnungen gesprochen hat. In den westlichen Industrieländern ist die marktwirtschaftliche Eigentums- und Wettbewerbsordnung schon seit langem fest verankert, wenngleich in durchaus unterschiedlichen Nuancen. Auch der Ruf nach einem „dritten Weg“ zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft ist weitgehend verklungen. Das mag zum einen daran liegen, dass praktische Versuche in dieser Richtung wie die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung oder Oskar Langes Experimente mit dem Konkurrenzsozialismus in Polen letztlich gescheitert sind. Theoretische Begründungen für die Unvereinbarkeit der beiden Wirtschaftsordnungen hatten bereits zuvor Ludwig von Mises und Friedrich A. von Hayek geliefert. Zum anderen haben sich aber namentlich in Westeuropa viele Länder ohnehin längst weit von der „reinen“ Marktwirtschaftslehre entfernt. So hatten in Skandinavien Gemeinwohl, Solidarität und Umverteilung schon immer einen relativ hohen Stellenwert, was sich unter anderem in entsprechend hohen Staats- und Steuerquoten niederschlug. Aber auch die großen kontinentaleuropäischen Länder Frankreich, Deutschland und Italien sind kaum noch das, was man als kapitalistische Volkswirtschaften bezeichnen könnte. Von den angelsächsischen Modellen der USA, Großbritanniens oder auch Neuseelands unterscheiden sie sich durch wesentlich stärker ausgeprägte formale Arbeitnehmerrechte, deutlich höhere Steuern und Abgaben und nicht zuletzt durch eine weitaus höhere Regulierungsdichte. Die alten Schlachten „Kapitalismus oder Sozialismus“ sind längst geschlagen. Was das Grundprinzip betrifft, ist der Kapitalismus daraus als klarer Sieger hervorgegangen.
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Das gilt sowohl für die theoretische Debatte – die in dieser Form kaum mehr geführt wird – als auch weitgehend für die Weltwirtschaftspolitik. Die Katholische Soziallehre hat sich ohnehin nie eindeutig auf eine der beiden Seiten geschlagen. Exemplarisch heißt es dazu in Centesimus annus (Nr. 42): „Wird mit ,Kapitalismus‘ ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv. . . Wird aber unter ,Kapitalismus’ ein System verstanden, in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen Mittelpunkt ansieht, dann ist die Antwort ebenso entschieden negativ.“ Das ist eine klare Absage an die Fundamentalkritik, welche etwa Friedrich Engels gegen Privateigentum und Konkurrenzprinzip vorgebracht hat und die – etwa von radikalen Globalisierungsgegnern – auch heute noch gelegentlich vorgebracht wird. Demnach wäre Handel nichts anderes als „legaler Betrug“, und die „Herrschaft des Privateigentums“ zwinge die Menschen zur „Anwendung unsittlicher Mittel zur Durchsetzung eines unsittlichen Zwecks“. Derlei Pauschalkritik hat sich die Katholische Soziallehre niemals zu Eigen gemacht. Wohl aber mahnt sie bestimmte Bedingungen an, welche ein kapitalistisches System moralisch und sozialpolitisch erst akzeptabel machen. Dabei geht es im Wesentlichen um vier kritische Punkte: – Wahrung von Freiheit und Menschenwürde, etwa im Arbeitsprozess; – Beachtung des Gemeinwohls, etwa durch die Sozialpflichtigkeit des Eigentums1; – Gerechte und kluge Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen, etwa in der Mitbestimmungsfrage; – Gerechte und solidarische Verteilung des wirtschaftlichen Ertrages, insbesondere zwischen Kapital und Arbeit.
Diese Punkte korrespondieren mit den vier Grundprinzipien der Katholischen Soziallehre, nämlich Würde der menschlichen Person, Gemeinwohl, Subsidiarität und Solidarität.2 An ihnen ist letztlich zu messen, ob eine konkrete Eigentums- und Wettbewerbsordnung unter ethischen Gesichtspunkten zu akzeptieren ist.3 Damit steht die Katholische Soziallehre durchaus in der Tradition eines Adam Smith, der – von Hause aus bekanntlich Moralphilosoph – ja keineswegs dem nackten Eigennutz das Wort geredet hat. Auch Smith verstand den Menschen als vorwiegend soziales Wesen, das „Sympathie“ für seine Mitmenschen empfindet und neben rechtlichen auch kulturelle Bindungen kennt und anerkennt. Was Smith „Sympathie“ nannte, entspricht dem christlichen Gebot der Liebe, das sich ausdrücklich an jeden Einzelnen richtet und auch durch 1 Diese Forderung ist auch im deutschen Grundgesetz verankert, wo es in Artikel 14 Abs. 2 heißt: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ 2 Vgl. Kompendium, Nr. 160. Zur begrifflichen Eingrenzung der Katholischen Soziallehre vgl. Anton Rauscher (2002), Katholische Soziallehre, in: Winfried Becker u. a. (Hrsg.), Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, Paderborn 2002, S. 574 f. 3 Näheres zur Funktion des Privateigentums: vgl. Joseph Höffner (1959), Eigentumsstreuung als Ziel der Sozialpolitik, in: Karl Gabriel / Hermann-Josef Große Kracht (Hrsg.), Joseph Höffner – Soziallehre und Sozialpolitik, Paderborn 2006, S. 173 ff.
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eine noch so gerechte Wirtschaftsordnung nicht ersetzt werden kann.4 Nur ist nach Smith diese Triebkraft eben im Allgemeinen nicht stark genug, um etwa jeden Morgen pünktlich zur Arbeit zu gehen und fleißig bis zum Abend zum Wohle der Allgemeinheit tätig zu sein. Hier, aber eben erst hier, kommt die unsichtbare Hand des Wettbewerbs zum Tragen, die den Bäcker dazu veranlasst, um des eigenen Gewinnes willen auch um 4 Uhr morgens schon Brötchen für andere zu backen. Noch näher steht die Katholische Soziallehre bei der Beurteilung des Wettbewerbs dem Ordoliberalismus, wie er in den 1930er-Jahren von Walter Eucken, Alexander Rüstow, Franz Böhm und anderen entwickelt wurde. Mit dieser – durchaus religiös geprägten – Freiburger Schule verbindet die Katholische Soziallehre vor allem das christliche Menschenbild und die Sorge um die soziale Frage. Wenn etwa Eucken „die außerordentliche Gefährdung der menschlichen Freiheit, die Umwandlung des Menschen in das Teilstück einer großen Maschine und die wirtschaftliche und soziale Unsicherheit, die aus dieser Abhängigkeit entspringt“ thematisiert,5 dann könnte dies bis in die Formulierung hinein genauso gut eine Passage aus Quadragesimo anno sein. Im Gegensatz zum Neoliberalismus betont der Ordoliberalismus auch die dem Wettbewerb immanenten Gefahren der Monopolisierung, des Machtmissbrauchs und einer allzu ungleichen Einkommensverteilung. Mit den vier Grundprinzipien der Katholischen Soziallehre wurden bereits wesentliche Funktionsbedingungen einer Markt- und Wettbewerbsordnung angesprochen, die auch ein durch und durch neoliberaler Ökonom für wichtig halten würde. In ähnlicher Weise gilt dies für die davon abgeleiteten Grundsätze. So berührt etwa die Mitbestimmungsfrage die sogenannte Prinzipal-Agent-Problematik, die in der modernen Institutionenökonomik eine zentrale Rolle spielt. Dabei geht es um das Problem, sinnvolle Anreize und Kontrollmechanismen nicht nur auf dem Markt, sondern auch innerhalb einer Unternehmung zu installieren. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums berührt ebenfalls ganz zentral die moderne Ökonomie, kann sie doch als Spezialfall des Property-Right-Problems, also der effizienten Zuweisung von Eigentumsrechten (und -pflichten), aufgefasst werden. Konkrete Probleme wie diese – und nicht die alten Systemauseinandersetzungen – sind es, welche heute sowohl die politische als auch die wirtschaftstheoretische Diskussion bestimmen. Die Fragestellungen der Katholischen Soziallehre sind insoweit moderner, als man es vielleicht vermutet hätte. Damit ist allerdings noch nicht geklärt, inwieweit dies auch auf ihre Antworten zutrifft.
I. Ist Privateigentum unchristlich? Eigentlich muss das Privateigentum, also die exklusive Verfügungsgewalt eines Einzelnen über bestimmte Güter, dem christlichen Denken von Grund auf suspekt erscheinen.6 In biblischer Sicht ist Gott der ursprüngliche Eigentümer aller Güter, und der Mensch hat sie als „göttliche Geschenke zu behandeln, die es zu verwalten und zu teilen gilt“.7 Vgl. Kompendium, Nr. 582. Zitiert nach Peter Thuy, Sozialstaatsprinzip und Marktwirtschaft, Bern u. a. 1999, S. 139. 6 Vgl. zu dieser Fragestellung auch Oswald von Nell-Breuning, Die Eigentumsfrage in neueren kirchenlehramtlichen Verlautbarungen, in: Trierer Theologische Zeitschrift (1951), S. 31 – 40. 7 Kompendium, Nr. 324. 4 5
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Sind wir demnach nicht eine Gemeinschaft, die sich die Erde zwar untertan machen, die Früchte aber brüderlich teilen sollte? In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes heißt es dazu (Nr. 69): „Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen; dabei hat die Gerechtigkeit die Führung, Hand in Hand geht mit ihr die Liebe.“ Auf den ersten Blick klingt das ein bisschen nach Platon, in dessen Idealstaat es ja kein Privateigentum geben sollte, sondern Gütergemeinschaft, die sich sogar auf den gemeinsamen Besitz von Frauen und Kindern erstreckte. Ähnlich ist es bei Thomas Morus, in dessen fiktivem Inselstaat Utopia die Bürger sogar regelmäßig ihre Wohnungen tauschen sollten, damit sie sich gar nicht erst an so etwas wie Privatbesitz gewöhnen würden. Aber das ist eindeutig nicht die Position der Katholischen Soziallehre. Schauen wir genauer auf das obige Zitat, dann ist dort ja von einem billigen Verhältnis die Rede, in dem die Güter den einzelnen Menschen zugute kommen sollen. Und dabei soll sogar Gerechtigkeit vor Liebe gehen. Das kann man wohl nur so interpretieren, dass zunächst einmal die individuelle Leistung den Güteranteil des Einzelnen bestimmen soll und erst in einem zweiten Schritt sozialpolitische Ausgleichsmaßnahmen für diejenigen zu treffen sind, die sonst in Not geraten würden. Nun ließe sich eine solche Einkommensverteilung vielleicht auch in einem sozialistischen Wirtschaftssystem bewerkstelligen, obwohl jedes materielle Entlohnungssystem ex definitione ja zumindest elementare Formen des Privateigentums voraussetzt. Aber die Katholische Soziallehre geht hier sehr viel weiter und erkennt explizit das Privateigentum an, während sie den ersatzweisen Rückgriff auf irgendwelche Formen einer Gütergemeinschaft eindeutig ablehnt:8 „Das Privateigentum ist wesentlicher Bestandteil einer wirklich sozialen und demokratischen Wirtschaftspolitik und Garantie für eine gerechte Gesellschaftsordnung.“ Dabei steht offenbar die teleologische, d. h. von den Eigentumsfunktionen ausgehende Begründung im Vordergrund gegenüber einer rein naturrechtlichen Begründung, die das Privateigentum etwa direkt aus der biblischen Schöpfungslehre abzuleiten versuchte: „Das Privateigentum ist nämlich. . . seinem Wesen nach nur ein Instrument im Hinblick auf die Einhaltung des Prinzips von der allgemeinen Bestimmung der Güter und damit letztlich kein Zweck, sondern ein Mittel“9. Thomas von Aquin leitet zwar das Eigentum durchaus auch aus dem Naturrecht ab. So stehe der Mensch in der natürlichen Ordnung Gottes über den Tieren und erst recht über den leblosen Dingen, woraus sich eine entsprechende Verfügungsgewalt ergebe. Ebenso wie Aristoteles hat aber auch Thomas sehr deutlich auf die positiven Wirkungen hingewiesen, die mit dem Privateigentum verbunden sind. Heute wird man bei der Ableitung von Naturrechten aus der Bibel eher noch vorsichtiger sein – dies schon deswegen, weil mit dem Islam ja inzwischen ein konkurrierendes Denken an Bedeutung in der westlichen Welt gewinnt, mit dessen Wertekanon sich das Christentum nur sehr begrenzt identifizieren kann. Ohnehin ist der Unterschied zwischen naturrechtlichen Begründungen einerseits und nüchternen Zweckmäßigkeitskalkülen andererseits in der Praxis geringer, als es auf den 8 9
Vgl. Kompendium, Nr. 176. Kompendium, Nr. 177, mit Bezug auf Populorum progressio Nr. 22 ff.
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ersten Blick erscheinen mag. Denn ein moderner Naturrechtsvertreter wie etwa James Buchanan argumentiert ja keineswegs nur mit höherer Einsicht oder der Exegese religiöser Texte, sondern letztlich eben auch mit den gravierenden Vorteilen, welche diese Rechte für die Gesellschaft auf Dauer haben. Der Unterschied zur rein teleologischen Argumentation liegt allerdings darin, dass hier nicht die tagespolitische Opportunität den Ausschlag geben soll, sondern eben das langfristige Kalkül, idealerweise hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ um die eigene, persönliche Betroffenheit.10 Wie auch immer man die Relevanz eines solchen, fiktiven Abstimmungsmodells einschätzen mag – offensichtlich führt kein Weg an einem entsprechenden Diskurs auch über Naturrechte und Grundwerte vorbei, zumal vor dem Hintergrund der Herausforderung durch andere Religionen und Wertegemeinschaften. Die Katholische Soziallehre hat deswegen gut daran getan, ihre Positionen von Beginn an auch mit handfesten ökonomischen Argumenten zu untermauern.
II. Was ist eigentlich genau Privateigentum? Welches sind nun die positiven Wirkungen, welche man dem Privateigentum zuerkennen kann? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muss man sie zunächst präzisieren. Es ist nämlich keineswegs eindeutig, welche Rechte bzw. „Property Rights“ mit der Gewährung von „Privateigentum“ eigentlich genau gemeint sind bzw. erworben werden. Mindestens drei Dimensionen sind hier zu unterscheiden, nämlich die Ertragsrechte, die Verfügungsrechte und die Nutzungsrechte über das Eigentum. Recht anschaulich kann man sich die Unterschiede am Beispiel einer Immobilie klarmachen: – Der Eigentümer einer unkündbaren Mietwohnung hat das Ertragsrecht, aber kein Nutzungsrecht und auch nur ein stark eingeschränktes Verfügungsrecht. Zum Beispiel kann er die Wohnung nicht einfach umbauen lassen, ohne den Mieter zu fragen. – Der Pächter eines Grundstückes hat das Ertragsrecht und das Nutzungsrecht, aber kein Verfügungsrecht über das Grundstück. Er darf es insbesondere nicht verkaufen. – Der Mieter eines Wohnhauses wiederum hat das Nutzungsrecht, aber nur eingeschränkte Verfügungs- und Ertragsrechte. Er kann es zum Beispiel nicht einfach zu einer Pension umwidmen.
Man sieht an diesen Beispielen, dass Privateigentum noch lange nicht gleich Privateigentum ist. Über sein Auto kann man als Eigentümer ganz anders verfügen als über sein Haus oder gar über sein Unternehmen. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht in einem Aufsehen erregenden Urteil im Jahr 1993 dem Mieter einer Wohnung explizit Eigentumsrechte zuerkannt und sie damit gleichzeitig dem eigentlichen Eigentümer aberkannt.11 Wer als Eigentümer eines Unternehmens seinen Betrieb schließen und sich zur Ruhe setzen möchte, muss unter Umständen damit rechnen, dass der gesamte Verkaufserlös und damit die erhoffte Alterssicherung als Abfindung für die ent10 Vgl. Alfred Schüller, Ökonomik der Eigentumsrechte in ordnungstheoretischer Sicht, in: Dieter Cassel u. a. (Hrsg.), Ordnungspolitik, München 1988, S. 158. 11 Siehe die Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Mai 1993. Der seitdem mehrfach vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Satz lautet: „Das Besitzrecht des Mieters an der gemieteten Wohnung ist Eigentum im Sinne des Artikels 14, Absatz 1, Satz 1 Grundgesetz.“
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lassene Belegschaft zu verwenden ist. Auch das Eigentum an einem Grundstück bedeutet noch lange nicht, dass man darauf bauen oder machen kann, was man will. Und der Eigentümer eines Tieres, etwa eines großen Hundes, muss sich strenge Auflagen und Kontrollen gefallen lassen, was die artgerechte Haltung und die Gefahrenabwehr für andere betrifft. Genau genommen ist deshalb die Frage nach der Zulässigkeit von Privateigentum immer erst einmal dahingehend zu präzisieren, welche Rechte eigentlich in welchem Umfang an den Eigentümer übertragen werden sollen und welche bei der Allgemeinheit – oder bei Dritten – verbleiben. Damit sind wir aber schon mitten in einer differenzierten Property-Rights-Diskussion, die mit der alten Frage „Privateigentum ja oder nein“ praktisch kaum noch etwas zu tun hat. Auch der Kanon der Dinge, an denen man Eigentum haben kann, hat sich im Laufe der Zeit stark verändert. Früher stand dabei vor allem das Privateigentum an Produktionsmitteln im Vordergrund, das nicht nur von den Marxisten als besonders verwerflich angesehen wurde. Die katholische Kirche lehnt es zwar nicht ab, verknüpft aber gerade mit dieser Eigentumsform besondere Verantwortung. So heißt es in Centesimus annus, das Eigentum an Produktionsmitteln dürfe nicht dazu verwendet werden, andere zu unterdrücken, auszubeuten oder Spekulationsgewinne zu erzielen.12 Daneben wurde auch immer wieder kontrovers diskutiert, ob es privates Eigentum an Grund und Boden geben dürfe. Die katholische Kirche sieht hier vor allem Probleme beim Großgrundbesitz in Entwicklungsländern. Dabei ist aber nicht von plumpen Enteignungen die Rede, sondern der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden erkennt in bemerkenswert moderner ökonomischer Terminologie „Mängel und Versäumnisse in der Gesetzgebung bezüglich der Anerkennung von Eigentumsrechten an Grund und Boden sowie im Hinblick auf den Kreditmarkt“, die zu Unproduktivität und Strukturproblemen führten.13 Hier wird erneut die starke Anbindung der Argumentation an die ökonomische Zweckmäßigkeit der Eigentumsstrukturen deutlich. Dagegen verwendet die Kirche nicht das fundamentalistische Argument, wonach unvermehrbare Güter wie der Boden prinzipiell nicht der Verfügungsgewalt Einzelner überlassen werden dürften. Dieses Argument wäre auch wenig überzeugend. Die Umweltproblematik zeigt vielmehr sehr deutlich, wohin es führt, wenn es keine Eigentumsrechte an knappen Ressourcen gibt. Gerade dann werden sie nämlich als scheinbar kostenlose Güter im Übermaß in Anspruch genommen und im Extremfall völlig aufgezehrt. Harold Demsetz, ein Pionier der ökonomischen Theorie der Eigentumsrechte, hat dies am Beispiel der Indianer auf der Labradorhalbinsel sehr anschaulich gemacht. Als zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Pelzhandel immer attraktiver wurde und deswegen eine Überjagung ihrer Wälder drohte, gingen sie dazu über, die vorher freie Jagd einzuschränken und den Tierbestand durch die Definition und Überwachung von Eigentumsrechten zu stabilisieren.14 In ähnlicher Weise versuchen wir ja auch heute, die Überfischung der Weltmeere und den übermäßigen Ausstoß von CO2 gerade dadurch zu verhindern, dass wir private Nutzungsrechte für diese Güter schaffen und versteigern. Nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Eigentumsrechten ist also hier das Problem. 12 13 14
Vgl. Kompendium, Nr. 282. Vgl. Kompendium, Nr. 300, zitiert nach Centesimus annus Nr. 43. Vgl. Alfred Schüller, a. a. O., S. 161.
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Die Eigentumsfrage geht heute aber noch weit über diese klassischen Problemfelder hinaus. Gegenüber den physischen Gütern haben insbesondere immaterielle Güter und Rechte gegenüber früher stark an Bedeutung gewonnen, was beispielsweise in Centesimus annus auch ausdrücklich gewürdigt wird.15 Dazu gehört das geistige Eigentum in Form von Patenten oder Software ebenso wie z. B. Rentenansprüche gegen die Sozialversicherung, die heute einen wesentlichen Teil des Privateigentums der Arbeitnehmer ausmachen. Ökonomisch lässt sich nämlich jeder zukünftige Einkommensstrom durch abgezinste Aufsummierung in ein entsprechendes gegenwärtiges Vermögen umrechnen. Ebenso ergibt sich der Wert eines heutigen Vermögensgegenstandes letztlich immer aus dem daraus erwartbaren (abgezinsten) Einkommens- bzw. Nutzenstrom der Zukunft. Materielles Vermögen ist deshalb im Grunde nichts anderes als ein künftig zu erwartender Einkommens- oder Nutzenstrom, und künftiges Einkommen bzw. künftiger Nutzen stellt in diesem Sinne immer auch heutiges Vermögen dar. Dies relativiert erheblich die frühere Unterscheidung von vermögenden Eigentümern einerseits und eigentumslosen Arbeitnehmern, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen können andererseits. So verfügt ein gut ausgebildeter Arbeitnehmer durchaus über beträchtliches Vermögen, nämlich in Form seines Humankapitals – ein Begriff, der völlig zu Unrecht im Jahr 2004 zum „Unwort des Jahres“ gekürt worden ist. Umgekehrt kann der formale Eigentümer eines Mietshauses in Wirklichkeit gänzlich vermögenslos sein, wenn nämlich die eingenommenen Mieten seine Kosten nicht decken und eine anderweitige Verwendung der Immobilie nicht möglich ist, z. B. aus Gründen des Denkmaloder des Mieterschutzes. Eine solche Immobilie hätte den Wert Null oder sogar einen negativen Wert, d. h. man würde sie nur veräußern können, wenn man dem Käufer noch eine Ausgleichszahlung für den künftigen Erhaltungsaufwand mitgibt. An diesem – durchaus nicht unrealistischen – Beispiel sieht man sehr deutlich, wie stark der tatsächliche Wert und Vermögenscharakter des Privateigentums davon abhängt, welche Eigentumsrechte mit welchen Einschränkungen im Einzelnen verbunden sind. Die größten Gefahren für die Institution des Privateigentums gehen denn auch heute nicht mehr von einer offenen Enteignung aus, sondern eher von einer schleichenden Aushöhlung durch immer neue und stärkere Einschränkungen der mit ihm verbundenen Verfügungsrechte. Wohlgemerkt: Solche Einschränkungen können nicht nur sozialpolitisch sinnvoll, sondern durchaus auch ökonomisch effizient sein. Nur ist dabei eben immer genau abzuwägen, inwieweit dies tatsächlich gegeben ist und ob nicht wesentliche Eigentumsfunktionen, die für das Funktionieren der Gesellschaft notwendig sind, dabei unter die Räder zu kommen drohen. Hier gilt es, ganz unvoreingenommen und vor allem auch unideologisch die Konsequenzen zu prüfen, welche mit bestimmten Ausgestaltungen der Property Rights jeweils verbunden sind. Ganz wichtig ist es im Sinne des „veil of ignorance“, dabei nicht nur auf die kurze Frist zu sehen, sondern die langfristigen Konsequenzen zu bedenken. So mag eine Stärkung der Mitbestimmungsrechte auf den ersten Blick vertretbar oder sogar vorteilhaft erscheinen, während sie auf lange Sicht möglicherweise abschreckend auf Investoren wirkt und damit gerade denjenigen zu schaden droht, denen sie eigentlich helfen sollte.
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Vgl. Kompendium, Nr. 283.
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III. Ökonomische Funktionen des Privateigentums Bei Walter Eucken, dem wichtigsten Vertreter des Ordoliberalismus, ist das Privateigentum eines von sieben konstituierenden Prinzipien der Marktwirtschaft.16 Ludwig von Mises schätzte seine Bedeutung als noch grundlegender ein als die des Wettbewerbsprinzips, was freilich von anderen liberalen Ökonomen wie etwa F. A. von Hayek in dieser Eindeutigkeit nicht geteilt wurde. Weithin unumstritten ist indessen, dass eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung ohne Privateigentum – auch an den Produktionsmitteln – nicht funktionieren könnte. Die positiven Funktionen des Privateigentums beginnen aber bereits auf der individuellen Ebene. Aristoteles, Thomas von Aquin und die nachfolgenden Vertreter der Katholischen Soziallehre haben darauf hingewiesen, dass erst das Privateigentum dem Einzelnen materielle Freiheitsspielräume verschafft, welche über rein formale Rechte wie die Gleichheit vor dem Gesetz oder den Schutz vor staatlicher Willkür hinausgehen. Nicht zuletzt verschafft es dem Einzelnen auch Sicherheit, und zwar nicht nur vor den Risiken des Alters, der Krankheit und der Arbeitslosigkeit, sondern auch vor der Fremdbestimmung durch andere, möglicherweise anonyme Autoritäten. Wer kein Eigentum hat, der kann beliebig herumgestoßen werden und wird letztlich nur noch als Teil eines Kollektivs, aber kaum mehr als Individuum wahrgenommen und respektiert werden. Gerade alte Menschen, die ihren Lebensabend ohne ausreichende eigene Mittel in einem Heim verbringen müssen und dort ganz von der Gnade staatlicher Fürsorge abhängig sind, bekommen die Nähe der Eigentumslosigkeit zur Rechtlosigkeit sehr praktisch zu spüren. Insoweit ist Privateigentum geradezu eine Voraussetzung der Menschenwürde, worauf die Katholische Soziallehre immer wieder hingewiesen hat. Nur scheinbar kann beispielsweise auch ein lebenslanges Mietrecht dem Individuum ähnliche Sicherheit und Rechte geben wie das Eigentumsrecht an einer Wohnung. Denn wie wir oben gesehen haben, würde das zwar die Übertragung wesentlicher Eigentumsrechte bedeuten, doch ohne entsprechende Pflichten und Verantwortlichkeiten. Diese Diskrepanz führt uns zu weiteren Begründungen für die Institution des Privateigentums: Schon Aristoteles und Thomas von Aquin haben beobachtet, dass die Menschen mit ihrem Privateigentum sorgsamer umgehen und es besser pflegen als die Dinge, die sie zwar nutzen dürfen, welche ihnen aber nicht gehören. Das erscheint auch nur natürlich – warum soll man viel in eine Wohnung investieren, aus der man vielleicht schon bald wieder ausziehen will oder muss? Der marode Zustand, in dem sich nicht nur der Wohnraum, sondern auch viele Unternehmen in der Endzeit der DDR befanden, war ein sehr anschaulicher Beleg für diese These. Auch die Arbeiterselbstverwaltung im früheren Jugoslawien ist nicht zuletzt daran gescheitert, dass die Eigentumsrechte an den Unternehmen ihren Belegschaften nur sehr unvollständig übertragen worden waren. Sie hatten zwar Anspruch auf den Gewinn (volles Ertragsrecht), der Einzelne konnte aber seinen Unternehmensanteil beim Arbeitsplatzwechsel nicht mitnehmen. Die Verfügungsrechte über das Eigentum waren also stark eingeschränkt, und zwar auch insofern, als neue Belegschaftsmitglieder sofort am 16 Die anderen sechs sind Wettbewerb, Geldwertstabilität, offene Märkte, Vertragsfreiheit, Haftung und Konstanz der Wirtschaftspolitik; vgl. Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1952.
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Gewinn partizipieren konnten, ohne am Aufbau des Eigentums beteiligt gewesen zu sein. Dies führte dazu, dass wenig Interesse seitens der Belegschaften daran bestand, in den „eigenen“ Betrieb zu investieren. Stattdessen wurde der Gewinn lieber vollständig ausgeschüttet, während notwendige Investitionen entweder unterlassen oder vorzugsweise mit Fremdkapital finanziert wurden. Ähnliche Probleme beobachtet man auch in mitbestimmten Unternehmen, wenn etwa langfristig notwendige Sanierungen unterlassen werden, weil ihnen kurzfristige Einkommens- und Beschäftigungsinteressen entgegenstehen. Man sollte daher gerade im Unternehmensbereich sehr vorsichtig damit sein, die verschiedenen Komponenten der Property Rights zu stark voneinander zu trennen. Im Alltagsleben kann man an vielen Stellen beobachten, dass die Trennung von Nutzungs- und Verfügungsrechten nicht wirklich funktioniert. Geteilte Verantwortung läuft oft darauf hinaus, dass in Wirklichkeit niemand verantwortlich handelt, und Nutzungsrechte ohne Interesse und Verantwortung für den Werterhalt der Sache führen eben vielfach zu Übernutzung und Verfall. Das ist bei einer gemeinschaftlich genutzten Küche in der Wohngemeinschaft nicht anders als in sozialisierten Betrieben oder bei der Überfischung eines frei zugänglichen Meeres. Man kann natürlich versuchen, das Problem durch Hausordnungen, durch Renovierungspflichten für Mieter und Fangquoten für die Weltmeere abzumildern. Aber das sind konfliktträchtige und stark überwachungsbedürftige Hilfskonstruktionen, die deswegen oft zu permanenten gesellschaftlichen Konflikten führen. Das komplizierte deutsche Mietrecht und die hohe Zahl der deswegen geführten Prozesse belegen diesen Zusammenhang sehr anschaulich. Deswegen ist ein vernünftig gestaltetes Privateigentum nicht zuletzt auch eine friedenssichernde Institution. Wo die verschiedenen Property-Right-Komponenten des Eigentums in einer Person vereint sind, können Konflikte etwa zwischen Nutzungs- und Veräußerungsinteressen naturgemäß nicht auftreten. Es bleiben natürlich immer noch genügend Konfliktfelder übrig wie etwa das Nachbarschaftsrecht beim Wohnraum oder das Arbeits- und Wettbewerbsrecht im Falle der Unternehmung. Aber viele andere gesellschaftliche Streitpunkte erledigen sich durch die Schaffung von Privateigentum praktisch von selbst. Der Privateigentümer einer Wohnung oder eines Unternehmens braucht zum Beispiel nicht erst dazu angehalten zu werden, sich um den Werterhalt zu kümmern – er tut dies schon allein aus eigenem Interesse. Meist erstreckt sich dieses Interesse sogar auch auf die unmittelbare Umwelt – wer will schon Eigentum in einer unattraktiven oder gar heruntergekommenen Gegend haben? Wohnungsgesellschaften, die einen Teil ihrer Wohnungen an die Mieter verkaufen, machen darum oft die Erfahrung, dass dadurch das ganze Wohngebiet an Attraktivität gewinnt. Und mittelständische Unternehmer engagieren sich oft in lokalen kulturellen und sozialen Belangen, die ihnen zwar unmittelbar keinen Gewinn bringen, die aber den Standort aufwerten und damit letztlich auch den Wert ihres Unternehmens steigern. Eine weitere ökonomische Funktion des Privateigentums besteht in den Sparanreizen, die es bietet. Sieht man von konjunkturellen Sondersituationen einmal ab, dann ist das Sparen ökonomisch allemal positiv zu beurteilen. Ohne Sparen gibt es keine Investitionen, und ohne Investitionen ist es in einer Volkswirtschaft kaum möglich, den Lebensstandard der Bevölkerung zu steigern. Insbesondere in den Entwicklungsländern ist es aufgrund der geringen Spar- und Investitionstätigkeit schwierig, die wachsende Bevölkerung mit Arbeitsplätzen und einem menschenwürdigen Lebensstandard auszustatten.
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Aber auch in den Industrieländern gewinnt mit den sich abzeichnenden demografischen Problemen das Sparen weiter an Bedeutung. Die im Umlageverfahren der Rentenversicherung erworbenen Altersversorgungsansprüche sind zwar individuelles Vermögen; es steht ihnen aber keinerlei gesamtwirtschaftliche Rücklage für die spätere Einlösung des Rentenversprechens gegenüber. Das gleiche gilt für die Beamtenpensionen, für die nicht einmal ein individueller Eigentumsanspruch besteht: Da sie nämlich nicht aus Beiträgen, sondern unmittelbar aus Steuermitteln finanziert werden, können sie praktisch beliebig gekürzt oder auch – etwa durch Anrechnung anderer Einkünfte – faktisch ganz gestrichen werden. Die Beamtenpensionen sind daher ein gutes Beispiel dafür, wie wenig staatliche Sozialleistungen ein wirklicher Ersatz für echtes Privateigentum sein können. Es besteht also sowohl aus individueller als auch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ein eminentes Interesse daran, die Altersvorsorge wesentlich stärker als bisher auf eine private Kapitalbasis zu stützen. Zum einen sind private Rentenansprüche viel weniger stark staatlichen Zugriffen ausgesetzt als gesetzliche Renten und Pensionen, weil sie von der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG geschützt werden. Zum anderen wird dabei im Gegensatz zum Umlageverfahren eben nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich ein realer Kapitalstock aufgebaut, der später in gesamtwirtschaftlicher Sicht die Zahlung der Alterseinkünfte erleichtert. Ohne die Institution des Privateigentums wäre das praktisch nicht denkbar. Zwar könnte man im Prinzip auch innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung entsprechende Kapitalrücklagen bilden. Diesen würde dann allerdings der individuelle Eigentumsschutz fehlen. Vor allem aber zeigt die Erfahrung auch hier wieder, dass Kollektive meist keine Sparanreize bieten. Stattdessen verschulden sie sich im Zweifel sogar noch um des heutigen Konsums willen und stellen damit weitere ungedeckte Wechsel auf die Zukunft aus. Die Rentenversicherung, in der sogar die minimale Kapitalbasis einer dreimonatigen Schwankungsreserve inzwischen aufgegeben wurde, ist selbst der beste Beleg dafür. Aber auch in den übrigen staatlichen Haushalten – sei es des Bundes, der Länder oder der Kommunen – findet sich nicht ein einziges Beispiel für das Anlegen einer Kapitalreserve. Sie sind im Gegenteil ausnahmslos durch steigende Verschuldungsquoten gekennzeichnet, vielfach bei gleichzeitiger Vernachlässigung auch nur der notwendigsten Ersatzinvestitionen etwa in die Verkehrswege oder die kommunale Versorgungsinfrastruktur. Wirkliche Kapitalrücklagen für die Zukunft der alternden Gesellschaft findet man ausschließlich außerhalb des öffentlichen Sektors, etwa bei den privaten Lebens- und Krankenversicherungen. Das ist kein Zufall, sondern ein schlagender Beweis für die gerade in dieser Hinsicht unentbehrliche Funktion des Privateigentums.
IV. Privateigentum und Wettbewerbsprinzip Die vielleicht wichtigste ökonomische Funktion des Privateigentums liegt darin, Wettbewerb zu ermöglichen.17 Die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben, ist zum einen ein starker Anreiz, sich in der Konkurrenz mit anderen anzustrengen. Das galt sogar in den sozialistischen Volkswirtschaften des früheren Ostblocks. So bestand etwa der Lohn der dortigen Spitzensportler keineswegs allein in Ruhm und Ehre für sich selbst und 17 Detailliert hierzu vgl. Alfred Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Freiburg 1966.
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für das Vaterland, sondern in ganz erheblichem Ausmaß auch in materiellen Vorteilen. Sicher gibt es auch Gegenbeispiele rein intrinsischer Motivation, etwa in Klöstern, in ehrenamtlichen Tätigkeiten und wohl auch gelegentlich in Kunst und Wissenschaft. Aber die Lebenswirklichkeit zeigt, dass das Ausnahmen sind, auf denen man keine ganze Volkswirtschaft aufbauen kann. So sind denn die utopischen Gesellschaftsentwürfe etwa eines François Noël Babeuf oder eines Thomas Morus immer auch mit straffer staatlicher Organisation und Arbeitszwang verbunden gewesen, um das Fehlen des Anreizes von Geld und Einkommen zu kompensieren.18 Nicht minder wichtig als die Anreizfunktion des Privateigentums ist die mit ihm verbundene Dezentralisierung ökonomischer Entscheidungen. Sie hat zum einen große gesellschaftspolitische Bedeutung, denn sie ist eine notwendige (wenngleich keine hinreichende) Bedingung für die Dekonzentration von ökonomischer und politischer Macht. Diesen Aspekt haben vor allem die Ordoliberalen um Walter Eucken hervorgehoben. Sie hatten die in dieser Hinsicht sehr negativen Erfahrungen der Weimarer Republik und später des Nationalsozialismus ja noch deutlich vor Augen. Damals gab es zwar Privateigentum, auch an den Produktionsmitteln, doch es war sehr stark konzentriert bzw. kartelliert. Zudem hatten die Nationalsozialisten durch die Gleichschaltung der deutschen Wirtschaft wichtige Property Rights, die normalerweise mit dem Privateigentum verbunden sind, praktisch an den Staat übertragen. Insoweit bestand die Institution des Privateigentums teilweise nur noch rein formal. Inhaltlich wurde das Privateigentum auf diese Weise so stark ausgehöhlt, dass es letztlich keinen Schutz mehr vor der Allmacht des Staates bieten konnte. Die Dezentralisierung ökonomischer Entscheidungen ist aber noch aus einem anderen Grund wichtig, den vor allem F. A. von Hayek betont hat. Es ist nämlich schlichtweg nicht möglich, einen so komplexen Organismus wie eine Volkswirtschaft wirklich zentral zu steuern. Die sozialistischen Volkswirtschaften haben nur deswegen so lange überleben können, weil selbst dort, unter der Oberfläche zentralstaatlicher Planung, zugleich eine Art improvisierte Parallelökonomie von unten existierte. In ihr wurden die Mängel der zentralen Bewirtschaftung so gut es eben ging aufgefangen, etwa bei der Ersatzteilbesorgung, aber auch bei der lokalen Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Wie hätte auch eine zentrale Behörde jemals die täglich wechselnden Konsumwünsche und Investitionsnotwendigkeiten eines Millionenvolkes überhaupt nur ermitteln, geschweige denn im Voraus planen und befriedigen können? Wer jemals versucht hat, auch nur den Monatsbedarf seiner eigenen Familie zu planen, wird ermessen können, wie aussichtslos entsprechende Fünfjahrespläne für eine komplette Volkswirtschaft sein mussten. Nach Hayek ist dieses Koordinationsproblem das zentrale Argument zugunsten marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnungen. Der Wettbewerb als dezentraler Suchprozess ist dabei durch nichts zu ersetzen, schon gar nicht durch die „Anmaßung von Wissen“, welche staatliche Versorgungsbürokratien auszeichnet und an der sie regelmäßig scheitern, ja notwendigerweise scheitern müssen. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Güterversorgung an sich, sondern auch für die Bewältigung der sozialen Aufgaben in der Gesellschaft. Auch hier sind dezentrale Orga18 Vgl. dazu Peter Dobias, Sozialismus, in: Otmar Issing (Hrsg.), Geschichte der Nationalökonomie, 3. Aufl. München 1994, S. 90 ff., sowie J. Starbatty, Thomas Morus, in: ders. (Hrsg.), Klassiker des ökonomischen Denkens Bd. I, München 1989, S. 76 ff.
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nisationsstrukturen, insbesondere die Familie und die Wohlfahrtseinrichtungen vor Ort, den staatlichen Superorganisationen im Zweifel überlegen. Das ist von der Katholischen Soziallehre immer wieder betont worden, die in diesem Zusammenhang auch auf das Subsidiaritätsprinzip verweist. So heißt es etwa in Centesimus annus: „Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen: Hand in Hand damit geht eine ungeheure Ausgabensteigerung.“19 Der Wettbewerb als im Zweifel überlegenes Organisationsprinzip ist insoweit keineswegs auf die klassischen Gütermärkte beschränkt, sondern im Prinzip durchaus auch im öffentlichen Sektor anzuwenden. So haben beispielsweise die skandinavischen Länder, in denen die Arbeitsmarktpolitik stark kommunalisiert ist, damit bessere Erfahrungen gemacht als Länder wie Deutschland, die in diesem Bereich vor allem auf zentralistische Organisationen wie die Bundesagentur für Arbeit setzen. Inzwischen wird die Anwendbarkeit des Wettbewerbsprinzips im öffentlichen Sektor aber zunehmend auch in Deutschland erkannt. Das gilt zum Beispiel für die Bildungspolitik, in der die Konkurrenz zwischen den Hochschulen mittlerweile bewusst gefördert wird. Auch innerhalb und im Vergleich der öffentlichen Verwaltungen haben Leistungsvergleiche und leistungsbezogene Etats deutlich an Bedeutung gewonnen. Nachdem früher vor allem die staatliche Begrenzung und Korrektur des Wettbewerbs das Thema war, öffnet sich der öffentliche Sektor inzwischen somit selbst diesem Prinzip.
V. Einwände gegen Markt und Wettbewerb Unumstritten ist diese Entwicklung freilich nicht. So wird gegen den Wettbewerb vorgebracht, er benachteilige die Schwächeren. Von einer „Ellenbogengesellschaft“ ist in diesem Zusammenhang oft die Rede, in der allein die Macht des Stärkeren regiert und in der Egoismus und soziale Rücksichtslosigkeit zum Prinzip erhoben seien. Zudem erkenne der Markt nur kaufkräftige Nachfrage, reagiere aber nicht auf die Bedürfnisse derjenigen, die ihren Wünschen nicht mit entsprechendem Einkommen Nachdruck verschaffen können. Auch der Bedarf an öffentlichen Gütern wie Bildung und Infrastruktur dürfe und könne nicht den in dieser Hinsicht blinden Kräften des ökonomischen Wettbewerbsprinzips überlassen werden. Die Katholische Soziallehre verweist hier richtigerweise zunächst einmal darauf, dass die effizienzsteigernde Wirkung des Wettbewerbsprinzips selbst schon eine wichtige Dimension von Moral und Gerechtigkeit ist.20 Im Kompendium der Soziallehre der Kirche heißt es dazu: „Es ist eine Pflicht, die mit der Produktion der Güter verbundene Tätigkeit effizient auszuführen, denn sonst werden Ressourcen verschwendet.“21 Und im gemeinsamen Sozialwort der Kirchen wird festgestellt, es sei „kein Wirtschaftssystem in Sicht, das die komplexe Aufgabe, die Menschen materiell zu versorgen und sie sozial abzusichern, ebenso effizient organisieren könnte wie die Soziale MarktwirtZitiert nach Kompendium, Nr. 187. Zur Moral in der Ökonomie, vgl. Heinrich Pesch, Die Abhängigkeit der Nationalökonomie von der Moral, in: Katholischer Seelsorger (1906), S. 474 – 476. 21 Kompendium, Nr. 332. 19 20
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schaft“.22 In der Tat ist wirtschaftshistorisch nicht zu übersehen, dass die größte Armut und Ungerechtigkeit stets in jenen Gesellschaftsordnungen herrschte, die gerade nicht marktwirtschaftlich organisiert gewesen sind. Das gilt speziell auch für die Entwicklungsländer, von denen eindeutig diejenigen die größten Wohlfahrtsgewinne für ihre Bevölkerung haben erzielen können, die sich einer marktwirtschaftlichen und weltoffenen Wirtschaftsordnung zugewandt haben.23 Aus individualmoralischer Sicht hinzuzufügen ist, dass die Bewährung im Wettbewerb schließlich nicht von sich aus schon eine moralisch fragwürdige Zielsetzung ist. Auch wenn durchaus eigene materielle Ziele dahinterstehen, so verlangt der Erfolg am Markt in aller Regel doch auch ein hohes Maß an Zielstrebigkeit, Fleiß und Lernbereitschaft. Das sind Tugenden, die zugegebenermaßen nicht jeder in gleichem Maße mitbringt. Sie stehen aber keineswegs in einem prinzipiellen Gegensatz zu jenen Tugenden, welche die Kritiker des Wettbewerbsprinzips einfordern, nämlich Fairness, Gerechtigkeit und Solidarität mit den Schwächeren. Man kann durchaus ein guter Geschäftsmann und gleichzeitig ein ehrbarer Kaufmann sein. Auch schließen sich Erfolg am Markt und die Bereitschaft, mit dem dabei verdienten Geld anderen zu helfen, in keiner Weise aus. Es ist zwar durchaus zuzugeben, dass Geld den Charakter verderben kann. Das gilt aber auch für diejenigen Geldmittel, die als staatliche Transfers ohne eigene Gegenleistung fließen und auf diese Weise regelrechte Sozialhilfedynastien hervorgebracht haben. Aus christlicher Sicht muss sich im Grunde jeder, auch der normalverdienende Arbeitnehmer, stets fragen, ob er eine angemessene Leistung für sein Einkommen erbringt und ob er sein Einkommen in verantwortlicher Weise verwendet. Das sind aber moralische Fragen, die mehr den Charakter des Einzelnen als die Organisation des Wirtschaftssystems betreffen. Man sollte moralisches Fehlverhalten Einzelner deswegen auch nicht unbesehen als wirtschaftspolitisches Argument verwenden.24 Ernster zu nehmen sind diejenigen Einwände gegen den Wettbewerb, die sich gegen seine Funktionsfähigkeit wenden. So hat schon Adam Smith durchaus die Gefahr der Erosion des Wettbewerbs durch Kartelle und Monopole erkannt. In einem vielzitierten Satz aus dem „Wohlstand der Nationen“ heißt es: „Leute von demselben Gewerbe kommen selten auch nur zum Vergnügen zusammen, ohne dass ihre Unterhaltung mit einer Verschwörung gegen das Publikum oder einem Plane zur Erhöhung der Preise endigt“.25 Während die ökonomischen Klassiker des 18. und 19. Jahrhunderts daraus noch nicht die erforderlichen Konsequenzen zogen, hat sich die ordoliberale Schule deswegen für eine strikte Gesetzgebung zum Schutz des Wettbewerbs ausgesprochen, was im deut22 „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“: Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hannover / Bonn 1997, Nr. 145. 23 Vgl. dazu Richard Reichel, Markt oder Moral? Entwicklungspolitik auf die ökonomischen Füße gestellt. Frankfurt a. M. 1994, sowie David Dollar / Aart Kray, Spreading the Wealth, Foreign Affairs, Vol. 81, No. 1, January / February 2002. 24 Zur Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft, vgl. Gustav Gundlach, Freiheit und Verantwortung in der modernen Gesellschaft, Jahrbuch des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Münster 1962, Bd. 3. 25 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, Ausgabe nach der 5. Aufl. von 1789, München 1978, S. 110.
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schen Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1958 auch seinen Niederschlag gefunden hat. Das heißt allerdings nicht, dass es im Wettbewerb nicht auch zu exorbitanten Gewinnen – ebenso wie zu unverschuldeten Verlusten – kommen kann. Nur im heute weitgehend überholten wettbewerbspolitischen Leitbild der „vollständigen Konkurrenz“ wäre so etwas ausgeschlossen. Dieses rein statische Leitbild beschreibt aber weder die ökonomische Realität noch einen wirklich wünschenswerten Zustand. Wettbewerb ist vielmehr ein dynamischer Prozess, der vor allem davon lebt, dass ständig neue Produkte und Verfahren erfunden werden, während andere dafür vom Markt verschwinden. Joseph Schumpeter hat dies anschaulich als „Prozess der schöpferischen Zerstörung“ beschrieben. Die erfolgreichen Pionierunternehmer werden in diesem Prozess durch hohe Anfangsgewinne belohnt, die allerdings im Laufe der Zeit mit zunehmender Imitation durch die „Arbitrageunternehmer“ wieder erodieren. Dieser ständige Kampf um unternehmerischen Vorsprung und nicht etwa ein statisches Gleichgewicht mit „Normalgewinnen“ für alle Anbieter ist es, was nach Schumpeter den eigentlichen Kern des Wettbewerbs und damit auch seine enorme ökonomische Produktivität ausmacht.26 Dabei kann es durchaus vorkommen, dass ein bislang kosteneffizient wirtschaftendes Unternehmen vom Markt verdrängt wird, einfach weil seine Produkte nicht mehr gefragt sind oder ein Konkurrent nun preiswerter produziert. In der Öffentlichkeit ist dann meist von schlechtem Management die Rede, deren unschuldiges Opfer die betroffenen Arbeitnehmer seien. Da ist durchaus etwas dran, auch wenn mitbestimmte Unternehmen im Durchschnitt keineswegs erfolgreicher am Markt agieren als rein eigentümergesteuerte Unternehmen. Vor allem aber sind der Untergang von Unternehmen und der Verlust von Arbeitsplätzen ein völlig normaler, letztlich unvermeidbarer Vorgang in einer sich ständig verändernden Welt. Die Volkswirtschaften, die versucht haben, ihn künstlich aufzuhalten, sind am Ende selber untergegangen. So gab es früher in Ostdeutschland zwar offiziell keine Arbeitslosen, aber tatsächlich immer mehr unproduktiv Beschäftigte, was wesentlich zum ökonomischen und schließlich auch zum politischen Ende der DDR beigetragen hat. Man kann deshalb nicht beides haben: Wettbewerb und gleichzeitig die vollkommene Sicherheit des Arbeitsplatzes und des eingesetzten Kapitals. Ebenso wie sich jeder biologische Organismus im Laufe der Zeit ständig selbst erneuert, unterliegt auch eine funktionierende Wettbewerbswirtschaft ständigem Strukturwandel. Die große Herausforderung liegt dabei zum einen darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen jedenfalls auf Dauer immer auch genug neue Arbeitsplätze entstehen, um die entfallenden Arbeitsplätze zu ersetzen. Zum anderen geht es darum, die zwischenzeitlich arbeitslos gewordenen Menschen nicht ins Bodenlose fallen zu lassen. Niemals aber kann die Verhinderung des strukturellen Wandels das Problem lösen. Wer versucht, nicht mehr wettbewerbsfähige Unternehmen und Arbeitsplätze zu erhalten, verführt die Menschen gewissermaßen dazu, sich an schmelzende Eisschollen zu klammern. Das untergräbt nicht nur den Wettbewerb und damit die Grundlage unseres Wohlstandes, es wiegt vor allem die Betroffenen in einer trügerischen Sicherheit und ist damit gerade auch sozialpolitisch nicht zu verantworten. 26 Vgl. Ulrich van Suntum, Die unsichtbare Hand. Ökonomisches Denken gestern und heute, 3. Aufl., Berlin / Heidelberg 2005, S. 12 ff.
Achtes Kapitel
Wirtschaftsordung
Katholische Soziallehre und Soziale Marktwirtschaft Von Anton Rauscher
Die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 besiegelte den völligen Zusammenbruch der staatlichen und der gesellschaftlichen Ordnung. Die ungeheuere Not, die über die deutsche Bevölkerung hereinbrach, die Verwüstungen des Weltkrieges, das Flüchtlingselend und die von den Besatzungsmächten eingeleitete Demontage der Schwerindustrie ließen wenig Hoffnung auf einen tragfähigen Wiederaufbau des Wirtschaftslebens zu. Wenn damals jemand auf den Gedanken gekommen wäre, dass schon zu Beginn der 1960er-Jahre das Wort vom Wirtschaftswunder die Runde machen würde, er wäre nicht ernst genommen worden. Es war die Soziale Marktwirtschaft, die Westdeutschland in die Lage versetzte, den wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau zügig zu bewerkstelligen. Auch im Vergleich zu anderen Ländern Europas mit freiheitlicher Ordnung war die Leistungsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft erstaunlich hoch. I. Das Ende des Laissez-faire-Liberalismus Die Besatzungsmächte, die in den drei Westzonen das Sagen hatten, standen vor der Frage, wie sie die Versorgung der Bevölkerung mit den notwendigen Gütern sichern konnten und in welche Richtung die Wirtschaft wieder in Gang gebracht werden sollte. Sobald sich das politische Leben in Westdeutschland wieder zu formieren begann, erinnerte man sich an die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, wie sie vor 1933 geherrscht hatten. Alle politischen Parteien waren sich darin einig, dass es kein Zurück zum Wirtschaftsliberalismus alter Prägung und zur kapitalistischen Klassengesellschaft geben dürfe. Der Laissez-faire-Liberalismus, wie er sich im 19. Jahrhundert in Europa entwickelt hatte, konnte die zu Beginn der Industrialisierung aufkommenden Erwartungen, die „kapitalistische“ Produktionsweise würde Wohlstand für alle schaffen, nicht einlösen. Stattdessen hatten sich die Gegensätze zwischen Fabrikherren und Arbeitern, zwischen Arbeit und Kapital zusehends verschärft. Die fortschreitende Klassenspaltung in der Gesellschaft schien die Marx’sche Analyse von Wirtschaft und Gesellschaft zu bestätigen. Allerdings war es weniger die „soziale Frage“, die den um die Jahrhundertwende immer noch tonangebenden Liberalen zusetzte, es waren die wirtschaftlichen Konzentrationsprozesse, die den Regierungen in den fortgeschrittenen Industrieländern Europas und Nordamerikas zu schaffen machten.1 Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Trusts in den USA und die zunehmende Kartellbildung zu einer Bedrohung des 1 Vgl. Anton Rauscher, Ein schwieriges Verhältnis: Katholische Soziallehre und Wirtschaftsliberalismus, in: Freiburger Universitätsblätter, hrsg. im Auftrag des Rektors der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Heft 173, 45. Jg., Freiburg i. Br. 2006, S. 122.
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sozialen Zusammenhalts in den Industriegesellschaften. In England entwickelte John Maynard Keynes seine wirtschaftspolitischen Reformideen, wonach der Staat in Zeiten einer wirtschaftlichen Depression und großer Arbeitslosigkeit durch eine aktive Geldund Beschäftigungspolitik gegensteuern müsse. Aufsehen erregte sein Berliner Vortrag im Jahre 1926: „Das Ende des Laissez-faire“. Keynes hatte vorhergesehen, dass der Wirtschaftsliberalismus an sein Ende gelangt war. Nur drei Jahre nach der Rede in Berlin kam es zum Börsenkrach in New York. Die dadurch ausgelöste Weltwirtschaftskrise – viele Unternehmen gingen bankrott, die Arbeitslosigkeit in den damaligen Industrieländern stieg rasant an – hat das Anwachsen des politischen Radikalismus in Europa begünstigt. Keynes’ Ideen inspirierten später die Reformpolitik des amerikanischen Präsidenten Theodor Roosevelt, wohingegen sie in Europa erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Theorie und Praxis Eingang fanden. In Deutschland verfolgten die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung im Jahre 1933 ihre eigene Politik. Bestimmend war die Idee der nationalen „Autarkie“. Mit massiven Eingriffen in das Wirtschaftsleben suchte der Staat zwischen 1933 und 1945 die Investitionen, die Verteilung des volkswirtschaftlichen Kuchens und den Konsum der Bürger zu steuern und seinen Zielen unterzuordnen.
II. Neue Ansätze Das Ende des Laissez-faire-Liberalismus und die totale Abhängigkeit der Wirtschaft vom Staat im nationalsozialistischen Deutschland und ebenso in der kommunistischen Sowjetunion riefen junge Wissenschaftler auf den Plan. 1937 veröffentlichte der Jurist Franz Böhm die Studie über die Ordnung der Wirtschaft.2 Den Begriff „Ordnung“ als eine zielgerichtete sinnvolle Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse, der in der alten Gesellschaft bis zur Französischen Revolution bestimmend war, hatte man fast vergessen. Ordnung beinhaltet, dass die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nicht sich selbst oder einem Marktautomatismus überlassen bleiben können, sondern der Gestaltung bedürfen, damit Wirtschaft und Gesellschaft ihre Aufgaben erfüllen. Ähnlich wie Böhm dachte auch Walter Eucken, der Begründer der Freiburger Schule. Die Wirtschaft dürfe weder den mächtigen Interessengruppen und Verbänden ausgeliefert werden noch dem Staat, der nicht Träger der Wirtschaft sei. Entscheidend komme es darauf an, ob der Wettbewerb, der zur Selbstaufhebung und zur Verdrängung der kleineren Unternehmen am Markt tendiere, erhalten und gesichert werden könne. Dies gelinge nur, wenn der Staat durch Recht und Gesetz für eine Rahmenordnung der Wirtschaft sorge, die den freien Wettbewerb garantiere und eine monopolistische Vermachtung der Wirtschaft verhindere. Die mehr als ein Jahrhundert unangefochten gebliebene Position des alten Liberalismus wurde radikal in Frage gestellt. Es war ein neuer Liberalismus, der „Neo-Liberalismus“, den die Freiburger Schule entwickelte.3 Ohne Zweifel gehören die neoliberalen Ökonomen zu den geistigen Vätern der Sozialen Marktwirtschaft.4 2 Franz Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, Stuttgart 1937. 3 Maßgebend dafür sind die beiden Hauptwerke von Walter Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, Jena 1940; und ders., Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Bern / Tübingen 1952.
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Der eigentliche Anstoß aber trägt die Handschrift von zwei Persönlichkeiten, die für die Entwicklung der Wirtschaft im Nachkriegsdeutschland die Weichen stellten. Der eine war Alfred Müller-Armack, der bereits 1947 den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ prägte. Ein Jahr später veröffentlichte er „Vorschläge zur Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft“5. Darin betonte er, dass die Wirtschaftsordnung „auf zwei großen sittlichen Zielen, nämlich der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit“ beruhe. Diese Erkenntnis bedeutete für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nicht mehr und nicht weniger als eine Kopernikanische Wende. Der Wirtschaftsliberalismus vertrat ein damals weitverbreitetes materialistisches und mechanistisches Weltbild. Man verließ sich ganz auf die Rationalität und die hypothetische Vernunft, die sich auch in der Vorstellung des Marktautomatismus niederschlug. Für Wertorientierungen, sittliche Normen und Ziele war da kein Platz, ebenso wenig für ein Ordnen der Abläufe von Angebot und Nachfrage. Die Freiheit und der Mensch als gestaltender Faktor konnten in dieser Sicht den Marktautomatismus und damit auch das Wirtschaftsergebnis nur stören und negativ beeinflussen. Diese Grundeinstellung beherrschte auch noch den Werturteilsstreit nach dem Ersten Weltkrieg. Werte und sittliche Normen wurden als Elemente subjektiver Beliebigkeit, aber nicht rationaler Wissenschaftlichkeit betrachtet. Die Besinnung auf die großen sittlichen Ziele der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit bei Müller-Armack war dieser ganzen Grundströmung entgegengesetzt. Nicht weniger wichtig als die theoretische Klärung dessen, worauf die Soziale Marktwirtschaft beruht, waren die Fähigkeit und der politische Mut, sozusagen gegen alle Vernunft, der Freiheit und den freiheitlichen Verhältnissen zum Durchbruch zu verhelfen. Schon vor der Bildung der ersten Nachkriegsregierung 1949 durch Konrad Adenauer hatte Ludwig Erhard wichtige Entscheidungen für eine Marktwirtschaft im Wirtschaftsrat durchgesetzt. Als Wirtschaftsminister ging er daran, die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft Zug um Zug aufzubauen. Es war eine schwierige Zeit, zumal die politischen Gegner im Deutschen Bundestag alles daransetzten, die Soziale Marktwirtschaft ins Zwielicht zu rücken, ihre wirtschaftlichen und auch sozialen Erfolge kleinzureden, aber ihre Schwächen und Defizite aufzubauschen. Die Bevölkerung war an den staatlichen Dirigismus gewohnt. Erst als die CDU / CSU bei der dritten Bundestagswahl 1957 die absolute Mehrheit errang und auch das Vertrauen großer Teile der Arbeitnehmerschaft in den Großstädten und urbanen Zentren erhielt, war dies ein Zeichen dafür, dass die Soziale Marktwirtschaft bei vielen Bürgern angekommen war. Die Zuversicht war gewachsen, dass diese neue Ordnung der Wirtschaft, um ein Wort Erhards aufzugreifen, wirklich „Wohlstand für alle“ herbeiführen könne. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Leistungsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft, nicht zuletzt hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit, zwang die SPD, das Heidelberger Programm (1925) durch ein neues, das Godesberger Programm von 1959, zu ersetzen, das eine Wende hin zur Sozialen Marktwirtschaft einleitete.
4 Dass die Bezeichnung „neoliberal“ nur bedingt das zum Ausdruck bringt, was Franz Böhm und Walter Eucken vorschwebte, geht daraus hervor, dass das von beiden 1948 begründete Jahrbuch für die Ordnung in Wirtschaft und Gesellschaft „Ordo“ genannt wurde. 5 Wieder abgedruckt in: Alfred Müller-Armack, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, 2. Aufl., Bern u. a. 1981, S. 90.
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III. Vorbehalte und Kritik seitens der Katholischen Soziallehre Auch im sozialen Katholizismus gab es Kräfte, die der Idee und dem Aufbau der Sozialen Marktwirtschaft eher kritisch gegenüberstanden. Dabei spielten alte Frontstellungen eine Rolle, die sich im 19. Jahrhundert zwischen der Kirche und dem Liberalismus, dann auch dem Sozialismus aufgetan hatten. Der weltanschauliche und politische Liberalismus sah in der Kirche nach wie vor eine Verkörperung der alten Ordnung, die es zu überwinden gelte. Es kam zu dem der katholischen Kirche vom preußischen Staat aufgezwungenen Kulturkampf (1871 – 1878), der nicht nur das Verhältnis von Staat und Kirche schwer belastete, sondern auch das Misstrauen der Katholiken schürte, sie seien nur Staatsbürger zweiter Klasse. Ein weiterer Hauptstreitpunkt betraf das Menschenbild. Während der Liberalismus eine individualistische Sicht des Menschen und der Gesellschaft vertrat, lag den verschiedenen sozialistischen Richtungen ein eher kollektives Verständnis zugrunde. In der Auseinandersetzung mit diesen gegensätzlichen Strömungen ist der soziale und politische Katholizismus entstanden. Sein soziales Profil erhielt der Katholizismus in den Auseinandersetzungen um die „soziale Frage“. Kapitalismus, Sozialreform, Sozialpolitik waren die zentralen Stichworte im Wettstreit der gesellschaftlichen Ordnungssysteme und der hinter ihnen stehenden Gruppen im 19. und 20. Jahrhundert.6 Als sich die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschärften und die damalige Gesellschaft sich mehr und mehr in Klassen spaltete, kämpfte der soziale Katholizismus immer entschiedener gegen den individualistischen Liberalismus und gegen den Kapitalismus an. 1864 sprach der Mainzer Bischof Ketteler vom „Sklavenmarkt unseres liberalen Europa“, in dem die Arbeit zur „Ware“ geworden sei. Fünf Jahre später entwickelte er seine Ansätze für eine staatliche Sozialpolitik zum Schutze der Arbeiter. Der soziale Katholizismus wurde in seinen Bemühungen um tiefgreifende Reformen durch die beiden Sozialenzykliken Rerum novarum (1891) und Quadragesimo anno (1931) bestärkt. In der Weimarer Republik nahm der Einfluss der katholisch-sozialen Ideen auf die Gestaltung der Sozialpolitik und auch der Kulturpolitik zu, weil dem Zentrum als konfessioneller Volkspartei eine Sonderstellung zugefallen war.7 Dies zeigte sich vor allem an dem Ziel der Gleichberechtigung der Arbeiterschaft, auch wenn die Forderung „Partnerschaft statt Klassenkampf“ kaum in die Praxis umgesetzt werden konnte. Die Nationalsozialisten waren sofort nach der Machtergreifung darauf bedacht, den Katholizismus und seinen Einfluss auf das öffentliche Leben auszuschalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg erholte sich der Katholizismus nur langsam, zumal die Gründung der überkonfessionellen C-Parteien und die rasche Verständigung darüber, anstelle der früheren Richtungsgewerkschaften eine Einheitsgewerkschaft (DGB) zu favorisieren, eine völlig neue Konstellation und Ausgangslage schufen. Allerdings konnten die katholischen Sozialwissenschaftler, die schon vor 1933 an der Erarbeitung der katholischsozialen Positionen beteiligt waren und die – wie die Jesuiten Oswald von Nell-Breu6 Vgl. den aufschlussreichen Beitrag von Lothar Roos, Kapitalismus, Sozialreform, Sozialpolitik, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803 – 1963, Bd. II, München 1982, S. 52 – 158. 7 Vgl. Rudolf Morsey, Der politische Katholizismus 1890 – 1933, in: Anton Rauscher (Hrsg.), ebd., Bd. I, München 1981, S. 110 – 164.
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ning und Gustav Gundlach – im Königswinterer Kreis einen Entwurf für Quadragesimo anno im Herbst 1930 erstellt hatten, an die damaligen Überlegungen und Aussagen anknüpfen. Wie sehr christlich-soziale Positionen, die im Zusammenhang mit Quadragesimo anno entstanden waren, auch in der Politik der CDU der Nachkriegszeit eine Rolle spielen, zeigen die „Kölner Leitsätze“ vom Juli 1945 und das heute noch gelegentlich zitierte „Ahlener Programm“ der CDU der Britischen Besatzungszone von 1947. „Die Zeiten bloßer sozialpolitischer Reparaturen am kapitalistischen Wirtschaftssystem sind vorüber. Eine Neuordnung unserer Wirtschaft von Grund auf ist das Gebot der Stunde“. Diese Worte schrieb Johannes Albers, ehemaliger Sekretär der christlichen Gewerkschaften, maßgeblicher Politiker damals bei der CDU und im Vorsitz der Programmkommission für das Ahlener Programm.8 Den sozialpolitisch engagierten christlichen Gewerkschaftlern und Politikern galt das Ahlener Programm als Erfüllung des katholisch-sozialen Bemühens um die Lösung der „sozialen Frage“. Gefordert wurde eine „gemeinwirtschaftliche Ordnung“, in der „nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben“, sondern „die Bedarfsdeckung des Volkes“ Ziel aller Wirtschaft sei.9 Man könnte in dieser Formulierung eine Hinwendung zum Sozialismus herauslesen. Eine solche Deutung würde jedoch die Feststellung der „Unvereinbarkeit der christlichen und sozialistischen Gesellschaftsauffassung“ in Quadragesimo anno (Nr. 118) nicht berücksichtigen. Darüber hinaus hielt der soziale Katholizismus am Privateigentum fest – freilich am breit gestreuten Privateigentum. Bei der Diagnose der Ursachen für den Niedergang der Laissez-faire-Wirtschaft gibt es erstaunliche Parallelen zwischen den Vertretern der Freiburger Schule und den Aussagen in Quadragesimo anno. Beide gelangen zu der Auffassung, dass der Wettbewerb, wenn er sich selbst überlassen sei, zur Selbstaufhebung tendiere und zur Vermachtung (bzw. Konzentration) der Wirtschaft führe. Aber diese Parallelität wurde auf der katholischen Seite nur sehr zurückhaltend wahrgenommen. Oswald von Nell-Breuning, der in der Nachkriegszeit zu einem der führenden katholischen Sozialwissenschaftler mit großer Resonanz in der Öffentlichkeit aufstieg, fügte dem Artikel „Liberalismus“ im Wörterbuch der Politik einige kurze Ergänzungen über Neo-Liberalismus und SozialLiberalismus hinzu. Einerseits wird es als eine „große Errungenschaft“ bezeichnet, dass der Neo-Liberalismus dem Laissez-faire eine Absage erteile und es für notwendig halte, „eine Freiheitsordnung zu schaffen und durch geeignete gesellschaftliche Einrichtungen zu sichern“. Aber: „Dies könne den Anschein erwecken, als sei es dem Neo-Liberalismus gelungen, der individualistischen Verfälschung des alten Liberalismus sich zu entledigen und sich zu echtem Liberalismus zu läutern. Vielleicht mag er in Zukunft einmal wirklich dahin gelangen; bis jetzt aber hat der Neo-Liberalismus trotz des großen Fortschritts, den er namentlich auf wirtschaftlichem Gebiet über den manchesterlichen Laissez-faire-Liberalismus hinaus gemacht hat, sich noch nicht vom Individualismus zu lösen vermocht.“10 8 Zitiert bei Albrecht Langner, Wirtschaftliche Ordnungsvorstellungen im deutschen Katholizismus. 1945 – 1963, in: ders. (Hrsg.), Katholizismus, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik 1945 – 1963, Paderborn u. a. 1980, S. 27. 9 Vgl. Lothar Roos, a. a. O., S. 128 ff. 10 Oswald von Nell-Breuning, Liberalismus, in: Hermann Sacher / ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Politik, Heft V: Gesellschaftspolitische Ordnungssysteme, Freiburg i. Br. 1951, S. 218. – Katho-
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Es überrascht, dass von Nell-Breuning mit Vorliebe vom „Neo-Liberalismus“ spricht, aber nicht von „Sozialer Marktwirtschaft“, obwohl ihm die Veröffentlichungen MüllerArmacks bekannt sein mussten. Der Artikel verbleibt großenteils bei den Linien und Diskussionen, die den sozialen Katholizismus vor 1933 bestimmten. Die Bedeutung, die die neoliberalen oder ordoliberalen Ökonomen dem Staat für die Gestaltung und Ordnung der Wirtschaft zumessen, wird kaum reflektiert. Wer die Wirtschaft nicht mehr dem Marktgeschehen überlässt und dem Staat die Ordnungsaufgabe zuweist, für den gewinnt auch das „Soziale“ eine neue Qualität. Haben nicht Bischof Ketteler, Leo XIII. in Rerum novarum und der soziale Katholizismus das Eingreifen des Staates zugunsten der Arbeitnehmer gefordert? Und wie ist die staatliche Sozialpolitik einzuschätzen, die im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft auf- und ausgebaut wurde? Hier unterscheidet sich die Soziale Marktwirtschaft auch von jenen neoliberalen Ansätzen bei manchen Nationalökonomen, die die Marktwirtschaft mit einem individualistischen Verständnis von Gesellschaft verquicken und das „Soziale“ kleinschreiben oder nur tolerieren. Leider ist es in den Nachkriegsjahren zu keinem Kontakt oder Meinungsaustausch zwischen katholischen Sozialwissenschaftlern und den neoliberalen Ökonomen gekommen. Dies ist deshalb bedauerlich, weil maßgebliche Vertreter der Freiburger Schule, aber auch Wissenschaftler wie Wilhelm Röpke oder Alexander Rüstow an wirtschaftsethischen Fragen und Belangen außerordentlich interessiert waren und dies auch in ihrem Schrifttum dokumentierten. Wie Müller-Armack waren sie evangelische Christen und von der evangelischen Sozialethik beeinflusst.
IV. Die berufsständische Ordnung Noch ein anderer Themenbereich muss hier genannt werden. Quadragesimo anno enthält die Empfehlung, die kapitalistische Klassengesellschaft durch eine „berufsständische Ordnung“ zu überwinden (Nr. 81 ff.). Die Empfehlung geht auf den Entwurf des schon genannten „Königswinterer Kreises“ zurück.11 Dem Kreis gehörten katholische Sozialwissenschaftler und Wirtschaftswissenschaftler an. Die Aufgabe bestand darin, auf der Grundlage der Katholischen Soziallehre eine Antwort zu finden auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 und ihre verheerenden Auswirkungen. Hinzukam, dass es in der Weimarer Republik nicht gelungen war, die Klassengegensätze zwischen den Sozialpartnern zu entkrampfen und konstruktiv zu gestalten. Die damalige Tarifordnung war nicht in der Lage, die ständigen wilden Streiks und Aussperrungen zu unterbinden und den Arbeitsfrieden zu gewährleisten. Die Wissenschaftler gelangten in dieser Situation zu der Auffassung, dass nur eine grundlegende Reform der Wirtschaftsgesellschaft Abhilfe schaffen könnte. Das Kernanliegen war, wie man die Klassenspaltung der Gesellschaft überwinden könnte. Es ging darum, „aus der Auseinandersetzung zwischen den Klassen zur einträchtigen Zusammenarbeit der Stände“ zu gelangen (QA Nr. 81). Dabei spielte der Gedanke der „Standwerdung“ der Arbeiterschaft eine Rolle, wie ihn auch lische Liberalismus- und Neoliberalismus-Kritik findet sich damals vor allem in den Zeitschriften Neues Abendland, Die neue Ordnung und in den Frankfurter Heften, bei den Sozialausschüssen der CDU und in der KAB; vgl. Albrecht Langner, a. a. O., S. 88 ff. 11 Vgl. Oswald von Nell-Breuning, Der Königswinterer Kreis und sein Anteil an „Quadragesimo anno“, in: Johannes Broermann / Philipp Herder-Dorneich (Hrsg.), Soziale Verantwortung. Festschrift für Goetz Briefs, Berlin 1968, S. 571 – 585.
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sozialistische Denker vertraten. Es sollten Selbstverwaltungskörper entstehen, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer desselben Berufszweiges umfassen und den Raum zwischen den Einzelnen und dem Staat gliedern. Dahinter stand der Gedanke, wie ihn auch Ludwig Erhard für die Soziale Marktwirtschaft beanspruchte: „Wir sitzen alle in einem Boot“. Auf der anderen Seite war man sich klar darüber, dass nicht der Eindruck erweckt werden dürfe, als wollte man zur alten ständischen Ordnung zurück. In seinem klassischen Kommentar zur Enzyklika gab sich Oswald von Nell-Breuning große Mühe, die Andersartigkeit der berufsständischen Ordnung herauszuarbeiten.12 Diese Interpretation hat sich allerdings nicht durchsetzen können, zumal die Bemühungen in Österreich, ein solches Modell in die Tat umzusetzen, gescheitert waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte die „berufsständische Ordnung“ zum Repertoire der in vielen Diözesen eingerichteten sozialen Seminare. Aber sie bildete mehr einen theoretischen Bezugspunkt denn ein Orientierungsziel für die Praxis. Obwohl sozial engagierte Katholiken in der Wiederaufbauphase wichtige Ämter in Regierung und Verwaltung innehatten und ziemlichen Einfluss auf die Arbeits- und Sozialpolitik ausübten, kam es weder im Bund noch in den Ländern zu konkreten Bestrebungen, die Idee der berufsständischen Ordnung politisch zu verwirklichen.13 Die Spannungen zwischen der Katholischen Soziallehre und Sozialer Marktwirtschaft blieben lange wirksam. Franz Böhm meinte 1953, die berufsständische Ordnung sei „keine Sachlösung, sondern eine Beschwichtigungslösung“. Sie könne den Klassenkampf beseitigen, würde aber im politischen Raum die staatliche Willensbildung komplizieren, überflüssige und gefährliche Kompetenzüberschneidungen erzeugen und Eigentum und Wettbewerb denaturieren. Müller-Armack nannte die berufsständische Ordnung 1955 „wettbewerbsfeindlich“14. Dieser Eindruck konnte entstehen, weil in der katholischen Sozialwissenschaft die berufsständische Ordnung favorisiert wurde und die mehr und mehr Gestalt annehmende Soziale Marktwirtschaft nur halbherzig konnotiert und eher in die Nähe neoliberalen Denkens gerückt wurde. Eine Ausnahme bildete Joseph Höffner, der 1951 den Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaft in Münster übernahm und sich als Leiter des Sozialreferats im Zentralkomitee der deutschen Katholiken um die Koordination im Sozialkatholizismus kümmern sollte.15 Höffner hatte nach dem Abschluss seiner philosophisch-theologischen Ausbildung in Rom die Kaplansjahre benutzt, um sich an der Universität Freiburg i. Br. auf seine Professur vorzubereiten. Er entschloss sich, Nationalökonomie zu studieren, und promovierte 1940 bei Walter Eucken. Er interessierte sich für die Ordnungskonzeption der Freiburger Schule, für ihre Ideen des freien Marktes und Wettbewerbs sowie die Aufgabe des Staates, durch eine Rahmenordnung den Wettbewerb gegen Monopol- und Kartellbildungen zu sichern. In seiner Dissertation „Wirtschaftsethik und Monopole im 15. und 16. Jahrhundert“ hatte er nachweisen können, dass die Vertreter der spanischen Spätscholastik, insbesondere Ludwig Molina S. J., in einer gan12 Oswald von Nell-Breuning, Die soziale Enzyklika. Erläuterungen zum Weltrundschreiben Papst Pius’ XI. über die gesellschaftliche Ordnung, Köln 1932, S. 148 – 166. 13 Vgl. Anton Rauscher, a. a. O., S. 126. 14 Abgedruckt bei Albrecht Langner, a. a. O., S. 94. 15 Vgl. Manfred Hermanns, Sozialethik im Wandel der Zeit. Persönlichkeiten – Forschungen – Wirkungen des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre und des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster, Paderborn u. a. 2006, S. 237 ff., 256 ff.
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zen Reihe von Fragen ähnlich dachten wie die Freiburger Schule. Diese Einsichten befähigten Höffner, im sozialen Katholizismus für die freiheitliche Marktwirtschaft, für den Wettbewerb einzutreten. Er war bemüht, unnötige Spannungen zwischen den katholischen Sozialwissenschaftlern und den Vertretern der Sozialen Marktwirtschaft abzubauen. Als geistlicher Berater des BKU (Bund katholischer Unternehmer) setzte sich Höffner für die wirtschaftliche und soziale Verantwortung des Unternehmers ein. In seinem Institut in Münster studierten viele junge Wissenschaftler und Praktiker, die in der Sozialen Marktwirtschaft das Gegenstück zum früheren Kapitalismus erkannten. Bei den Bundestagswahlen 1957 zeichnete sich auch bei den katholischen Arbeitnehmern ein Umdenken ab, zumal die Hinweise auf die berufsständische Ordnung im katholischsozialen Schrifttum immer seltener wurden. Auch wenn manche kritische Stimmen im deutschen Katholizismus, die die Soziale Marktwirtschaft nach wie vor in die neoliberale Ecke drängen wollten, nicht verstummten, so trat doch eine Wende ein. Wilhelm Weber sprach 1975 in einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung von „überflüssigen sozialphilosophischen und erkenntnistheoretischen Schattengefechten“. „Aber wer die Grundaussagen der ,katholischen Soziallehre‘ (päpstliche Sozialverkündigung und ,Solidarismus‘) sine ira, sed cum studio zur Kenntnis nimmt, wird ihre erstaunliche ordnungspolitische Nähe und zum Teil totale konzeptionelle Übereinstimmung mit den hervorragendsten Vertretern des Neoliberalismus (nicht zuletzt mit dem unvergessenen Wilhelm Röpke) sehr bald feststellen können.“16 V. Klärung in Centesimus annus Ohne Zweifel besteht zwischen Katholischer Soziallehre und Sozialer Marktwirtschaft eine ordnungspolitische Nähe, was die anthropologischen, sozialen und ethischen Voraussetzungen und Grundlagen betrifft. Dies gilt für die Auffassung über den Menschen als Person und das hieraus erwachsende Verständnis der Gesellschaft, die der Entfaltung der Personen zu dienen hat; dies gilt für das „Soziale“, das – im Unterschied zum neoliberalen Denken – die Verbundenheit, wechselseitige Verpflichtung und Einheit der Personen betont und zu den Grundlagen des Sozialstaats gehört; und dies gilt für die Grundwerte der Freiheit und der Gerechtigkeit, die sowohl in der Katholischen Soziallehre als auch in der Sozialen Marktwirtschaft eine unverzichtbare Rolle spielen. In der Katholischen Soziallehre blieb die auf Bischof Ketteler und die Päpste Leo XIII. und Pius XI. zurückgehende Unterscheidung zwischen (individualistischem) Liberalismus, Sozialismus und christlicher Gesellschaftsauffassung das Grundmuster in der Auseinandersetzung mit den großen sozialen Strömungen und Ideologien des 20. Jahrhunderts. Auch Pius XII. behielt diese Abgrenzungen in der Zeit des Kalten Krieges bei, auch wenn in den freiheitlichen Gesellschaften des Westens der frühere Kapitalismus dem mehr oder minder ausgeprägten Sozialstaat weichen musste. Johannes XXIII. und Paul VI. setzten diese Linien ebenfalls fort, zumal im Zuge der Kulturrevolution von 1968 die spät- oder neomarxistischen Gruppierungen wieder beträchtlichen Einfluss gewannen. Auch Johannes Paul II. sprach in seiner ersten Sozialenzyklika Laborem exercens (1981) von dem „ideologischen Konflikt zwischen dem 16 Wilhelm Weber, Leserbrief, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. November 1975, S. 15. – Vgl. Albrecht Langner, a. a. O., S. 95 f.
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Liberalismus, soweit dieser sich als dem Kapitalismus eigentümliche Ideologie versteht, und dem Marxismus, der als Ideologie des ,wissenschaftlichen‘ Sozialismus bzw. des Kommunismus gilt und den Anspruch erhebt, als Wortführer der Arbeiterklasse, des Proletariats der ganzen Welt aufzutreten“ (Nr. 11 [4]). Der Zusammenbruch des Sozialismus 1989 / 90 machte den Weg frei, darüber nachzudenken, warum dieses System gescheitert ist. In seiner dritten Sozialenzyklika Centesimus annus (1991) befasst sich Johannes Paul II. mit den Ursachen und nennt u. a. „die Untauglichkeit des Wirtschaftssystems“. „Hierbei geht es nicht bloß um ein technisches Problem, sondern vielmehr um die Folgen der Verletzung der menschlichen Rechte auf wirtschaftliche Initiative, auf Eigentum und auf Freiheit im Bereich der Wirtschaft [ . . . ] Man kann den Menschen nicht einseitig von der Wirtschaft her begreifen und auch nicht auf Grund der bloßen Zugehörigkeit zu einer Klasse“ (Nr. 24). Ausgehend vom Menschen reflektiert der Papst über den „freien Markt“, der eine auch in sozialer Hinsicht wichtige Institution sei, weil er das wirksamste Instrument für den Einsatz der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein scheint (Nr. 34). Allerdings gelte dies nur für jene Bedürfnisse, die „bezahlbar“ sind und über eine Kaufkraft verfügen sowie für jene Ressourcen, die „verkäuflich“ sind, das heißt einen angemessenen Preis erzielen können. Hier spricht der Papst ein altes Problem des „freien Marktes“ an und mahnt: „Es ist strenge Pflicht der Gerechtigkeit und der Wahrheit, nicht zu dulden, daß die fundamentalen menschlichen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben und die davon betroffenen Menschen zugrundegehen“ (ebda). Darüber hinaus gebe es gemeinsame und qualitative Bedürfnisse, die sich der Logik des Marktes entzögen und die der Staat für alle sichern müsse (Nr. 40). Der Bedeutung des freien Marktes tut es keinen Abbruch, wenn auch auf seine Grenzen hingewiesen wird. „Die Soziallehre der Kirche erkennt dem Markt zwar die Funktion eines unersetzlichen Regulierungsinstruments innerhalb des Wirtschaftssystems zu, weist jedoch auch auf die Notwendigkeit hin, ihn in moralischen Zielsetzungen zu verankern, die seine Autonomie sicherstellen und gleichzeitig in angemessener Weise eingrenzen.“17 Von besonderer Bedeutung für die Soziale Marktwirtschaft ist die sozialethische Wertung des Wettbewerbs: „Ein wirklich vom Wettbewerb bestimmter Markt ist ein wirkungsvolles Mittel, um wichtige Ziele der Gerechtigkeit zu erreichen: die übermäßigen Gewinne einzelner Unternehmen einzudämmen; auf die Forderungen der Verbraucher zu reagieren; eine bessere und schonendere Nutzung der Ressourcen zu verwirklichen; unternehmerisches Engagement und innovatives Geschick zu belohnen; Informationen so in Umlauf zu bringen, daß die Produkte in einer Atmosphäre gesunden Wettbewerbs wirklich verglichen und erworben werden können.“18 Markt und Wettbewerb sind unverzichtbare Bestandteile einer menschenwürdigen und gerechten Wirtschaftsordnung. Markt und Wettbewerb können nicht unter Berufung auf die Katholische Soziallehre des Kapitalismus oder des Neoliberalismus verdächtigt werden. Die Soziale Marktwirtschaft, die lange Jahrzehnte breiten Zuspruch der deutschen Bevölkerung erfahren hat, muss den jeweiligen Veränderungen und Entwicklungen im wirtschaftlichen und im sozialen Bereich Rechnung tragen und den neuen Herausforderungen begegnen. 17 18
Kompendium, Nr. 349. Kompendium, Nr. 347.
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Weiterführende Literatur Dölken, Clemens: Katholische Sozialtheorie und liberale Ökonomik. Das Verhältnis von Katholischer Soziallehre und Neoliberalismus im Lichte der modernen Institutionenökonomik, Tübingen 1992. Etzioni, Amitai: Jenseits des Egoismus-Prinzips. Ein neues Bild von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Stuttgart 1994. Harbrecht, Wolfgang: Katholische Soziallehre und Soziale Marktwirtschaft, in: Lothar Bossle / Peter Kell (Hrsg.), Die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft. Festschrift für Heinrich Kürpick, Paderborn 1995, S. 135 – 150. Höffner, Joseph: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsethik, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz 12), Bonn 1985. Messner, Johannes: Die Wirtschaft in der berufsständischen Ordnung, Innsbruck 1936. Nawroth, Egon Edgar: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 2. Aufl., Heidelberg 1962. Rauscher, Anton (Hrsg.): Selbstinteresse und Gemeinwohl. Beiträge zur Ordnung der Wirtschaftsgesellschaft, Berlin 1985. – Zur Diskussion um freie und soziale Marktwirtschaft nach 1945 im Bereich der katholischen Soziallehre, in: Heinz Lampert (Hrsg.), Freiheit als zentraler Grundwert demokratischer Gesellschaften, St. Ottilien 1992, S. 1 – 17. Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, 5. Aufl., Bern / Stuttgart 1979. Rüstow, Alexander / Röpke, Wilhelm / Briefs, Götz u. a.: Was wichtiger ist als Wirtschaft. Vorträge auf der fünfzehnten Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 29. Juni 1960 in Bad Godesberg (Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft / Tagungsprotokoll, Nr. 15), Ludwigsburg 1960. Tietmeyer, Hans: Besinnung auf die Soziale Marktwirtschaft (Kirche und Gesellschaft, Nr. 285), Köln 2001. Utz, Arthur-Fridolin: Die katholische Soziallehre und die Wirtschaftsordnung, Trier 1991. Weber, Wilhelm: Person in Gesellschaft. Aufsätze und Vorträge vor dem Hintergrund der christlichen Soziallehre 1967 – 1976, Paderborn 1978.
Wirtschaft als gesellschaftlicher Lebensprozess Von Alfred Schüller I. Knappheit und die zwei Seiten des Personseins Wirtschaft und Gesellschaft sind Teilbereiche des menschlichen Lebens, die sich wechselseitig bedingen. Joseph Höffner1 betont mit der Bezeichnung „Kulturbereich Wirtschaft“ den inneren Zusammenhang des Wirtschaftens mit den gesamten menschlichen Lebensbedingungen. Die Vorstellung von einer separaten „Wirtschaft“ und „Gesellschaft“ steht im Widerspruch zum Grundverständnis christlicher Sozialethik. Danach ist der Mensch Ursprung, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen, also auch derjenigen, die darauf gerichtet sind, Sachgüter und Dienstleitungen für die menschliche Lebenserhaltung und -gestaltung bereit zu stellen. Und weil die menschlichen Ziele und Bedürfnisse die Möglichkeiten der Güter- und Leistungsbereitstellung regelmäßig übersteigen, hat das Wirtschaften den Sinn der Knappheitsminderung.
1. Moral als Anreiz- und Steuerungsmechanismus – Die Sicht von Adam Smith
Für die mit diesem Sachproblem des Wirtschaftens verbundenen Aufgaben bringt der Mensch günstige Voraussetzungen mit: Er versteht es, Schwierigkeiten zu meistern und die Konsequenzen seines Handelns zu verantworten. Er weiß, dass er die eigenen Ziele und Bedürfnisse meist wirkungsvoller fördern kann, wenn er sich auf freiwilliges Geben und Nehmen in vielfältigen Formen des Mitwissens, Mitwirkens und Mitverantwortens einlässt – im Rahmen der Wissens- und Arbeitsteilung in der Familie, in Unternehmen, wirtschaftlichen Vereinigungen und Verbänden, kulturellen, religiösen Gemeinschaften sowie in nationalen und internationalen Austauschbeziehungen. Freilich müssen sich die Tauschpartner mit ihren wechselseitigen Ansprüchen aufeinander verlassen können. Deshalb bedürfen Menschen eines gesicherten moralischrechtlich-institutionellen Handlungsrahmens. Aus dem Sachproblem wird ein Ordnungsproblem. Die Lösung sah Adam Smith (1759), der geistige Vater der modernen Nationalökonomie, zunächst einmal in Regeln der freiwilligen Selbstbeschränkung und Selbstüberwachung. Diese „Tugenden“ erwartete er vom Interesse des Einzelnen, Missbilligungen oder Beschämungen der Mitmenschen zu vermeiden – positiv ausgedrückt – Lob, Ansehen, Vertrauenswürdigkeit zu erwerben, um notfalls mit der wohlwollenden Hilfe anderer rechnen zu können. Moral entsteht aus dieser Sicht als Anreiz, Selbstüberwachung anzubieten. Das Ergebnis sind rationale imaginäre Tauschmärkte, die auf wechselseitig nützlichen „moralischen Gefühlen“ beruhen. Die ordnende Kraft 1
Höffner (1997), S. 180.
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der Regeln eigeninteressierter Selbstbeschränkung kann nach Smith freilich nur das Zusammenleben der Menschen innerhalb kleiner überschaubarer Gruppen friedlich und gerecht im Sinne von diskriminierungsfrei gestalten. In Großgesellschaften, in denen die Wissens- und Arbeitsteilung über enge Lebens- und Erfahrungsgemeinschaften hinausgeht, können die „moralischen Gefühle“ nicht mehr zuverlässig verhindern, dass Interessengegensätze gewaltsam und rücksichtslos ausgetragen werden. Deshalb bedarf es der Steuerung sozialer Prozesse im Rahmen eines weitergehenden moralisch-rechtlich-institutionellen Rahmens menschlicher Verhaltensanreize und Sanktionen. Die Bindungsbedürftigkeit der Regeln der Gerechtigkeit bezieht Smith (1776) einmal auf die Aufgabe des rechtschützenden Staates (Gewalt- und Betrugsverhinderung, Schutz des Eigentums und der Vertragsfreiheit, Sicherung der Einhaltung von Verträgen), zum anderen auf leistungsstaatliche Angebote (verlässliche Landesverteidigung, funktionsfähiges Erziehungs-, Bildungs- und Geldsystem, Fürsorge für diejenigen, die ihre eigenen Interessen nicht wahrnehmen können). Nach dieser Vorstellung von der Bindungsbedürftigkeit der Moral durch Staat und Recht erweitert sich die Lösung des Ordnungsproblems zur Aufgabe, einen Bedingungsrahmen für die friedliche Lösung von menschlichen Konflikten zu institutionalisieren, der es erlaubt, die Freiheit des Personseins vor privaten und staatlichen Machteinflüssen zu sichern. Hieraus kann der Gedanke der Wettbewerbsordnung im Sinne eines nicht-autoritären Systems sozialer Anreize und Kontrollen als Leitidee für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebensprozesses gefolgert werden. 2. Religiöse Bindungsbedürftigkeit der Moral – Die christliche Lehre
Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass – wie schon angedeutet – im Wettbewerb individueller Ideen und Lebenszwecke und knapper Mittel stets Konflikte und Versuche zu erwarten sind, sich Vorteile durch Diskriminierung anderer zu verschaffen. Abgesehen von Untugenden2, die zu einer gesellschaftlichen Belastung werden können, ist mit defektiven Neigungen zu rechnen – Diebstahl und Raub, Erpressung, Täuschung, Betrug und Ausbeutung, Vertragsbruch durch Verweigerung der Gegenleistung, mit unanständigem („opportunistischem“) Leistungsverhalten und Anspruchsdenken. Daraus kann eine moralverzehrende Realität des gesellschaftlichen Lebensprozesses werden. Für die menschliche Wissens- und Arbeitsteilung verursacht dies zusätzliche Informations-, Aushandlungs- und Kontrollkosten. Diese sogenannten Transaktionskosten können die Bemühungen um wohlstandsmehrende (kooperative) Austauschbeziehungen so erheblich verteuern, dass sie unterbleiben. Die damit angesprochene zweite Seite des Personseins ist bekanntlich nach der christlichen Lehre durchgehend im Menschen angelegt, also keine Besonderheit wirtschaftlichen Handelns. In dieser Sicht bedürfen Moralentstehung und -bindung der Gewissensbildung aus religiöser Überzeugung. Diese kann – wenn sie hinreichend eingeübt und praktiziert wird – in den Köpfen der Menschen so verankert sein, dass sie wie von selbst ihr Verhalten im gesellschaftlichen Lebensprozess prägen, also auch in der ökonomischen Realität. Diese Bindungskraft würde jedem in der offenen Gesellschaft zugute kommen, ohne dass es einen unmittelbar erkennbaren Vorteil für den Einzelnen bringt. Nach diesem dritten Verständnis der Lösung des Ordnungsproblems liegt in der Religion eine unschätzbare Quelle des Wohl2
Hochmut, Neid, Zorn, Maßlosigkeit, Habsucht, Wollust, Trägheit.
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stands und der Wohlstandsmehrung, wenn sie es vermag, in die Köpfe der Menschen ein nachhaltiges Bewusstsein für die Vorteilhaftigkeit einer friedlichen Lösung von Knappheitskonflikten zu rücken. Wenn dagegen im politischen Prozess starke Ordnungskräfte darauf hinwirken, ethoshafte Selbstverpflichtungen (Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Anständigkeit, Fairness usw.) als nachrangige Tugenden abzuwerten und in Verbindung damit die christliche Religion, die Familie und das Human-, Sach- und Finanzvermögen als Quellen des wirtschaftlichen Wohlstands verkennen, so hat dies weitreichende Nachteile für den gesellschaftlichen Lebensprozess.
3. Moral und Wirtschaftsordnung
Die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebensprozesses ist an erster Stelle eine weltliche Aufgabe. Allerdings muss den Kirchen an einer Verbindung von Freiheit und Ordnungslösung aus dem Gedanken der Person heraus mit vorstaatlichen Rechten und mit Vorkehrungen gegen gesellschaftliche Machtkräfte3 gelegen sein, die illegitime Monopolansprüche erheben, um die Rechte des Einzelnen, der Familie, von religiös-geistigen Gemeinschaften und Minderheiten zu beschränken. Zum anderen geht es um die Qualität der Wirtschaftsordnung. Hiervon hängen weithin die materiellen Grundlagen der geistigen, sittlich-kulturellen und religiösen Daseinsbedingungen der Menschen, ihrer Freiheit und Würde ab. Wirtschaft ist kein Mechanismus, vielmehr „ein vom geordneten und ordnenden Willen des Menschen zu gestaltenden Kulturprozess“4. In der Zuordnung von Person und Wirtschaft, die sich im Sinne der drei Lösungen des Ordnungsproblems der gleichgeordneten Wechselwirkung des „Moralischen und Institutionellen“5 bewusst ist, können sich die Vertreter der Katholischen Soziallehre und des ordoliberalen Denkens der Freiburger Schule auf ein gemeinsames ordnungsethisches Verständnis berufen. Es erfordert die Bereitschaft, die Funktions- und Wirkungszusammenhänge im Sinne der Sach- oder Systemgerechtigkeit einer Wirtschaftsordnung zu kennen, in der sich in Freiheit nicht nur ein ökonomisch erfolgreiches, sondern zugleich ein menschenwürdiges Leben entwickeln kann. Dabei ist mit Menschen zu rechnen, die sozial-ethisch nicht ohne Gefahr überfordert werden sollten. Unverzichtbar ist auch die Pflicht des Staates, die Unmündigen zu schützen (notfalls auch vor ihren Eltern) und für Institutionen zu sorgen, die die Tugenden des menschlichen Personseins und die Moral der Freiheit unterstützen.6 II. Wirtschaftliche Sachfragen des Personseins 1. Bedürfnisse
Menschen sind im Rahmen allgemeiner und dauernder Bedürfnisse, die moralische Gesetze entstehen ließen, auf eigene und fremde Güter und Leistungen angewiesen, um das Leben zu meistern – auf Nahrungsmittel, Getränke, Kleidung, Wohnung, Energie, 3 Majoritätsentscheidungen, demoskopische Meinungsmache, die Privatisierung der Staatsmacht durch Banden, verbandspolitische und staatliche Bürokratien. 4 Höffner (1985). 5 Röpke (1944 / 1979), S. 28. 6 Siehe Meyer (2006), S. 44 f.
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saubere Umwelt, Wissen und Orientierung durch Erziehung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung, Kirchen und Medien, auf Vorkehrungen gegen die Risiken des Daseins (Krankheit, Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Einkommensausfall). Bedürfnisse ändern sich mit dem menschlichen Wissen – hinsichtlich der biologischen Existenzbedingungen, des persönlichen Lebensstils, der Produktions- und Wohlstandsentwicklung7, in Abhängigkeit von der Einbindung in die familiäre, religiös-kulturelle, soziale und politische Handlungsumgebung. Grundlegend gewandelt hat sich das Bedürfnis nach Arbeit – nicht zuletzt unter dem Einfluss der christlichen Gesellschaftslehre. War Arbeit bei den Griechen und Römern mehr Strafe als Tugend, so beziehen inzwischen die meisten Menschen ihr Selbstwertgefühl hauptsächlich aus ihrer Integration in die Arbeitswelt. Freiheit, Freude am Leben, Lust auf Zukunft und Arbeit werden vielfach gleichgesetzt. Mit zunehmender Alterung der Gesellschaft verschieben sich Bedürfnisstruktur und Finanzierungsbedarf zugunsten der Nachfrage nach Produkten und Leistungen der Gesundheitspflege und Altersversorgung. Werden im politischen Prozess die Bedeutung der Höhe der Arbeitskosten für die Nachfrage nach Arbeitskräften und die wirtschaftlichen Konsequenzen des demografischen Wandels ignoriert, wirkt sich dies negativ auf den gesamten gesellschaftlichen Lebensprozess aus. Wenn Menschen im Hochzüchten von Bedürfnissen, in der banalen Lust am Konsumieren und Produzieren den einzigen Sinn und Mittelpunkt ihres Lebens in der Gesellschaft sehen und mit der Einstellung „Nach mir die Sintflut“ in den Tag hinein leben, dann liegt darin kein Versagen „der“ Wirtschaft. Vielmehr sind Eltern, Verwandte, Nachbarn, Lehrer, Mediziner, Geistliche, Medien, Jugendschutzverbände und alle Institutionen des sozio-kulturellen Systems herausgefordert, mit dem Bewusstmachen der Vorzüge eines maßvollen Konsumverhaltens für Bedürfnishygiene zu werben und bei den Produzenten und Medien mit dem Hinweis auf Gefahren der Kollektivschädigung die Bereitschaft für ein verantwortungsethisches Handeln zu wecken und zu stärken. „Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich“ (1. Kor 6,12). Diesem klugen Rat Geltung zu verschaffen, ist in einer Umwelt geistiger Zerstreuung und banaler Vergnügungen keine leichte Aufgabe. Von staatlichen Behörden ist vorsorgliches Eingreifen zu fordern, wenn schwerwiegende Kollektivschädigungen (negative externe Effekte) vorliegen. Vorauszuschicken ist: Im gesellschaftlichen Lebensprozess sind Einwirkungen, die bei der Produktion und Nutzung von Gütern auf unbeteiligte Dritte ausgehen, nicht immer zu vermeiden. Dann sind die zulässigen von den unzulässigen Einwirkungen zu unterscheiden. Erwünscht sind solche Einwirkungen, von denen Unbeteiligte profitieren können – etwa durch die Möglichkeit, private Wissens- und Leistungsvorsprünge nutzen oder in einem moralisch-rechtlich-institutionell gesicherten Rahmen wirtschaften zu können. Viele Zeitgenossen sind sich der Bedeutung entsprechender Regeln in ihrer positiven Tragweite für das Wirtschaften nicht bewusst. Im Gegensatz zu diesen positiven externen Effekten entsteht bei negativen Externalitäten oder sozialen Kosten das Problem, dass Hersteller und Konsumenten die nachteiligen Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf Dritte nicht berücksichtigen – bei der Verursachung von Luft- und 7 Dies zeigen in Westdeutschland nach 1948 die aufeinander folgenden Konsumwellen: Der „Fresswelle“ folgten die Kleider-, Möbel-, Eigenheim-, Reise-, Elektronik- und Kommunikationswelle, schließlich die Gesundheitswelle und die zunehmende Wertschätzung für eine saubere und besser geschützte Umwelt.
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Wasserverschmutzung, der Emission von Lärm oder Abgasen. Abhilfe kann durch Besteuerung, Auflagen, Verbote, Spezifizierung und Zuweisung von Verfügungsrechten geschaffen werden. Hierbei ist zu bedenken, dass es keine kostenlosen Alternativen gibt. Deshalb kann es klug sein, das Problem der sozialen Kosten völlig vorurteilsfrei unter Gesichtspunkten der relativen Vorteilhaftigkeit von staatlichen und marktlichen Lösungen zu entscheiden.8 Soweit die Ordnungsebenen der verantwortungsethischen Selbstbeschränkung und Gewissensbildung versagen, können ethisch verwerfliche Angebote9 die staatliche Errichtung eines mit drakonischer Strafandrohung bewehrten Schutzwalls gegen sittlichen Verfall erfordern. Nicht über das Ob, sondern über das Wie des Eingreifens ist zu streiten, wenn es z. B. gilt, Eltern und Erzieher davor zu bewahren, dass sie bei ihren Bemühungen, dem Überhandnehmen des Vulgären und Unmoralischen in den Massenmedien entgegenzuwirken, „eine Sisyphusarbeit verrichten müssen“.10
2. Intertemporale Bedürfnisentfaltung: Das Problem der Zeitpräferenz
Personsein heißt auch, mit Blick auf unsichere Lebensbedingungen Vorsorge zu treffen, auf möglichen Konsum zu verzichten, mit dem Ersparten Human-, Sach- und Finanzvermögen zu bilden und diese Quellen künftiger Einkommensströme als Grundlage der Existenzsicherung und Zukunftsvorsorge für sich, die Familie und andere zu nutzen. Regelmäßig werden gegenwärtige Bedürfnisse und Güter höher geschätzt als künftige. Die Zeitpräferenzrate ist also positiv. Die Höhe wird allerdings von der Qualität der Wirtschaftsordnung beeinflusst. Sozialistische Ordnungskonzepte neigen dazu, dem individuellen Sparen die Qualität abzusprechen, als Quelle des Wohlstands und der Zukunftssicherung zu dienen. Zwangssparen im Dienste staatlicher Ziele wird vorgezogen. Auch im Anschluss an Gedanken des englischen Ökonomen John M. Keynes wurden der Wert des Sparsinns der Menschen bestritten und in einem vom Staat beschleunigten Rückgang des individuellen Sparens die entscheidende Voraussetzung gesehen, um eine als unbillig bezeichnete Verteilung des Reichtums und der Einkommen zu beseitigen. Dem Personsein entspricht dagegen eine hohe Eigenverantwortlichkeit bei der Aufteilung des Einkommens zwischen unterschiedlichen Vorsorgezeiträumen – nach dem Prinzip der Einheit von persönlicher Freiheit und Verantwortlichkeit, der freiwilligen Solidarität im Sinne des Versicherungsgedankens bei allen Menschen, die üblicherweise verantwortlich gemacht werden können. Um die Gemeinschaft vor moralischem Fehlverhalten zu schützen, ist eine Mindestversicherungspflicht für jedermann unverzichtbar. Bei der Bemessung der Höhe besteht allerdings im Wettbewerb der Parteien um die Gunst der Wähler die Gefahr, dass der Gedanke eines fürsorglichen Versicherungszwangs für eine maßlose Bevormundung aller durch die Mehrheit missbraucht wird. Die deutschen Systeme der sozialen Sicherung beruhen im Wesentlichen auf einer Kombination von Zwangsversicherungspflicht mit einem staatlich gelenkten UmlageSiehe Wegehenkel (1981). Abtreibung, Rauschgift, Pornographie, pädophile Übergriffe, menschenverachtende, gewaltverherrlichende oder -verharmlosende Spiele, Filme, TV-Sendungen und Schriften, Auftragsmorde, Kinderhandel usw. 10 Siehe Meyer (2006), S. 45. 8 9
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und Umverteilungsverfahren. Inzwischen lässt sich das, was spätestens seit den 70erJahren des vorigen Jahrhunderts erkennbar war, nicht mehr in Abrede stellen, nämlich wie stark mit der versorgungsstaatlich motivierten Aushöhlung des Versicherungsgedankens die Last der erwerbsfähigen Generation angestiegen ist und wie schwer die Beitragslasten sind, die in Zukunft von den Erwerbstätigen oder von allen Bürgern durch erhöhte steuerfinanzierte Bundeszuschüsse getragen werden müssen. Die vorherrschende Ordnung der sozialen Sicherung, ihre Bindung an das Arbeitsverhältnis und der Beitragseinzug im Quellenabzugsverfahren könnten im Prozess des kollektiven Lernens die Zeitpräferenzrate der Zwangsversicherten künstlich erhöht, also ihren Vorsorgehorizont verkürzt haben. Von einer Stärkung der Versicherungskomponente der sozialen Sicherungssysteme in Verbindung mit einer erweiterten Kapitalmarktbindung eigenverantwortlicher Vorsorgebemühungen wird vielfach eine Vermögens- und Bedürfnisgestaltung erwartet, die eine vorsorglichere Gestaltung der Zeitpräferenzrate begünstigt und frühzeitiger auf den demografischen Wandel reagiert.11
3. Handeln nach dem Klugheitsprinzip
Im Umgang mit dem Knappheitsproblem ist es vernünftig, aus den verfügbaren Mitteln – auch mit Blick auf den zeitlich ferner liegenden Bedarf – möglichst viel zu machen. Wer z. B. zu entscheiden hat, ob, an welcher Stelle und wann eine Brücke gebaut werden soll, wird den höchstmöglichen Nutzen für die Region anstreben. Von diesem wirtschaftlichen „Rationalprinzip“ ist die technische Frage zu unterscheiden: Wie kann mit der Brückenkonstruktion ein Wirkungsgrad erreicht werden, der der Zielvorgabe am besten gerecht wird? Das wirtschaftliche Prinzip, dem auch das Subsidiaritätsprinzip zugeordnet werden kann, besagt nichts über das Handlungsmotiv. Wie überall können auch hier ökonomische Vernunft und christlicher Glaube auf vielfältige Weise zueinander finden. Wer bescheidene materielle Ansprüche hat, gar als Mönch dem Gelübde der Armut und der Askese verpflichtet ist, wird trotzdem die ergiebigste Form der Bewirtschaftung von Produktionsstätten bevorzugen. So bleibt mehr Zeit für Meditation und geistige Entwicklung, es kann mehr für Bedürftige und menschliche Zuwendung getan werden. Wer die Technik voranbringt, die Herstellungsprozesse der für notwendig angesehenen Güter im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der Güter und Leistungen mit umsichtiger Klugheit rationalisiert, kann sich hierbei im Dienste eines transzendenten Wirklichkeitsverständnisses sehen. Die Methoden, die Menschen wählen, um ökonomisch zu handeln, sind in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen anzutreffen. Die Ergebnisse hängen allerdings entscheidend von der Qualität der Wirtschaftsordnung ab. Ausdruck des Klugheitsprinzips ist auch die Bereitschaft, die Fernwirkungen menschlichen Handelns zu bedenken, Ordnungsbedingungen den Vorzug zu geben, die möglichst ungewollt und unbewusst das Eigeninteresse in den Dienst des Wohls der Allgemeinheit stellen. Der Gleichklang des Moralischen und Institutionellen fordert von denjenigen, die für Wahl und Fortentwicklung der verhaltensbestimmenden Regeln verantwortlich sind, dass der Einzelne nicht in Versuchung geführt wird, in Kollektivschädigungen seinen Vorteil zu finden. Damit ist in folgenden Fällen zu rechnen: Es kann 11
Siehe Beiträge in Goldschmidt (Hrsg.) (2008).
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ohne hinreichende Haftung entschieden und mitbestimmt werden.12 Es ist möglich, mit stumpfem Bleistift zu kalkulieren und mit „weichem“ Leistungsverhalten das Einkommen zu erhöhen. Mit einem phantasievollen Anspruchs- und Mitnahmedenken können Staat und Mitbürger geschädigt werden. Anfällig für solche Verhaltensweisen sind Formen des Wirtschaftens, in denen der marktpreisgesteuerte Wettbewerb als System sozialer Kontrollen der Interessen ausgeschaltet oder beschränkt ist. Nicht durch soziale Absichten, sondern durch die nüchtern-sorgfältige Beachtung der Funktions- und Wirkungszusammenhänge im Sinne der Sach- oder Systemgerechtigkeit zeichnet sich verantwortungsethisches Handeln aus, das vom Anspruch der Gleichrichtung des Moralischen und Institutionellen geleitet ist. Erfahrungsgemäß können es sich politische Parteien eher leisten, ihre Wähler irrezuführen und zu enttäuschen als Firmen ihre Kunden, wenn es für den politischen Wettbewerb an vergleichbaren Regeln mangelt, die den wirtschaftlichen Wettbewerb ordnen. Diese Erkenntnis ist für eine Beurteilung von Markt und Staat als alternative Systeme der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu bedenken, bei denen es nicht um öffentliche Güter geht.13 Selbst bei der genuin staatlichen Aufgabe, Institutionen zu schaffen, die notwendig sind, um eine Soziale Marktwirtschaft zu realisieren und funktionsfähig zu machen, ist immer wieder mit einem Versagen des politischen Wettbewerbs zu rechnen. Demokratie mit unbeschränkter Macht der Mehrheit ist unter dem Druck privilegierter Interessengruppen kein zuverlässiger Garant für die Durchsetzung freiheitssichernder Regeln, wie sie das menschliche Personsein im hier verstandenen Sinne verlangt. Es entspricht deshalb dem Klugheitsprinzip, wenn entweder in der Verfassung oder in der öffentlichen Meinung anerkannt wird, dass die universellen Rechte des Personsein die Beschränkung der Macht auch für die Repräsentanten der Mehrheit erfordern.
III. Der gesellschaftliche Lebensprozess als Tausch-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft 1. Wissen und Anreize
Der Mensch als tauschendes Wesen muss wegen der universellen Bedingtheit der Knappheit auswählen. Hierbei ist es klug, den entgangenen Nutzen der nicht gewählten Alternativen zu berücksichtigen. Dieses Denken in „Opportunitätskosten“ bedeutet: Es gibt nichts zum Nulltarif; es entstehen unbewusst und ungewollt mehr Sozialkontakte als die sichtbaren erkennen lassen. Die implizite Tauschgemeinschaft ist größer als die explizite. Wie lassen sich aber die Vor- und Nachteile des Einsatzes vorhandener Mittel in unterschiedlichen Verwendungen unter Einbeziehung des Wissens, das über zahllose Menschen verstreut ist, abschätzen? Und wie können die Menschen dazu gebracht werden, ihr Wissen in die Tauschgemeinschaft so einzubringen, dass die Gelegenheiten entdeckt und genutzt werden können, die im Austausch für das, was jemand anzubieten hat, mehr erwarten lassen, als anderweitig erreichbar erscheint? Mit dem, was der Einzelne Zu diesem Problem des Managerismus siehe Schüller (2007). Bei öffentlichen Gütern herrscht Nicht-Rivalität im Konsum, demzufolge kann – wie im Falle der Landesverteidigung, des Rechtsschutzes, grundlegender Bildungseinrichtungen, einer stabilen Währung – niemand von der Nutzung ausgeschlossen werden. Der Anreiz für ein privates Angebot ist hierbei unzureichend. Der Staat ist gefordert. 12 13
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immer nur bruchstückhaft weiß, kann er auch nicht annähernd alle Bedürfnisse und Wünsche der vielen Menschen und den sich daraus ergebenden Bedarf an Gütern nach Qualität und Menge unmittelbar erfassen. Auch überblickt der Einzelne bei weitem nicht alle angewandten und anwendbaren technischen und organisatorischen Möglichkeiten der Produktion, nicht alle Rohstoffvorkommen, die Bestände an Sachkapital und Finanzierungsmöglichkeiten. Gleichzeitig zeigt der Alltag gesellschaftlicher Lebensprozesse, wie sich nur durch die Mitnutzung des Wissens, der Sachkenntnis, Geschicklichkeit und Erfahrung unzähliger anderer die Chancen für die Lebenserhaltung und -gestaltung verbessern lassen. Der Preis ist eine weitreichende Abhängigkeit des Einzelnen von Ordnungsbedingungen oder Institutionen, die als stabilisierte Verhaltenserwartungen geeignet sind, den Einzelnen in den arbeitsteiligen Tauschverkehr und das gemeinsame wirtschaftliche Handeln verlässlich zu integrieren. Damit wird deutlich, dass es bei den Sach- und Ordnungsproblemen des Wirtschaftens darum geht, Prozesse der Wissensschaffung und Wissensverarbeitung zu gestalten. Hierfür kommen zwei unterschiedliche Lösungen in Frage. Ihre Bedeutung für das menschliche Personsein im gesamten gesellschaftlichen Lebensprozess kann nicht überschätzt werden.
a) Zentrale Wissensverarbeitung und Leistungsstimulierung Die erste Lösung des Wissensproblems besteht in dem Versuch, die Menschen mit Hilfe materieller und immaterieller Anreize dazu zu bewegen, ihr Wissen in den Dienst eines politisch gesteuerten kollektiven Befehls-Zuteilungs-Systems zu stellen. Die Rangfolge menschlicher Bedürfnisse ist im Wesentlichen ebenso vorgegeben wie Art und Ausmaß ihrer Befriedigung. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Lebensprozess ist damit weitgehend determiniert. Die zugrunde liegende Gesellschaftslehre sieht es als vornehmste Aufgabe an, den Menschen in seinem Personsein ganz zu erfassen und ihm auf Jahre hinaus zu sagen, was er planmäßig tun soll und was nicht. Dieser Versuch, den Menschen umfassend zu verstaatlichen, bedient sich der Sozialtechnik der Zentralverwaltungswirtschaft. In dieser sind staatlich gesetzte Preise eine systemnotwendige Form der Bewertung von Gütern und Leistungen. Und ein zuviel oder zuwenig an Zahlungsmitteln (im Sinne von Inflation und Deflation) vermag die Preise ebenso wenig wie die Lenkung des Wirtschaftsprozesses im Hinblick auf Art, Menge und Qualität des Angebots entsprechend den Käuferpräferenzen zu verändern. Die Anhänger dieser Gesellschaftslehre mögen dies für gerecht halten. Die Menschen reagieren jedoch überall auf den staatlichen Preis- und Zahlungsmitteldirigismus mit einem leistungsschwächenden, leistungsverfälschenden und leistungsverschwendenden Verhalten. Die daraus entstehenden Kollektivschädigungen erhalten auch aus folgendem Grund systematischen Charakter: Wegen der politisierten staatlichen Preisbildung ist die Bestimmung der Tauschwerte in einem einheitlichen knappheitsorientierten gesellschaftswirtschaftlichen Rechnungszusammenhang unter Beachtung des Alternativkostenprinzips ausgeschlossen, damit auch kluges Investieren, Produzieren und Konsumieren. Die vorherrschenden Normen und Regeln berühren lebenswichtige Interessen und Handlungsmöglichkeiten der Menschen in einer Weise, die ein illegales Wirtschaften mit wohlstandshemmenden Begleiterscheinungen von Beziehungswirtschaft, Korruption und Verkümmerung der Arbeitsteilung nahelegen. Auf strengere Maßnahmen, die da-
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gegen ergriffen werden, reagieren die Menschen findig mit Verhaltensweisen, die ihren Interessen unter den neuen Bedingungen entsprechen. Solche defektiven gesellschaftlichen Lebensprozesse tauchen auch in Marktwirtschaften auf, wenn die Selbstinteressiertheit der Menschen nicht durch eine Wirtschaftsrechnung auf der Grundlage von wettbewerblichen Marktpreisen und entsprechenden Institutionen kanalisiert wird.
b) Dezentrale Wissensverarbeitung und Leistungsstimulierung Die zweite Möglichkeit, mit dem Wissensproblem umzugehen, besteht darin, das verstreute menschliche Wissen spontan über Märkte und Preise zu koordinieren. Die zugrunde liegende Gesellschaftslehre versucht, den Menschen in seinem Personsein systematisch durch den Rechtsschutzstaat vor Übergriffen durch den Staat und andere gesellschaftliche Kräfte zu bewahren und durch den Leistungsstaat einen günstigen Entfaltungsrahmen zu schaffen.14 Auch mit dieser Art der Wissensschaffung und -nutzung erhält der gesellschaftliche Lebensprozess ein eigenständiges Gepräge. Freie Preise sind die systemnotwendige Grundform der Marktwirtschaft, wobei die Preisbildung den Charakter eines Prozesses hat, der von Faktoren der Marktstruktur15 und des Marktverhaltens16 beeinflusst ist. Für die Qualität der Preisbildung sind geldwerte Zahlungsmittel eine Potenz von überragender Bedeutung. Es gibt kaum ein wirksameres Mittel, die bestehenden Grundlagen einer effizienten freiheitlichen und menschenwürdigen Gesellschafts- und Staatsordnung zu zerstören, als die Geldwirtschaft durch Inflation oder Deflation mit ihren negativen Lenkungs- und Verteilungswirkungen zu untergraben. Das Vertrauen der Menschen in die Stabilität der Kaufkraft des Geldes ist ein Indiz für die Verlässlichkeit der Institutionen, die gegenseitiges Handeln im arbeitsteiligen Gesamtprozess berechenbar machen. Preisgesteuerte Tauschbeziehungen und daraus hervorgehende Zahlungen bilden im Zusammenwirken und im ständigen Wandel der Faktoren der Marktstruktur und des Marktverhaltens mit den moralisch-rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens ein System – im Sinne einer sozialen Integration der Menschen in eine Tausch-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft (Wilhelm Röpke). In dieser können unzählige Bedürfnisse und Fakten bis in die feinsten Verästelungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses hinein aufgespürt werden. Zugleich vermitteln Marktpreise Informationen und Anreize, um das eigene wirtschaftliche Tun unter Abwägung der Alternativkosten dem Handeln aller anderen Menschen je nach Gegebenheiten und Erwartungen anzupassen. Nicht übersehen werden darf, dass der Ausgangspunkt hierbei immer das Wissen ist, das einzelne Mitglieder der Gesellschaft durch Versuch und Irrtum gewinnen und je nach Geltungsbereich der Tausch-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft zugunsten einer unübersehbaren Zahl von Menschen verfügbar machen können. Dieser Prozess der Vergesellschaftung menschlichen Wissens, Könnens und Wollens nimmt heute vielfach den Charakter einer weltweiten Tausch-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft an. Siehe Buchanan (1984); Watrin (1985). Zahl und Marktgewicht der Verkäufer und Käufer, Unternehmens- und Branchendynamik, Gütereigenschaften, Offenheit des Marktzugangs. 16 Tauschpartner können initiativ oder immobil sein, Unternehmen können unterschiedliche Preis- und Wettbewerbsstrategien verfolgen. 14 15
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Alfred Schüller 2. Wirtschaftliche Freiheit und Ungewissheit
Für den Informationsgehalt und die Anreizwirkung wettbewerblicher Marktpreise sind nicht nur die Preise von gestern und heute, sondern letztlich, wenn es um deren Lenkungsfunktion geht, immer auch erwartete Preise ausschlaggebend. Die dahinter stehenden unternehmerischen Dispositionen rühren von unzähligen Einschätzungen des Bedürfniswandels, der Entwicklung der Knappheits- und der Wettbewerbsverhältnisse auf der Nachfrage- und der Angebotsseite her und schlagen sich in aufsteigenden, stagnierenden und absteigenden Unternehmen und Branchen nieder – etwa im Gefolge der Schwerpunktverlagerung der Bedürfnisse von der landwirtschaftlichen, zum gewerblich-industriellen Sektor und schließlich verstärkt zum Dienstleistungsbereich hin. Sparen als Vorsorge für die künftige Bedürfnisbefriedigung beruht auf der Erwartung, nicht nur heute bekannte Güter, sondern auch solche kaufen zu können, die erst künftig angeboten werden. Wer spart, fragt Güter nach, die er noch nicht kennt, will damit künftige Teilhabemöglichkeiten sichern. Diese Erwartungen erfordern ein unternehmerisches Handeln, das den Ausbau eines Produktionsapparates ermöglicht, der bei veränderlichen Präferenzen und heterogenen Akteuren in der Konsum- und Investitionssphäre geeignet erscheint, die Güterversorgung und den mit dem Sparen begründeten Vermögensbildungsanspruch in der Zukunft zu verbessern. Soll es bei der intertemporalen Koordination wirtschaftlichen Handelns nicht zu strukturellen Diskrepanzen zwischen Sparen und Investieren mit negativen Wirkungen auf Beschäftigung und Einkommensentwicklung der Bevölkerung kommen, ist – beginnend bei der Ausbildung junger Menschen in Schule und Beruf – die Aufgabe einer anpassungsfähigen, produktiven Gleichrichtung des Verhältnisses von Freiheit, Wettbewerb und sozialer Sicherheit eine ständige Herausforderung für den „geordneten und ordnenden Willen des Menschen“.17 Bei dieser Aufgabe ist zu beachten, dass die freiheitlichen Dimensionen des Personseins an die Bedingung eines Wissens geknüpft sind, das auf Vermutungen beruht, also nicht irrtumsfrei ist. Deshalb können Einrichtungen wie Unternehmen im Wettbewerb der Ideen und Handlungspotentiale scheitern. Um so wichtiger ist es, dass leitende Persönlichkeiten durch angemessene Haftungsvorschriften dazu veranlasst werden, die Märkte vorsichtig abzutasten und umsichtig zu disponieren.18 Soweit wir uns von diesem Anspruch in Deutschland zum Nachteil der Personen und Institutionen entfernt haben, die über entsprechende Möglichkeiten der Vorteilsgewinnung aus Haftungsbeschränkung nicht verfügen, sind angemessene Reformen anzumahnen.19 3. Preis- und Konkurrenzängste und das Streben nach wirtschaftlicher Gewissheit
Ein noch so verantwortungsbewusster unternehmerischer Umgang mit dem Preissystem kann enttäuschte Vermögens- und Einkommenserwartungen nicht ausschließen. Eine daraus folgende verbreitete „Preisangst“ verleitet im Wettbewerb der Parteien um Wähler immer wieder dazu, mit Hilfe von behördlichen, privat- oder verbandsmono17 18 19
Siehe Höffner (1986), S. 34 ff. Siehe Eucken (1952 / 1990), S. 279 ff. Siehe Schüller (1987), S. 63 ff.
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polistischen Preissetzungen (Höchst- und Mindestpreisen) und systematischen Wettbewerbsbeschränkungen Einkommensgerechtigkeit (im Sinne von Einkommensgewissheit) unabhängig vom Marktgeschehen zu schaffen. Schon die scholastische Wirtschaftsethik hat messerscharf die wirtschaftlichen, sozialen und ethischen Nachteile des Preisinterventionismus und von Wettbewerbsbeschränkungen herausgearbeitet. 20 Dieser Erkenntnisstand droht immer wieder verloren zu gehen. Höchstpreise, die unter dem Marktpreis zugunsten unterer Einkommensschichten festgesetzt werden, beziehen sich vor allem auf Grundnahrungsmittel, Wohnungsmieten, Verkehrstarife, kulturelle Angebote, Pacht- und Kapitalmarktzinsen, Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung, auf Löhne für Höherqualifizierte, aber auch auf überbewertete Wechselkurse. Regelmäßig wird die Versorgung verschlechtert. Beziehungswirtschaft, schwarze Märkte, Verzerrungen in den binnen- und außenwirtschaftlichen Produktions- und Austauschbeziehungen vergrößern die Versorgungslücken. Die Interventionsspirale dreht sich mit rasch fortschreitender Bürokratisierung des Wirtschaftsgeschehens immer schneller. Der Spielraum für Diskriminierungen, Freiheitsbeschränkungen und soziale Konflikte wird größer. Wechselkurse als Höchstpreise wirken wie subventionierte Importe und besteuerte Exporte. Die Überbewertung verleitet zu einer knappheitswidrigen Kapitalintensivierung der Produktion – Menschen mit geringerer Qualifikation droht Arbeitslosigkeit. Einer profitablen Exportwirtschaft und effizienten Kapitalverwendung wird entgegengewirkt. Wechselkursbedingt übersteigt die Devisennachfrage das Devisenangebot. Dies erfordert administrative Einfuhrentscheidungen nach politischen Kriterien. Willkür, Korruption, Bestechung Kapitalflucht sind an der Tagesordnung. Diese und andere Ausweichhandlungen drohen dann in der politischen Rhetorik kriminalisiert zu werden. Nicht nur mögliche Eigenersparnisse gehen dem nationalen Finanzierungspotential verloren, auch Auslandsgläubige werden um das Land einen Bogen machen. Aufgrund systematischer Fehlallokationen mangelt es an Perspektiven internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Mindestpreise oberhalb der Knappheitspreise sollen die Anbieter durch Einkommenssicherung privilegieren – etwa im Bereich der Agrarproduktion (zur Herstellung von „Einkommensparität“), der Arbeitsmärkte (zugunsten der unteren Lohngruppen) und der Wechselkurse mit dem Ziel einer Unterbewertung der eigenen Währung. In der Landwirtschaft entstehen Verzerrungen der binnen- und außenwirtschaftlichen Produktions- und Austauschbeziehungen (Überproduktion, Verkauf zu subventionierten Schleuderpreisen auf dem Weltmarkt, erhöhter Einfuhrschutzbedarf, Behinderung der Integration aufstrebender Länder in eine wohlstandsfördernde internationale Arbeitsteilung mit Hilfe von Agrarexporten). Die Lösung des Ernährungsproblems dieser Länder aus eigener Kraft wird erschwert. Auf dem Arbeitsmarkt werden arbeitssparende Innovationen und Investitionen begünstigt. Die ausgeschlossenen Arbeitskräfte werden diskriminiert, wenn sie nicht zu den Arbeitskosten beschäftigt werden können, zu dem Arbeit verfügbar wäre. Auch Menschen mit einem viel versprechenden Leistungsvermögen werden frühzeitig freigesetzt. Die Frühverrentung belastet auch die Allgemeinheit mit hohen Kosten. Im gesellschaftlichen Kontext der Mindestlohnarbeitslosigkeit wird gerade für minderqualifizierte Arbeitskräfte und deren Nachkommen die soziale Integration durch Arbeit und durch Anreize zur Wahrnehmung von Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten erschwert. Bemühungen um ein immer dichter geknüpftes 20
Siehe Höffner (1941).
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Netz von Kursen, Beratungs- und Vermittlungsagenturen sind im Ergebnis oft nur ein Programm, um Sozialarbeiter und Bürokraten zu beschäftigen. Wechselkurse als Mindestpreise wirken wie eine Exportsubvention und eine Importbesteuerung, begünstigen eine künstliche Gewinnexpansion und Überdimensionierung der Beschäftigung und der Lohnentwicklung in der Exportwirtschaft, die meist auch auf Branchen mit geringerer Lohnzahlungsfähigkeit ausstrahlt, wie dies seit Ende der 50erJahre in Westdeutschland zu beobachten war. Mit der marktmäßigen Wechselkursbildung ab 1971 / 1973 ist aus der Korrektur der Folgen einer wechselkursbedingten Überdimensionierung der Exportwirtschaft ein verfestigtes Arbeitslosenproblem hervorgegangen. 4. Gerechtigkeit nach Verdienst – Gerechtigkeit nach Bedarf
Die kaufkräftige Nachfrage kann aus folgenden Quellen stammen: Erstens aus Erwerbseinkommen (Human-, Sach- und Finanzvermögen als Quellen), aus häuslicher Eigenproduktion, Nachbarschaftshilfe, aus dem Leistungsaustausch in Selbsthilfegruppen und aus Vorkehrungen der freiwilligen Solidarität als tätige Nächstenliebe des Einzelnen oder in gemeinschaftlichen Formen (Caritas usw.); zweitens aus Einrichtungen der staatlich organisierten Solidarität als Hilfe für jene, die mittellos sind und nicht auf ein Einkommen zurückgreifen können, das aufgrund von gesellschaftspolitischen Normen der Bedarfsnotwendigkeit als ausreichend angesehen wird. Das Verhältnis dieses Transfereinkommens (als Ergebnis einer Einkommensumverteilung) zum Erwerbseinkommen, von Gerechtigkeit nach Bedarf zur Gerechtigkeit nach Verdienst, reflektiert die Art und Weise, wie Bedürfnisse und Bedarf als Leistungs- und Verteilungsanspruch der Menschen in der Gesellschaft wahrgenommen und z. B. durch Politik, Verbände und Staat beeinflusst werden. Wie weit sollen sich die persönlichen oder familiären Ausgaben nach den individuellen Einnahmen, wie weit die Einnahmen nach den Ausgaben richten, die nach Gesichtspunkten der distributiven Gerechtigkeit für notwendig erachtet werden? Der Versuch, die Frage der Bedarfsgerechtigkeit einseitig durch politische und wirtschaftliche Machtausübung zu entscheiden, wurde bis 1989 in der DDR praktiziert. Hier bestand mit einem Anteil der Staatsausgabenquote von nahezu 100 % vom Bruttoinlandsprodukt eine vollständige Trennung von individueller Produktionsleistung und individuellem Verteilungsanspruch. Der Preis dieser extremen Form einer erzwungenen Solidarität mit dem Ziel einer politisch-bürokratischen Zuteilung von Lebenschancen nach dem Egalitätsprinzip bestand – von Nischen abgesehen – in einem quasi-militärisch geordneten Gesellschaftsaufbau mit einer Politisierung und Verstaatlichung aller gesellschaftlichen Einrichtungen und Lebensprozesse. Die SED sah darin den entscheidenden Weg zur Versittlichung der Gesellschaft. In Westdeutschland vor 1989 und danach in Deutschland insgesamt kann (mit einer Staatsausgabenquote von 45 bis 50 %) im Verhältnis von Produktionsleistung und Verteilungsanspruch annähernd von einer Halbierung ausgegangen werden. Auch ein System des Mangels, der Einbindung der Menschen in repressive politische Strukturen, ihre ohnmächtige Gewöhnung an eine Gesellschaft, die sich von oben definiert, wie die DDR bis 1989, scheint bis heute zumindest unbewusst orientierend zu wirken, wenn Ergebnisgleichheit vielfach der wirtschaftlichen Freiheit vorgezogen wird. Politische, kulturelle und religiöse Freiheiten in der Demokratie garantieren keineswegs einen
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Gleichlauf in wirtschaftlichen Ordnungsfragen. Nirgendwo sonst sind freiheitliche Bestrebungen stärker von der Bereitschaft bedroht, sich der staatlichen Daseinsvorsorge zu unterwerfen, als in Ordnungsfragen der Wirtschaft. Diese Beobachtung haben die ordnenden Kräfte der Gesellschaft zu bedenken, wenn die Frage nach sozialschädlichen Rückwirkungen auf das Leistungsprinzip unter den Ordnungsbedingungen von Demokratie und Marktwirtschaft zu beurteilen und geeignete Grundsätze hierfür zu entwickeln sind: Bei den Transferempfängern sollte der Anreiz zu eigenen Einkommens- und Vorsorgebemühungen, zur Übernahme einer aktiven Rolle in der Gesellschaft möglichst nicht geschwächt, sondern nachhaltig gestärkt werden. Eine Gewöhnung an Transfereinkommen in der Gesellschaft, die die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Begünstigten schädigt und eine intergenerative Fortpflanzung der Bedürftigkeit begünstigt, sollte vermieden werden. Erhöhte Transfereinkommen sind von einer Kürzung der verfügbaren Erwerbseinkommen im Gefolge einer wachsenden Steuer- und Abgabenbelastung begleitet. Davon sollten keine negativen Wirkungen auf Beschäftigung und Einkommenswachstum ausgehen. Die tatsächlich oder vermeintlich Belasteten sollten keinen Anreiz erhalten, sich durch Aufnahme in den Kreis der Begünstigten zu entlasten. Wenn der Kreis der unbeabsichtigt Begünstigten und der Nichtbedürftigen größer wird und mit der Höhe und Sicherheit der Transferzahlungen die Zahl der Bedürftigen zunimmt, droht eine Gefahr, die „Samariter-Dilemma“21 genannt wird. Es gilt zu verhindern, dass aus einer maßlosen Verschiebung von der Erwerbsgesellschaft zur Transfergesellschaft das Gesamteinkommen schrumpft und tiefgreifende Wirkungen auf den Handlungsspielraum für menschliche Selbstorganisation, Selbstverantwortung, private Wohltätigkeit und den gesamten gesellschaftlichen Lebensprozess ausgehen. Begriffe wie „soziale Gerechtigkeit“ und Solidarität (im Sinne von staatlich organisierter Solidarität) sollten deshalb nicht als politische Waffe benutzt werden, um Transferleistungen der Kritik zu entziehen.
IV. Das Konzept des gerechten Preises Auf der Grundlage von Euckens Denken in alternativen Ordnungen ist Höffner (1985, 1996) zu der Erkenntnis gekommen: Freiheit, Würde und Wohlstand des Menschen hängen weithin vom Ordnungssystem der Wirtschaft ab. Einseitig verteilungspolitisch legitimierte Systeme können dem nicht gerecht werden. So baute das System der DDR auf einer Zielhierarchie auf, die aus den Bedürfnissen der Bevölkerung eine Randerscheinung, aus den Bedürfnissen der politisch Herrschenden einen gesellschaftlichen Allmachtsanspruch machte. Mit der Aufhebung der persönlichen Freiheit und Verantwortlichkeit, mit der wirtschaftlich-sozialen Entrechtung der Menschen sind die Quellen des Wohlstands in Ostdeutschland versiegt. 21 Erfahrungsgemäß wächst mit der Höhe der Durchschnittseinkommen und der daran – im Sinne eines relativen Armutsbegriffs – gebundenen Transferzahlungen die Zahl der „Bedürftigen“, damit statistisch auch die Zahl der Armen (siehe Buchanan (1984)). Soll das vermieden werden, empfiehlt sich eine Orientierung an einem absoluten Armutsbegriff, der sich auf einen zum Leben notwendigen Warenkorb bezieht und berücksichtigt, dass die Höhe der Transfereinkommen nicht dem lohnenden Anreiz entgegenstehen sollte, arbeiten zu gehen und eigenverantwortlich nach Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten Ausschau zu halten.
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Mit knappheitswidrigen Eingriffen in die wettbewerbliche Preisbildung, mögen sie noch so nachdrücklich als verteilungsgerecht gefordert und machtvoll durchgesetzt werden, geraten die Menschen – wie Höffner im Anschluss an den Erkenntnisstand der Scholastik des 15. und 16. Jahrhunderts feststellt – in gesellschaftliche Situationen, in denen sie sich durchaus rational verhalten, wenn sie damit Ergebnisse hervorrufen, die ihnen selbst und der Gesellschaft als Ganzes auf Dauer schaden. In solchen „sozialen Dilemma-Situationen“ 22 nimmt schließlich das bekämpfte „Übel“ immer größere Ausmaße an. Werden die Fehlentwicklungen nicht den Interventionisten angelastet, sondern ihrem Zögern, weitergehende Eingriffe vorzunehmen, wird die Bereitschaft in der Gesellschaft zunehmen, die Ausweichhandlungen der Wirtschaftssubjekte (kreative Umgehungsmöglichkeiten und Korruption) zu kriminalisieren. Die Auflösung oder die Fehlsteuerung des Preissystems führen zu einer Auflösung der gesellschaftswirtschaftlichen Zusammenarbeit, zur wirtschaftlichen und sozialen Desintegration. Daran gemessen ist das ethisch-moralische Element wesentlicher Bestandteil einer funktionsfähigen Marktpreisbildung. Mit der Vorstellung von fairen oder „gerechten“ Preisen haben die Scholastiker jene Erkenntnis vorweggenommen, die die Freiburger Schule – weit über die Lehre von Smith hinausgehend – in den größeren Zusammenhang konstituierender und regulierender Prinzipien einer „Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs“ als Aufgabe einer moralschonenden Gestaltung des gesellschaftlichen Lebensprozesses gestellt hat.23 Das religiös-sittliche und das ordnungsökonomische Anliegen beider Konzepte besteht darin, die Freiheit der Individuen vor privatwirtschaftlichen und staatlichen Machteinflüssen zu sichern.
Literaturverzeichnis Buchanan, James M.: Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan, Tübingen 1984. Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1. Aufl. 1952, 6. Aufl., Tübingen 1990. Goldschmidt, Nils (Hrsg.): Was ist Generationengerechtigkeit? (Ordnungs-)ökonomische Antworten, Tübingen 2008. von Hayek, Friedrich A.: The Use of Knowledge in Society, in: The American Economic Review, Vol. 35, No. 4, 1945, S. 519 – 530. – Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, Tübingen 2002. Höffner, Joseph: Wirtschaftsethik und Monopole im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, Jena 1941. Höffner, Joseph Kardinal: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsethik. Richtlinien der Katholischen Soziallehre. Eröffnungsreferat bei der Herbstversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda, 23. September 1985. – Die Weltwirtschaft im Licht der Katholischen Soziallehre, in: Lothar Roos (Hrsg.), Stimmen der Kirche zur Wirtschaft, Köln 1986, S. 34 – 49. – Christliche Gesellschaftslehre, Kevelaer 1997. Meyer, Wilhelm: Poppers Zweites Problem der Sozialphilosophie, ORDO, Bd. 57, 2006, S. 41 – 45. 22 23
Siehe Watrin (1999). Siehe Eucken (1952 / 1990).
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Rauscher, Anton: Kritische Anfragen der christlichen Gesellschaftslehre an liberale und sozialistische Ordnungsvorstellungen, in: Gernot Gutmann / Alfred Schüller (Hrsg.), Ethik und Ordnungsfragen der Wirtschaft, Baden-Baden 1989, S. 299 – 308. Röpke, Wilhelm: Civitas humana, 1. Aufl. Erlenbach-Zürich 1944, 4. Aufl., Bern 1979. Schüller, Alfred: Unternehmenshaftung, Wirtschaftsrechnung und Wettbewerbsordnung, in: Manfred Borchert / Ulrich Fehl / Peter Oberender (Hrsg.): Markt und Wettbewerb, Bern / Stuttgart 1987, S. 63 – 92. – Arbeitslosigkeit als Dauerzustand? Unternehmensverhalten und Beschäftigung unter dem Einfluss „interessenpluralistischer“ Ordnungskonzepte, in: Frank Daumann / Chrysostomos Mantzavinos / Stefan Okruch (Hrsg.), Wettbewerb und Gesundheitswesenfrage: Konzeptionen ordnungsökonomischen Wirkens, Budapest 2007. Smith, Adam: The Theory of Moral Sentiments, London 1759. – An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776. Watrin, Christian: Staatsaufgaben – Die ökonomische Sicht, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Heft 2, 1985, S. 131 – 159. – Soziale Dilemmata und Ordnungspolitik, in: Alfred Schüller / Christian Watrin (Hrsg.), Wirtschaftliche Systemforschung und Ordnungspolitik, Stuttgart 1999, S. 35 – 54. Wegehenkel, Lothar (Hrsg.): Markwirtschaft und Umwelt, Tübingen 1981. Willgerodt, Hans: Wirtschaftsfreiheit als moralisches Problem, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 32. Jg., 1983, S. 97 – 113.
Wirtschaftsordnungspolitik als zentrale Aufgabe des Staates Von Christian Müller I. Denken in Ordnungen Jede Volkswirtschaft braucht eine Ordnung – ein System von Regeln und Institutionen, die für die Wirtschaft des Landes oder Wirtschaftsraumes von Bedeutung sind. Der wichtigste Ordnungsbestandteil ist dabei die Wirtschaftsverfassung, die alle rechtlichen Bestimmungen für die Wirtschaft enthält, die in der Verfassung, anderen Gesetzen oder in höchstrichterlichen Entscheidungen festgelegt sind. Zur Wirtschaftsordnung gehören darüber hinaus auch alle nicht rechtlich verankerten – moralischen oder traditionellen – Verhaltensregeln, die für die wirtschaftlichen Entscheidungsträger verbindlich sind. Wirtschaftsordnungen sind aber auch Instrumente, um vorgegebene gesellschaftliche Ziele (Freiheit, soziale Gerechtigkeit o. ä.) zu erreichen. Eine solche „Wirtschaftsordnungspolitik“ zielt darauf, ein auf Dauer angelegtes und für alle Menschen verbindliches System rechtlicher Verhaltensnormen für die Beteiligung am Wirtschaftsleben zu schaffen, anzuwenden und durchzusetzen. Wirtschaftsordnungspolitik in diesem normativen Sinne ist zwar nicht auf kapitalistische Ökonomien beschränkt; das übliche deutsche Verständnis dieser Politikoption zielt jedoch auf die Umsetzung einer liberalen Konzeption einer „Wettbewerbsordnung“, die eine faire Rahmenordnung für die Wirtschaft definiert, innerhalb derer die wirtschaftlichen Akteure freie Entscheidungen treffen. Eine solche freiheitliche Ordnungspolitik greift nicht direkt auf die konkreten Ergebnisse des Produzierens, Konsumierens, Sparens, Kreditierens usw. der Wirtschaftssubjekte zu, sondern sie definiert allgemeine Regeln, unter denen die Individuen diese Prozesse frei entscheiden können. Bei Maßnahmen, die über eine bloße Rahmensetzung in einer Volkswirtschaft hinausgehen und direkt die Ergebnisse des Marktprozesses zu korrigieren suchen, spricht man von „Wirtschaftsprozesspolitik“. Zu solchen prozesspolitischen Interventionen greifen politische Entscheidungsträger – nicht immer von ökonomischer Vernunft geleitet –, um Arbeitslosigkeit, Wachstumsschwächen oder Inflationsraten zu reduzieren oder den wirtschaftlichen Konjunkturverlauf aus Boom und Rezession zu „glätten“. Das „Denken in Ordnungen“ hat in der Katholischen Soziallehre eine lange Tradition, die bis auf Thomas von Aquin und sogar auf Augustinus zurückgeführt werden kann.1 Der „Sozialkatechismus“ der Kirche weist dieser Frage programmatische Bedeutung zu; schon in seiner Einleitung heißt es, die Kirche suche „eine neue gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ordnung herbeizuführen, die sich auf die Würde und Freiheit 1
Siehe Utz.
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jeder menschlichen Person gründet und in Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität realisiert werden muss“.2 In den Staatswissenschaften wurde die Idee der Ordnungspolitik vor allem vom sogenannten Neo- oder Ordoliberalismus ausgearbeitet. Diese Denkrichtung, die ideengeschichtlich auf die sog. „Freiburger Schule“ der Ordnungsökonomik um den Ökonomen Walter Eucken und die Juristen Franz Böhm und Hans GroßmannDoerth zurückgeht, diente in der Nachkriegszeit Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard wesentlich als theoretische Grundlage für die seit 1948 schrittweise verwirklichte „Soziale Marktwirtschaft“.
II. Markt, Macht und Moral Die Ordnung der Wirtschaft ist nach den Vorstellungen der Ordoliberalen ein Instrument, um die Würde des Menschen in der Sphäre des Ökonomischen zur Geltung zu bringen. Nach dieser Ansicht hat der vom Staat zu gestaltende Regelrahmen für die Wirtschaft dafür zu sorgen, dass die Ergebnisse des einzelwirtschaftlichen Handelns der Marktakteure „universalisierbar“ („verallgemeinerbar“) im Sinne des Kantischen „kategorischen Imperativs“ sind, der verlangt, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, von der man wollen könne, dass sie ein „allgemeines Gesetz“ werde. Der Ordoliberale Eucken sucht nach einer „Wirtschaftsordnung . . . , in der die Menschen nicht nur Mittel zum Zweck, nicht nur Teilchen des Apparates sind“3 – eine Formulierung, die dem kategorischen Imperativ Kants in seiner dritten Fassung entspricht.
1. Der Markt als moralische Institution
Es mag überraschen, dass es ausgerechnet der wettbewerblich organisierte Markt mit seinem Preismechanismus ist, der diese moralische Aufgabe übernehmen soll. Die dahinterstehende Ratio leuchtet indes schnell ein: Wenn Wirtschaftsordnungen einzelne Menschen nicht systematisch benachteiligen sollen, ist dafür Sorge zu tragen, dass die „Kosten“ des Handelns der Wirtschaftssubjekte verursachungsgerecht zugerechnet werden. Genau dies aber ist die zentrale Funktion von Märkten.4 Konsumiert nämlich ein Verbraucher ein knappes Gut wie ein Brot, so sind für dessen Herstellung Ressourcen aus anderen Verwendungen abgezogen worden. Für diese volkswirtschaftlichen Grenzkosten ist der Konsument allein verantwortlich, und durch Zahlung eines Knappheitspreises in Höhe der vollen sozialen Grenzkosten wird auch nur er zum Verzicht auf andere Güter gezwungen. Könnte ein Nachfrager, weil er Marktmacht hat, stattdessen einen Preis erzwingen, der unter den von ihm verursachten Kosten liegt, so entstünde dem Anbieter ein Verlust; er würde zum „Mittel“ der Bedürfnisbefriedigung des Nachfragers. Könnte umgekehrt der Anbieter einen Preis verlangen, der ihm Zusatzgewinne nur aufgrund einer wirtschaftlichen Machtstellung ermöglicht, so würde der Konsument zum Objekt des Verkäufers; seine Marktmacht würde es ihm erlauben, die schwächere Position des Käufers auszunutzen. Nur dann, wenn – wie bei funktionierendem Wettbewerb – beide Seiten einander gleichmächtig gegenüberstehen, entspricht der Preis ge2 3 4
Kompendium, Nr. 19. Eucken, S. 179. Vgl. z. B. Bonus, S. 139.
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nau den zusätzlichen Kosten, die der Konsument dem Hersteller aufbürdet. Markt und Wettbewerb garantieren also, dass weder der Nachfrager noch der Anbieter den Vertragspartner auf der jeweils anderen Marktseite ausbeuten.
2. Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus
Welche Rolle aber kann der Staat spielen, wenn in dieser Perspektive doch bereits der Markt wie eine moralische Institution wirkt? Der von Adam Smith begründete wirtschaftliche (oder Paläo-)Liberalismus orientierte sich bekanntlich ebenfalls am ethischen Universalisierungsgedanken, sah aber in der Sphäre der Wirtschaft gerade keinen Raum für ein Tätigwerden des Staates. Im ökonomischen Liberalismus ist es der Rechtsstaat, welcher der unbegrenzten Freiheit aller in der Anarchie eine Grenze in der Freiheit des jeweils anderen setzen will, um hierdurch allen Menschen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Der Motor der Wirtschaft ist nach dieser Auffassung der menschliche Eigennutz, ihr Ordnungsprinzip der Wettbewerb. Beeinflusst von der Philosophie des Deismus glaubte der Paläoliberalismus an eine „natürliche“, aus der Vernunft ablesbare Ordnung der Wirtschaft. Ebenso wie der von Harmonie und Ordnung geprägte Kosmos, besitze auch die Ökonomie eine „prästabilierte Harmonie“, in die einzugreifen sich der Regierung verbiete. Nach Smith’ berühmtem „Theorem der unsichtbaren Hand“ koordiniert der sich selbst überlassene marktliche Wettbewerb – wie von „unsichtbarer Hand“ geleitet – die Vielzahl der individuellen Einzelinteressen auf ein einziges übergeordnetes Gesamtinteresse der Gesellschaft. Das wirtschaftliche Ordnungsproblem scheint hier auf genial einfache Weise gelöst: Ganz ohne eine Koordination durch den Staat fördern die Wirtschaftssubjekte bloß dadurch, dass sie egoistisch nach Gewinn oder Nutzen streben, „ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft“5. Nicht eine planmäßige Wirtschaftsordnungspolitik empfiehlt daher diese Konzeption der praktischen Wirtschaftspolitik, sondern – etwas überspitzt formuliert – das schiere Nichtstun. Wer als Regierender will, dass es der Allgemeinheit gut geht, braucht nur die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten – getreu dem paradigmatischen Motto „Laissez faire, laissez passer“. Doch gerade in dieser Empfehlung lag das katastrophale „Versagen des Wirtschaftsliberalismus„ (Rüstow), denn er übersah, dass das Laissez-faire-Prinzip allenfalls für bestimmte Arten von Wettbewerb eine geeignete wirtschaftspolitische Leitlinie sein mag, doch keineswegs für alle. Zu universalisierbaren Marktergebnissen führt nämlich allein ein „Leistungswettbewerb“6, in dem die Unternehmen mit Preisen, Qualitäten und Konditionen in paralleler Richtung und Anstrengung um Problemlösungen im Sinne ihrer Konsumenten konkurrieren. Ein Schädigungs- oder Behinderungswettbewerb („Nichtleistungswettbewerb“), in dem die Konkurrenten danach streben, sich mit Strategien des „raising rival’s costs“ gegenseitig zu behindern, ist hingegen ineffizient. Mehr noch: Wenn der Staat es versäumt, durch Wirtschaftsordnungspolitik allgemeine, universalisierbare Regeln für den Wettbewerb durchzusetzen, werden sich gerade die unerwünschten Formen des Nichtleistungswettbewerbs am Markt durchsetzen. Denn der 5 6
Smith, S. 316 f. Vgl. grundlegend Böhm, S. 210 ff., Rüstow, S. 68 ff.; Eucken, S. 42 und S. 247.
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Leistungswettbewerb hat die Tendenz, sich selbst aufzuheben, insofern seine Herstellung, in moderner ökonomischer Diktion, den Bedingungen einer „sozialen Dilemmasituation“ unterliegt.7 alle übrigen Unternehmen B: Wettbewerbsregel Wettbewerbsregel einhalten brechen Unternehmen A:
Wettbewerbsregel einhalten Wettbewerbsregel brechen
R,R
S,T
T,S
P,P mit T > R > P > S
Betrachten wir zur Illustration nur den Fall einer Wirtschaft mit mehreren Unternehmen, die vor der Frage stehen, ob sie eine bestimmte Regel des Leistungswettbewerbs – sagen wir: den Verzicht auf Preisabsprachen – freiwillig befolgen sollen oder nicht. Jedes Unternehmen verfügt also über die beiden Handlungsalternativen „Wettbewerbsregel einhalten“ und „Wettbewerbsregel brechen“. Die einzelnen Zellen der Matrix in der Abbildung enthalten die „Payoffs“ aller Beteiligten, wobei die Auszahlungen eines beliebigen Unternehmens A vor dem Komma stehen, die Auszahlungen aller übrigen Unternehmen (hier zur Vereinfachung zu einem einzigen Entscheider B zusammengefasst) dahinter. Die Situation rechts unten beschreibt dabei den Zustand eines allseitigen Nichtleistungswettbewerbs, in dem alle Teilnehmer die Wettbewerbsregel brechen; die Zelle links oben hingegen markiert den kollektiv gewünschten – universalisierbaren – Zustand einer allgemeinen Befolgung der Wettbewerbsregel. In einer solchen Entscheidungssituation wird jedes Unternehmen – unabhängig von der Entscheidung seiner Konkurrenten – rationalerweise die Wettbewerbsregel brechen. Für das Unternehmen A ergibt sich das aus dem folgenden Kalkül: Wenn alle übrigen Unternehmen die Regel einhalten, steht A besser da, wenn es selbst die Regel bricht und sich Vorteile sichert, welche die anderen nicht für sich in Anspruch genommen haben; denn der Regelbruch zahlt sich aus, insofern (in der Zelle links unten) die Auszahlung T größer ist als die Auszahlung R in der Situation der allseitigen Regelbefolgung. Wenn hingegen alle übrigen Unternehmen die Wettbewerbsregel nicht einhalten, so ist es – schon aus Gründen des Selbstschutzes – für Unternehmen A erst recht besser, die Regel ebenfalls zu brechen (Situation rechts unten), denn nur dann erhält A die höhere Auszahlung P statt S. Was immer also die übrigen Unternehmen tun, für Unternehmen A liegt es immer im Eigeninteresse, die Wettbewerbsregel zu missachten. Analoges gilt aufgrund der Symmetrie der Entscheidungssituation umgekehrt für die übrigen Marktteilnehmer. Die Beteiligten befinden sich hier in einem Dilemma zwischen individueller und kollektiver Vernunft: Obwohl alle Marktteilnehmer ein gemeinsames Interesse an der Kooperation haben, weil die gemeinschaftlichen Auszahlungen (R,R) bei allgemeiner Normbefolgung für jeden Einzelnen höher sind als im Auszahlungspaar (P,P) bei allseitigem Regelbruch, drängt das individuelle Eigennutzstreben einen jeden Konkurrenten dazu, gegen das Gemeinwohl zu entscheiden. Da jeder so handelt, finden sich im Ergeb7
Vgl. z. B. Kirsch (1981).
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nis alle Unternehmen in der kollektiv schlechtesten – aber stabilen – Situation eines allseitigen Bruchs der Wettbewerbsregel wieder: im kollektiv ungewünschten Schädigungswettbewerb (Zelle rechts unten). 3. „Wettbewerb als Aufgabe“
In der Einsicht in diese Selbstaufhebungstendenzen des Leistungswettbewerbs liegt die Ratio jeder wirtschaftlichen Ordnungspolitik: Eine zerstörerische Nichtleistungskonkurrenz, in der jeder Marktteilnehmer versucht, jeden anderen zum „Mittel“ seines privaten Gewinn- oder Nutzenstrebens zu machen, ist möglich und – angesichts des Eigennutzstrebens der Marktakteure – sogar wahrscheinlich. Zumindest in seiner Universalität ist Smith’ Theorem von der unsichtbaren Hand damit falsch. Leistungswettbewerb, der allein zu einer Harmonie der individuellen Einzelinteressen mit dem Gesamtinteresse der Gesellschaft führen kann, entsteht selbst dann nicht einfach von selbst, wenn der Rechtsstaat die allgemeine Geltung universalisierbarer Grundrechte verfassungsmäßig garantiert. Der Staat muss die Marktteilnehmer vielmehr – in ihrem eigenen Interesse – dazu zwingen, die Regeln des Leistungswettbewerbs einzuhalten und damit alle Versuche von Marktteilnehmern zu unterbinden, Macht über andere Individuen zu erlangen. Denn Machtpositionen auf Märkten erlauben es einzelnen Wirtschaftssubjekten, die Kompensation für Schädigungen, die sie Dritten aufgezwungen haben, zu unterlassen. Vermachtungen von Märkten stören damit jene Reziprozität von Leistung und Gegenleistung, die das kantische Universalisierungsprinzip fordert. Es ist dies der Grund, warum die Ordoliberalen – in einer berühmten Formulierung von Leonhard Miksch – die Herstellung und den Schutz von „Wettbewerb als Aufgabe“8 des Staates interpretieren. Denn der sozial gewünschte Leistungswettbewerb stellt sich in der Interaktion der Marktakteure nicht einfach von selbst ein; er muss erst durch den Staat geschaffen werden. Die sozialistische Kritik an den Ergebnissen des Paläoliberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts hatte insofern also ihre Berechtigung: Wo die sichtbare Hand der staatlichen Ordnungspolitik es versäumte, hinreichende Bedingungen für das wohlfahrtsstiftende Wirken der unsichtbaren Hand des Marktes zu schaffen, musste auch das Proletariat benachteiligt bleiben. Viele Arbeiter waren deshalb unter dem Laissez-faire-Regime allenfalls formell frei; faktisch aber waren sie unfrei. Doch man muss sich hüten, deshalb nun gleich umgekehrt der sozialistischen Versuchung zu verfallen und den Staat zu einem omnipotenten Heilsbringer machen zu wollen, der mit der Berechtigung und sogar Verpflichtung versehen wird, nahezu unbeschränkt prozess- und nicht nur ordnungspolitisch in die wirtschaftlichen Abläufe zu intervenieren. Denn beide radikalen Wege sind falsch: Der Liberalismus des Laissez-faire überließ die Wirtschaftsordnung und den Wirtschaftsprozess dem Einzelnen, und er übersah damit, dass es gerade die Verfolgung des Eigeninteresses der Wirtschaftssubjekte ist, welche die Menschen in eine Situation der kollektiven Selbstschädigung führt: in einen Hobbes’schen „Krieg aller gegen alle“ in der Wirtschaft. Der Sozialismus indes überlässt die Wirtschaftsordnung und den Wirtschaftsprozess allein dem Staat; er erniedrigt den Menschen zu einem bloßen Instrument der Planerfül8
Miksch; auch Berndt / Goldschmidt.
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lung und raubt ihm hierdurch seinen Charakter als Person: „Der Apparat ist Zweck, der Mensch Mittel.“9 Wie es von Hayek eindringlich beschrieben hat, wird der Weg einer praktisch unbeschränkten Prozesspolitik auf diese Weise leicht zu einem geraden „Weg zur Knechtschaft“.10 III. Ordnung mit Würde Aus welchen Bausteinen muss eine Wirtschaftsordnung mindestens bestehen, wenn sie wirksam die Würde des Menschen in der Sphäre des Ökonomischen schützen soll? a) Dass der Leistungswettbewerb der Grundstein dieser Bemühungen sein muss, wurde schon betont. Der Staat als Hüter der Wettbewerbsordnung hat diesen nicht nur zu schaffen, sondern auch dauerhaft zu schützen. Dazu gehört, dass er sich selbst aller Eingriffe in das Marktgeschehen zu enthalten hat, die nicht lediglich der Gestaltung des wirtschaftlichen Ordnungsrahmens dienen. Für die praktische Wirtschaftspolitik bedeutet dies, dass beispielsweise staatliche Subventionen grundsätzlich nichts im Instrumentarium des Ordnungspolitikers zu suchen haben. Sie ermöglichen den geförderten Wirtschaftsakteuren, Risiken zu übernehmen, für die Dritte geradestehen müssen. Ähnliches gilt für die Fixierung von Mindestlöhnen, sei es in staatlichen „Entsendegesetzen“ oder im Rahmen tarifvertraglicher Verhandlungslösungen. Der „Schutz“ der Insider wird hierbei auf Kosten der Außenstehenden erkauft, die daran gehindert werden, ihre Arbeitsleistungen zu wettbewerbsfähigen Löhnen anzubieten. Der Mensch würde hierdurch zum „Mittel“ des Eigennutzstrebens des Anderen – und nicht, im Kantischen Sinne, „Zweck an sich“. b) Der Leistungswettbewerb kann aber nur zur Internalisierung solcher Entscheidungsfolgen beitragen, für welche exklusive Eigentumsrechte durchgesetzt sind. Eine zweite wesentliche Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Wettbewerbsordnung schafft daher das Instrument des Privateigentums.11 Privateigentum ist ein Instrument, das systematisch zur verursachungsgerechten Internalisierung von Handlungsfolgen verwendet werden kann.12 Dies zeigt zum Beispiel der Emissionshandel, den die Europäische Union jüngst für CO2-Emissionen initiiert hat. Der Staat beschränkt sich dabei darauf, Eigentumstitel in Form von „Schädigungsrechten“ (sogenannte „Umweltzertifikate“) zu definieren, ohne deren Besitz es Produzenten nicht länger erlaubt ist, Schadstoffe zu emittieren. 13 Insofern das Gut „Umwelt“ hierdurch überhaupt erst handelbar wird, bildet sich ein Markt, auf dem Produzenten, die eine höhere als die zugelassene Schadstoffmenge emittieren wollen, anderen Anbietern ihre nicht ausgenutzten Schädigungsrechte abkaufen können. Die Umwelt ist nun nicht mehr zum Nulltarif zu haben, sondern erhält einen (Knappheits-)Preis. Getrieben von dem Kostendruck, den der Produktionsfaktor Umwelt jetzt bereitet, erhalten Unternehmen einen Anreiz, nach kostengünstigeren Produktionsalternativen zu suchen. Die Inanspruchnahme der Umwelt wird reduziert und – wie bei anderen ProduktionsEucken, S. 177. von Hayek (1976). 11 Vgl. hierzu näher den Beitrag von van Suntum in diesem Handbuch. 12 Vgl. Müller / Tietzel. 13 Vgl. z. B. Müller / Sundmacher. 9
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faktoren auch – auf jenes Maß zurückgeführt, für das die Nutzer bereit sind, einen Preis zu entrichten. c) Durch die Möglichkeit zum Tausch erhält jeder private Eigentümer einen Anreiz, den Marktwert seines Vermögensgegenstandes zu erhalten. Vertragsfreiheit ist darum eine weitere Voraussetzung eines funktionierenden Leistungswettbewerbs. Nach dem Universalisierungsprinzip findet die Freiheitssphäre eines jeden Einzelnen ihre Grenze in der Freiheit aller anderen Personen. Die Institution der Vertragsfreiheit und jene des Privateigentums, insbesondere von solchem an Produktionsmitteln, ist stets im Zusammenhang mit der Marktform der vollständigen Konkurrenz zu sehen; beide Rechte bedürfen der „Kontrolle durch die Konkurrenz“ (Eucken). Wären Kartell- und Monopolverträge erlaubt, so könnten Arbeiter in genau jener Weise von Unternehmern abhängig werden, die Karl Marx mit Recht an der Wirtschaftsordnung seiner Zeit kritisierte. Was Marx indes übersah – und was ihn paradoxerweise dazu brachte, mit der Überführung von Produktionsmitteln in „Kollektiveigentum“ die Ersetzung der Monopolnachfrage privater Unternehmen nach Arbeit ausgerechnet durch die Arbeitsnachfrage des noch größeren Staatsmonopols zu fordern –, war die Tatsache, dass nicht das Privateigentum die Ursache der seinerzeitigen Ausbeutung von Arbeitern war, sondern die (monopolistische oder oligopolistische) Marktstruktur, unter der es verwendet wurde.14 d) Die Kontrolle von Vertragsfreiheit und Privateigentum durch die Konkurrenz dient damit auch der Beseitigung von Marktzu- und -austrittsbeschränkungen aller Art. Dazu ist es nicht nur erforderlich, alle Formen des Schädigungswettbewerbs – Monopolisierungen und Kartellierungen, Treuerabatte, Exklusivverträge oder Kampfpreise, die allein dem Erwerb von wirtschaftlicher Macht dienen – zu verbieten, wie es in Deutschland im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen geschehen ist. Eine ordnungspolitisch gebotene Beseitigung von Marktschranken verlangt auch, sich im Zeitalter der wirtschaftlichen „Globalisierung“ uneingeschränkt dem internationalen Wettbewerb zu stellen. Wer nämlich heimische Märkte vor einer Internationalisierung „schützen“ will, fordert damit implizit, dass die Armen in der Welt auf Dauer so arm bleiben sollen wie sie sind.15 Gerade die Wortführer der Globalisierungskritik, die sich gern als die Anwälte der armen Länder präsentieren, erweisen den Benachteiligten der Welt damit keinen Gefallen. Sie formulieren ehrenwerte moralische Ziele, schlagen aber mit der von ihnen geforderten Abkehr von Markt und Wettbewerb auf internationaler Ebene ein Mittel vor, das völlig ungeeignet ist, sie zu erreichen. Es ist schon fraglich genug, ob ein Rückfall in den Protektionismus auch nur die Würde der Menschen in den reichen Ländern schützen könnte; die Würde der Menschen aller Länder schützt man indessen am besten dadurch, dass man ihnen nicht auch noch ihre Wettbewerbschancen beschneidet. e) Sozialpolitische Regelungen gehören hingegen grundsätzlich nicht zum ordnungspolitischen Instrumentarium, insofern bereits die Sicherung einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung das wichtigste Mittel der Sozialpolitik darstellt. Nur in jenen Bereichen, in welchen die Wettbewerbsordnung allein universalisierbare Marktergebnisse nicht realisieren kann, bedarf es zusätzlich einer „speziellen Sozialpolitik“. 16
14 15 16
Vgl. Eucken, S. 272 f. Vgl. Apolte, S. 100. Vgl. im Kontext der unterschiedlichen Ordnungspolitik-Varianten näher Rauhut, S. 48 ff.
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IV. Ordnungspolitik und Katholische Soziallehre Mit ihrem Begriff der Wirtschaftsordnung setzt sich die ökonomische Konzeption der Ordnungspolitik in engen Bezug zur Gemeinwohlvorstellung der Katholischen Soziallehre.17 Auch die katholische Ordnungsvorstellung verlangt, dass die menschliche Person „nicht von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen instrumentalisiert werden“18 dürfe. Überdies unterstreicht die päpstliche Sozialverkündigung die zentrale Rolle von Privateigentum und Vertragsfreiheit.19 Und während Markt und freie Marktwirtschaft früher überwiegend negativ bewertet wurden,20 betont die kirchliche Soziallehre heute ebenfalls, dass „der freie Markt dem Gemeinwohl und der umfassenden Entwicklung des Menschen“ diene und dieses Instrument nur bei Kollektivgütern, bei deren Bereitstellung der Markt versagen muss, suspendiert werden solle.21 Ebenso wie in der Konzeption der Ordnungspolitik darf aber auch nach der päpstlichen Sozialverkündigung die unbeschränkte Konkurrenz nicht das (alleinige) „regulative Prinzip der Wirtschaft“ sein, da der freie Wettbewerb, wie es die Enzyklika Quadragesimo anno (1931) noch einige Jahre vor den Freiburger Ordnungstheoretikern formulierte, zu seiner „Selbstaufhebung“22 geführt habe mit den ungewünschten Folgen einer wirtschaftlichen Vermachtung und eines zügellosen Gewinnstrebens. Auch die kirchliche Soziallehre sieht das Schwergewicht auf ordnungspolitischen Markteingriffen. Die Wirtschaftspolitik hat danach einen „juristischen Rahmen festzulegen, der geeignet ist, die ökonomischen Beziehungen zu regeln“, so dass „Gleichheit unter den Beteiligten besteht“ und Vermachtungen vermieden werden. Ebenso verlangt der Sozialkatechismus offene Zugänge zu den Märkten und die Verzögerung oder Behinderung von Monopolisierungen, so dass die Arbeiter „wirklich frei“ sind, „zwischen verschiedenen Optionen zu vergleichen, zu bewerten und zu wählen“. Sozialpolitik scheint kirchlicherseits ebenfalls vor allem als Ordnungspolitik gedacht, insofern als das die Umverteilung legitimierende Solidaritätsprinzip seine Grenze in der Subsidiarität finden muss. Einer prozesspolitischen Intervention hat sich der Staat hingegen auch nach kirchlicher Lehre weitgehend zu enthalten, weil ein solches „direktes Eingreifen . . . letztlich zur Entmündigung der Bürger und zu einem übermäßigen Wuchern des öffentlichen Apparats“ führen würde.23 In Bezug auf die Rolle der Ordnungspolitik lässt sich daher „ein bemerkenswerter Gleichklang“24 feststellen zwischen der kirchlichen Sozialverkündigung einerseits und der ökonomischen Vorstellung von Ordnungspolitik andererseits. Es ist die – spätestens mit der Enzyklika Centesimus annus (1991) – vollzogene Hinwendung zu einer positiveren Beurteilung von Markt und Wettbewerb, welche die päpstliche Soziallehre auch für Ökonomen interessant werden lässt. Umgekehrt sehen Sozialethiker in der ordolibe17 Zu den Bezügen, aber auch Missverständnissen zwischen beiden Konzeptionen siehe Rauscher (2006). 18 Kompendium, Nr. 48. 19 Vgl. im Einzelnen Nothelle-Wildfeuer / Steger, S. 19 ff. 20 Vgl. Rauscher (2006), S. 128 ff. 21 Kompendium, Nr. 348 f. 22 Quadragesimo anno, Nr. 109. 23 Vgl. Kompendium, Nr. 350 – 355 (alle Zitate). 24 Rauscher (2006), S. 123.
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ralen Überwindung des Laissez-faire-Gedankens genau jenen zentralen Erkenntnisfortschritt, der den wirtschaftlichen Liberalismus an die Katholische Soziallehre anschlussfähig machen kann. Denn die Auffassung, dass der Wettbewerb ohne staatlich gesetzte Rahmenbedingungen zu seiner Selbstaufhebung tendieren würde, bedeutet „nicht mehr und nicht weniger als die Absage an die Vorstellung, daß der Wettbewerb das Ordnungsprinzip der Wirtschaft schlechthin ist.“25 Nicht einmal in der christlich-metaphysischen Fundierung der zugrunde liegenden Universalisierungsvorstellung gibt es fundamentale Unterschiede zwischen beiden Positionen. Denn auch nach Meinung der Ordoliberalen soll die Wirtschaftspolitik „die freie natürliche gottgewollte Ordnung“26 und eine „christlich-humane Ordnung der Gesellschaft und Wirtschaft“27 verwirklichen. Die zumeist protestantischen Ordoliberalen stellten ihre Ideen zur Ordnungspolitik selbst in den Kontext der Katholischen Soziallehre. Rüstow kam sogar zu dem Schluss, dass das, was der große Sozialethiker Gustav Gundlach als Katholische Soziallehre bezeichne, mit der neoliberalen Konzeption der Wirtschaftspolitik zusammenfalle, „von einigen untergeordneten Differenzen abgesehen“.28 Es erscheint nach alledem nicht zu weit gegriffen, wenn man eine nach ordnungspolitischen Grundsätzen gestaltete Soziale Marktwirtschaft für dasjenige Politikmodell hält, das die Soziallehre der Kirche impliziert.29 Hinzu mag aus kirchlicher Sicht jedoch stets die Mahnung kommen, die im Ordnungsrahmen geronnenen moralischen Regeln nicht für ein Substitut individueller Moralität zu halten und „die Pflicht der Nächstenliebe nicht [zu] vergessen“30.
V. Versagen der Ordnungspolitik? Obwohl die ordnungspolitische Ausrichtung der Wirtschaftspolitik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ein ungeahntes „Wirtschaftswunder“ ermöglichte, kehrte die Politik dieser Konzeption später den Rücken. Jahrzehntelang überdehnte man die Prinzipien der staatlichen Fürsorge und der kollektiven Daseinsvorsorge und überforderte damit letztlich die Leistungsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung insgesamt. Leere Staatskassen und persistente Massenarbeitslosigkeit sind die sichtbarsten Ergebnisse dieser Politik. Müssen wir also nach dem „Versagen des Wirtschaftsliberalismus“ nun auch ein Versagen der Ordnungspolitik konstatieren? Eine Antwort hierauf mag eine positive Theorie der Ordnungspolitik zu geben, die nicht auf einen festen normativen Ordnungsentwurf Bezug nimmt, sondern nach den politökonomischen Gestaltungsmöglichkeiten realisierter Ordnungsformen fragt. Etwas holzschnittartig lassen sich in der Geschichte der Bundesrepublik unterschiedliche Phasen ordnungspolitischer Reformierbarkeit unterscheiden.31 In der „Stunde 25 26 27 28 29 30 31
Rauscher (1985), S. 151. Eucken, S. 176. Röpke, S. 321; auch Ockenfels. Rüstow, S. 151. Vgl. z. B. Nass, S. 281 ff. Kompendium, Nr. 359. Vgl. Müller, S. 357 ff.
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Null“ waren die alten gesellschaftlich-institutionellen Strukturen weitgehend zerstört und der Grad der Organisiertheit politischer Interessen niedrig. Noch bis zum Ende der 1950er-Jahre waren daher ordnungspolitische Weichenstellungen möglich, so durch die Verabschiedung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen oder des Bundesbankgesetzes im Jahr 1957.32 Mit der Zeit aber gelang es den Vertretern organisierbarer Interessen, sich immer stärker in Verbänden zu formieren. Die Politiker in Regierungen und Parlamenten sahen sich – etwa seit Ende der 50er-Jahre – immer stärker von Verbänden bedrängt, die im Interesse ihrer jeweiligen Klientel ein intensives „Rent Seeking“ um Ausnahmeregelungen und Sondervergünstigungen betrieben. So wünschenswert es gewesen wäre, dass die Politiker diesem Ansinnen widerstanden hätten, so wenig lag diese Zurückweisung in der Logik der Entscheidungszwänge von Politikern, die in Wahlkämpfen auf die Unterstützung von Lobbygruppierungen angewiesen sind.33 Der auch von Fachkreisen favorisierte Paradigmenwechsel hin zu keynesianischen Globalsteuerungsideen gestattete es zudem, die Umverteilung politischer Renten zugunsten von Partialinteressen als volkswirtschaftlich notwendige Investition zu adeln. Auch an „Runden Tischen“ und in Bündnissen für Arbeit, Bildung oder für die Steigerung irgendeiner anderen gesellschaftlichen Zielgröße schlossen die Verbände und Gewerkschaften nicht selten Verträge zu Lasten jener Unorganisierten, die nicht mit am „Tisch“ saßen.34 In dem Maße aber, in dem Regierungen von der ordnungspolitischen Vernunft abkamen und den Staatshaushalt für die Bedienung von Partialinteressen öffneten, wurde die Bildung weiterer Interessengruppen lohnend, die ihrerseits auf Sonderrenten drängten. Die Interventionsspirale drehte sich – zudem angeheizt durch den Europäischen Integrationsprozess – immer schneller. In Folge dieser Einflüsse wurden die Besitzstände verteilt und die Strukturen in nicht universalisierbarer Weise gefestigt. In einer solchen Situation zahlen sich die ordnungspolitischen Optionen von Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung für eine Regierung kaum aus; denn im Allgemeinen muten ordnungspolitische Reformen jenen Gruppierungen Verluste zu, die sie in der politischen Auseinandersetzung tragen, und nützen vor allem jenen Bevölkerungsschichten, die mangels Organisiertheit weitgehend einflusslos sind. Weil die durch die Reformen vermiedenen Ineffizienzen außerdem zumeist den Charakter sogenannten Opportunitätskosten haben – etwa in Form von entgangenem Wirtschaftswachstum oder ausgebliebenen Beschäftigungsmöglichkeiten –, die nicht so stark wahrgenommen werden wie echte Auszahlungen, dürften die Nutznießer die ihnen zuwachsenden Vorteile aus den Reformen nicht einmal in voller Höhe wahrnehmen.35 Wirtschaftliche Ordnungspolitik bleibt nach alledem auch heute noch eine zentrale Aufgabe des Staates. Aber ihre Realisierungschancen haben sich stark reduziert, weil die Anreize, unter denen die praktische Wirtschaftspolitik agiert, sich in den knapp sechs Jahrzehnten Sozialer Marktwirtschaft drastisch geändert haben.
32 Vgl. den Überblick bei Cassel / Rauhut, S. 13 ff. – Ludwig Erhard plagten später sogar Zweifel, ob die Währungsreform „in einem parlamentarisch-demokratischen System möglich oder auch nur denkbar gewesen wäre“; Erhard, S. 8. 33 Für eine theoretische Analyse siehe Grossman / Helpman. 34 Vgl. Kirsch (1996). 35 Vgl. Heinemann.
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Sind freiheitliche und soziale Gestaltungsaufgaben Gegensätze? Von Christian Watrin
„. . . die Sorge für die allgemeine Glückseligkeit (happiness) aller vernünftigen und fühlenden Wesen ist . . . das Geschäft Gottes und nicht das des Menschen. Den Menschen ist ein weit niedriger Arbeitsbezirk zugewiesen, aber einer, der der Schwäche seiner Fähigkeiten und der Enge seiner Fassungskraft weit angemessener ist: die Sorge für seine eigene Glückseligkeit, für die seiner Familie, seiner Freunde und seines Landes.“ (Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, S. 400 f.).
I. Sozialer Schutz als individuelles und gesellschaftliches Problem Menschliches Leben ist risikobehaftet. Zu den wirtschaftlichen Risiken gehören jene Lebensphasen oder auch Ereignisse, in denen eine Person unfreiwillig nicht an der Erzeugung des sprichwörtlichen täglichen Brotes teilnehmen kann. Dieser Fall ist hier von Interesse, nicht aber der freiwillige Verzicht auf die Teilnahme an der gesellschaftlichen Gütererstellung. Gemeint ist das in jedem menschlichen Leben mögliche Auftreten von Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Invalidität, Pflegebedürftigkeit, Altersschwäche und, was heute stark betont wird, Armut nicht nur von Erwachsenen, sondern auch von Kindern oder Heranwachsenden. Zwar sind in Deutschland streunende und obdachlose Kinder noch nicht in der Weise zu beobachten, wie das in armen Entwicklungsländern der Fall ist. Gleichwohl wird gesagt, dass gemessen an den üblichen Armutsstandards 2,5 Millionen Kinder in diese Kategorie fallen. Ein freiwilliger Verzicht auf die Teilnahme an der Erstellung wirtschaftlicher Güter, also Konsum ohne Produktion, ist heute anders als noch im neunzehnten Jahrhundert, wo als „Rentier“ wohlhabende respektable Personen bezeichnet wurden, ein sehr seltener Fall. Er setzt Ersparnisse (i. S. vorgetaner Arbeit) voraus, die nach Gutdünken verzehrt werden können. Nach jüngeren statistischen Erhebungen ist die Zahl derjenigen, die vom eigenen Vermögen leben, so gering, dass ihre Quote gegen Null tendiert. Im Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes für 2006 beantworten 41 Prozent der Befragten die Frage, wovon sie überwiegend ihren Lebensunterhalt bestreiten, mit dem Hinweis auf eigene Erwerbstätigkeit. 28 Prozent leben vom Unterhalt durch Angehörige (naturgemäß sind dies hauptsächlich Kinder), 22 Prozent nennen die Rente oder Pension und 7 Prozent das Arbeitslosengeld und vergleichbare staatliche Leistungen. Im gleichen Jahr belief sich die Sozialquote, d. h. der Anteil der staatlichen Sozialabgaben
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am Sozialprodukt, auf 700 Mrd. Euro. Die Statistik selbst und die Zuordnung einzelner Positionen zu den zahlreichen Ausgabekategorien bereitet allerdings erhebliche Schwierigkeiten (siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Februar 2008, S. 13). Das ökonomische Grundproblem liegt im vorliegenden Fall, wie in anderen Fällen, darin, dass die Mittel, welche für die Einkommenssicherung der Alten, Kranken, Schwachen, Invaliden, Pflegebedürftigen oder armen Kinder vom jährlichen Produktionsergebnis abgezweigt werden, knapp sind. Das wird besonders deutlich, wenn – anders als in den alten, auf reinem Tausch basierenden Wirtschaften – die Zuwendungen über das Geld, die universelle Ressource schlechthin, erfolgen. In diesem Zusammenhang ist „Knappheit“ ein relationaler Begriff. Sie entsteht überall dort, wo die Ansprüche auf Hilfen größer sind als die verfügbaren Mittel und die Ressourcen gleichzeitig auch für andere Verwendungen genutzt werden könnten. Folglich sind selbst in modernen reichen Gesellschaften Rationierungen der Zuwendungen unvermeidlich. Sie können entweder über Märkte und Preise erfolgen oder es kann sich um staatliche Zuteilungssysteme handeln. Selbst Samariter, die dem am Wegesrand Liegenden helfen, sind der Knappheitsschranke unterworfen, wenn sie sich nicht selbst aufopfern wollen. Die Knappheitsgrenze ist jedoch nicht immobil. Sie ist zwar in jedem einzigen Augenblick vorgegeben, kann aber durch kluge Politik, sachgerechtes Handeln der Betroffenen und die richtige Reaktion der Zahler verändert werden. So ist in den letzten dreihundert Jahren trotz eines Anstiegs der Weltbevölkerung von einer auf über sechs Milliarden Menschen die Welt nicht im Chaos versunken, wie manche akademische Ökonomen im neunzehnten Jahrhundert meinten, sondern der weltweite Wohlstand nahm kontinuierlich zu und es besteht die nicht unrealistische Hoffnung, dass die auf eine Milliarde geschätzte Schicht der extrem Armen in den nächsten drei Jahrzehnten so aufschließt, wie in der Gegenwart China und Indien. Die politischen Grundlagen zu diesem Projekt wurden 2002 von 191 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen ratifiziert (Sachs, S. 39 f.). Welcher der beiden oben genannten Rationierungsverfahren jetzt und in Zukunft das größere Gewicht bekommen soll, dem Preismechanismus oder der zuteilenden Hand staatlicher Instanz, ist allerdings nicht allein eine ökonomische Frage, die im Stil einer Kosten-Nutzenrechnung entschieden werden könnte. Zu viele angrenzende Gebiete wie das Recht, die Soziologie oder die Politik beanspruchen hier – nicht ohne respektable Argumente – Mitspracherechte. Diese können im Folgenden nur am Rande beachtet werden. Gezeigt werden soll, dass sich die ökonomische Perspektive nicht ausschalten lässt, wenn man schwere Mängel und unnütze Kosten vermeiden will. Je nach Ausgestaltung der politischen und sozialen Ordnung im Einzelnen können zwischen freiheitlichen und (sozial-)staatlichen Alternativen schwerwiegende Spannungen entstehen. Beide Ziele können sich aber auch harmonisch zueinander verhalten. Um das sichtbar zu machen, wird von einer kurzen historischen Skizze der Wege zur sozialen Sicherung ausgegangen (II.). Ihr schließt sich eine Analyse des Entstehens des modernen Wohlfahrtsstaates und seiner Krisen (III.) sowie eine Erörterung möglicher Alternativen an (IV.). II. Strukturen des sozialen Schutzes in historischer Sicht Fragt man, wie im Laufe der Geschichte den genannten Risiken begegnet wurde, so sind zwei Aspekte zu betonen. Der erste ist die Solidarität, die sich, wohl in langen
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Zeiträumen in kleinen oder größeren Gruppen herausgebildet hat. Über Jahrtausende hinweg war wohl die Großfamilie, neben den Clans und Stämmen, die wichtigste Einrichtung zur Lösung sozialer Fragen (vgl. Rauscher). Der zweite Aspekt ist der erst im Zuge der modernen Staatswerdung entstandene Sozial- oder Wohlfahrtsstaat. Er wird durch Weisungen demokratisch-politischer Instanzen sowie durch mit hoheitlichen Rechten ausgestatteten Bürokratien gesteuert und gelenkt. Zu fragen ist, welche Formen der sozialen Vorsorge andere Geschlechter in der Vergangenheit entwickelten und ob diese als freiheitlich im heutigen Sinne, also auf freien Verträgen beruhend, angesehen werden können. In der alten Ökonomik, d. h. in den ökonomischen Lehren vor Adam Smith und der ökonomischen Klassik, wird der griechische Oikos als jene Einrichtung dargestellt, die weitgehend auf den Prinzipien der Selbstversorgung beruhend patriarchalisch gelenkt war. Schon in der Zeit der Hochblüte Griechenlands, im fünften Jahrhundert v. Chr., waren die Oikos-Wirtschaften in einen damals das Mittelmeer umspannenden internationalen Handel eingegliedert. Dieser implizierte jedoch vor allem dort, wo Sklaven das Rückgrat der Produktion bildeten, keine Wanderungsfreiheit für die Arbeitskräfte. Dennoch dürfte sich hier ein minimaler sozialer Schutz ebenso entwickelt haben wie in den Gutsherrschaften der weit späteren ständischen Ordnung, in denen die Unfreien zwar an die Scholle gebunden waren, die Gutsherren aber gewissen Verpflichtungen unterlagen, hauptsächlich im Krankheitsfall und möglicherweise auch im Alter, ein Minimum an sozialem Beistand zu gewähren. Ähnlich unterlagen selbst die südstaatlichen Plantagenbesitzer vor dem amerikanischen Bürgerkrieg einer gewissen Pflicht zur Fürsorge für ihre Sklaven. Dabei dürfte das Selbstinteresse der jeweils Herrschenden nicht ohne Gewicht gewesen sein, für die Arbeitspflichtigen mehr oder minder zu sorgen, da diese für sie eine Art Kapitalgut waren, welches sogar auf Märkten gewinnbringend veräußert werden konnte. Die mitunter anzutreffende Darstellung, dass mit dem Aufkommen der liberalen Ideen und ihrer politischen Umsetzung die alten sozialen Sicherungen zerbrachen, steht unter dem Vorbehalt, dass die betroffenen Hintersassen nicht das Recht der freien Entscheidung hatten. Auf lange Zeit gesehen dürfte aber die Drei-Generationenfamilie die wichtigste Einrichtung zur Bewältigung der Lebensrisiken in der alten Gesellschaft gewesen sein. In der bäuerlichen Wirtschaft existierte sie noch bis in die Neuzeit und strahlte auch in städtische Siedlungen aus (vgl. Rauscher). Erst die zeitgenössische Ehe- und Familiengesetzgebung hat sie zu einem lockeren Verband werden lassen, der mittlerweile weitgehend auf Freiwilligkeit und kaum noch auf wechselseitigen Pflichten beruht.1 Mittlerweile sind die Zwei-Generationenfamilien und die Single-Haushalte dominierend. Sie sind, sofern keine nennenswerten Ersparnisse vorliegen, weitgehend auf Nachbarschafts- und freiwillige Hilfen angewiesen. Wo diese fehlen, können nur noch staatliche Maßnahmen greifen, die teils nur im Minutentakt zur Verfügung stehen. Neben der Großfamilie entfalteten sich über anderthalb Jahrtausende hinweg im christlichen Kulturkreis kirchliche Einrichtungen, die sich dem Gebot der Nächstenliebe widmeten und zu den wichtigsten Einrichtungen der Armen- und der Krankenpflege wurden. Sie bezogen ihre Mittel größtenteils aus den Spenden der Gläubigen, wurden jedoch in einzelnen Ländern schon sehr früh durch mächtige Könige zerstört, so von 1 Zum Wandel von Ehe und Familie und dessen ökonomische Rückwirkungen siehe auch Korn, S. 162 f.
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Heinrich VIII. in den Jahren nach 1536 durch Enteignung aller englischen Klöster zugunsten der Krone (Bartholomew, S. 32). Der fehlende soziale Schutz – wie unzureichend er aus heutiger Sicht auch gewesen sein mag – wurde damals durch die staatliche Einführung sogenannter Armengesetze herzustellen versucht. Den politischen Gemeinden wurde in der Annahme, dass ihre Bürger am besten die Lage vor Ort beurteilen könnten, aufgetragen, Armenhäuser zu errichten und für die Armen, Schwachen und Alten zu sorgen, wobei die steuerartige Erhebung eines Zehnten bei den wohlhabenden Bürgern durchaus zulässig war. Seit dieser Zeit entstand in England eine nicht enden wollende Debatte darüber, wie den Armutsproblemen wirksam Rechnung getragen werden könne (John St. Mill). Auch heute haben die dort von den Kirchen, Freikirchen und später auch von philanthropischen Gesellschaften betriebenen Einrichtungen erhebliche Bedeutung. Sie beruhen auf dem karitativen Prinzip und nicht auf dem „do ut des“ des Marktes, haben aber teilweise durch die Annahme staatlicher Mittel den Bereich der Caritas verlassen. Echte freiheitliche Einrichtungen, im heutigen Sinne auf der Basis von Verträgen und darauf beruhendem Leistungsaustausch, entstehen erst im Mittelalter im Rahmen von Gruppierungen wie Gilden und Handwerkervereinen, Genossenschaften und Verbänden (Müller-Armack 1981, S. 230 ff.). Es dauerte aber geraume Zeit bis diese Einrichtungen sich vom ursprünglichen Umlageverfahren trennten, nach dem die Verpflichteten erst beim Eintritt eines Schadensfalles ihre versprochene Einlage leisten mussten. Zur Bildung von kapitalbasierten Unternehmen wie Versicherungen kam es erst in der Neuzeit. Bei der Entstehung von Lebensversicherungen bedurfte es z. B. langer Auseinandersetzungen, bis vielfältige Einwände gegen solche Geschäfte fallen gelassen wurden und sich moderne Unternehmen auf der Basis von Sterbetabellen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen etablieren konnten. Allerdings waren nur die Betuchteren in der Lage, solche Vereinbarungen für die Absicherung ihrer Person gegen Armut und Alter einzugehen. Aufs Ganze gesehen können die in den ständisch-absolutistischen Ordnungen entstandenen sozialen Hilfen – gemessen an den Zielvorstellungen des späteren Sozialstaates, der flächendeckend ausgerichtet ist – kaum als zufriedenstellend angesehen werden. Not und Armut waren in der alten Gesellschaft zu groß – gemessen an den verfügbaren wirtschaftlichen Mitteln. Ob es allerdings heutigen Generationen gelungen ist, ein wirklich umfassendes Netz sozialer Sicherheit zu etablieren, ist umstritten. So wird der weltweite wirtschaftliche Aufschwung der letzten Dekaden, der in mancher Beziehung Parallelen zu den großen Umbrüchen des neunzehnten Jahrhunderts aufweist, häufig dahingehend kritisiert, dass er zwar einerseits beachtliche wirtschaftliche Fortschritte mit sich gebracht habe, gleichzeitig aber auch neue soziale Probleme entstehen ließ.
III. Wohlfahrtsstaat, Sozialismus und Liberalismus In der Regel wird das Entstehen des modernen Wohlfahrts- oder Sozialstaats auf die kaiserliche Botschaft von 1878 und 1881 zurückgeführt. Die Anfänge der öffentlichen Diskussion liegen jedoch früher. Zu nennen ist das im deutschen Sprachbereich weit verbreitete Staatslexikon, das in seiner ersten Auflage (1834 – 1843) noch „als Bibel frühliberalen Denkens“ galt, jedoch schon in seiner zweiten Auflage (1845 – 1848) vielbeachtete Artikel zu den Themen „Pauperismus“, „Communismus“ und anderen sozia-
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len Fragen veröffentlichte, die sich teilweise in ihrer Radikalität nicht von jenen Ansichten unterschieden, welche zeitgenössische Sozialisten vertraten (Rohr, S. 102 f.). Anders als in der ersten Auflage, in der die Selbstverantwortung des Einzelnen für sein Lebensschicksal und die Unantastbarkeit des Eigentums betont wurden, traten jetzt Autoren in den Vordergrund, welche die Verantwortung des Staates für seine Bürger und die Problematik des Reichtums hervorhoben (Rohr, S. 104). 1872 kam der sehr einflussreiche Verein für Socialpolitik, der sich aus der Deutschen Historischen Schule entwickelt hatte, als Werber für eine staatliche Politik zu Gunsten der Arbeiterschaft hinzu. Von dort aus sind – anders als noch in Adam Smiths einflussreichem Wealth of Nations, in dem das Soziale noch nicht in der Liste der Staatsaufgaben erscheint – die Erörterung um den Rang und die Bedeutung einer sozialen staatlichen Politik bis in die Gegenwart nicht mehr abgerissen. Erst von hier aus gewinnt auch die Frage, ob sich eine freiheitliche oder eine staatliche Gestaltung der Politik für den sozialen Sektor empfiehlt, ihr heutiges Gewicht. Übersetzt in die Sprache der Ökonomik heißt das, soll „soziale Sicherheit“ – was immer dieser Ausdruck im Einzelnen beinhalten mag – eher über die Institutionen des Marktes oder über diejenige des Staates geschaffen werden? Eine weit verbreitete Reaktion auf diese Sichtweise ist der Einwand, der Maßstab des Ökonomischen dürfe nicht an soziale Belange gelegt werden, denn es handele sich hier um „Bedarfe“, die nicht wie gewöhnliche Güter oder Dienste hergestellt und gewertet werden könnten. Es gehe vielmehr um vor- oder außerökonomische Anforderungen, die eine Gesellschaft – um der Betroffenen und der Nächstenliebe willen – bereitstellen müsse. Daraus wird dann der Schluss gezogen, dass es sich um eine eminent staatliche Aufgabe handele, also private oder marktliche Allokationsregeln nicht in Frage kämen. Das entkräftet jedoch nicht den Gegeneinwand, dass auch staatliche Einrichtungen Grenzen der Knappheit beachten müssen und dass gerade staatliche Maßnahmen angesichts ihrer Abhängigkeit von politischen Strömungen schlimmere Allokationsfehler machen können als die dem Markt unterworfenen Mechanismen. Heutige Geldwirtschaften sind Systeme, die – anders als die alten Selbstversorgungswirtschaften – infolge ihrer Rechenhaftigkeit die Knappheitsschranken deutlich offenlegen. Deren Missachtung aber bedeutet, dass nicht Wohlstand geschaffen, sondern vernichtet wird, wenn knappe Mittel in Verwendungen geleitet werden, in denen sie nicht erforderlich sind. Bessere Verwendungen werden dann dadurch verstellt, dass die verfügbaren Mittel durch weniger dringliche Verwendungen schon belegt sind. Wie aber verhalten sich die großen sozialphilosophischen Strömungen der letzten beiden Jahrhunderte gegenüber den beiden grundlegenden Gestaltungsalternativen des sozialen Bereichs? Die sozialistischen Richtungen des neunzehnten Jahrhunderts nehmen für sich in Anspruch, als erste die politische Seite der sozialen Frage aufgegriffen zu haben. Unter dem überragenden Einfluss von Karl Marx und seiner Kapitalismustheorie wurden sie jedoch lange Zeit in die Irre geführt. Die Marx’sche Lehre von den ehernen Gesetzen des historischen Verlaufs, nach denen der zeitgenössische Kapitalismus naturnotwendig in die historische Phase des Sozialismus und deren endgültigen Abschluss im „vollendeten Kommunismus“ einmünde, veranlasste noch 1957 / 58 Walter Ulbricht, den mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Staatsratsvorsitzenden der ehemaligen DDR, die Auffassung zu vertreten, dass eine sozialistische Gesellschaft keinerlei staatlicher Maßnahmen im sozialen Bereich bedürfe, da sie, als die gerechteste und sozialste aller denkbaren Ordnungen, derer nicht bedürfe (Lampert 1977, S. 130). Erst
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unter dem Druck realer Probleme wurde diese Parteilinie später schrittweise aufgegeben. An ihre Stelle trat die Aussage, dass eine soziale Politik lediglich im sozialistischen Durchgangsstadium zum Kommunismus erforderlich sei. Diese aber wäre jeder anderen Art von Wirtschafts- und Sozialpolitik schon alleine deswegen überlegen, weil sie an den Interessen der Werktätigen ausgerichtet sei (Lampert, ebenda) und somit den Mängeln des Kapitalismus, besonders seiner Ausbeutungspolitik, überlegen wäre. Von hier aus entwickelte sich dann in den späten Jahren der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik jener Aufgabenkatalog, der ungefähr zeitgleich auch in marktwirtschaftlichen Ländern entstand und dort von der ursprünglichen Schutz- und Risikoabsicherungspolitik zur heutigen umfassenden Gesellschaftspolitik führte. Die Organisation der sozialen Sicherheit im institutionellen Sinne aber erfolgte in der DDR nach den Regeln einer staatlichen Zuteilungswirtschaft – ein Allokationssystem, das jenen, die sich darauf berufen konnten, nicht den allgemeingültigen Regeln zu unterliegen, beträchtliche Sondervorteile verschaffte. Die Frage nach den Gegensätzen zwischen freiheitlichen und sozialen Gestaltungsaufgaben aber ist dahingehend zu beantworten, dass erstere im realen Sozialismus keine Alternative sein konnten. Nach dem Ende der DDR und ihrem Eintritt in die Bundesrepublik Deutschland mündete die dortige Sozialpolitik in die anders verlaufene Tradition des Westens ein. Deren Ausgangspunkt wird im Allgemeinen in der Bauernbefreiung und der Aufhebung der Leibeigenschaft durch die preußischen Reformer zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesehen. Diese Maßnahme wird vielfach als eine soziale Großtat – gemessen an den politischen Leitideen der Moderne – angesehen. Deren politischer Aspekt sollte jedoch nicht übersehen werden. Er bestand darin, dass die militärischen Reformer den Vasallenstatus Preußens nach den Niederlagen gegen Napoleon überwinden wollten. Dazu bedurfte es der Neuaufstellung eines Heeres, die nur dann möglich war, wenn es gelang, große Teile der männlichen Bevölkerung zu den Waffen zu rufen. Gegen das Versprechen auf Freiheit von den Bindungen der ständischen Gesellschaft gelang es, erhebliche Teile der bäuerlichen Bevölkerung zu mobilisieren, auch wenn diese für ihre Freiheit noch mit beachtlichen Kompensationszahlungen an ihre ehemaligen Herren belastet waren. Neben militärischen Zielen hofften die Reformer auch den allgemeinen Wohlstand zu fördern, was trotz schneller Zunahme der Bevölkerung im Zuge der „industriellen Revolution“ gelang und eine Verdreifachung des Wohlstandes pro Kopf gemessen über das ganze Jahrhundert zur Folge hatte. Übersehen wurde jedoch, dass der Wandel der Wirtschaftsordnung vom Ständestaat in Richtung einer offenen Gesellschaft erhebliche Anpassungslasten mit sich brachte, die sich in der Landflucht und dem gleichzeitigen Entstehen eines Proletariats in den schnell wachsenden Städten niederschlugen. Man vertraute darauf, dass in der von zahllosen Regulierungen befreiten Welt jeder Einzelne die notwendigen Vorkehrungen zur Absicherung seiner Lebensrisiken ergreifen werde. Es wurde zwar versucht, die alte soziale Ordnung im Rahmen neuer Vertragsformen zu ersetzen, und es entstanden neue genossenschaftliche Unternehmen, um mit den Schwierigkeiten der neuen Ordnung fertig zu werden. Gleichzeitig wurde durch die Sparkassenbewegung der Gedanke publik, dass Eigenvorsorge geboten und möglich war. Die stabile Goldwährung zum Ausgang des Jahrhunderts war ebenfalls hilfreich, da sie – trotz Wertschwankungen – nicht die trendmäßigen Geldwertverschlechterungen aller späteren staatlichen Geldordnungen aufwies.
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Als entscheidender Wendepunkt gilt jedoch die Bismarck’sche Politik, die mitunter undifferenziert als die Geburtsstunde des modernen Sozialstaates ausgegeben wird. Dabei wird übersehen, dass es Bismarck primär um die negativen Rückwirkungen seines Verbots der sozialdemokratischen Partei auf die Arbeiterschaft ging. Mit dieser Maßnahme hatte er die Arbeiterschaft ihres politischen Armes beraubt, glaubte aber gleichzeitig die dadurch verlorene Loyalität der Arbeiter gegenüber der Krone durch eine „leistungsstarke, mit erheblicher Beteiligung des Staates zu errichtende Sozialversicherung“ wieder zurückgewinnen zu können (Frerich / Frey, Bd. 1, S. 91 ff.). Bismarcks politischer Coup misslang, schuf aber unabhängig davon die politischen Grundlagen für das Entstehen einer staatlich bestimmten Sozialpolitik, wie sie von vielen, aber keineswegs allen Sozialreformern der Zeit gefordert wurde. Die Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg verlief trotz aller Schwierigkeiten, die der Strukturwandel durch die Wanderung vom ersten in den sekundären und tertiären Sektors aufwarf, weithin moderat (vgl. Allan G. B. Fisher). Die Absicherung gegen die Risiken des Lebens wurde nach wie vor als eine Aufgabe angesehen, die im Wesentlichen der Eigenverantwortung der Bürger anvertraut war. Entsprechende Versicherungseinrichtungen entstanden auf privatwirtschaftlicher Basis. Der entscheidende Umschwung wurde durch zwei Weltkriege sowie zwei mit ihnen verbundenen zerstörerischen Inflationen und Währungsreformen (1923 und 1948) bewirkt. Neben drückenden Kriegsfolgelasten wurden zweimal alle Formen von Geld- und Sparanlagen entwertet. Hinzu trat nach einem kurzen Aufschwung (1924 – 1928) die Weltwirtschaftskrise (ab 1929), die im deutschen Fall zu einer völligen Verstaatlichung des Wirtschaftslebens einschließlich der sozialen Sicherungseinrichtungen führte. Die langen und erbittert geführten politischen und intellektuellen Auseinandersetzungen über die richtige Wirtschaftsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg führten in jüngerer Zeit zwar dazu, dass zumindest die beiden größeren deutschen Parteien sich weitgehend auf die Kennzeichnung ihrer gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialpolitik durch „Soziale Marktwirtschaft“ einigten. Dieser Begriff kann jedoch verschieden ausgelegt werden, was einmal in seinen Unschärfen begründet ist, zum anderen aber auch in verschiedenen Auslegungen. Müller-Armack, der als erster den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ in die öffentliche Diskussion einführte und ihn in einer Programmschrift entwickelte, formulierte seine Ideen dahingehend, dass die Soziale Marktwirtschaft sowohl eine Alternative zur kommunistischen und nationalsozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft als auch zum Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts (kurz auch: Laissez-faire-Kapitalismus genannt) sei und mithin eine neue Ordnungsform darstelle, die sich auch von der landläufigen Unterscheidung zwischen Liberalismus und Sozialismus absetze (Brakelmann, S. 732). Eine vielzitierte Formulierung Müller-Armacks lautet, dass eine Soziale Marktwirtschaft das „Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs“ verbinde. Oder anders ausgedrückt, es ging ihm darum „unter Wahrung der Marktfunktion sozialen Fortschritt zu erreichen“ (Müller-Armack 1952). Müller-Armack war sich im Klaren darüber, dass seine Konzeption je nach ihrer Ausgestaltung zwei sich widersprechende Ziele enthalten könnte. Lange Zeit glaubten und glauben oft noch heute große Teile der Öffentlichkeit, dass sozialer Fortschritt nur durch die Einschränkung der wettbewerblich-marktwirtschaftlichen Ordnung, etwa durch die
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Schutzrechte für Arbeitnehmer, Mieter und Verbraucher oder durch staatliche Eingriffe in Preise und Löhne, erreichbar wären, mit anderen Worten, dass zwischen den beiden Zielen eine unaufhebbare Konfliktbeziehung herrsche. Dagegen setzte Müller-Armack die These, dass eine richtig verstandene Soziale Marktwirtschaft, welche die Knappheitsbeschränkungen einhält, den Wettbewerb am Markt effizient mit den sozialen Zielen der Zeit verknüpfen könne, d. h., dass es immer eine marktwirtschaftliche Lösung gäbe, die angesichts der hohen Produktivität einer freiheitlich verfassten Marktwirtschaft allen anderen bürokratisch-lenkenden Ordnungsformen überlegen sei. Demnach sei eine wettbewerbliche Marktwirtschaft mit sozialer Sicherheit kompatibel (Watrin, S. 452). In welcher Weise aber hat sich Müller-Armacks Idee einer Sozialen Marktwirtschaft in der deutschen politischen Praxis niedergeschlagen? Sie wurde größtenteils als Freifahrschein für den Ausbau und die Erweiterung des Sozialstaates verstanden, und zwar mit nur geringer Rücksichtnahme auf die innere Logik der marktwirtschaftlichen Ordnung, die eigentlich eine Feinabstimmung von Wirtschafts- und Sozialpolitik bedingen würde. Vom Staat wurde in der philosophischen Tradition Hegels von den Ordoliberalen erhofft, dass er sich auf die unparteiische Rolle des Regelsetzers, nicht aber die des Mitspielers beschränken werde. Tatsächlich bewirkte jedoch das Regelsystem der repräsentativen Demokratie, dass der Staat zum Hauptteilnehmer an der Erstellung von Sicherheitsleistungen wurde und dass gerade die Sozialpolitik zum Spielball politischer Auseinandersetzungen werden konnte. Das bewirkte, dass sich die Sozialpolitik in den letzten Dekaden zunehmend in Richtung Verstaatlichung entwickelte. Ein zentraler Fehler war die mangelnde Beachtung der Folgen, welche die Einführung des Umlageverfahrens auf das generative Verhalten ausübt. Zwar wurde das Problem bereits in der Gesetzesbegründung angesprochen, aber die politisch Verantwortlichen gingen davon aus, dass die Geburtenraten davon unberührt blieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Zahl der Geburten zunächst schnell zu und lag 1957 über dem Wert von 2,1; das ist der Wert, der mindestens erforderlich ist, um die Bevölkerung stabil zu halten. Dieser Verlauf veränderte sich jedoch eine Dekade später mit dem sogenannten Pillenknick und ist mittlerweile auf 1,36 Geburten pro Frau (2006) abgesunken. Das heißt die deutsche Bevölkerung nimmt stark ab. Die zeitliche Differenz (1957 und 1970) hat bewirkt, dass in der öffentlichen Diskussion beide Ereignisse nicht miteinander in Verbindung gebracht werden, sondern dass andere Faktoren wie Änderungen der Sexualmoral als ausschlaggebend genannt werden. Ungeachtet der Vermutungen über Kausalitäten ist jedoch darauf zu achten, dass veränderte Möglichkeiten der Geburtenkontrolle auf bestehende Sozialstrukturen Rückwirkungen ausüben können, die allerdings so, wie sie eingetreten sind, nicht vorhersehbar waren. Im vorliegenden Fall handelt es sich um ein Kollektivgutproblem, welches sich dadurch auszeichnet, dass individuell rationales Handeln von Mitgliedern eines Kollektivs ein gemeinsam angestrebtes Ziel zwar nicht unbedingt unerreichbar, aber doch weniger gut verfolgbar macht. Im vorliegenden Fall ist das Ziel die kollektive Absicherung gegen Standardrisiken durch ein Umlageverfahren. Das ist jedoch ohne zusätzliche Belastung nur dann erreichbar, wenn die Bevölkerung, ausgedrückt in Zahl der Geburten, über alle künftigen Generationen hinweg stabil bleibt. Gerade diese Bedingung ist seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht mehr erfüllt. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium (Ziff. 85) drückt dies so aus:
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„Eine umlagefinanzierte Rentenversicherung, wie sie in Deutschland besteht, kann als eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit interpretiert werden, da die Umlagerente es Kinderlosen ermöglicht, im Alter auf die Beiträge der Kinder anderer Leute zurückzugreifen. Sie erfüllt insofern eine wichtige Versicherungsfunktion. Indes verringert die Umlagerente zugleich die Anreize, selbst Kinder zur Welt zu bringen und aufzuziehen. Nach der Rechtskonstruktion unseres Rentensystems erwirbt man einen Rentenanspruch schon dann, wenn man auf dem Wege der Beitragszahlung die Generation seiner Eltern finanziert. Dass man selbst Kinder hat, ist nicht wichtig. Ohne Kinder kollabiert jedoch das Umlagesystem.“ Damit ist die langfristige Existenz des „Generationenvertrages“, wie er euphemistisch, aber unzutreffend genannt wird, in Frage gestellt, es sei denn die Geburtenrate stiege in vertretbarer Zeit wieder nachhaltig an.
IV. Die Zukunft des Sozialstaates: Kollektivistische versus freiheitliche Lösungen? Im Jahre 2005 veröffentlichte das „Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung“ eine kleine Broschüre unter der Überschrift „Mehr Kinder – sofort!“. Unter diesem alarmierenden Titel wurde vorgeschlagen, dass die mit siebeneinhalb Millionen besetzte Altersgruppe der damals 35- bis 45-jährigen Frauen sich zu einem Zehntel für ein weiteres Kind entschließen solle. Die nächstjüngere Kohorte, die 25- bis 35-Jährigen, sei, so wurde gesagt, nur noch mit fünf Millionen Frauen besetzt. Schon aus diesem Grunde falle deren Beitrag zur Alterssicherung erheblich geringer aus. Zwar werde dann auch die Zahl der künftigen Rentner abnehmen, aber das Verhältnis zwischen Einzahlern und Empfängern werde dadurch nicht nachhaltig verbessert. Die Frauen der älteren Kohorte aber sollten durch eine Babyprämie veranlasst werden, ein weiteres Kind zu gebären, um so das Missverhältnis zwischen der wachsenden Zahl der Rentenempfänger und der sinkenden Zahl der Einzahler zu ihren eigenen Gunsten und zu Gunsten der künftigen Rentnergeneration zu verbessern. Aus ökonomischer Sicht ist dem Vorschlag des Berlin-Instituts keine günstige Prognose zu stellen, führt er doch direkt in die oben skizzierte Kollektivgutproblematik hinein. Wie hoch auch die Babyprämie angesetzt werden dürfte, es ist kaum vorstellbar, dass sie die Mühen und Kosten der Erziehung eines Kindes über 18 bis 25 Lebensjahre wettmachen könnte. Schwer lösbar dürfte auch die Frage sein, ob nur die zusätzlichen Geburten einer Altersklasse von Müttern in den Genuss der Prämie kommen sollen oder ob, zwecks Vermeidung der Diskriminierung jüngerer Mütter, nicht alle Neugeborenen im betreffenden Zeitraum mit derselben Subvention auszustatten seien. Vor allem aber ist darauf hinzuweisen, dass jene neunzig Prozent der älteren Mütter – wer bestimmt sie? –, die kein weiteres Kind gebären, die Position des sogenannten Trittbrettfahrers einnehmen und ohne zusätzliche Lasten eine Besserstellung ihrer künftigen Bezüge realisieren können. Es gibt dann auch für das übrigbleibende Zehntel keine rationalen Gründe, nicht ebenso zu denken und zu handeln. Daraus folgt, dass individuell rationales Handeln nicht zum gemeinsamen Ziel der besseren Altersbezüge führt. Alltagssprachlich werden solche nicht zum Erfolg führenden Empfehlungen treffend mit „Hahnemann geh’ Du voran“ bezeichnet.
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Trotz dieser Problematik sind die derzeitigen Vorschläge zur Stabilisierung der Rentenversicherung (und verwandter Sozialsysteme) dadurch gekennzeichnet, dass sie in reichem Maße von Subventionen und anderen Beihilfen Gebrauch machen, so beim Elterngeld, bei den Steuerzuschüssen zu Kindergärten, bei der Pflicht der Unternehmen zur Elternfreistellung im ersten Lebensjahr Neugeborener, ferner die staatlichen Beihilfen zur Errichtung von Kinderkrippen oder das weit über die Schwelle des Erwachsenenalters reichende Kindergeld, um nur einiges zu nennen.2 In den öffentlichen Begründungen der verschiedenen Ausgabekategorien werden die verbesserte Stellung der Frau im öffentlichen Leben, der tatsächlich oder bloß vermeintliche Wandel der gesellschaftlichen Leitbilder oder die Gleichstellung der Geschlechter genannt. Der ebenfalls verfolgte Zweck, die finanzielle Krise der sozialen Sicherungseinrichtungen zu bekämpfen, wird dabei eher übersehen. Ob in diesem Zusammenhang allerdings Subventionen vielfältiger Art erfolgreich sein können, wird nicht durch Erfahrungen in vergleichbaren Fällen bestätigt. Die Wirtschaftspolitik kann, wie in der neueren Diskussion angenommen wird, die negativen Auswirkungen des demographischen Wandels auf vielfältige Weise dämpfen, aber nicht ausschalten (Wissenschaftlicher Beirat, Ziff. 34). Das generative Verhalten selbst ist durch zahlreiche Faktoren bestimmt, die größtenteils in einem freiheitlichdemokratischen System nicht steuerbar sind. Das gilt überdies auch für totalitäre Systeme wie das chinesische, das über Jahrzehnte hinweg erfolglos versucht hat, eine rigorose Ein-Kind-Politik durchzusetzen. Alle Maßnahmen aber schließen nicht aus, dass sich die Lage in Zukunft durch einen weiteren Geburtenrückgang verschärft. Zu fragen ist deswegen, ob es im freiheitlichen Lager Alternativen zum jetzt bestehenden Umlagesystem des Wohlfahrts- und Sozialstaats gibt. Im liberalen Lager gibt es außer den libertären Kritikern des Wohlfahrtsstaates (Hoppe, de Jasay, Radnitzky) keine bekannten Autoren, die den Standpunkt eines radikalen Abbaus desselben vertreten. F. A. von Hayek, der vielen als die Inkarnation des klassischen Altliberalismus gilt, leitet das Kapitel „Soziale Sicherheit“ in seinem opus magnum „Die Verfassung der Freiheit“ mit dem Satz ein: „In der westlichen Welt wurde eine gewisse Vorsorge für Menschen, die durch Umstände, die nicht in ihrer Macht liegen, von äußerster Armut oder Hunger bedroht sind, schon lange als Pflicht der Gemeinschaft anerkannt“. Und weiter heißt es: „Was wir heute als öffentliche Fürsorge und Unterstützung kennen, [ . . . ] ist bloß das alte, an die modernen Verhältnisse angepasste Armengesetz. Die Notwendigkeit solcher Einrichtungen in einer Industriegesellschaft ist unbestritten.“ (Hayek, S. 361). Hayek schließt sich mit diesen Überlegungen den Ordo- oder Neoliberalen nach dem Zweiten Weltkrieg an (Röpke, S. 284 – 313; Müller-Armack 1974; Eucken, S. 185 ff.), 2 Einen interessanten, aber in der Öffentlichkeit bisher wenig beachteten Vorschlag zu den familienpolitischen Maßnahmen macht der Wissenschaftliche Beirat (Ziff. 84 ff., besonders 86). Danach soll der Mangel des umlagefinanzierten Systems, der sich in einem bewussten Verzicht auf Kinder niederschlägt, dadurch behoben werden, dass jeder Erwerbstätige verpflichtet ist, einen bestimmten Anteil seines Bruttoeinkommens zu sparen. Nach der Geburt des ersten Kindes wird ein Drittel der bis dahin akkumulierten Ersparnis frei, beim zweiten Kind das zweite Drittel und beim dritten Kind die Restsumme. Kinderlose werden dadurch veranlasst, sich eine kapitalgedeckte Rente anzusparen. Eltern erhalten Liquidität, wenn sie am nötigsten ist, ohne dass ihre Umlagerente geschmälert wird.
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die den Liberalismus des neuzehnten Jahrhunderts als blind gegenüber den sozialen Fragen seiner Zeit kritisieren und deswegen „soziale Sicherheit“ als eine Dienstleistung verstanden, die von Menschen nachgefragt wird. Die Nachfrage nach Sicherheit aber resultiert aus den Erfahrungen der Vergangenheit und dem Charakter des marktwirtschaftlichen Regelsystems. Grundlegend für die neuere Geschichte dürfte die Weltwirtschaftskrise (1929 / 30) gewesen sein, die Millionen arbeitslos werden ließ, mit – im deutschen Fall – völlig unzureichenden Zuwendungen aus der erst 1927 eingeführten allgemeinen Arbeitslosenversicherung. Die theoretische Analyse aber führt nicht unbedingt zum umstrittenen Keynesianismus, nach dem die Marktwirtschaft ein störanfälliges System der wirtschaftlichen Koordination ist, sondern zur Hayek’schen Einsicht, dass Glück, Zufälle und nicht vorhersehbare Entdeckungen die wirtschaftlichen Lose mitbestimmen. In einem solchen Milieu ist der Wunsch nach Sicherheit in vielen Lebensbezügen verständlich. Die Vorstellung aber, dass die hochbürokratischen modernen Staaten über das Wissen verfügen, die komplizierten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Akteuren richtig zu erfassen und zum Wohle aller zu lenken, wird von liberalen Autoren in Abrede gestellt. „Staatsversagen“ ist ein Problem, das jede Politik begleitet und welches zu Situationen führt, die niemand gewollt hat. Im vorliegenden Fall lässt sich sagen, dass es 1955 gute Gründe gab, die Position der Rentner zu verbessern, und dass der eingetretene sogenannte Pillenknick seit 1965 nicht vorhersehbar war. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass der eingeschlagene wirtschafts- und sozialpolitische Pfad falsch war. Die liberale Kritik richtet sich deswegen nicht gegen das Streben nach „sozialer Sicherheit“ als solcher, sondern gegen die aktuelle Umsetzung dieser Idee. Als besonders verhängnisvoll wird die Ausgestaltung der sozialen Versicherung als Zwangsversicherung mit Zwangsmitgliedschaft und der Aufbau der zugehörigen Einrichtungen als staatlich betriebene Monopole angesehen. Dadurch wurde es möglich, dass die das System lenkenden Personen andere Ziele als die der Versicherten verfolgen konnten und dass das Gewinnen von politischen Wahlen statt des sparsamen und vertragsgetreuen Umgangs mit den knappen Mitteln in den Vordergrund rücken konnte. Die Versicherten konnten sogar über die simple Tatsache hinweggetäuscht werden, dass sie nicht für ihr Alter Kapital ansparten, sondern – um im Bild zu bleiben – nur für das Alter ihrer Eltern Zahlungen leisteten. Das Umlageverfahren aber steht unter dem Stern, dass später Geborene ebenso handeln wie die heutigen. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass viele Bürger solche hochriskanten Verträge akzeptieren würden, wenn sie die freie Wahl hätten zwischen normalen Lebensversicherungen und dem staatlichen Zwangssystem (zu weiteren Details siehe Schüller). Das alles ist heute bekannt. Die Riester-Rente ist ein erster zaghafter Versuch, der den heute Zahlpflichtigen Aussichten eröffnet, im Alter nicht von unvorhersehbaren politischen Entscheidungen abhängig zu sein. Viele versuchen Wohnungseigentum zu erwerben, um sich im Rentenalter finanziell zu entlasten. Die heutigen Einkommen sind, wenn man nicht der Täuschung unterliegt, der Arbeitgeberzuschuss sei eine freiwillige Leistung des Unternehmens und somit kein Lohnbestandteil, mit mehr als 40 Prozent für Sozialabgaben belastet. Hinzu kommen die direkten und indirekten Steuern. Mehr als die Hälfte der durchschnittlichen Einkommen unterliegt somit staatlichem Diktat. Dies alles gilt es sachgerecht zu ändern.
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Unternehmensethik Von André Habisch I. Der Kontext: Marktwirtschaftliche Ordnung Unternehmensethik ist kein geschützter Begriff. Stärker als in anderen Bereichen gilt hier mit J. W. von Goethe: ,Erlaubt ist, was gefällt‘. Die internationale Diskussion um ,Business Ethics‘ wird durch eine Vielzahl von Ansätzen und Beiträgen beherrscht, die teilweise von Wissenschaftlern (Philosophen, vorwiegend evangelischen Theologen, Betriebswirten), ganz überwiegend aber von Praktikern verfasst sind. Entsprechend vielgestaltig sind auch die inhaltlichen Optionen, Motivlagen und zugrunde liegenden weltanschaulichen Orientierungen. Wissenschaftlich fundierte Unternehmensethik wird demgegenüber nicht beliebig auf ihren Erkenntnisgegenstand zugreifen, sondern das Unternehmen im Kontext marktwirtschaftlicher Ordnung verstehen. Unternehmen sind keine freistehenden Institutionen, sondern sind in ihren Freiräumen und Grenzen, in ihren Existenzbedingungen überhaupt, von ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf Märkten abhängig. Der Unternehmensethiker, der von diesen Sachzusammenhängen abstrahiert und Unternehmen nur als soziologische oder kulturelle Strukturen zu begreifen sucht, vermag seinen Gegenstand nicht angemessen zu erfassen und kommt nicht selten zu verfehlten inhaltlichen Bestimmungen. Mit der Fundierung der Unternehmensethik im Begriff marktwirtschaftlicher Ordnung sind zugleich auch inhaltliche Kriterien markiert. Denn viele unternehmensethische Konzepte tragen vordergründig als Kritik von Unternehmen vor, was eigentlich eine Kritik des marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmens der Unternehmen darstellt. Von Unternehmen wird dann – aus moralischen Gründen – verlangt, sich gegen einen Wettbewerbsdruck zu stemmen, der vom marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen auf ihr Handeln ausgeübt wird. Moral und Wettbewerb erscheinen als Gegensatz (Dualismus). Zu Beginn jeder Unternehmensethik ist also zunächst die ,Gretchenfrage‘ nach der moralischen Qualität des Wettbewerbsprinzips als zentraler Grundlage marktwirtschaftlicher Ordnung – und damit auch des unternehmerischen Handelns – zu beantworten.1 Die akademische Katholische Soziallehre im deutschsprachigen Raum hat bereits relativ früh zu einem prinzipiell positiven Zugang zu Wettbewerb und marktwirtschaftlicher Ordnung gefunden.2 Autoren wie Götz Briefs3, Joseph Höffner, Johannes Messner, Wilfrid Schreiber u. a. fanden sich mit einer weitgehenden Ablehnung von Markt Vgl. dazu etwa Homann (1989). Dies vermochte sich allerdings im kirchlichen Raum national und international nur mit Verzögerung durchzusetzen; vgl. die zahlreichen von A. Rauscher zu diesem Themenfeld herausgegebenen Beiträge, zuletzt etwa Rauscher (2006). 3 Vgl. Briefs (1921) (1955). 1 2
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und Wettbewerb durch ihre Zeitgenossen konfrontiert. Angesichts dessen werben sie darum, die gerade auch sozialethischen Implikationen von Markt und Wettbewerb zu sehen4: – Marktwirtschaften nutzen vorhandene Ressourcen effizienter. Zudem mobilisieren sie Innovation und Fortschritt. Nur dadurch kann die globale Knappheitsproblematik überwunden werden, die sich durch das rapide Bevölkerungswachstum verschärft hat. Menschenwürdige Lebensbedingungen in Übereinstimmung mit den eigenen Wertvorstellungen für die Masse der Bevölkerung können nur entwickelte Marktgesellschaften bieten. – Bürgerinnen und Bürger werden im Kontext einer Marktgesellschaft aus ihrer existentiellen persönlichen Abhängigkeit von feudalen oder staatlich-administrativen Autoritäten befreit und zur Mündigkeit und Verantwortung geführt. Dies hat gerade vor dem Hintergrund der christlichen Anthropologie, die den Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit und freien Personalität begreift, eine große Bedeutung (Personalitätsprinzip). – Insbesondere J. Messner weist darauf hin, dass Marktwirtschaft Arbeitsteilung und Spezialisierung ermöglicht – und damit auch als Instrument gesamtgesellschaftlicher Solidarität zu verstehen ist. Hier handelt es sich um einen durchaus kontraintuitiven Gedanken, denn häufig wird Markt und Wettbewerb der Vorwurf gemacht, die Bereitschaft zu solidarischem Verhalten gerade zu zerstören. Messner lädt demgegenüber dazu ein, neben einer Teilnehmerperspektive auch eine Vogelperspektive einzunehmen: Was aus der Wahrnehmung des einzelnen Marktteilnehmers mitunter als gnadenloses Gegeneinander erscheint, das kann aus der volkswirtschaftlichen Gesamtperspektive als wichtiges Instrument zur Vergrößerung des Kooperationsertrages bzw. als Zuführung einer (gemeinsamen) Ressource zu ihrer ,effizientesten‘ Verwendungsform begriffen werden. Erst dieser Effizienzgewinn eröffnet Potentiale der (Um-)Verteilung im Sinne der Linderung sozialer Not bzw. der Investition in Personen, natürliche Ressourcen, kulturelles und soziales Leben etc. (Solidaritätsprinzip). – Marktwirtschaftliche Ordnung macht unabhängig von zentralen Planungs- und Steuerungsinstanzen und vergrößert dadurch die Potentiale lokaler Selbstorganisation und -steuerung. Sie eröffnet Spielräume für lokale Präferenzen, unterschiedliche Wertvorstellungen und kulturelle Verschiedenheit (Subsidiaritätsprinzip). Dies wird gerade im Vergleich zu dem relevanten Alternativsystem der Zentralverwaltungswirtschaft deutlich.
Insbesondere in der Freiburger Schule der Nationalökonomie (W. Eucken, F. Böhm u. a.) wird dabei zu Recht die konstitutive Bedeutung staatlicher Ordnungspolitik für den Erhalt der moralischen Qualität der Wettbewerbsfähigkeit betont.5 Daraus ist in Deutschland das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft entwickelt worden, das auf die Notwendigkeit den Markt flankierender Sozial- und Gesellschaftspolitik rekurriert 4 Insbesondere der Wiener Sozialethiker Johannes Messner hat dabei bereits in seiner Habilitationsschrift Mitte der 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts wichtige Maßstäbe gesetzt, die aber leider kaum traditionswirksam geworden sind; vgl. dazu Messner (2002) und die Beiträge in Schmitz (1999). 5 Vgl. dazu den Beitrag „Wirtschaftsordnungspolitik als zentrale Aufgabe des Staates“ im vorliegenden Handbuch.
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(A. Müller-Armack). Zeitgenössische Autoren haben in diesem Zusammenhang die institutionelle Rahmenordnung in den Mittelpunkt der Wirtschafts- und Unternehmensethik gestellt (Homann / Suchanek 2005). II. Unternehmenshandeln in der Marktwirtschaft: Nachhaltige Wertschöpfung Die Wahrnehmung von Wettbewerb und Marktordnung als – zumindest prinzipiell – sozialethisch erwünschte gesellschaftliche Veranstaltungen impliziert ein daraus resultierendes ,Ethos‘ des Unternehmens. Denn es sind die Unternehmen, die diesen Wettbewerb vorantreiben und gestalten, aber auch durch ihn geprägt werden – sowohl sachlich wie kulturell. Nichts bestimmt die Logik unternehmerischen Handelns in der Marktwirtschaft so durchgängig und grundlegend wie das Ringen um den Erhalt und die Erweiterung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens. Die Logik unternehmerischen Handelns im Kontext marktwirtschaftlicher Ordnung lässt sich in diesem Sinne als eine Logik der Wertschöpfung charakterisieren. Wertschöpfung ist dabei in einem doppelten Sinne zu verstehen: – unternehmensintern als Steigerung des Unternehmenswertes; – unternehmensextern (im Kontext funktionsfähiger Rahmenordnung) als Beitrag zur Besserstellung der Anspruchsgruppen des Unternehmens: Kapitalgeber / Aktionäre, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Kundinnen und Kunden, Lieferanten und Öffentlichkeit.
Durch Wertschöpfung erfüllt das Unternehmen seinen primären und wichtigsten Beitrag zur marktwirtschaftlichen Ordnung: Die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Erwirtschaftung monetär bewertbarer Erträge, die sowohl zur Befriedigung privaten Konsums (als Gewinne bzw. Arbeitslöhne) als auch zur Finanzierung öffentlicher Güter (als Steuern und Abgaben) verwendet werden können. Wettbewerbsfähige Unternehmen sind das wichtigste Instrument der Organisation gesellschaftlicher Arbeitsteilung; ihre Präsenz ist ein zentraler Faktor des Wohlstands eines Gemeinwesens im Sinne der Schaffung ökonomischen, aber auch sozialen und human-kulturellen Vermögens. Durch die aus ihren Kernkompetenzen resultierende Innovationskraft tragen die Unternehmen im Kontext funktionsfähiger Marktordnung zugleich zur Realisierung sozialethischer Ziele wie Überwindung von Massenelend, Bekämpfung von Krankheiten, umweltgerechtere Produktionsprozesse, Aufbau von Kompetenzen und personale Weiterentwicklung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern etc. bei. Wertschöpfung als Leitprinzip unternehmerischen Handelns ist nicht mit ,Gewinnmaximierung‘ zu verwechseln – wie dies in einer (kritischen) Außenperspektive immer wieder geschieht. Nachhaltige Gewinnsteigerung ist im Kontext funktionierender Rahmenordnung eher Konsequenz umsichtiger Wertschöpfungsorientierung. Diese drückt sich in Investitionen in kritische Erfolgsfaktoren des Unternehmens aus, die gerade durch die Wettbewerbssituation notwendig werden. Aus der Sicht der Kapitalgeber stellen Investitionen den Verzicht auf Gegenwartskonsum dar – um nachhaltige Wertschöpfung im Unternehmen zu ermöglichen. Durch den konstitutiven Bezug auf die Wettbewerbsordnung sind dabei zugleich Möglichkeiten und Grenzen unternehmerischen Handelns klar bestimmt. Implizit oder
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explizit moralisch motivierte Aktivitäten und Programme müssen zumindest mittel- bis langfristig einen Beitrag zur Wertschöpfung im Unternehmen erbringen. Umgekehrt zeigt sich aber in der unternehmerischen Praxis auch, dass ,rationales‘ i. S. v. sachgerechtem Managementhandeln keineswegs mit kurzfristigem Profitmaximierungsverhalten zu verwechseln ist. Vielmehr setzt nachhaltige Wertschöpfung die umsichtige Berücksichtigung der Interessen der verschiedenen Anspruchsgruppen des Unternehmens voraus (Geldgeber, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Kundinnen und Kunden, Öffentlichkeit etc.). Auf dieser praktischen Analyseebene kommen soziologische, (sozial-) psychologische oder interaktionsanalytische Forschungsperspektiven zum Einsatz, ohne die eine Theorie der Unternehmung nicht vollständig wäre. Diese Zusammenhänge wurden in der Diskussion um ,Stakeholder-‘ versus ,Shareholder-Value‘ als Ziel der Unternehmensführung thematisiert, die zu Beginn der 90erJahre international sehr kontrovers geführt worden ist. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob ein Unternehmen ausschließlich an den Interessen der Kapitalgeber als Eigentümer zu orientieren sei (,Shareholder-Modell‘) oder ob systematisch die Interessen aller beteiligten Anspruchsgruppen (,Stakeholder‘) zu befriedigen seien. In der Praxis unternehmerischen Handelns als Wertschöpfung wird der Dualismus als Scheinwiderspruch identifiziert. Denn nur wenn es gelingt, alle am Unternehmen beteiligten Gruppen dauerhaft besser zu stellen (,win-win‘), wird ein nachhaltiger Profit zu realisieren sein, der über dem Opportunitätsnutzen konkurrierender Anlagen liegt. Im Anschluss an die grundlegenden Beiträge von E. Freeman hat sich dementsprechend die ,Theorie der Anspruchsgruppen‘ zu einem strukturbildenden Instrument unternehmensethischer Darstellungen entwickelt. Dieses Gedankengut weist enge Berührungspunkte zur Tradition der Katholischen Soziallehre auf. So klagen etwa die Sozialenzykliken der Päpste Leo XIII., Pius XI. und insbesondere auch Johannes Paul II. die Personenwürde der Arbeiter als ethische Herausforderung an das Unternehmenshandeln ein. Bei Johannes Paul II. ist dabei auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit den sozialistischen Wirtschaftsformen erstmals auch die sozialethische Bedeutung des Unternehmers positiv gewürdigt worden (Centesimus annus). In der neueren unternehmensethischen Fachdiskussion um gesellschaftliches Engagement von Unternehmen (,Corporate Citizenship‘) und verantwortliche Unternehmensführung (,Corporate Social Responsibility‘, kurz CSR) werden sozialethische Desiderate insofern aufgenommen, als sie als begriffliche Konstruktionsprinzipien (,Heuristik‘) die konzeptionelle Grundlage einer positiven Theorie des Unternehmenshandelns bilden. Sie werden zwar nicht bekenntnishaft wiederholt, bestimmen aber als verborgene Steuerungselemente die begriffliche Rekonstruktion ,sachgerechter‘ Handlungsmöglichkeiten. Die sich als Charakteristikum der Moderne ergebende Vielfalt normativer ,Semantiken‘ und Zugangsweisen ist dabei aus der Sicht der Tradition christlicher Sozialethik nicht zu kritisieren; vielmehr sollte die Entstehung innovativer Ethosformen unternehmerischen Handelns vom christlichen Menschen- und Gesellschaftsverständnis her konstruktiv-kritisch begleitet werden: Genau sie ist in der gegenwärtigen Unternehmensethik zu beobachten.
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III. Aspekte der zeitgenössischen Diskussion um „verantwortliche Unternehmensführung“ (CSR) 1. Die Wurzeln von CSR in der Globalisierung
Ursache der neueren Diskussion um verantwortliche Unternehmensführung, die in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts eingesetzt hat, ist die Verschiebung des institutionellen Gleichgewichtes von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in der ,Globalisierung‘. Die (weitere) Vertiefung der Arbeitsteilung im internationalen Maßstab generiert ganz erheblichen zusätzlichen Wohlstand. Sie trägt zur Linderung der globalen Armutsproblematik bei. Ihre Erträge fallen allerdings sehr unterschiedlich an: Es profitieren die internationalen Finanzmarktakteure, internationale Unternehmen und Arbeitskräfte in Entwicklungs- und Schwellenländern. Verlierer sind dagegen (insbesondere schlecht qualifizierte) Arbeitnehmer in den Industrieländern. Im Kontext der Globalisierung kommt es auch zur Verschärfung bestehender sowie zur Entstehung neuer Ordnungsprobleme (Umwelt, organisierte Kriminalität, Korruption, Integration in die Gesellschaft). Welche Instrumente diese Probleme lösen können, ist eine am Beginn dieses Prozesses weitgehend offene Frage. Der Handlungsspielraum des Nationalstaates ist zunächst geografisch auf sein Territorium, finanziell auf die Einnahmen aus Steuern und Abgaben beschränkt. Für die Bearbeitung grenzüberschreitender Ordnungsprobleme stehen ihm nur mittelbare Instrumente wie Verhandlungen im Rahmen internationaler Organisationen zur Verfügung. In vielen Nationen – insbesondere in den Schwellenländern der Globalisierung wie China, Indien, Lateinamerika, Osteuropa etc. – ist zudem die nationale Rahmenordnung höchst defizitär und vermag weder die Erstellung öffentlicher Güter (Bildung, Infrastruktur, Umweltschutz, soziale Sicherung, Kriminalitätsbekämpfung) noch die Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen des Wirtschaftens zu garantieren. Systematisch gesehen fällt bei lückenhafter Rahmenordnung die Verantwortung für die Konsequenzen ihres Handelns auf die handelnden Akteure selbst zurück (Homann / Gerecke). Empirisch gesehen konstituiert sich durch das Vordringen der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien (Internet) schrittweise eine globale Öffentlichkeit, die von den Unternehmen konstruktive Problemlösungsbeiträge und die Wahrnehmung ihrer Verantwortung erwartet. Spezialisierte Nichtregierungsorganisationen begleiten das Handeln von internationalen Unternehmen kritisch – und vermögen ggf. ganz erheblichen Druck aufzubauen und / oder die Medien in den entwickelten Ländern zu mobilisieren. Viele internationale Großunternehmen stellen sich diesen Herausforderungen; sie reflektieren ihr Handeln – auch auf Vorstandsebene – unter ethischen Gesichtspunkten und richten professionelle CSR Abteilungen und Managementsysteme ein. Das Ignorieren eigener Verantwortung zeitigt negative Konsequenzen sowohl moralisch für die handelnden Personen und ihr Umfeld als auch ganz unmittelbar wirtschaftlich für den innerbetrieblichen Wertschöpfungsprozess. Internationalen Konzernen drohen bei Beschädigung ihrer Reputation (,brand-value‘) Nachteile in der Beziehung zu ihren wichtigsten Anspruchsgruppen Kapitalgeber (Aktienwert an internationalen Kapitalmärkten), Mitarbeiter (Betriebsbindung, Motivation, Attraktivität als Arbeitgeber: ,best employer‘), Kunden (Kaufverhalten) und Öffentlichkeit (Vertrauensvorschuss bei Regulierungen: ,license to operate‘). Kleinen und mittelständischen Unternehmen als Zu-
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lieferern droht der Verlust ihrer Lieferverträge, wenn sie internationalen Standards, wie sie in entsprechenden Kodizes (OECD Richtlinien, ILO Arbeitsnormen) niedergelegt sind, auch auf wiederholte Aufforderung hin nicht zu entsprechen vermögen. 2. Die Durchsetzung von Mindeststandards: Kodizes und Kontrollsysteme
An die Stelle der externen Kontrolle durch die im internationalen Raum fehlende (staatliche) Gewerbeaufsicht tritt in der Globalisierung die interne Selbstkontrolle – entlang ökonomischer Anreize. Katalysator ist dabei oft ein externes Zertifikat (Qualitätsmanagementsysteme wie ISO, EMAS; CSR Managementsysteme wie SA 8000 etc.), dessen Erhalt die Einhaltung bestimmter Mindeststandards in den Bereichen Menschenrechte der Mitarbeiter (z. B. Verbot von Kinderarbeit, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz, soziale Absicherung), Umgang mit natürlichen Ressourcen, Transparenz für Kunden und Öffentlichkeit, Einhaltung rechtlicher Regeln etc. voraussetzt. Wichtiges Vehikel für diese Selbstkontrolle ist dabei das ,Management der Wertschöpfungskette‘ (,ethical supply chain management‘). Denn um ein Zertifikat zu erhalten oder zu bewahren, müssen große Unternehmen die Einhaltung entsprechender Mindeststandards auch bei ihren Zulieferern (u. a. in Entwicklungs- und Schwellenländern) sicherstellen – und üben entsprechenden Druck aus. Diese Mechanismen können zur (internationalen) Diffusion von Mindeststandards beitragen. Ein anderes wichtiges Instrument der Selbstkontrolle ist durch die US-amerikanische Schadensersatzpraxis induziert worden. Firmen, die durch Verletzung ihrer Verantwortungspflichten einen Schaden herbeiführen, müssen erhebliche Schadensersatz- und Strafzahlungen (punitives ,damnum‘) befürchten. Die Unternehmen haften dabei für ihre Erfüllungsgehilfen – in der Regel ihre eigenen Mitarbeiter. Wenn das schädigende Unternehmen allerdings nachweisen kann, dass es den Schaden durch die präventive Aufstellung eines firmeninternen Verhaltenskodex (,code of conduct‘) zu verhindern versucht hat und zusätzlich korrespondierende Kontrollsysteme zu dessen Umsetzung (,compliance management‘) eingerichtet hat, dann können dadurch die Strafzahlungen erheblich reduziert werden. In einem Verhaltenskodex formuliert das Unternehmen seine Verantwortung gegenüber den wichtigsten Anspruchsgruppen und bekennt sich zu Firmenwerten, die für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (bis hin zum Vorstand selber) verbindlich gelten sollen. Ein Kontrollsystem bietet eine Reihe von Mechanismen, die die Übertretungen verhindern sollen: Ein spezialisierter Compliance Officer wird mit eigenen Kontrollbefugnissen ausgestattet, bei einer internen Stelle (hotline) können beobachtete Regelverstöße anonym kommuniziert werden (,whistle blowing‘) etc. Aus sozialethischer Sicht spielt die freiwillige Selbstkontrolle und -bindung an Mindeststandards insbesondere bei globalisierten Produktionsprozessen eine wichtige Rolle. So haben Markenhersteller im Bereich von Lifestyle und Sportartikeln umfangreiche Abteilungen eingerichtet, die ständig international Produktionsstätten kontrollieren und die Einhaltung der Selbstverpflichtungen überwachen. Angesichts fehlender staatlicher Regulierung ist dies ist ein bedeutendes Instrument zur Sicherung der Menschenrechte von Arbeitern in Entwicklungs- und Schwellenländern, zur Einhaltung ökologischer Mindeststandards der Produktion etc. Aus der Perspektive christlicher Sozialethik stellt es allerdings eine gravierende Engführung dar, wenn verantwortliche Unternehmensführung gelegentlich auf Verbote
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und Kontrollen reduziert wird. Der ethische Impuls im Wirtschaftsleben erschöpft sich nicht in der (autoritativen) Durchsetzung von Mindeststandards und Spielregeln. Hier ist auch eine entsprechende Diskussion in der Öffentlichkeit zu kritisieren, die nach Unternehmensethik lediglich dann ruft, wenn Skandale oder Regelverstöße ruchbar geworden sind. Sozialethik wird dann tendenziell instrumentalisiert und zum ,Blockwart‘ der Globalisierung degradiert. Im Bereich der CSR-Praxis vermag eine Reduktion auf Compliance und innerbetriebliche Kontrollsysteme, wie sie häufig zu beobachten ist, der Verantwortung von Unternehmen für die nachhaltige Entwicklung ihrer Standorte nicht gerecht zu werden. Ein rigoroses Vorgehen gegen Kinderarbeit kann zum Beispiel kontraintuitive Effekte entfalten, wenn es nicht zugleich damit verbunden ist, für die betroffenen Familien eine neue Lebensgrundlage zu suchen. Defensive Lösungen, die nur den eigenen Wirkungsbereich von zweifelhaften Praktiken frei halten, aber nicht nach den weiteren gesellschaftlichen Bezügen fragen, unterbieten die Anforderungen an verantwortliches Handeln im 21. Jahrhundert. Hier führen proaktive Strategien gesellschaftlichen Engagements und ordnungspolitischer Mitverantwortung (,Corporate Citizenship‘) wesentlich weiter.
IV. Gesellschaftliches Engagement von Unternehmen („Corporate Citizenship“) 1. Institutionen und Themenfelder
Es wurden bereits die beschränkten Handlungsmöglichkeiten des Staates zur Lösung grenzüberschreitender Ordnungsprobleme im Kontext einer globalisierten Welt betont. Viele Probleme sind so komplex, dass es der öffentlichen Hand an dem nötigen Fachwissen oder auch spezifischen Kompetenzen bzw. Ressourcen fehlt, um adäquate Problemlösungsstrategien zu konzipieren. Deshalb hat in den vergangenen Jahrzehnten die Bedeutung der (internationalen) Bürgergesellschaft – unter Einschluss der Unternehmen – zur Problembewältigung und zur Erstellung ,öffentlicher Güter‘ stark zugenommen. In der Umweltpolitik sind wichtige Impulse von spezialisierten Nichtregierungsorganisationen und Firmen ausgegangen, die pragmatisch ressourcenschonende Verfahren oder Instrumente entwickelt haben. Ähnliches ist für die Entwicklung innovativer Lösungsansätze für die Ordnungsprobleme des 21. Jahrhunderts zu erwarten. Hier werden nicht staatliche Stellen, sondern die internationale Bürgergesellschaft dominieren. Aufgabe des Staates und internationaler Institutionen ist es dann, die gefundenen Lösungen dort wo dies möglich ist in institutionelle Strukturen hinein weiter zu entwickeln.6 Internationale Organisationen wie etwa der vom ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan gegründete ,Global Compact‘ (www.globalcompact.org) sollen die Mitwirkung des Unternehmenssektors an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben auf eine institutionelle Plattform stellen. Der Global Compact stellt sich heute als weltweites Netzwerk engagierter Unternehmen zur Ermöglichung wechselseitigen Lernens und der Bündelung von Kräften dar. Die Europäische Kommission hat seit Anfang des Jahrhun6 Schon Bismarcks Sozialpolitik in Deutschland führt sich letztlich in wesentlichen Teilen auf Initiativen christlicher Unternehmer und Arbeiterführer zurück, die auf betrieblicher Ebene pragmatische Formen der Solidarität (z. B. Solidarfonds für Unfallopfer etc.) entwickelt haben.
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derts eine Reihe von Initiativen gestartet, um die Mitgliedsländer für die Chancen einer vertieften Zusammenarbeit mit Unternehmen zu sensibilisieren und ordnungspolitische Mitverantwortung von Unternehmen für die Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschaftskultur zu propagieren. Europäische Mitgliedsländer wie Großbritannien, Dänemark, Österreich, Niederlande u. a. haben nationale Plattformen eingerichtet, um Unternehmen aller Größenordnungen für ihre Mitverantwortung auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene zu sensibilisieren. Die EU-Kommission versteht dies sowohl als Instrument zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Europäischen Wirtschaftsraumes (Lissabon-Prozess) als auch als Bestandteil eines spezifisch Europäischen Sozialmodells. In ihrem Papier vom März 20067 nennt die Kommission dabei insbesondere folgende Politikfelder: – Sozial-, Familien- und Bildungspolitik: Stärker integrierte Arbeitsmärkte und ein höheres Niveau der sozialen Eingliederung, da die Unternehmen aktiv bestrebt sind, mehr Mitarbeiter aus benachteiligten Gruppen einzustellen. Investitionen in Kompetenzentwicklung, lebenslanges Lernen und Beschäftigungsfähigkeit, die notwendig sind, um in der globalen Wissensgesellschaft wettbewerbsfähig zu bleiben und das Problem der Alterung der Erwerbsbevölkerung in Europa zu meistern. – Gesundheitspolitik: Verbesserungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit als Ergebnis freiwilliger Initiativen der Unternehmen. – Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik: Bessere Innovationsleistungen insbesondere dort, wo es um die Lösung gesellschaftlicher Probleme geht, dank einer engeren Zusammenarbeit und der Schaffung eines die Innovation begünstigenden Arbeitsumfelds. Ein positiveres Image von Unternehmen und Unternehmern in der Gesellschaft, damit sich eine positivere Einstellung gegenüber dem Unternehmertum entwickeln kann. – Umweltpolitik: Eine schonendere Nutzung natürlicher Ressourcen und ein geringeres Verschmutzungsniveau vor allem durch Investitionen in Öko-Innovation und die freiwillige Einführung von Umweltmanagementsystemen und Kennzeichnungssystemen. – Entwicklungspolitik: Stärkere Achtung der Menschenrechte, des Umweltschutzes und grundlegender Arbeitsnormen insbesondere in den Entwicklungsländern. Bekämpfung der Armut und Fortschritte auf dem Weg zu den Millenniums-Entwicklungszielen.
In der Auswahl und Aufbereitung der genannten Themen ist das klassische Gegeneinander von sozialen (Gerechtigkeits-)Zielen einerseits und ökonomischen (Effizienz-) Zielen andererseits überwunden. Im Kontext eines integrierten Nachhaltigkeitskonzeptes zeigen sich gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung als systemisch aufeinander bezogen.8 2. Abgrenzung zur traditionellen Philanthropie
Unternehmen orientieren sich auch in ihrem gesellschaftlichen Engagement weiterhin an der – aus der Wettbewerbsordnung resultierenden – Logik der Wertschöpfung. Bei 7 Dokumentiert unter http: // eur-lex.europa.eu / LexUriServ / site / de / com / 2006 / com2006_0136 de01.pdf (August 2007). 8 Vgl. zur Diskussion in Europa Habisch / Jonker / Wegner / Schmidpeter (2005).
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der Wahrnehmung ordnungspolitischer Mitverantwortung geht es auch darum, die eigene Wettbewerbsposition zu konsolidieren und umfeldbezogene Probleme aus dem Weg zu räumen (,win-win-Szenario‘). Gesellschaftliches Engagement im Sinne von ,Corporate Citizenship‘ unterscheidet sich dabei von der Tradition unternehmerischer Philanthropie, wie sie bereits von den Gründungspatriarchen des Industrialisierungszeitalters geübt wurde: – Es handelt sich nicht nur um ein persönliches Engagement des Eigentümer-Unternehmers unabhängig von seinem Betrieb, sondern bezieht das Unternehmen umfassend mit ein. – Es reflektiert explizit den betrieblichen Wertschöpfungsbeitrag gesellschaftlichen Engagements (,business case‘), auch wenn das Bewusstsein dafür international noch sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Überall in Europa ist in diesem Sinne eine Professionalisierung gesellschaftlichen Engagements zu beobachten, die eine bessere Orientierung von Programmen und Initiativen an den strategischen Unternehmenszielen erlaubt.9 – Es umfasst nicht nur finanzielle Unterstützung für das gesellschaftliche Umfeld, sondern bezieht auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, logistische Potenziale, Zugang zu Netzwerken, Medien und Entscheidungsträgern etc. in das gesellschaftliche Engagement mit ein. Hier ist insbesondere die Bedeutung betrieblichen Freiwilligenengagements (,Corporate Volunteering‘) zu nennen, das sich für die Mitarbeiter häufig als ,Türöffner des Ehrenamtes‘ erweist und entsprechende Chancen für Wohlfahrtsverbände als Partner der Unternehmen eröffnet. Engagierte Mitarbeiter identifizieren sich stärker mit dem eigenen Unternehmen und tragen Programme persönlich mit. 3. Gesellschaftliches Engagement als Investition in Soziales Kapital
In einer Logik der Wertschöpfung lässt sich gesellschaftliches Engagement auch als Investition in Soziales Kapital begreifen: Unternehmen erhöhen die Selbststeuerungsfähigkeit und autonome Problemlösungskompetenz ihres gesellschaftlichen Umfeldes (Subsidiarität). Dies wird besonders bei Problemlagen mit Dilemma-Charakter deutlich, die nicht durch individuelle Initiativen lösbar sind, sondern kollektive Vereinbarungen benötigen. Wird ein Unternehmen etwa bei einem Großauftrag im Entwicklungsland mit Korruptionsforderungen konfrontiert, so kommt ein Verzicht auf entsprechende Zahlungen oft einem freiwilligen Marktaustritt gleich. Die Struktur der Wettbewerbssituation verhindert die Überwindung des Dilemmas mit Hilfe individueller Moral. Zielführender ist es hier, gemeinsam mit Wettbewerbern eine Veränderung der gemeinsamen Rahmenbedingungen anzustreben: Etwa durch eine kollektive Selbstbindung, die z. B. die Selbstverpflichtung zum Verzicht auf Korruptionszahlungen mit einer (gewinnmindernden) Sanktion bewehrt.10 Die kollektive Selbstbindung könnte dann die relevanten Rahmenbedingungen einzelwirtschaftlichen Entscheidungsverhaltens verändern. Das gilt insbesondere für die ,große Korruption‘, in der es – etwa bei Großprojekten in Entwicklungsländern – um die Zahlung von Bestechungsgeldern in Millionenhöhe geht. Vgl. dazu die grundlegenden Beiträge von M. Porter, etwa jüngst Porter / Kramer (2006). Die Nichtregierungsorganisation ,Transparency International‘ hat mit dem Konzept der ,Inseln der Integrität‘ einen derartigen Vorschlag gemacht; vgl. dazu www.transparency.org. 9
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Auf operativer Ebene stellt sich gesellschaftliches Engagement als projektbezogene Partnerschaft eines Unternehmens mit Politik und Bürgergesellschaft an seinen Standorten dar. Gemeinsame Ziele sind die Verbesserung des Bildungsangebotes vor Ort, die Bekämpfung von Umweltproblemen, die Erleichterung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die kulturelle Lebensqualität am Standort usw. Für das Unternehmen resultieren daraus aber auch ein lebendigeres soziales Umfeld mit höherer Transparenz, eine Stärkung der Motivation der Mitarbeiter (insbesondere an ausländischen Standorten), eine wachsende Sensibilität für Menschenrechte und Personenwürde etc. Die Ausbildung einer dynamischen Bürgergesellschaft und die Festigung des Rechtsempfindens in der Öffentlichkeit und in staatlichen Institutionen sind mittelbare, aber für einen nachhaltigen Wertschöpfungsprozess nicht weniger relevante Nebenwirkungen aktiven gesellschaftlichen Engagements von Unternehmen.
4. Einwände gegen gesellschaftliches Engagement von Unternehmen
Einwände gegen die Praxis aktiver ,ordnungspolitischer Mitverantwortung‘ und stärkeren gesellschaftlichen Engagements von Unternehmen sind in der öffentlichen Diskussion sowohl von Seiten ökonomiekritischer Globalisierungsgegner als auch von liberalen Wirtschaftsmedien geäußert worden. – Globalisierungskritiker ziehen prinzipiell in Zweifel, dass privatwirtschaftliche Unternehmen relevante Gemeinwohlbeiträge zu leisten gewillt sind. Hintergrund ist hier ein dualistisches Ethikkonzept, das Gewinn- und Gemeinwohlorientierung als einander ausschließende Gegensätze wahrnimmt. Gesellschaftliches Engagement wäre dann nur als freiwilliger Verzicht auf Profit denkbar – in einer Marktwirtschaft eine unwahrscheinliche Alternative. – Die liberalen Einwände bewerten in der Tradition des mittlerweile legendären Diktums von M. Friedman (,the business of business is business‘) gesellschaftliches Engagement von Unternehmen als illegitim und gegen die gesellschaftliche Arbeitsteilung von Staat und Wirtschaft gerichtet. Die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen, die Allokation öffentlicher Güter und die Regulierung der Wirtschaft seien Aufgaben von Politik und Verwaltung, während die Unternehmen ausschließlich die Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit vor Augen haben sollten.11
Diese Kritik hat ihre Berechtigung dort, wo sie kostenträchtige, aber wirkungslose CSR Aktionen kritisiert, die weder für das Unternehmen noch für das gesellschaftliche Umfeld der Unternehmen einen Wertschöpfungsbeitrag erbringen (,Schaufensterprojekte‘ / ,blue washing‘). In ihrer undifferenzierten Ablehnung geht diese strukturkonservative Kritik aber an der Realität des modernen Unternehmens wie auch des modernen Gemeinwesens vorbei. In Zeiten der Globalisierung können viele Wettbewerbsziele überhaupt nicht mehr unabhängig vom gesellschaftlichen Umfeld realisiert werden. Es ist hier in hohem Maße wettbewerbsrelevant, ob geeignete Rahmenbedingungen verfügbar sind. Gerade deshalb ist es in der Globalisierung sinnvoll, in soziales Kapital zu investieren: für Unternehmen und Gesellschaft. 11 Ironischerweise sind es mithin gerade liberale Stimmen, die hier eine Gemeinwohlverantwortung ausschließlich beim Staat sehen – und mithin einem Etatismus Vorschub leisten, den sie in anderer Hinsicht regelmäßig kritisieren.
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V. Kleine und mittelständische Unternehmen Über neunzig Prozent der Unternehmen in Deutschland sind klein und mittelständisch, sie stellen über siebzig Prozent der Arbeitsplätze. Im Alltagsgeschäft dieser Betriebe sind unternehmensethische Überlegungen weniger formalisiert, sie spielen aber dennoch eine gewichtige Rolle. Hier sind weniger spezialisierte Managementstrukturen gefragt als vielmehr die ethischen Überzeugungen des Eigentümer-Unternehmers bzw. seiner Familie, die eine wichtige Grundlage der Unternehmenskultur und des täglichen Umgangs miteinander darstellen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die unternehmensethische Praxis auch in mittelständischen Betrieben durch eine ,Logik der Wertschöpfung‘ bestimmt wird. Die wichtigste Zielgruppe sind dabei die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, danach die Kundschaft und das gesellschaftliche Umfeld am Standort.12 Der Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeiter wird angesichts der demografischen Entwicklung noch zunehmen; mittelständische Betriebe sind hier gegenüber den Großunternehmen häufig benachteiligt, weil sie als potentielle Arbeitgeber nicht so im Blickfeld des qualifizierten Nachwuchses stehen. Das traditionelle Engagement der mittelständischen Wirtschaft etwa im Bereich der berufsständischen Bildung (duales System) resultiert daraus; eine glaubwürdig an Werten orientierte Unternehmenskultur profiliert ein Unternehmen als attraktiver Arbeitgeber und mobilisiert die personalen Ressourcen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als ,Mitunternehmer‘.13 Das Geschäftsmodell vieler mittelständischer Betriebe ist auf konstante Kundenbeziehungen in der Region hin ausgerichtet (z. B. Handwerk). Hier ist fairer Umgang mit Kundinnen und Kunden und hohe Qualität der erbrachten Dienstleistungen ein entscheidender Faktor nachhaltiger Wertschöpfung. Auch das gesellschaftliche Engagement in der Region ist an solchen Aspekten orientiert – wobei eine stärker proaktivgestaltende Initiative mehr bewirken kann als das weit verbreitete reaktive Eingehen auf Spendenwünsche (Habisch / Schmidpeter / Neureiter 2007).
VI. Zukunftsperspektiven: Unternehmer des Sozialen und die globale Einkommenspyramide Angesichts des weiter fortschreitenden Prozesses der Globalisierung wird die Bedeutung der Unternehmen und damit die Relevanz der Unternehmensethik für eine an der Lösung internationaler Ordnungsprobleme interessierte Sozialethik weiter zunehmen. Zwei besonders fruchtbare Linien der internationalen Fachdiskussion seien hier abschließend noch kurz angerissen. 1. Unter dem Stichwort ,Markterschließung am Fuß der globalen Einkommenspyramide‘ (,bottom of the pyramid‘) reflektiert der in den USA lehrende Ökonom C. K. Prahalad das globale Armutsproblem als Thema ungenutzter Geschäftschancen für internationale Unternehmen. Die weltweit rund vier Milliarden Menschen mit einem ver12 Vgl. dazu insbesondere die Berichte des Instituts für Mittelstandsforschung IfM in Bonn, etwa Maaß / Clemens (2002). Eine Untersuchung der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt mit dem Bund Katholischer Unternehmer im Sommer 2006 hat ähnliche Befunde geliefert. 13 Vgl. dazu ausführlich Then (1994).
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fügbaren Einkommen von zwei Dollar und weniger am Tag stellen aus Sicht der Unternehmen ein ungeheures Absatzpotential dar. Was wir gegenwärtig in Teilen Indiens und Chinas erleben – nämlich dass die Integration armer Menschen in das globale Wirtschaftssystem enorme Wertschöpfungspotentiale freisetzt –, das ist genauso für andere Teile der Welt denkbar. Dazu dürfen die Armen allerdings nicht bloß als Objekte unkonditionierter ,Hilfsaktionen‘ betrachtet, sondern müssen als ,Kunden‘ und Wirtschaftssubjekte ernst genommen werden. C. K. Prahalad nennt zahlreiche Beispiele dafür, wie Konsumgüterhersteller in die Entstehung zukünftiger Märkte investiert haben. Um technologische, kulturelle oder stukturelle Markteintrittsschranken dieser Menschen zu beseitigen, müssen die Unternehmen allerdings zunächst in die Voraussetzungen nachhaltiger Wertschöpfung investieren. Unternehmen leisten hier das, was sie immer tun: nämlich spezifische Kundengruppen adressatengetreu anzusprechen. Als positive Nebenwirkung entsteht z. B. eine soziale Infrastruktur, die als Bestandteil des Sozialvermögens (,social capital‘) zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen in einer Region beiträgt.14 2. An anderem Ort – etwa im Umfeld des Friedensnobelpreisträgers 2006 Muhammed Yunus – werden auf regionaler Basis Clubgüter erstellt (hier: soziale Strukturen der Genossenschaftsbank Grameen), die sich durch Nachahmung auch auf andere Weltgegenden übertragen lassen. M. Yunus gilt als Prototyp jener ,Unternehmer des Sozialen‘, deren Ziel nicht die Realisierung individuellen Profits, sondern die Lösung eines gesellschaftlichen Ordnungsproblems darstellt, die aber dennoch unternehmensförmig auf Märkten agieren. Internationale Netzwerke wie die Organisation ,Ashoka‘ oder die ,Schwab-Foundation for Social Entrepreneurship‘ haben sich der Förderung dieser Initiativen verschrieben. Initiativen und Konzepte wie ,Markterschließung am Fuß der globalen Einkommenspyramide‘ und ,Unternehmer des Sozialen‘ weisen vielfältige Bezüge zu den Prinzipien der Katholischen Soziallehre auf. Die Aktualität ihrer Leitprinzipien Personalität, Solidarität, Subsidiarität und – wie einige meinen – Nachhaltigkeit ist auch in Zeiten der Globalisierung mit Händen zu greifen. Neuere Unternehmensethik und Katholische Soziallehre weisen wechselseitige Lernpotentiale auf, die bisher aus historischen Gründen weitgehend nicht realisiert wurden. Ein vertiefter Dialog würde zur Bündelung von Kräften und fruchtbaren beiderseitigen Impulsen anregen.
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Vgl. dazu Habisch / Moon (2006).
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Freiheit und Verantwortung der Unternehmer Von Nils Goldschmidt
Mit der Enzyklika Centesimus annus von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 1991 erhielt neben der menschlichen Arbeit, deren Wert und Bedeutung die Päpste seit Rerum novarum (1891) immer wieder betont haben, auch die wirtschaftliche Initiative des Unternehmers ihren festen Platz in der Katholischen Soziallehre: „Viele Güter können gar nicht durch die Arbeitskraft nur eines einzelnen wirksam erstellt werden, sondern sie erfordern die Zusammenarbeit vieler für dasselbe Ziel. Einen solchen Produktionsprozess zu organisieren, seinen Bestand zu planen, dafür zu sorgen, dass er, unter Übernahme der notwendigen Risiken, der Befriedigung der Bedürfnisse positiv entspricht: auch das ist eine Quelle des Reichtums in der heutigen Gesellschaft. So wird die Rolle der geordneten und schöpferischen menschlichen Arbeit immer offensichtlicher und entscheidender. Aber ebenso sichtbar wird – als wesentlich zu dieser Arbeit gehörend – die Bedeutung der wirtschaftlichen Initiative und des Unternehmertums.“ (CA 32) Mit dieser positiven Anerkennung der unternehmerischen Tätigkeit, die in Centesimus annus in eine allgemeine Wertschätzung eines geordneten marktwirtschaftlichen Systems eingebunden ist, gelang Papst Johannes Paul II. ein fruchtbarer „Brückenschlag zum Markt“1, der zugleich die Katholische Soziallehre vor die Aufgabe stellt, Freiheit und Verantwortung der Unternehmer neu zu bedenken.
I. Zur Charakterisierung des Unternehmers Im Umbruch zur Moderne unterscheidet die nach-thomistische Scholastik, so bei Antonius von Florenz (1389 – 1459) und Bernhard von Siena (1380 – 1444), zwischen der labor des Arbeiters und der industria des Geschäftsmannes.2 Der Geschäftsmann besitzt u. a. das Wissen über Qualitäten, Kosten und Preise sowie die Fähigkeit, Gewinnchancen richtig einzuschätzen.3 Der Begriff des Unternehmers (entrepreneur) findet sich erstmals bei dem französischen Ökonomen Richard Cantillon (1680 – 1734). Cantillon betonte, dass der Unternehmer Produktionsmittel und Güter zu „sicheren“ Preisen einkauft, in Erwartung „unsicherer“ Einnahmen beim Verkauf. Den Unternehmer charakterisiert nach Cantillon also insbesondere die Übernahme von Risiken, eine Eigenschaft, die aus heutiger Sicht – auch in Anbetracht der verzweigten Struktur der Besitzverhältnisse moderner Unternehmen – aber kaum mehr als alleiniges Kennzeichen des Vgl. hierzu Goldschmidt (2005). Vgl. de Roover (1967). 3 Vgl. de Roover (1967), S. 13. Mit dieser letzten Eigenschaft lässt sich eine Linie bis zum „findigen Unternehmer“ bei Kirzner (1978) ziehen. 1 2
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Unternehmers betrachtet werden kann.4 Jean-Baptiste Say (1767 – 1832) beschrieb als erster die besondere Leistung des Unternehmers dadurch, dass er die notwendigen Produktionsfaktoren zum Zwecke der Fabrikation zusammenbringt. Die Funktion des Unternehmers liegt danach also in der Kombination der Faktoren Arbeit, Kapital und Boden im Produktionsprozess. Wurde dies für lange Zeit eher als eine statische Aufgabe verstanden, ist es dem österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter (1883 – 1950) zu verdanken, dieses Merkmal unternehmerischer Tätigkeit dynamisch gedeutet zu haben und damit dem Unternehmer eine besondere Fähigkeit zuzuschreiben. Nach Schumpeter ist der Unternehmer zwar nicht notwendigerweise Erfinder neuer Produkte oder Produktionsverfahren, sondern der Unternehmer ist vor allem ein Pionier und Innovator, der im Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ Fortschritt mittels der Durchsetzung neuer Produktionsmethoden, neuer Güter und einer verbesserten Organisation sowie durch die Erschließung neuer Absatzwege und -räume ermöglicht und diese Neuerungen kommerziell verwertet. Anerkennt man diese Charakterisierung des Unternehmers, ist es unmittelbar einsichtig, dass zur Entfaltung der produktiven und innovativen Wirkungen unternehmerischen Handelns dem Unternehmer im Rahmen einer Wirtschaftsordnung ein hohes Maß an Freiheit zugebilligt werden sollte. Zugleich erhält der unternehmerische Gewinn eine besondere und positive Bedeutung, wie auch Centesimus annus treffend feststellt: „Wenn ein Unternehmen mit Gewinn produziert, bedeutet das, dass die Produktionsfaktoren sachgemäß eingesetzt . . . wurden.“ (CA 35)5 Neben der Charakterisierung des Unternehmers durch seine Fähigkeit Produktionsprozesse zu gestalten, Produktionsmittel zu kombinieren und Produkte am Markt zu lancieren, gibt es in der ökonomischen Literatur eine lange Tradition, den Unternehmer vor allem auch aufgrund seiner Leitungsfunktion, die ihm im Betrieb und gegenüber den Mitarbeitern zukommt, zu beschreiben. Diese Leitungsfunktion, die in heutigen Wirtschaftsprozessen freilich nicht nur vom Unternehmer im klassischen Sinne, sondern vermehrt auch von Managern wahrgenommen wird, ergibt sich einerseits aufgrund der notwendigen funktionalen Differenzierung von Aufgaben im Betrieb, andererseits aufgrund einer Hierarchisierung der Aufgaben. Bereits John Stuart Mill (1806 – 1873), dem wohl die Verbreitung des Begriffs „entrepreneur“ im englischen Sprachraum zuzuschreiben ist, stellte vor allem diese Funktion heraus, wobei er von „Superintendenz“ (Oberaufsicht) und „Kontrolle“ als notwendigen Aufgaben sprach. Die Fähigkeit hierfür ist nach Mill gebunden an Fleiß und eine besondere Begabung.6 Alfred Marshall (1842 – 1924) 4 Zur bleibenden Bedeutung von unternehmerischem Risiko und der Übernahme von Unsicherheit durch den Unternehmer für die moderne Wirtschaft siehe bereits Knight (1921). Zum Überblick: Blümle (1980). 5 Gleichwohl sollte hiermit keinem unkritischen Ökonomismus das Wort geredet werden. In diesem Sinne ist auch der Hinweis des „Kompendiums der Soziallehre“ zu deuten, dass „der Gewinn nicht immer ein Beweis dafür ist, dass das Unternehmen der Gesellschaft in angemessener Weise dient.“ Kompendium der Soziallehre der Kirche (2006), Nr. 340; siehe auch Nothelle-Wildfeuer / Steger (2006), S. 30, Anm. 55. 6 Vgl. Mill (1848 / 1965), Buch II, Kapitel XV. Mill hat im Übrigen bereits auch auf ein Problem hingewiesen, das – mit Blick nicht nur auf unternehmerische Aufgaben – in der heutigen Literatur als „Prinzipal-Agent-Problem“ diskutiert wird: Aufgrund asymmetrischer Informationsverteilung ist für den Prinzipal (z. B. den Unternehmenseigner) nicht sichergestellt, dass der Agent (z. B. der Manager) wirklich im Sinne des Unternehmens und nicht nur zum eigenen Vorteil handelt. Um hier eine weitgehende Kohärenz der Ziele zu erreichen, ist entweder ein hohes Maß an Kontrolle not-
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spricht in diesem Zusammenhang sogar von „ritterlichen Tugenden“, die den Unternehmer auszeichnen sollten, und der Sozialphilosoph John Ruskin (1819 – 1900) umschreibt die Unternehmer als „captains of industry“. Ohne hier diese und nachfolgende Zuschreibungen7 im Einzelnen prüfen zu wollen, ist offensichtlich, dass das Bild des Unternehmers auf das Engste mit dem Gedanken der verantwortungsvollen Leitung des Unternehmens verbunden ist. Entsprechend spricht auch das „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ von einem Verantwortungsbewusstsein, das zwar aus der freien wirtschaftlichen Initiative entsteht, aber als soziale Tugend zu interpretieren ist.8 In gleicher Weise betont Centesimus annus die Notwendigkeit zur „Ausbildung leistungsfähiger Unternehmer, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind“ (CA 35). Freiheit und Verantwortung sind folglich zwei Charakterisierungen des Unternehmers, die sich zunächst aus der Analyse der ökonomischen Funktion des Unternehmers, insbesondere hinsichtlich seiner Aufgaben von effizienter und kreativer Produkterstellung und -vermarktung sowie der Unternehmensleitung ergeben. Im Folgenden gilt es, diese Charakterisierungen näher zu kennzeichnen, um sie dann einer sozialethischen Prüfung zu unterziehen. II. Die Freiheit des Unternehmers Die produktive und kreative Tätigkeit des Unternehmers wirkt im Rahmen einer wettbewerblich organisierten Wirtschaftsordnung vorteilhaft auf die wirtschaftliche Entwicklung. Es ist folglich unmittelbar einsichtig, dass eine weitreichende Freiheit des unternehmerischen Handelns im Interesse der Gesellschaft selbst sein wird. Wie die Erfahrungen mit Planwirtschaften gezeigt haben,9 führt der Verzicht auf die freiheitliche Initiative des Unternehmers zu materiellem Mangel, dem repressive politische Verteilungsmechanismen zur Seite gestellt werden, die nicht selten mit der Privilegierung einiger Weniger verbunden ist. Hingegen wird erst eine wettbewerblich organisierte Gesellschaft auch Unternehmer hervorbringen, die innovativ ihre Fähigkeiten nutzen und ihre jeweiligen Gaben weiter entwickeln.10 Es wäre jedoch von Grund auf verkehrt, die unternehmerische Freiheit als gesellschaftlich ungebunden zu verstehen. So wie die unternehmerische Tätigkeit letztlich der Gesellschaft, sprich dem Gemeinwohl dienen soll – der heilige Bernhard spricht in diesem Zusammenhang von „pro republicae servitio et utilitate“ 11 – ist es auch die Gesellschaft, die den Rahmen für die unternehmerische Freiheit bestimmt. Die Freiheit des Unternehmers sollte dort enden, wo sie in Konflikt mit gesellschaftlich wünschenswerten Prämissen gerät. Hier kann der Gedanke der Wirtschaftsordnungspolitik aufgegriffen werden, wie er von Walter Eucken (1891 – 1950) und der Freiburger Schule entwickelt wendig – worauf Mill verwiesen hat – oder man erhofft – wie in der heutigen Literatur diskutiert wird –, durch Maßnahmen der Unternehmenskultur, Setzen entsprechender Anreize oder Reputationseffekte hier entgegenwirken zu können. 7 Üblicherweise sieht man heute in den Aufgaben „Planung“, „Steuerung“ und „Kontrolle“ die Kernelemente der Unternehmensführung. 8 Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche (2006), Nr. 343. 9 Bei Karl Marx, aber auch schon bei David Ricardo, hat der Unternehmer keinerlei Bedeutung. 10 Vgl. von Hayek (1973 – 9 / 2003), S. 382. 11 de Roover (1967), S. 13.
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worden ist.12 Wirtschaftspolitik wird danach als Ordnungspolitik verstanden, die den wirtschaftlichen Prozessen solche Regeln vorgibt, so dass das Ergebnis ökonomischer Aktivität dem Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft dienlich ist. Der Wettbewerb und auch das unternehmerische Handeln sind Mittel, nicht das Ziel für eine gedeihliche gesellschaftliche Entwicklung. Entsprechend folgert Eucken: „Aufbau und Führung der Betriebe und Haushaltungen können nur im Rahmen der Wirtschaftsordnung und des gesamten Wirtschaftsablaufs verstanden werden.“13 Diese Rahmensetzung für das unternehmerische Handeln ist primär rechtlicher Natur und hat sich heute in einer Vielzahl von Regelungen im Zusammenhang mit dem Wettbewerbsrecht, dem Arbeitsrecht, dem Umweltrecht, dem Aktienrecht, der Steuergesetzgebung, der Sozialpolitik usw. niedergeschlagen, die das unternehmerische Handeln im Sinne weiterer gesellschaftlicher Ziele einschränkt. Es wird dabei jedoch immer abzuwägen sein, ob bestehende und angestrebte Gesetze und Regeln die unternehmerische Initiative nicht so sehr beschränken, dass zumindest langfristig ein Erlahmen wirtschaftlicher Aktivität zu befürchten ist. In diesem Sinne besteht auch eine gesellschaftliche Verantwortung für den sorgfältigen Umgang mit der Freiheit des Unternehmers. Neben der rechtlichen Beschränkung der unternehmerischen Freiheit sind die Entscheidungen und Wünsche der Konsumenten ein wichtiger Prüfstein der unternehmerischen Freiheit. Der Gedanke der „Konsumentensouveränität“, der so grundlegend für das Verständnis marktlicher Prozesse ist, sollte auch für das Feld der unternehmerischen Tätigkeit und seiner Beschränkung in einem allgemeinen Sinne fruchtbar gemacht werden. Es war Adam Smith (1723 – 1790), der auch diese Grundeinsicht klar vor Augen geführt hat: „Der Verbrauch allein ist Ziel und Zweck einer jeden Produktion, daher sollte man die Interessen der Produzenten eigentlich nur soweit beachten, wie es erforderlich sein mag, um das Wohl des Konsumenten zu fördern.“14 Was aber nun dem „Wohl der Konsumenten“ förderlich ist, obliegt der Selbstbestimmung der Verbraucher und deren moralischen Überzeugungen. Verbraucherinitiativen und der Gedanke eines „moralischen Konsums“ können hierbei eine positive Rolle spielen, indem sie Produktions- und Betriebspraktiken und / oder Produkte von Unternehmen kritisieren sowie gegebenenfalls boykottieren.15 Der besondere Vorteil einer aufgrund von Konsumentenwünschen erfolgten Änderung des unternehmerischen Verhaltens liegt auch darin, dass sie sich nahtlos in eine wettbewerbliche Ordnung einfügt. Grundlage hierfür ist aber die Möglichkeit der Konsumenten, sich tatsächlich auch ausreichend und fundiert informieren zu können.16 Den Medien kommt dabei eine wesentliche Bedeutung und Verantwortung zu, kritisch und unbeeinflusst zu berichten. 12 Siehe hierzu auch den Beitrag „Wirtschaftsordnungspolitik als zentrale Aufgabe des Staates“ von Christian Müller in diesem Band. 13 Eucken (1940 / 1989), S. 237. 14 Smith (1776 / 1978), S. 558. 15 Vgl. Priddat (1998). Die Ächtung von mit Kinderarbeit hergestellten Teppichen ist ein anschauliches Beispiel für die Wirksamkeit „moralischen Konsums“. Gerade die Globalisierungsprozesse und die Differenzierung von Produktionsbedingungen und rechtlichen Rahmenordnungen zeigen die wachsende Bedeutung der Konsumentensouveränität und -verantwortung. 16 Dabei ist es insbesondere die Beeinflussung der Konsumenten durch Produzenten- und Lobbyinteressen (auch aufgrund von Marktmacht), die diesbezüglich problematisiert werden müsste. Die anhaltende Diskussion um eine vertrauenswürdige Kennzeichnung von Produkten kann hier stellvertretend angeführt werden. Branchenweiten oder auch staatlichen Labels und Standards kommen dabei eine wichtige Funktion zu.
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III. Die Verantwortung des Unternehmers 1. Notwendige Prämissen
Dem bekannten wie provokanten Diktum des amerikanischen Nobelpreisträgers der Wirtschaftswissenschaften, Milton Friedman (1912 – 2006), dass die soziale Verantwortung der Unternehmen darin liegt, ihre Profite zu steigern,17 ist insofern zuzustimmen, als dass marktliche Systeme auf Gewinnerzielung angelegt sind und Unternehmer genau diese Aufgabe im Rahmen einer marktlichen Unternehmung auch verfolgen sollen. In einer funktionalen Betrachtungsweise ist also in der Gewinnerzielung und in der Suche nach neuen Möglichkeiten hierzu die Verantwortung des Unternehmers bestimmt. Liegt die Leitung des Unternehmens nicht in der Hand des Eigentümers oder einer Gruppe von Eigentümern, ist die Unternehmensleitung zudem gegenüber den Besitzern bzw. Anteilseignern („shareholder“) und deren Zielen verantwortlich und verpflichtet. Aus den Überlegungen zu einer regelgebundenen Freiheit des unternehmerischen Handelns, wie sie im vorhergehenden Abschnitt dargelegt wurden, folgt zugleich, dass die Wahrung gesellschaftlicher Vorgaben und Regeln als Verantwortung des Unternehmers zu interpretieren ist: Die Verantwortung des Unternehmers liegt dort, wo er die gesellschaftlichen Vorgaben (wie sie sich vor allem in der Rechtssprechung finden) akzeptieren und respektieren muss. Dass die Einhaltung und Interpretation solcher Vorgaben keineswegs immer trivial ist, zeigt sich nicht zuletzt an den anhaltenden Diskussionen um Fragen wie der Korruptionsbekämpfung, der Managerhaftung und des Insiderhandels. Neben der betriebswirtschaftlichen und regelgebunden, also funktionalen Bestimmung unternehmerischer Verantwortung findet sich in der jüngeren Literatur eine Vielzahl weiterer Zuschreibungen. Diese Überlegungen beruhen zum einen auf einem besseren Verständnis unternehmensinterner Prozesse, die ihren Niederschlag im Bereich der Unternehmens- und Organisationskultur gefunden haben (insbesondere in der Führungs- und Mitarbeiterethik). Zum anderen werden unter dem Schlagwort „Corporate Social Responsibility“ Möglichkeiten der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch Unternehmen diskutiert, die vor allem freiwillige Leistungen mit Blick auf die Erwartungen verschiedener Anspruchsgruppen („stakeholder“) umfassen.18 Sofern diese Maßnahmen letztlich auf eine Verbesserung der Wettbewerbsposition des Unternehmens zielen, gehen sie nicht über die oben beschriebene funktionale Bestimmung der unternehmerischen Verantwortung hinaus. Gesellschaftliches Engagement, das die Reputation des Unternehmens erhöht, wie auch Maßnahmen zur Verbesserung des Betriebsklimas mögen gesellschaftlich wünschenswert sein, sind aber für sich genommen, genauso wie ein funktionierender Wettbewerb, keine unternehmensethischen 17 Friedman (1970). So richtig es ist, dass Unternehmen in einer Marktwirtschaft letztlich Gewinne ausweisen müssen, um langfristig am Markt zu bleiben (von den notwendigen betriebswirtschaftlichen Differenzierungen zu dieser Frage soll hier abgesehen werden), so falsch oder zumindest irreführend ist es aber, hier von „sozialer Verantwortung“ i. e. S. zu sprechen. Aus der notwendigen ökonomischen Funktion des Gewinnstrebens innerhalb marktlicher Systeme kann nicht auf deren moralische Güte geschlossen werden. 18 Zu diesen Konzepten siehe den Beitrag „Unternehmensethik“ von André Habisch in diesem Band.
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Maßnahmen im eigentlichen Sinne. Eine moralische Qualität erhalten solche Maßnahmen erst dann, wenn sie in einer bestimmten Haltung des jeweils Verantwortlichen wurzeln und auch dann beibehalten werden, wenn sie zu wirtschaftlich nachteiligen Konsequenzen führen, also in Konflikt mit rein ökonomischen Zielsetzungen geraten. Eine solche unternehmerische Verantwortung ist folglich gebunden an eine bestimmte individuelle Überzeugung, die nicht gesamtgesellschaftlich einklagbar ist. Eine so zu bestimmende personale unternehmerische Verantwortung soll im Folgenden näherhin skizziert werden.
2. Unternehmerische Verantwortung aus sozialethischer Sicht
Ist aus ökonomischer Sicht insbesondere auf die positiven gesamtgesellschaftlichen Effekte der unternehmerischen Freiheit zu verweisen, gilt es aus sozialethischer Sicht, die individuelle Verantwortung unternehmerischen Handelns stärker zu betonen. Da „jeder Mensch seinem Wesen nach Person . . . [und] mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist“ (Pacem in terris 9) folgen daraus zum einem Rechte, sich selbstmächtig im Blick auf verschiedene Möglichkeiten zu entscheiden, aber zum anderen auch Pflichten, d. h. die Verantwortung für die Konsequenzen für das eigene Handeln zu übernehmen.19 In diese allgemeine Verpflichtung ist aus der Sicht der Katholischen Soziallehre auch der wirtschaftende Mensch gestellt: „Ein Unternehmer kann sich genauso wenig auf die ,Gesetze der Marktwirtschaft‘ berufen, wenn er seine Mitarbeiter ungerecht behandelt, wie die Arbeitnehmer auf die Gewerkschaften, um einen ,Dienst nach Vorschrift‘ zu rechtfertigen. Es gibt keinen ,blinden Gehorsam‘. Auch lässt sich die Verantwortung nicht sozialisieren . . . .“20 Grundlegend für die Bestimmung der unternehmerischen Person und ihrer Verantwortung ist die richtige Ausrichtung ihres wirtschaftlichen Handelns. Zunächst steht der Unternehmer (wie auch der Manager) in der Pflicht, seine Aufgaben gewissenhaft und qualifiziert zu erfüllen, auch um den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens zu sichern: „Der Unternehmerberuf verlangt schöpferische Kombinationsgabe, reale Phantasie, Witterung für zukunftsträchtige Entwicklungen, Talent im Koordinieren und eigenständige Tatkraft.“21 Jedoch ist das Ziel des wirtschaftlichen und damit auch des unternehmerischen Handelns nicht die Tätigkeit selbst bzw. der wirtschaftliche Erfolg, sondern der Dienst am Menschen. Die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums stellt dazu fest: „Die fundamentale Zweckbestimmung dieses Produktionsprozesses besteht . . . im Dienst am Menschen, und zwar am ganzen Menschen im Hinblick auf seine materiellen Bedürfnisse, aber ebenso auch auf das, was er für sein geistiges, sittliches, spirituelles und religiöses Leben benötigt.“ (GS 64) Folglich ist der Unternehmer aufgerufen, erstens seine Verantwortung gegenüber seinen Mitarbeitern Ernst und sich ihrer Sorgen gewissenhaft anzunehmen. Zweitens ist der Unternehmer nicht nur verantwortlich gegenüber denen, für die er in seinem Betrieb Verantwortung trägt, sondern er wird sich auch der Bereitschaft stellen, sich für das Gemeinwohl, für das soziale Ganze verantwortlich zu fühlen. Drittens trägt er auch Verantwortung für sich selbst. Die Warnung 19 20 21
Vgl. zum Ganzen Rauscher (1975), S. 7 – 10. Rauscher (1975), S. 10. Höffner (1956), S. 11.
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vor dem „totalen Unternehmer“, die Joseph Höffner bereits vor 50 Jahren ausgesprochen hat, hat an Aktualität eher dazu gewonnen: „Die zahlreichen, schweren und wichtigen Aufgaben, vor die Unternehmer heute gestellt sind, könnten – wie die Erfahrung lehrt – dazu führen, dass der Unternehmer nicht ein ,ganzer‘ Unternehmer sei – das muss er sein –, sondern dass er zum ,totalen‘ Unternehmer wird: keine Zeit mehr für Frau und Kinder, keine Zeit mehr für das Schöne, keine Zeit mehr für das Religiöse, keine Zeit mehr für Gott.“22
3. Einzelne Bereiche unternehmerischer Verantwortung
Das in Gaudium et spes formulierte letzte Ziel wirtschaftlicher Aktivität, der „Dienst am Menschen“, lässt sich in Bezug auf die unternehmerische Verantwortung exemplarisch in folgenden Bereichen spezifizieren: Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern: Der „Dienst am Menschen“ konkretisiert sich im Unternehmensethos in der Bereitschaft zum Dienst des Unternehmers an seinen Mitarbeitern.23 Vordringlich ist hier das Ziel, Existenzsicherheit zu schaffen. Hierzu sind die Rentabilität des Unternehmens und dessen wirtschaftliches Überleben unerlässlich. Dies kann aber im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass der Abbau von Arbeitsplätzen leichtfertig zum Ziel der Rentabilitätssteigerung genutzt wird. Entlassungen müssen aus Sicht der Katholischen Soziallehre und im Bewusstsein um die Bedeutung der Arbeit für die menschliche Person immer die ultima ratio sein, der die gewissenhafte Prüfung anderer Möglichkeiten zur Verbesserung der wirtschaftlichen Position des Unternehmens vorauszugehen hat. Überdies steht der Unternehmer in der Verpflichtung, seinen Mitarbeitern faire und diskriminierungsfreie Arbeitsbedingungen sowie Qualifizierungsmöglichkeiten zu schaffen, die auf der anderen Seite die Verantwortung mit einschließt, genügend Freiraum für das Leben außerhalb des Betriebs und insbesondere für die Familie zu lassen. Zudem sollte der Unternehmer seinen Mitarbeitern über das gesetzliche Mindestmaß hinaus Mitsprache- und Teilhaberechte sowie Gestaltungsmöglichkeiten einräumen („soziale Partnerschaft“). Insbesondere der Unternehmer, der „im Arbeiter nicht bloß den Menschen, sondern den Bruder und die Schwester Christi“24 sieht, spürt hier eine besondere Verantwortung. In diesem Sinne geht es auch um die Gestaltung der betrieblichen Umgebung als „humanen Lebensraum“, in dem Menschen einen Gutteil ihrer Lebenszeit verbringen.25 Eine besondere, von den christlichen Idealen geprägte Unternehmenskultur und ein christliches Wertemanagement können hierbei ein eigenes Ziel des Unternehmers sein.26 Höffner (1956), S. 17 f. Vgl. Höffner (1956), S. 13. 24 Höffner (1949 / 1966), Der christliche Unternehmer, S. 399. 25 Vgl. z. B. Höffner (1949 / 1966), Sozialethik und Wirtschaftsordnung, S. 35 f. In ähnlicher Weise beschreibt es auch das „Kompendium der Soziallehre der Kirche“: „[D]em Unternehmen [kommt] auch eine soziale Bedeutung zu, weil es Möglichkeiten der Begegnung und der Zusammenarbeit schafft und den Fähigkeiten der mitwirkenden Personen einen Wert verleiht.“ Nr. 338. Entsprechend versteht das „Kompendium“ das Unternehmen eben nicht ausschließlich als „Kapitalgesellschaft“, sondern als „Gemeinschaft von Menschen“. 26 Vgl. im Anschluss an Höffner hierzu Schramm (2008). Auch die von Wolfgang Ockenfels (2006) vorgelegten „10 Gebote für die Wirtschaft“ bieten hier eine gute Diskussionsgrundlage. 22 23
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Subsidiäre Verantwortung:27 Im Rahmen der sozialen Einbettung und der gesellschaftlichen Ordnung hat der Unternehmer das Recht, über sein Eigentum, sein Kapital und seine Arbeitskraft selbstbestimmt zu verfügen. Hieraus folgt aber auch, dass er – so weit wie möglich – seine Verantwortung selbst übernimmt und nicht versucht, betriebliche Aufgaben der Allgemeinheit aufzubürden. Der bewusste Missbrauch staatlicher Förderungen und Subventionen ist mit einem verantwortlichen Unternehmertum nicht vereinbar. Hierzu zählt auch die falsch verstandene Verfolgung unternehmerischer Interessen gegenüber der Politik, die durch Lobbyismus und Rent-SeekingProzesse28 zu Lasten der Allgemeinheit geht. Zugleich sollten Konflikte und Spannungen, die im Betrieb auftreten, wenn möglich im Betrieb selbst gelöst werden und nicht ohne jede Prüfung an höhere Instanzen wie Verbände oder den Gesetzgeber abgeschoben werden. Verantwortung für ein nachhaltiges Wirtschaften: Die Anerkenntnis des Prinzips der Nachhaltigkeit, das auch zu einen Grundsatz der Katholischen Soziallehre avancierte,29 sollte heute für jeden Unternehmer leitend sein. Die Verantwortung für die Schöpfung und für die natürliche Umwelt ist nicht nur Gegenstand der politischen und rechtlichen Rahmenordnung, sondern auch Teil der unternehmerischen Aufgabe: „Jede wirtschaftliche Aktivität, die die natürlichen Ressourcen nutzt, muss sich auch um den Schutz der Umwelt kümmern und die damit verbundenen Kosten einplanen.“30 Überdies verweist das Prinzip der Nachhaltigkeit auch auf die langfristige und integrative Orientierung des unternehmerischen Handelns. Eine lediglich an kurzfristigen Gewinninteressen ausgerichtete Unternehmensführung steht nicht im Einklang mit einer vom Unternehmer immer wieder einzufordernden Gemeinwohlorientierung. Gerade die Globalisierung der Märkte, wie sie in den letzten Jahren in einem bis dahin nicht bekannten Maße stattgefunden hat, stellt Unternehmen wie Unternehmer unter die Maßgabe einer langfristigen Orientierung. Neue Produktionsstandorte, die Ausweitung der Absatzmärkte, internationale Kooperationen und neue Finanzierungsmöglichkeiten weisen dem ökonomischen System und dessen Akteuren allgemein eine wachsende Bedeutung zu. Dieser steigenden Freiheit unternehmerischen Handelns und den guten Gewinnchancen, die diese Prozesse bieten, steht die Forderung einer wachsenden Verantwortung unternehmerischen Handelns gegenüber, gerade dort, wo nationalstaatliche Politik an ihre Grenzen stößt. Wo es möglich ist, sollten internationale Regeln die Bedingungen eines fairen Wettbewerbs schützen und sichern. Aber gerade die Schwierigkeiten supranationaler Rechtsetzung machen die Initiative einzelner Unternehmer und Unternehmen unerlässlich. Dem Unternehmer wächst hier die besondere Verantwortung zu, dass „die Entwicklung . . . allen Teilen der Welt gemeinsam zugute kommt“ (SRS 17). Der Unternehmer ist aufgefordert, für einen sorgfältigen Umgang mit Menschen und Ressourcen einzutreten und sich zu bemühen, dieses Bewusstsein auch in die Gesellschaft und Politik zu tragen. Vgl. Briefs (1955). Unter „Rent Seeking“ versteht man in der ökonomischen Theorie das Bemühen von Unternehmern und Interessenverbänden, von der Politik leistungslose Einkommen (Renten) zu erhalten. Die hierfür eingesetzten Anstrengungen lenken von der eigentlichen unternehmerischen Tätigkeit ab. 29 Zum Überblick vgl. Wulsdorf (2005). 30 Kompendium der Soziallehre der Kirche (2006), Nr. 470. 27 28
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Verantwortung im Geschäftsleben: Anders als im Eigennutzkalkül des homo oeconomicus angenommen, ist der Mensch aufgrund seiner wesenhaften Sozialnatur notwendig verwiesen auf den Anderen und eingebunden in das menschliche Miteinander. Folglich sollte auch der verantwortungsbewusste Unternehmer in der Ausübung seines Berufs Verhaltensweisen ablehnen, die letztlich auf die direkte Schädigung Anderer (z. B. MitWettbewerber) oder der Allgemeinheit hinauslaufen; Bestechungsgelder oder die Verletzung geistigen Eigentums können aus einer solchen Sicht keinesfalls als Geschäftspraktiken toleriert werden. Praktiken, die sich in einer rechtlichen „Grauzone“ befinden, fordern zu einer ehrlichen Gewissensprüfung heraus; menschenunwürdige Löhne oder irreführende Werbung beispielsweise werden dieser Prüfung kaum standhalten können. Insgesamt wird sich ein Unternehmer, der sich christlichen Idealen verpflichtet fühlt, für einen fairen Wettbewerb einsetzen, der nicht schrankenlos ist, sondern nach geordneten Regeln abläuft. Es sollte die spezifische Aufgabe eines aus solcher Motivation handelnden Unternehmers sein, innerhalb des wirtschaftlichen Geschehens bewusst eine Vorbildfunktion für eine menschenwürdige Wirtschafts- und Arbeitswelt zu übernehmen. Literaturverzeichnis Blümle, Gerold: Ungewißheit und Verteilung in marktwirtschaftlichen Ordnungen. Funktion und Berechtigung des Gewinns in marktwirtschaftlichen Ordnungen unter Berücksichtigung von Ungewißheit, in: Erich Streißler / Christian Watrin (Hrsg.), Zur Theorie marktwirtschaftlicher Ordnungen, Tübingen 1980, S. 253 – 288. Briefs, Götz: Die Verantwortung des christlichen Unternehmers heute, Köln 1955. Eucken, Walter: Grundlagen der Nationalökonomie, 9. Aufl., Berlin u. a. 1989. Friedman, Milton: The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits, in: The New York Times Magazine vom 13. September 1970. Goldschmidt, Nils: Der Brückenschlag zum Markt. Das wirtschaftspolitische Erbe von Papst Johannes Paul II., in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. April 2005, S. 15. von Hayek, Friedrich A.: Recht, Gesetz und Freiheit. Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie, hrsg. von Viktor J. Vanberg (Gesammelte Schriften in deutscher Sprache Bd. 4), Tübingen 2003. Höffner, Joseph: Das Ethos des Unternehmers, Köln 1956. – Der christliche Unternehmer in der kommenden Wirtschaftsordnung, wiederabgedruckt in: Gesellschaftspolitik aus christlicher Weltverantwortung, hrsg. von Wilfrid Schreiber und Wilhelm Dreier, Münster 1966, S. 391 – 400. – Sozialethik und Wirtschaftsordnung, wiederabgedruckt in: Gesellschaftspolitik aus christlicher Weltverantwortung, hrsg. von Wilfrid Schreiber und Wilhelm Dreier, Münster 1966, S. 25 – 36. Kirzner, Israel M.: Wettbewerb und Unternehmertum, Tübingen 1978. Knight, Frank H.: Risk, uncertainty and profit, Boston u. a. 1921. Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Freiburg i. Br. 2006. Mill, John Stuart: Principles of political economy. With some of their applications to social philosophy, New York 1965. Nothelle-Wildfeuer, Ursula / Steger, Gerhard: Die päpstliche Sozialverkündigung und ihr Verhältnis zur Marktwirtschaft von Rerum novarum bis Deus Caritas est, in: Freiburger Universitätsblätter 42, Heft 173, 2006, S. 19 – 33.
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Betriebs- und Unternehmensverfassung Von Eduard Gaugler
Allgemein und zumeist ziemlich unbestimmt kann man sowohl bei Individuen als auch bei Institutionen / Organisationen deren momentanes Befinden, deren jeweiligen Zustand und Stimmung als ihre wahrnehmbare Verfassung bezeichnen. Im Unterschied dazu überträgt man aus dem staatlichen Bereich den Begriff „Verfassung“ auf dauerhafte Strukturen, Normen, Regelungen und Werte für den Aufbau und für die Prozesse von mehrpersonigen Gebilden. Dazu gehören auch die sozio-ökonomischen Einheiten, die man Betriebe bzw. Unternehmen in der Wirtschaft nennt.
I. Betriebe und Unternehmen als Wirtschaftsgebilde Bei der Betriebsverfassung betrachtet man wirtschaftliche Einheiten, die in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen vorkommen; zur Erstellung von Sachgütern und Dienstleistungen setzen sie in vielfältigen Kombinationen verschiedenartige Produktionsfaktoren ein. Betriebe kann man als örtliche, technisch-organisatorische und ökonomische Einheiten mit einem häufig dauerhaften, arbeitsteilig koordinierten Einsatz von Menschen in ihrem Leistungsprozess als wirtschaftende Zweckgebilde und als Teil der Gesamtwirtschaft beschreiben. Im Sprachgebrauch ist die Abgrenzung der Begriffe Betrieb und Unternehmen (Unternehmung) häufig unscharf. Bei ihrer Unterscheidung ordnet man dem Unternehmen vorrangig die finanzwirtschaftlichen Funktionen und die rechtlich relevanten Aspekte der Wirtschaftsgebilde zu; insbesondere nennt man dabei ihre externen Rechtsbeziehungen und die Eigentumsbezüge. Bei Unterordnung der beiden Begriffe kann ein Unternehmen mehrere Betriebe umfassen; umgekehrt verwendet man den Betrieb auch als übergeordneten Begriff, zu dem in historischer Sicht die Unternehmung als marktwirtschaftliche bzw. kapitalistische Erscheinungsform einzelwirtschaftlicher Einheiten gehört. II. Betriebsverfassung 1. Vielzahl und Vielfalt der Betriebe
In der Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland existieren rund 2,1 Mill. Betriebe, die die Statistik nach der Zahl ihrer Beschäftigten drei Betriebsgrößenklassen zuordnet (Klein-, Mittel-, Großbetriebe). Zwei Drittel dieser Betriebe haben ein bis fünf Beschäftigte. 90 % der Betriebe beschäftigen weniger als 20 Menschen. Nur 2 % der Betriebe verfügen über 100 und mehr Beschäftigte.
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Die Betriebsgrößen sind in den verschiedenen Wirtschaftszweigen sehr unterschiedlich verteilt. Mit der Betriebsgröße nimmt im betrieblichen Leistungsprozess in der Regel auch der Grad der Arbeitsteilung zu. Die Betriebsgröße und die Arbeitsorganisation, die Eigenheiten der Erzeugnisse und der Leistungen, die eingesetzten Produktionsmittel sowie die wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwelt der Betriebe beeinflussen die betrieblichen Arbeitsbeziehungen der im Betrieb Beschäftigten. Die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf betrieblicher Ebene weisen eine große Vielfalt auf, die das Betriebsverfassungsrecht lediglich unter bestimmten Aspekten normieren kann. Im Mittelpunkt des in der Bundesrepublik geltenden Betriebsverfassungsgesetzes von 2001 stehen Regelungen für die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. 2. Gesetzliche Regelungen
Erstmals beschäftigte sich der deutsche Gesetzgeber in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 mit der Betriebsverfassung; der dort eingebrachte Entwurf einer Gewerbeordnung sah einen Fabrikausschuss mit Mitwirkungsrechten in betrieblichen Angelegenheiten vor. Dieser Vorschlag wurde diskutiert, erlangte aber keine Gesetzeskraft. In der Folgezeit richteten einige Betriebe freiwillig Arbeiterausschüsse ein (z. B. Ernst Abbé bei den Zeiss-Werken in Jena, Heinrich Freese bei der Berliner Jalousienfabrik nach dem Konzept der „Konstitutionellen Fabrik“, Franz Brandts bei der Mechanischen Weberei in Mönchengladbach u. a.). Nach entsprechenden Regelungen im Arbeitsschutzgesetz 1891, im Preußischen Allgemeinen Berggesetz 1905 / 1909 und im Kriegshilfsdienstgesetz 1915 brachte das Betriebsrätegesetz 1920 erstmals für die Betriebsverfassung eine reichseinheitliche Rechtsgrundlage, die 1934 das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit seitens der Nationalsozialisten ablöste. Das seit 1952 in der Bundesrepublik Deutschland geltende Betriebsverfassungsrecht hat in der Neufassung des Gesetzes von 1972 und mit den Regelungen des Gesetzes zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes von 2001 die gesetzlichen Regelungen von 1920 und 1952 weiterentwickelt. Ähnliche gesetzliche Vorgaben für die Betriebsverfassung gelten in Österreich. Vom Betriebsverfassungsrecht in Deutschland weichen Staaten ab, die keine gesetzliche Vertretung der Arbeitnehmer auf Betriebsebene kennen (u. a. Schweiz) oder bei denen die Organe (work councils) anders strukturiert sind, z. B. in Ländern mit Betriebsgewerkschaften (u. a. Japan), oder bei denen Gewerkschaftsangehörige die Interessen der Arbeitnehmer auf Betriebsebene vertreten. Die Verschiedenheiten bei den Strukturen und Kompetenzen der Arbeitnehmervertretungen in den Staaten der Europäischen Union haben langwierige Verhandlungen bei der Formulierung und Verabschiedung der EU-Richtlinie zum Betriebsrat von 1994 ausgelöst. Im Unterschied zu deutschen Betriebsräten hat der Euro-Betriebsrat in europaweit tätigen Unternehmen mit mindestens tausend Arbeitnehmern lediglich Konsultations- und Informationsrechte. Das geltende deutsche Betriebsverfassungsgesetz sieht neben dem Betriebsrat für die Mitbestimmung weitere Organe vor: Gesamt- und Konzernbetriebsrat, Betriebs- und Abteilungsversammlungen, Jugend- und Auszubildendenvertretung, Einigungsstelle, Wirtschaftsausschuss. Mit dem Gesetz über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten von 1988 gehören auch diese Ausschüsse zur Betriebsverfassung.
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3. Betriebsräte
Betriebsräte werden gemäß Betriebsverfassungsgesetz (§ 1) in Betrieben mit in der Regel mindestens fünf wahlberechtigten Arbeitnehmern von allen Arbeitnehmern des Betriebes, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, für eine vierjährige Amtszeit geheim und unmittelbar gewählt. In Betrieben mit bis zu 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern besteht der Betriebsrat aus einer Person; danach steigt die Zahl der Betriebsräte mit der Betriebsgröße permanent von drei Personen an. In Betrieben mit mehr als 7000 Arbeitnehmern hat der Betriebsrat 35 Mitglieder; mit weiter wachsender Zahl der Arbeitnehmer nimmt auch die Zahl der Mitglieder der Betriebsräte zu. Der Arbeitgeber hat einen Teil der gewählten Betriebsräte von ihrer beruflichen Tätigkeit freizustellen (§ 38). Wählbar sind bei den Betriebsratswahlen alle Wahlberechtigten, die dem Betrieb mindestens sechs Monate angehören. Für die Beteiligung des Betriebsrats an Entscheidungen des Arbeitgebers unterscheidet das Betriebsverfassungsgesetz drei Bereiche: soziale, personelle und wirtschaftliche Angelegenheiten. Zu den sozialen Angelegenheiten zählt das Gesetz u. a. Fragen der Ordnung des Betriebes und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb, Arbeitszeitregelungen, Urlaubsplanung, Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Verwaltung von Sozialeinrichtungen, die betriebliche Lohngestaltung, das betriebliche Vorschlagswesen (§ 87). Für die Beteiligung des Betriebsrats in personellen Angelegenheiten nennt das Gesetz die Personalplanung, die Beschäftigungssicherung, die Ausschreibung von Arbeitsplätzen, die Personalbeurteilung und -auswahl, die Berufsbildung und mehrere personelle Einzelmaßnahmen (Einstellung, Ein- und Umgruppierung, Versetzung, Kündigung und Entfernung betriebsstörender Arbeitnehmer) (§§ 92 – 105). Bei den wirtschaftlichen Angelegenheiten sieht das Gesetz in Unternehmen (nicht Betrieben!) mit mehr als 100 Arbeitnehmern die Bildung eines Wirtschaftsausschusses zur Unterrichtung und Beratung mit dem Betriebsrat in zehn detailliert genannten Einzelmaßnahmen vor (§§ 106 – 110). Außerdem regelt das Gesetz die Beteiligung des Betriebsrats bei Betriebsänderungen und bei dem dabei vorgesehenen Interessenausgleich (Sozialplan) (§§ 111 – 113). Zwischen und in diesen drei Entscheidungsbereichen sind die gesetzlichen Kompetenzen des Betriebsrats unterschiedlich gestuft; sie reichen von Informationsrechten bis zu Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats. Bei mehreren einzelnen Angelegenheiten bindet das Gesetz den Arbeitgeber an die Einigung mit dem Betriebsrat. Die Einigung der Betriebsparteien schlägt sich in einer Betriebsvereinbarung nieder; kommt eine Einigung in solchen Angelegenheiten zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat nicht zustande, entscheidet eine Einigungsstelle (§ 76). Trotz der weitgehenden Beteiligung des Betriebsrats an sozialen, personellen und wirtschaftlichen Entscheidungen ist es aber irritierend, das Konzept des Betriebsverfassungsgesetzes als „Betriebsdemokratie“ zu bezeichnen (vgl. Gaugler 1963). Das gilt auch dann, wenn insbesondere in großen Betrieben mit einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad vielfach ein Vertrauensleute-Körper quasi als Unterbau zum Betriebsrat existiert, der von Gewerkschaftsmitgliedern gebildet wird, die sich in Teilbereichen des Betriebes als Kontaktpersonen zwischen dem Betriebsrat und den Mitarbeitern verstehen. Vom Arbeitgeber und Betriebsrat verlangt das Betriebsverfassungsgesetz, dass sie „vertrauensvoll . . . zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebes“ zusammenarbeiten
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(§ 2); es betont: „Maßnahmen des Arbeitskampfes zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat sind unzulässig. . . . Arbeitgeber und Betriebsrat haben Betätigungen zu unterlassen, durch die der Arbeitsablauf oder der Frieden des Betriebes beeinträchtigt werden.“ (§ 74) Ferner haben sie die Aufgabe, „darüber zu wachen, dass alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden“; auch haben sie „die freie Entfaltung der Persönlichkeit der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer zu schützen und zu fördern. Sie haben die Selbständigkeit und Eigeninitiative der Arbeitnehmer und Arbeitsgruppen zu fördern.“ (§ 75) 4. Zweiseitige Betriebsverfassung
Die Grundstrukturen der vom Gesetzgeber konzipierten Betriebsverfassung sind in der Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland in mittleren und größeren Betrieben weit verbreitet. Ausnahmen dazu bilden vielfach Kleinbetriebe und auch kleinere Mittelbetriebe, bei denen sich relativ selten Betriebsräte finden. In diesen Betriebsgrößen bildet die zweiseitige Betriebsverfassung aus unterschiedlichen Gründen nicht die generelle Regel. Vielfach sieht man in diesen Betrieben in den Kosten des Betriebsrats, die der Arbeitgeber zu tragen hat, eine Belastung, die die Vorteile einer Beteiligung des Betriebsrats an Entscheidungen des Arbeitgebers übersteigt. Insbesondere ist in der mittelständigen Wirtschaft die Meinung verbreitet, dass eine zweiseitige Betriebsverfassung betriebliche Entscheidungen des Arbeitgebers behindert. Solche Besorgnisse gegen die vom Gesetzgeber vorgesehene Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat begegnen gelegentlich auch in größeren und vereinzelt in großen Betrieben den Bestrebungen von Gewerkschaften, dort Betriebsratswahlen zu initiieren. Dass auch zweiseitige Betriebsverfassungen in der Wirtschaftspraxis nicht immer dem Konzept des Gesetzes von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebes entsprechen, ist aus den Ergebnissen empirischer Untersuchungen zu folgern. Danach lassen sich sechs Typen von Betriebsräten unterscheiden: ignorierte Betriebsräte, isolierte Betriebsräte, Betriebsräte als Organe der Geschäftsleitung, standfeste Betriebsräte, Betriebsräte als Ordnungsmacht, Betriebsräte als kooperative Gegenmacht (Kotthoff 1981 und 1994). Als Vorläufer und Orientierungshilfe für die Gesetzgebung zu einer zweiseitigen Betriebsverfassung 1952 / 1972 / 2001 kann man in Deutschland in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Partnerschaftsbetriebe und deren seitherige Entwicklung betrachten (Fischer 1955). Ihre Kennzeichen sind die Förderung der Subjektstellung der Mitarbeiter im Betrieb, deren Beteiligung am Erfolg und Kapital des arbeitgebenden Unternehmens, ihre Förderung als Mitunternehmer, die Erweiterung der Kompetenzen der Betriebsrats über die gesetzlichen Normen hinaus sowie auch die Einrichtung weiterer Beteiligungsorgane (Partnerschaftsausschuss). 5. Sozialethische Sicht
Aus der Sicht der Katholischen Soziallehre verbinden sich mit einer zweiseitigen Betriebsverfassung verschiedene Überlegungen. Zunächst ist zu fragen, inwieweit sich Bezüge zwischen dem Gemeinwohl in der Gesellschaft und der vom Betriebsverfassungsgesetz verlangten Zusammenarbeit von
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Arbeitgeber und Betriebsrat ergeben; nach dem Gesetzestext soll diese Kooperation ausdrücklich dem Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebes dienen. Das Wesen der Betriebe als ökonomische Gebilde legt hier zumindest zwei Perspektiven nahe. Zunächst wird man zu erörtern haben, ob eine zweiseitige Betriebsverfassung die Qualität betrieblicher Entscheidungen verbessern kann. Bei einer Reihe betrieblicher Entscheidungen erscheint es evident, dass sie von einer Beteiligung der Arbeitnehmervertreter profitieren können. Diese Beurteilung gilt nicht nur für soziale und personelle sondern auch für manche wirtschaftlichen Entscheidungen auf betrieblicher Ebene. Bei der Vielfalt betrieblicher Entscheidungen lässt sich aber auch nicht ausschließen, dass die Beteiligung der Betriebsräte in Einzelfällen wenig oder nichts zum nötigen Problemlösungspotential beiträgt. Fehlende Fachkompetenz der Arbeitnehmervertreter und – bei einer defizitären Zusammenarbeit der Betriebsparteien – negatives Verhalten bei Aufgaben, die der Gesetzgeber der Mitbestimmung zugeordnet hat, können nachteilig auf betriebliche Entscheidungen einwirken. – Ein weiterer Aspekt kommt zum Bezug zwischen Gemeinwohl und Betriebsverfassung hinzu. Gelingt die gesetzlich verlangte Kooperation im betrieblichen Alltag nachhaltig und zeitigt sie für die Beteiligten befriedigende Wirkungen und Resultate, dann kann man vermuten, dass solche innerbetrieblichen Erfahrungen viele Arbeitnehmer in ihrem Verhalten in ihrer gesellschaftlichen Umwelt beeinflussen und ihre Abneigung gegenüber klassenkämpferischen Parolen und Tendenzen stärken (vgl. Messner, S. 509 ff.). Umgekehrt kann man gegenteilige Wirkungen bei anhaltenden Defiziten einer zweiseitigen Betriebsverfassung und einem häufigen Misslingen der Zusammenarbeit im betrieblichen Alltag nicht ausschließen. Zusammenhänge dieser Art werden hin und wieder in internationalen Vergleichen mit den weit unterdurchschnittlichen Zahlen für Ausfalltage aus Arbeitskämpfen in den letzten Jahrzehnten in Deutschland und in Österreich erwähnt, die freilich noch in der Schweiz und in Japan unterboten werden. Weiterhin legt die Katholische Soziallehre die Frage nach der Bedeutung der zweiseitigen Betriebsverfassung für die Menschenwürde der Beteiligten nahe (vgl. Rauscher, 2006, S. 368 ff., S. 421 ff.); dazu gehört neben den Arbeitnehmern eines Betriebes und den sie repräsentierenden Betriebsräten auch der Arbeitgeber. Geht man von zwischenmenschlichen Beziehungen im Betrieb und besonders zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern aus, wie sie dem kulturellen Niveau der Gesellschaft entsprechen, wird man im Allgemeinen für die Menschenwürde des Arbeitgebers weder grundsätzlich noch unter den spezifischen Bedingungen einer zweiseitigen Betriebsverfassung ernsthafte Beeinträchtigungen zu erwarten haben. Diese Feststellung schließt nicht aus, dass das Konzept dieser Betriebsverfassung die Ansprüche an die sozialen Qualifikationen des Arbeitgebers betont und sein Ansehen und seinen beruflichen Erfolg von diesen Fähigkeiten abhängig macht. Ähnliches gilt auch und teilweise noch vermehrt für die betrieblichen Führungskräfte. – Bei den Grundsätzen für die Behandlung der Betriebsangehörigen verlangt das Betriebsverfassungsgesetz (§ 75) vom Arbeitgeber und Betriebsrat, „darüber zu wachen, . . .. dass jede unterschiedliche Behandlung von Personen wegen ihrer Abstammung, Religion, Nationalität, Herkunft, politischen oder gewerkschaftlichen Betätigung oder Einstellung oder wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität unterbleibt“. Diese Aufgabe unterstreicht das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006, das die entsprechenden Inhalte einer Richtlinie der Europäischen Union in das deutsche Arbeitsrecht übernommen hat. Sieht man in diesbezüglichen Ungleichbehandlungen Verstöße gegen die Menschenrechte, dann hat die zweiseitige
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Betriebsverfassung die Aufgabe, die Menschenwürde der im Betrieb tätigen Personen zu schützen. Dieser Aspekt wird noch verstärkt, wenn das Betriebsverfassungsgesetz von den beiden Betriebsparteien den Schutz und die Förderung der freien Entfaltung der Persönlichkeit der Arbeitnehmer sowie ihrer Selbständigkeit und Eigeninitiative im Betrieb verlangt. Offensichtlich sieht der Gesetzgeber in der von ihm konzipierten Betriebsverfassung einen geeigneten Weg, die Menschenwürde der Betriebsangehörigen hinsichtlich der genannten Aspekte zu achten, ohne dabei die Unvollkommenheiten menschlichen Handelns ausschließen zu können. Immerhin kann man in der zweiseitigen Betriebsverfassung einen Beitrag sehen, der subjektiven Dimension der menschlichen Arbeit im betrieblichen Leistungsprozess gemäss der Enzyklika Laborem exercens des Papstes Johannes Paul II. (1981) zu entsprechen. Die im Gesetz genannten und betonten Komponenten der Menschenwürde verdienen Beachtung, weil gelegentlich Beobachtungen in Betrieben mit starken Betriebsräten andeuten, dass einzelne Arbeitnehmer zusätzlich zu ihrer Zuordnung zum Arbeitgeber und den Führungskräften auch gegenüber dem Betriebsrat in eine individuelle Abhängigkeit kommen können. Seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert hat die Katholische Soziallehre das Recht der Arbeitnehmer auf Koalitionsfreiheit und die Notwendigkeit ihrer Selbsthilfe betont. In Ländern, in denen die Vertretungen der Arbeitnehmer im Betrieb Organe der Gewerkschaften sind, kann man solche Betriebsräte mit dem gewerkschaftlichen Koalitionsrecht in Verbindung bringen. Dies trifft für die Bundesrepublik Deutschland nicht zu; hier kommt den Gewerkschaften vorrangig ihre Rolle als Tarifvertragspartei auf überbetrieblicher Ebene zu. Im Verhältnis zur Tarifautonomie auf Verbändeebene lässt sich die zweiseitige Betriebsverfassung, die sich aus dem einzelnen Arbeitgeber und einer Arbeitnehmervertretung, die nicht Gewerkschaftsorgan ist, zusammensetzt, als eine Institution im Sinne des Subsidiaritätsprinzips verstehen. „Je differenzierter sich Arbeitsqualifikationen und Betriebsstrukturen darbieten, desto ungeeigneter sind großflächige und grobmaschige Formen der Interessenwahrnehmung. Subsidiarität fordert insoweit Stärkung der Eigenständigkeit des einzelnen am Arbeitsplatz, des Betriebsrats gegen außerbetriebliche Steuerung, flexible Umsetzung von Tarifverträgen entsprechend unterschiedlichen individuellen ,Lagen‘ von Belegschaften und Unternehmen.“ (Roos, Sp. 1047) Trotz aller Detailregelungen im Betriebsverfassungsgesetz liefert die dort konzipierte zweiseitige Betriebsverfassung einen Rahmen, der zumindest partiell ein Regelwerk für die betriebliche Zusammenarbeit ermöglicht, das sich gemäss Subsidiaritätsprinzip an den betriebsspezifischen Bedingungen orientiert. Die zur Subsidiarität komplementäre Solidarität bringt das Betriebsverfassungsgesetz zum Ausdruck, wenn es die Betriebsparteien auffordert, ihre Zusammenarbeit „unter Beachtung der geltenden Tarifverträge . . . und im Zusammenwirken mit den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden“ (§ 2) zu gestalten. Diese Einbeziehung der Gewerkschaften zeigt sich seit einigen Jahren besonders deutlich bei den sogenannten „Betrieblichen Bündnissen für Arbeit“, mit denen Arbeitgeber und Betriebsrat durch Abweichungen von Flächentarifverträgen bedrohte Arbeitsplätze sichern wollen.
III. Unternehmensverfassung Unabhängig von ihrer Rechtsform gilt das deutsche Betriebsverfassungsgesetz für alle Betriebe in Deutschland mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtig-
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ten Arbeitnehmern. Im Unterschied dazu betreffen die gesetzlichen Regelungen für die Unternehmensverfassung die Kapitalgesellschaften, also nicht die Personengesellschaften und die Einzelfirmen. Nach deutschem Gesellschaftsrecht sind Kapitalgesellschaften juristische Personen, bei denen die persönliche und unbeschränkte Haftung für die Gesellschaftsschulden – anders als bei Personengesellschaften und Einzelfirmen – bei allen Gesellschaftern ausgeschlossen und der Bestand der Gesellschaft vom Wechsel der Gesellschafter unabhängig ist. Bei Kapitalgesellschaften fehlt die Einheit vom Eigentum am Vermögen des Unternehmens (mit Risiko) und der Unternehmerfunktion. Sie sind in der Regel vorrangig durch Kapitalbeteiligungen und nicht durch den persönlichen Einsatz des / der Eigentümer-Unternehmer geprägt. Zusätzlich zu dem auch für die Kapitalgesellschaften geltenden Betriebsverfassungsgesetz hat der Gesetzgeber für die Arbeitnehmervertretung bei diesen Unternehmen weitere Vorschriften erlassen.
1. Kapitalgesellschaften
Das Gesellschaftsrecht der Bundesrepublik Deutschland unterscheidet bei den Kapitalgesellschaften folgende Arten: Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktien, Gesellschaften mit beschränkter Haftung, bergrechtliche Gewerkschaften mit eigener Rechtspersönlichkeit sowie Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften. Hinzu kommt zu den Kapitalgesellschaften seit 2004 auch die Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europea). Kapitalgesellschaften gibt es in allen Wirtschaftszweigen. Gemessen an den Beschäftigtenzahlen, an den Jahresumsätzen und am Kapitaleinsatz sind sie in allen Größenklassen vertreten. Viele Kapitalgesellschaften bilden Unternehmenszusammenschlüsse und sind in Netzwerke eingebunden. Zahlreiche Kapitalgesellschaften operieren international, zunehmend global. Die Streuung ihres Gesellschaftskapitals variiert zwischen der Ein-Mann-Gesellschaft und der Aktiengesellschaft mit Hunderttausenden von Aktionären, mit teils ausgeprägtem Streubesitz von Anteilen bis zur Konzentration des Gesellschaftskapitals in wenigen Händen. Bemerkenswerte Unterschiede existieren bei ihrem Zugang zum nationalen und internationalen Kapitalmarkt; 1994 gab es in Deutschland 666 inländische börsennotierte Aktiengesellschaften mit 3,9 Mio Aktionären; 2005 waren es 976 AGs mit 4,7 Mio Aktionären. Für die Mitbestimmung in der Unternehmensverfassung von Kapitalgesellschaft orientiert sich der Gesetzgeber an zwei Prämissen. Die gesetzlichen Vorgaben konzentrieren sich erstens auf eine Vertretung der Arbeitnehmer in den Organen der Kapitalgesellschaften. Andere Gruppen und sonstige Interessenten sieht der Gesetzgeber nicht vor. Die zweite, für die Einbeziehung von Arbeitnehmer-Vertretern in die Unternehmensverfassung wesentliche Komponente ist das dualistische Verwaltungsprinzip an der Spitze deutscher Kapitalgesellschaften, das schon 1870 bei der Aktienrechtsnovelle obligatorisch wurde. Danach sind auf der obersten Ebene der Kapitalgesellschaften zwei Organe vorzusehen, der Vorstand bzw. die Geschäftsführung für die Leitung sowie ein Aufsichtsrat für die Bestellung und Überwachung der Vorstandsmitglieder. Niemand kann diesen beiden Organen gleichzeitig angehören. Von dieser Struktur der Unternehmensspitze weicht das in angelsächsischen und vielen weiteren Ländern (z. B. Japan) praktizierte Board-System ab, wenn dem Verwaltungsrat (board of directors) interne und externe Mitglieder angehören können und dieses Organ sowohl Leitungs- als auch
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Überwachungsfunktionen wahrnimmt. Diese Unterschiede in der Struktur der Unternehmensleitung sowie der Tatbestand, dass 14 der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union keine Vertretung von Arbeitnehmern im Aufsichts- bzw. Verwaltungsrat kennen (u. a. Belgien, Frankreich, Großbritannien, Spanien), haben dazu beigetragen, dass die EU-Richtlinie für die Europäische Aktiengesellschaft eine Verhandlungslösung für die Integration der Arbeitnehmerrepräsentanten in die Unternehmensverfassung vorsieht.
2. Mitbestimmungsgesetze
Erstmals hat das Betriebsrätegesetz 1920 dem Betriebsrat ein Wahlrecht für zwei Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat von Aktiengesellschaften zugestanden. Diesen Anfang für eine mitbestimmte Unternehmensverfassung bei Kapitalgesellschaften hat der Gesetzgeber nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland weitergeführt. Nunmehr regeln in der Bundesrepublik Deutschland drei Gesetze die Einbeziehung von Arbeitnehmervertretern in die Unternehmensverfassung. Das Montan-Mitbestimmungsgesetz von 1951, das unter heftigen Kontroversen entstanden ist, regelt die „Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie“. Die starken Veränderungen bei diesen Wirtschaftszweigen in Deutschland haben dazu beigetragen, dass jetzt nur noch 50 Unternehmen unter dieses Gesetz fallen (2004). Die Montanmitbestimmung wird vor allem von Gewerkschaftsseite als „paritätische“ Mitbestimmung bezeichnet und ihre Übertragung auf alle Großunternehmen gefordert. Der Aufsichtsrat setzt sich je nach Unternehmensgröße aus elf bzw. 15 bzw. 21 Mitgliedern zusammen, die je zur Hälfte die Kapitaleigner und die Arbeitnehmer vertreten. Der sogenannte „Neutrale“ (11. bzw. 15. bzw. 21. Mann) wird auf Vorschlag der gewählten Aufsichtsratsmitglieder von der Hauptversammlung gewählt. Er soll Pattsituationen bei Entscheidungen im Aufsichtsrat auflösbar machen. Der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat gehören zwei Gewerkschaftsvertreter an. Ferner schreibt das Montan-Mitbestimmungsgesetz zwingend einen Arbeitsdirektor als gleichberechtigtes Vorstandsmitglied vor, das nicht gegen die Mehrheit der Stimmen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat bestellt und abberufen werden kann: Trotz dieser Bindung ist der Arbeitsdirektor als Mitglied des Vorstands dem Wohl des Gesamtunternehmens verpflichtet. Das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 hat vorgeschrieben, dass der Aufsichtsrat bei Aktiengesellschaften und bei Kommanditgesellschaften auf Aktien mit mehr als 500 Arbeitnehmern zu einem Drittel aus Vertretern der Arbeitnehmer zu bestehen hat, die die wahlberechtigten Arbeitnehmer eines Unternehmens in allgemeiner, geheimer, gleicher und unmittelbarer Wahl wählen. Ferner verlangt das Gesetz, dass sich unter den Arbeitnehmervertretern zumindest zwei Angehörige des Unternehmens befinden. Diese Bestimmung hat viele Kapitalgesellschaften veranlasst, die Größe des Aufsichtsrats auf sechs Personen zu beschränken, um damit eine unternehmensfremde Besetzung der Arbeitnehmerbank zu verhindern. Außerdem müssen auch Gesellschaften mit beschränkter Haftung und bergrechtliche Gewerkschaften mit eigener Rechtspersönlichkeit mit mehr als 500 Arbeitnehmern einen Aufsichtsrat bilden und daran die Arbeitnehmer wie bei den Aktiengesellschaften beteiligen (§ 77). Bei späteren Novellierungen hat der Gesetzgeber diese Elemente aus dem Betriebsverfassungsgesetz 1952 für die Unternehmens-
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verfassung beibehalten. Im Jahr 2004 sind diese Bestimmungen in das Drittelbeteiligungsgesetz eingegangen und gelten für Kapitalgesellschaften, die nicht einem anderen Gesetz über die Unternehmensmitbestimmung unterliegen. Generell sind nach diesem Gesetz die sogenannten Tendenzunternehmen und Religionsgemeinschaften sowie deren karitative und erzieherische Einrichtungen ausgenommen. Diese einfache Mitbestimmung, die man nach dem Arbeitnehmeranteil im Aufsichtsrat auch als Drittelbeteiligung bezeichnet und die sich deutlich von der erweiterten, qualifizierten, sogenannten „paritätischen“ Mitbestimmung unterscheidet, gilt nach Schätzungen derzeit für ca. 3.500 Kapitalgesellschaften, bei denen ungefähr 10.500 Arbeitnehmervertreter den Aufsichtsräten angehören. Im Vergleich mit der Montanmitbestimmung wird deutlich, dass sie eine Minderheitsbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat darstellt, dass unternehmensfremde Mandatsträger fehlen können und dass dem Vorstand (der Geschäftsführung) kein Repräsentant der Belegschaft als Arbeitsdirektor angehören muss. Mit dem Mitbestimmungsgesetz 1976 (Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer) erweiterte der Gesetzgeber die Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat bei Kapitalgesellschaften mit mehr als 2.000 Arbeitnehmern. Bei Gesellschaften mit bis zu 10.000 Arbeitnehmern besteht der Aufsichtsrat aus je sechs, bei 10- bis 20.000 Arbeitnehmern aus je acht und bei Gesellschaften mit mehr als 20.000 Arbeitnehmern aus je zehn Vertretern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer (§ 7). Bei sechs Arbeitnehmervertretern müssen vier aus dem Unternehmen und zwei von den Gewerkschaften kommen (bei acht sechs und zwei, bei zehn sieben und drei). Zur Arbeitnehmerbank gehört auch ein Vertreter der leitenden Angestellten. Zur Auflösung von Pattsituationen im Aufsichtsrat enthält das Mitbestimmungsgesetz 1976 eine andere Regelung als das Montan-Mitbestimmungsgesetz: Ergibt eine erneute Abstimmung über denselben Gegenstand wieder Stimmengleichheit, hat der Vorsitzende des Gremiums zwei Stimmen (§ 29). Dabei ist davon auszugehen, dass der Aufsichtsratsvorsitzende Vertreter der Anteilseigner ist. Seinem Stellvertreter, der vielfach zur Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat gehört, steht die zweite Stimme zur Überwindung einer Pattsituation nicht zu. Ferner verlangt das Gesetz für den Vorstand (Geschäftsführung) die Bestellung eines Arbeitsdirektors als gleichberechtigtes Mitglied, das „seine Aufgaben im engsten Einvernehmen mit dem Gesamtorgan auszuüben“ hat (§ 33). Nach Schätzungen fallen derzeit 746 Unternehmen mit ungefähr 5.250 Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsräten unter dieses Gesetz. 3. Aufsichtsrat
Das Betriebsverfassungsgesetz bindet den Arbeitgeber in den sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten bei zahlreichen, im einzelnen benannten Entscheidungen an die Beteiligung des Betriebsrats. In den drei Mitbestimmungsgesetzen für die Unternehmensverfassung finden sich keine entsprechenden Regelungen; ebenso fehlen hier Grundsätze, wie sie der Gesetzgeber für die Betriebsverfassung formuliert hat (Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit, Orientierung am Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebes, Friedenspflicht, Förderung der Entfaltung der Arbeitnehmer etc.). Die Gesetze für die Mitbestimmung bei Kapitalgesellschaften sehen – zusätzlich zum Betriebsverfassungsgesetz – die Entsendung von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat vor; das Montan-Mitbestimmungsgesetz und das Gesetz über die erweiterte Mitbestimmung normieren außerdem für den Vorstand den Arbeitsdirektor. Im Übrigen
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statten die drei Gesetze die Vertreter der Arbeitnehmer mit den gleichen Rechten und Pflichten wie die übrigen Mitglieder des Aufsichtsrats aus; an der Aufgabenstellung dieses Organs in der Unternehmensverfassung ändert sich insoweit nichts. Für die Mitbestimmung der Vertreter der Arbeitnehmer bildet der Aufsichtsrat das zentrale Organ in der Unternehmensverfassung der Kapitalgesellschaften. Dabei ist jedoch zu beachten, dass bei GmbHs der Aufsichtsrat in der Regel keinen Einfluss auf die Bestellung der Geschäftsführung besitzt, die bei dieser Rechtsform unmittelbar durch die Gesellschafterversammlung erfolgt. Ferner reduziert die Drittelbeteiligung bei der einfachen Mitbestimmung – im Unterschied zur erweiterten Mitbestimmung und zur Montan-Mitbestimmung – die Einwirkungen der Arbeitnehmervertreter auf die Entscheidungen im Aufsichtsrat. Mit ausführlichen Vorschriften regeln die Mitbestimmungsgesetze die personelle Zusammensetzung des Aufsichtsrats, die Wahl seiner Mitglieder sowie die Auflösung von Pattsituationen in Aufsichtsräten, soweit sie eine gleiche Zahl der Anteilseigner- und Arbeitnehmervertreter haben. Die gesetzliche Trennung von Vorstand / Geschäftsführung und Aufsichtsrat macht es unmöglich, dass die Träger der Arbeitgeberfunktion diesem Organ angehören. Andererseits ist es nahezu die Regel, dass Mitglieder des Betriebsrats dem Aufsichtsrat ihres arbeitgebenden Unternehmens angehören. Im Einzelfall kann dies zu einer nicht unbeträchtlichen Informations-Asymmetrie zwischen der Arbeitnehmerbank und den (externen) Vertretern der Anteilseigner führen. Vereinzelt ist es in Aufsichtsräten von Gesellschaften, deren Beteiligungskapital teilweise von Mitarbeitern gehalten wird, zu einer Art Überparität gekommen, wenn Vertreter des Mitarbeiterkapitals (Belegschaftsaktien) als Anteilseigner zusätzlich zu den Arbeitnehmervertretern gemäss Mitbestimmungsgesetz in den Aufsichtsrat gelangten. Da der Anteil der Mitarbeiter am Aktienkapital in vielen Kapitalgesellschaften relativ gering ist, gehören diese Anteilseigner zumeist zu den Kleinaktionären. Der deutsche Gesetzgeber kennt für Anteilseigner keinen Minderheitenschutz, so dass in der Regel auch diese Kleinaktionäre nicht im Aufsichtsrat vertreten sind.
4. Interessenvertretung
Bei der Wahrnehmung der gesetzlichen Aufgaben des Aufsichtsrats in der Unternehmensverfassung kommt den Interessen, die die Vertreter der Arbeitnehmer in diesem Organ verfolgen, bei der Montan-Mitbestimmung und bei der erweiterten Mitbestimmung eine erhebliche Bedeutung zu (vgl. Gaugler, 1968, S. 80 – 112). Diese wird noch dadurch betont, dass der Gesetzgeber auf eine Vertretung weiterer Interessentengruppen (z. B. Konsumenten, Lieferanten) und von Repräsentanten des öffentlichen Interesses im Aufsichtsrat verzichtet hat. Insoweit kann man bei mitbestimmten Unternehmen von einer „interessendualistischen Unternehmensverfassung“ sprechen; dies ist insbesondere dann eine zutreffende Charakteristik, wenn die Arbeitnehmer in einem kompetenzstarken Aufsichtsrat erhebliche Einwirkungsmöglichkeiten auf Unternehmensentscheidungen besitzen. Eine Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat setzt heterogene Interessen der Anteilseigner und der Mitarbeiter voraus; sie würde sich bei völlig homo-
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genen Interessen zwischen Arbeit und Kapital im Unternehmen erübrigen. In einem Unternehmen in einer Marktwirtschaft sind aber auch gemeinsame Interessen beider eine Vorbedingung für die Beteiligung der Vertreter der Arbeitnehmer an unternehmerischen Entscheidungen; mangelndes Interesse der im Aufsichtsrat Beteiligten am Fortbestand des Unternehmens und an seiner Entwicklung sowie an der Sicherung der Beschäftigung gefährden ein Unternehmen mit einer interessendualistischen Unternehmensverfassung. Auch bei der Betriebsverfassung ist mit homogenen und heterogenen Interessen zu rechnen; man spricht deshalb dort von einer „antagonistischen Kooperation“ zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat. Interessenunterschiede in einem mitbestimmten Aufsichtsrat können den Zeitbedarf für unternehmerische Entscheidungen vergrößern. In einer ausgeprägten Wettbewerbswirtschaft ist neben dem Ausmaß der Verzögerung wesentlich, ob und inwieweit die Qualität der Entscheidungen, etwa hinsichtlich ihrer Risiken bei der Realisierung, durch die Beratungen im mitbestimmten Aufsichtsrat verbessert wird. Auch die Akzeptanz solcher Entscheidungen durch die internen und externen Betroffenen kann zur Prüfung der Auswirkungen der Mitbestimmung im Aufsichtsrat hinzu kommen. Diese Zusammenhänge zwischen der paritätischen Mitbestimmung und den unternehmerischen Entscheidungen in der Montanindustrie hat bereits die Sachverständigenkommission, die der Deutsche Bundestag 1966 unter Leitung von Kurt Biedenkopf eingesetzt hatte, in ihrem Bericht von 1970 thematisiert (vgl. Böhm / Briefs, 1971). Dieser Kommissionsbericht spricht bezüglich der Mitbestimmung in Aufsichtsräten der Montanindustrie u. a. von „Kopplungsgeschäften“. Damit ist das „Junktim zwischen verschiedenen in die Kompetenz des Aufsichtsrats fallenden Entscheidungen“ gemeint. Bei ihren Erhebungen hatte die Kommission festgestellt, dass die Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat ihre Zustimmung zu Unternehmenszusammenschlüssen, zu Stilllegungen und Umstellungen von der Erhaltung der Montanmitbestimmung und von der Sicherung des sozialen Status der betroffenen Arbeitnehmer abhängig gemacht haben. Als ein spezielles Kopplungsgeschäft nennt der Kommissionsbericht die Verbindung zwischen Dividendenzahlungen an die Aktionäre und Zusatzleistungen an die Belegschaft; er kommentiert dazu: „Die Sorge über eine mögliche Verfälschung unternehmenspolitischer Entscheidungsprozesse durch Kopplungsgeschäfte . . . lässt sich nicht rechtfertigen.“ (Bundestagsdrucksache VI / 334) Die Mitbestimmungsgesetze haben in den Aufsichtsräten der Kapitalgesellschaften mit der Vertretung der Anteilseigner und der Arbeitnehmer zwei gleich große „Bänke“ geschaffen – mit Ausnahme der einfachen Mitbestimmung bei der Drittelbeteiligung. In der Mitbestimmungspraxis zeigt sich, dass die Interessen nicht nur zwischen den beiden Vertretergruppen sondern auch in ihnen selbst variieren können. Eine gewisse Heterogenität der Interessen hat das Mitbestimmungsgesetz von 1976 mit dem Sitz des Vertreters der leitenden Angestellten auf der Arbeitnehmerseite gebracht. Weitere Unterschiede kann die Zugehörigkeit von Angestellten und Arbeitern auslösen. Besonders sichtbar können verschiedene Interessen werden, wenn dem Aufsichtsrat die Vertreter von Arbeitnehmern verschiedener Gewerkschaften angehören und diese nicht immer einheitlich votieren. Ähnliche Varianzen sind auch in der Gruppe der Anteilseigner zu beobachten, wenn sich ihre Vertreter im Aufsichtsrat beispielsweise wie folgt unterscheiden: Vertreter übergeordneter Konzerngesellschaften, Vertreter von Anteilseignern ohne und solche mit größeren oder kleineren Kapitalanteilen, Vertreter von Banken und Finan-
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zierungsinstitutionen ohne oder mit kleinerem oder größerem Fremdkapitaleinsatz im Unternehmen, Wirtschaftsexperten ohne und mit Dienstleistungen für das Unternehmen, Unternehmer und Manager anderer Firmen ohne oder mit Geschäftsbeziehungen zum Unternehmen. Diese mögliche Vielfalt bei den Aufsichtsratsmitgliedern macht es verständlich, dass häufig ein Abstimmungsbedarf besteht, dem Vorbesprechungen dienen, die vor den regulären Sitzungen des Gremiums stattfinden und an denen partiell auch Mitglieder des Vorstands bzw. der Geschäftsführung teilnehmen. Auch gesetzlich vorgesehene Ausschüsse (u. a. Vermittlungsausschuss für die Wahl eines weiteren Mitglieds des Aufsichtsrats gemäss Montan-Mitbestimmungsgesetz § 8, Ausschuss für die Wahl des gesetzlichen Vertretungsorgans gemäss Mitbestimmungsgesetz von 1976 § 31) sowie weitere Ausschüsse können zum Ausgleich unterschiedlicher Interessen im Aufsichtsrat beitragen. 5. Mitbestimmung und Menschenwürde
Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer in der Wirtschaft, insbesondere im arbeitgebenden Unternehmen jahrelang heftig umstritten (vgl. Muhler, 1958, S. 262 ff.). Dessen gesetzliche Festlegung hatte der Katholikentag in Bochum 1949 in einer Entschließung mit folgender Formulierung gefordert: „Die katholischen Arbeiter und Unternehmer stimmen darin überein, dass das Mitbestimmungsrecht aller Mitarbeitenden bei sozialen, personalen und wirtschaftlichen Fragen ein natürliches Recht in gottgewollter Ordnung ist, dem die Mitverantwortung aller entspricht.“ In den Debatten wurden Aussagen der Enzyklika Quadragesimo anno (1931) und eine Reihe von einschlägigen Äußerungen des Papstes kontrovers erörtert. Der Papst hielt daran fest, dass das Lohnarbeitsverhältnis kein Recht auf volle Mitbestimmung enthalte; immerhin sei eine Mitverantwortung der Arbeitnehmer als Kern des Mitbestimmungsrechts möglich und wünschenswert. Für die weitere Diskussion der Mitbestimmungsfrage in sozialethischer Perspektive war 1961 die Enzyklika Mater et magistra bedeutend, die die verantwortliche Mitarbeit der Arbeiter in Mittel- und Großbetrieben betont und sagt, dass „die Arbeiter mit Recht aktive Teilnahme am Leben des sie beschäftigenden Unternehmens fordern . . . und bei Erledigung der Angelegenheiten und beim Ausbau des Unternehmens auch die Stimme des Arbeiters gehört und seine Mitverantwortung angesprochen werden sollte“. (Nr. 91 f.) Mit dieser Enzyklika beginnt auch in der Mitbestimmungsfrage „eine neue Zeit“ (Nell-Breuning, 1982, S. 15). Während die Katholische Soziallehre zuvor „gegenüber der wirtschaftlichen Mitbestimmung noch ziemlich bedenklich und zurückhaltend“ war, ist sie jetzt „ganz unbekümmert aufgeschlossen und zuversichtlich“. Immer mehr wenden sich kirchliche Stellungnahmen der „Beteiligung der Arbeitnehmer an der Leitung und Verwaltung“ zu und betonen dabei die „Teilhabe an der Verantwortung“. In Gaudium et spes, der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965), findet sich der Absatz: „In den wirtschaftlichen Unternehmen stehen Personen miteinander im Verbund, d. h. freie, selbstverantwortliche, nach Gottes Bild geschaffene Menschen. Darum sollte man unter Bedachtnahme auf die besonderen Funktionen der einzelnen, sei es der Eigentümer, der Arbeitgeber, der leitenden oder der ausführenden Kräfte, unbeschadet der erforderlichen einheitlichen Werkleitung die aktive Beteiligung aller an der Unternehmensgestaltung voranbringen. . . . Darum sollten die Arbeiter auch daran
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beteiligt sein, sei es unmittelbar, sei es durch frei gewählte Abgesandte.“ (Nr. 68) Die Enzyklika Laborem exercens (1981) kommt in die Nähe zur mitbestimmten Unternehmensverfassung: „Nicht selten können die Arbeiter an der Leitung der Unternehmen und an der Überwachung teilnehmen und machen von dieser Möglichkeit auch Gebrauch.“ (Nr. 8,4) Die Enzyklika anerkennt solche Bestrebungen, ohne jedoch konkret für eine bestimmte Form der Beteiligung zu plädieren. Diesen Aussagen der Enzykliken zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer im arbeitgebenden Unternehmen sind Stellungnahmen der katholischen Kirche zu Themen vorausgegangen, die zwar keinen unmittelbaren Bezug zur Mitbestimmungsfrage besitzen, die aber für das Verständnis der Äußerungen der kirchlichen Soziallehre zur Mitbestimmung im Unternehmen von Bedeutung sind. Seit dem 19. Jahrhundert haben die Enzykliken der Päpste mit großem Nachdruck die Irrtümer des auf dem Liberalismus fußenden Kapitalismus und des Sozialismus / Kommunismus verurteilt und dabei die christlichen Vorstellungen von einer auf das Wesen des Menschen ausgerichteten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung aufgezeigt. Gegen die Forderung nach einer Sozialisierung der Produktionsmittel verteidigten die Enzykliken das Recht auf Privateigentum auch am Produktivvermögen in der Wirtschaft und hoben dabei dessen Sozialpflichtigkeit gegenüber dem Gemeinwohl hervor. Schließlich wandten sich die Sozialenzykliken verstärkt den Mitbestimmungsfragen in den Unternehmen zu, als die zuvor von der kirchlichen Soziallehre präferierte Konzeption einer sogenannten „Berufsständischen Ordnung“ in der Wirtschaftspraxis ohne Akzeptanz blieb und zunehmend Überlegungen und Vorschläge zu einer „Wirtschaftsdemokratie“ auftauchten, die sich in Westdeutschland im Zuge des Wiederaufbaus der Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr vom Sozialisierungspostulat der Produktionsmittel lösten (vgl. Stegmann, 1974, S. 198 f.) In den Sozialenzykliken werden Themen behandelt, die für das sozialethische Verständnis der Mitbestimmung sowie für deren rechtliche und praktische Handhabung Orientierung liefern. Auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes charakterisiert die Enzyklika Laborem exercens 1981 die personale Würde der menschlichen Arbeit; sie unterscheidet dabei zwei Bedeutungen: eine objektive und eine subjektive (Rauscher, 2006, S. 424 ff.). Nicht nur für die Strukturierung der Mitbestimmung in der Unternehmensverfassung sondern auch für deren Agenten, also für die Anteilseigner und Arbeitnehmer und deren beider Vertreter in den mitbestimmten Organen sowie für die Angehörigen der Unternehmensleitung, gibt diese Enzyklika zahlreiche Impulse zur Wahrung der Menschenwürde im mitbestimmten Unternehmen. Damit unterstreicht diese Enzyklika nachdrücklich die Subjektstellung der menschlichen Arbeit in der Wirtschaft, die schon früher seitens der Katholischen Soziallehre betont wurde. Die Enzyklika Centesimus annus (1991) bekräftigt das Recht auf Arbeit (und seine Verpflichtung) und bespricht die neuen Konfliktpotentiale zwischen Arbeit und Kapital; insbesondere bringt sie grundlegende Aussagen für die Mitbestimmung, wenn sie sich mit dem Unternehmen und seinen ökonomischen, sozialen und moralischen Zielen sowie mit den Zielen des Unternehmers und Managers befasst. Auch für die Beurteilung einer mitbestimmten Unternehmensverfassung ist es nach dieser Enzyklika zu prüfen, inwieweit „das berechtigte Gewinnstreben . . . mit dem unverzichtbaren Schutz der Würde der Personen in Einklang gebracht wird“ (Kompendium, 2006, Nr. 340).
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IV. Gesetzliche Prägungen Bei ihrer Verfassungsbeschwerde gegen das Mitbestimmungsgesetz 1976 haben die Kläger u. a. auf das Nebeneinander von Mitbestimmungsrechten aus diesem Gesetz und aus dem Betriebsverfassungsgesetz hingewiesen. Dadurch komme es zu einer Kumulation, die im Ergebnis zu einer Überparität der Arbeitnehmer führe. In seiner Entscheidung von 1979 hat das Bundesverfassungsgericht diese Annahme einer Kumulation nicht geteilt. Ferner stellte das Gericht fest, das Mitbestimmungsgesetz von 1976 verharre unterhalb der Parität, Vorstand und Hauptversammlung blieben mitbestimmungsfrei und die Eigentumsgarantie des Art. 14 Grundgesetz sei nicht verletzt. Das Bundesverfassungsgericht hat keine Einwendungen gegen ein Nebeneinander von Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Betriebs- und in der Unternehmensverfassung erhoben, was lediglich für Kapitalgesellschaften relevant ist, da die Mitbestimmungsgesetze für die Unternehmensverfassung nur diese Rechtsformen erfassen. Das Betriebsverfassungsgesetz, das das Direktionsrecht des Arbeitgebers durch die Beteiligung des Betriebsrats beschränkt, gilt zwar – unabhängig von ihrer Rechtsform – auch für Einzelunternehmen und Personengesellschaften, soweit sie fünf und mehr Arbeitnehmer beschäftigen – Tendenzbetriebe ausgenommen. Der Gesetzgeber überlässt jedoch bei diesen Rechtsformen die Gestaltung der Unternehmensverfassung weitestgehend dem Inhaber bzw. den Gesellschaftern, so dass eine gesetzlich bedingte Kumulation der Arbeitnehmervertretung bei den Unternehmen, die nicht dem Mitbestimmungsgesetz unterliegen, ohnedies ausscheidet. Unabhängig von der Frage nach dem Verhältnis der Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf Betriebs- und Unternehmensebene bei den Kapitalgesellschaften kann man nach den Beweggründen des Gesetzgebers für gesetzliche Normierungen dieser Art fragen. Offensichtlich haben vor allem der Gläubigerschutz und das Aktionärsinteresse den Gesetzgeber zu rechtlichen Vorgaben für die Unternehmensverfassung veranlasst. Ähnliches gilt bei der Betriebsverfassung für den Arbeitnehmerschutz und für die Wahrung der Menschenrechte der Beschäftigten in Betrieben. Bei der Gesetzgebung zur Betriebsverfassung ist seit den 1920er-Jahren die zunehmende Einwirkung der Gewerkschaften auf den Gesetzgeber unverkennbar. Unbeantwortbar bleibt die Frage, wie sich die Betriebsverfassung in der deutschen Wirtschaft entwickelt hätte, wenn sich der Staat statt der gesetzlichen Normen stärker am Subsidiaritätsprinzip orientiert hätte und wenn die Gewerkschaften mit Modellangeboten an die Arbeitgeber für die Arbeitnehmerbeteiligung in der Betriebsverfassung einen Wettbewerb für betriebsspezifische Regelungen mit optimalen Wirkungen bei den betrieblich unterschiedlichen Belegschaften ausgelöst hätten. Im internationalen Vergleich gesetzlicher Vorgaben für die Betriebs- und Unternehmensverfassung erweisen sich die Normierungen des deutschen Gesetzgebers als besonders vielfältig und von erheblicher Prägekraft. Dennoch bleiben dem einzelnen Betrieb und Unternehmen Möglichkeiten für spezifische, freiwillig vereinbarte Regelungen, die man als Elemente einer Verfassung verstehen kann (Schanz, 2004). Zu solchen Komponenten einer Betriebs- und Unternehmensverfassung, die in den einschlägigen Gesetzen überhaupt nicht vorkommen oder die über die Vorgaben des Gesetzgebers hinausgehen, kann man die Beteiligung der Mitarbeiter am Erfolg des arbeitgebenden Unternehmens und am Unternehmenskapital (materielle Beteiligung) sowie die Ent-
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scheidungspartizipation in unterschiedlichen Formen (immaterielle Beteiligung) zählen. Diese Elemente für die Betriebs- und Unternehmensverfassung können – meist im Unterschied zu den gesetzlichen Normen – nach den spezifischen Bedingungen der Institution und ihrer Mitarbeiter gestaltet werden.
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Gemeinwirtschaftlicher Sektor / Non-Profit-Unternehmen Von André Habisch I. Sozialromantische Idealisierung Das Konzept der ,Gemeinwirtschaft‘ ist in der älteren Diskussion um die Legitimität von Markt und Wettbewerb zum Idealbild solidarischer Wirtschaftsverfassung stilisiert worden. Dies gilt insbesondere für bestimmte kirchliche Autoren des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts,1 aber auch etwa für den konservativen Antiliberalismus der ,Genossenschaftsidee‘ des Staatsrechtslehrers Otto von Gierke. Die unter der Maxime der ,schrankenlosen Profitmaximierung‘, des ,gnadenlosen Wettbewerbsdrucks‘ und des ,individualistischen Egoismus‘ stehende Wettbewerbswirtschaft wurde ethisch mit Gottferne und sündhafter Vereinzelung identifiziert; das Prinzip der ,Gemeinwirtschaft‘ stand dem als sozialethisch ausgezeichnete Alternative gegenüber, konnte aber inhaltlich häufig nicht näher bestimmt werden. Auf der Ebene der ordnungspolitischen Optionen wirkte sich die Präferenz für gemeinwirtschaftliche Lösungen in der Frühphase der Industrialisierung als Ruf nach einer Rücknahme der Gewerbefreiheit aus, die in Folge der liberalen Reformen am Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen (Stein-Hardenberg’sche Reformen) eingeführt worden war, aber zunächst durchaus unpopulär blieb. Vereinzelt wurde dies in sozialromantischen Kreisen auch mit der Forderung nach Wiedereinführung der Stände und Zünfte verbunden, um das Wettbewerbsstreben des Einzelkaufmanns in gemeinwirtschaftliche Strukturen einzubinden.2 Manche Autoren identifizierten die Gemeinwirtschaft dabei mit der Organisationsform der (eingetragenen) Genossenschaft (eG), anderen standen verstaatlichte Unternehmen oder doch privatrechtlich organisierte Betriebe in Staatseigentum vor Augen. Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff eher für Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege und der Non-Profit-Unternehmen verwandt. Aus sozialethischer Sicht stellt eine moralische Stilisierung des gemeinwirtschaftlichen Sektors einen normativen Fehlschluss dar. Die Spannung von Gemeinwohl und Einzelwohl darf hier nicht so interpretiert werden, als ob ,Gemeinwirtschaft‘ prinzipiell am ,Gemeinwohl‘ orientiert wäre und im Gegensatz dazu die Privatwirtschaft ausschließlich dem ,Einzelwohl‘ des Unternehmers bzw. der Aktionäre dienlich sei. Wichtige Autoren der Katholischen Soziallehre wie Götz Briefs, Joseph Höffner, Johannes Messner, Winfrid Schreiber, Oswald von Nell-Breuning haben demgegenüber darauf hingewiesen, dass auch privatwirtschaftliche Unternehmen im Kontext funktionsfähiger 1 2
Vgl. dazu ausführlich Baumgartner (1977). Vgl. dazu Kaufhold (1982).
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Rahmenordnung prinzipiell gemeinwohlorientiert agieren. Umgekehrt hat die ökonomische Theorie dafür sensibilisiert, dass auch ,gemeinwirtschaftlich‘ organisierte Unternehmen durchaus sozialethisch bedenkliche Eigenschaften aufweisen können. Historisch sind gerade auch in genossenschaftlich oder gewerkschaftlich organisierten Unternehmen Fälle von Untreue und Betrug zutage getreten, die durch vergleichsweise schwach entwickelte Kontrollmechanismen gefördert worden sind. Problematisch ist eine gesellschaftspolitische Privilegierung von NPOs zudem dort, wo sich ,Sozialunternehmer‘ (z. B. teilprivatisierte ehemalige kommunale Betriebe) teilweise aus Steuergeldern, teilweise aber auch aus Markttransaktionen auf Wettbewerbsmärkten finanzieren; hier kommt es dann zu einer steuerfinanzierten Wettbewerbsverzerrung zulasten des Mittelstandes, der durch seine Gewerbesteuerzahlungen seine eigene Konkurrenz quersubventioniert. Der sozialethische Impuls geht also nicht generell in Richtung auf eine unbedingte Stärkung oder gar Ausweitung des gemeinwirtschaftlichen Sektors. Sowohl gemeinwirtschaftliche als auch privatwirtschaftliche Unternehmen müssen vielmehr daraufhin analysiert werden, inwiefern sie im Kontext marktwirtschaftlicher Ordnung auf Grund ihrer Organisationsprinzipien besondere Stärken aufweisen.
II. Organisationsprinzipien privatund gemeinwirtschaftlicher Unternehmen Privatwirtschaftliche Unternehmen sind durch die Existenz eines oder mehrerer Kapitaleigner bestimmt, die einen (prinzipiell unbeschränkten) Rechtsanspruch auf den Residualgewinn des Unternehmens besitzen. Als Eigentümer des Unternehmens beeinflussen sie strategische Entscheidungen ganz wesentlich und besetzen Leitungsfunktionen und Management, wobei die Einzelheiten durch die Bestimmungen der Wirtschaftsverfassung geregelt sind. Aufgrund dieser Konstruktion sind privatwirtschaftliche Unternehmen in der Regel stark auf die Erwirtschaftung eines möglichst umfangreichen Überschusses ihrer Geschäftstätigkeit (Profit) hin ausgelegt. In der unternehmerischen Praxis muss dies allerdings keineswegs mit einer rücksichtslosen Durchsetzung von kurzfristigen Kapitalinteressen (,Shareholder‘) gegenüber (konkurrierenden) Ansprüchen anderer Anspruchsgruppen (,Stakeholder‘) einhergehen, wie dies von Kritikern privatwirtschaftlicher Wirtschaftsverfassung befürchtet wurde. Vielmehr zeigt sich, dass nachhaltige Wertschöpfung im Kontext funktionsfähiger Marktordnung in der Regel an die umsichtige Berücksichtigung der Interessen aller wichtigen Anspruchsgruppen wie Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten und Öffentlichkeit gebunden bleibt. Denn auf funktionsfähigen Märkten steht das Unternehmen seinen Anspruchsgruppen gegenüber im Wettbewerb; bricht es seine Leistungsversprechen, dann werden Kunden zu Konkurrenzanbietern, Mitarbeiter zu anderen Arbeitgebern wechseln, Lieferanten ihre Leistungen einstellen und die Öffentlichkeit ihren Vertrauensvorschuss zurücknehmen. Im Kontext funktionsfähiger Marktordnung ist der Wettbewerb und nicht das ,Wohlwollen‘ des Anbieters der entscheidende Garant der Einhaltung ethischer Mindeststandards (A. Smith). Das privatwirtschaftliche Eigentumsprinzip stärkt die persönliche Verantwortung des Unternehmers für die Wettbewerbsfähigkeit seines Betriebes. Besitzt er den Anspruch
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auf den Residualertrag des Unternehmens (wie bei Kapitalgesellschaften) oder haftet gar mit seinem Privatvermögen für dessen Verbindlichkeiten (wie bei Personengesellschaften), dann wird er die mit jeder ordentlichen Geschäftstätigkeit verbundenen komplexen Risikoabschätzungen vergleichsweise umsichtig und verantwortungsbewusst vornehmen. Das Interesse des Eigentümers an der langfristigen Erhaltung seines Besitzes führt häufig zur Herausbildung eines Unternehmerethos, das z. B. in Unternehmerfamilien von Generation zu Generation weitergegeben wird. Dieses wirkt dem immer auch vorhandenen Anreiz entgegen, durch kurzfristig orientierte Profitmaximierungsstrategien ,Kasse zu machen‘, aber den langfristigen Unternehmenswert zu zerstören. Um diese so wichtigen positiven Wirkungen privatrechtlicher Arrangements zu stabilisieren, bedarf es allerdings auch flankierender rechtlicher Ordnungsregeln, die negative externe Effekte ,internalisieren‘, d. h. die systematische Verlagerung von Folgekosten privatwirtschaftlicher Gewinnerzielung auf Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten und Öffentlichkeit wettbewerbskonform verhindern. Aufgrund der im privatwirtschaftlichen Raum konstitutiven Vertragsfreiheit können Kapitaleigner ihre Interessen durch die Auswahl der Führungskräfte des Unternehmens und die Gestaltung ihrer Belohnungsstruktur vergleichsweise effektiv durchsetzen. Damit werden privatwirtschaftliche Unternehmen zu attraktiven Arbeitgebern leistungsorientierter Managementeliten, was ihnen häufig eine starke Veränderungsdynamik und Innovationskraft verleiht. Aufgrund ihrer hohen Anpassungsfähigkeit an veränderte Marktbedingungen können privatwirtschaftliche Unternehmen ihre Stärken insbesondere in einem innovationsintensiven und veränderlichen Umfeld ausspielen. Die Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und die Revolution der Informationsund Kommunikationstechnologie haben die bereits im letzten Fünftel des 20. Jahrhunderts herrschende internationale Tendenz zur Privatisierung von Unternehmen noch einmal erheblich verstärkt. Weniger leistungsfähig sind privatwirtschaftliche Unternehmen dagegen im Bereich der Erstellung ,öffentlicher Güter‘ bzw. ,Mischgüter‘: Also überall dort, wo geringe Erträge erwirtschaftet werden können oder über Jahre hohe Investitionskosten erbracht werden müssen, ohne dass dem eine feste Ertragserwartung gegenübersteht. Öffentliche Güter zeichnen sich dadurch aus, dass Verbraucher nicht oder nur unter hohen (Folge-) Kosten von ihrem Konsum ausgeschlossen werden können (z. B. soziale und physische Sicherheit, kulturelle Angebote, Umweltschutz, Infrastruktur, elementare Bildung etc.). Verbraucher haben dann einen systematischen Anreiz, ihre Zahlungsbereitschaft zu niedrig anzugeben: (Äquivalenz-)Märkte kommen nicht zustande. Für privatwirtschaftliche Anbieter sind derartige Rahmenbedingungen unattraktiv. Auch im Kontext entwickelter Marktordnung kommt es mithin besonders in den Bereichen Soziale Arbeit / Fürsorge, Katastrophenhilfe und Rettung, Umwelt-, Naturund Tierschutz, Schutz der Grundrechte, Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, Kultur sowie Wissenschaft und Bildung regelmäßig zur Bildung von Non-ProfitOrganisationen. Non-Profit-Organisationen zeichnen sich oft durch einen hohen Anteil ehrenamtlicher Mitarbeit aus. Erst dadurch sind sie in der Lage, trotz spärlichen oder unregelmäßigen Mittelzuflusses wichtige und sozialethisch höchst relevante Funktionen innerhalb des Gemeinwesens zu übernehmen. Zudem sind Non-Profit-Organisationen (NPOs) häufig hoch spezialisiert und bauen durch die Beschränkung auf eine Aufgabe und / oder hohe lokale Verwurzelung in einer Region spezifisches Know-how bzw. Kom-
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petenzen auf. Die daraus resultierenden Spezialisierungsvorteile erhöhen in Verbindung mit dem hohen Maß intrinsischer Motivation die Leistungsfähigkeit von NPOs. NPOs finanzieren sich ganz überwiegend über Mitgliederbeiträge und Spenden sowie staatliche Zuschüsse, zu einem nicht unbeträchtlichen Teil – nach internationalen Studien gut die Hälfte – aber auch durch Entschädigungen für ihre Güter und Dienstleistungen. Auch wenn diese Proportionen je nach Handlungsfeld und Ausrichtung stark schwanken, so agieren NPOs also dennoch – wie privatwirtschaftliche Unternehmen – ganz überwiegend als Anbieter am Markt, wobei allerdings die Gewinnerzielungsabsicht nicht im Mittelpunkt ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten steht. Trotzdem stellt sich auch für NPOs die Notwendigkeit, professionell zu agieren und sparsam mit ihren Ressourcen umzugehen. Hier setzen Tendenzen an, die einerseits zu einer Professionalisierung insbesondere der Leitungsebene von NPOs führen, andererseits aber auch einer ,Ökonomisierung‘ ihrer Denk- und Handlungsformen Vorschub leisten. Derartige Aktivitäten weisen neben Chancen auch Risiken auf – etwa wenn ehrenamtlich tätige Unterstützer oder Spender die Eigenart ,ihrer‘ NPO nicht mehr erkennen und ihr die Unterstützung entziehen. Dies kann sehr wohl existierende Krisenerscheinungen verstärken und Rationalisierungsbemühungen überkompensieren.
III. Formen und Aktivitäten von NPOs 1. Neue NPOs und die Entstehung internationaler Ordnungsstrukturen
Neben traditionellen NPOs, die stark regional und national verwurzelt sind, treten in Zeiten der Globalisierung und der Revolution der Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten zunehmend auch ,neue‘ NPOs, die international aktiv sind und sehr starke Präsenz in den Medien zeigen. Hier sind insbesondere Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen aus dem angelsächsischen Raum (WWF, Greenpeace, Amnesty International etc.), aber auch humanitäre Hilfsdienste wie Ärzte ohne Grenzen, CARE, Terre des hommes etc. zu nennen. In den vergangenen Jahren sind auch globalisierungskritische Organisationen wie Attac hinzu gekommen, die durch friedliche oder weniger friedliche Aktionen gegen die Folgen der wirtschaftlichen Integrationsprozesse in Entwicklungs- und Industrieländern protestieren. Diese NPOs verstehen sich als Teil der internationalen Zivilgesellschaft und machen insbesondere bei publikumsträchtigen Anlässen durch medienorientierte Aktionen auf sich aufmerksam. Viele dieser ,neuen‘ NPOs finanzieren sich weitgehend über Kampagnen, die ihnen helfen, international Spendengelder zu akquirieren. Sie aktivieren eine globale Öffentlichkeit und üben auf nationale Regierungen, internationale Organisationen und Politik Druck aus, um ihre Anliegen umzusetzen. Dabei arbeiten sie mit einem ,ethischen Überschuss‘ (z. B. in Sachen Ökologie, nachhaltige Wirtschaftsformen, globale Armutsbekämpfung, Menschenrechtsfragen etc.), der eine internationale Mobilisierungswirkung zu erzielen vermag. Aus sozialethischer Sicht können solche Aktivitäten dazu beitragen, eine breite Lücke im Prozess der globalen Verflechtungen wirtschaftlicher, politischer und kultureller Aktivitäten zu schließen. Auf nationaler Ebene bieten Politik und Administration einen Ordnungsrahmen für einzelwirtschaftliche Aktivitäten; dagegen stehen im internationalen Raum entsprechende Ordnungsstrukturen und -faktoren noch aus. Papst Johannes XXIII. hatte in seiner Enzyklika Pacem in terris einen Weltstaat antizipiert, der – nach
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dem Modell des Nationalstaates – in der Lage ist, vergleichbare Ordnungsfunktionen auch auf internationaler Ebene auszuüben. Seitdem ist allerdings das Bewusstsein für die Grenzen solcher Strukturen gewachsen. Ohne eine flankierende internationale Öffentlichkeit oder auch funktionierende Mechanismen der Gewaltenteilung und Machtkontrolle geraten internationale Verwaltungsstrukturen schnell außer Kontrolle. Machtmissbrauch, Korruption und Klientelismus machen die bleibende Aktualität der von Thomas Hobbes bereits im 17. Jahrhundert gestellten Frage offenbar: Wer kontrolliert die Kontrolleure? Angesichts dieses Ordnungsvakuums kann international agierenden NPOs eine neue Funktion zuwachsen.3 Sie thematisieren jenseits geschäftlicher Interessen und diplomatischer Opportunitäten anhaltende Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschädigungen, prangern Korruption und Machtmissbrauch politischer und wirtschaftlicher Eliten an oder thematisieren die ,schleichende‘ Verarmung von Kindern und Randgruppen auch in wohlhabenden Gesellschaften. Aus sozialethischer Sicht bringen sie damit langfristige Interessen zur Sprache, die – häufig aufgrund komplexer Dilemmaprobleme – in Politik und Wirtschaft nicht wirksam zur Geltung gebracht werden können. In einigen Fällen gehen die Aktivitäten von NPOs auch über eine bloße Medienpräsenz und ,advokatorische‘ Einrede hinaus. Es gelingt ihnen, ansatzweise Mechanismen zur Durchsetzung ihrer Anliegen zu konzipieren, die – in Verbindung mit der Erzeugung von Öffentlichkeit – eine Sanktionswirkung auf politische und wirtschaftliche Organisationen zu entfalten vermögen. Als Beispiel sei an dieser Stelle ,Transparency International‘ (TI) genannt, die internationale Allianz gegen Korruption, die Anfang der 90erJahre des letzten Jahrhunderts vom ehemaligen Ostafrika-Direktor der Weltbank, Peter Eigen, in Deutschland gegründet wurde. TI ist ein Netzwerk nationaler Gruppen, die sich sowohl in ihrem Heimatland als auch international für die Bekämpfung der Korruption einsetzen. TI wirkt auf die nationale Gesetzgebung ein, thematisiert handgreifliche Korruptionsskandale aber inkriminiert auch weitverbreitete Geschäftspraktiken (etwa im deutschen Pharmageschäft), die praktisch auf Korruption hinauslaufen. Auf dem Hintergrund der weltweiten Vernetzung erstellt TI alljährlich einen ,Corruption Perception Index‘, der eine vollständige Rangliste der Länder der Welt – geordnet nach dem wahrgenommenen Korruptionsgrad ihrer Institutionen – widergibt.4 Die Publikation dieser Liste erregt regelmäßig große Medienöffentlichkeit und verhindert die notorische Verdrängung des Problems durch die Eliten der besonders von Korruption betroffenen Länder. Weiterhin bietet TI mit Hilfe von ,Integritätspakts‘ den kooperierenden Unternehmen eine Struktur an, mit deren Hilfe diese kollektive Selbstbindungen zur Prävention von Korruptionszahlungen eingehen können. Auf der Ebene einzelner Branchen wie z. B. der Rohstoffindustrie wurden weitere Initiativen (Extracting Industry Transparency Initiative) gegründet, die durch gezielte Aktionen die Korruptionsgefahr mindern sollen. Durch diese praxisorientierten Initiativen, in die jeweils die Sachkompetenz der im TI Netzwerk organisierten Fachleute (oft Juristen und Verwaltungsfachleute) einfließt, ist es der Non-Profit-Organisation gelungen, das Thema Korruption weltweit zur Diskussion zu stellen und zugleich ansatzweise einzudämmen. Internationale Plattformen wie der – vom ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan ins Leben gerufene – 3 Vgl. dazu die wegweisenden Bemerkungen der COMECE-Arbeitsgruppe zum Thema Global Governance (2001). 4 Vgl. dazu die Materialien unter www.transparency.org bzw. Eigen (2003).
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Global Compact bzw. das Weltwirtschaftsforum in Davos haben in der Folge Korruptionsbekämpfung zum Gegenstand ihrer Ziele und Aktivitäten gemacht. TI ist ein gutes Beispiel für eine NPO, die unter den Bedingungen der Globalisierung Hilfestellungen zur Schließung globaler Ordnungslücken leistet.
2. Funkionen und Herausforderungen von NPOs auf nationaler Ebene
Die Wahrnehmung globaler Ordnungsfunktionen bleibt allerdings im Spektrum der NPOs eher eine Ausnahme. Die meisten Organisationen agieren auf regionaler oder nationaler Ebene. Die Themenfelder sind so weit gefächert wie die Aktive Bürgergesellschaft selbst: Von Sportvereinen (in Deutschland mit ca. 30 Mio. Mitgliedern die größten Organisationen) über Kulturverbände (Musik, Denkmalschutz, Heimat- und Geschichtsvereine, Fasching etc.), Tier- und Naturschutzaktivitäten, Karitativ- und Sozialorganisationen, Geselligkeitsverbünde bis hin zu religiösen, weltanschaulichen und politischen Initiativen. Auch im Bereich des Wirtschaftslebens spielen NPOs eine wichtige Rolle: So etwa Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, denen in der deutschen Wirtschaftsverfassung die autonome Lohnfindung in den unterschiedlichen Branchen übertragen ist (grundgesetzlich verankerte Tarifautonomie). Daneben wirken Berufsverbände und Branchenvereinigungen durch ihre Lobbyarbeit an der politischen Willensbildung des politischen Gemeinwesens mit. Diese Vermittlungsfunktion ist von bestimmten volkswirtschaftlichen Theorieansätzen 5 als tendenziell problematische Wahrnehmung von Partikularinteressen (,Rent-Seeking‘) diskreditiert worden, die die Durchsetzung des Gemeinwohls eher zu behindern scheint. Eine unvoreingenommene Analyse wird demgegenüber die Informationsfunktion von Interessenverbänden betonen, die im Rahmen eigens geregelter Anhörungs- und Konsultationsverfahren über mögliche Folgewirkungen bestimmter politischer Entscheidungen informieren. Ein Wettbewerb der Gruppen bzw. dahinterstehenden Interessen bildet im entwickelten Gemeinwesen ein Gegengewicht gegen allzu großen Einfluss. In Staaten, in denen solche vermittelnden Interessenverbände fehlen oder in denen sie nur schwach entwickelt sind (wie etwa in vielen Transformationsländern Mittel- und Osteuropas), laufen politische Entscheidungsprozesse zudem nicht strukturierter, sondern eher erratischer ab und sind anfälliger für illegitime Einflussnahme. Allerdings bleibt das Problem, dass bestimmte Gruppen in einer Demokratie der Interessengruppen notorisch unterrepräsentiert bleiben und des ,advokatorischen‘ Engagements anderer, gemeinwohlorientierter NPOs bedürfen. Eine gewisse Sonderrolle nehmen auch die Wohlfahrtsverbände ein, denen im deutschen Sozialsystem zentrale Funktionen der lokalen Sozialpolitik und der sozialen Arbeit übertragen sind (Subsidiaritätsprinzip). Die wichtigsten Wohlfahrtsverbände sind jeweils weltanschaulichen Gruppierungen zugeordnet, so z. B. der diözesan gegliederte Deutsche Caritasverband (Sitz des Bundesverbandes in Freiburg i. Br.) der katholischen Kirche, die Diakonie der evangelischen Kirche, die Arbeiterwohlfahrt den Gewerkschaften und der Arbeitnehmerbewegung. Obwohl Teile der Wohlfahrtsverbände mehr und mehr privatwirtschaftlich organisiert sind, verstehen sie sich doch als gemeinwirtschaftliche Organisationen und versuchen, durch eine eigene Struktur der Arbeitsbeziehungen 5
So etwa durch die Neue Politische Ökonomie (Richter / Furubotn (2003)).
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(,Dienstverhältnis‘ zwischen ,Dienstgebern‘ und ,Dienstnehmern‘) sowie ein hohes Maß kollektiver Entscheidungspraxis ihre strukturelle Autonomie zu wahren. Dies wirkt sich etwa im Festhalten an eigenen Tarifverträgen und Mechanismen der Lohnfindung aus. Angesichts der konstanten Knappheit öffentlicher Kassen, von denen gemeinwirtschaftliche Unternehmen in starkem Maße abhängig sind, kommt dieses Selbstverständnis allerdings zunehmend unter Konkurrenzdruck. Dies gilt insbesondere im Bereich einfacher Dienstleistungen, etwa der Pflege oder Krankenversorgung. Hier lassen die kollektiven Tariffindungsprozesse der Wohlfahrtsverbände nicht jene Lohnspreizungen zu, zu denen nicht-tarifgebundene private Leistungsanbieter in der Lage sind. Schwach regulierte Pflegemärkte mit weit verbreitetem Lohndumping gerade gegenüber zugewanderten Arbeitskräften stellen gemeinwirtschaftliche Träger vor erhebliche Probleme. Hier ist auch im Bereich der NPOs und freien Träger unternehmerische Führung gefragt, um die Kernkompetenzen eines Verbandes (z. B. ein bestimmtes Menschenbild und Solidaritätskonzept) in handfeste Wettbewerbsvorteile umzumünzen. Das gilt insbesondere im Umgang mit ehrenamtlich Engagierten.6 Das hohe Maß an Ehrenamt, das weltanschaulich orientierte NPOs traditionell mobilisieren, war und ist ein wichtiges Argument für die weitgehenden Selbstorganisationsrechte, die ihnen das deutsche Sozialsystem einräumt (Subsidiaritätsprinzip). Das zahlenmäßige Verhältnis von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat sich allerdings in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich verringert. Dies liegt zunächst im ,Strukturwandel des Ehrenamtes‘ begründet. Denn im Kontext von Bildungsexplosion, regionaler Mobilität und individualistischen Werthaltungen erheben Engagierte einen stärkeren Mitgestaltungsanspruch und sind weniger bereit, sich lebenslang bestimmten Trägerorganisationen zu verschreiben. Sie wollen eher projektbezogen und mit festen Ausstiegsperspektiven mitarbeiten, sich mitverantwortlich unter Nutzung ihrer Qualifikation einbringen und dabei auch selbst ,weiterkommen‘ (etwa i. S. von Supervision und Begleitung). Angebote zum Engagement müssen zudem die Lebenssituation berücksichtigen (,biografische Passung‘) und z. B. junge Menschen in der Familiengründungsphase anders ansprechen als Teilzeit- oder Vollzeitarbeitskräfte mit erwachsenen Kindern oder ältere Menschen im Ruhestand. Viele traditionelle NPOs sind weniger in der Lage, auf diese veränderten Ansprüche ehrenamtlich Engagierter zu reagieren und entsprechende Bedingungen zu gewährleisten. Auch existieren im Bereich der sozialen Arbeit wenig Qualifizierungsmaßnahmen für den Umgang mit Ehrenamtlichen, obwohl dies in allen NPOs einen wichtigen Bestandteil der Führungsaufgaben ausmacht.7 Chancen eines erweiterten Zugangs zu potentiellen Ehrenamtlichen bietet die Zusammenarbeit mit Schulen und Universitäten (,Service learning‘) oder mit Unternehmen, die im Rahmen der betrieblichen Freiwilligenarbeit (,Corporate Volunteering‘) ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Weg zu ehrenamtlicher Tätigkeit zu ebnen bereit sind. Bei entsprechend professioneller Vor- und Nachbereitung zeigen sich regelmäßig einige der Teilnehmer einer Einstiegsveranstaltung motiviert, auch längerfristig ehrenamtliche Arbeit zu leisten oder die NPO auf andere Weise zu unterstützen. Von einer konstruktiven Auseinandersetzung mit Zukunftsthemen wie dem Aufbau eines profesVgl. dazu ausführlich Enquete-Kommission (2002 – 2004), Möltgen (Hrsg.) (2003). Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt die Sommeruniversität Ehrenamt des Caritasverbandes der Erzdiözese Köln dar. 6 7
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sionellen Freiwilligenmanagements wird es abhängen, ob die NPOs des gemeinwirtschaftlichen Sektors auch unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts ihren Eigencharakter bewahren können, oder mehr und mehr von privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen verdrängt werden. 3. Genossenschaften und Mikrofinanzorganisationen
Eine Grenzform der NPO sind Genossenschaften, die durch gleichberechtigten Zusammenschluss von natürlichen und juristischen Personen mit demokratischer Entscheidungsbildung und (gesetzlich festgelegter) Orientierung auf die Förderung der Mitgliederinteressen ausgerichtet sind. Als Selbsthilfeorganisationen im ländlischen Raum des 19. Jahrhunderts (Friedrich Wilhelm Raiffeisen / Hermann Schulze-Delitzsch) entstanden, sollten sie das gemeinsame Investitionspotential und / oder die Marktmacht der Genossen erhöhen (Fördergenossenschaften); demgegenüber sind Produktivgenossenschaften in der Regel Gemeinschaftsbetriebe mit Erwerbscharakter (durch Eintrag ins Genossenschaftsregister mit eigener Rechtsform einer e.G.). Genossenschaftsbetriebe spielen heute insbesondere im Bereich von Handel, Banken, Wohnungsbau sowie Landund Forstwirtschaft eine Rolle – wobei die Gewinne an die Mitglieder ausgeschüttet werden. Aus sozialethischer Sicht ist bemerkenswert, dass die Zusammenarbeit in der Genossenschaft auch durch ethische Zielvorstellungen reguliert wird: Die persönliche Verantwortung, die Solidarität untereinander ebenso wie die (subsidiäre) Selbstorganisationsfähigkeit weisen Bezüge zur Katholischen Soziallehre auf. Die Schlagkraft dieser Prinzipien wird gegenwärtig im Kontext von MikrofinanzKreditgenossenschaften wie der vom Friedensnobelpreisträger M. Yunus 2006 gegründeten Grameen Bank manifest. Die bei Grameen mittlerweile über zwei Millionen organisierten landlosen Frauen verbinden Solidarität mit wechselseitiger Kontrolle und einem strengen ethischen Kodex, der z. B. Alkohol- und Drogenkonsum im Interesse einer pünktlichen Rückzahlung verbietet. Durch die ,zielgenaue‘ Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der absolut Armen, die hohe Nachhaltigkeit (über 95 % Rückzahlungsquote) und die Rückwirkungen auf die ,Persönlichkeitsbildung‘ der Genossinnen, die zu Selbstverantwortung und Solidarität in Subsidiarität erzogen werden, kann Mikrofinanz heute als die vielleicht erfolgreichste Institution der Entwicklungshilfe gelten. An ihrer weltweiten Verbreitung sind auch kirchennahe Organisationen wie der Bund Katholischer Unternehmer maßgeblich beteiligt.
IV. Ordnungspolitische Perspektiven Jenseits des wirtschaftlichen Beitrags, den NPOs und ganz allgemein bürgerschaftliche Vereinigungen und Netzwerke durch ihre Dienstleistungen oder ihre Öffentlichkeitsarbeit erbringen, ist ihre gesellschaftliche Integrationsfunktion zu würdigen. Untersuchungen US-amerikanischer Politikwissenschaftler8 haben gezeigt, dass in Regionen, die in hohem Maße über Netzwerke ehrenamtlichen Engagements verfügen, auch die wirtschaftliche Entwicklung weiter vorangeschritten ist und resultierende Chancen bes8 Hier sind insbesondere die Arbeiten des Harvard-Politologen Putnam und seiner Schüler zu nennen, vgl. Putnam (1992) (2001).
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ser genutzt werden. Zudem sind die Bürgerinnen und Bürger zufriedener mit ihrer politischen Administration, die sich als responsiv für ihre Bedürfnisse und Anliegen erweist. Diese Befunde ergeben sich erstaunlicherweise völlig unabhängig von den Zielen der NPOs. Auch Vereinigungen mit einer scheinbar rein ,privaten‘ Ausrichtung zeigen allein durch ihre Existenz entsprechende positive ,Nebenwirkungen‘. Hier erweist sich in empirisch-analytischer Perspektive eine wichtige gesellschaftliche Integrationsfunktion von NPOs und bürgerschaftlichen Netzwerken. In der ,Geselligkeit‘ des gemeinsamen Arbeitens findet Verständigung über wirtschaftliche und politische Entwicklungen vor Ort statt; es entstehen neue Initiativen mit ökonomischen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Aus der Sicht der Katholischen Soziallehre zeigen sich NPOs somit als wichtige Bestandteile des Sozialvermögens (,social capital‘) einer Region. Das gemeinsame Engagement führt nicht nur zu einer integrierten Persönlichkeitsbildung des Einzelnen, weil es auch soziale und kulturelle Kompetenzen zur Entwicklung bringt; es stärkt auch die demokratische Partizipation auf regionaler und kommunaler Ebene (Subsidiarität), was die autonome Selbststeuerungsfähigkeit in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht verbessert. Auch jenseits ihrer konkreten Dienstleistungen sind Non-Profit-Organisationen also ein Potential ihrer Regionen, das die Lebensqualität – für Engagierte und Nicht-Engagierte – erhöht. Aus diesem Sachverhalt heraus ist die gesellschaftspolitische Förderung von Non-Profit-Organisationen auch in einer pluralistischen Demokratie prinzipiell gerechtfertigt. Staatliche Förderung darf allerdings nicht unter der Hand zu einer ,Domestizierung‘ und schleichenden Funktionalisierung von NPOs führen. International vergleichende Studien unter Leitung von R. Anheier9 haben das Verhältnis von Staat und Bürgergesellschaft im deutschsprachigen Raum in diesem Sinne kritisch als ,Symbiose‘ gekennzeichnet. Der Staat hat bestimmte Funktionen – etwa im Bereich der Sozialpolitik – an gesellschaftliche Institutionen delegiert und sich dadurch entlastet; im Gegenzug ,alimentiert‘ er die Institutionen durch steuerliche und rechtliche Privilegien bzw. durch umfangreiche staatliche Zuschüsse. Wenn dabei die Grenze zwischen öffentlicher Verantwortung und Freiheit bürgerschaftlicher Selbstorganisation verwischt wird, dann geht dies insbesondere auf Kosten der Dynamik von NPOs, die in einem schleichenden Prozess ihre Eigenständigkeit und ,Eigenwilligkeit‘ einzubüßen drohen.10 Ordnungspolitische Kontrolle von NPOs ist dagegen dort angezeigt, wo geringere Professionalitätsstandards zum Missbrauch einladen. Umfangreiche Skandale gemeinwirtschaftlicher Betriebe wie etwa bei Banken und Genossenschaften, aber auch im Bereich der Wohlfahrtsverbände haben dafür sensibilisiert, dass auch hier unrechtmäßige Bereicherung eine reale Gefahr darstellt. Aus sozialethischer Sicht sind solche Missstände auch insofern besonders schädlich, als sie in der Öffentlichkeit regelmäßig zynische Reaktionen hervorrufen. Hier muss Kontrolle als Instrument gesehen werden, um den Gedanken gemeinwirtschaftlicher Organisation gegen ihren Missbrauch zu schützen. Vgl. Anheier (2005). Solche Probleme mögen auch bei der heftigen Auseinandersetzung innerhalb der katholischen Kirche um die Ausstellung von ,Beratungsscheinen‘ durch kirchliche Beratungsstellen eine Rolle gespielt haben, die dann staatlicherseits zur rechtlichen Voraussetzung einer Abtreibung gemacht wurden. 9
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Literaturverzeichnis Anheier, Helmut K. (2005): The Nonprofit Sector: Approaches, Management, Policy, London u. a. Baumgartner, Alois (1977): Sehnsucht nach Gemeinschaft. Ideen u. Strömungen im Sozialkath. der Weimarer Republik (Beiträge zur Katholizismusforschung), München u. a. COMECE-Arbeitsgruppe zum Thema Global Governance (2001): Global Governance. Unsere Verantwortung, Globalisierung zu einer Chance für alle werden zu lassen. Ein Bericht an die Bischöfe der COMECE, Brüssel. Eigen, Peter (2003): Das Netz der Korruption. Wie eine weltweite Bewegung gegen Bestechung kämpft, Frankfurt a. M. Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements (Hrsg.) (2002 – 2004): Schriftenreihe Bd. 1 – 7, Opladen. Kaufhold, Karl Heinrich (1982): Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland seit der Industrialisierung (1800 – 1963), in: A. Rauscher (Hrsg.), Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803 – 1963, Bd. 2, München u. a., S. 9 – 51. Möltgen, Thomas (2003): Engagiert für Gotteslohn? Reader zur Sommeruniversität Ehrenamt, Kevelaer. Putnam, Robert D. (1992): Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton. – (2001): Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh. Richter, Rudolf / Furubotn, Eirik G. (2003): Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung, 3. Aufl., Tübingen.
Kirche als Unternehmen Von Norbert Feldhoff
Das Thema dieses Artikels kann irritieren, ja provozieren. Soll die Kirche als Unternehmen betrachtet werden, das auf dem Markt der religiösen Angebote um Kunden kämpft?1 Ihrem Wesen entsprechend hat die Kirche einen dreifachen Auftrag: Verkündigung von Gottes Wort, Feier der Sakramente, Dienst der Liebe. Um diesen Auftrag zu erfüllen, musste die „irdische Kirche“ von Anfang an „etwas unternehmen“. Sie hat Menschen gewonnen, die sich dieser Aufgaben annahmen. Sie musste Mittel sammeln, um die materiellen Voraussetzungen zur Erfüllung dieser Aufgaben zu schaffen. So entstand in einer kaum überschaubaren Vielfältigkeit das, was man Unternehmen nennen kann. Gerade in Deutschland ist diese Tätigkeit der Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg in wohl noch nie dagewesener Weise gewachsen.
I. Die Träger kirchlicher Unternehmen 1. Vielfalt und Einheit
Es gibt etwa 11 000 Träger kirchlicher Unternehmen in unterschiedlicher Rechtsform: Körperschaften des Öffentlichen Rechts (Bistümer, Kirchengemeinden, Gemeindeverbände, Orden), Stiftungen, GmbHs, eingetragene Vereine. Einige dieser Träger sind rechtlich und wirtschaftlich eng miteinander verbunden. Überwiegend ist aber Selbständigkeit und Unabhängigkeit voneinander festzustellen, so dass es unsinnig ist, von der Kirche als Konzern zu sprechen oder die verschiedenen kirchlichen Unternehmen als wirtschaftliche Einheit zu betrachten, was von Kritikern immer wieder versucht wird, um den „sagenhaften Reichtum“ der Kirche zu belegen.2 Trotz des klaren Lehrund Leitungsamtes, das die katholische Kirche im Papst und den Bischöfen hat, entfaltet sie ihre Aktivitäten seit Jahrhunderten in wirtschaftlich selbständigen Organisationen und Trägern, deren Zusammenfassung und Addition wirtschaftlich keinen Sinn ergibt, da hier eine Einheit vorgetäuscht wird, die es tatsächlich nicht gibt – trotz Papst und Bischöfen. Im 6. Jahrhundert begann der Prozess der Aufspaltung des Kirchenvermögens auf eine Vielzahl von Rechtsträgern. Die Pluralität von Rechtsträgern des Kirchen1 Vgl. Ulrich Thielemann, Das „Unternehmen Kirche“. Vom Gemeindemitglied zum Kunden – oder wie Ökonomisierung in Ökonomismus umschlägt, in: forumEB 2 / 99, S. 12 – 17. 2 Z. B. Carsten Frerk, Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland, Aschaffenburg 2002. Eine kritische Stellungnahme zu diesem Buch findet sich in dem Artikel: Norbert Feldhoff, Aufklärung oder Verwirrung? Zur „Bilanz“ von Carsten Frerk über „Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland“, in: Lebendige Seelsorge 4 / 2002, S. 190 – 194.
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vermögens verfestigte sich im Mittelalter endgültig und erreicht zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert seine die Kirchenverfassung bis in die Gegenwart strukturierende Grundgestalt.3 Zahlreicher und vielfältiger als die Träger kirchlicher Unternehmen sind die Aufgaben, die diese Unternehmen wahrnehmen. Es gibt nur eine verschwindende Minderheit rein wirtschaftlich orientierter Unternehmen, die mit Gewinnerzielung arbeiten, um mit diesen Erträgen kirchliche Aufgaben zu finanzieren. Die meisten Unternehmen erfüllen mittelbar oder unmittelbar kirchliche Aufgaben im Bereich der Pastoral und Katechese, im Bildungsbereich vom Kindergarten bis zur Hochschule, in der Erwachsenenbildung und im Medienbereich und schließlich im weiten Gebiet der Caritas mit den zahlreichen stationären und ambulanten Diensten.
a) Die Pfarrei Das für die Kirche typischste „Unternehmen“ ist die Pfarrei, der unterste rechtlich selbständige Teilverband in der Kirche. Die Kirche lebt und wächst aus der Feier der Eucharistie und „ist wahrhaft in allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen anwesend, die in der Verbundenheit mit ihren Hirten im Neuen Testament auch selbst Kirchen heißen.“4 Im Unterschied zur Weltkirche sind in Deutschland für das Ortskirchenvermögen und damit für die rechtlichen und wirtschaftlichen Fragen der Pfarrei kollegial verfasste Organe zuständig, die sich überwiegend aus gewählten Laien zusammensetzen und regional unterschiedliche Bezeichnungen haben (z. B. Kirchenvorstand, Verwaltungsrat, Stiftungsrat). Durch päpstliches Indult wurde 1984 gestattet, dass das Alleinvertretungsrecht des Pfarrers nach c. 532 nicht eingehalten werden muss.5 In der Pfarrei sind die Grundaufgaben der Kirche zu verwirklichen: die Verkündigung, die Feier der Liturgie (im Zentrum die Eucharistiefeier und die Sakramentenspendung) und mit gleichem Gewicht neben diesen beiden der Dienst am Nächsten. Für die Glaubwürdigkeit der Kirche ist es von entscheidender Bedeutung, ob die Pfarreien sich wirklich um die Erfüllung aller drei Aufgabenbereiche im Rahmen ihrer jeweiligen örtlichen Möglichkeiten bemühen. Angesichts der professionell stark entwickelten Caritasarbeit in Deutschland besteht die Gefahr, dass dieser Bereich von den Pfarreien faktisch an die Caritas „abgegeben“ wird. In jüngster Zeit scheint sich hier eine positive Trendwende abzuzeichnen. Immer mehr Pfarreien und Gemeinschaften von Pfarreien nehmen sich der konkreten sozialen Probleme meist mit ehrenamtlichen Initiativen an.6 Papst Benedikt XVI. hat in seiner Enzyklika Deus caritas est die Untrennbarkeit vom Dienst am Nächsten und dem Glauben sowie von Sakrament, Verkündigung und Caritas klar zum Ausdruck gebracht. „Glaube, Kult und Ethos greifen ineinander als eine ein3 Helmuth Pree, Grundfragen kirchlichen Vermögensrechts, in: Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 2. grundlegend neu bearbeitete Auflage, Regensburg 1999, S. 1041. 4 Lumen gentium, Art. 26. 5 Amtsblatt des Erzbistums Köln 1984, Nr. 101. Vgl. hierzu Franz Kalde, Der Vermögensverwaltungsrat, in: Handbuch des katholischen Kirchenrechts, S. 533 f. 6 Vgl. Gemeinsame Texte 9, hrsg. vom Kirchenamt der evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn / Hannover 1997, Nr. 250.
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zige Realität, die in der Begegnung mit Gottes Agape sich bildet“ und „Eucharistie, die nicht praktisches Liebeshandeln wird, ist in sich selbst fragmentiert“.7 Von ebenso entscheidender Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der Kirche ist allerdings der Umgang mit dem Ortskirchenvermögen und die Bautätigkeit, wofür die kollegialen Verwaltungsorgane zuständig sind.8
b) Profilierung Dank günstiger Finanzierungsmöglichkeiten sind die Zahl und der Tätigkeitsumfang kirchlicher Unternehmen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg enorm gewachsen. Allein dieses Wachstum, schließlich aber der Rückgang der Finanzmittel in den 90er-Jahren, zwangen zur Aufgabenkritik und zur Suche nach dem spezifischen Profil der einzelnen Unternehmungen. Dabei wurde immer wieder gefragt, ob eine stärkere christliche Profilierung eher hinderlich oder hilfreich ist. Vom kirchlichen Selbstverständnis ist die Frage klar zu beantworten. Die Kirche verliert an Glaubwürdigkeit, wenn sie Aufgaben wahrnimmt, die nur noch sehr entfernt mit ihrem eigentlichen Auftrag zu tun haben und die nur deshalb wahrgenommen werden, weil sie sich günstig finanzieren lassen. Das kirchliche Profil gewinnt, wenn man sich von solchen Aufgaben trennt, auch wenn sie günstig finanziert werden können. Zunehmend setzt sich aber auch die Erkenntnis durch, dass christliche Unternehmen in der pluralistischen Gesellschaft größere Chancen haben, wenn sie ein klares, vom Evangelium bestimmtes Profil zeigen. Das gilt sowohl für den Bildungsbereich wie für die Caritas.
c) Transparenz Jedes wirtschaftliche Unternehmen ist zur Erfüllung seiner Aufgabe auf Sachmittel angewiesen (vor allem Geld und Immobilien). Das gilt auch für kirchliche Unternehmen. Die Feier der Liturgie ist auf einen Raum angewiesen und die Werke der Nächstenliebe lassen sich nicht ohne Geld verwirklichen. Das gemeinsame Wort der Kirchen fordert zu Recht, dass die Kirche bei Entscheidungen über Investitionen, der Auswahl von Geldanlageformen und der Zusammenarbeit mit Geschäftspartnern noch strengere Maßstäbe anzulegen hat als wirtschaftliche Unternehmen.9 In der Welt wird die Forderung nach Transparenz in Politik und Wirtschaft immer lauter, um Korruption und Wucher zu verhindern. Für die kirchlichen Unternehmen ist Transparenz in wirtschaftlichen Angelegenheiten eine Überlebensfrage. Die Kirche ist heute herausgefordert, nicht nur Rechenschaft über ihren Glauben abzulegen, sondern auch über ihre Art, mit Geld umzugehen. Der selbstverständliche Glaube an Autoritäten gehört der Vergangenheit an – im Staat, in der Wirtschaft, in der Schule und auch in der Kirche. Überall wo Geld im Spiel ist, wird heute die Frage gestellt, wer davon profitiert: Geht es wirklich um die gute Sache? Oder geht es um die Erhaltung von Strukturen oder 7 8 9
Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, Nr. 14. Vgl. Gemeinsame Texte 9, Nr. 246 f. Vgl. Gemeinsame Texte 9, Nr. 246 f.
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gar um satte Gehälter für das oberste Management? Auch religiöse Autoritäten und kirchliche Werke müssen sich diesen Fragen stellen. Die öffentlichen Geldgeber, die Kirchensteuerzahler, die freiwilligen Spender wollen wissen, was mit ihrem Geld bewirkt wird. Die Bereitschaft zu materieller Solidarität und Großzügigkeit hängt davon ab, ob die Gebenden darauf vertrauen können, dass mit ihrem Geld etwas Sinnvolles geschieht. Schon das kirchliche Gesetzbuch fordert, dass die Verwalter kirchlichen Vermögens gegenüber jenen, die der Kirche etwas gespendet haben, Rechenschaft ablegen müssen.10 Es ist falsch, wenn in der Kirche manche glauben, Finanzangelegenheiten müsse man als oberste Geheimsache behandeln.11 Angesichts spektakulärer Zusammenbrüche im Caritasbereich hat der Verband der Diözesen Deutschlands zusammen mit der Kommission für caritative Fragen der Deutschen Bischofskonferenz am 2. Februar 2004 die Handreichung „Soziale Einrichtungen in katholischer Trägerschaft und wirtschaftliche Aufsicht“ herausgegeben.12 Wenn die meist ehrenamtlich besetzten Aufsichtsgremien kirchlicher Einrichtungen die Anforderung dieser Handreichung umsetzen, fördert es die Transparenz im wirtschaftlichen Handeln und hilft, Zusammenbrüche zu verhindern, die immer ein großer Schaden für die Kirche sind. 2. Die kirchlichen Unternehmen im Markt
Zur kirchlichen Beurteilung der Sozialen Marktwirtschaft muss an dieser Stelle nichts gesagt werden. Relativ neu für die kirchlichen Unternehmen ist die Erkenntnis, dass sie sich in zweifachem Sinn im Markt befinden: im Markt konkurrierender religiöser und weltanschaulicher Angebote und in einem von wirtschaftlichen Prämissen bestimmten, bisweilen existenzbedrohenden Markt. a) Im weltanschaulichen Pluralismus Es ist keine neue Erkenntnis, dass „das Christentum angesichts des vielschichtigen Pluralismus aufgehört hat, positiv oder negativ als die umfassende Norminstanz angesehen zu werden, und statt dessen – konkurrierend mit anderen Normgebern – zu einer Instanz unter anderen geworden ist.“13 In dieser Zeit stehen insbesondere kirchliche Bildungseinrichtungen im Wettbewerb mit weltanschaulich anders geprägten Angeboten. Die Kirche muss dies akzeptieren und sich auf diese Lage einstellen. Das darf nicht eine Anpassung an allgemeine Trends zur Folge haben, sondern fordert eine klare, christliche Profilierung. Die Nachfrage nach katholischen, weiterführenden Schulen, die größer ist als die vorhandenen Plätze, zeigt, dass man auf diesem Weg Erfolg haben kann. Andererseits ist es für die kirchlichen Angebote gefährlich, wenn sie in einem bestimmten Gebiet Monopolisten sind. Dies war in manchen Gebieten für die Kindergärten, die nicht nur soziale Einrichtungen, sondern auch Bildungseinrichtungen mit religionspädaC. 1287 § 2 CIC. Vgl. Norbert Feldhoff, Vogel-Strauß-Politik zahlt sich nicht aus, in: Neue Caritas, 5 / 2006, S. 20 ff. 12 Arbeitshilfen 182, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2004. 13 Hans Waldenfels, Das Christentum im Pluralismus heutiger Zeit, in: Stimmen der Zeit, 9 / 1988, S. 579 bis 590, hier: S. 580. 10 11
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gogischem Gepräge sind, vielfach der Fall. Eltern hatten bisweilen keine andere Wahl, sie mussten ihre Kinder in katholische Kindergärten schicken und in Einzelfällen beklagten sie sich dann über die katholische Ausrichtung des Kindergartens. Ein Grund für die Reduzierung des Kindergartenangebotes war es, aus der Monopolsituation herauszukommen und anderen Trägern die Möglichkeit alternativer Angebote zu eröffnen. b) Im sozialen Markt Ganz anders ist die Markt-Situation im sozialen Bereich. Seit Jahren nimmt hier der Wettbewerb zu. Der Deutsche Caritasverband hat die Herausforderung dieses Wettbewerbs selbstbewusst aufgenommen. Er bejaht einen Wettbewerb sozialer Dienste und Einrichtungen, soweit dies unter Rahmenbedingungen stattfindet, die eine qualitativ hochwertige und gute Versorgung für alle Menschen sicherstellen. Für diese Rahmenbedingungen ist der Staat zuständig, wie er auch zum Schutz der Patienten Rahmenbedingungen für die Niederlassung von Ärzten aufgestellt hat. Es ist außerdem staatliche Aufgabe, sicherzustellen, dass auch Menschen ohne genügendes Einkommen und Vermögen Zugang zu sozialen Diensten haben und dass diese Dienste auf qualitativ hohem Niveau angeboten werden können. Der Markt der sozialen Dienste ist ein sehr vielschichtiges Thema. Für einzelne Einrichtungen ist inzwischen der Konkurrenzkampf mit privat-gewerblichen Anbietern, die durch niedrigere Löhne Wettbewerbsvorteile erlangen, kritisch, bisweilen existenzbedrohend geworden. Auch Kommunen und Wohlfahrtsverbände haben Einrichtungen aus ihrer unmittelbaren Rechtsträgerschaft ausgegliedert, um Mitarbeiter nicht mehr nach dem Tarif des Öffentlichen Dienstes, sondern niedriger bezahlen zu können. Zunehmend werden soziale Dienste auch ausgeschrieben. Der günstigste Anbieter bekommt den Zuschlag für die Dienstleistung. Wenn die Lohnsumme eines Anbieters um 10 bis 15 % unter der des Konkurrenten liegt, ist klar, wer den Zuschlag erhält. Manche private Anbieter üben durch zum Teil prekäre Beschäftigungsverhältnisse Druck auf die Preise aus. Dass die Caritas als sozialer Dienstleister sich immer stärker in einem Markt konkurrierender Angebote befindet, ist eine Tatsache. Für die Caritas ist wichtig, dass sie dabei nicht den ursprünglichen sozialen Auftrag aus dem Auge verliert. Es wurde schon einmal festgestellt – in einer fast sarkastisch anmutenden Abwandlung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter –, dass heute nicht mehrere an dem auf dem Weg von Jericho nach Jerusalem unter die Räuber Gefallenen vorbeigehen bis endlich der barmherzige Samariter kommt und hilft, sondern, dass zwei oder drei neben dem in Not Geratenen stehen und sich streiten, wer den Marktanteil des Helfens bekommt. Das primäre Ziel ist nicht mehr, so gut wie möglich dem in Not Geratenen zu helfen, sondern nichts vom „Kuchen“ der sozialen Hilfe zu verlieren, bzw. noch ein Stück hinzu zu bekommen. Es ist für die Zukunft der Caritas und für ihre Kirchlichkeit von größter Bedeutung, dass überall wo sie tätig ist, der Mensch, der Mitarbeiter und vor allem der Klient, Patient und Hilfesuchende im Mittelpunkt stehen. „Das Handeln der Caritas, das seinen Grund und Auftrag in der gratis geschenkten Liebe Gottes findet, kann nicht auf ein marktgängiges Produkt verkürzt werden. Auch die Ansprechpartner und Adressaten dieses Handelns können nicht auf marktmächtige Nachfrager sozialer Dienstleistungen
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reduziert werden. Neben Begriffen wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Diakonie markiert der Begriff der Anwaltschaftlichkeit ein notwendiges Korrektiv zum einseitigen Selbstverständnis als Dienstleister. In der Praxis der helfenden Beziehung geht es um die Begegnung von Mensch zu Mensch, wobei auch jene Bedürfnisse zum Zuge kommen, die der Markt nicht befriedigen kann. In der Nächstenliebe, die sich als Konsequenz aus der Liebe Gottes gegenüber den Menschen ergibt, geht es stets um den ganzen Menschen. . . Die biblische Verheißung der Erhöhung der Geringsten wird nicht durch Ökonomisierung des sozialen Marktes erfüllt, sondern diese Verheißung muss durch Kräfte in das Marktgeschehen eingetragen werden, die sich nicht in ihm konstituieren.“ So steht es in dem viel beachteten Positionspapier „Der Deutsche Caritasverband als Anwalt und Partner Benachteiligter“. 14 Durch die Ökonomisierung des sozialen Marktes sind nicht nur die Kunden der Caritas, sondern auch ihre Mitarbeiter in manchen Bereichen gefährdet. II. Die Mitarbeiter 1. Bedeutung für das Unternehmen
a) „Das kostbarste Vermögen“ Papst Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika Centesimus annus die Mitarbeiter eines Wirtschaftsunternehmens als „das kostbarste Vermögen des Unternehmens“ und den entscheidenden Produktionsfaktor bezeichnet.15 Wenn das schon für Wirtschaftsunternehmen gilt, die Güter und Dienstleistungen produzieren, um wie viel mehr für Unternehmen der Kirche, die immer ein Stück Auftrag der Kirche zu verwirklichen haben, was nur durch Personen und personale Beziehungen möglich ist, selbst wenn von Fall zu Fall auch erhebliche Sachmittel eingesetzt werden müssen. „Träger und Leitung tragen die Verantwortung für den kirchlichen Charakter der Einrichtung. Sie haben auch dafür zu sorgen, dass in der Einrichtung geeignete Personen tätig sind, die bereit und in der Lage sind, den kirchlichen Charakter der Einrichtung zu pflegen und zu fördern. Nur wenn die religiöse Dimension des kirchlichen Dienstes beachtet und der kirchliche Charakter der Einrichtung durch alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bejaht werden, kann die Kirche ihren Dienst an den Menschen glaubwürdig erfüllen“, heißt es in der Erklärung der deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst.16
b) Sicherheit des Arbeitsplatzes Der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg sowie Anforderungen in der Kirche und an die Kirche machten eine geschichtlich einmalige Entwicklung der kirchlichen Arbeitsplätze möglich. In jüngster Zeit ist auch die Kirche durch Rückgänge Neue Caritas, 13 / 2000, S. 35 – 39, hier: S. 39. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, Nr. 35, auch Nr. 32 – 33; vgl. auch Kompendium Nr. 344. 16 Die deutschen Bischöfe 51, Erklärung der deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst. Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse, 22. Sept. 1993, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1993, S. 9. 14 15
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bei den Einnahmen nach einer langen Phase der Expansion in die Lage geraten, die Zahl der Arbeitsplätze vermindern zu müssen. Dies hat bisweilen zu öffentlichen Protesten, zu schweren Enttäuschungen bei Betroffenen und zu einer allgemeinen Verunsicherung in der Kirche und in der Öffentlichkeit geführt, galten doch bisher die Arbeitsplätze bei der Kirche als besonders sicher. Schon das gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, das 1997 – also vor dem Bekanntwerden der kirchlichen Finanzprobleme – erschien, hat sich mit dieser Frage befasst: „In dieser angespannten Situation sind alle gefordert, mit sozialem Verantwortungsbewusstsein, sozialer Fantasie und Flexibilität soziale Härten abzuwenden. Besondere Beachtung verdienen Vorschläge, die auf maßvolle Einschränkungen beim Gehalt von kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den mittleren und oberen Gehaltsgruppen zielen. Wo einschneidende Sparmaßnahmen unausweichlich sind, muss dem Teilen von Arbeit der Vorrang vor dem Abbau von Stellen und vor Entlassungen zukommen. Gehaltseinschränkungen und Stellenteilungen müssen allerdings in vernünftigem Rahmen und mit Augenmaß erfolgen. Eine gute und aufopferungsvolle Arbeit verlangt auch ihren gerechten Lohn.“17 Kündigungen sind in vielen Fällen leider unvermeidbar gewesen. In einigen Fällen konnte durch „Teilen von Arbeit“ geholfen werden, von „maßvollen Einschränkungen beim Gehalt in den mittleren und oberen Gehaltsgruppen“ ist nichts bekannt geworden. Der Druck auf die niedrigen Gehaltsgruppen war und ist aber sehr groß, weil sie im Tarifgefüge des Öffentlichen Dienstes wesentlich höher bezahlt werden als in gewerblichen Tarifen. Dies führte dazu, dass viele Einrichtungen diese Dienste Firmen übertragen haben, die mit ihren niedriger bezahlten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kostengünstiger für den Auftraggeber arbeiten, als dies vorher mit eigenen Angestellten geschah. Im Tarifgefüge der Caritas besteht seit langem der Druck, gerade in diesem Bereich Absenkungen vorzunehmen. c) Dienstgemeinschaft Art. 1 der „Grundordnung des kirchlichen Dienstes“, die 1994 in allen deutschen Bistümern in Kraft gesetzt worden ist, definiert die Dienstgemeinschaft als Grundprinzip des kirchlichen Dienstes so: „Alle in einer Einrichtung der katholischen Kirche Tätigen tragen durch ihre Arbeit ohne Rücksicht auf die arbeitsrechtliche Stellung gemeinsam dazu bei, dass diese Einrichtung ihren Teil am Sendungsauftrag der Kirche erfüllen kann.“18 Trotz bzw. wegen dieser Definition wird der Begriff „Dienstgemeinschaft“ vielfach missverstanden und kritisiert.19 Gemeinsame Texte 9, Nr. 245. Die deutschen Bischöfe 51, S. 15. 19 Friedhelm Hengsbach SJ, Der „dritte Weg“. Aus dem Abseits heraus? Gesellschaftsethische Anfragen an die „Erklärung der Bischöfe zum kirchlichen Dienst“ und an die „Grundordnung im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ von 1993, Sonderdruck der Frankfurter Arbeitspapiere zur gesellschaftsethischen, sozialwissenschaftlichen Forschung, Frankfurt 1994, S. 12. – Scharf kritisiert wird der Begriff „Dienstgemeinschaft“ von Friedhelm Hengsbach SJ, der ihn als „eine der umstrittensten Wortschöpfungen bzw. Lehnworte der beiden großen Kirchen“ bezeichnet, da dieser Begriff „weder der theologischen, noch der soziologischen, noch der arbeitsrechtlichen Ebene eindeutig zuzuordnen“ sei. Die Kritik kann hier im Einzelnen nicht aufgegriffen werden. Sie macht aber deutlich, dass die arbeitsrechtlich geklärten Grundlagen des kirchlichen Dienstes von der 17 18
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Viele verstehen unter Dienstgemeinschaft nur die Gemeinschaft aller, die in einer kirchlichen Einrichtung, in einem kirchlichen Betrieb arbeiten. Böswillige unterstellen sogar eine gewisse Nähe zum nationalsozialistischen Begriff der Betriebsgemeinschaft. Die Dienstgemeinschaft ist aber kein soziologischer Begriff, sondern ein religiös begründetes Leitprinzip des kirchlichen Dienstes. Bei der Erfüllung des kirchlichen Sendungsauftrages geht es nicht nur um die dienende Nachfolge des Einzelnen, sondern auch um das Zusammenstehen vieler in einer „Gemeinschaft des Dienstes“, so lautet die wörtliche Übersetzung des griechischen Textes von 2 Kor 8,4. Mit dem Begriff „Dienstgemeinschaft“ wird der religiös geprägte Sendungsauftrag der Kirche, der in all ihren Einrichtungen und Diensten unter sehr unterschiedlichen Aspekten zu verwirklichen ist, herausgestellt. Der Begriff „Dienstgemeinschaft“ bestimmt die arbeitsrechtliche Ordnung in der Kirche und ist selbstverständlich auch ein Leitbild für den partnerschaftlichen Umgang im betrieblichen und überbetrieblichen Bereich. Durch das Leitbild der „Dienstgemeinschaft“ wird die Unterschiedlichkeit der Dienste und der arbeitsrechtlichen Stellung der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht aufgehoben. Das ist der Schlüssel dafür, dass auch konfessionsverschiedene Christen und Nicht-Christen, wenn sie sich freiwillig dazu bereit erklären, durch den Dienst in einer Einrichtung der katholischen Kirche einen Beitrag zur Erfüllung des Sendungsauftrags der Kirche leisten können, was Papst Johannes Paul II. in der Apostolischen Konstitution „Ex Corde Ecclesiae“ über die katholischen Universitäten vom 15. August 1990 ausdrücklich anerkannt hat.20 Vielleicht wird der Begriff „Dienstgemeinschaft“ theologisch stärker gefüllt, wenn man bedenkt, was Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben zur Jahrtausendwende über die Bedeutung der Liebe für die kirchliche Gemeinschaft gesagt hat: „Aus der innerkirchlichen Gemeinschaft öffnet sich die Liebe, wie es ihrer Natur entspricht auf den universalen Dienst hin und stellt uns in den Einsatz einer tätigen, konkreten Liebe zu jedem Menschen. Das ist ein Bereich, der das christliche Leben, den kirchlichen Stil und die pastorale Planung gleichermaßen bestimmt und kennzeichnet.“21 Trotz aller Leistungsanforderungen, denen auch kirchliche Unternehmen unterliegen, trotz aller Unterschiede der Mitarbeiter nach Stellung, Verantwortung und Gehalt sollte der Stil des Umgangs miteinander von der Liebe geprägt sein.
d) Beteiligung Das Mitarbeitervertretungsrecht in den einzelnen Einrichtungen ist in Art. 8 der Grundordnung als kirchliche Betriebsverfassung kirchengesetzlich festgelegt.22 Die derzeit geltenden Regelungen des Mitarbeitervertretungsrechtes und die Formulierung der Grundordnung hält Friedhelm Hengsbach für völlig unzureichend.23 Tatsächlich geht Katholischen Soziallehre weiter bedacht und vertieft werden sollten. Hier wird zur Erläuterung des Begriffs dem offiziellen Kommentar zur Grundordnung gefolgt, der mit dieser veröffentlicht wurde. 20 Johannes Paul II., Apost. Konst. „Ex Corde Ecclesiae“, Normae Generales Art. 4 § 4, 1990. 21 Johannes Paul II., „Novo Millennio Ineunte“, Nr. 49. 22 Die deutschen Bischöfe 51, S. 12 und 20.
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die Diskussion um die Erweiterung der Mitarbeitervertretungsrechte weiter, bisweilen über den Rahmen der Mitarbeitervertretungen hinaus. Mitarbeiter fragen nach Beteiligungen in den Aufsichtsgremien kirchlicher Unternehmen. Ein Anlass für solche Fragen sind Fälle, in denen kirchliche Unternehmen sich durch große Investitionen übernommen haben und nun von den Mitarbeitern Gehaltsverzicht erwarten, um die erforderlich gewordenen Darlehen bedienen zu können. Im „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ wird die „allzu oft vernachlässigte Forderung“ der Beteiligung der Arbeiter am Eigentum, an seiner Verwaltung und seinen Erträgen wiederholt.24 Nach Auffassung des „Kompendiums“ dürfen Unternehmer und Manager sich „in den großen strategischen und finanziellen Entscheidungen über Ankauf oder Verkauf, die Verkleinerung oder das Schließen von Niederlassungen sowie in der Fusionspolitik . . . nicht ausschließlich auf finanzielle oder kommerzielle Kriterien beschränken.“ „Zu ihren klar definierten Pflichten gehört auch der konkrete Respekt vor der Menschenwürde der in ihrem Unternehmen tätigen Arbeiter.“25 Ist es angesichts dieser Texte verwunderlich, wenn in den geschilderten Krisensituationen zunächst von der Unternehmensleitung ein (prozentual wesentlich höherer) Gehaltsverzicht gefordert wird, bevor man an die Mitarbeiter mit solchem Ansinnen herantritt und dass die Mitarbeiter – wenigstens für die Zeit der Sanierung des Unternehmens – eine Mitsprache im Aufsichtsgremium fordern? Die Beteiligung der Mitarbeiter in deutschen kirchlichen Unternehmen ist sicher rechtlich weiter abgesichert als in anderen Teilen der Welt, dennoch ist in diesem Bereich eine durchaus dynamische Entwicklung zu erwarten.
2. Gerechter Lohn
Schon in der Präambel der Erklärung der Bischöfe im kirchlichen Dienst wird unmissverständlich festgestellt: „Aufgrund ihrer Sendung ist die Kirche verpflichtet, die Persönlichkeit und Würde der einzelnen Mitarbeiterin und des einzelnen Mitarbeiters zu achten und zu schützen und das Gebot der Lohngerechtigkeit zu verwirklichen.“26 23 Friedhelm Hengsbach, S. 51 ff. Zu Recht verweist er auf die mehrmalige Novellierung der Mitarbeitervertretungsordnung seit 1977, wodurch die Rechte der Mitarbeiter immer wieder – aber nach seiner Ansicht immer noch nicht ausreichend – verbessert wurden. Seines Erachtens bürgt die Katholische Soziallehre dafür, „dass dieser kircheneigene Weg keine minderwertige Form der sozialen Verantwortung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einschließt“. 24 Kompendium Nr. 281. 25 Kompendium Nr. 344. 26 Die deutschen Bischöfe 51, S. 8. Der Text beruft sich auf zwei Canones des kirchlichen Gesetzbuches. Can. 231 § 2: Die bei der Kirche beschäftigten Laien haben „das Recht auf eine angemessene Vergütung, die ihrer Stellung entspricht und mit der sie, auch unter Beachtung des weltlichen Rechts, für die eigenen Erfordernisse und für die ihrer Familien in geziemender Weise sorgen können.“ Nach Can. 1286 haben Vermögensverwalter „denjenigen, die aufgrund eines Vertrages Arbeit leisten, einen gerechten und angemessenen Lohn zu zahlen, so dass sie in der Lage sind, für ihre und ihrer Angehörigen Bedürfnisse angemessen aufzukommen.“ Das „Kompendium“ führt diese rechtlichen Bestimmungen unter Berufung auf soziale Enzykliken und den Katechismus der katholischen Kirche noch weiter aus: „Die Vergütung ist das wichtigste Mittel, um die Gerechtigkeit in den Arbeitsverhältnissen zu verwirklichen. ,Der gerechte Lohn ist die rechtmäßige Frucht der Arbeit‘; wer ihn verweigert oder nicht rechtzeitig und im richtigen Verhältnis zur geleisteten Arbeit auszahlt, begeht ein schweres Unrecht (vgl. Lk 19,13; Dtn 24,14 – 15; Jak 5,4).“
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Aus dem alltäglichen Leben ist allerdings bekannt, dass mit diesen klaren Grundsätzen noch lange keine Lösung im Einzelfall gefunden ist, da die Meinungen über gerechten und angemessenen Lohn naturgemäß oft weit auseinandergehen. Bemerkenswert ist allerdings die Feststellung im Kompendium: „Die einfache Übereinkunft zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber hinsichtlich der Höhe der Vergütung genügt nicht, um den vereinbarten Lohn als ,gerecht‘ zu qualifizieren, denn dieser darf nicht so niedrig sein, ,dass er einem genügsamen, rechtschaffenen Arbeiter den Lebensunterhalt nicht abwirft‘: die natürliche Gerechtigkeit ist der Vertragsfreiheit vor- und übergeordnet.“27 Dass dies alles auch für kirchliche Mitarbeiter gilt, wird im Kompendium nicht ausdrücklich gesagt, versteht sich aber von selbst. 2005 wurde das Tarifgefüge des Öffentlichen Dienstes grundlegend umgestellt. Dabei entfiel eine familienbezogene Komponente im Lohn. In der Diskussion, ob, wie und wann die Kirche für ihre Bediensteten diese neue Tarifordnung übernehmen sollte, spielte der Wegfall der familienbezogenen Komponente eine entscheidende Rolle. Kann die Kirche angesichts der kirchenrechtlichen Bestimmungen auf eine familienbezogene Lohnkomponente verzichten? Nicht nur Mitarbeiter, sondern auch Dienstgeber hatten erhebliche Bedenken. Dabei wurde zunächst übersehen, dass nach can. 231 § 2 die kirchlichen Bediensteten „unter Beachtung des weltlichen Rechts“ eine Vergütung erhalten sollen, damit sie für die Erfordernisse ihrer Familie in geziemender Weise sorgen können. Im „Kompendium“ wird dies noch entfaltet: „Es gibt vielfältige Möglichkeiten, den Familienlohn konkret werden zu lassen. Zu seinem Zustandekommen tragen einige wichtige gesellschaftliche Maßnahmen bei wie etwa das Kindergeld und andere Leistungen für Personen, die eine Familie zu ernähren haben. . .“28 Es wurde schließlich auch gefragt, ob es gerecht sei, dass die verhältnismäßig geringe Zahl kirchlicher Mitarbeiter einen familienbezogenen Zuschlag zum Lohn erhält, der in vielen Fällen aus den Kirchensteuermitteln, die alle aufbringen, finanziert werden muss. So setzte sich schließlich in der Mehrheit, wenn auch nicht in allen Fällen, die Überzeugung durch, dass die Familien in Deutschland durch steuerliche Regelungen und über das Kindergeld entlastet werden müssen und dass es Auftrag der Kirche sei, sich hier für eine gerechte Versorgung aller Familien und nicht nur die der eigenen Mitarbeiter einzusetzen. In dieser Diskussion wurde allerdings auch bewusst, dass es für die kirchlichen Unternehmen wichtig ist, ihre Arbeitsverhältnisse familiengerecht zu gestalten, z. B. durch flexible Arbeitszeiten, Jobsharing und Angebote von Kinderbetreuung, was in vielen Fällen auch schon lange geschieht. 3. Dritter Weg
a) Begriffsklärung Im Verlauf der 60er- und Anfang der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts setzte sich in der evangelischen und in der katholischen Kirche in Deutschland die Erkenntnis durch, dass es dem Wesen des Dienstes in der Kirche nicht entspricht, wenn der Inhalt der Arbeitsverhältnisse kirchlicher Mitarbeiter einseitig durch den kirchlichen Gesetzgeber oder durch kirchliche Leitungsorgane gestaltet wird. Wenn dieser „Erste Weg“ zur Re27 28
Kompendium Nr. 302. Kompendium Nr. 250.
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gelung der Arbeitsverhältnisse ausschied, musste geklärt werden, ob die Kirche stattdessen Tarifverträge mit den Gewerkschaften abschließen sollte (der „Zweite Weg“) oder ob es einen „Dritten Weg“ zur Regelung der Arbeitsverhältnisse gebe. Es kann inzwischen als gesicherte Meinung gelten, dass das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, das die Verfassung diesen garantiert, eine Verpflichtung der Kirchen auf das Tarifvertragssystem (Zweiter Weg) ausschließt. Tatsächlich haben auch nur ausnahmsweise zwei evangelische Landeskirchen Tarifverträge abgeschlossen, allerdings mit erheblichen Modifikationen des Tarifvertragsrechtes. Im Übrigen haben sich die evangelische Kirche in Deutschland und die katholische Kirche ausnahmslos für den Dritten Weg entschieden.29 Die katholische Kirche hat im Dezember 1977 die rechtlichen Voraussetzungen für ein kircheneigenes Beteiligungsverfahren an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeiter als Alternative zum Tarifvertragssystem geschaffen. Dadurch hat sie für ihren Bereich den Dritten Weg in Gang gesetzt. Der Deutsche Caritasverband hatte schon lange vor der rechtssystematischen Klärung eine paritätisch besetzte, arbeitsrechtliche Kommission gebildet.30 1994 haben die deutschen Bischöfe durch die als Kirchengesetz erlassene Grundordnung (Art. 7) eine einheitliche Ordnung des kircheneigenen Arbeitsrechts abgesichert.31 Die Kirche will durch ihr eigenes Arbeitsrechts-Regelungsverfahren das Verhandlungsgleichgewicht ihrer Mitarbeiter bei Abschluss und Gestaltung der Arbeitsverträge sichern. Beschlüsse kommen in den von Dienstnehmern und Dienstgebern paritätisch besetzten Kommissionen nur bei qualifizierter Mehrheit (75 %) zustande, so dass in den Kommissionen faktisch auf Konsens hin gearbeitet werden muss.
b) Bewertung Faktisch nehmen heute die im Dritten Weg entstandenen Regelungen den Platz von Tarifverträgen ein. In der rechtlichen Bewertung beider Wege gibt es im Schrifttum und in der Rechtssprechung zum Teil noch erhebliche Unterschiede. Aus sozialethischer Sicht hat Pater von Nell-Breuning SJ von Anfang an dem Dritten Weg widersprochen. Ihm folgte Pater Hengsbach SJ, für den aus der Sicht der Katholischen Soziallehre der Abschluss von Tarifverträgen der einzig angemessene Weg ist.32 In den letzten Jahren haben auch außerhalb des kirchlichen Bereichs die Stimmen zugenommen, die den Dritten Weg nicht mehr als eine schwächere, schlechtere Lösung gegenüber dem Zweiten Weg ansehen, sondern durchaus als eine bedenkenswerte Alternative zum Tarifvertragssystem. Dies gilt einmal für die Tatsache, dass im Dritten Weg jede Seite jede Regelungsfrage, die Inhalt und Abschluss von Arbeitsverhältnissen zum 29 In jüngster Zeit werden in der evangelischen Kirche, vor allem in der Diakonie, Stimmen lauter, die sich für den Abschluss von Tarifverträgen aussprechen. Vgl. Jürgen Klute / Franz Segbers (Hrsg.), „Gute Arbeit verlangt ihren gerechten Lohn“. Tarifverträge für die Kirchen, Hamburg 2006. 30 Vgl. Norbert Beyer, Ein halbes Jahrhundert Arbeitsrechtliche Kommission, in: Neue Caritas Jahrbuch 2002, S. 152 – 156. 31 Die deutschen Bischöfe 51, S. 20. 32 Hengsbach, S. 33 – 43.
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Gegenstand hat, in die Verhandlung der Kommission einbringen und ggf. über das Vermittlungsverfahren zur Beschlussfassung bringen kann. Zum anderen gewinnen Konsensverfahren gegenüber Streik und Aussperrung an Bedeutung. Es wäre sicher wünschenswert, dass sich die Katholische Soziallehre intensiver und breiter mit der Frage des Dritten Wegs auseinandersetzte, vor allem mit der Frage, ob und ggf. unter welchen Umständen Tarifverträge mit Gewerkschaften ein für die Kirche angemessener Weg wären und aus welchen Gründen der Streik in kirchlichen Einrichtungen abzulehnen ist. Die Bischöfe haben zu diesen beiden Fragen in ihrer Erklärung zum kirchlichen Dienst (IV., 1.) klar Stellung bezogen: „Das Tarifvertragssystem, mit dem zu seinen Funktionsvoraussetzungen gehörenden Arbeitskampf sichert nicht die Eigenart des kirchlichen Dienstes. Tarifverträge kirchlicher Einrichtungen mit verschiedenen Gewerkschaften sind mit der Einheit des kirchlichen Dienstes unvereinbar. Streik und Aussperrung widersprechen den Grunderfordernissen des kirchlichen Dienstes. Für die Einrichtungen der Glaubensverkündigungen und die Werke der Nächstenliebe gäbe daher die Kirche ihren Sendungsauftrag preis, wenn sie ihren Dienst den Funktionsvoraussetzungen des Tarifvertragssystems unterordnen würde.“33
III. Gottvertrauen kontra Vorsorge Zum Schluss muss eine sehr grundsätzliche Frage angesprochen werden, auf die es keine einfache Antwort gibt. Der Theologe und der Ökonom können nämlich bei der Beurteilung desselben Tatbestandes zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Als Ende der 90er-Jahre immer mehr Bistümer die finanziellen Risiken der Zukunft zu bewerten versuchten, stieß man auf zwei Hauptrisiken, die mehr oder weniger überall gegeben waren, nämlich im Personal- und Immobilienbereich. Nur wenige Bistümer hatten aufgrund versicherungsmathematischer Berechnungen die notwendigen Rückstellungen gebildet, um die Lasten für die Altersversorgung in der Zukunft finanzieren zu können. Dieses finanzielle Defizit macht je nach Größe des Bistums schnell zwei- bis dreistellige Millionenbeträge aus. Etwas Vorsorge hatten in diesem Bereich fast alle Bistümer getroffen, selten aber eine ausreichende. Völlig „sorglos“ hatten die meisten Bistümer sich dagegen im Immobilienbereich verhalten. Die Unterhaltung der Gebäude der Bistümer und der Kirchengemeinden mussten aus laufenden Einnahmen bezahlt werden. Es ist kaum zu berechnen, welche finanziellen Anforderungen in diesem Bereich in Zukunft auf die Bistümer zukommen. Die Ökonomen wiesen darauf hin, dass bei richtiger bilanzieller Bewertung der beiden genannten Risiken viele Bistümer konkursreif wären. So sieht es der Ökonom aus seiner Sicht sehr konsequent. Der Theologe hat eine völlig andere Perspektive. Die Altersvorsorge muss zum überwiegenden Teil für die Priester getroffen werden. Weltweit gibt es kaum ein Bistum, das diese Verpflichtung aus Rückstellungen finanzieren kann. Man ist in den meisten Fällen auf laufende Einkünfte, häufig auf Spenden, angewiesen. Ist so etwas in unserer Gesell33
Die deutschen Bischöfe 51, S. 11.
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schaftsordnung den Priestern zuzumuten? Ist ein Diözesanbischof in unseren Breiten nicht verpflichtet, für seine Priester auch im Alter ausreichend zu sorgen, weil sie sich auf diese Versorgung verlassen? Oder muss man umgekehrt sagen, dass die finanzielle Absicherung für das Alter eine verkappte Form des Reichtums ist, den die Kirche in anderen Erdteilen uns vorwirft? Ähnliche Fragen ergeben sich im Blick auf den Unterhalt kirchlicher Immobilien. Es war und ist die kirchliche Praxis, Immobilien für die Seelsorge, die Bildungsarbeit und die Caritas zu errichten, ohne den zukünftigen Unterhalt von vorneherein finanziell abzusichern. Sicher gab und gibt es einzelne Ausnahmen, Stiftungen, aus deren Erträgen Gotteshäuser, Spitäler oder Kollegien unterhalten werden konnten. In der Regel ging und geht man mit der Zukunftssicherung der Gebäude aber „sorglos“ um. Ein Grund für diese Einstellung findet sich zweifellos im Evangelium. „Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. . . Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?. . .“ (Mt 6,25 – 33) Natürlich kann der Theologe einem solchen Text auch die Spitze nehmen und darlegen, dass solche Texte nicht wörtlich zu nehmen sind. Aber es bleibt die Frage: Wie viel Sorge dürfen wir uns machen? Es geht hier um die unauflösliche Spannung, die es zwischen der Logik des Evangeliums und der Logik der Finanzen gibt. Ein Grundwort des Evangeliums ist „Gnade“: Gott liebt voraussetzungslos. Der Glaube beruht nicht auf dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung. Die Logik der Finanzen aber ist eine andere: Sie beruht auf Wert und Gegenwert. Wer Geld verdienen will, muss arbeiten. Wer eine Leistung beziehen will, soll dafür bezahlen. Mit Zeichen von Gottes grenzenloser Güte wie z. B. der wunderbaren Brotvermehrung kann und darf ein Finanzverwalter nicht rechnen – selbst wenn er in der Kirche arbeitet. Aber eine Kirche, die sich nur an der Logik der Finanzen orientiert, wäre eine arme, ja eine tote Kirche.
Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft – Triebkräfte, Chancen und Herausforderungen Von Alfred Schüller I. Weltwirtschaft im Dienst der Freiheit und des Wohlstands Das Christentum ist eine Religion der universellen Freiheit. Wird die Freiheit des menschlichen Zusammenlebens in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft als etwas Ganzes aufgefasst, steht auch die „Weltwirtschaft im Dienst der Freiheit“1. Wie die Menschen nur in persönlicher Freiheit zum Glauben finden können, so können sie auch nur in persönlicher Freiheit zu Wohlstand gelangen. Darin stimmen christliche und ordoliberale Sozialethik überein. Gesellschaften können sich aber für verschiedene Freiheiten entscheiden und ein unterschiedliches Verständnis von der Aufgabe entwickeln, Freiheit und Ordnung miteinander zu verbinden. Hierbei stellt die Gleichordnung des Moralischen und Sachnotwendigen eine besondere Herausforderung dar. In der Freiheitsorientierung und der Aufgabe der Verbindung von Freiheit und Ordnung kann das hauptsächliche Problem der Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft gesehen werden.2 Mit einsichtsvollen Argumenten hat Adam Smith (1723 – 1790) in seiner Kritik des „Merkantilsystems“ als erster die Konsequenzen eines handelspolitischen Nationalismus aufgezeigt, mit dem sich der Staat im Streben nach Macht die Freiheit nimmt, sich selbst zum Bezugspunkt ordnungspolitischen Handels zu machen. Diesem Freiheitsanspruch stellt Smith die Interessen der Menschen als Konsumenten und die Vorzüge gegenüber, die der handelspolitische Internationalismus von diesem ordnungspolitischen Bezugspunkt her im Dienst der individuellen Freiheit hat: Das Prinzip, das die internationale Wissens- und Arbeitsteilung vorteilhaft macht, ist kein anderes als das, welches die Arbeits- und Wissensteilung generell als Mittel des wirtschaftlichen Fortschritts und Wohlstands empfiehlt. Und nach David Ricardos (1772 – 1823) Theorie der komparativen Kostenvorteile kann der Gedanke, Freiheit und Kompetenz der Person in hierarchisch gegliederten Systemen zu sichern, wie folgt interpretiert werden: Ein Unternehmer mit vielfältigen Fähigkeiten wird auch dann jemanden für das Rechnungswesen und andere Aufgaben anstellen, wenn er selbst mehr davon versteht. Als Unternehmer vermag er vergleichsweise mehr zu leisten. Genauso ist es im internationalen Handel. Haben Anbieter eines weniger produktiven Landes bei mehreren oder bei allen Erzeugnissen absolut höhere Kosten, so werden sie bei manchen dieser Erzeugnisse einen vergleichsweise geringeren Kostennachteil haben. Und für Anbieter aus Ländern, Höffner (1986), S. 39 f. Zur Vielfalt anderer Akzentsetzungen siehe z. B. Deutscher Bundestag (2002); Schüller / Thieme (2002); Homann u. a. (2005); Apolte (2006). 1 2
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die umgekehrt bei allen Gütern eine absolute Kostenüberlegenheit haben, ist es klug, nicht alles selbst zu erzeugen, sondern vor allem jene Güter und Güterqualitäten herzustellen und zu exportieren, bei denen die Überlegenheit gegenüber den anderen inund ausländischen Produzenten größer ist. Ob internationale Wirtschaftsbeziehungen vorteilhaft für die beteiligten Wirtschaftssubjekte und Länder sind, ist also keine Frage ihres Entwicklungsstandes, gemessen etwa an der Arbeitsproduktivität. Die Meinung, die Menschen in Niedriglohnländern würden durch freie Handelsbeziehungen mit den Industrieländern ausgebeutet, beruht auf ungeschultem Denken und dient gewollt oder ungewollt dem Versuch, mit einem moralischen Vorwand Menschen in wirtschaftlich aufstrebenden Ländern zu diskriminieren, um Arbeitsplätze und Besitzstände in wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten zu schützen. Die Regeln der marktwirtschaftlichen Ordnung sind prinzipiell auf weltumfassende menschliche Kooperation3 hin angelegt. Mit diesem Modell einer internationalen Tausch-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft (Wilhelm Röpke)4 korrespondiert im Bereich der politischen Ordnung das Leitbild einer Vielzahl von souveränen Staaten, die im friedlichen Wettbewerb um die bestmöglichen Institutionen, dem sogenannten Systemwettbewerb,5 stehen. Dem Kooperationsmodell entspricht die Annahme wechselseitig vorteilhafter Tauschbeziehungen. In diesem Positivsummenspiel haben die Produzenten sich primär nach den Interessen der Käufer zu richten. Sie sind die entscheidenden Arbeitgeber oder Sozialpartner der Unternehmen. Diese können umso mehr Menschen beschäftigen, je besser es ihnen gelingt, mit dem, was sie anbieten, den Test der freien Zustimmung durch die Käufer im Wettbewerb mit anderen Anbietern zu bestehen. Von dieser Wertmaxime profitieren auch diejenigen, die noch nicht oder nicht mehr produzieren können. Wie das Marktsystem ist auch die Praxis des Kooperationsmodells nicht vor inneren und äußeren Gefährdungen gefeit, die im gesellschaftlichen Lebensprozess aus Präferenzen für das Konfrontationsmodell entstehen.
3 Zur „Kooperation“ und zum „Konflikt“ im Sinne von „Konfrontation“ als Betrachtungsweisen der internationalen Wirtschaftsbeziehungen siehe Watrin (1967), S. 193 ff. 4 Sachnotwendige Bedingung hierfür ist die Währungskonvertibilität als Recht der Inländer und Ausländer, ihre Guthaben in einer Währung frei in jede andere Währung umzutauschen – gleichgültig für welche Zwecke. In Verbindung mit offenen Handelsgrenzen folgt daraus der Multilateralismus als Möglichkeit für jedermann, ohne Rücksicht auf Gegengeschäfte auf den günstigsten Märkten der Welt zu kaufen und zu verkaufen – was immer es sein mag. Im Gegensatz zu diesem handelschaffenden Prinzip wirkt der Bilateralismus, regelmäßig in Verbindung mit Devisenbewirtschaftung, handelsbeschränkend, weil bei der Verrechnung in nicht frei konvertierbaren Währungen die Forderungen und Verbindlichkeiten bilateral sein müssen, sich deshalb die Austauschmöglichkeiten nach dem schwächeren Partner richten. Die internationale Wissens- und Arbeitsteilung schrumpft. 5 Gegenüber dem Wettbewerb auf der Ebene der Güter und der Erwerbschancen findet der Systemwettbewerb zwischen Staaten bzw. Gebietskörperschaften statt. Auf dieser Ebene entfaltet der Wettbewerb seine Anreiz-, Entdeckungs- und entmachtenden Kontrollwirkungen durch die Freiheit der Einwohner eines Landes, als Einkommensbezieher, Sparer, Investoren, Arbeitnehmer und Unternehmer zwischen verschiedenen Jurisdiktionen wählen zu können. Damit können auch den Politikern und staatlichen Leistungsträgern die Grenzen ihrer Macht gezeigt werden. Auf diese Weise erhält die Verbindung von Freiheit und Ordnung vom Bezugspunkt der Person her die Qualität einer doppelten Sozialkontrolle. Die Bedingungen für freien leistungsbezogenen Wettbewerb bedürfen des staatlichen Rechtsschutzes, der insoweit dem Wettbewerb entzogen sein muss.
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II. Gefährdete Freiheit, gefährdeter Wohlstand – Lehren der Vergangenheit Das Kooperationsmodell wird in der Wissenschaft bis heute – auch als Entwicklungskonzept – weithin befürwortet. Im politischen Raum steht es dagegen seit der Zeit des Merkantilismus (16. – 18. Jahrhundert) in Konkurrenz zum Konfrontationsmodell und dessen Annahme: Der Austauschvorteil der einen begründet den Nachteil der anderen. Aus diesem Nullsummendenken, dem u. a. die marxistische These vom ungleichen Tausch zugrunde liegt, folgt: Das Kooperationsmodell ist unverträglich mit den Gegebenheiten unterschiedlich produktiver Hersteller, dem Freiheits- und Machtstreben von Staaten und Regierungen, dem sich die Wähler in der Demokratie nicht selten willfährig zeigen. Daraus folgt eine verbreitete Neigung, die marktwirtschaftlichen Spielregeln des Kooperationsmodells auszuhöhlen – durch Formen der staatlichen Lenkung des Binnen- und Außenwirtschaftsgeschehens. Dies kommt einer Beschränkung der unternehmerischen Freiheit und anderer wirtschaftlicher Freiheiten gleich. Hierfür wird die Vermachtung der Wirtschaft durch Beschränkung der Auslandskonkurrenz mit der Folge einer Entmündigung und Versorgungsverschlechterung der Käufer in Kauf genommen – im Extremfall die Nationalisierung der Menschen. Dies zeigt die Entwicklung seit Ende des 19. Jahrhunderts. In den Jahrzehnten vorher konnte mit der Durchsetzung des Kooperationsmodells eine Weltwirtschafts- und Weltwährungsordnung entstehen. Sie beruhte auf Gewerbefreiheit nach innen, Handelsfreiheit nach außen, dem Meistbegünstigungsprinzip für den Güteraustausch,6 auf relativ freizügigen Regeln für die selbstverantwortliche Wanderung von Menschen und Kapital, auf Regeln der nationalen Geldpolitik, die ohne explizite zwischenstaatliche Vereinbarungen und supranationale Organisationen eingehalten wurden. Diese Regeln ermöglichten eine Verknüpfung der nationalen (Gold-)Währungen zu einem voll integrierten Weltwährungssystem – als unverzichtbare Bedingung für einen multilateralen Wirtschaftsverkehr. Die Verschmelzung der nationalen Märkte war begleitet von weitreichenden technischen Verbesserungen und Neuerungen, besonders auch im Güter- und Nachrichtenverkehr. In dem Jahrhundert von 1720 bis 1820 ist der Welthandelsumsatz auf das Vierfache, von 1820 bis 1914 auf das Fünfundzwanzigfache gestiegen. Seit den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts schwang das Pendel in Deutschland wie in anderen wichtigen Welthandelsländern zurück. Die Wachstumserwartungen waren allzu optimistisch. Die notwendigen Korrekturen waren schmerzhaft. Die Schuldigen wurden in der aufkommenden ausländischen Konkurrenz gesehen.7 Die Regierungen schlugen sich auf die Seite der Protektionisten. Der wirtschaftlichen Internationalisierung folgte eine zunehmende Renationalisierung der Volkswirtschaften.8 Die weniger sichtbaren, 6 Die Meistbegünstigungsklausel, seit 1860 ein konstitutives Prinzip des Kooperationsmodells, besagt, dass alle handelspolitischen Vergünstigungen, die einem Land gewährt werden, unverzüglich und bedingungslos auf alle anderen Handelspartner – heute etwa im Rahmen des GATT bzw. der WTO – anzuwenden sind. 7 Mit dem Rückgang der Frachtraten durch die Verwendung des Schiffskörpers aus Stahl konnte z. B. im Agrarbereich die überseeische Konkurrenz vordringen und einen starken Preisdruck auslösen. 8 Siehe Röpke (1934). Es ist insbesondere in Deutschland nicht gelungen, freiheitliche Denkund Handlungskonzepte auf die Probleme der sozialen Sicherung anzuwenden. Dabei hätten viele
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über die gesamte Bevölkerung streuenden Vorteile der internationalen Arbeitsteilung hatten keine Lobby. Besonders der Agrarprotektionismus hat sich in Deutschland seit 1879 unter Bismarck zu Maßnahmen ausgeweitet, die sich – verstärkt seit 1958 auch in der EU – mit einer Hartnäckigkeit ohnegleichen den größten Dummheiten in der Geschichte der internationalen Wirtschaftsbeziehungen an die Seite stellten. Die merkantilistischen Neigungen zu Handelskriegen, zum Bilateralismus, zu Formen einer diskriminierenden Sicherung der Rohstoff- und Absatzbasis durch Bildung von Großwirtschaftsräumen, zur wirtschaftlichen Vermachtung und Aushöhlung der grundlegenden Marktinstitutionen fanden vor und nach 1914 in Ideen eines imperialistischen, militaristischen und sozialistischen Nationalismus treue Verbündete. Dies haben die Kolonialstaaten, in extremer Form das Sowjetsystem nach 1917 und der Nationalsozialismus nach 1933, mit dem Ziel demonstriert, das Staatsgebiet mit Gewalt auszudehnen – ohne Rücksicht auf die religiösen, kulturellen, politischen und sozialen Traditionen und Wünsche der unterworfenen und geschundenen Völker. Mit dem Vormarsch des Konfrontationsmodells wurde die internationale Preis-, Tausch- und Zahlungsgemeinschaft zerstört. Die Konsumentensouveränität wurde systematisch ausgehöhlt. Es kam zu typischen Erscheinungen einer politischen und wirtschaftlichen Desintegration, die nach 1945 teilweise noch lange fortbestand.9 Die Folge war ein dramatischer Verlust an persönlicher Freiheit, Zivilisation, Vermögen und Wohlstand der Menschen. Der beschleunigte Verfall der internationalen Ordnung seit 1914 und die gescheiterten Wiederbelebungsversuche in den 20er-Jahren waren für weitsichtige Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Ausdruck einer geistig-moralischen Krise der Gesellschaft. Davon hat sich die westliche Welt nach dem Zweiten Weltkrieg dort am schnellsten erholt, wo erkannt wurde: „Internationalism like charity begins at home“.10 III. Wirtschaftliche Internationalisierung beginnt zu Hause Nach dieser Röpke-These sollte eine internationale Wirtschaftsordnung erstens allen Beteiligten Vorteile nach den Regeln einer „Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs“ bieten. Diese Bedingung für einen diskriminierungsfreien Tausch erfordert eine nationale Wirtschaftsrechnung, die auf Marktpreisen für Güter und Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital und Boden) beruht. Außenhandel unterscheidet sich dann vom Binnenhandel nur durch eventuelle Währungsgrenzen. Bei marktgerechten („realistischen“) Wechselkursen werden keine Güter und Leistungen exportiert, deren Verbrauch im Inland einen größeren Nutzen stiften würde als die Verwendung von Gütern und Produktionsfaktoren, die mit dem Devisenerlös importiert werden. Für die optimale Umsatzgröße im Außenhandel sorgt das Eigeninteresse der Importeure und Exporteure. Außenhandel ist dann ein erfreuliches Zeichen dafür, dass im richtigen Ausmaß getauscht wird – nicht zuviel und nicht zu wenig. Das ist nicht selbstverständlich. So vollzog sich der der neuen sozialen Aufgaben systematisch in die freiheitliche Wirtschaftsverfassung – bei Erweiterung der Selbst- und Mitverantwortung der Arbeitnehmer – integriert werden können. 9 Mit berechtigter Sorge appellierte deshalb Papst Pius XII. in seiner Weihnachtsansprache vom 23. Dezember 1950 an die Verantwortlichen: „Man öffne die Grenzsperren, man beseitige die Drahtverhaue, man gewähre jedem Volk freien Einblick in das Leben aller anderen, man hebe die dem Frieden so abträgliche Abschließung bestimmter Länder von der übrigen Kulturwelt auf.“ Utz / Groner (1954), Nr. 3861. 10 Röpke (1945 / 1979).
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zentral gelenkte Außenhandel der Sowjetunion und der anderen Länder des kommunistischen Blocks in totaler Blindheit. Daran leiden bis heute auch die Entwicklungsländer, die in einer staatlichen Entwicklungsplanung, im Preis- und Devisendirigismus das geeignete Rezept zu gesicherter wirtschaftlicher Entwicklung und nachhaltigem Wohlstand sehen.11 Die Frage nach dem „richtigen“ Maß der Außenwirtschaftsbeziehungen kann zweitens nur beantwortet werden, wenn es erlaubt ist, grenzüberschreitende Tauschgelegenheiten frei zu entdecken und zu nutzen. Handelsfreiheit nach außen setzt wiederum Tausch- und Gewerbefreiheit im Innern voraus. Nur so können Tauschrechte nach allen Seiten offen (multilateral) genutzt werden. Um diese vor diskriminierenden Beschränkungen zu schützen, ist drittens internationales Vertrauen notwendig. Hierzu ist auf merkantilistischen Dirigismus12 zu verzichten, das Prinzip der Lieberalisierung ist durch unbedingte Meistbegünstigung, Gleichstellung ausländischer Güter mit den inländischen Gütern („Inländerprinzip“), durch Schutz kleiner Staaten gegenüber der Verhandlungsmacht großer Länder zu stärken. Mangels internationalem Gegenstück zum nationalen Rechtsschutzstaat gilt nach wie vor: Es ist sehr viel schwieriger, die Verbindung von Ordnung und Freiheit international wohlstandsfördernd zu gestalten, als innerhalb einzelner Staaten.13 Nicht nur der historische Befund, sondern auch die Welthandels- und Weltwährungsgespräche von heute über Inhalt und Reichweite der genannten Regeln der Nichtdiskriminierung lassen erkennen: Zur Etablierung und Weiterentwicklung einer internationalen Ordnung bedarf es starker Führungsmacht, die nur erfolgreich sein kann, wenn bei der Verbindung von Freiheit und Ordnung die Einsicht vorherrscht, die Welt nach dem alten „Grundsatz ,suum cuique‘ zu ordnen und ihre Aufgabe als treuhänderische Mission aufzufassen“.14 Nicht die äußere Macht ist entscheidend, sondern letztlich die geistig-moralische Qualität der führenden Politiker, die an der Bereitschaft zu messen ist, Freiheit und Ordnung vom Bezugspunkt der Person her zu verbinden. In dieser Hinsicht richteten sich die Augen der Welt seit Ende des Ersten Weltkrieges vor allem auf die USA. Doch erst mit dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg entwickelten sich diese zu einer ordnungspolitischen Führungsmacht, die gegen Ende dieses Krieges die Grundlagen für die heutige Weltwirtschaftsordnung gelegt hat.15 Dies zeigen die Entstehungsgeschichte des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (General Agree11 Mit seiner These von der Dysfunktionalität freier Wirtschaftsordnungen und -beziehungen für die Lösung von Entwicklungsproblemen zählt Myrdal nach dem Zweiten Weltkrieg zu den geistigen Vätern einer einflussreichen staatswirtschaftlich-dirigistischen Entwicklungspolitik. Bis in die 1970er-Jahre waren in Indien und großen Teilen von Lateinamerika die verhängnisvollen Begleiterscheinungen dieser Variante des Konfliktmodells zu beobachten: Hohe Inflationsneigung, verfestigte Einseitigkeit der Exportstruktur als Folge einer Politik, die im Bereich der Industrialisierung fast ausschließlich auf Importsubstitution ausgerichtet war, Dauerarbeitslosigkeit, krisenhafte Staatsverschuldung, Mangel an Unternehmergeist in der offiziellen Wirtschaft, rasche und auf hohem Niveau expandierende Schattenwirtschaft, Korruption und insgesamt eine hochgradige Unverträglichkeit mit den Prinzipien der Personalität, Subsidiarität und Solidarität; siehe Schüller (1989), S. 411 ff. 12 Mehr oder weniger willkürliche Aus- und Einfuhrgenehmigungen, Kontingente, Zölle und versteckte „nicht-tarifäre“ Handelsbeschränkungen, Subventionen, „Valutadumping“ durch systematische Unterbewertung der einheimischen Währung, 13 Röpke (1945 / 1979), S. 106 f. 14 Röpke (1942 / 1979), S. 385. 15 Watrin (1988), S. 213 ff.
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ment on Tariffs and Trade GATT, seit 1. 1. 1995 die World Trade Organisation WTO), der Bretton-Woods-Organisationen (Weltbank, Internationaler Währungsfonds IWF), der NATO und die nachdrückliche Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses. Was hierbei erreicht wurde, erschließt sich erst vor dem Hintergrund der letztlich misslungenen Bemühungen der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, eine internationale Wirtschaftsordnung zu etablieren, und des Niedergangs der Weltwirtschaft seit Anfang der 1930er-Jahre. Unter der Vormachtstellung der USA nahmen die internationalen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg einen Aufschwung, der früher zu beobachtende Wachstums- und Wohlstandsschübe bei weitem übertraf und der die wirtschaftliche Integration zwischen Regionen und Einzelstaaten ständig vertiefte. Durch eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik in den USA, inspiriert durch Konzepte von John M. Keynes, John K. Galbraith und Walt W. Rostow, kam es seit 1961 unter John F. Kennedy und verstärkt ab Ende 1963 unter Lynden B. Johnson zu einem anderen Verständnis internationaler Machtausübung – mit einer Verlagerung des ordnungspolitischen Bezugspunkts von der persönlichen Freiheit zur politischen Freiheit hin. Unter diesem Einfluss wurde das Kooperationsmodell erneut weltweit durch einen konfliktreichen Staatsdirigismus, Fiskalsozialismus, Inflationismus und Handelsprotektionismus in Gefahr gebracht.16 IV. Der Weg zur wirtschaftlichen Globalisierung Seit Ende der 1970er-Jahre gingen von Großbritannien und den USA eine weltweite Liberalisierung und Marktausdehnung aus. Grundlage dieses Prozesses der wirtschaftlichen Globalisierung war national eine Politik der Revitalisierung der Marktkräfte durch Überwindung des Inflationismus, der Deregulierung der Wirtschaft und Privatisierung von Staatsunternehmen – insgesamt also durch Erweiterung der Handlungsspielräume der Wirtschaftssubjekte. Geistiger Unterbau war das Ordnungsdenken von Friedrich A. von Hayek, von Milton Friedman und anderen liberalen Sozialtheoretikern wie Peter Bauer. Mit seiner weltoffenen Entwicklungskonzeption stand Bauer seit den frühen 1950er-Jahren im Widerspruch zu Myrdals Apologie des Entwicklungsdirigismus.17 Mit der Wiederbelebung des Kooperationsmodells wurde ein weltweiter Systemwettbewerb ausgelöst. Die Zahl prinzipiell konvertierbarer Währungen nahm sprunghaft zu. Dies ermöglichte eine zunehmende Internationalisierung der Unternehmenstätigkeit und der Finanzmärkte. Neue konkurrenzfähige Produktionszentren kamen im asiatischpazifischen Raum auf und verstärkten die Innovations- und Wachstumsdynamik. Nun ließ sich auch der Rückstand des von der Sowjetunion beherrschten „sozialistischen Weltmarktes“ in allen ökonomisch-sozialen, technischen und militärischen Belangen nicht länger beschönigen. Die UdSSR glaubte, mit Hilfe des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und gezielten Kapitalgütereinfuhren aus dem Westen ein konkurrenzfähiges, industriewirtschaftliches und handelspolitisches Gravitationszentrum neben den USA, Japan und dem pazifischen Raum sowie der EG schaffen zu können. Eine Illusion, wie Gorbatschow auf der XIX. Unionsparteikonferenz im Juli 1988 einräumte: „Der Internationalisierung der Wirtschaft, ja des gesamten gesellschaftlichen 16 17
Siehe Gröner / Schüller (1978) und (1989), S. 429 ff. Siehe Schüller (1989), S. 411 ff.
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Lebens können wir nicht ausweichen. Jegliches Streben nach nationaler Abgeschiedenheit kann nur zu ökonomischer und geistiger Verkümmerung führen“. Die erdrutschartige Entkolonialisierung der Sowjetunion nach 1989 und die Hinwendung der meisten ehemaligen RGW-Staaten zum Kooperationsmodell bestätigen erneut die Erkenntnis: Dieses Modell ist für eine Weltwirtschaft im Dienst der Freiheit konkurrenzlos. Schon in den 70er-Jahren hatte eine Reihe von Entwicklungsländern damit begonnen, ihre traditionelle „Angst vor der Weltwirtschaft“ zu überwinden und die Vorzüge des Kooperationsmodells für eine weltoffene Export- und Entwicklungsstrategie, vor allem für die Anziehung von ausländischen Direktinvestitionen, zu entdecken und zu nutzen. Schließlich hat auch Indien Anfang der 90er-Jahre radikal seine 40-jährige Politik des Entwicklungsdirigismus aufgegeben. Diese war gedanklich von Myrdal beeinflusst. Dadurch wurde das Land immer tiefer in einen Teufelskreis der Unterentwicklung getrieben. 45 Jahre nach der Unabhängigkeit gehörte Indien immer noch zum Armenhaus der Welt, bis es 1991 begann, Gewerbe, Industrie und Banken von einengenden Vorschriften der Kapitalbeteiligung, der Standortwahl, der Produktion und Beschäftigung zu befreien und den Außenhandel zu liberalisieren. Durch Inflationsabbau, Steuersenkung und marktgerechte Zinssätze erhielten private Haushalte sowie in- und ausländische Unternehmen den Anreiz, mehr im Land zu sparen und zu investieren. Die weiterhin verstaatlichten Banken und Versicherungen erhielten Konkurrenz von in- und ausländischen Privatinstituten und die nötige Bewegungsfreiheit, um bestehen und expandieren zu können. Ein weltoffenes Finanzsystem ist, wie Indien und viele andere Länder zeigen, eine entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration in die Weltwirtschaft. Noch 1991 musste die Indische Zentralbank einen Teil ihrer Goldreserven bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel hinterlegen, um vom IWF einen dringend benötigten Stützungskredit zu bekommen. Zwölf Jahre später konnte die Zentralbank mehr als 100 Mrd. Dollar Devisenreserven ausweisen. Wenn auch die Armutsquote zurückging, so leidet das Land immer noch unter der Hypothek der ländlichen und urbanen Armut und dem Fehlen leistungsfähiger sozialer Sicherungssysteme. Doch ist nicht zu übersehen, wozu Indiens Wirtschaft auch in dieser Hinsicht fähig ist, wenn das Land über innere Reformen den Weg der Integration in die Weltwirtschaft fortsetzt.18
V. Globalisierung und die Chancen des Systemwettbewerbs Der Systemwettbewerb ist, wie gezeigt, Anstoß und Triebkraft der Globalisierung. Die erweiterte Marktausdehnung wird durch sinkende Transport-, Informations- und Kommunikationskosten und eine rasante Verdichtung der Kommunikationsnetze begünstigt.19 Neue Tauschwege entstehen, die Grenzen für unternehmerisches Handeln und Beschäftigung werden flexibler. Die Leistungserstellung kann in kleinere Einheiten zerlegt werden. Mit der räumlichen Aufspaltung und globalen Vernetzung der Wertschöpfung können Preis- und Kostendifferenzen (Arbitragevorteile), Innovations- und Siehe Wolff (2006), S. 40 ff. Die Ausweitung des Internet seit 1993 und seiner Anwendungsmöglichkeiten über World Wide Web (www) und die elektronische Kommunikation (e-mail, chat) begünstigen auf den Güterund Faktormärkten den Abbau von binnen- und außenwirtschaftlichen Wettbewerbsbeschränkungen, stärken damit die Position der Käufer. 18 19
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Investitionsgelegenheiten weltweit genutzt und imitiert werden. Insgesamt dürften mehr Menschen als je zuvor direkt oder indirekt durch Geben und Nehmen miteinander verbunden sein – durch Austausch von Wissen, Meinungen und Ideen, von Waren und Dienstleistungen, durch Möglichkeiten des Reisens, der Ein- und Auswanderung sowie der Entdeckung bislang unbekannter menschlicher und natürlicher Ressourcen, wirkungsvollerer Produktionsverfahren und -standorte, schließlich durch Geld-, Kreditund Kapitalströme. Bei Meinungsäußerungen über Vor- und Nachteile, bei denen die „gefühlten“ Verschlechterungen nicht selten von den tatsächlichen Wirkungen abweichen, ist der Gewinn der Bürger als Konsumenten unbestreitbar. Ihnen garantiert der Wettbewerb auf weltweit integrierten Märkten ein größeres und vielfältigeres Güterangebot und niedrigere Preise. Und in dem erweiterten Marktrahmen verbessern sich insgesamt auch die Wachstumsperspektiven des Realeinkommens. Über die Verteilung entscheidet allerdings mehr denn je der Systemwettbewerb, die Chance für aufholende Länder. So haben seit 1994 in Irland Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften vereinbart, die Staatsausgaben zu kürzen und Lohndisziplin zu halten. Gleichzeitige Steuersenkungen ermöglichten einen realen Lohnanstieg und eine erhöhte Anziehungskraft für Direktinvestitionen, die effektivste Form der Übertragung von unternehmerischem Wissen. Die Arbeitslosenquote fiel von 14 % auf 4 %. Der Anteil der Armen an der Bevölkerung ging von 15 % auf 4 % zurück. Irland hat im Systemwettbewerb den Erzrivalen England, aber auch andere EU-Länder weit hinter sich gelassen. Allein die unterschiedliche Bereitschaft, sich im Systemwettbewerb innovativ hervorzutun oder an Reformerfolge anderer Länder anzuknüpfen, erklärt, warum die globale Wohlstandsmehrung nicht alle Länder gleichmäßig begünstigt, sondern Ungleichheiten verstärken kann, die allerdings durch nachholende Anpassung rasch vermindert werden können. Auch weniger qualifizierten oder anpassungsschwachen Menschen bieten sich vergrößerte Beschäftigungs- und Einkommenschancen, z. B. durch Nutzung des internationalen Kostengefälles für eine Mischkalkulation der Unternehmen. Allerdings gelingt dies immer nur in Verbindung mit Produktivitätsvorteilen höher qualifizierter Arbeitsplätze und den Wissens- und Ertragssteigerungen aus der weltoffenen Streuung der Standorte. Deshalb kann dem Interesse an mehr und sicheren Arbeitsplätzen auch für die schwächeren Arbeitnehmer langfristig am besten gedient werden, wenn unternehmerische Kräfte Anreize haben, im Land zu bleiben. Das erfordert von der Gesellschaft, die hierfür erforderlichen Handlungsspielräume und Einkommensstrukturen zu akzeptieren, den Bildungsstand zu erhöhen und die Bildungsinteressen auf anspruchsvollere Berufsfelder zu lenken.20 Wie die genannten Beispiele zeigen, sind mutige Wirtschaftsreformen und Bildungsanstrengungen nicht zwangsläufig mit realen sozialen Einschnitten, etwa der Umverteilung von Arbeitsplätzen von reichen in ärmere Länder, verbunden.
VI. Globalisierung und die „Neue Angst vor der Weltwirtschaft“ Mit der Marktausdehnung und multimedialen Vernetzung der Welt nehmen die Nachteile zu, die in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht mit der Abkoppelung von dieser 20
Siehe Gundlach (2006).
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Dynamik verbunden sind. Regime, die am freiheitsfeindlichen Kollektivismus festhalten, kommen von innen und von außen unter verstärkten Druck. Sie fürchten deshalb die wirtschaftliche Globalisierung, weil diese auf dem geistigen Fundament des Kooperationsmodells steht, das dem politischen Anspruch autonomer Machtfülle und privilegierter Bereicherungsmöglichkeiten widerstrebt. Der „kommunistische Pseudo-Islam“21 hat sich unter dem Druck des Wettbewerbs der Systeme weitgehend aufgelöst. Doch ist der Hang zu einem menschenverachtenden Nationalismus bis hin zur kriegerischen Gewaltanwendung weltweit weiterhin ebenso bedrängend wie die neuen Gefährdungen des Kooperationsmodells durch nationalistisch-fundamentalistische Gruppierungen und Länder des Islam. Wenn hierbei die moderne Globalisierungstechnik für Zwecke der anonymen Erpressung und Einschüchterung oder der geheimen Kommunikation von kriminellen und terroristischen Organisationen missbraucht wird, so ist dies für eine Weltwirtschaft im Dienst der Freiheit und des Wohlstands eine ständige Bedrohung und Herausforderung. Attac, die bekannteste Anti-Globalisierungsbewegung, hat eine uneingeschränkte Präferenz für das Konfrontationsmodell. Angestrebt werden u. a. eine „gleiche Verteilung des Reichtums“, die „Vergesellschaftung“ von Grund und Boden, der Naturschätze und der Produktionsmittel, eine Verstaatlichung der sozialen Sicherheits-, Bildungs-, Gesundheits- und Kultureinrichtungen, die Sicherung des Rechts auf Arbeit, die Politisierung des Geld- und Währungsbereichs. Ausgangspunkt ist hierbei die Annahme: Das Kooperationsmodell versagt, also ist es, beginnend mit seinem institutionellen Unterbau, zu bekämpfen und abzuschaffen. Die Freiheit, dies zu tun, wird als demokratisch angestrebte politische Machtausübung interpretiert – mit dem Ziel einer dirigistischprotektionistischen Binnen- und Außenwirtschaftspolitik, wie sie in den 60er- und 70erJahren des 20. Jahrhundertes mit dem Anspruch einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ angestrebt wurde.22 Erneut wird versucht, die „Gesamtstruktur der politischen Maßnahmen des Wohlfahrtsstaates“23 zu internationalisieren und sich ohne Rücksicht auf Sachzusammenhänge und Erfahrungen ein gutes Gewissen zu machen. Demzufolge sollen „von oben“, z. B. mit Hilfe internationaler Vereinbarungen und Organisationen, weltweit verbindliche Arbeits-, Sozial-, Bildungs- und Umweltstandards zur Vereinheitlichung („Harmonisierung“) von Kosten, Preisen, Steuern, Beschäftigungsbedingungen und unternehmerischen Handlungsspielräumen durchgesetzt werden. Das Ziel ist die Herstellung von „Wettbewerbsgleichheit“ als Ergebnis einer politischen Anordnung. Der Güter- und Erwerbschancenwettbewerb sowie der Systemwettbewerb als Anstoß und Triebkraft der Globalisierung wären mit dieser Herrschaft eines kollektivistischzentralistischen Prinzips ausgeschaltet.
VII. Globalisierung als Ordnungsproblem Für die Aufgabe, Freiheit und Ordnung vom Gedanken der Person her zu verbinden, liegt es nahe, die Regeln und Organisationen zu nutzen, die auf völkerrechtlichen Vereinbarungen zwischen den Nationalstaaten beruhen und einen fortschreitenden Ab21 22 23
Röpke (1945 / 1979), S. 89. Siehe Gröner / Schüller (1978). Myrdal (1961), S. 132 f.
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bau staatlicher Handelshemmnisse ermöglicht haben. Beginnend mit dem GATT ist mit dessen Erweiterung zur WTO der Weg zu einer Art internationaler Verfassung des Wettbewerbs beschritten worden. Am Erfolg dieses Weges dürfte den zahlreichen außenhandelsabhängigen kleinen Mitgliedstaaten mehr gelegen sein, als den großen Industrieländern und Integrationsräumen. Diese lassen mit eklatanten Verstößen gegen das Prinzip der Nichtdiskriminierung und Multilateralität, vor allem im Bereich des Agrarprotektionismus, erkennen, dass es ihnen an der weltoffenen Einstellung für die verlässliche Übernahme einer handelspolitischen Führungsrolle mangelt. Im Hinblick auf die fortschreitende Globalisierung ist eine lebhafte Diskussion über neue Problembereiche der Welthandelsorganisation mit erheblichen Herausforderungen für den Weg in Gang gekommen, den die WTO eingeschlagen hat:24 Erstens die Ergänzung der Handelspolitik durch internationale Wettbewerbsregeln. Diese sollen verhindern, dass der Abbau von Handelshemmnissen durch Wettbewerbsbeschränkungen privater Marktteilnehmer (nationale Export- und Importkartelle, internationale Marktaufteilungen und Monopolisierung durch Unternehmenszusammenschlüsse) unwirksam gemacht werden kann. Zweitens die Vereinbarung von internationalen Umweltstandards, die es erlauben, die Ziele „freier Handel“ und „geschützte Umwelt“ in gleicher Weise zu verfolgen. Drittens die Festlegung internationaler Sozialstandards als Mindestschutzvorschriften für Arbeitnehmer. Die Verhandlungen werden dadurch erschwert, dass die 152 WTO-Mitglieder mit Blick auf alle drei Problembereiche zum Teil extrem unterschiedliche ordnungspolitische Vorstellungen und wirtschaftliche Interessen haben. Die Diskussion über globale Wettbewerbsregeln – etwa hinsichtlich der wettbewerbspolitischen Grundprinzipien, Mindeststandards und der organisatorischen Lösung – ist bisher so widersprüchlich, dass als Preis für ein Abkommen das Gegenteil von dem zu zahlen ist, was eine Integration von Handelspolitik und Wettbewerbspolitik ordnungspolitisch zweckmäßig erscheinen lassen könnte. Hinsichtlich internationaler Umweltstandards ist unbestritten, dass in der Preisbildung dessen, was international gehandelt wird, auch die Kosten der Umweltnutzung möglichst knappheitsgerecht berücksichtigt werden und darauf hingewirkt wird, negative externe Effekte zu vermeiden. Hierbei ist es naheliegend, zwischen lokalen, regionalen, nationalen und internationalen bzw. globalen Umweltgütern zu unterscheiden und zu berücksichtigen, dass in den WTO-Mitgliedsländern auch in dieser Hinsicht die Knappheiten verschieden sind. Das spricht für unterschiedliche Umweltschutznormen und -präferenzen, also gegen eine Vereinheitlichung der Umweltpolitik in allen Ländern und gegen globale Vorschriften über Fragen einer umweltschädlichen Beschaffenheit und Herstellung eines Produkts, also über Produkt- und Produktionsstandards. Die WTO lässt sachgerecht Produktstandards (z. B. Motorfilter) auf nationaler Ebene zu, wenn hierbei nach dem „Inländerprinzip“ ausländische Anbieter wie einheimische behandelt werden. Im politischen Raum werden heute jedoch international harmonisierte Produktionsverfahren gefordert. Damit sollen Länder mit vergleichsweise hohen Produktionsstandards vor „ökologischem Dumping“, also einem als unfair bezeichneten Wettbewerbsvorteil anderer Länder geschützt werden, die niedrigere Produktionsstandards haben. Vor allem Entwicklungsländer, Schwellen- und Transformationsländer weisen diese Forderung als Versuch zurück, sie im internationalen Wettbewerb zu diskriminieren. Dagegen kann im 24
Siehe Schüller (1996), S. 81 ff.; Molsberger (2001), S. 533 ff.
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Hinblick auf grenzüberschreitende und globale Umweltprobleme eine multilaterale Einigung über notwendige Maßnahmen und deren (Kosten-)Verteilung auf die Länder unverzichtbar sein. Bei internationalen Sozialstandards kann es zunächst um die Kernarbeitsnormen (Recht auf Koalitionsfreiheit, Abschaffung ausbeuterischer Kinderarbeit, Verbot von Zwangsarbeit und der Diskriminierung im Erwerbsleben) gehen. Da diese Normen ohnehin dem Bereich einschlägiger Konventionen über allgemeine Menschenrechte (etwa der Internationalen Arbeitsorganisation ILO) zugeordnet sind, ist umstritten, ob es der Aufnahme in das WTO-Regelwerk bedarf, wie es in hoch entwickelten Industrieländern von Globalisierungsgegnern mit dem Ziel gefordert wird, den Kernarbeitsnormen nach dem Höchstwertprinzip weltweit Anerkennung zu verschaffen. In den Bemühungen, in ähnlicher Weise darüber hinausgehende Sozialstandards (Mindestlöhne, Arbeits-, Gesundheits- und Sozialnormen) weltweit mit erheblichem politischen Druck durchzusetzen, wird von den aufholenden Ländern die Absicht einer massiven Beschneidung ihrer komparativen Kostenvorteile gesehen. Die mit Umwelt- und Sozialstandards angestrebte Verbindung von Freiheit und Ordnung würde „die Gefahr mit sich bringen, dass das WTO-System, das den Abbau von Handelshemmnissen und die Erleichterung des Marktzugangs zum Ziel hat, neue protektionistische Maßnahmen begünstigen, wenn nicht herausfordern“.25 Bei dem politischen Druck, der auf die Arbeit der WTO ausgeübt wird, ist die Versuchung besonders groß, sich durch sachwidrige Forderungen und Entscheidungen ein gutes Gewissen zu verschaffen. Das Sachwidrige besteht darin, dass mit dem Anspruch der Armutsbekämpfung die Menschen in den aufholenden Ländern im internationalen Wettbewerb diskriminiert und bei der wirksamsten Form der Armutsbekämpfung, der Gründung von Unternehmen und Schaffung von Arbeitsplätzen, behindert werden. Für eine Weltwirtschaft im Dienst der Freiheit und des Wohlstands aus Sicht der Katholischen Soziallehre und der Ordoliberalen scheinen die Perspektiven günstiger, wenn auf der Ebene der WTO keine Vereinbarungen getroffen werden, die dem Anspruch einer internationalen Verfassung der Wettbewerbsfreiheit zuwiderlaufen. Damit kann auch der Systemwettbewerb offen gehalten werden, um die politischen Parteien veranlassen zu können, ihr Wissen um international wettbewerbsfähige Ordnungen zu verbessern und sich auf dem Wählerstimmenmarkt um die Zustimmung für entsprechende Reformen zu bemühen. Hierbei wird vor allem die Anmaßung staatlicher Allzuständigkeit im Verständnis einer schrankenlosen Majoritätsdemokratie, die zur vollständigen Verstaatlichung des Sozialen neigt, auf den Prüfstand kommen. Die freiheits- und wohlstandsstiftende Handlungsfähigkeit des Staates und bewährte Rechtstraditionen bleiben ebenso erhalten wie die Möglichkeit, weltweit die Demokratie26 und die Chancen für die Kirchen mit ihren unschlagbaren komparativen Vorteilen auf dem Gebiet der Bildungseinrichtungen, des Sozialen und der freiwilligen Solidarität zu verbessern.
25 26
Siehe Molsberger (2001), S. 549. Siehe Vanberg (2000), S. 87 ff.
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Neuntes Kapitel
Soziale Sicherung
Persönliche Daseinsfürsorge und soziale Sicherung Von Richard Hauser I. Begriffliche Abgrenzung Persönliche Daseinsfürsorge ist kein gefestigter und klar abgegrenzter Begriff. Im Staatsrecht taucht der verwandte Begriff der Daseinsvorsorge als staatliche Aufgabe erstmals bei Forsthoff (1938) auf. Rüfner1 unterscheidet zwischen der „Daseinsvorsorge im engeren Sinn“ (= den Sach- und Dienstleistungen der öffentlichen Hand) und der „Daseinsvorsorge im weiteren Sinn“, welche die Sozialleistungen einschließt.2 Pitschas erwähnt das „komplex strukturierte bundesstaatliche, landespolitische und kommunale Mandat zur sozialen Daseinsvorsorge und -fürsorge“.3 Im Kompendium der Soziallehre der Kirche4 und in neueren Stellungnahmen der Evangelischen und der Katholischen Kirche5 taucht der Begriff der persönlichen Daseinsfürsorge nicht auf. Auch in den Standardlehrbüchern der Sozialpolitik6 wird der Begriff der persönlichen Daseinsfürsorge nicht verwendet. Im Folgenden wird als eine der Aufgaben des Staates die Gewährleistung der persönlichen Daseinsfürsorge durch die Zurverfügungstellung von Sach- und Dienstleistungen der öffentlichen Hand und der freien Wohlfahrtspflege sowie durch die Ausgestaltung eines Systems der sozialen Sicherung verstanden. Damit ist dieser Begriff infolge der Einbeziehung der freien Wohlfahrtspflege noch etwas weiter als die von Rüfner vorgeschlagene Definition der Daseinsvorsorge im weiteren Sinn. In Deutschland beruht die Aufgabe der persönlichen Daseinsfürsorge auf dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG). Sie ist eine der Aufgaben des Sozialstaats, bei der es um die Bedarfsdeckung der Bürger geht. Dem Sinn nach – wenn auch unter Verwendung anderer Begriffe – wird diese Staatsaufgabe auch in der Katholischen Soziallehre behandelt. Die staatliche Aufgabe der persönlichen Daseinsfürsorge kann selbstverständlich auch weltweit gesehen werden. Dies geschieht in anderen Beiträgen, so dass wir uns hier auf hoch entwickelte Länder, insbesondere auf Deutschland und auf Seitenblicke in die Europäische Union, beschränken.
Rüfner (1988). Zitiert nach Zacher (2001), S. 389, Fn. 65. 3 Pitschas (2003), S. 1297. 4 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (2006). 5 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (1997). 6 Vgl. z. B. Lampert / Althammer (2004), Bäcker et al. (2000), Boeckh et al. (2004), Ribhegge (2004). 1 2
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II. Ziele und Prinzipien Der Sozialrechtler Hans Zacher kennzeichnet einen Sozialstaat folgendermaßen: „. . . ein Staat, der den wirtschaftlichen und wirtschaftlich bedingten Verhältnissen auch in der Gesellschaft wertend, sichernd und verändernd mit dem Ziel gegenübersteht, jedermann ein menschenwürdiges Dasein zu gewährleisten, Wohlstandsunterschiede zu verringern und Abhängigkeitsverhältnisse zu beseitigen oder zu kontrollieren.“7 Die sozialstaatlichen Ziele stehen damit im Dienste der Menschenwürde und der unveräußerlichen Menschenrechte, deren Schutz dem deutschen Staat in Art. 1 Abs. 1 und 2 GG vorgeschrieben ist. Mit der Erfüllung dieser Aufgaben trägt ein Staat zur Erreichung des Gemeinwohls bei, das in der Katholischen Soziallehre folgendermaßen definiert wird: „Die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen.“8 Die sozialstaatlichen Ziele müssen jedoch genauer umschrieben werden, wenn sie als Richtlinien der Sozialpolitik dienen sollen. Als wichtige Unterziele werden genannt: Freiheit, Gleichheit, Soziale Gerechtigkeit, Soziale Sicherheit und Solidarität. Diese Ziele bedürfen der Auslegung. Sie stehen zum Teil miteinander in Konflikt, d. h. sie können nicht alle gleichzeitig erreicht werden. Bei der praktischen Sozialpolitik muss in Form von Kompromissen eine Zielabwägung erfolgen. Je präziser man bei der Auslegung wird, desto größer werden allerdings die Meinungsunterschiede. Dies trifft auch auf die Katholische Soziallehre zu.9 Hier können nur einige Grundgedanken angeführt werden. Freiheit zu selbstbestimmtem Handeln ist der Kern des Freiheitsziels. Allerdings steht dem das Recht der anderen auf Freiheit gegenüber. Diese gegenseitige Abgrenzung der Freiheitsrechte kann nur ein Staat garantieren: Daher formuliert Art. 2 GG Abs. 1: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“. In einigen weiteren Artikeln werden diese Freiheitsrechte dann spezifiziert. Freiheit ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die Wahrnehmung von Verwirklichungschancen;10 soziale Gerechtigkeit muss ebenfalls gewährleistet sein, damit die Mitglieder einer Gesellschaft ihre Verwirklichungschancen auch tatsächlich realisieren können. Gleichheit bedeutet zum einen die Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte und die Gleichheit vor dem Gesetz für Mann und Frau. Zum anderen geht es um die Gleichberechtigung und die Gleichbehandlung jedes Einzelnen in den verschiedenen Teilsystemen einer Gesellschaft. Findet keine Gleichbehandlung statt, so liegt eine unzulässige Diskriminierung vor. Damit stellt sich die Frage, welche Unterschiede zwischen Menschen nicht zum Anlass von Ungleichbehandlung herangezogen werden dürfen. Nach dem Grundgesetz sind dies: Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen und Behinderung. Andere Zacher (1977 – 1983), S. 152 ff. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (2006), Nr. 164. 9 Vgl. Höhn (1999). 10 Sen (2002). 7 8
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Unterschiede berechtigen aber zur Ungleichbehandlung, beispielsweise unterschiedliche Leistung im Wirtschaftsprozess oder im Sport. Soziale Gerechtigkeit11 wird weiter spezifiziert durch die Prinzipien der Startchancengleichheit, der Leistungsgerechtigkeit, der Bedarfsgerechtigkeit und der Generationengerechtigkeit.12 Startchancengleichheit ist eine Voraussetzung für Leistungsgerechtigkeit. Denn wer mit einem großen Vorsprung anfängt, dessen „Ergebnisse“ sind geringer einzuschätzen als die eines anderen, der „bei Null“ anfängt. Wesentliche Ungleichheiten bei den Startchancen resultieren aus einem stark differenzierenden Bildungssystem und aus einem unbeschränkten Erbrecht. Allerdings können auch bei annähernd gleichen Startchancen die Ergebnisse sehr unterschiedlich sein. Wenn diese Ergebnisse als jene Einkommen und Vermögen aufgefasst werden, die auf wohlgeordneten Märkten erzielt werden, dann werden sie als leistungsgerecht akzeptiert und damit durch das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit gerechtfertigt. Die Betonung liegt hierbei auf den wohlgeordneten Märkten, die durch die staatliche Wettbewerbspolitik, Verbraucherschutzvorschriften und die Unterbindung von Täuschung und Betrug hergestellt und aufrecht erhalten werden sollen. Dabei stellt der Arbeitsmarkt eine Ausnahme dar; denn hier ist das Kräfteverhältnis zwischen einzelnen Arbeitgebern und einzelnen Arbeitnehmern so ungleich, dass nur Zusammenschlüsse von Arbeitnehmern (Gewerkschaften) ein ausreichendes Potenzial zur Verhinderung von Ausbeutungslöhnen besitzen. Bedarfsgerechtigkeit erfordert die Deckung lebenswichtiger und dringender Bedarfe für jedes Gesellschaftsmitglied. Dies ist bereits in Art. 1 Abs. 1 GG impliziert, der den Schutz der Würde des Menschen vorschreibt. Als Minimum erfordert die Bedarfsgerechtigkeit die Vermeidung von absoluter Armut im Sinne des Fehlens ausreichender Mittel zum Überleben (Nahrung, Kleidung, Wohnung, Gesundheitsversorgung). In einer reichen Gesellschaft kommt die Vermeidung relativer Armut hinzu. Relative Armut liegt vor, wenn einer Person die Mittel für einen in der jeweiligen Gesellschaft als Minimum angesehenen Lebensstandard fehlen. Aus relativer Armut kann soziale Ausgrenzung der betroffenen Gesellschaftsmitglieder resultieren, die in Widerspruch zum Gemeinwohl stehen würde. Die Beziehungen zwischen den gleichzeitig lebenden Mitgliedern verschiedener Generationen und zwischen den im Zeitablauf aufeinander folgenden Generationen sind unter dem Blickwinkel der Generationengerechtigkeit zu sehen. Zum einen sollten die gleichzeitig lebenden Mitglieder verschiedener Generationen in angemessener Weise am jeweils herrschenden Wohlstand beteiligt werden und zum anderen sollte jede Generation der nächsten ein größeres Sachvermögen und Humanvermögen sowie ein zumindest gleich hohes Umweltvermögen hinterlassen als sie es selbst ererbt hat. Also keine Politik des „nach uns die Sintflut“. Soziale Sicherheit ist dann erreicht, wenn sich jeder Bürger, der von einem der anerkannten sozialen Massenrisiken betroffen wird, subjektiv sicher sein kann, dass ihm in einer Weise geholfen wird, dass er nicht in Armut absinkt oder dass er sogar teilweise oder vollständig wieder seine vorherige Lebenslage erreicht. Objektiv – aus der Sicht eines informierten Beobachters – erfordert soziale Sicherheit auch das Vorhandensein von Bedingungen, unter denen subjektive soziale Sicherheit langfristig und nachhaltig aufrechterhalten werden kann. Dies erfordert zumindest die Sicherung des gesellschaftlichen Wohlstands. Vgl. hierzu auch Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (2006), Nr. 201 – 208. Vgl. Becker / Hauser (2004) und, auch auf internationale Gerechtigkeitsfragen eingehend, Sen (2002). 11 12
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Solidarität in einem und mit einem Gemeinwesen bedeutet, dass sich die Stärkeren mit den Schwächeren verbunden fühlen und bereit sind, für das Gemeinwohl die größeren Lasten und Pflichten zu übernehmen. Ohne das Vorhandensein von Solidarität besitzen die genannten Prinzipien der Sozialen Gerechtigkeit keine gesellschaftliche und politische Basis und ihre Anwendung wird in einem demokratischen Staat erschwert oder gar völlig unmöglich gemacht. Dann zerfällt der Sozialstaat oder er kann nur noch durch staatliche Machtmittel zusammengehalten werden.
III. Instrumente der persönlichen Daseinsfürsorge und der sozialen Sicherung Grundsätzlich kann ein Staat die persönliche Daseinsfürsorge für seine Bürger und die Absicherung gegen soziale Risiken auf dreierlei Weise gewährleisten: Erstens durch kostenlose Zurverfügungstellung von Sachgütern und Dienstleistungen oder zweitens durch die Gewährung von monetären Transfers, die es den Betroffenen erlauben, auf den Märkten ihre Bedürfnisse in angemessener Weise zu befriedigen. Drittens durch die Privilegierung von freiwilligen und gemeinnützigen Assoziationen von Bürgern, Kirchen, Gewerkschaften und anderen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). In Deutschland tragen sechs große freie Wohlfahrtsverbände zur persönlichen Daseinsfürsorge bei: Der mit der Katholischen Kirche verbundene Deutsche Caritasverband, das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche, die Arbeiterwohlfahrt, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden und das Rote Kreuz.13 Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer freiwilliger Vereinigungen, die für die persönliche Daseinsfürsorge eine Rolle spielen. Das in der Katholischen Soziallehre entwickelte Subsidiaritätsprinzip dient als Richtlinie für die Aufgabenteilung zwischen dem Einzelnen, der Familie, der freien Wohlfahrtspflege und anderer gesellschaftlicher Assoziationen und den staatlichen Körperschaften. Dieses Prinzip fordert einerseits, dass übergeordnete (größere) Gemeinschaften und der Staat keine Aufgaben übernehmen sollen, zu deren Erfüllung der Einzelne oder kleinere Gemeinschaften fähig sind; andererseits fordert es aber auch, dass übergeordnete Gemeinschaften und der Staat den Einzelnen und untergeordnete Gemeinschaften unterstützen sollen, so dass sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben befähigt werden.14 In einer Sozialen Marktwirtschaft – wie in der Bundesrepublik – werden wesentliche Teile der Produktion von Gütern und Leistungen von der privaten Wirtschaft übernommen, die sich innerhalb des vom Staat vorgegebenen Rahmens einer Wirtschaftsund Sozialordnung15 bewegen muss. Zunehmend größeres Gewicht gewinnen auch die supranationalen Vorschriften und Regulierungen der Europäischen Union. Die persönliche Daseinsfürsorge durch den Staat mit Hilfe von kostenloser oder verbilligter Bereitstellung von Sach- und Dienstleistungen beschränkt sich daher auf die materielle und immaterielle Infrastruktur (z. B. Straßen, Kanäle, Flughäfen, Flugsicherung, Wasserversorgung, Abwasserbeseitigung, Kommunikationswesen, Energieversorgung, soziale Dienstleistungen, Gesundheitswesen, Bildungswesen, kulturelle Einrichtungen, Gerichts13 14 15
Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege e.V. (2002). Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (2006), Nr. 185 ff. Vgl. Lampert (1996).
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wesen, Polizei, Verteidigung) sowie auf besonders bedeutsame Grundbedarfsgüter (z. B. Sozialwohnungen). Die Abgrenzung zwischen den von staatlichen Einrichtungen erzeugten und verbilligt oder kostenlos zur Verfügung gestellten Gütern und Dienstleistungen und den von der privaten Wirtschaft produzierten und angebotenen Güter und Dienstleistungen ist umstritten. Sie wurde in den letzten Jahrzehnten unter dem Motto der Privatisierung mehr und mehr zugunsten privater Produktion verschoben. Soweit dies geschieht, muss der Staat aber die Aufgabe der Regulierung im Sinne einer Angebots- und Qualitätssicherung und der Vermeidung von Monopolgewinnen bei dieser privaten Produktion übernehmen. In der Bundesrepublik Deutschland als föderalistisch organisierter Staat wird die persönliche Daseinsfürsorge von allen drei Staatsebenen (Bund, Länder, Kommunen) sowie von Parafisci (Sozialversicherungen) wahrgenommen. Wenn Qualität, Zugänglichkeit und Verlässlichkeit privater Produktion oder die von gemeinnützigen Organisationen angebotenen Leistungen zu angemessenen Preisen gesichert sind – dies ist Aufgabe des Verbraucherschutzes, der Wettbewerbspolitik und der staatlichen Regulierungsagenturen –, dann kann die persönliche Daseinsfürsorge auch über monetäre Transferzahlungen (Sozialleistungen) des Staates oder der Sozialversicherungen erfolgen. Dies ist – gemessen an den Ausgaben – das Hauptinstrument zur Gewährleistung persönlicher Daseinsfürsorge. Als Anknüpfungspunkte dienen die anerkannten sozialen Risiken: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall, Alter, vorzeitige Erwerbsunfähigkeit, Pflegebedürftigkeit, Behinderung, Familienlasten, Einkommenslosigkeit wegen Ausbildung, Weiterbildung oder aus anderen Gründen sowie zu hohe Belastung durch die Preise für Grundbedarfsgüter (Wohnung). Auch Kriegs- und Verbrechensschäden sind eingeschlossen. Das System der sozialen Sicherung16 besteht einerseits aus den fünf Sozialversicherungszweigen mit Versicherungspflicht für unselbständig Erwerbstätige (Rentenversicherung, Krankenversicherung, Unfallversicherung, Pflegeversicherung, Arbeitslosenversicherung) und andererseits aus Sozialleistungen, die aufgrund von staatlichen Leistungsgesetzen gewährt werden. Im Rahmen dieses Systems werden im Risikofall monetäre Transfers sowie Sach- und Dienstleistungen gewährt, sofern die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Auch einige Regelungen der Einkommensteuer, die zu Steuerermäßigungen führen, sind sozialpolitisch bedingt. Eine kleine Gruppe nicht versicherungspflichtiger Personen (ein Teil der Selbständigen und Gewerbetreibenden) muss auf freiwilliger Basis durch den Abschluss privater Versicherungen für die sozialen Risiken vorsorgen. Sozialversicherungsleistungen beruhen in der Regel auf Vorleistungen, d. h. auf vorheriger Beitragszahlung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Damit ist der Kreis der potenziellen Leistungsbezieher auf die pflichtversicherten Beitragszahler und ihre Familien beschränkt. Man spricht von kategorialen, vor allem auf unselbständig Erwerbstätige ausgerichteten Pflichtversicherungssystemen. Sie schützen nicht die gesamte Wohnsitzbevölkerung und gewährleisten damit keine umfassende (universelle) soziale Sicherheit für alle von dem jeweiligen sozialen Risiko Betroffenen. In der Konstruktion 16 Die wichtigsten Regelungen des Systems der sozialen Sicherung sind im Sozialgesetzbuch (SGB) kodifiziert. Gesamtdarstellungen finden sich bei Lampert / Althammer (2007), Bäcker et al. (2008) und Boeckh et al. (2004).
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der beitragsfinanzierten Sozialversicherungen schlägt sich das Leistungsgerechtigkeitsprinzip im Sinne einer Gleichheit von Leistung und Gegenleistung nieder, auch wenn die Sozialversicherungen mehr oder minder starke Elemente des sozialen Ausgleichs, d. h. von Umverteilung, enthalten. Weitere Sozialleistungen, die keine Sozialversicherungsleistungen sind, werden durch staatliche Leistungsgesetze festgelegt und aus Steuermitteln finanziert. Sie sind in der Regel universell, d. h. auf die gesamte Wohnbevölkerung, ausgerichtet und beruhen nicht auf Vorleistungen in Form von monetären Beiträgen, sind aber an andere Anspruchsvoraussetzungen gebunden. Eine Gruppe von Regelungen dient vor allem dem Familienlastenausgleich oder der Entschädigung für Kriegs- oder Verbrechensschäden: Kindergeld, Erziehungs- und Elterngeld, Ausbildungsförderung und Unterhaltsvorschussleistungen, Kriegsopfer- und Entschädigungsrenten. Eine zweite Gruppe von Regelungen soll der Sicherung eines sozio-kulturellen Existenzminimums oder einer Verbilligung von Grundbedarfsgütern dienen: Arbeitslosengeld II, Bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Sozialhilfe mit den beiden Zweigen der Hilfe zum Lebensunterhalt und der Hilfe in besonderen Lebenslagen, Kriegsopferfürsorge, Ausbildungsförderung und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Diese monetären Sozialleistungen werden nur gewährt, wenn das eigene Einkommen der Bedarfsgemeinschaft (in der Regel die Kernfamilie) nicht ausreicht und kein verwertbares Vermögen vorhanden ist. Das ebenfalls einkommensabhängige Wohngeld soll die Mietkosten für eine angemessene Wohnung auf einen als akzeptabel betrachteten Anteil am Einkommen reduzieren. Diese Leistungen orientieren sich am sogenannten Fürsorgeprinzip. Soziale Dienstleistungen und einige monetäre Leistungen der Kommunen und der freien Wohlfahrtsverbände (z. B. Jugendhilfe, Altenhilfe, Wiedereingliederungshilfe für Behinderte, Hilfen für Alkohol- und Drogenabhängige, Wohnungslose, Strafentlassene sowie Familien-, Schuldner-, Konflikt- und Gesundheitsberatung) tragen ebenfalls zur Gewährleistung der persönlichen Daseinsfürsorge bei. Während die Leistungen der Kommunen steuerfinanziert sind, beruht die Leistungsfinanzierung der freien Wohlfahrtspflege sowohl auf Steuermitteln und auf Zahlungen der Sozialversicherungen als auch auf Eigenmitteln aus Spenden und Vermögenserträgen. Die Ausgaben für monetäre Sozialleistungen und soziale Sach- und Dienstleistungen, für sozial begründete Steuervergünstigungen sowie für einige von den Unternehmen direkt gewährte Leistungen (z. B. die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie Betriebsrenten) werden im Sozialbudget zusammengefasst. Alle Sozialleistungen zusammen betrugen im Jahr 2006 ca. 700 Milliarden Euro; dies waren 30,3 % des Bruttoinlandsprodukts. Seit etwa 1975 bewegt sich diese Sozialleistungsquote mit Schwankungen um die Marke von 30 %.17 Nach ihrer Funktion, d. h. nach ihrem Verwendungszweck, machen die Sozialausgaben für Alter und Hinterbliebene ca. 39 %, die Ausgaben für Gesundheit ca. 34 %, die Ausgaben für Ehe und Familie ca. 14 %, die Ausgaben für Beschäftigung ca. 8 % und die übrigen Sozialausgaben ca. 4 % des Sozialbudgets aus. Die Finanzierung erfolgt zu 26,6 % aus Beiträgen der Versicherten, zu 32,9 % aus Beiträgen der Arbeitgeber, zu 38,7 % aus Steuereinnahmen und zu 1,7 % aus sonstigen Einnahmen. 17 Statistisch gesehen gibt es Unterschiede in der Abgrenzung der Sozialleistungen, so dass sich die verfügbaren Zahlen etwas unterscheiden. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2007), Tab. 7.1 – 7.6 und Tab. 9.18.
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Sozialleistungen beruhen zum Teil auf dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit und zum Teil auf dem Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit. Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit herrscht, wenn die Sozialleistung in ihrer Höhe auf vorher gezahlten Beiträgen beruht. Das Bedarfsgerechtigkeitsprinzip wird herangezogen, wenn aus Steuern finanzierte Sozialleistungen gewährt werden. Das Leistungsgerechtigkeitsprinzip wird bei Versicherungen durch das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip konkretisiert. Dieses Prinzip fordert, dass das für eine Gruppe von gleichartigen Risikoträgern ex ante erwartete Risiko, d. h. die erwarteten künftigen Durchschnittskosten pro Risikofall, durch für jeden Versicherten gleich hohe Beiträge (Prämien) abgedeckt werden. Wenn bei den beitragsfinanzierten Leistungen das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip streng eingehalten wird, dann liegt keine Umverteilung zwischen Personen vor, auch wenn – ex post betrachtet – nur jene Personen Leistungen erhalten haben, bei denen der Risikofall eingetreten ist. Ist in den Beiträgen gleichzeitig ein Sparelement enthalten, dann handelt es sich insoweit nur um eine zeitliche „Umverteilung“ des Konsums bei derselben Person in ihrem Lebenslauf. Dies ist der typische Fall bei einer beitragsfinanzierten Pflichtalterssicherung, die streng nach dem versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip konstruiert ist. Umverteilung zwischen Personen kann konstatiert werden, wenn das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip nicht streng eingehalten wird, d. h. wenn bereits ex ante Abweichungen von diesem Prinzip vorliegen. Sozialversicherungen sind nicht streng nach dem versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip konstruiert. Bei ihnen findet auch eine Umverteilung im Sinne eines sozialen Ausgleichs statt, d. h. dass neben dem versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip auch andere Aspekte, insbesondere die Gleichstellung von Mann und Frau sowie das Bedarfsprinzip, die institutionellen Regelungen mit bestimmen. Besonders stark umverteilend sind in Deutschland die Gesetzliche Krankenversicherung und die Gesetzliche Pflegeversicherung, da den als Prozentsatz des Lohneinkommens berechneten und daher unterschiedlich hohen Beiträgen ex ante gleich hohe Leistungen im Risikofall gegenüberstehen. Außerdem sind Familienmitglieder ohne eigenes Einkommen beitragsfrei mitversichert. Damit liegt sowohl eine vertikale Umverteilung von oben nach unten als auch eine horizontale Umverteilung innerhalb gleicher Einkommensgruppen von Alleinstehenden und Zwei-Verdiener-Haushalten ohne Kinder zu Alleinerziehenden und Ein-Verdiener-Paaren ohne Kinder und mit Kindern vor. Die genaue Höhe der Umverteilung in den Sozialversicherungen ist aber schwer zu ermitteln, auch weil diese Parafisci nicht universell organisiert sind. Da man unterstellen kann, dass in der Bundesrepublik ein leicht progressives Steuersystem besteht, bei dem entsprechend dem Prinzip einer Besteuerung nach der steuerlichen Leistungsfähigkeit die Bezieher höherer Einkommen einen größeren Anteil ihres Einkommens zum Steueraufkommen beitragen als die Bezieher niedrigerer Einkommen, wird gefordert, Umverteilungselemente ausschließlich aus Steuermitteln zu finanzieren. Dieser Forderung ist man seit einigen Jahren bei der Gesetzlichen Rentenversicherung weitgehend nachgekommen; hier beträgt der Anteil der Steuerfinanzierung etwa ein Viertel der Ausgaben. Eine ähnliche Forderung wird auch für die Gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung erhoben. Die soziale Sicherung bei Krankheit, vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit, Pflegebedürftigkeit und im Alter wird in zwei anderen Beiträgen im Einzelnen behandelt, so dass hier nicht weiter darauf eingegangen wird.
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Da Sozialleistungen, die auf staatlichen Leistungsgesetzen beruhen, immer steuerfinanziert sind, sind sie mit Umverteilung verbunden, die entweder vertikal verläuft oder bestimmte Gruppen begünstigt, deren Bedarf gedeckt werden soll. Auch bei der Finanzierung aus Steuermitteln liegt in der Regel aber eine gleichzeitige Finanzierungsbeteiligung der Leistungsempfänger vor, da sie ebenfalls Steuern zahlen (Mehrwertsteuer, Verbrauchsteuern, gegebenenfalls Lohn- und Einkommensteuer). Diese Steuerzahlung wird aber nicht – wie Sozialversicherungsbeiträge – den Zahlern zugeordnet; vielmehr fließen alle Steuereinnahmen nach dem Non-Affektationsprinzip in einen „Topf“, den Staatshaushalt, aus dem Leistungen finanziert werden. Betrachtet man lediglich die empfangenen Sozialleistungen, so erscheinen sie in ihrer vollen Höhe als Brutto-Umverteilung. Zieht man allerdings die gleichzeitig geleisteten Steuerzahlungen der Empfänger ab, so erhält man eine Netto-Umverteilung, die wesentlich niedriger liegt als die Brutto-Umverteilung. Auch diese mit staatlichen Leistungsgesetzen verbundene Netto-Umverteilung kann nur sehr schwer quantitativ ermittelt werden. Das Sozialbudget erfasst lediglich die Summen aller Sozialleistungen, ohne den Unterschied zwischen den durch Beiträge erworbenen Ansprüchen und den reinen Umverteilungsleistungen zu berücksichtigen. Eine Zuordnung der Netto-Umverteilung zu einzelnen Einkommensschichten, die zur Gestaltung einer an den genannten Prinzipien ausgerichteten Umverteilungspolitik erforderlich wäre, ist eine bisher offene Forschungsfrage. Sowohl beitragsfinanzierte als auch steuerfinanzierte monetäre Sozialleistungen und soziale Sach- und Dienstleistungen werden nach dem sogenannten Umlageverfahren finanziert. Dies bedeutet, dass die in einer Periode erhobenen Beiträge und Steuern in derselben Periode zur Finanzierung der laufenden Leistungen verwendet werden. Eine Akkumulation der Beiträge für später zu erbringende Leistungen (Kapitaldeckungsverfahren) findet in den Sozialversicherungen und auch beim Staat nicht statt. Gesamtwirtschaftlich bedeutet dies, dass aus dem laufenden Volkseinkommen, das den Arbeitnehmern, den Selbständigen und den Kapitalbesitzern zufließt, durch Besteuerung und Erhebung von Pflichtbeiträgen ein Teil zur Finanzierung der Sozialleistungen abgezweigt wird. Nimmt man die Steuerbelastung hinzu, die zur Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben erforderlich ist, und bezieht man diese Summe auf das Bruttoinlandsprodukt, dann erhält man die sogenannte Gesamtabgabenquote. Diese lag im Jahr 2005 mit 34,7 % unter dem Durchschnitt der 15 EU-Länder von 39,7 %.18 Ist schon die Verteilung zwischen Generationen nur schwer normativ zu fassen und quantitativ zu belegen, so gilt dies erst recht für die Umverteilung zwischen Generationen; denn dies setzt die normative Festlegung dessen voraus, was als „gerechte“ Verteilung zwischen Generationen zu gelten hat. Bei der Erläuterung des Ziels der Sozialen Gerechtigkeit wurde festgehalten, dass es dabei sowohl um eine angemessene Verteilung des Wohlstandes einer Gesellschaft zwischen den gleichzeitig lebenden Mitgliedern verschiedener Generationen (junge, mittlere und alte Generation) als auch um das Generationenerbe, das eine Generation der nächsten hinterlässt, geht. Eine angemessene Verteilung zwischen den gleichzeitig lebenden Mitgliedern verschiedener Generationen kann man dann als gegeben ansehen, wenn die Eltern mit Kindern im Durchschnitt nicht wesentlich schlechter gestellt sind als die Mitglieder der mittleren Generation ohne Kinder und als die Mitglieder der alten Generation. Da sich eine derartige angemessene Verteilung zwischen den Mitgliedern verschiedener Generationen nicht im Marktprozess ein18
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2006), Tab. 9.17.
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stellt, ist Umverteilung im oben genannten Sinn erforderlich. Dies lässt sich mit den Prinzipien der Startchancengleichheit und der Bedarfsgerechtigkeit begründen. In Deutschland ist seit Mitte der 80er-Jahre diese Balance nicht mehr gewahrt; denn Eltern mit mehr als zwei Kindern und Alleinerziehende liegen als Gruppe weit unter dem Durchschnitt und ihre Armutsquoten sind weit überdurchschnittlich. 19 Für die Verteilung zwischen aufeinander folgende Generationen denkt man zunächst einmal an die Alterssicherung und an den ihr zugrunde liegenden Zwei-Generationen-Vertrag. Danach sollen die Rentenansprüche der alten Generation aus den künftigen Beiträgen der mittleren und jungen Generation erfüllt werden. Bei schrumpfender Bevölkerung muss dabei ein wachsender Altenanteil von einem schrumpfenden Anteil der erwerbsfähigen Generation durch steigende Beiträge alimentiert werden. Dies ist zwar zutreffend, stellt aber nur einen Ausschnitt des Problems dar. Seit Urzeiten muss in jeder Familie die mittlere Generation die Kinder und die alten Familienmitglieder unterhalten. Es handelt sich also nicht um einen Zwei-Generationen-, sondern um einen fiktiven Drei-Generationen-Vertrag.20 Dieser Vertrag, der symbolisch die Beziehungen zwischen den Generationen regelt, bezieht sich auch auf die der jungen Generation zugeflossenen Unterhaltsmittel und auf das von der alten Generation bei ihrem Tod der mittleren Generation hinterlassene Generationenerbe. Dieses Generationenerbe umfasst das private Sach- und Geldvermögen (einschließlich der Staatsanleihen), einen Anteil am staatlichen Infrastrukturvermögen und an den Staatsschulden, das bei der mittleren Generation früher gebildete, von deren Eltern direkt oder indirekt finanzierte Humanvermögen, das Umweltvermögen sowie das sogenannte Sozialkapital, das in einem geordneten demokratischen Staatswesen, einem System der sozialen Sicherung und in vielfältigen privaten Netzwerken und solidarischen Sozialbeziehungen besteht.21 Dieses gesamte Generationenerbe sollte beim Erbübergang wesentlich höher sein als das früher selbst empfangene Erbe; aber eine genauere Richtlinie lässt sich nicht angeben.
IV. Armut als extremes Defizit an persönlicher Daseinsfürsorge Die Katholische Soziallehre ist als Antwort auf die „soziale Frage“ zu sehen, d. h. auf die Verelendung großer Bevölkerungsteile, die im 19. Jahrhundert im Gefolge des sich ausbreitenden Kapitalismus entstand. Sie sieht ihre Aufgabe nicht nur in der Aufstellung von Beurteilungskriterien, sondern auch in der Anklage ungerechter Zustände. „Mit dieser Anklage macht sie sich zum Richter und Anwalt der missachteten und verletzten Rechte, insbesondere der Rechte der Armen, der Kleinen und der Schwachen.“22 Armut ist in hoch entwickelten Gesellschaften auch im 21. Jahrhundert immer noch ein Problem, sogar ein zunehmendes Problem.23 Diese Feststellung hängt allerdings davon ab, was man als Armut bezeichnet. Personen, die nicht einmal über das zum Überleben Notwendige an Grundbedarfsgütern, wie Nahrung, Kleidung, warmes Obdach Becker / Hauser (2003), Tab. 7.3a, S. 152 f. Vgl. Schreiber (1971), Theurl (2001). 21 Für eine Abschätzung des Generationenerbes vgl. Becker / Hauser (2004), Abschn. 3.5. 22 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (2006), Nr. 81. 23 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (1997), Abschnitte 2.2.1 und 2.2.2 sowie Huster (1996). 19 20
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und elementare Gesundheitsversorgung, verfügen, bezeichnet man als absolut arm. Sie leben noch unter dem absoluten Existenzminimum – ein Leben, das auf längere Sicht zum vorzeitigen Tod durch Verhungern, durch Erfrieren oder durch leicht heilbare Krankheit führt. Absolute Armut kommt in hoch entwickelten Ländern nur noch selten vor; aber die wachsende Zahl von Obdachlosen ist ein besorgniserregendes Indiz. Absolute Armut in Form von Hunger, Wassermangel und fehlender Gesundheitsversorgung ist allerdings weiterhin ein großes Weltproblem, das besonders in Entwicklungsländern auftritt. Personen, die nur über so geringe Mittel verfügen, dass sie den in einem Land als Minimum anerkannten Lebensstandard nicht erreichen, bezeichnet man als relativ arm. Sie müssen unterhalb des in einem Land akzeptierten sozio-kulturellen Existenzminimums leben. Sie sind daher von sozialer Ausschließung bedroht oder sie sind bereits an den gesellschaftlichen Rand gedrängt, d. h. marginalisiert, auch wenn sie keinen baldigen Tod fürchten müssen.24 Ihre Verwirklichungschancen sind extrem eingeschränkt. Ist diese Situation bei einem größeren Bevölkerungsanteil dauerhaft gegeben, dann entsteht eine Unterschicht, die keine Aussicht auf Besserung ihrer Lebenslage und der ihrer Kinder hat. Relative Armut hängt daher von dem in einer Gesellschaft erreichten durchschnittlichen Lebensstandard ab. Die Armutsgrenze, d. h. das sozio-kulturelle Existenzminimum, liegt aber weit unter diesem Durchschnitt. Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten, Armut zu messen, d. h. arme Personen zu identifizieren. Erstens eine Messung anhand der Lebenslage von Personen (Lebenslagendefinition) und zweitens eine Messung mit Hilfe des für den Kauf von Gütern und Dienstleistungen verfügbaren Einkommens (Ressourcendefinition). Da es letztlich um die Lebenslage von Personen geht, wäre deren Messung die bessere Möglichkeit. Die Lebenslage wird bedingt durch den Ernährungszustand, die verfügbare Bekleidung, die Wohnung, Wohnungsausstattung und Wohnumwelt, die Verfügbarkeit eines Arbeitsplatzes, den Gesundheitszustand und den Zugang zu Krankenhilfeeinrichtungen, den Bildungsstand und den Zugang zu Bildungseinrichtungen, die Verkehrsund Kommunikationsmöglichkeiten, die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen und politischen Partizipation, den Schutz vor Kriminalität und den Rechtsschutz. Für alle diese Dimensionen gibt es statistisch feststellbare soziale Indikatoren. Das Problem liegt in der Festsetzung von Mindeststandards und in der Kombination der Ergebnisse für verschiedene Dimensionen der Lebenslage; denn es ist auch festzulegen, inwieweit das Unterschreiten des Mindeststandards in einer Dimension durch ein Überschreiten in einer anderen Dimension kompensiert werden kann. Da es Unterschiede in den persönlichen Präferenzen gibt, die sich in einer unterschiedlichen Aufteilung des Einkommens auf die verschiedenen Dimensionen äußern, kann das Verfehlen eines Mindeststandards eine freiwillige Entscheidung zu Gunsten einer anderen Dimension der Lebenslage sein und muss daher nicht unbedingt ein Indiz für eine Armutslage sein. Dieses Problem verschwindet, wenn man eine relative Armutsgrenze in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des Durchschnittseinkommens festlegt, das einer Person zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse durch Güterkäufe am Markt zur Verfügung stehen soll. Kann in einer Gesellschaft vorausgesetzt werden, dass soziale Risiken durch ein univer24 Zacher (2001), S. 382 ff. erläutert die Bedeutung von Einschluss und Teilhabe (Inklusion) sowie Ausschluss (Exklusion) für die Daseinsfürsorge.
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selles System der sozialen Sicherung abgedeckt werden, dass der Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen frei ist und dass ausreichender Rechtsschutz und Schutz vor Kriminalität bestehen, dann ist eine Ressourcendefinition als Orientierungsmarke für die Sozialpolitik ausreichend (Einkommensarmutsgrenze). Bei der konkreten Betreuung von Einzelfällen muss aber auf alle Dimensionen der Lebenslage geachtet werden. Für erwerbsfähige Personen erhebt sich bei beiden Definitionen von Armut die Frage, inwieweit ihnen der Einkommenserwerb durch Arbeit zugemutet werden soll. Dies bezieht sich sowohl auf die Art der Tätigkeit und die monatliche Arbeitszeit als auch auf den Stundenlohn. Anhänger eines unbedingten Grundeinkommens in Höhe des soziokulturellen Existenzminimums „von der Wiege bis zur Bahre“ muten auch erwerbsfähigen Personen keine Arbeitsleistung zu. Das andere Extrem bilden Vertreter einer Arbeitspflicht, die eine Vollzeitbeschäftigung mit jeglicher Tätigkeit auch für sehr geringe Stundenlöhne als zumutbar ansehen und bei Verweigerung Sanktionen fordern, die bis hin zu völliger Streichung von Unterstützungszahlungen reichen. Allerdings ist ein staatlicher Arbeitszwang in Deutschland grundgesetzlich verboten (Art. 12 Abs. 2 GG). Auch wäre es grundgesetzwidrig, nicht-arbeitswilligen Menschen das absolute Existenzminimum zu verweigern; dies folgt aus der Staatsaufgabe, die Würde des Menschen zu wahren (Art. 1 GG). Die Katholische Soziallehre fordert einerseits ein Recht auf Arbeit und tritt für eine Lohnhöhe ein, die es dem Arbeitenden erlaubt, zusammen mit staatlichen Sozialleistungen eine Familie zu ernähren (Familienlohn). Andererseits betont sie aber auch die Pflicht, durch Arbeit für den Lebensunterhalt zu sorgen und zum Gemeinwohl beizutragen. Gleichzeitig fordert sie eine auf Vollbeschäftigung zielende Wirtschaftspolitik, so dass genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen.25 Diese Trias von Forderungen folgt aus dem Subsidiaritätsprinzip. Die Festlegung von Mindeststandards bei einer Lebenslagendefinition oder einer Einkommensarmutsgrenze bei einer Ressourcendefinition der Armut kann durch Experten oder durch Umfragen geschehen. Für staatliche Sozialleistungen zur Bekämpfung von Einkommensarmut (z. B. Sozialhilfe, Arbeitslosengeld II, Bedarfsorientierte Grundsicherung für Alte und dauerhaft Erwerbsunfähige) legen die politischen Entscheidungsträger die Grenze fest. Damit definieren sie auch die Höhe des aus ihrer Sicht angemessenen sozio-kulturellen Existenzminimums.26 Armutslagen sind umso bedrückender für die Betroffenen, je länger sie dauern. Dies gilt nicht nur für Erwachsene, sondern auch für die in armen Haushalten aufwachsenden Kinder. Lang anhaltende oder gar dauerhafte Armut wirkt sich negativ auf die Sozialisation der Kinder, auf ihren Gesundheitszustand, auf ihre Bildungsmöglichkeiten und auf 25 Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (2006), Nr. 250, Nr. 264, Nr. 270 ff., Nr. 287 ff. 26 Im Rahmen ihrer „offenen Methode der Koordinierung“ hat die Europäische Union eine Armutsrisikogrenze festgelegt, die von alle Mitgliedsländern bei ihren Berichten über die Nationalen Aktionspläne zur sozialen Eingliederung verwendet werden muss. Diese Grenze liegt bei 60 % des Medians des äquivalenzgewichteten Nettoeinkommens. Das äquivalenzgewichtete Nettoeinkommen einer Person wird durch Division des Haushaltsnettoeinkommens durch die Summe der Äquivalenzgewichte der Haushaltsmitglieder ermittelt. Dabei erhält die erste Person ein Gewicht von 1,0, weitere Personen über 14 Jahren Gewichte von 0,5 und jüngere Kinder Gewichte von 0,3. Werden alle Personen nach der Höhe ihres Nettoäquivalenzeinkommens in eine Rangfolge gebracht, dann ergibt sich der Median als das Einkommen der mittleren Person. Der Median teilt also die Bevölkerung in zwei Hälften.
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ihre späteren Verwirklichungschancen aus. Es kann sogar zu einer „Vererbung“ von Armut kommen. Einkommensarmut kommt in einem Sozialstaat zustande, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens ein zu geringes Markteinkommen des Haushalts und zweitens keine ausreichenden Sozialleistungen, um das sozio-kulturelle Existenzminimum zu erreichen oder gar zu überschreiten. Auf dieser untersten Ebene werden alle Mängel der Marktwirtschaft, insbesondere eine lange anhaltende Arbeitslosigkeit, und alle Lücken des Systems der sozialen Sicherung sichtbar.27 Als unterstes Auffangnetz dienen in Deutschland die Sozialhilfe, das Arbeitslosengeld II28 und die Bedarfsorientierte Grundsicherung für Alte und dauerhaft Erwerbsunfähige, die praktisch flächendeckend sind.29 Inwieweit die Höhe dieser drei jeweils für eine bestimmte Gruppe zuständigen Sozialleistungen ausreichend ist, um ein sozio-kulturelles Existenzminimum zu gewährleisten, ist eine umstrittene Frage.30 Die freien Wohlfahrtsverbände fordern eine deutliche Anhebung des Leistungsniveaus, weil die Anpassungen im Zeitablauf hinter der Entwicklung der Durchschnittseinkommen zurückgeblieben sind. Trotz dieser in ihrer Kombination universellen Mindestsicherungsregelungen gibt es viele Personen, die diese ihnen zustehenden Sozialleistungen aus verschiedenen Gründen nicht in Anspruch nehmen; sie haben falsche Informationen, sie schämen sich der Inanspruchnahme dieses untersten Auffangnetzes, sie wollen geringe Ersparnisse nicht verbrauchen oder sie fürchten eine Rückzahlungsverpflichtung, die Angehörigen auferlegt wird. Diese Personen leben noch unterhalb des staatlich definierten soziokulturellen Existenzminimums; sie befinden sich in verdeckter Armut. Man spricht auch von Dunkelziffer der Armut.31 Eigentlich sollte ein Sozialstaat dieser Nicht-Inanspruchnahme durch breite Aufklärung begegnen, aber die bei Erfolg zu erwartenden höheren Ausgaben für eine Mindestsicherung halten offenbar die zuständigen staatlichen Stellen davon ab. Diese Nicht-Inanspruchnahme von bedarfsorientierten Sozialleistungen, bei denen eigenes Einkommen und Vermögen angerechnet wird und erwerbsfähige Personen jede angebotene Arbeit annehmen müssen, ist ein auch aus anderen hoch entwickelten Ländern bekanntes Phänomen. Abschließend soll noch durch einige Zahlenangaben das Ausmaß der relativen Einkommensarmut in Deutschland verdeutlicht werden: Akzeptiert man die von den politischen Instanzen festgelegte Höhe der Mindestsicherungsleistungen als ausreichend 27 Jene Haushalte in denen mindestens ein Haushaltsmitglied in Vollzeit tätig ist, ohne dass der Haushalt das sozio-kulturelle Existenzminimum erreicht, werden als „Arme trotz Erwerbstätigkeit“ (working poor) bezeichnet. Vgl. Strengmann-Kuhn (2003). 28 Entgegen der Namensgebung haben auch erwerbstätige Personen Anspruch auf Arbeitslosengeld II, wenn ihr Arbeitseinkommen nicht ausreicht, für sich und die Familienmitglieder das soziokulturelle Existenzminimum zu erreichen. Sie erhalten dann eine aufstockende Leistung. 29 Für kleine Gruppen, die von den genannten Leistungsgesetzen ausgeschlossen sind, kommen noch die Ausbildungsförderung, die Kriegsopferfürsorge sowie das Asylbewerberleistungsgesetz hinzu. 30 Für einen Alleinstehenden umfassen diese Leistungen im Jahr 2008 einen Regelsatz von 347 Euro sowie die Übernahme der Kosten für eine Wohnung angemessener Größe und die Heizkosten. Auch bei größeren Haushalten werden die Wohn- und Heizkosten voll übernommen; zusätzlich erhalten weitere Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Leistungen in einer Höhe zwischen 60 % und 80 % des Regelsatzes. 31 Vgl. Becker / Hauser (2005).
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hohes sozio-kulturelles Existenzminimum, dann sind die Empfänger dieser Leistungen nicht mehr relativ arm. Trotzdem ist es von großer Bedeutung, den Umfang jenes Bevölkerungsteils zu kennen, der auf diesem äußerst bescheidenen Niveau existieren muss. Zählt man die am Ende des Jahr 2006 bzw. 2005 vorhandene Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld II einschließlich Sozialgeld (ca. 7.283.000), von Sozialhilfe (nur Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen) (ca. 81.000) und von Bedarfsorientierter Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (ca. 630.000) zusammen, so sind dies etwa acht Millionen Personen oder 9,7 % der gesamten Wohnsitzbevölkerung. Die Bezieher von Kriegsopferfürsorge (ca. 85.000), von Zahlungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (ca. 250.000) machen zusammen nochmals etwa 0,4 % der Bevölkerung aus. Hinzu kommt noch eine Dunkelziffer, die für das Jahr 2005 wegen der Einführung des Arbeitslosengeldes II noch nicht genau bestimmt werden kann. Für das Jahr 2003 wurde geschätzt, dass auf zwei Sozialhilfeempfänger mindestens eine weitere Person entfällt, die ihren Anspruch nicht geltend macht. Dies waren etwa 1,4 Millionen Personen oder 1,76 % der Bevölkerung.32 Auch nach dem (niedrigen) offiziellen Standard sind diese Personen auf jeden Fall einkommensarm. Zieht man die EU-Armutsrisikogrenze zur Berechnung des armen bzw. von Armut bedrohten Bevölkerungsteils heran, so ergeben sich noch höhere Zahlen. Im Jahr 1998 war dies auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes in Gesamtdeutschland ein Bevölkerungsanteil von 12,1 %, der bis 2003 auf 13,5 % weiter anstieg.33 Auf Basis des Sozio-ökonomischen Panels ergibt sich für das Jahr 2005 sogar eine Armutsrisikoquote von 17 %. Auf jeden Fall kann man seit dem Jahr 2000 einen starken Anstieg konstatieren. Besonders problematisch ist, dass manche Gruppen ein weit überdurchschnittliches Armutsrisiko aufweisen. Von den Alleinerziehenden unterliegen etwa 35 % dem Armutsrisiko. Gliedert man die Bevölkerung nach dem Lebensalter, so sind Kinder und Heranwachsende weit überdurchschnittlich betroffen. Kinderarmut entwickelt sich seit Mitte der 1980er Jahre zu einem besonders gravierenden Problem, das auf lange Sicht vielfältige negative Auswirkungen haben wird.34 Literaturverzeichnis Bäcker, Gerhard / Bispinck, Reinhard / Hofemann, Klaus / Naegele, Gerd: Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2 Bd., 4. Aufl., Wiesbaden 2008. Becker, Irene / Hauser, Richard: Anatomie der Einkommensverteilung. Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichproben 1969 – 1998, Berlin 2003. – Soziale Gerechtigkeit – eine Standortbestimmung. Zieldimensionen und empirische Befunde, Berlin 2004. – Dunkelziffer der Armut. Ausmaß und Ursachen der Nicht-Inanspruchnahme zustehender Sozialhilfeleistungen, Berlin 2005. Boeckh, Jürgen / Huster, Ernst-Ulrich / Benz, Benjamin: Sozialpolitik in Deutschland. Eine systematische Einführung, Wiesbaden 2004. 32 Vgl. Becker / Hauser (2005), S. 126 f. sowie Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2006), Tab. 8.14. 33 Bundesregierung (2005), Tab. I.2 und I.3. 34 Vgl. Butterwegge / Klundt (2002).
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Soziale Sicherung im Alter Von Martin Werding I. Begriffe 1. Alterssicherung
Maßnahmen zur Alterssicherung erschließen spezielle Einkommensquellen für ein fortgeschrittenes Lebensalter. Sie sind vor allem erforderlich für Personen, die ihren Lebensunterhalt in der mittleren Lebensphase überwiegend aus Erwerbseinkommen bestreiten, und gewährleisten diesen materielle Sicherheit in der anschließenden Phase, in der sie nicht mehr voll erwerbstätig sein können, weil ihre Erwerbsfähigkeit nachlässt, oder in den Ruhestand treten wollen. Zur Alterssicherung geeignete Instrumente erfüllen dabei zwei grundlegende Funktionen: Erstens müssen sie einen Einkommenstransfer von der Erwerbs- in die Nach-Erwerbsphase erlauben. Zweitens sollten sie eine Versicherung für die finanziellen Risiken bieten, die daraus resultieren, dass die individuelle Lebenserwartung und die Dauer der Nach-Erwerbsphase vorab unbekannt sind. Eine Alterssicherung mit diesen beiden Funktionen kann auf nahe Angehörige, vor allem Ehepartner und Kinder, ausgedehnt werden, die von einer Erwerbsperson wirtschaftlich abhängig sind und nach deren Tod unversorgt wären (Hinterbliebenensicherung). Für Personen, die ihren Lebensunterhalt zeitlebens vorrangig aus anderen Einkommensquellen bestreiten (Finanzvermögen, Unternehmertätigkeit, Immobilienbesitz), ist zumindest eine Versicherung gegen das Lebenserwartungs-Risiko von Bedeutung. Bei Personen, die phasenweise oder lebenslang kein ausreichendes Einkommen zur eigenständigen Existenzsicherung erzielen, können für eine angemessene Alterssicherung ergänzend umverteilende Einkommenstransfers erforderlich sein. Diese Feststellungen zum Bedarf an Alterssicherung und ihren Funktionen bleiben vom wirtschaftlichen und sozialen Wandel von der vor-industriellen bis zu einer „postindustriellen“ Gesellschaft sowie von der parallel dazu eingetretenen, weiteren Verbreitung von Vermögensbesitz im Kern völlig unberührt. Sie gelten auch unter Berücksichtigung des Aufkommens neuer Formen der Erwerbsarbeit in jüngerer Zeit, die die Unterscheidung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Erwerbstätigkeit erschweren und weit weniger kontinuierliche Erwerbsbiographien erzeugen als in der Vergangenheit. Sie behalten ihre Gültigkeit auch angesichts neuer, häufig weniger stabiler Formen von Partnerschaften und einer sich ändernden Rollenverteilung der Partner bezüglich der Ausübung von Erwerbsarbeit und Arbeit im eigenen Haushalt. Zu prüfen ist allerdings, ob und inwiefern die Ausgestaltung bestehender AlterssicherungsSysteme an solche veränderten Rahmenbedingungen anzupassen ist.
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Martin Werding 2. Private und soziale Alterssicherung
Generell lassen sich Institutionen der privaten Alterssicherung einerseits und der staatlichen oder sozialen Alterssicherung andererseits unterscheiden. Private Alterssicherungen, die über die reine Vermögensbildung hinaus eine Absicherung des Lebenserwartungs-Risikos umfassen, werden heute üblicherweise durch kapitalbildende Lebensversicherungen mit anschließender Verrentung (d. h. Auflösung des angesammelten Kapitalbestandes, inklusive der darin enthaltenen Zinsen und Zinseszinsen, durch regelmäßige, auf Lebenszeit des Empfängers bemessene Zahlungen) bewerkstelligt. Eine ähnliche Rolle kann selbstgenutztes Wohneigentum übernehmen (dessen Restwert im Todesfall vererbt werden kann). Eine wichtige Form privater Alterssicherung stellen außerdem Arrangements zur betrieblichen Altersversorgung durch Arbeitgeber oder unter ihrer finanziellen Beteiligung dar. Auch traditionelle Formen einer finanziellen Absicherung Älterer im Kreis der eigenen Familie oder auf dem Wege mildtätiger Unterstützung durch Dritte können als private Alterssicherung angesehen werden. In den meisten entwickelten Volkswirtschaften haben sie zur Gegenwart hin aber stark an Bedeutung eingebüßt. Obwohl die meisten Formen der privaten Alterssicherung heute in nennenswertem Maße staatlicher Regulierung unterliegen, sind sie hinsichtlich des abgesicherten Personenkreises und ihres Umfangs wesentlich Sache freiwilliger Entscheidungen. Soziale Alterssicherungen basieren im Unterschied dazu auf staatlichen Zwangsvorschriften, die mindestens die Mitgliedschaft betreffen und für Personen mit vollständiger Erwerbsbiographie in der Regel zugleich ein angestrebtes (Mindest-)Sicherungsniveau definieren. In ihrer Mehrzahl stehen Einrichtungen der sozialen Alterssicherung unmittelbar in öffentlicher Trägerschaft, gelegentlich als Teil des allgemeinen Staatshaushalts, häufiger als separate Körperschaften unter staatlicher (Mit-)Verwaltung. Soziale Alterssicherungen erfassen zumeist den überwiegenden Teil der Erwerbspersonen eines Landes, unter Umständen in Gestalt mehrgliedriger Systeme für verschiedene Gruppen (z. B. Angestellte und Arbeiter, Beamte usw.), und sichern üblicherweise mittelbar auch deren Ehepartner und Kinder ab. Seltener sind sie als universelle Systeme für alle Erwerbspersonen (vor allem einschließlich aller Selbständigen) oder die gesamte Bevölkerung angelegt. 3. Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren
Eine wichtige Unterscheidung, die nicht ganz deckungsgleich mit der zwischen privater und sozialer Alterssicherung ist, bezieht sich auf das zugrunde liegende Finanzierungsverfahren. Grundsätzlich gibt es zwei Wege, ein Alterssicherungs-System zu finanzieren, das auf die Sicherung eines größeren Personenkreises angelegt ist: das Kapitaldeckungs- und das Umlageverfahren. Im Rahmen kapitalgedeckter Alterssicherungen werden die laufenden Leistungen aus einem Kapitalstock finanziert, den in der Regel die Empfänger selbst zuvor durch Ersparnisse (Prämien, Beiträge o. ä.) und deren Verzinsung gebildet haben. Im Falle einer reinen Kapitaldeckung muss der angesammelte Kapitalstock – zumindest im Aggregat – zu jedem Zeitpunkt exakt dem nach versicherungsmathematischen Grundsätzen zu bestimmenden Gegenwert aller bereits unwiderruflich erworbenen Ansprüche auf zukünftige Leistungen entsprechen. Bei einer privaten Alterssicherung mit Kapital-
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deckung sorgt Konkurrenz zwischen verschiedenen Anbietern überdies dafür, dass auch das für jedes einzelne Mitglied gebildete Deckungskapital mit dem erwarteten Wert aller von ihm zu beanspruchenden Leistungen übereinstimmt. Im Gegensatz dazu wird im Rahmen rein umlagefinanzierter Alterssicherungen kein Kapitalbestand aufgebaut. Stattdessen werden die Leistungen zu jedem Zeitpunkt unmittelbar aus laufenden Einnahmen (Beiträgen, Steuern o. ä.) gedeckt. Bereits erworbene Ansprüche auf ausstehende Leistungen solcher Systeme stellen daher einen versteckten Schuldenbestand dar, der durch zukünftige Einzahler abgelöst und letztlich immer weiter in die Zukunft gewälzt wird. Ferner entspricht die effektive Verzinsung von Einzahlungen in umlagefinanzierten Alterssicherungen der Wachstumsrate ihrer Finanzierungsgrundlage (z. B. der Lohnsumme oder des Volkseinkommens).1 Durch Erhöhung der darauf erhobenen Abgaben (Beitragssätze o. ä.) kann diese Rendite temporär erhöht werden, eine solche Politik lässt sich jedoch nicht immer weiter fortsetzen. Ferner fällt diese Wachstumsrate über längere Zeiträume typischerweise kleiner aus als der Kapitalmarktzins, der – mit Abschlägen für die Versicherung des LebenserwartungsRisikos – die Verzinsung von Einzahlungen in kapitalgedeckte Systeme bestimmt. Wenn Individuen die Wahl zwischen Alterssicherungen beiderlei Typs haben, entscheiden sie sich daher nicht ohne weiteres freiwillig für eine Mitgliedschaft in einem Umlagesystem. Ob solche Systeme außerdem Kapitalbildung und Wachstumsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft beeinträchtigen, ist in der Fachliteratur umstritten. Trotzdem weist das Umlageverfahren gegenüber dem Kapitaldeckungsverfahren auch einige Eigenschaften auf, die die Einführung umlagefinanzierter Alterssicherungen aus gesellschaftlicher Sicht als vorteilhaft erscheinen lassen können. Sieht man von traditionellen Formen der Alterssicherung innerhalb des Kreises einer Familie oder einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe ab, in der engere Bindungen gelten als in größeren gesellschaftlichen Einheiten, folgt aus den hier angestellten Überlegungen, dass eine private Alterssicherung nur im Kapitaldeckungsverfahren finanziert werden kann. Umgekehrt kann eine im Umlageverfahren finanzierte Alterssicherung seriöserweise nur als soziale Alterssicherung organisiert werden, da den dauerhaften Fortbestand solcher Systeme nur ein Träger gewährleisten kann, der über Zwangsbefugnisse hinsichtlich der Definition von Mitgliedschafts- und Beitragspflichten verfügt. Möglich ist daneben noch die Variante einer kapitalgedeckten sozialen Alterssicherung, die in der Realität jedoch nirgends in Reinform anzutreffen ist. Im Kern sind die sozialen Alterssicherungen entwickelter Volkswirtschaften praktisch ausnahmslos umlagefinanziert und halten ergänzend nur geringe Liquiditäts- oder Schwankungsreserven im Gegenwert der Ausgaben weniger Monate. Allerdings gibt es derzeit einen Trend zu solchen Reserven – teilweise bis zum Gegenwert der Ausgaben mehrerer Jahre –, um absehbare, zukünftige Finanzierungsengpässe zu überwinden.
II. Gründe für die Errichtung einer sozialen Alterssicherung Aus normativer Sicht ist die Grenzziehung zwischen den Domänen privater und sozialer Alterssicherung eine Frage der Rolle von Eigenverantwortung versus subsidiärer staatlicher (Mit-)Verantwortung im speziellen Kontext der Altersvorsorge. Nur soweit 1
Siehe Aaron (1966).
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dabei hinsichtlich des erfassten Personenkreises und / oder der Gewährleistung eines ausreichenden Sicherungsniveaus der Bereich autonom zu bewältigender Aufgaben der Individuen und kleinerer gesellschaftlicher Assoziationsformen – etwa der Familie oder der Versichertengemeinschaft einer privaten Alterssicherung – überschritten wird, ergeben sich nach den Maßstäben der Katholischen Soziallehre Gründe, Institutionen der sozialen Alterssicherung zu errichten. Diese Sicht stimmt ganz mit der Theorie der Staatsaufgaben der zeitgenössischen Volkswirtschaftslehre überein.2 Gründe, aus denen eine soziale Alterssicherung für einen bestimmten Personenkreis – vor allem für Erwerbspersonen und ihre Angehörigen – mit mehr oder weniger fest definiertem (Mindest-)Sicherungsniveau in entwickelten Volkswirtschaften sinnvoll sein kann, sind (1.) die Vermeidung von Altersarmut sowie von „Trittbrettfahrer-Verhalten“ im Zusammenhang mit Transfers zur Armutsvermeidung, (2.) fehlende Voraussicht der Betroffenen, (3.) anderweitig nicht realisierbare Möglichkeiten zur intergenerationellen Risikostreuung sowie (4.) die Stabilisierung grundlegender Austauschbeziehungen zwischen einander nachfolgenden Generationen.
1. Mindestsicherung im Alter und „Trittbrettfahrer-Verhalten“
Die Errichtung einer sozialen Alterssicherung kann zunächst rein verteilungspolitisch begründet werden mit dem Ziel, Altersarmut – vor allem unter Arbeitnehmern, die nur geringe Spielräume zur Bildung von Vorsorgevermögen haben – zu vermeiden. Selbst wenn jüngere und finanziell leistungsfähigere Mitglieder der Gesellschaft dieses Ziel prinzipiell unterstützen, ist die dazu erforderliche Umverteilung eine originäre Staatsaufgabe. Sie kann im Rahmen moderner Massengesellschaften nicht privater Mildtätigkeit überlassen werden, weil – gemessen an den dabei konkret verfolgten Verteilungszielen – die Umverteilung sonst nicht das gesellschaftlich wünschenswerte Volumen erreicht und daraus resultierende Finanzierungslasten nicht gerecht verteilt werden.3 Wird daher eine rudimentäre soziale Alterssicherung geschaffen, z. B. in Form steuerfinanzierter, existenzsichernder Transfers an bedürftige Ältere, ergibt sich jedoch ein Anreizproblem, das selbst aus der Sicht sozialstaatskritischer Ökonomen4 einen weiteren Ausbau der sozialen Alterssicherung erforderlich macht: Personen, die in ihrer aktiven Lebensphase ein ausreichendes Einkommen erzielen, um eine eigene Altersvorsorge aufzubauen oder einen nennenswerten Beitrag dazu zu leisten, könnten darauf zugunsten eines höheren Konsums in dieser Phase verzichten und im Alter auf die Unterstützung Dritter rekurrieren. Dieses „Trittbrettfahrer-Verhalten“ bei der sozialen Sicherung erhöht den Transferbedarf über das erforderliche Maß hinaus und kann die Akzeptanz der staatlich organisierten Umverteilung untergraben. Um das zu vermeiden, sind zusätzliche staatliche Maßnahmen erforderlich, die allseits ein zumutbares Mindestmaß an eigener Vorsorge zur Existenzsicherung im Alter erzwingen. Zu begründen ist auf diesem Wege – neben staatlichen Transfers an lebenslang Bedürftige – jedoch nur eine allgemeine (Mindest-)Vorsorgepflicht, bei der die Adressaten unter verschiede2 Siehe etwa Musgrave (1959), insbes. Kap. 1 und 2; Barr (1992); Lampert / Althammer (2004), Kap. V, sowie Breyer / Buchholz (2007), Kap. 1. 3 Siehe Hochman / Rodgers (1969). 4 Siehe Hayek (1971), Kap. 19.
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nen Arten und Anbietern von Instrumenten der Alterssicherung wählen können, nicht zwingend zugleich eine staatlich organisierte Pflichtvorsorge. 2. Fehlende Voraussicht bei individuellen Vorsorgeentscheidungen
Das „Risiko“, die Phase voller Erwerbsfähigkeit und -neigung zu überleben, ist als solches klar vorhersehbar. Der lange Zeitraum für den Aufbau einer ausreichenden Alterssicherung ohne übergroße Einschränkungen des laufenden Konsums sowie die präzise Vorausschätzung des Einkommensbedarfs im Alter stellen aber extreme Anforderungen an die Fähigkeit der Betroffenen zur eigenverantwortlichen Planung. Schwierigkeiten, die eigene Lebenserwartung vorauszusehen und dabei z. B. auch dem beobachteten, laufenden Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung Rechnung zu tragen, spielen dabei eine wichtige Rolle. Hinzu kommen etwa eine generelle Minderschätzung zukünftiger gegenüber aktuellen Bedürfnissen oder die Neigung, bei komplexen Entscheidungen untätig zu bleiben bzw. bevorzugt einfachen, vordefinierten Regeln zu folgen. Bestärkt durch neuere, empirisch untermauerte Forschungsergebnisse zu solchen Verhaltensweisen werden diese faktischen Beschränkungen individueller Voraussicht bei Entscheidungen über Art und Umfang einer rein privaten Alterssicherung als weiterer wichtiger Grund für staatliche Eingriffe angeführt.5 Eine so begründete soziale Alterssicherung kann über die reine Existenzsicherung hinaus auf eine Lebensstandard-Sicherung im Alter zielen, die von den meisten Menschen angestrebt wird, auch wenn sie sie freiwillig möglicherweise nicht realisieren. Wiederum ist eine Alterssicherung in staatlicher Trägerschaft aber nicht zwingend erforderlich, um dieser Begründung Rechnung zu tragen. Völlig ausreichend wäre vielmehr eine allgemeine Vorsorgepflicht, die klare Rahmenbedingungen für individuelle Vorsorgeentscheidungen schafft. Erforderlich sind aber gewisse staatliche Regulierungen (Finanzmarktaufsicht etc.), die einen verzerrten Wettbewerb privater Anbieter verhindern und deren Kunden gegen die Folgen dadurch erzeugter Fehlentscheidungen schützen. 3. Intergenerationelle Risikostreuung
Die ökonomischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für eine rein private Alterssicherung unterliegen einer Reihe gesamtwirtschaftlicher Risiken, deren wichtigste (Hyper-)Inflation, (Massen-)Arbeitslosigkeit sowie längerfristige Schwankungen in der Produktivitäts- und Einkommensentwicklung sind. Solche Risiken sind individuell nicht versicherbar und können auch über den gesamten Lebenszyklus einer ganzen Generation nur begrenzt ausgeglichen werden. Eine soziale Alterssicherung bietet – je nach dem dafür gewählten Finanzierungsverfahren – die Möglichkeit, die Folgen dieser Risiken für die Einkommenssituation Betroffener im Alter zu neutralisieren oder zumindest breiter zu streuen. Inflation stellt eine substantielle Bedrohung für private und soziale Alterssicherungen dar, die auf der Bildung von (Finanz-)Kapital basieren, da sie – selbst bei entsprechender Anpassung der laufenden Verzinsung – den Realwert des gesamten, bereits gesam5
Siehe etwa Diamond (1977) und Mitchell / Utkus (Hrsg.) (2004).
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melten Kapitalbestandes senkt. Auch im internationalen Verbund der Finanzmärkte lässt sich dieses Risiko oft nicht ausreichend vermindern. Eine umlagefinanzierte soziale Alterssicherung ist dagegen jedoch weitgehend immun, wenn die laufenden Einkommen, aus denen ein solches System finanziert wird, jeweils hinreichend schnell an die Inflation angepasst werden. Komplizierter liegen die Dinge bei anderen Arten realer Einkommensschwankungen auf der Ebene einer gesamten Volkswirtschaft. Bei einer kapitalgedeckten Alterssicherung können dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit oder eine anhaltend schwache Entwicklung von Arbeitsproduktivität und Löhnen den Aufbau eines ausreichenden Vorsorgevermögens davon betroffener Erwerbspersonen beeinträchtigen. Dasselbe gilt für eine längerfristige Baisse auf den Kapitalmärkten, die den Wert des gebildeten Vermögens selbst noch bei dessen Auflösung im Alter gefährdet. Durch eine Mischung von privater, kapitalgedeckter Altersvorsorge und einer umlagefinanzierten, sozialen Alterssicherung lässt sich bei unterschiedlicher Entwicklung von Kapital- und Arbeitsmärkten ein gewisser Ausgleich zwischen diesen Risiken realisieren. Vor allem aber lassen sich die genannten Arbeitsmarktrisiken innerhalb einer umlagefinanzierten Alterssicherung zwischen jeweils zwei aufeinander folgenden Generationen teilen. Eine Generation, die in ihrer Erwerbsphase von hoher Arbeitslosigkeit und stagnierenden Löhnen betroffen ist, finanziert im Rahmen eines solchen Systems – bei unveränderten Beitragssätzen – geringere Leistungen an die jeweilige Rentnergeneration. Wenn sich die Arbeitsmarktsituation zwischenzeitlich wieder verbessert, erhält sie von der nachwachsenden Generation trotzdem Leistungen in normaler Höhe. Umgekehrt kann in einer umlagefinanzierten Alterssicherung der jeweiligen Rentnergeneration Anteil an einem überdurchschnittlichen Einkommenswachstum gegeben werden, ohne dass – bei konstanten Beitragssätzen – mit der Finanzierung solcher erhöhten Leistungen auch die nächste Generation belastet wird.
4. Stabilisierung der Austauschbeziehungen zwischen den Generationen
Stichhaltige Gründe für die Errichtung einer sozialen Alterssicherung sind demnach zugleich Argumente für deren Umlagefinanzierung. Zwei weitere Aspekte sind dabei zu berücksichtigen. Gegenüber kapitalgedeckten Systemen, die entwickelte Finanzmärkte mit breitem Zugang sowie Instrumente zur Versicherung des Langlebigkeits-Risikos voraussetzen, stellt eine einfache Alterssicherung im Umlageverfahren innerhalb einer (Groß-)Familie, in der aktive Mitglieder ihre älteren Angehörigen unterhalten, zum einen die historisch ältere Form dar. Die Aussicht der älteren Generation auf die Unterstützung der nachwachsenden Generation liefert zum anderen ein nicht zu vernachlässigendes Motiv dafür, dass potenzielle Eltern überhaupt eine Familie gründen und für die Ausbildung ihrer Kinder sorgen.6 Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung haben sich Form und Funktionen familiärer Beziehungen verändert. Mit der sozialen Geschlossenheit von Familien und ihrem Umfeld lösten sich auch informelle Normen auf, die diese traditionelle Alterssicherung auf der Basis eines zeitlich versetzten Austauschs jeweils zweier Generationen stabilisierten. Ein solcher Prozess gefährdet unmittelbar die Alterssicherung der älteren Gene6
Siehe Werding (1998), insbes. S. 203 – 217, sowie Cigno (1993).
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ration, die nicht mehr ohne weiteres eine Gegenleistung für die Aufwendungen für ihre Kinder erwarten kann und nicht mehr Zeit und Mittel zum Aufbau einer anderweitigen Vorsorge hat. Langfristig wirkt dies auf die Entwicklung von Bevölkerung und Qualifikationsniveau der Erwerbspersonen der gesamten Gesellschaft zurück, da beides auf individuellen Entscheidungen beruht, deren „Ertrag“ unsicherer wird. Ein Übergang zu rein kapitalgedeckten Formen der Altersvorsorge kann diese Probleme nicht lösen. Die Einführung einer sozialen Alterssicherung im Umlageverfahren, die die jeweils Aktiven zwingt, ihre Elterngeneration im Alter zu unterstützen, kann den intergenerationellen Austausch stabilisieren und damit die langfristigen Perspektiven für wirtschaftliches Wachstum einer Gesellschaft sichern. Diese Begründung führt aber zu Anforderungen an die Ausgestaltung umlagefinanzierter Alterssicherungen, die von Vertretern der Katholischen Soziallehre schon frühzeitig erkannt, von den politisch Verantwortlichen aber lange nicht beachtet wurden.7 Da solche Systeme nicht durch finanzielle Reserven, sondern durch das zukünftige Erwerbseinkommenspotenzial gedeckt sind, sind sie zur Gewährleistung ihrer langfristigen Stabilität darauf angewiesen, dass die Versichertengemeinschaft stets eine ausreichend große Kindergeneration heranzieht und in deren Erwerbsqualifikationen investiert – auf volkswirtschaftlicher Ebene ebenso wie zuvor auf der Ebene von Familien. Die Anreize für potenzielle Eltern, dies zu tun, werden durch soziale Alterssicherungen traditionell jedoch gar nicht gewahrt, in jüngerer Zeit immerhin in einigen Ländern und in geringem Maße wieder geschaffen.
III. Ausgestaltung sozialer Alterssicherungssysteme 1. Geschichte
Sieht man von einer Alterssicherung durch lokal organisierte Armenfürsorge ab, stellt die 1889 im Rahmen der Bismarck’schen Sozialgesetze geschaffene Invaliditäts- und Altersversicherung in Deutschland die älteste soziale Alterssicherung der Welt dar. In ihren Anfängen unterschied sie sich nicht unwesentlich von ihrer heutigen Gestalt.8 Vor allem versicherte sie zunächst lediglich Arbeiter (eine Hinterbliebenensicherung wurde erst ab 1904 eingeführt, die Rentenversicherung der Angestellten 1911) und war auf einen hohen Grad an Kapitaldeckung angelegt (mit steuerfinanzierten Zuschüssen zur sofortigen Deckung von Renten in der Einführungsphase und zur Finanzierung einer Mindestsicherung im Alter). Andere Merkmale hat sie unverändert beibehalten, vor allem den engen Bezug zwischen Beiträgen bzw. Einkommen und Rentenansprüchen einzelner Versicherter, der sie zum prototypischen Vertreter sozialer Alterssicherungen vom Typ einer „Sozialversicherung“ macht. Solche Systeme, die – auf unterschiedlichem Niveau – einen Beitrag zur individuellen Lebensstandard-Sicherung im Alter leisten, entstanden später auch in vielen anderen, vorwiegend kontinentaleuropäischen Ländern. Kaum weniger alt ist die 1891 errichtete soziale Alterssicherung Dänemarks, die einen anderen Typ solcher Systeme begründete, der sich später vor allem in den skandinavischen und angelsächsischen Ländern verbreitete. Solche „Grundrenten-“ oder 7 8
Siehe etwa Schreiber (1955) oder von Nell-Breuning (1956). Siehe Frerich / Frey (1993), Bd. 1, Kap. 3.
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„Steuer-Transfer-Systeme“ gewähren stark pauschalierte Leistungen, die lediglich nach der Dauer der Beitrags- bzw. Versicherungszeit differenziert sind und vorrangig auf eine Existenzsicherung im Alter zielen. Zum Teil wurden sie zu universellen GrundrentenSystemen ausgebaut, die tendenziell die gesamte Bevölkerung eines Landes erfassen. Häufiger wurden sie zu Mischsystemen ergänzt, mit beitrags- und einkommensbezogenen Leistungen in einer zweiten Stufe der sozialen Alterssicherung. Neben der sozialen Alterssicherung als „1. Säule“ nationaler Systeme der Altersvorsorge existieren in den meisten entwickelten Volkswirtschaften als „2. Säule“ Formen der betrieblichen Altersversorgung, deren Ursprünge ebenfalls bis ins 19. Jahrhunderts zurückreichen. Sie werden zumeist per Einzel-Arbeitsvertrag oder Tarifvertrag geregelt, vom jeweiligen Arbeitgeber organisiert oder (mit-)finanziert und konzentrieren sich oft auf bestimmte Arbeitnehmergruppen („Kernbelegschaften“, „leitende Angestellte“ o. ä.). Die betriebliche Altersversorgung unterliegt in der Regel weitreichenden staatlichen Regulierungen, sie wird aber nur in Ausnahmefällen für alle Beschäftigten eines Landes obligatorisch gemacht. Als „3. Säule“ bestehen diverse Formen der privaten Altersvorsorge auf der Basis eigenverantwortlicher Vorsorge-Entscheidungen der erfassten Individuen. In diesem international gängigen Drei-Säulen-Modell variiert das Gewicht der einzelnen Säulen, vor allem abhängig von der Ausgestaltung der sozialen Alterssicherung, von Land zu Land erheblich.
2. Soziale Alterssicherung in den deutschsprachigen Ländern
In Deutschland stellt die gesetzliche Rentenversicherung heute die Regel-Alterssicherung für die meisten Erwerbspersonen dar. Nach Verlust aller finanziellen Reserven im Gefolge von zwei Weltkriegen und Hyperinflationen wurde sie 1957 auf eine neue Grundlage gestellt. Seither ist sie de facto voll im Umlageverfahren finanziert, das aber erst seit 1969 gesetzlicher Standard ist. Zur erwerbsbezogenen Lebensstandard-Sicherung erhalten Rentner eine Leistung, die sich nach ihren versicherungspflichtigen Einkommen in jedem einzelnen Versicherungsjahr bemisst. Durch lohnbezogene jährliche Rentenanpassungen werden sie zugleich am Einkommensfortschritt der aktiven Versicherten beteiligt. Wegen aktueller und absehbarer Finanzierungsengpässe durch Massenarbeitslosigkeit und demographischen Wandel wurde das System ab 1992 mehrfach reformiert. Vor allem wurde das Verfahren der Rentenanpassungen geändert, so dass das Sicherungsniveau in den nächsten drei Jahrzehnten immer weiter sinken wird, um den zur Finanzierung der Renten erforderlichen Beitragsanstieg zu begrenzen. Zur Kompensation der Rentenniveau-Senkung wurde ab 2001 eine staatliche Förderung ergänzender privater Vorsorgeersparnisse eingeführt. Außerdem wird zwischen 2012 und 2029 das gesetzliche Rentenalter – von derzeit 65 auf zuletzt 67 Jahre – schrittweise angehoben, was die Senkung der jährlichen Renten bei verkürzter Laufzeit dämpfen kann. Die österreichische Pensionsversicherung weist grundlegende Ähnlichkeiten mit dem deutschen Rentensystem auf. Sie erfasst aber, abgesehen von Beamten, fast ausnahmslos alle Erwerbspersonen. Die Rentenbemessung wird seit 2003 durch mehrere Reformen so umgestellt, dass sich individuelle Leistungsansprüche auf Dauer auch hier am versicherungspflichtigen Einkommen in jedem Versicherungsjahr (zuvor: während der 15 „besten“ Jahre bei einer Mindestversicherungszeit von 40 Jahren für volle Rentenansprüche) orientieren, um die langfristige Finanzierbarkeit des Systems zu verbessern.
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Das gesetzliche Rentenalter für Frauen (60 Jahre) wird zwischen 2024 und 2033 auf das für Männer (65 Jahre) erhöht. Die soziale Alterssicherung in der Schweiz besteht im Kern in der Alters- und Hinterlassenenversicherung, die in allen Kantonen auf weitgehend einheitlicher Rechtsgrundlage geführt wird und heute ebenfalls praktisch alle Erwerbspersonen und mittelbar die gesamte Wohnbevölkerung des Landes erfasst. Das System gewährleistet eine allgemeine Mindestrente sowie einkommensbezogene Zusatzleistungen bis zu einer Obergrenze von rund dem Doppelten der Mindestrente. Durch die letzte größere Reform von 1997 wurde vor allem eine Beitragspflicht für nicht-erwerbstätige Ehepartner eingeführt und das gesetzliche Rentenalter für Frauen (zuvor: 62 Jahre, seit 2005: 64 Jahre) an das für Männer (65 Jahre) angenähert. Diskutiert werden derzeit eine Angleichung der Altersgrenzen und Modifikationen beim Recht der Frühverrentung und der Rentenanpassungen, die bisher einem Mischindex aus Lohn- und Preisentwicklung folgen. Ergänzt wird das System zu Zwecken der Lebensstandard-Sicherung im Alter durch ein System beruflicher Vorsorge, das für alle Arbeitnehmer obligatorisch ist, aber in den Bereich betrieblicher Altersversorgung fällt. In den sozialen Alterssicherungen aller drei Länder werden – neben erwerbs- und einkommensbezogenen Leistungen – mittlerweile auch Leistungen aufgrund von Aktivitäten zur Kindererziehung gewährt. Vordergründig können solche Ansprüche, die international keineswegs Standard sind, mit dem Ziel begründet werden, die Alterssicherung von Erziehungspersonen mit Erwerbsunterbrechungen zu verbessern. Letztlich stehen sie aber in engem Bezug zu den eigentlichen Grundlagen umlagefinanzierter Alterssicherungen. IV. Herausforderungen 1. Aktuelle und langfristig vorhersehbare Finanzierungsprobleme
Die sozialen Alterssicherungen der meisten entwickelten Volkswirtschaften stehen mittel- bis langfristig vor großen Finanzierungsproblemen, die durch den demographischen Wandel erzeugt werden. Kurzfristig können die Effekte einer ungünstigen Arbeitsmarktsituation und – in Verbindung damit – einer hohen Zahl von Frühverrentungen auf Einnahmen und Ausgaben dieser Systeme hinzukommen. Zu beachten ist, dass jedes dieser Probleme durch die Ausgestaltung der Systeme mitverursacht sein kann. So wird die Arbeitsmarktlage durch hohe Beitragssätze ungünstig beeinflusst. Möglichkeiten zur Frühverrentung ergeben sich aus spezifischen Regelungen, die bewusst geschaffen wurden, um jüngeren Erwerbspersonen den Arbeitsmarktzugang zu erleichtern, wobei Erfolge dieser Politik nirgends nachweisbar sind. Schließlich kann auch der seit Anfang des 20. Jahrhunderts beobachtete Geburtenrückgang durch die Errichtung und den Ausbau umlagefinanzierter sozialer Alterssicherungen verstärkt worden sein.
2. Reformperspektiven
Angesichts der zuvor genannten Probleme wird in manchen Ländern erwogen, umlagefinanzierte soziale Alterssicherungen teilweise oder ganz durch kapitalgedeckte Systeme staatlicher oder privater Vorsorge zu ersetzen. Die ökonomische Diskussion hat
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gezeigt, dass ein solcher Übergang – trotz der Renditeunterschiede beider Arten der Alterssicherung – keine wissenschaftlich klar begründbaren Vorteile verspricht.9 Ihre relative Bedeutung innerhalb nationaler Gesamtsysteme der Altersvorsorge ist vielmehr in erster Linie eine Frage der angestrebten intergenerationellen Verteilung. Hinzu kommt eine Abwägung der Eigenarten beider Systeme. Der demographische Wandel und seine Auswirkungen auf die langfristige Finanzierbarkeit umlagefinanzierter Alterssicherungen sprechen aber dafür, den absehbaren Anstieg der Ausgaben solcher Systeme durch Senkungen des Sicherungsniveaus und / oder Erhöhungen des effektiven Rentenalters zu begrenzen und die kapitalgedeckte Vorsorge auszubauen.10 Um den Grundlagen des Umlageverfahrens Rechnung zu tragen und negative Rückwirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung auf Dauer zu vermeiden, könnte bei solchen Rentenniveau-Senkungen und der dadurch erforderlichen, ergänzenden Altersvorsorge stärker nach den Anstrengungen Versicherter zur Erziehung und Ausbildung von Kindern differenziert werden, als dies in manchen sozialen Alterssicherungen bereits heute geschieht.11
V. Würdigung Im Bereich der Alterssicherung ergeben sich nach den Maßstäben der Katholischen Soziallehre staatliche Aufgaben, die über eine reine Regulierung privater Vorsorge hinausgehen. Sie begründen auch die Organisation umlagefinanzierter sozialer Alterssicherungen, wie sie in der Mehrzahl entwickelter Volkswirtschaften, einschließlich Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, existieren. Solche Systeme müssen sich nicht darauf beschränken, eine Existenzsicherung im Alter sicherzustellen, vielmehr gibt es Gründe, dass sie auch einen Beitrag zur Lebensstandard-Sicherung leisten sollten. Systeme, die dies tun, können u. a. für die menschliche Gesellschaft grundlegende Austauschbeziehungen zwischen den Generationen stabilisieren und zugleich langfristige wirtschaftliche Wachstumsperspektiven sichern. Zu berücksichtigen sind allerdings auch Grenzen der damit verbundenen intergenerationellen Umverteilung, die der demographische Wandel in vielen entwickelten Volkswirtschaften sichtbar macht.
Literatur Aaron, Henry J.: The Social Insurance Paradox, in: Canadian Journal of Economics and Political Science, Bd. 32 1966, S. 371 – 374. Barr, Nicholas: Economic Theory and the Welfare State: A Survey and Interpretation, in: Journal of Economic Literature, Bd. 30 1992, S. 741 – 803. Breyer, Friedrich: On the Intergenerational Pareto Efficiency of Pay-as-you-go Financed Pension Systems, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, Bd. 145 1989, S. 643 – 658. Breyer, Friedrich / Buchholz, Wolfgang: Ökonomie des Sozialstaats, Berlin 2007. Cigno, Alessandro: Intergenerational Transfers without Altruism: Family, Market and State, in: European Journal of Political Economy, Bd. 7 1993, S. 505 – 518. Siehe Breyer (1989) und Fenge (1995). Siehe etwa Sinn (2000). 11 Siehe Cigno / Werding (2007), insbes. Kap. 7 und 8. 9
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Cigno, Alessandro / Werding, Martin: Children and Pensions, Cambridge, MA 2007. Diamond, Peter A.: A Framework for Social Security Analysis, in: Journal of Public Economics, Bd. 8 1977, S. 275 – 298. Fenge, Robert: Pareto-Efficiency of the Pay-as-you-go Pension System with Intragenerational Fairness, in: Finanzarchiv, Bd. 52 1995, S. 357 – 364. Frerich, Johannes / Frey, Martin: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, 3 Bde., München 1993. von Hayek, Friedrich A.: Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971. Hochman, Harold / Rodgers, James: Pareto Optimal Redistribution, in: American Economic Review, Bd. 59 1969, S. 542 – 557. Lampert, Heinz / Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, 7. Aufl., Berlin 2004. Mitchell, Olivia S. / Utkus, Stephen J. (Hrsg.): Pension Design and Structure: New Lessons from Behavioral Finance, Oxford 2004. Musgrave, Richard A.: The Theory of Public Finance, New York 1959. von Nell-Breuning, Oswald: Die Produktivitätsrente, in: Zeitschrift für Sozialreform, Bd. 2, 1956, S. 97 – 101. Schreiber, Wilfrid: Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft. Vorschläge des Bundes Katholischer Unternehmer zur Reform der Sozialversicherungen, Köln 1955. Sinn, Hans-Werner: Why a Funded Pension is Useful and Why it is not Useful, in: International Tax and Public Finance, Bd. 7, 2000, S. 389 – 410. Werding, Martin: Zur Rekonstruktion des Generationenvertrages, Tübingen 1998.
Soziale Sicherung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit Von Joachim Genosko I. Einführung In der kontinuierlichen Debatte um die sozialpolitische Reformagenda in Deutschland spielt die Katholische Soziallehre als vermeintlicher oder tatsächlicher Gegenentwurf zum wirtschafts- oder neoliberalen Sozialstaatsmodell zwar eine eher implizite als explizite, aber immerhin eine durchaus beachtliche Rolle. Diese Rolle nimmt die Katholische Soziallehre seit Beginn der modernen Sozialgesetzgebung ein. Sowohl bei der Gestaltung der Sozialen Sicherung in Deutschland in der Zwischenkriegszeit wie auch beim Neubeginn des bundesdeutschen Sozialstaats nach dem Zweiten Weltkrieg sind von der Katholischen Soziallehre und ihren Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität zentrale Impulse ausgegangen. Im Prinzip argumentieren diejenigen, die sich auf die Katholische Soziallehre berufen, dass die bestehenden sozialen Sicherungseinrichtungen systemimmanent, d. h. ohne Regimewechsel, reformiert werden können. Allerdings lässt Kardinal Lehmann in seinem Eröffnungsreferat zur Herbst-Vollversammlung 2003 der Deutschen Bischofskonferenz anklingen, dass für die katholische Kirche Deutschlands angesichts der neuen demographischen (und globalisierungsbedingten) Herausforderungen auch systemische Neuorientierungen denkbar sind.1 Die eingangs angesprochene Diskussion steht auch in einem historischen Kontext: Bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren haben sich beispielsweise von Nell-Breuning und Böhm mit dem Wirtschaftsordnungsmodell der alten Bundesrepublik Deutschland auseinandergesetzt, wobei auch die Frage der Ordnungszusammenhänge zwischen dem wirtschaftlichen und dem sozialen Bereich von Bedeutung war.2 In diesem Spannungsverhältnis soll im Folgenden zunächst die soziale Sicherung bei Krankheit und Pflege, wie sie heute in Deutschland Geltung besitzt, analysiert werden. Daran anschließend gilt es die Defizite dieser Sicherungssysteme herauszuarbeiten und an den Referenzprinzipien der Katholischen Soziallehre zu messen.
Lehmann (2003), insbesondere S. 33 – 37 und die dort zitierte Literatur. von Nell-Breuning (1975), S. 459 – 470, hier S. 459. Genosko (1986), S. 404 – 421, insbesondere S. 410 f. und die dort zitierte Literatur. 1 2
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II. Die Grundprinzipien des kontinentaleuropäischen (solidarisch-korporativen) Sozialstaatsmodells Sozialstaatliche Maßnahmen bzw. der Begriff „Sozialpolitik“ sind in ihrem Umfang umstritten und werden diesbezüglich bereits dadurch determiniert, welches sozialstaatliche Modell man präferiert.3 Sozialpolitik als wissenschaftliche Disziplin hat sich zunächst mit den Zielen und Instrumenten der Sozialpolitik zu beschäftigen und sie kritisch zu hinterfragen, um dann den Akteuren, den Trägern der Sozialpolitik, ihre Aufmerksamkeit zu widmen.4 „Die drei grundlegenden Ziele der Sozialpolitik sind die Verwirklichung von Gerechtigkeit, Sicherheit und Freiheit, wobei das Freiheitsziel in der sozialpolitischen Debatte der letzten Jahre an Bedeutung gewonnen hat.“5 Bricht man diese Ziele auf die interessierenden Sicherungssysteme herab, so heißt Gerechtigkeit notwendiger Schutz bei Krankheit und Pflege unabhängig von der sozialen Stellung der Patienten bzw. Pflegebedürftigen, d. h. unabhängig von ihren Beitragsleistungen, des Weiteren Sicherheit, dass die Leistungen jederzeit und überall in hinreichendem Maße erbracht werden, und schließlich Freiheit, dass die Betroffenen frei die Leistungsanbieter im Gesundheitsund Pflegewesen wählen können. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass mit Freiheit heute zunehmend die „Freiheit von staatlichen Versicherungsleistungen“ und die Übernahme von Eigenverantwortung gemeint sind. Die Reformüberlegungen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich im Bericht der Sozialenquête-Kommission verdichten,6 kommen zusammenfassend zum Ergebnis, „dass sich das historisch gewachsene Sozialsystem im wesentlichen bewährt habe“.7 Die implementierte Sozialpolitik der 1950er- und 1960er-Jahre hat „die Idee einer grundlegenden Neuordnung der sozialen Sicherungssysteme aufgegeben“.8 Im kontinentaleuropäisch-korporativen Modell beruht die soziale Sicherung deshalb bis in die jüngste Zeit auf den Vorgaben der „Kaiserlichen Botschaft“ von 1881 und der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung zwischen 1883 und 1889. Trotz dieser Feststellung hat sich im Zeitablauf der Gehalt der Sozialgesetzgebung verändert. Zum Ersten ist festzuhalten, dass die Politik der sozialen Sicherung von einer staatsautoritären und repressiven Schutzpolitik für Arbeiter und gegen sozialdemokratische Umtriebe zu einer Gesellschaftspolitik des sozialen und demokratischen Rechtsstaats geworden ist.9 Des Weiteren ist es zu einer zunehmenden Verrechtlichung und Zentralisierung der sozialen Sicherung gekommen. Eine Verrechtlichung der Sozialpolitik bietet den Vorteil der Normierung der sozialen Leistungen und damit einhergehend mehr Sicherheit und Vorhersehbarkeit für den Empfänger dieser Leistungen sowie deren tendenzielle Gleichbehandlung. Der Nachteil der Verrechtlichung besteht in der „fortschreitenden und immer erfolgreicheren Entpersönlichung des Hilfs3 4 5 6 7 8 9
Lampert / Althammer (2004), S. 3. Ribhegge (2004), S. 14 f. Ebd., S. 15. Achinger / Bogs / Meinhold / Nenndörfer / Schreiber (1966). Frerich / Frey (1993), S. 30. Ebd. Lampert / Althammer (2004), S. 120 ff.
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aktes“.10 In gewisser Weise ist die Zentralisierung eine Folge von Verrechtlichung und Normierung. Sie unterstreicht die Geltung des Gleichheitsgrundsatzes und des Ziels Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Andererseits erschwert sie die flexible Anpassung sozialpolitischer Maßnahmen an lokale, regionale und (veränderte) strukturelle Besonder- und Gegebenheiten.11 Die Tatsache, dass soziale Leistungen zunehmend an der ökonomischen Effizienz und weniger an ihrer Verteilungsgerechtigkeit ausgerichtet sind, befördert die Zentralisierungstendenzen in der Sozialpolitik.12 Weiterhin von Relevanz ist die Fokussierung der sozialen Sicherung auf die Erwerbstätigen bzw. die Erwerbstätigkeit. Das existierende Sozialstaatsmodell ist auf den „Normalbürger“ ausgerichtet und vernachlässigt die „Angehörigen von Randgruppen“.13 Diese vor Jahrzehnten getroffene Feststellung gilt auch heute noch, da ein Großteil der Leistungen über Beiträge aus dem Arbeitseinkommen und nur der weitaus geringere Teil aus Steuereinnahmen finanziert wird. In der Literatur werden fünf Prinzipien der sozialen Sicherung genannt:14 Solidaritätsprinzip, Subsidiaritätsprinzip, Prinzip der Selbstverantwortung, Prinzip sozialer Selbstverwaltung und Prinzip der Ordnungskonformität. Hinzu kommen die Organisationsprinzipien Versicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgeprinzip. Ribhegge führt zusätzlich das Prinzip der Selbstverantwortung an.15 Bei der privaten Versicherung gilt streng das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip von Beitrag und Leistung. In einer sozialen Versicherung wird dieses Prinzip in zweifacher Weise modifiziert. Die Beiträge richten sich nicht (immer) an den individuellen Risikowahrscheinlichkeiten aus (z. B. keine alters- und familienstandsabhängigen Beiträge), und die Leistungen sind nicht streng beitragsorientiert. Im Übrigen kennt eine Sozialversicherung weder Risiko- noch Leistungsausschlüsse. Beim Versorgungsprinzip entstehen Leistungsansprüche nicht aus Beitragszahlungen, sondern vor allem auf Grund von Leistungen für Staat und Gesellschaft. In Systemen, die nach dem Versorgungsprinzip organisiert sind, erfolgt die Finanzierung aus allgemeinen Steuermitteln. Die Leistungen sind nach Art und Höhe normiert. Die Leistungen nach dem Fürsorgeprinzip sehen ebenfalls keine eigenen Beitragszahlungen vor. Im Gegensatz zum Versorgungsprinzip besteht auf Leistungen nach dem Fürsorgeprinzip lediglich ein Rechtsanspruch, dessen Ausgestaltung von der Bedürftigkeit des Empfängers abhängt. Das ursprünglich einmal vorherrschende Fürsorgeprinzip ist (zu Recht) durch das „moderne“ Organisationsprinzip „Versicherung“ immer weiter zurückgedrängt worden. Das Prinzip der Selbstverantwortung verlangt, dass durch die soziale Sicherung Freiheit und Selbstverantwortung der Einzelnen nicht beschnitten werden. Soziale Sicherungsmaßnahmen binden Gesellschaftsmitglieder in aller Regel zwangsweise. Solche Achinger (1979). Lampert / Althammer (2004), S. 127. 12 Genosko (2004), S. 45 – 66, insbesondere S. 48. 13 Kleinhenz (1971), S. 321 – 337, hier S. 321. 14 Zum Folgenden vgl. Lampert / Althammer (2004), S. 422 – 425 sowie auch Althammer (2002), S. 648 ff. 15 Ribhegge (2004), S. 46. 10 11
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Bindungen sind dann akzeptabel, wenn sie für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung deren materiale Freiheit erhöhen. Sie erreichen ihre Grenzen in einer „nivellierten Wohlstandsgesellschaft“, in der falsche Leistungs- und Arbeitsanreize die Grundlagen der Wohlfahrt und der sozialen Sicherheit gefährden.16 Im kontinentaleuropäischen Sozialstaatsmodell ist die soziale Sicherung regelmäßig subsidiären Solidargemeinschaften übertragen, die hoheitliche Aufgaben in selbstverwalteten Organisationsformen wahrnehmen. U. a. soll dadurch dem zeitinkonsistenten Verhalten des Staates bzw. der Politik entgegengewirkt werden. Die staatliche Zeitinkonsistenz wird sozialpolitisch besonders sichtbar, wenn Sozialleistungen dem Budgetdiktat unterworfen werden.17 Die Handlungsfreiheit der sozialen Selbstverwaltung ist allerdings stark beschränkt, da der weit überwiegende Teil sozialpolitischer Maßnahmen durch den Gesetzgeber geregelt ist. Dies gilt besonders für die Finanzierung und die Leistungen der sozialen Sicherungssysteme. Die Ordnungskonformität sozialer Sicherung spielt in der aktuellen sozialpolitischen Diskussion eine erhebliche Rolle. Eine Gesellschaftsordnung setzt sich aus unterschiedlichen Teilordnungen zusammen, die zueinander interdependent sind. Mit anderen Worten, die verschiedenen Teilordnungen und die ihnen zugeordneten Politiken wirken aufeinander ein. Damit eine Gesellschaftsordnung nicht an inneren Widersprüchen zerbricht, müssen die Teilordnungen und ihre zugehörigen Politikbereiche miteinander harmonieren. In einer auf individueller Freiheit und individueller Selbstverantwortung angelegten Wirtschaftsordnung muss, gemäß dem Prinzip der Ordnungskonformität, auch die Sozialordnung diesen Grundsätzen gerecht werden. Teilordnungen sind jedoch nicht nur interdependent, sondern auch gleichberechtigt. Teilordnungen und ihre Politikbereiche können einander nicht über- oder untergeordnet sein. Eine Unterordnung der Sozialordnung gegenüber der Wirtschaftsordnung gemäß der Vorstellung „es kann (sozialpolitisch) nur verteilt werden, was zuvor erwirtschaftet worden ist“, würde die stabilisierende Rolle der Sozialpolitik in Bezug auf die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung gering schätzen. Umgekehrt wäre eine Priorisierung der Sozialordnung und -politik gegenüber der Wirtschaftsordnung und -politik ebenso falsch, da die soziale Sicherung und die Sozialpolitik Rückwirkungen auf die ökonomische Effizienz und damit auf die „Größe des Kuchens“ haben, der verteilt werden kann. Die skizzierten Grundsätze und Organisationsprinzipien des Sozialstaates und der sozialen Sicherung gelten im Wesentlichen auch für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung. Dennoch gibt es für beide Sicherungssysteme Besonderheiten, die in den bisherigen Ausführungen noch nicht ihren Niederschlag gefunden haben.
16 17
Lampert / Althammer (2004), S. 423 und die dort zitierte Literatur. Zur Problematik der Zeitinkonsistenz vgl. Blanchard / Illing (2006), S. 707 und S. 711.
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III. Besonderheiten der sozialen Sicherung bei Krankheit und bei Pflegebedürftigkeit 1. Die gesetzliche Krankenversicherung
Die Besonderheiten der sozialen Sicherung bei Krankheit ergeben sich zum einen aus den Besonderheiten der Gesundheitsgüter, zum anderen aus den Besonderheiten der Umstände, in der sich ein kranker Mensch befindet. Beide Kategorien von Besonderheiten wirken sich auf die Gestaltung des Gesundheitswesens in Deutschland aus.18 Zunächst ist festzuhalten, dass Gesundheitsgüter eine Reihe von Besonderheiten aufweisen, die sie von anderen Gütern unterscheiden. Dazu gehört die Tatsache, dass mit Gesundheitsgütern positive oder negative, psychische oder physische externe Effekte verbunden sind. Ein Beispiel für einen positiven externen Effekt ist die Impfung gegen ansteckende Infektionskrankheiten. In der Zwei-Personen-Wirtschaft lässt sich das Problem einfach lösen, indem man den Nicht-Geimpften an den Kosten der Impfung beteiligt. Sehr viel schwieriger stellt sich der Sachverhalt bei vielen durch die Impfung Begünstigten dar. In einer solchen Situation versuchen die Begünstigten TrittbrettfahrerVerhalten („free riding“) an den Tag zu legen, um so die Kosten für die Impfung zu umgehen. Negative externe Effekte kann der übermäßige Medikamentenkonsum verursachen. Wegen der Externalitäten und des Trittbrettfahrer-Verhaltens werden bestimmte Gesundheitsgüter nicht aus Beitrags-, sondern aus Steuereinnahmen finanziert. Reihenimpfungen werden beispielsweise den gesetzlich Krankenversicherten und ihren mitversicherten Familienangehörigen kostenlos zur Verfügung gestellt. Altruismus19 führt zu positiven psychischen externen Effekten, wenn die Hilfe für den Nächsten beim Geber der Hilfe den persönlichen Nutzen steigert. Auch in diesem Kontext kann „free riding“ ein Problem sein, das aber nicht weiter untersucht werden soll. Eine weitere Besonderheit von Gesundheitsgütern kommt in ihrem öffentlichen GutCharakter zum Ausdruck. Eine Heilbehandlung wird einem kranken Menschen aus humanitären und (straf-)rechtlichen Gründen nicht verweigert werden können, selbst wenn er die Behandlung nicht bezahlen kann (Nicht-Ausschlussprinzip). Ebenso wenig wird ein Kranker auf eine Behandlung verzichten müssen, weil ein anderer Kranker vor ihm behandelt worden ist (Nicht-Rivalitätsprinzip). Einen Sonderfall bilden die Gesundheits- (aber auch die Pflege-)Leistungen, die den Charakter von „Optionsgütern“ haben. Optionsgüter zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Nutzen nicht aus dem Konsum der Leistung erwächst, sondern aus ihrer schieren Existenz, d. h. aus ihrer Vorratshaltung. Krankenhausbetten, die für Katastrophenfälle vorgehalten werden, stiften für den Einzelnen Nutzen, weil er weiß, dass er im Notfall ärztlich versorgt wird. Im Gesundheitswesen lassen sich zwei Märkte unterscheiden: der Markt für medizinische Leistungen und der Versicherungsmarkt, auf dem sich der Einzelne gegen das Risiko „Krankheit“ absichern kann. Auf beiden Märkten sind die Merkmale des vollkommenen Marktes, vor allem Markttransparenz und Konsumentensouveränität, nicht ge18 19
Vgl. Breyer / Zweifel (1992), S. 139 – 151. Zur wirtschaftstheoretischen Aufarbeitung von Altruismus vgl. Becker (2001), S. 817 – 826.
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geben. Anders ausgedrückt, die realen Marktbedingungen veranlassen einen spezifischen Umgang mit Gesundheitsgütern, insbesondere regulierende Eingriffe des Staates. Eine weitere Besonderheit von Gesundheitsgütern ergibt sich aus den spezifischen Umständen ihrer Konsumtion. In vielen Fällen wird bezweifelt, ob ein Patient tatsächlich der souveräne Konsument ist, der frei über seine Nachfrage entscheidet und souverän, seinen Nutzen maximierend das Angebot an Gesundheitsgütern wahrnimmt, so wie es die reine Wirtschaftstheorie unterstellt. Ist ein Patient schwer oder sogar lebensbedrohlich erkrankt, dann dürfte es fraglich sein, ob er rational, d. h. an Hand von Preisen über seine Nachfrage entscheiden kann. Theoretisch sind Hilfskonstruktionen über Angehörige und Vormünder möglich, die Ersatzentscheidungen für den Patienten vornehmen. Tatsächlich dürfte jedoch die Annahme des rationalen, souveränen Konsumenten im Gesundheitswesen nicht erfüllt sein. Eng verbunden mit diesen Ausführungen sind Überlegungen zum Wert des Lebens bzw. der Gesundheit. Eigene, nicht repräsentative Befragungen von Studierenden haben ergeben, dass die Einschätzungen weit auseinander liegen und methodisch ganz unterschiedlich ermittelt werden. Unabhängig von konkreten Zahlen stellt sich jedoch heraus, dass das eigene Leben und die eigene Gesundheit hoch geschätzt und deshalb alles getan wird respektive getan werden soll, um die Gesundheit im Krankheitsfall wieder herzustellen. Dahinter verbirgt sich, dass Gesundheit das „höchste“ Gut ist, auf dessen Gewährleistung der Einzelne ein „Anrecht“ und einen „Anspruch“ gegenüber der Gesellschaft hat. Sind die privaten Kosten der Gesunderhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit zu hoch, dann ist die Gesellschaft verpflichtet, so die „Anrechtstheorie“, die privaten in soziale Kosten überzuführen. Eine weitere Spezialität der Gesundheitsleistungen, die sie mit einer Reihe von anderen Dienstleistungen gemein haben, ist ihre fehlende Stichprobenfähigkeit. Da der Heilungserfolg medizinischer Leistungen ganz wesentlich von der körperlichen Konstitution des Patienten und von dem Vertrauensverhältnis zwischen dem medizinischen Dienstleister und dem Patienten abhängig ist, lässt sich aus der erfolgreichen Behandlung eines Patienten nicht ohne Weiteres auf den Behandlungserfolg bei einem anderen Patienten schließen. Hinzu kommt in diesem Zusammenhang, dass medizinische Dienstleistungen bzw. Arzneimittel auch Placebo-Effekte haben können, d. h. Heilung herbeiführen, ohne wirklich heilende Wirkungen nachweisen zu können. 2. Die gesetzliche Pflegeversicherung
Eine Reihe von Besonderheiten, die für Gesundheitsgüter gelten, sind nahtlos auf Pflegedienstleistungen zu übertragen. Zunächst ist festzustellen, dass genauso wie die soziale Krankenversicherung die soziale Pflegeversicherung den eingangs ausführlich geschilderten Grundsätzen des kontinentaleuropäisch-korporativen Sozialstaatsmodells unterliegt. Die soziale Pflegeversicherung20 ist der jüngste Zweig der sozialen Sicherung in Deutschland. Ihre Notwendigkeit wurde seit dem von der Deutschen Altenhilfe herausgegebenen „Gutachten über die stationäre Behandlung von Krankheiten im Alter und über die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen“21 zunehmend inten20 21
Vgl. Lampert / Althammer (2004), S. 298 – 304. Kuratorium Deutsche Altenhilfe (1974).
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siver diskutiert. Besonders die beiden folgenden Argumente haben für ihre Einführung gesprochen: – Mit der steigenden Lebenserwartung hat die Zahl derjenigen zugenommen, die nicht mehr in der Lage waren, die (stationären) Pflegekosten aus eigener Tasche zu bezahlen. Eine steigende Zahl von Pflegebedürftigen war auf Sozialhilfe angewiesen. – Um die privaten Kosten der Pflege erträglich zu halten und um die Pflege, die häuslich angesichts der entstehenden Klein- und Patchwork-Familien nur mehr sehr eingeschränkt möglich war, zu gewährleisten, wurden vor Einführung der Pflegeversicherung viele eigentlich Pflegebedürftige zu Langliegern in Krankenhäusern, deren Behandlungskosten deutlich über den Kosten der Pflegeheime lagen.
Weitere Diskussionsgegenstände waren die Art der Pflegeversicherung. Die Entscheidung wurde gegen eine private Versicherung und gegen ein steuerfinanziertes Pflegeleistungsgesetz, jedoch für eine Pflegeversicherung auf der Basis einer Sozialversicherung getroffen.22 Pflegeversicherung als Sozialversicherung bedeutet, dass die Versicherung per Umlageverfahren und hälftig von Arbeitnehmern und Arbeitgebern über Beiträge finanziert wird. Gegen eine private Pflegeversicherung wurde entschieden, weil Wirtschaftssubjekte tendenziell myopisch handeln, weswegen für sie eine umfassende Sicherung nicht gewährleistet gewesen wäre. Insbesondere junge Erwerbstätige hätten ihren möglichen Pflegeleistungsbedarf unterschätzt. Die private Pflichtversicherung wurde aus verteilungspolitischen Gründen abgelehnt. Eine private, kapitalgedeckte Pflegeversicherung kann aus verschiedenen Gründen, vor allem aber wegen des versicherungstechnischen Äquivalenzprinzips, nicht auf eine beitragspflichtige Versicherung aller Familienmitglieder, also auch derjenigen ohne eigenes Arbeitseinkommen, verzichten. Es wären für viele Familien die Beitragsbelastungen nicht tragbar gewesen. Außerdem hätte eine auf einem Kapitaldeckungsverfahren beruhende Pflegeversicherung eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich gebracht: – Bei der Einführung der Pflegeversicherung hätte die erwerbstätige Generation sowohl für die eigene Pflegevorsorge als auch für die Versorgung der bereits Pflegebedürftigen aufkommen müssen. Dieses Problem ist durch eine umlagefinanzierte Versicherung einfacher zu lösen. – Die „asset meltdown“-Hypothese besagt, dass auch ein Kapitaldeckungsverfahren durch die demographische Entwicklung nicht unbeeinflusst bleibt.23 Bankökonomen wie Heigl / Katheder (2001)24 oder Bräuninger und andere (2002)25 gehen von erheblichen Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Kapitalrenditen und folglich auf das Kapitaldeckungsverfahren aus. Schröder / Schüler selbst, aber auch Börsch-Supan / Ludwig / Winter (2003)26 schätzen die Renditewirkungen des demographischen Wandels eher gering ein. Zusammenfassend ist demnach festzuhalten, 22 23 24 25 26
Frerich / Frey (1996), S. 629 ff. Vgl. Schröder / Schüler (2006), S. 43 – 66 und die dort zitierte Literatur. Heigl / Katheder (2001), insbesondere S. 2 ff. Bräuninger / Gräf / Gruber / Neuhaus / Schneider (2002), S. 39 ff. Börsch-Supan / Ludwig / Winter (2003), S. 15 f.
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dass auch das Kapitaldeckungsverfahren demographisch „anfällig“ ist, allerdings voraussichtlich deutlich weniger als das Umlageverfahren. Gegen eine steuerfinanzierte Pflegeversicherung sind vor allem ordnungspolitische Bedenken vorgebracht worden. Steuerfinanzierung passt nicht zu einem sozialen Sicherungssystem, das auf Eigenverantwortung, Leistungsgerechtigkeit und Selbstverwaltung fußt.27 Angesichts dieser Einwände entschied sich die Politik für eine umlagenfinanzierte Pflegeversicherung mit hälftiger Beteiligung der Arbeitgeber am Beitrag. Um die Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht über Gebühr zu belasten, wurde (mit Ausnahme des Bundeslandes Sachsen, in dem höhere Beiträge zur Pflegeversicherung zu leisten sind) der evangelische Buß- und Bettag als Feiertag gestrichen. Versicherungspflichtig in der Pflegeversicherung sind im Wesentlichen alle Versicherungspflichtigen der gesetzlichen Krankenversicherung sowie Leistungsempfänger nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) III und Rentner. Nicht erwerbstätige Ehegatten und Kinder sind beitragsfrei mit versichert. Bei der „kleinen“ Reform der Pflegeversicherung im Jahr 2007 hat man sich cum grano salis in der Großen Koalition dazu entschlossen, die umlagefinanzierte Pflegeversicherung beizubehalten und lediglich den Beitragsatz anzuheben. Weitergehende Reformen in Richtung Kapitaldeckung waren offensichtlich nicht konsensfähig. IV. Katholische Soziallehre und politische Reformen bei Krankheit und Pflege Die Debatte zur Reform der sozialen Sicherungssysteme bei Krankheit und Pflege läuft munter weiter, obwohl die jüngst beschlossenen Maßnahmen im Wesentlichen die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung in ihren traditionellen Formen erhalten sollen. Weder an der Finanzierung, noch am Leistungskatalog bzw. an den Leistungsgegenständen hat es gravierende Veränderungen gegeben. Beide Systeme werden nach wie vor umlagefinanziert, sind selbstverwaltet und gewähren bei mehr oder weniger Zuzahlung Leistungen aus bzw. in allen Breichen des Gesundheitswesens sowie für alle Pflegeklassen. Die Befürworter von Reformen wünschen sich hingegen eine Privatisierung der genannten Sicherungssysteme respektive eine kapitalgedeckte, arbeitsanreizkompatible Gestaltung der Systeme, die stärker an marktwirtschaftlichen Prinzipien orientiert ist. Der radikalste Änderungsvorschlag in der Krankenversicherung sieht eine Kopfpauschalen-Finanzierung auf der Basis eines kapitalgedeckten Fonds vor, während bei der Pflegeversicherung an die Stelle der umlagenfinanzierten gesetzlichen Pflegeversicherung eine weiterhin beitragsfinanzierte, jedoch jetzt kapitalgedeckte private (Zwangs-)Versicherung treten soll. Insgesamt lassen sich diese Überlegungen unter das Schlagwort „Neoliberalismus“ subsumieren, wobei „Neoliberalismus“ für die Entstaatlichung sozialer Sicherungssysteme bei gleichzeitiger Stärkung der personalen Eigenverantwortung steht. Käme es nicht zu einer „Modernisierung“ des Sozialstaates, so das wirtschaftsliberale Credo, dann würde der „Wirtschaftsstandort Deutschland“ schweren Schaden nehmen.28 Lampert / Althammer (2004), S. 300. Vgl. Lampert (2005), S. 1 – 30, insbesondere S. 4 f. und die dort zitierten Aussagen sowie Fn. 5 in diesem Aufsatz. 27 28
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Wie eingangs angedeutet, gibt es einen „historischen“ Konflikt zwischen dem Gedankengut der Katholischen Soziallehre und dem des Neoliberalismus. Hieraus jedoch den Schluss zu ziehen, die Katholische Soziallehre stütze deshalb eindeutig die existierenden sozialen Sicherungssysteme bei Krankheit und Pflege, ist so nicht ohne Weiteres möglich, nicht zuletzt deswegen, weil sich neoklassische Ökonomen ebenfalls zumindest der Rhetorik der Katholischen Soziallehre bedienen.29 Hinzu kommt, dass die Empfehlungen der Katholischen Soziallehre bezüglich der sozialen Sicherung generell und in Sonderheit der sozialen Sicherung bei Krankheit und Pflege durchaus „offen“ für die jeweilige historische Situation sind.30 Man muss deshalb detailliert untersuchen, inwieweit und wie Katholische Soziallehre und staatliche Sicherungssysteme vereinbar sind. Es dürfte unbestritten sein, dass es sich bei der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung in Deutschland um Solidargemeinschaften handelt. Diese Sichtweise lässt sich zum einen begründen mit den verschiedenen beitragsfreien Leistungen (beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen), zum anderen mit der Tatsache, dass die beiden Systeme risikounabhängige Beitragssätze aufweisen und Leistungsausschlüsse nicht kennen. Das praktizierte Umlageverfahren spricht zunächst formal dafür, dass nicht nur die vertikale, sondern auch die Gerechtigkeit zwischen den Generationen gesichert ist. Allerdings ist diese Aussage umstritten. Ökonomen halten ein kopfpauschaliertes Kapitaldeckungsverfahren für geeigneter, da es die a priori gleiche „Anfälligkeit“ für Krankheit und Pflege abbildet sowie das Arbeitsangebot nicht verzerrt.31 Eine „Kopfpauschale“ als Finanzierungsinstrument für die Risiken Krankheit und Pflege ist von der ökonomischen Wirkung her einer Pauschalsteuer („lump sum“-Steuer) ähnlich. Allokativ hat die Kopfpauschale erhebliche Vorteile, da sie keine Zusatzbelastung („excess burden“) der „Besteuerung“ verursacht.32 Konkret heißt das, dass eine Kopfpauschale „nur“ einen Einkommenseffekt, nicht aber zusätzlich einen Substitutionseffekt generiert, da der Lohnsatz (= Preis des Faktors Arbeit) durch die Pauschale im Vergleich zu anderen Gütern nicht verändert wird. Eine Kopfpauschale senkt das Einkommen, was eindeutig das Arbeitsangebot erhöht, während ein beitragsfinanziertes System das Einkommen und den Lohnsatz vermindert, wodurch die Opportunitätskosten der Freizeit abnehmen und die Nachfrage nach Freizeit folglich zunimmt.33 Einkommens- und Substitutionseffekt zeigen demnach unterschiedliche Richtungen, weswegen es letztlich eine empirische Frage ist, welcher Nettoeffekt zustande kommt. Dem allokativen Vorteil der Kopfpauschale steht allerdings die soziale Problematik gegenüber, da die Kopfpauschale regressiv wirkt, d. h. Einkommensschwächere relativ stärker belastet als Personen mit höherem Einkommen. Die Kopfpauschale muss deshalb von einem steuerlichen Umverteilungssystem begleitet werden. Die Kritik an einem „Umverteilungsungetüm“ im Gefolge eines Kopfpauschalensystems wird jedoch dadurch abgeZ. B. Breyer u. a. (2004), Kapitel II. Vgl. Genosko (1986), S. 404 – 421, insbesondere S. 406 ff. 31 Im Englischen werden die Sozialversicherungsbeiträge als „tax“ bezeichnet, da sie obligatorisch zu entrichten sind. Sie werden in der einschlägigen Literatur deshalb auch im „lump sum“Steuerrahmen hinsichtlich ihrer ökonomischen Wirkungen behandelt; Genosko (1985), Kapitel 6. 32 Vgl. Homburg (2007), S. 141 ff. 33 Eine genau zutreffende Darstellung findet sich bei Brümmerhoff (2007), S. 457 – 463. 29 30
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schwächt, dass künftig im Gesundheitswesen die Ausgaben für Kinder aus Steuermitteln (also von allen Steuerzahlenden, ob sie Kinder zu versorgen haben oder nicht) gedeckt werden sollen. Auch hierfür ist eine „Distributions“-Administration erforderlich. Gleichzeitig verbessert sich die „allokative“ Performance des Umlageverfahrens, da die Umverteilung wegen mitversicherter Familienangehöriger vermindert wird. Gemessen an den Prinzipien der Katholischen Soziallehre stärkt a priori die allokativ zu bevorzugende Kopfpauschale die Subsidiarität und die Solidarität. Die Stärkung der Subsidiarität ergibt sich daraus, dass durch die Vermeidung von Ineffizienzen und durch die damit verbundene Stärkung des versicherungstechnischen Äquivalenzprinzips die (kleinere) Versichertengemeinschaft in der Lage ist, ihre Aufgabe besser zu erfüllen. Zugleich werden die Versicherten, wenn sie die sozialen Sicherungssysteme wieder mehr als Versicherungen wahrnehmen, eher zu solidarischem Handeln bereit sein. Andererseits dürfte die Kopfpauschale dem Prinzip der Gerechtigkeit allenfalls eingeschränkt entsprechen. Üblicherweise wird bei Zahlungen von Zwangsbeiträgen Progressivität als gerecht empfunden: Reiche sollen stärker belastet werden als Arme. Unabhängig davon, dass auch die existierenden Sicherungssysteme bei Krankheit und Pflege wegen der Beitragsbemessungsgrenze regressiv wirken, ist es fraglich, ob die Progressivität im konkreten Fall tatsächlich positiv zu bewerten ist, wenn man die Gerechtigkeit zwischen den Generationen in die Überlegungen mit einbezieht. Gegen die als Alternative vorgeschlagene Bürgerversicherung lassen sich im Prinzip die gleichen Einwände wie gegen das beitragsfinanzierte System bei den Risiken Krankheit und Pflegebedürftigkeit vorbringen. Die Bürgerversicherung verdrängt nicht den Zwangsbeitrag als Finanzierungsinstrument, sie stellt ihn „lediglich“ auf eine breitere Bemessungsgrundlage. Hinzu dürfte kommen, dass die „Bürgerversicherung“ nicht der von der Katholischen Soziallehre eingeforderten „Sachgerechtigkeit“ entspricht. Es ist nämlich kaum nachzuvollziehen, warum Menschen, die finanziell in der Lage wären, sich privat zu versichern, daran gehindert werden sollen. Dies würde sich aber auch gegen die Subsidiaritätsidee richten, weil dem Einzelnen tendenziell Aufgaben und Verantwortungen abgenommen würden, die er durchaus aus eigener Kraft bewältigen bzw. denen er aus eigener Initiative gerecht werden könnte. Im Übrigen dürfte auch die Beihilferegelung für Beamte „sachgerecht“ sein, da sie für die öffentlichen Hände in der Regel kostengünstiger ist als eine (gesetzliche) Versicherung der Beamten, für die die öffentlichen Arbeitgeber hälftig den Beitrag übernehmen müssten. Bei der Beihilfe entstehen ihnen Ausgaben nur im tatsächlichen Krankheitsfall. Um die Sozialkosten senken und die Effizienz der Sicherungssysteme bei Krankheit und Pflege zu erhöhen, wird vor allem im Gesundheitswesen der Ruf nach Konzentration lauter. Prima vista konterkariert die Befolgung des Rufs das Subsidiaritätsprinzip. Da aber das Subsidiaritätsprinzip nach überwiegender Meinung nicht das „gravissimum principum“ darstellt, sondern gleichrangig neben Solidaritäts- und Gemeinwohlprinzip steht, hat die (subsidiäre) Gestaltung des Gesundheits- und Pflegewesens auch der Effektivität und Effizienz Aufmerksamkeit zu zollen. Im Übrigen würde das Primat der Effizienz nur dann zu einer „erstbesten“ Lösung führen, wenn es keine Unsicherheit und keine Informationsasymmetrien gäbe.34 In der realen Welt treten jedoch beide Sachverhalte auf. Subsidiär gestaltete soziale Sicherungssysteme könnten jedoch Un34
Genosko (2004), S. 48, Fußnote 12.
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sicherheit und Informationsasymmetrien reduzieren.35 So gesehen lässt sich das Subsidiaritätsprinzip durchaus mit den Zielen der Effektivität, der Effizienz und der Transparenz sozialpolitischen Handelns in Übereinstimmung bringen. Fasst man zusammen, so lässt sich feststellen, dass Ideen der Katholischen Soziallehre bei Einführung der sozialen Sicherungssysteme in der Nachkriegszeit Pate gestanden haben. Durch die zunehmende Umverteilung in den sozialen Sicherungssystemen ist der Solidaritätsgedanke verletzt worden. Besonders die gesetzliche Krankenversicherung wird von den Mitgliedern immer weniger als Versicherung und immer mehr als Parafiscus perzipiert. Diese Entwicklung richtet sich auch gegen das Subsidiaritätsprinzip, weil dem Einzelnen tendenziell Aufgaben und Verantwortlichkeiten abgenommen werden, die er durchaus aus eigener Kraft bewältigen bzw. denen er aus eigener Initiative gerecht werden könnte. Katholische Soziallehre und Sozialpolitik haben in Deutschland in den Jahren der „Neugründung“ der sozialen Sicherung gut harmoniert. Im Laufe der Zeit hat sich allerdings die (geistige) Distanz zwischen beiden vergrößert. Im Lauf der Zeit haben sich vor allem die Kranken-, weniger die Pflegeversicherungen gemäß der Ideen von Solidarität und Subsidiarität entwickelt.
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Zu Einzelheiten vgl. Genosko (2006), S. 43 – 57, insbesondere S. 52 f.
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Das caritative Engagement der Kirche Von Heinrich Pompey
Die Katholische Kirche realisiert ihr caritatives Engagement weltweit auf mehreren Ebenen: 1. unterhalten Diözesen und Pfarreien verschiedene Einrichtungen und Dienste der Caritas (in Deutschland geschieht dies durch diözesane und regionale Caritasverbände), 2. lebt die christliche Caritas in den Diensten der Liebe der einzelnen Christen (sei es in der eigenen Familie oder in der Nachbarschaft, im Kreis der Arbeitskollegen wie in gemeindlichen Jugend- und Erwachsenen-Gruppen), 3. unterhalten zahlreiche soziale, pflegerische und pädagogische Orden Krankenhäuser, Rehabilitationskliniken u. ä. (z. B. Pflegeorden wie die Vinzentinerinnen, die Barmherzigen Brüder, die Kamillianer etc.) oder erzieherische Einrichtungen (z. B. der Erziehungsorden des Hl. Don Bosco). Ferner nehmen 4. pfarrei-übergreifende religiöse Gemeinschaften (seit dem 10. Jahrhundert adelige Ritterorden oder bürgerliche Bruderschaften) sowie neue spirituelle Gruppierungen (z. B. Vinzenzkonferenzen, Sant’Egidio-Gruppen, u. a.) bis heute ein caritatives Engagement für Kranke oder Notleidende in unterschiedlichen Formen wahr. Das vielfältige caritative Engagement der Kirche ist geprägt: 1. durch theologische Vorgaben (vor allem durch biblisch-theologische, systematisch-theologische und praktisch-theologische Optionen) sowie 2. durch historisch-politische und landesrechtliche Bestimmungen bzw. Konkordate, 3. durch staatliche Sicherungssysteme (Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherungen sowie Förderungen durch die öffentliche Hand), 4. durch den humanwissenschaftlichen Ausbildungsstand der helfenden Berufe etc. Diese Faktoren geben dem jeweiligen nationalen caritativen Engagement der Kirche in Verbindung mit den sozialen und medizinischen Herausforderungen der einzelnen Länder ihr eigenes Profil, so dass sich weltweit – trotz gleicher theologischer Grundlagen – sehr unterschiedliche Ausprägungen finden.
I. Die Struktur des caritativen Engagements der Weltkirche Die katholische Weltkirche verfügt in Rom über zwei caritas-relevante Organisationsspitzen: den Päpstlichen Rat „Cor Unum“, das sogenannte „Caritas-Ministerium“ des Papstes, und „Caritas Internationalis“, ein Zusammenschluss aller nationalen, insbesondere aller kontinentalen Caritasverbände der Welt. Der Papst übt seine caritativ-soziale Diakonie in der Welt mit Hilfe des Päpstlichen Rates „Cor Unum“ aus (z. B. durch Hilfen bei Katastrophen, durch Aufbau von caritativen Einrichtungen und Diensten etc). Ferner kommt „Cor Unum“ die Aufgabe zu, für die theologisch-spirituelle Stärkung der caritativ-sozialen Diakonie der Kirche Sorge zu tragen sowie die sozial-caritative Verantwortung der Bischöfe zu stärken. „Caritas Internationalis“ ist der Zusammenschluss der kontinentalen Spitzenvereinigungen der nationalen Caritasverbände (z. B. Caritas
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Europa, Caritas Asien, Caritas Nordamerika, Caritas Südamerika, Caritas Afrika, Caritas Vorderer Orient und Nordafrika). Caritas Internationalis nimmt die Aufgabe wahr, u. a. bei großen Natur- oder Kriegskatastrophen die verschiedenen caritativen Aktivitäten der einzelnen Länder zu koordinieren, die Entwicklung nationaler Caritasverbände zu fördern, den gegenseitigen, weltweiten Informationsaustausch zu pflegen, die Interessen der Caritas der Kirche in Weltorganisationen (z. B. in der WHO, in der UNO) zu vertreten. Beide römischen Weltzentren der Caritas sind institutionell miteinander verbunden. Neben Cor Unum und Caritas Internationalis gibt es weitere Päpstliche Räte, die die soziale Diakonie der Katholischen Kirche mittragen, so der Päpstliche Rat „Justitia et Pax“ (das „Friedens- und Entwicklungsministerium“ des Papstes) für den sozial-politischen Bereich und der Päpstliche Rat „Pontificium Consilium pro Pastorali Valetudinis cura“ für die Pastoral im Kranken- und Pflegedienst. Die Päpstlichen Räte sehen ihre Aufgabe nicht darin, dirigistisch das caritative Engagement der Kirche in den verschiedenen Ländern zu steuern, sondern subsidiär den kirchlich-caritativen Gemeinschaften, Verbänden und Einrichtungen zu helfen, damit sie der caritativen Diakonie zum Wohl der leidenden Menschen nachkommen können. Das caritative Engagement der Kirche erstreckt sich auf zwei große Handlungsfelder: (1) die medizinisch-pflegerischen Dienste und (2) die psycho-sozialen wie materiellen Hilfebereiche. Beiden Feldern ist – in Folge des ganzheitlichen Hilfeansatzes der caritativen Diakonie – zu eigen, dass sie stets die seelische wie geistliche Dimension des Helfens einschließen. Weltweit nehmen die Caritasverbände vorrangig die Hilfe für Menschen in sozialen und materiellen Notlagen wahr, wie z. B. Secours Catholique – Caritas France. Anders als in Deutschland sind in den meisten süd-westeuropäischen Ländern mit guter allgemeiner medizinisch-pflegerischer Versorgung (z. B. in Spanien, Frankreich) die medizinisch-pflegerischen von den sozial-materiellen Dienstleistungen der kirchlichen Caritasverbände organisatorisch getrennt. In diesen Ländern zählen medizinisch-pflegerische Dienstleistungen wie die Krankenhausträgerschaft zur sogenannten „économie sociale“. Das bedeutet, dass in diesen Ländern die christlich geprägten Kranken- und Pflegehäuser, z. B. der Vinzentinerinnen, der Lazaristen u. ä. Teil des gewinnorientierten nationalen medizinischen Dienstleistungssektors sind (z. B. in Spanien). Demgegenüber betreibt in Deutschland die verbandliche Caritas Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, Rehabilitationskliniken etc. Die von den meisten Staaten vorgegebene Ausklammerung von Pflegediensten und Gesundheitshilfen aus der organisierten Caritas begründet eine analoge Aufgabenteilung wie der Päpstlichen Räte, zumal sich die Krankenhausdiakonie in den meisten Ländern auf die Krankenpastoral und die medizinisch-ethische Beratung der Ärzte begrenzt. Das caritative Engagement umfasst neben der Helferfunktion für Kranke, Behinderte, Betagte, Heimatlose, Wohnungslose, Arme, Ausgegrenzte etc. (Mikro-Diakonie) die sogenannte sozial- und gesundheitspolitische Anwaltsfunktion für physisch und sozial Benachteiligte (Makro-Diakonie), um durch sie qualifizierte makrosystemische Voraussetzungen für die nationale Versorgung von Kranken und Notleidenden herzustellen und die Lebensbedingungen wie die materiellen Lebenssicherungen der Menschen zu verbessern. Diese sozial-politische Anwaltsfunktion übt die Kirche in vielfältiger Weise aus: weltweit durch offizielle Lehrschreiben (Enzykliken) der Päpste, durch Erklärungen z. B. des „Pontificium Consilium Justitia et Pax“ oder auf nationaler Ebene durch
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Soziale Hirtenbriefe der Bischofskonferenzen oder einzelner Bischöfe bzw. in Deutschland durch die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle Mönchengladbach, durch die Öffentlichkeitsarbeit der Caritasverbände, durch öffentliche sozial-ethische Tagungen der Akademien sowie durch die Fachvertreter für Christliche Sozialethik bzw. medizinische Ethik an den Universitäten. Die Mikro-Diakonie (Helferfunktion) wie die Makro-Diakonie (Anwaltsfunktion) sind zwei sich ergänzende Dienstleistungen des caritativen Engagements der Kirche.
II. Die theologischen Grundlagen des caritativen Engagements der Kirche Das Wort Caritas kommt vom lateinischen Begriff „carus“, d. h. lieb und teuer. Es ist die Übersetzung des neutestamentlichen Begriffes Agape (d. h. Liebe, vgl. 2 Kor 8,7). In nachapostolischer Zeit wird mit dem Begriff Agape auch das Liebesmahl – das gemeinsame Mahl der Gemeinde mit den Armen – bezeichnet.1 Der Dienst der Liebe, d. h. Caritas, und Verkündigung des Glaubens stellen nach dem neutestamentlichen Zeugnis der Urgemeinde Grunddienste der Kirche und des einzelnen Christen dar. Glaube und Liebe bilden eine Wirkeinheit (1 Tim 1,4; 2 Tim 1,13). Christliche Liebe kommt aus dem Glauben (Gal 5,6), wie christlicher Glaube aus der Liebe zu Gott erwächst (1 Joh 4,7). Die Liebe Gottes zu den Menschen, die ihren konkreten Ausdruck im heilenden, befreienden und erlösenden Tun Jesu Christi findet und durch den Hl. Geist mitgeteilt wird (Röm 5,5; Gal 5,22), ist der Urgrund der menschlichen Liebe (Eph 5,2; 1 Joh 4,11 und 19) zum leidenden Menschen (vgl. Endgerichtsrede Mt 25,31 ff.; Mt 10,40 ff.). In der christlichen Urgemeinde bleiben Gottesdienst und Nächstendienst praktisch wie theologisch elementar verbunden, ebenso der Verkündigungsdienst und der Nächstendienst.2 Heilen und Helfen Jesu sind nie losgelöst von der Verkündigung und der Bezeugung der mit ihm angebrochenen Gottesherrschaft bzw. des Reiches Gottes. Sie sind Teile der christlichen Martyria. Ganz eindeutig haben die Heilungen Jesu die Funktion, die Verkündigung zu verdeutlichen (Lk 9,1 – 21; 7,22 – 23). Praxis-leitend blieben bis auf den heutigen Tag die biblischen Werke der leiblichen Barmherzigkeit und der geistigen Barmherzigkeit.3 Eine erste lehramtliche, systematische Grundlegung und Inspiration erfährt die caritative Sendung der Kirche mit der Enzyklika Deus caritas est (= DCE) durch Papst Benedikt XVI. (vom 25. 01. 2006).4 Das Lehrschreiben reflektiert die Theologie der Caritas und ihre philosophisch-anthropologische Grundlegung (DCE 2 – 18). Aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen, d. h. aus dem in Gott gründenden caritativen Sein des Menschen (DCE 39), ergibt sich die caritative Bestimmung des Menschen, d. h. wie Gott ein Liebender zu sein und Liebe weiterzuschenken (DCE 16). Das caritative Engagement ist unmittelbare Verkündigung der Liebe Gottes.5 In ihrem caritativen EngageTertullian, Apologeticum, c.39. Vgl. Benedikt XVI.: Enzyklika „Deus caritas est“ (DCE), 25 a. 3 Pompey, Barmherzigkeit (1997a), S. 244 – 258. 4 Vgl. Pompey, Neuprofilierung (2007), S. 15 – 25. 5 Benedikt XVI., Ansprache beim internationalen Kongress „Doch am größten unter ihnen ist die Liebe“ (2006) (ZENIT.org). 1 2
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ment übt die Kirche einen sakramentalen Grunddienst aus, analog zu Liturgie und Verkündigung. Der dreifache Auftrag der Kirche zur Verkündigung (martyria), zur Feier der Sakramente (leiturgia) und zum Dienst der Liebe (diakonia) bedingt sich gegenseitig. Darum gehört das caritative Engagement der Kirche „zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst“ (DCE 25a). Damit hat Benedikt XVI. die ekklesiologische Relevanz des caritativen Engagements deutlich definiert. Aus diesem Grund entfaltet Benedikt XVI. die Liebe als Quelle der „not“-wendigen Lebenskraft und Lebensweisheit. Caritative Diakonie will Glauben, Hoffen und Lieben bei Menschen in existentieller Not und schwerem Leid mit Demut und Geduld revitalisieren (DCE 39).6 Sehr ungewohnt ist im Blick auf den Dienst der Liebe seine Option für den inneren Zusammenhang von Agape und Eros.7 Mitarbeiter der Caritas der Kirche müssen vorrangig „Menschen sein, die von der Liebe Christi berührt sind“ (DCE 33, 31b). Das schließt selbstverständlich ein, dass sie auch über qualifizierte professionelle Hilfekompetenzen verfügen (DCE 31a).8 Neben dem konkreten Dienst der Liebe favorisiert Papst Benedikt XVI. Kirche und Gemeinde als „Gemeinschaft der Liebe“.9 Die leidenden Menschen von heute wünschen nicht nur fachlich kompetente Dienste der Liebe sondern suchen ebenso eine Beheimatung in „Gemeinschaften der Liebe“, d. h. die Erfahrung konkreter, communial gelebter Solidarität in Situationen unüberwindlichen Leids.10 Diese Ergänzung der Person-bezogenen Caritas durch eine communiale Caritas stellt für die deutsche Caritaspraxis mit ihrer vorrangigen Face-to-face-Akzentuierung einen neuen theologischen wie zugleich humanen Qualitätsanspruch dar. Die Verbindung von Personalität und Communialität ist nur zu erreichen, wenn die fachverbandlichen Caritasdienste und Einrichtungen eine communiale Caritaskultur in den Lebensräumen der Pfarrgemeinden zur Entfaltung bringen, um so die caritativen Fachhilfen durch eine communial geprägte Hilfe- wie zugleich Lebenskultur zu ergänzen.
III. Historie In der Urkirche11 war die Sorge für den „Dienst der Liebe“ und für die „Gemeinschaft der Liebe“ mit der Feier der Liturgie und der Verkündigung verbunden. Organisatorisch lag die verantwortliche Leitung für die helfende Solidarität bei den Aposteln (Apg 6,2). Zu ihrer Entlastung setzten sie Helfer ein (Apg 6,1 – 7), die Diakone genannt wurden. Auf dem Konzil von Chalkedon (451 n. Chr.) wird die Diakonie, d. h. das caritative Engagement der Kirche, dem Bischof unterstellt (Kanon 8)12, auch wenn das konkrete Helfen von Diakonen und Witwen ausgeübt wird. Unter den Bedingungen gesellschaftlicher Freiheit und staatlicher Akzeptanz im ausgehenden Altertum und frühen Mittelalter (Konstantinische Wende) ergänzt die Kirche das vorwiegend Vgl. Pompey, Die Diakonie des Glaubens (2006), S. 185 – 200. Pompey, Zur Neuprofilierung (2007), S. 33, S. 45 – 80. 8 Fachlichkeit und caritative Menschlichkeit sind zu verbinden; vgl. Pompey, Beziehungstheologie (1997), S. 92 – 128. 9 Vgl. die Überschrift des II. Teils der Enzyklika (DCE 19). 10 Die Ergänzung des Dienstes der Liebe durch die Option der „Gemeinschaft der Liebe“ gründet in der Trinitätstheologie (DCE 19); vgl. Pompey, Wie im Himmel, so auf Erden (2008). 11 Vgl. Pompey, Christlicher Glaube und helfende Solidarität (1995), S. 75 – 134. 12 Vgl. Pompey, Bischof als „Pater pauperum“ (2000), S. 339 – 361. 6 7
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gemeindebezogene caritative Engagement durch eine Anstaltsdiakonie. Xenodochien (gr.), Spitäler (lat.), Herbergen werden für arme, kranke Fremde errichtet.13 Hauptinspirator der Einrichtungsdiakonie war Basilius d. Gr. (330 – 379 n. Chr.).14 In Rom gab es bereits in der Mitte des 3. Jahrhunderts unter Papst Cornelius Zentralhäuser, „Diakoniae“ genannt, die unter der Leitung eines Diakons Vorräte für die Armenspeisung bereithielten. 15 Das Konzil von Tours (567 n. Chr.) bestimmt, dass jede „civitas“ – womit die Kirchengemeinde beschrieben wird – ihre Armen unterhalten soll.16 Kathedralkapitel und Klöster sind Zentren der psycho-sozialen wie materiellen Hilfe.17 Auf Befehl Karls des Großen beschließt das Provinzialkonzil (799 n. Chr.) in Salzburg, dass alle Gläubigen viermal im Jahr öffentlich Almosen abgeben müssen.18 Unter Ludwig dem Frommen wird auf der Synode von Aachen (817 n. Chr.) jedem Bischof vorgeschrieben, „ein Hospital für Arme und Fremdlinge zu errichten und genügend auszustatten“.19 Im Hochmittelalter entsteht mit der Entwicklung und Entfaltung der Städte nach der Jahrtausendwende ein reiches Bürgertum, das sich aus christlichem Geist der Armenund Krankenhilfe verpflichtet weiß. Neben den kirchlichen Spitälern stiften sie in ihren Städten die sogenannten Bürger-Spitäler20, deren Unterhalt durch Stiftungen von Weinbergen, Ländereien, Waldbeständen etc. langfristig gesichert wird. Soziale Stiftungen wie Bürgerspitäler zum Heiligen Geist gibt es in fast allen mittelalterlichen Städten Europas. Träger der helfenden Solidarität sind 1. die eigene Großfamilie als sogenannte Natürliche Hilfegemeinschaft, 2. religiös geprägte Ritterschaften, die sich vor allem in fremden Ländern der kranken und armen Pilger (Johanniter- / Malteserorden) oder der Aussätzigen (Lazarusorden u. a.) annehmen sowie bürgerliche Bruderschaften, die sich im Geiste einer Lebensraum bezogenen Solidarität für Fremde und Familienlose individuell engagieren oder Armenhäuser unterhalten und sich als sogenannte Fremdhilfegemeinschaften verstehen. Zudem entstehen mit dem Bürgertum 3. sogenannte Selbsthilfegemeinschaften wie die Gilden und Zünfte, die nicht nur berufliche Interessen vertreten, sondern als Hilfegemeinschaften für ihre Mitglieder soziale Hilfen und sozialen Schutz bereithalten. In der frühen Neuzeit gewinnt die öffentliche, insbesondere die kommunale Wohlfahrt an Eigenständigkeit. Die kirchliche Wohlfahrt unter bischöflicher Leitung tritt zurück. Die christliche Inspiration des Helfens und der Solidarität werden von den Orden und Einzelpersönlichkeiten weitergetragen. Neben dieser außerpfarrlichen Caritas behält die Pfarrcaritas ihre Bedeutung. Das Konzil von Trient (1545 – 63) macht den Pfarrern zur Pflicht: „Pauperum aliarumque miserabilium personarum curam paternam gerere“.21 Im gleichen Sinne ist bereits die Kölner Diözesansynode von 1536 bemüht. 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Vgl. Pompey, Christlicher Glaube und helfende Solidarität (1995), S. 93. Vgl. Sotoniakova, Basileias (1999). Vgl. Pompey, Christlicher Glaube und helfende Solidarität (1995), S. 75 – 134, S. 93. Vgl. Liese, Geschichte (1922), S. 130. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 142. Vgl. ebd., S. 143. Vgl. ebd., S. 153. Scheuermann, Pfarrei und Caritas (1986), S. 163.
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Nach dem Zusammenbruch der kirchlichen und staatlichen Strukturen in Deutschland nach 1806 kommt es zu einem neuen, ungeahnten religiösen wie sozialen Frühling. Sogenannte Caritaskreise werden von Bürgern, Adeligen und Geistlichen bereits in den 1920er-Jahren z. B. in Münster, Koblenz und Aachen gegründet.22 Aber auch Bischöfe – z. B. Bischof v. Ketteler (1811 – 1877), Mainz – nehmen sich der Erneuerung der sozial-caritativen Idee an. So werden Waisenhäuser errichtet, soziale Orden aus anderen Ländern nach Deutschland gerufen oder neue caritative Ordensgemeinschaften gegründet. Für den südwestdeutschen Bereich ist Professor Ritter von Buß (1803 – 1878) von entscheidender Bedeutung. Er verfasst (1843 – 1846) ein „System der gesamten Armenpflege“ in drei Bänden. Als Präsident des Ersten Katholikentages 1848 in Mainz fordert er die planmäßige Förderung und Organisation der Caritas.23 Nach der Wiedererrichtung einer kirchlichen Hierarchie in Deutschland werden die Bischöfe sehr bald sozial-diakonisch aktiv: Provinzialsynoden in ganz Europa empfehlen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Erneuerung der gemeindlichen Armenpflege.24 Auf der ersten Konferenz der deutschen Bischöfe 1848 in Würzburg wird eine Denkschrift zur freien und ungehinderten Ausübung der Caritas veröffentlicht.25 Flankiert wird die Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Gründung einer Vielzahl neuer Krankenpflegeorden wie der Barmherzigen Schwestern in Straßburg, der Borromäerinnen in Koblenz, der Clemensschwestern in Münster, der Armen Schwestern in Aachen, der Grauen Schwestern in Neiße u. a.26, die sich über das ganze Reich ausbreiten. Hinzukommt das caritative Engagement ehrenamtlich engagierter Laien in den Pfarrgemeinden. 1848 entsteht in der evangelischen Landeskirchengemeinschaft die Innere Mission. 1890 wird von Professor Franz Hitze, Max und Franz Brandts u. a. die „Denkschrift betr. die Stellung der katholischen Kirche zur sozialpolitischen Liebestätigkeit; Mängel der katholischen Wohltätigkeit; Notwendigkeit einer engeren Verbindung der katholischen Wohltätigkeitsveranstaltungen untereinander und mit der vorgesetzten geistlichen Behörde“ verfasst und dem Erzbischof von Köln übergeben, der sie der Bischofskonferenz vorlegt, wo sie große Zustimmung findet.27 Die ersten Ortscaritasverbände entstehen 1897 in Essen, 1899 in Straßburg und in München. Der erste Diözesancaritasverband (DiCV) wird 1903 im Erzbistum Freiburg offiziell gegründet. Am 9. November 1897 gelingt es Lorenz Werthmann zur Verbesserung und Koordination der christlichen Sozialarbeit in Köln den „Charitasverband für das katholische Deutschland“ zu gründen. Freiburg i. Br. wird Sitz des Verbandes. 1916 erkennt die Deutsche Bischofskonferenz den Verband als „die legitime Zusammenfassung der Diözesancaritasverbände zu einer einheitlichen Organisation“ an. In den Zeitraum von 1905 bis 1911 fällt ebenfalls die Gründung von gesamtdeutschen Fachverbänden, z. B. für psychisch Kranke, für die Seelsorge in Heil- und Pflegeanstalten, für die Krankenhausvorstände, für die Auslandsseelsorge usw. 1933 bis 1945 kommt es in Deutschland und in Österreich – nach dem „Anschluss“ 1938 – zu erheblichen Einschränkungen, Verlusten von Einnahmen und Einrichtungen 22 23 24 25 26 27
Vgl. Pompey, Bischof als „Pater pauperum“ (2000), S. 359 f. Vgl. Pompey, Christlicher Glaube und helfende Solidarität (1995), S. 106. Vgl. Scheuermann, S. 163. Vgl. ebd. Vgl. Gatz, Caritas und soziale Dienste (1982), S. 312 – 351. Vgl. Pompey, Christlicher Glaube und helfende Solidarität (1995), S. 109.
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durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Doch eine vollständige Auflösung der deutschen Caritasverbände geschieht nicht. Die Jahre nach 1945 stellen eine neue Bewährungsprobe des caritativen Engagements der deutschen Kirche dar, z. B. im Blick auf die ausgebombte Bevölkerung, die Heimatvertriebenen, die Rückkehr der Gefangenen und Verschleppten, den Wiederaufbau einer sozial-caritativen Infrastruktur, die Verteilung der Liebesgaben aus dem Ausland u. a. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989 kommt es zu einer großen Welle von Asylsuchenden, Wirtschaftsflüchtlingen usw. Der DCV und seine Verbände werden zu Hauptträgern der Betreuungsund Integrationsarbeit.
IV. Organisation und Handlungsfelder der Caritas heute Im Wesentlichen besteht das caritative Engagement der Kirche in Deutschland 1. in einer qualifizierten Fachcaritas ortsnaher Caritasverbände, 2. in sozialen, pflegerischen und erzieherischen Einrichtungen von Orden und 3. in Fachverbänden für bestimmte caritative Dienstleistungen (z. B. Malteser Hilfsdienst [MHD], Mädchensozialarbeit IN VIA, Kreuzbund, Verband katholischer Tageseinrichtungen für Kinder [KTK] u. a.). Je stärker sich die fachliche Caritas entfaltet, umso mehr geht das konkrete, mitmenschliche Solidaritäts- und Hilfeverhalten in den Gemeinden zurück (mit Ausnahme im Familienbereich). Nur dann bleiben gemeindebezogene Vinzenz- und Elisabethenkonferenzen bestehen, wenn sie sich der Fachcaritas affiliieren oder – wie der Sozialdienst katholischer Männer (SKM) und Frauen (SKF) – eigene Facheinrichtungen und Dienstleistungen unterhalten. Die Fachcaritas ist organisiert im Deutschen Caritasverband (DCV). Nach der Satzung des Deutschen Caritasverbandes e.V. vom 16. Oktober 2003 in der Fassung vom 18. Oktober 2005 ist er ein „Verband der Freien Wohlfahrtspflege“ (§ 1 [2]) und zugleich „die von den deutschen Bischöfen anerkannte institutionelle Zusammenfassung und Vertretung der katholischen Caritas in Deutschland“ (§ 2 [1]). „Der Verband steht unter der nach dem Codex Iuris Canonici sich bestimmenden Aufsicht der Deutschen Bischofskonferenz“ (§ 2 [3]) und der Vorsitzende der für die Caritas zuständigen Bischöflichen Kommission hat das Recht, an den Sitzungen der Verbandsorgane teilzunehmen (§ 2 [4]). Für die Arbeitsverhältnisse gilt die Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse (§ 2 [5]). Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen dem Deutschen Caritasverband und seinen Gliederungen und Mitgliedsorganisationen werden nach dem Subsidiaritätsprinzip geregelt. Anders als manche Diözesanen Caritasverbände (DiCV’s) unterhält der DCV keine eigenen Einrichtungen. Als Dachverband kommt ihm die Aufgabe zu, die Werke der Caritas in Deutschland planmäßig zu fördern, das Zusammenwirken aller Personen und Einrichtungen der Caritas zu ermöglichen, die sozial-caritative Facharbeit und ihre Methoden weiterzuentwickeln, die Mitarbeiter auszubilden, die Öffentlichkeitsarbeit zu pflegen, die Caritas in überdiözesanen Angelegenheiten zu vertreten u. ä. Innerhalb und außerhalb der Kirche wird der DCV repräsentiert durch den Präsidenten. Die Verbandsgeschäftsführung obliegt dem geschäftsführenden Vorstand. Ein Zentralrat ist verantwortlich für die Wahl des Präsidenten und entscheidet über Fragen grundsätzlicher Art. Das repräsentativste Organ des DCV ist die Vertreterversammlung. Der DCV ist einer der sechs Spitzen-
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verbände der Freien Wohlfahrtspflege und Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. (BAGFW). Unter dem Dach des DCV sind 2005 in 26 000 Diensten und Einrichtungen ca. 482 000 hauptberufliche Mitarbeiter tätig, wobei der größere Teil (über 196.000) in der Gesundheitshilfe, ca. 106.700 in der Kinder- und Jugendhilfe, ca. 97.550 in der Altenhilfe und 57.400 in der Behindertenhilfe eingesetzt sind.28 Hinzukommen fast genauso viele ehrenamtliche Helfer, die insbesondere in den Caritaskonferenzen, den Krankenhausbesuchsdiensten (den sogenannten grünen Damen) u. ä. organisiert sind. Die Zahl der hauptberuflichen Mitarbeiter im Deutschen Caritasverband beträgt 1984 301 690, steigert sich 1994 auf 431.356 und umfasst 2005 482.172 Vollzeit- und Teilzeit-Beschäftigte. Nach dem Verfassungsrecht der Kirche ist der Deutsche Caritasverband „ein privater Verein von Gläubigen im Sinne der Canones 299, 321 – 326 des Codex Iuris Canonici (Codex des kanonischen Rechts)“.29
V. Innerverbandliche sowie politische, finanzielle und gesellschaftliche Veränderungen als neue Herausforderungen 1. Der Wandel des Hilfeverhaltens und des christlichen Propriums
Ist das caritative Engagement bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher eine freiwillige, geschenkte Hilfe – gewährt durch caritative Ordensgemeinschaften oder Laieninitiativen, wie pfarrgemeindliche Vinzenzkonferenzen u. a. –, so wandelt sich in Deutschland – wie zum Teil auch in anderen Ländern – das Hilfeverhalten grundlegend durch die politische Einführung neuer Absicherungssysteme im Blick auf die vielfältigen Lebensrisiken. Es entstehen – und zwar nach dem Prinzip der Solidarität – 1883 die Krankenversicherung, 1884 die Unfallversicherung, 1889 die Alters- und Invaliditätsversicherung, 1911 die Erwerbslosenfürsorge bzw. 1927 die Arbeitslosenversicherung und 1995 die Pflegeversicherung. Diese Versicherungen führen zur finanziellen Abmilderung der vielfältigen Notlagen der Menschen, die sich durch die Industrialisierung, Verstädterung, Auflösung der Großfamilien und die demographische Expansion der Bevölkerung verstärkt haben. Die nicht durch Versicherungen abgedeckten Lebensschicksale, wie Nichtsesshaftigkeit, Jugendverwahrlosung und Erziehungsprobleme, Straffälligkeit, Drogen- und Alkoholabusus, Ehe- und Familienprobleme, Überschuldung etc., sind zum Teil zunehmend durch freiwillige kommunale Zuschüsse an die freien Träger bei entsprechenden Dienstleistungen materiell abgestützt. Pflege, medizinische Behandlungen, psychische Hilfen und soziale Unterstützungen werden zu bezahlten Dienstleistungen der Versicherungen bzw. der öffentlichen Hand, was den caritativen, personalen Charakter des christlichen Hilfeverhaltens verändert. Zudem bewirkt die begrüßenswerte fachliche Entwicklung der Medizin und Pflege wie der pädagogischen und psycho-sozialen Dienste die Entbehrlichkeit rein caritativer, freiwilliger Hilfeleistungen. Caritatives Helfen ist folglich in Deutschland nicht mehr von spirituellen Motivationen vorrangig abhängig. Der Rückgang der sozialen Orden verstärkt die Veränderung des Hilfeverständnisses. Sind in den 1950er-Jahren noch über 28 29
Vgl. Deutscher Caritasverband, Statistik 2005. Vgl. ebd., Satzung 2003 (§ 2 [2]).
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60 % der MitarbeiterInnen Ordensleute, so machen diese zur Zeit nur noch 3,0 % der MitarbeiterInnen der Caritas aus. So gleichen sich die Dienstleistungsprofile der kirchlichen Anbieter von Hilfen den Profilen nicht-kirchlicher Einrichtungen und Dienste der freien Wohlfahrt immer mehr an. Angesichts dieser Veränderungen in der Mitarbeiterschaft und ihrer Hilfemotivationen stellt sich in den 1990er-Jahren die Frage nach der verbliebenen kirchlich-spirituellen Praxis des caritativen Engagements in Deutschland.30 In Folge der genannten Veränderungen lässt sich das christliche Proprium nicht mehr über die Person des Mitarbeiters sichern. Bis zum Arbeitsvertragsrecht der Kirche31 vom 1. Mai 1980 ist die Mitwirkung im caritativen Engagement der Kirche „begrenzt auf Mitarbeiter und Gruppen, die sich mit dem kirchlichen Auftrag identifizieren und diese Identifikation arbeitsvertraglich anerkennen“32. Seit der neuen Grundordnung des kirchlichen Dienstes vom 1. Januar 1994 wird die Sicherung des spezifisch caritativgeistlichen Sendungsauftrages der Kirche und ihrer caritativen Einrichtungen vorrangig über die Trägervertreter festgemacht.33 Die Mitarbeiter müssen nur noch anerkennen, „dass Zielsetzung und Tätigkeit, Organisationsstruktur und Leitung der Einrichtung, für die sie tätig sind, sich an der Glaubens- und Sittenlehre und an der Rechtsordnung der katholischen Kirche auszurichten haben“34. Eine innere persönliche Übereinstimmung mit dem caritativen Grunddienst der Kirche ist nicht mehr gefordert. Somit können angesichts des großen Personalbedarfs auch Nichtkatholiken und Nichtchristen MitarbeiterInnen des caritativen Engagements der Kirche werden.35 Eine kirchliche Organisation mit über 482 000 MitarbeiterInnen ist – in einer entkirchlichten wie agnostischen Gesellschaft – gezwungen, heute auf nicht-kirchliche bzw. nicht-christlich sozialisierte Personen zurückzugreifen. Der Abschied von der personalen Sicherung des Propriums der Caritas der Kirche hat zwar keine fachliche Disqualifizierung der medizinisch-sozialen Hilfen zur Folge, führt aber zur Reduktion des caritativ-sozialen wie geistlich-kerygmatischen Sendungsauftrages der Kirche. Die Rückbesinnung auf das Proprium des caritativen Engagements der Kirche bewirken die neuen sozial-politischen wie ökonomischen Veränderungen. Bis zur Mitte der 90er-Jahre werden die medizinisch-pflegerischen wie die sozial-psychischen Dienstleistungen fast ausschließlich von öffentlichen Trägern (Städte, Länder etc.) oder von freien Trägern (Mitglieder der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege: Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Rotes Kreuz und Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden) in Deutschland angeboten und gesichert. Dies ändert sich mit der Verabschiedung des XI. Sozialgesetzbuches (auch SGB XI) vom 26. Mai 1994, als privaten Anbietern zunächst pflegerische und später soziale Dienstleistungen erlaubt werden, und somit ein freier Wettbewerb auf dem Sozial- und Gesundheitsmarkt entsteht. Private Anbieter können wie die freien Träger Finanzierungsvereinbarungen mit Versicherungen und der öffentlichen Hand abschließen und gleichzeitig gewinnorientiert wirtschaften. KonkurVgl. Pompey, „Dienstgemeinschaft“ (1991), S. 81 – 119. Arbeitsvertragsrecht in der Kirche (1980). 32 Ebd., S. 15. 33 Ähnlich auch die Erklärung der deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst, I. Kap., in: Grundordnung (1993), S. 9. 34 Ebd. 35 Vgl. ebd., Art. 4 Loyalitätsobliegenheiten. 30 31
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renz soll nach dem Willen des Gesetzgebers den Wettbewerb der medizinischen, pflegerischen wie sozial-pädagogischen Dienstleister fördern. Mit dem Wettbewerb ist neben der fachlichen Qualität plötzlich auch das Proprium des caritativen Engagements gefragt. Leitbilddiskussionen, Einführung des Qualitätsmanagements, Organisationsentwicklungsprogramme einschließlich strategischer Veränderungen wie die Zusammenlegung von Aufgabenbereichen, Personalabbau etc. bestimmen seit der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre Träger und Mitarbeiter von caritativen Einrichtungen. 1997 verabschiedet der DCV sein Leitbild,36 parallel dazu finden Leitbildprozesse in fast allen DiCV’s und in den Fachverbänden statt. Die Kommission für caritative Fragen der Deutschen Bischofskonferenz verfasst 1999 das Papier: Caritas als Lebensvollzug der Kirche und als verbandliches Engagement in Kirche und Gesellschaft.37 Doch zu der von Papst Benedikt XVI. optierten personalen Sicherung des christlichen Spezifikums des caritativen Engagements der Kirche führte dies in der verbandlich organisierten Caritas bislang noch nicht. 2. Rechtliche Möglichkeiten und wirtschaftliche wie organisatorische Herausforderungen
Rechtlich ist es der Kirche – dank der positiven Staat-Kirche-Beziehung nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland – gelungen, nicht nur für ihr pastorales sondern auch für ihr caritatives Engagement sich einen sogenannten Dritten Weg im Blick auf die Mitbestimmung ihrer fachlichen Mitarbeiter und die Tarifautonomie zu sichern. Auf der Basis von Art. 4 Abs. 2 des GG legitimiert das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung vom 18. 07. 1967 das freie, sozial-caritative Engagement der Kirche, weil die diakonisch-caritative Tätigkeit der Kirchen Teil ihrer Religionsausübung ist.38 Dieser Freiraum steht nicht nur der organisierten Kirche selbst sondern auch den der Kirche zugeordneten Einrichtungen zu, wenn sie institutionell mit der Kirche verbunden sind. Durch diese Rechtslage und der damit gegebenen größeren Unabhängigkeit vom Staat unterscheiden sich Caritas und Diakonie von den übrigen Trägern der Freien Wohlfahrt. Die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts räumt aufgrund der genannten Rechtsvorgaben seit 1977 den Kirchen für das Gebiet des Arbeitsrechts eine kirchenspezifische Selbstbestimmung ein, sei es im Individualarbeitsrecht (Kündigungsschutz), im Koalitionsrecht (z. B. eigenes Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht, d. h. Bildung eigener gewerkschaftsähnlicher Organisationen wie die MAV, Verbot des Streikrechts u. a.). Die Kirchen dürfen den Arbeitsverhältnissen das besondere Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft sowie die Identifikation mit dem kirchlichen Auftrag zugrunde legen. Dies bedeutet arbeitsrechtlich eine Lebensführung der MitarbeiterInnen, die den Grundsätzen der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre entspricht. Kann jedoch die Verbandscaritas ihr spezifisch christliches Profil nicht mehr garantieren, dann verliert sie das Rechtsprivileg eines Dritten Weges.39 Rechtlich wird außerdem das Verhältnis von Staat und den Trägern der Freien Wohlfahrt seit 1961 durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) sowie das Gesetz für die Jugend36 37 38 39
Vgl. Pompey, Barmherzigkeit (1997), S. 244 – 258. Vgl. Die deutschen Bischöfe, Caritas als Lebensvollzug (1999). Vgl. Rauscher, Verhältnis von Staat und Kirchlicher Caritas (1991), S. 87. Vgl. Pompey, Neuprofilierung (2007), S. 133 – 137.
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wohlfahrt (JWG) subsidiär bestimmt.40 Zugunsten der freien Verbände wird ihr Vorrang gegenüber der öffentlichen Wohlfahrtspflege begründet und finanziell abgesichert. Die demographische Reduzierung der Versichertengemeinschaft, die Verteuerung der medizinisch-pflegerischen wie der sozialen und psychologischen Hilfeleistungen schränken zunehmend die finanzielle Absicherung der Leistungsvergütungen ein. Das Prinzip der Subsidiarität gerät außer Acht, und Hilfen werden nur noch als rechtlich gesicherte Ansprüche seitens der Versicherten verstanden. So sind die Versicherungen gezwungen, ihre Beitragssätze zu erhöhen und gleichzeitig ihre Leistungen einzuschränken. Ebenso führen die in Deutschland zunehmenden Einnahmeausfälle seit Anfang der 1990er-Jahre (Arbeitslosigkeit) dazu, sei es in den Kommunen, den Landkreisen und den Ländern, dass die Finanzierungszusagen für soziale Dienstleistungen ohne Versicherungsschutz nicht mehr eingehalten werden können. Dies bringt die Träger entsprechender Einrichtungen und Dienste in große Bedrängnis. Die Förderalismusreform 2006 verlagert zudem soziale und administrative Bundeskompetenzen auf die Länder und diese kommunalisieren ihre finanzielle Verantwortung. Die chronische Unterfinanzierung der Kommunen und Landkreise führt zu drastischen Einschränkungen und sehr unzuverlässigen Mittelvergaben, sei es bei Projektinitiierungen der Jugend- und Familienhilfen wie der laufenden wirtschaftlichen Absicherung eines Dienstes oder einer Einrichtung z. B. für Nichtsesshafte, für Alkohol- und Drogenkranke etc.41 Die Umbrüche bzw. Ausfälle in der Finanzierung wie die neue Sozialgesetzgebung mit ihren umfangreichen Regulierungen zwingen zur Veränderung der Betriebsabläufe (Zusammenlegung von Aufgabenbereichen), der Personalstruktur (Abbau von Arbeitsplätzen) und des Organisationsmanagements (neues Kostenbewusstsein) der Dienste und Einrichtungen der Caritas. Da sich die caritativen Dienstleistungen der Caritasverbände – über alle pflegerischen wie sozialen Aufgabenbereiche hinweg – zu etwa 60 % durch Leistungsentgelte der Versicherungen (z. T. auch der Nutzer), zu ca. 20 % durch Zuschüsse der öffentlichen Hand, zu ca. 15 % durch den kirchlichen Träger und zu 5 % durch Spenden finanzieren, kommen vor allem Einrichtungen und Dienste, die nicht durch Versicherungsleistungen bezuschusst werden, an ihre Existenzgrenze, wenn sich weiterhin die Zuschüsse der öffentlichen Hand und die Kirchensteuereinnahmen reduzieren. Rationalisierungsmaßnahmen, Wechsel der Betriebsform (vom gemeinnützigen e.V. zur gemeinnützigen GmbH), Einstellungsstopps, Vergütungsabsenkungen durch Austritt aus der AVR u. a. können Schließungen im größeren Umfang bislang verhindern. Die Situation wird sich jedoch im Blick auf die von der öffentlichen Hand unterstützten sozialen Dienstleistungen eher noch verschlechtern. Weder die hochprofessionelle Pflege noch die spezialisierte Sozialarbeit lassen sich durch Freiwillige ersetzen. So erneuert die Verbandscaritas ihr Spendenwesen, um die Zukunft ihrer Dienste und Einrichtungen zu sichern. 1999 wird die Caritasstiftung Deutschland mit Sitz in Köln gegründet, dem ähnliche Initiativen bei den DiCV’s und den Fachverbänden folgen. 2003 wird das Konzept „Gemeinsames Fundraising“ vom DCV verabschiedet.42 Ferner ist die sozial-rechtliche Mitbestimmung des Staates, der Länder und der Kommunen ein großes Problem. Die medizinisch-pflegerischen wie die psycho-sozialen 40 41 42
Vgl. Rauscher, a. a. O. Vgl. Deutscher Caritasverband, Lagebericht 2007. Vgl. ebd., Geschäftsbericht des Vorstandes 2007.
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Caritasdienste ersticken immer mehr in Vorschriften, seien es die detaillierten sozialen und pflegerischen Regulierungen oder die zahlreichen Kontrollen durch unterschiedliche staatliche Aufsichtsbehörden.43 Die zunehmenden Regulierungen und administrativen Steuerungsmaßnahmen absorbieren Personalressourcen, erschweren Arbeitsabläufe, reduzieren die Arbeitszufriedenheit, bringen Arbeitszeiteinbußen etc. Die bislang internalisierten sozial-moralischen Arbeits- und Lebensregulierungen werden staatlicherseits durch externalisierte sozial-juristische Arbeits- und Lebensregulierungen ersetzt. Dem Arbeits- und Betriebsethos wird zunehmend weniger vertraut.44 Management und Träger stehen vor der Frage, ob alle Dienste und Einrichtungen der Fachcaritas weiterhin im gleichen Umfang angeboten werden können oder ob z. B. gemeindenahen pflegerischen und sozialen Aufgaben wie Sozialstationen, Altenpflegeheime und Kindergärten eine Priorität zukommt und die Trägerschaft großer Kliniken auf exemplarisch christliche Einrichtungen reduziert werden sollte. Angesichts der großen finanziellen Probleme der heutigen Krankenhäuser und der Einführung der Fallpauschalen [engl. DRG’s] im Jahre 2000 reduziert sich der Krankenhausaufenthalt im Durchschnitt auf 8,6 Tage im Jahr 2005. Zieht man davon den Langzeitaufenthalt von Schwerstkranken ab, dann verbleiben für den normalen Krankenhausaufenthalt nach einem invasiven Eingriff bzw. einer speziellen Therapie ca. drei bis vier Tage. Pflege und Heilung haben sich in die Privatsphäre zurückverlagert und werden heute durch Sozialstationen mitgetragen. Die allgemeine Krankenbetreuung obliegt den Angehörigen oder den Freunden eines Kranken. Ihre Unterstützung ist ein neuer Aufgabenschwerpunkt der freiwilligen gemeindlichen Caritas im Rahmen der Gesundheitsdiakonie als konkreter Weg der „Gemeinschaft der Liebe“. Alten- und Pflegeheime werden für die zahlenmäßig erheblich zunehmenden allein lebenden Senioren eine unumgängliche Hilfe sein. Werden die Pflegekosten durch die Pflegeversicherung abgedeckt, so ist dies für die Unterkunftskosten nicht der Fall (mit Ausnahme bei Sozialhilfeempfängern [SGB XII]). Sie liegen zwischen 1800 A und 5000 A im Monat und sind vom Großteil der Bevölkerung aus der eigenen Rente oder Pension nicht zu finanzieren. Das hat zur Folge, dass pflegebedürftige Junge wie Alte auf Hauspflege und Hausbetreuung angewiesen sind, die jedoch nur durch freiwillige Hilfsdienste aus dem Lebensraum der Menschen, d. h. den Gemeinden, sicherzustellen ist. So gilt es, das humane Potential der Gemeinden für das caritative Engagement der Kirche neu zu nutzen. Das bedeutet, eine neue Solidaritätskultur im Sinne der von Papst Benedikt XVI. favorisierten Gemeinde als „Gemeinschaft der Liebe“ zu entwickeln. Durch solche freiwilligen Zusatz-Services kann das caritative Engagement der Kirche ein spezifisches Profil erhalten und sich auf dem Pflege- und Sozialmarkt behaupten.45 Im Bereich der sozialen Prävention bieten ebenso gemeindenahe Kindergärten die Chance, eine geistig tragende, christlich-humane Lebenskultur den Kindern und ihren Eltern zu vermitteln. Es gilt die sozialen Nischen zu entdecken und diese zu bedienen und nicht das zu tun, was bereits andere ebenso machen, d. h. die Schwächen und Nöte des gegenwärtigen Sozialsystems zu erkennen und darauf eine spezifische Antwort zu geben.
43 44 45
Vgl. Pompey, Freiheit statt Überregulierung (2005), S. 131 – 139. Ebd. Vgl. Pompey, Aktuelle Problemlösungsperspektiven (1997), S. 327 – 401.
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Europäische Sozialpolitik / Europäisches Sozialrecht Von Hans F. Zacher I. Die Inhalte und Strukturen des „Sozialen“ Über europäische Sozialpolitik nachzudenken, setzt voraus, die Dimensionen des Phänomens zu klären, das mit dem „Sozialen“ gemeint ist. Europäische Politik ist eine Mehr-Ebenen-Politik.1 Die Erwartungen, die sich mit Begriffen wie „europäische Sozialpolitik“ oder „europäisches Sozialrecht“ oder auch dem Namen eines „europäischen Sozialstaats“ verbinden, richten sich an die Mitgliedstaaten und an die in den Mitgliedstaaten verfassten Gesellschaften, an die Europäische Union und an die Ansätze einer europäischen Gesellschaft, die den Raum der Union allmählich durchziehen. Die Komplementarität und das Ineinandergreifen von Gemeinwesen und Gesellschaft, von Union und Mitgliedstaaten, durch die das „Soziale“ europäisch dargestellt wird, hängen eng mit den Dimensionen des „Sozialen“ zusammen.
1. Die Dimensionen des Begriffs
„Sozial“ ist ein offener Begriff.2 Die Bedeutungen kreisen um drei Pole.3 Der erste Pol: „Sozial“ meint eine Vielheit, eine Vielheit von Menschen, wie die Menschen, die eine Gesellschaft bilden, oder wie die Menschen, die in einem Staat leben. „Sozial“ meint auch die Beziehungen innerhalb einer Vielheit; die Zwecke, die Gestalt und die Normen der Vielheit. Der zweite Pol: „Sozial“ meint ein gewisses Ideal einer solchen Vielheit; neben dem Sein auch das Sollen einer Vielheit. Dieses „sozial“ meint auch die Maßstäbe, um den Zustand, die Politiken und das Verhalten ihrer Mitglieder zu beurteilen; vielleicht auch Strategien, um die Verhältnisse in Richtung auf das Ideal zu verändern. In diesem zweiten Sinn ist „sozial“ ein normativer, wertender, kritischer Begriff. Wird „sozial“ in diesem Sinn gebraucht, so verengt er sich in der Regel. Er wird geschichtlich konkret. Dieses „sozial“ identifiziert das Sein und das Sollen einer als Projekt oder als Wirklichkeit erfahrenen Vielheit. Stephan Leibfried / Paul Pierson (Hrsg.), Standort Europa. Europäische Sozialpolitik, 1995. Franz-Xaver Kaufmann, Der Begriff Sozialpolitik und seine wissenschaftliche Deutung, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung / Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1, Grundlagen der Sozialpolitik, 2001, S. 3 ff.; Hans F. Zacher, Das „Soziale“ als Begriff des deutschen und des europäischen Rechts, in: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Das Soziale in der Alterssicherung, 2006, S. 11 ff. 3 Hans F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 3, 3. Aufl. 2004, S. 659 ff. Rz. 21. 1 2
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Der dritte Pol meint die Kohäsion einer Vielheit; die Einbindung der Mitglieder in die Vielheit. Auch dieser Begriff ist ein normativer, wertender Begriff. Aber er meint nicht die politische Richtung, sondern die Dichte einer Gesellschaft oder des Gemeinwesens, den Zusammenhalt an sich. Geläufig ist die negative Anwendung: „asozial“. Wenn von „sozial“ im Zusammenhang mit Politik („Sozialpolitik“) oder Staat („Sozialstaat“) die Rede ist, steht der zweite der Begriffe im Vordergrund: der Dienst an einem „sozialen“ Ideal. Aber auch die anderen beiden Begriffe werden gebraucht. Der Dienst an einem „sozialen“ Ideal muss die tatsächlichen (quantitativen, natürlichen, historischen, ideellen, zivilisatorischen, kulturellen, ökonomischen usw.) Verhältnisse der Gesellschaft in Betracht ziehen, so wie sie sind. Jede Intervention im Sinne dieses normativ-wertenden „sozial“-Begriffes verändert auch jene Verhältnisse – und soll sie auch verändern. Schließlich spielt auch der dritte der „sozial“-Begriffe immer eine Rolle, der die Kohäsion meint. Ein defizitärer Grad der Kohäsion kann zu den Herausforderungen zählen, auf die der normativ-wertende „sozial“-Begriff antwortet. Und ein anderer, optimaler Grad an Kohäsion kann zu den Voraussetzungen gehören, welche die Verwirklichung des normativ-wertenden „sozial“-Begriffes ermöglichen.
2. Die normativ-wertende, geschichtliche Dimension
Die Komplikation des „Sozialen“ steigert sich aber noch, indem der normativ-wertende „sozial“-Begriff selbst wiederum den unterschiedlichsten Inhalten Ausdruck geben kann und gibt. Es gibt kein a priori gleichermaßen richtiges und operationales Ideal des „Sozialen“. Der normativ-wertende „sozial“-Begriff ist ein polemischer Begriff, der sich in der Regel an gesellschaftlichen Missverhältnissen entzündet, gegen die er sich wendet. Das Programm, mittels dessen die Missverhältnisse korrigiert oder überwunden werden sollen, liefert den Inhalt des „sozial“-Begriffes. Dabei stehen Gruppen, deren Benachteiligung (mehr oder minder) ausgeglichen werden soll, im Vordergrund. Das historisch zentrale Beispiel dieses Prozesses ist die Gleichsetzung von „Arbeiterfrage“ und „sozialer Frage“. Im Zuge der Verwirklichung dieses Programms können auch die Maßnahmen, die ergriffen wurden, als „soziale Errungenschaften“ in die Identifikation des „Sozialen“ mit eingehen. Hatte die Sozialversicherung Bismarck’scher Provenienz zunächst und für lange Zeit wesentliche Bedeutung für die Wahrnehmung des „Sozialen“, so öffnete sich die Entwicklung des Sozialleistungsstaates in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem neuen Namen der „sozialen Sicherheit“ und den universalistischen Konzepten des Beveridge-Reports auf eine weitere Vielfalt von Möglichkeiten hin.4 In der Folge setzte sich die „Sozialleistungsquote“ (zu Unrecht) als ein wesentlicher Indikator des „Sozialen“ durch.5 Jedenfalls: Die Konkretisierungsleistung einer gewissen sozialen Politik lädt die Vorstellungswelten vom „Sozialen“ auf. Institutionen entstehen. Individuelle oder gruppenbezogene Vorteile und Erwartungen lösen Energien der Beharrung aus. Die weitere Entwicklung wird „pfadabhängig“.6 Diese konkretisierende Aufladung des „Sozialen“ ori4 Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2. Aufl. 1991. 5 Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, 3. Aufl. 2005, S. 199 ff.
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entiert sich primär an den spezifischen Erscheinungsformen des „Sozialen“. Allgemeine gesellschaftliche, politische und rechtliche Veränderungen, welche die Befindlichkeit der Menschen verbessern, prägen das allgemeine Bewusstsein vom „Sozialen“ nicht in gleicher Weise wie spezifische soziale Maßnahmen und Regelungen. Konkreter gesprochen: Gezielte „soziale“ Veränderungen der individuellen Verhältnisse, wie sie durch Veränderungen des Arbeitsrechts oder den Ausbau der Sozialleistungssysteme bewirkt werden, bestimmen das normative Bild des „Sozialen“ weitaus mehr als die allgemeinen Verhältnisse (etwa der Wirtschaft, der Infrastruktur, der inneren Sicherheit, der Bildung, usw.).7 Ein wesentliches Verdienst des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft besteht darin, dass es wenigstens für den Bereich der Wirtschaft bewusst gemacht hat, wie sich das „Soziale“ aus der Dialektik des polemisch spezifischen Sozialen und des Allgemeineren, des gesellschaftlichen Wohlstandes, ergibt.8 Trotz aller Dominanz der historisch-konkreten nationalen Entwicklungen haben die Erscheinungsformen des „Sozialen“ einen gemeinsamen Nenner: „mehr Gleichheit“.9 Nicht absolute Gleichheit, sondern die Negation unangemessener Ungleichheit – eine Annäherung an Gleichheit, die Spielraum lässt für Ungleichheiten kraft Leistung oder auch Glück. Diese Grundnorm des „Sozialen“ wird als solche selten eingesehen und selten zugegeben. Aber wir finden sie immer dort, wo das Soziale als der Schutz der Schwächeren und der Ausgleich für Benachteiligte interpretiert wird. Sie wird ergänzt durch eine Reihe speziellerer Prinzipien wie Gerechtigkeit, Teilhabe und Inklusion, Solidarität, Sicherheit und Subsidiarität.10 Sie bringen weitere Aspekte zur Geltung und aktivieren weitere humane, gesellschaftliche und politische Energien. Aber alle diese Prinzipien sind äußerst unbestimmt und offen. Sie können daher unter den unterschiedlichen historischen, ideellen, ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen die unterschiedlichsten Ausprägungen finden. Sie manifestieren sich nicht in dem Sozialstaat, sondern in einer Vielzahl wohlfahrtsstaatlicher Arrangements.11
3. Die Ganzheit des Sozialen
Doch wird ein wohlfahrtsstaatliches Arrangement sich jenem Optimum von „mehr Gleichheit“, Gerechtigkeit, Teilhabe und Inklusion, Solidarität, Sicherheit und Subsidiarität, das mit „Sozialstaat“ gemeint ist, nur in dem Maße nähern, in dem es wesentliche Elemente gesellschaftlicher Befindlichkeit in ein angemessenes Verhältnis zueinander bringt. Dabei stehen drei Paare von Elementen im Vordergrund: 6 Ulrike Davy, Pfadabhängigkeit in der Sozialen Sicherheit, in: Sozialrechtsgeltung in der Zeit. Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Bd. 55, 2007, S. 103 ff. 7 Schmidt, Sozialpolitik, S. 177 ff. 8 Hans F. Zacher, Sozialstaat und Prosperität, in: Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat. Festschrift für Reiner Schmidt, 2006, S. 305 ff. 9 Hans F. Zacher, Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung / Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1, Grundlagen der Sozialpolitik, 2001, S. 333 ff. (S. 346 f.). 10 Zacher, Grundlagen, S. 378 ff.; Zacher, Das „Soziale“, S. 12 f. 11 Franz-Xaver Kaufmann, Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung / Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1, Grundlagen der Sozialpolitik, 2001, S. 799 ff.
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Erstens: Wirtschaftliche Lebensbedingungen und sonstige zivilisatorische Lebensbedingungen.12 Zwei der Kriterien, die dieses Gegenüber prägen, seien beispielhaft genannt: einerseits das Verhältnis zur Persönlichkeitssphäre, andererseits das Ordnungsinstrumentarium. Zum Verhältnis zur Persönlichkeitssphäre: Wirtschaftliche Lebensbedingungen bestimmen die Lebenssituation der Individuen in aller Regel unter Wahrung eines Mindestmaßes an Distanz. „Mehr Geld“ heißt meist „mehr Freiheit“, und „weniger Geld“ heißt meist „weniger Freiheit“. Aber in der Regel heißt auch „weniger Geld“ nicht den direkten Zwang zu diesem oder jenem Tun, geschweige denn einen direkten Eingriff in die individuellen Verhältnisse. Sonstige zivilisatorische Lebensbedingungen dagegen berühren, wie etwa Erziehung, Bildung, Gesundheit oder Pflege, die Individualsphäre sehr viel unmittelbarer. Zum Ordnungsinstrumentarium: Die Wirtschaft kann und soll in Gestalt der wettbewerbsgetragenen Marktwirtschaft einer autonomen Ordnung überlassen werden. Die sonstigen zivilisatorischen Lebensbedingungen (zu denen etwa auch Infrastruktur, innere Sicherheit und Umwelt gehören) bedürfen dagegen einer differenzierten Gestaltung und sachnaher Administration. Ihre Entwicklung muss „handgesteuert“ werden. Zweitens: Soziale Intervention und Prosperität.13 Dem Sozialen ist ein System spezifisch sozialer Intervention (sozialen Schutzes und sozialer Leistungen) wesentlich. Dieses System spezifisch sozialer Intervention erfüllt die Normen, aus denen sich das Maß des Sozialen ergibt, gerade dann, wenn die vorgegebene Gesamtheit privater, gesellschaftlicher und staatlicher Vollzüge dieses Maß sonst unerfüllt ließe. Nicht weniger wichtig aber ist eine Normalität jener Gesamtheit privater, gesellschaftlicher und staatlicher Vollzüge, die dem Einzelnen a priori ein Optimum an Lebenschancen vermittelt. Keine spezifisch soziale Intervention kann Defizite dieser Normalität beliebig ausgleichen. Das gilt für die wirtschaftlichen Lebensbedingungen ebenso wie für die nichtwirtschaftlichen. Drittens: Staat und Gesellschaft.14 Entgegen den Assoziationen, welche die Ausdrücke Sozialstaat und Wohlfahrtsstaat nahe legen, kann weder eine allgemeine Prosperität noch die Korrektur sozialer Ungleichheit allein vom Staat geleistet werden. Was mit „Sozialstaat“ gemeint ist, ist entgegen dem Wortsinn eine Gesamtleistung des Staates und der Gesellschaft. II. „Europa“ 1. Der Kontinent
Elemente der Solidarität und des Einschlusses hat es in den Gemeinschaften, Gesellschaften und Herrschaftsstrukturen Europas immer gegeben.15 Doch haben seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – mit der Ausbildung des „Nationalstaat“ genannten modernen Territorial- und Verfassungsstaates und den gewaltigen zivilisatorischen Veränderungen, die mit jener Zeit ihren Anfang nahmen, – die Herausforderungen des „Sozia12 13 14 15
Zacher, Sozialstaat und Prosperität. Ebd. Ders., Grundlagen, S. 366 ff., S. 375, S. 390. Zu allem Folgenden Eberhard Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaates in Europa, 2007.
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len“ grundlegend neue Bedeutung erlangt und neue Antworten gefunden.16 Staat, Gesellschaft und spezifisch soziale Intervention traten in einen umfassenden Zweck- und Wirkungszusammenhang, der sich immer weiter entfalten sollte.17 Die russische Revolution spaltete die Entwicklung. Hatten vor allem Deutschland, Österreich, Frankreich und Großbritannien die Spur aufgenommen, die zu dem mit Demokratie und Rechtsstaat verbundenen „freiheitlichen Sozialstaat“ führen sollte, so betrat der Sowjetstaat nunmehr den Weg in das mit Diktatur und Totalitarismus verbundene kommunistische System. Auch die alsbald entstehenden faschistischen Diktaturen köderten ihre „Volksgemeinschaften“ mit „sozialen“ Programmen.18 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Anspruch des kommunistischen Systems bis an den Eisernen Vorhang ausgedehnt. Europa war (abgesehen zunächst noch von den spätfaschistischen Ausnahmen Spanien19 und Portugal)20 geteilt: in die „westlichen“ Demokratien und in die (nunmehr) „sozialistischen“ Staaten.21
2. Die völkerrechtliche Organisation des „freien“ Europa
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Integration ihren Anfang nahm,22 war offensichtlich, dass auch sie der „sozialen“ Legitimation bedarf. Der wichtigste erste,23 völkerrechtliche Schritt in Richtung einer „europäischen Sozialpolitik“ und „europäisches Sozialrecht“ war die Gründung des Europarates im Jahre 1950. Er ist eine Wertegemeinschaft „zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze“, die das „gemeinsame Erbe“ der Mitgliedstaaten bilden (Art. 1 Abs. 1 der Satzung). So auch der „wirtschaftliche und soziale Fortschritt“ (ebenda). Jeder Mitgliedstaat, heißt es weiter, „erkennt den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts und ebenso den Grundsatz an, dass jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte 16 Hans F. Zacher, Deutschland den Deutschen?, in: Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel. Festschrift für Peter Badura zum siebzigsten Geburtstag, 2004, S. 639 ff. (641 ff.). 17 Ilja Mieck (Hrsg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bd. 4), 1993; Wolfram Fischer (Hrsg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg (Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bd. 5), 1985; Wolfram Fischer (Hrsg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart (Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bd. 6), 1987. 18 Fiorenzo Girotti, Welfare State. Storia, modelli e critica, 1998, S. 191 ff.; Götz Aly, Hitlers Volksstaat, 2005. 19 Manuel Alonso Olea / José Luis Tortuero Plaza, Institutiones de Seguridad Social 26. Ed. 1998, S. 39 ff. 20 Hans-Joachim Reinhard, Das schnelle Altern eines jungen Wohlfahrtsstaates, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht (ZIAS), 8. Jg. (1994), S. 229 ff. (230 ff.). 21 Béla Tomika, Wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in Ostmitteleuropa und das europäische Sozialmodell, 1945 – 1990, in: Hartmut Kaelble / Günther Schmid (Hrsg.), Das europäische Sozialmodell, 2004, S. 107 ff. 22 Zu allem Folgenden siehe Thomas Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005. 23 Zu Vorläufern siehe Hans F. Zacher, Internationales und Europäisches Sozialrecht, 1976, S. 407 ff.
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und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll“ (Art. 3 Satz 1 a. a. O.). Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 hat diesen Ansatz sehr wirksam entfaltet. Alles, was der Europarat an „Sozialem“ bewirkt, steht so im Zeichen des Rechts und der Freiheit. Der Sozialstaat ist in den Mitgliedstaaten der Konvention nur als „freiheitlicher Sozialstaat“ denkbar. Zum zentralen Instrument, auf diesem Weg voranzuschreiten, wurde die Europäische Sozialcharta von 1961.24 Sie verpflichtet die Unterzeichnerstaaten auf ein umfassendes Programm sozialen Schutzes und sozialer Leistungen.25 Der Europarat erlangte in den neunziger Jahren neue Dynamik. War er von der Gründung bis in die achtziger Jahre Ausdruck der apriorischen Wertegemeinschaft der Staaten des „freien“ Europa, so wurde er nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zu einem Medium, um der Vielzahl postsozialistischer Staaten26 einen Zugang zu der europäischen Wertegemeinschaft zu eröffnen.27
3. Die Anfänge der supranationalen Integration
1952 hatte die europäische Integration28 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Europäischen Atomgemeinschaft bereits eine neue Ebene erreicht:29 die supranationale. Für das „Soziale“ wesentlich wurde diese Entwicklung mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1957.30 Sie erstreckte die Integration auf die Wirtschaft „an sich“. Ihre wettbewerbsgetragene marktwirtschaftliche Entfaltung sollte auch dem „wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt“ und der „Besserung der Lebens- und Beschäftigungsverhältnisse“ dienen (Präambel, Art. 2, 117 EWGV). Aber das spezifisch Soziale sollte grundsätzlich in den Händen der Mitgliedstaaten bleiben (Art. 117, 118 EWGV). Erst recht die nichtwirtschaftlichen Lebensbedingungen. In den oben entwickelten Kategorien gesprochen heißt das: Die ganz vorrangige Weise, in der die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft die Verantwortung für einen europäischen Sozialstaat an sich zog, war die Prosperität der Wirtschaft. Definitiv hinsichtlich des spezifisch Sozialen war der Vertrag nur hinsichtlich des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (Art. 119 EWGV). Weniger auffällig, wenn auch nicht weniger wirksam, waren dagegen die zahlreichen Möglichkeiten, 24 Die Europäische Sozialcharta wurde durch Konvention vom 3. Mai 1996 weiter ausgebaut. Die Bundesrepublik ist – wie viele andere Staaten – diesen Konventionen (bisher) nicht beigetreten. Zur Entwicklung siehe Angelika Nußberger, Sozialstandards im Völkerrecht, 2005, S. 83 ff. 25 Alexis von Komorowski, Der Beitrag der Europäischen Sozialcharta zur europäischen Wertegemeinschaft, in: Dieter Blumenwitz / Gilbert H. Gornig / Dietrich Murswiek (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, 2005, S. 99 ff. 26 Bernd von Maydell / Angelika Nußberger, Transformation von Systemen sozialer Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 2000. 27 Zur Sequenz der Beitritte siehe Bundesgesetzblatt Teil II Fundheft B, 2006, S. 341. 28 Zur Entwicklung siehe Heinz-Dietrich Steinmeyer, Die Entwicklung des Arbeits- und Sozialrechts der EG, in: Peter Hanau / Heinz-Dietrich Steinmeyer / Rolf Wank (Hrsg.), Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, 2002, S. 261 ff. 29 Zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl siehe Zacher, Internationales und Europäisches Sozialrecht, S. 595 ff.; zur Europäischen Atomgemeinschaft siehe ebd., S. 609 ff. 30 Der Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 wird im Folgenden mit „EWGV“ abgekürzt.
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„den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete“ durch Haushaltspolitik und Förderprogramme zu verringern (Präambel, Art. 123 ff. EWGV). In einem Punkt freilich verschmolzen die Verantwortung für die Wirtschaft und die Verantwortung für das Soziale. Die Grundfreiheiten der Gemeinschaft (Art. 9 ff. EWGV), vor allem die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungsfreiheit und die Freiheit der Dienstleistungen (Art. 48 ff. EWGV) orientierten die Wirtschaftsbeteiligten auf den gemeinsamen Wirtschaftsraum. Das verlangte danach, die nationalen Systeme sozialer Sicherung so miteinander zu verkoppeln, dass ihr sozialer Schutz nicht unter dem Gebrauch der Freiheiten litt (Art. 51 EWGV). Trotzdem wurde darüber hinaus nach der „sozialen Dimension“ Europas gefragt.31 Ein langer Prozess setzte ein, der auf den unterschiedlichsten Wegen die sozialen Kompetenzen der Gemeinschaft immer weiter genutzt und entfaltet hatte:32 durch soziale Aktionsprogramme, durch die Praxis der Kommission, durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes, durch die Sequenz der Verträge: von der Einheitlichen Europäischen Akte (1986 / 87) über den Vertrag von Maastricht (1992 / 93) und den Vertrag von Amsterdam (1997 / 99), der die Europäische Gemeinschaft mit der Europäischen Union ummantelte,33 bis zum Vertrag von Nizza (2000 / 2001).34 Ergänzend brachte die Europäische Grundrechte-Charta (2000)35 differenzierte normative Substanz zum Ausdruck. Der Verfassungsvertrag (2004)36 hätte, wenn er wirksam worden wäre, diesen Prozess weiter vorangetrieben.37 Parallel dazu veränderte sich die Szene des „Sozialen“. Die Arena der sozialen Herausforderungen wandelte sich. Alte Antworten sahen sich in Frage gestellt. Neue Antworten wurden nachgefragt und versucht. Zugleich vertiefte sich die Vielfalt der Mitgliedstaaten und damit die Vielfalt der wohlfahrtsstaatlichen Arrangements, mit der die Ordnungen und Politiken der Union in Austausch traten. Neben nordische und mediterrane Staaten traten vor allem die Transformationsstaaten Ostmitteleuropas. Gleichwohl wuchs das Bedürfnis, der Suche nach gemeinsamen Lösungen den Anschein eines nor31 Schon zur Zeit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl: Johannes Schregle, Europäische Sozialpolitik. Erfolge und Möglichkeiten, 1954; Gustav Hampel, Die Bedeutung der Sozialpolitik für die Europäische Integration, 1955. Zur weiteren Entwicklung siehe etwa Thorsten Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003, S. 285 ff. 32 Meinhard Heinze, Entwicklung der europäischen Sozial- und Beschäftigungspolitik und ihrer Grundlagen, in: Europas universale rechtsordnungspolitische Aufgabe im Recht des dritten Jahrtausends. Festschrift für Alfred Söllner, 2000, S. 423 ff.; Bernd Schulte, Das „soziale Europa“. Eine europäische Leitidee und ihre Konjunkturen im europäischen Einigungsprozess, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften, Bd. 46, 2005, S. 235 ff. 33 Der Unionsvertrag wird im Folgenden mit „EUV“ zitiert. 34 Bernd Schulte, Die Entwicklung der Sozialpolitik der Europäischen Union und ihr Beitrag zur Konstituierung des Europäischen Sozialmodells, in: Hartmut Kaelble / Günther Schmid (Hrsg.), Das europäische Sozialmodell, 2004, S. 75 ff. 35 Im Folgenden „GRCh“. – Teresa Winner, Die europäische Grundrechtscharta und ihre soziale Dimension, 2005. 36 Der Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrages wird im Folgenden mit „EVV“ abgekürzt. 37 Ulrich Becker, Die soziale Dimension des Binnenmarktes, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 201 ff.; siehe auch die eingehende Dokumentation der Weiterentwicklung des Vertragsrechts durch den Verfassungsvertrag bei Zacher, Das „Soziale“.
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mativen Konzepts zu geben: durch die Rede vom „europäischen Sozialmodell“.38 Die Gewissheit darüber, was damit gemeint ist, ist freilich gering. So meinte etwa die Präsidentschaft des Europäischen Rates in ihrer Schlussfolgerung zum Gipfel von Nizza (2000), das „europäische Sozialmodell“ sei durch einen hohen Standard des sozialen Schutzes, durch die Bedeutung des sozialen Dialoges, durch den Zugang zu Diensten von allgemeinem Interesse und durch Maßnahmen zur Förderung des Zusammenhalts gekennzeichnet. 39 Der Europäische Rat von Barcelona (2002) hingegen maß der Wirtschaftsentwicklung und der Beschäftigung entscheidende Bedeutung zu und formulierte schließlich: Das europäische Sozialmodell stütze sich auf „gute Wirtschaftsleistungen, ein hohes soziales Schutzniveau, einen hohen Bildungs- und Ausbildungsstand und sozialen Dialog“.40
III. Die Ausprägung des Sozialen in der Europäischen Union 1. Der Auftrag der Europäischen Union
Welchen Aufschluss geben Unions- und Gemeinschaftsvertrag?41 Ein Europa ohne „trennende Schranken“ soll die Hoffnung begründen, „durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt“ der Mitgliedstaaten zu sichern (Präambel EGV) und „Lebenshaltung“ und „Lebensqualität“ zu heben (Präambel, Art. 2 EGV).42 Der Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrages verallgemeinert das, indem er inmitten eines peinlich üppigen Katalogs von Wünschen und Verheißungen (Präambel, Art. I–2 und I–3 EVV) sagt: „Ziel der Union ist es, . . . das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“ (Art. I–3 Abs. 1 EVV).43
38 Friedrich Buttler / Ulrich Schoof / Ulrich Walwei, Europäisches Sozialmodell: Vielfalt in der Einheit – Teil 1, in: Gesundheits- und Sozialpolitik, 59. Jg. (2005) Heft 7 / 8, S. 10 ff. 39 Buttler / Schoof / Walwei, Europäisches Sozialmodell, S. 11. 40 Ebd. Siehe ferner Andreas Aust / Sigrid Leitner / Stephan Lessenich (Redaktion), Sozialmodell Europa. Konturen eines Phänomens, 2000; Katrin Kraus / Thomas Geisen (Hrsg.), Sozialstaat in Europa, 2001. – Hilmar Schneider (Hrsg.), Europas Zukunft als Sozialstaat, 2000; Barbara Krause / Rainer Krockauer / Andreas Reiners (Hrsg.), Soziales und gerechtes Europa, 2001. 41 Im Folgenden sei unter der Europäischen Union immer auch die Europäische Gemeinschaft mitverstanden. 42 Zum Folgenden siehe Peter Hanau / Heinz-Dietrich Steinmeyer / Rolf Wank (Hrsg.), Handbuch des Europäischen Arbeits- und Sozialrechts, 2002; Bernd Schulte, Supranationales Recht, in: Bernd von Maydell / Franz Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 3. Aufl. 2003, S. 1610 ff.; Eberhard Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, 3. Aufl. 2006; Maximilian Fuchs / Franz Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2006. – Eine umfassende Darstellung der entsprechenden Politiken siehe Roland Bieber / Astrid Epiney / Marcel Haag (Hrsg.), Die Europäische Union. Europarecht und Politik, 7. Aufl. 2006. Zu den spezifischen Politiken siehe Berndt Kellert, Europäische Arbeits- und Sozialpolitik, 2. Aufl. 2001. 43 Zum Vorigen auch: Alexandra Baum-Ceisig / Anne Faber (Hrsg.), Soziales Europa? Perspektiven des Wohlfahrtsstaates im Kontext von Europäisierung und Globalisierung. Festschrift für Klaus Busch, 2005; Sabine Kropp / Ricardo Gomèz, Sozialraum Europa. Sozialpolitik in der erweiterten Europäischen Union, 2006.
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2. Die Integration der Wirtschaft
Das primäre und allgemeinste Medium, diese Ziele zu erreichen, ist nach wie vor die Wirtschaft. Immer wieder betont der Vertrag, dass die Entwicklung der Lebenshaltung, der Lebensbedingungen und der Lebensqualität von der Entwicklung der Wirtschaft abhängt (Art. 2 – 4, 136 EGV).44 Im Gegenzug wird die Sozialpolitik verpflichtet, „der Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Gemeinschaft zu erhalten, Rechnung“ zu tragen (Art. 136 Abs. 2 EGV). Zentral ist der „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 4 Abs. 1, 98 EGV).45 Von ihr wird „ein effizienter Einsatz der Ressourcen“ erwartet (Art. 98 Satz 2 EGV). Sie wird von einer koordinierten Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten begleitet (Art. 4, 98 ff. EGV), deren Ziele den Dienst der Wirtschaft an der allgemeinen Prosperität erkennen lassen: „eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein hohes Beschäftigungsniveau, . . . ein beständiges, nichtinflationäres Wachstum, einen hohen Grad an Wettbewerbsfähigkeit . . .“ (Art. 2, 4, 98 EGV). Entscheidend ist, dass sich diese Politik an ihren ordnungspolitischen Auftrag (Art. 4, 81 ff., 98 ff., 101 ff., 105 ff. EGV) hält, Wettbewerb und Marktwirtschaft als selbsttragendes System zu gewährleisten. Dadurch kann die Wirtschaft einen Beitrag zum gemeinen Wohl leisten, wie ihn eine interventionistisch oder gar lenkend gesteuerte Wirtschaft nicht leisten könnte. Diese Askese negiert auch eine sozialpolitisch motivierte Lenkung. Dass sich so eine maximal produktive Wirtschaft mit gesondert verantworteten sozialen Ordnungen und Maßnahmen verbindet, ist das Erfolgsgeheimnis der Sozialen Marktwirtschaft. Die Europäische Gemeinschaft hat es sich zu eigen gemacht.46 Der Entwurf des Verfassungsvertrags hat den Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ denn auch ausdrücklich aufgenommen.47 Nicht weniger bedeutsam ist, dass sich in dieses selbsttragende System die Individuen und kollektiven gesellschaftlichen Kräfte kraft ihrer Freiheit einbringen können. Die Integration der Wirtschaft, wie sie im Gemeinschaftsvertrag geordnet ist, führt deshalb nicht nur die Gesamtheit der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten zusammen. Sie aktiviert vielmehr auch das gesellschaftliche Potential der Gemeinschaft und begründet eine unmittelbare Beziehung zwischen den individuellen und kollektiven Kräften einer gemeinschaftsweiten Gesellschaft und den Institutionen der Gemeinschaft. Prosperität manifestiert sich so als eine Gesamtleistung von Staat und Gesellschaft, so wie sich beide Elemente nach dem Stand der Integration ergeben.
44 Im Entwurf eines Verfassungsvertrags ist dieser Zusammenhang nicht mit gleichem Nachdruck betont: Art. III–3 Abs. 3, III–209 EVV. 45 Armin Hatje, Wirtschaftsverfassung, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 683 ff. 46 Wolf Schäfer, Zukunftsperspektiven des europäischen Modells der sozialen Marktwirtschaft, in: List-Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Bd. 26 (2000), S. 121 ff.; Florian Rödl, Europäisches Verfassungsziel „soziale Marktwirtschaft“ – kritische Anmerkungen zu einem populären Modell, in: Integration, 28. Jg. (2005), S. 150 ff. 47 Art. I–3 Abs. 3 EVV.
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Hans F. Zacher 3. Die Verantwortung für die nicht- oder nicht nur wirtschaftlichen Belange
Die Verwirklichung des Sozialen hat jedoch nicht nur wirtschaftliche Voraussetzungen. Vielmehr hängen die Befindlichkeiten der Einzelnen wie der Gesellschaft vom gesamten zivilisatorischen Rahmen ab. Dieser Dimension der Prosperität nimmt sich die Europäische Union nur punktuell an. Das gilt auf die unterschiedlichste Weise48 für die Bildung (Art. 3 Abs. 1 Buchst. q, 149 f. EGV),49 für die Gesundheit (Art. 3 Abs. 1 Buchst. p, 152 EGV, Art. 35 GRCh), für Forschung und Technologie (Art. 3 Abs. 1 Buchst. n, 163 ff. EGV), für Verkehr und Kommunikation (Art. 3 Abs. 1 Buchst. f und o EGV), für die Energieversorgung (Art. 3 Abs. 1 Buchst. u, 175 Abs. 2 EGV), für den Umweltschutz (Art. 2, 3 Abs. 1 Buchst. l, 6, 174 ff. EGV, Art. 37 GRCh) und für die Kultur (Art. 3 Abs. 1 Buchst. q, 30, 87 Abs. 3 Buchst. d, 149, 151 EGV). Das umfassendste Projekt ist der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 29 Abs. 1 EUV). Union und Mitgliedstaaten müssen sich demgemäß auf die unterschiedlichste Weise darin ergänzen, den Bürgern auch hinsichtlich der nichtwirtschaftlichen Bedingungen ein Leben in einer sozial geprägten Prosperität zu ermöglichen. Im Übrigen sind die zivilisatorischen Voraussetzungen und Einbettungen des Sozialen den Mitgliedstaaten anvertraut. Und auch der Beitrag, den die Gesellschaft zur Entfaltung der entsprechenden Werte leistet, vollzieht sich grundsätzlich nach Maßgabe des Rahmens, den die Mitgliedstaaten vorgeben. 4. Das spezifisch „Soziale“
So wesentlich wirtschaftliche Prosperität und nichtwirtschaftliche Prosperität für das Gelingen des „Sozialen“ sind, so unentbehrlich ist es auch, dem Ungenügen individueller oder gruppenhafter Befindlichkeiten durch Institutionen einer spezifischen sozialen Intervention zu begegnen.
a) Der normative Hintergrund Die Grundnorm von „mehr Gleichheit“ ist nicht explizit gemacht. Ihre vorrechtliche Natur scheint mit ihrer Positivierung auch kaum vereinbar zu sein. Gleichwohl erklärt sie auch hier die normative Substanz des Sozialen.50 – „Bei allen . . . Tätigkeiten“, sagt der Gemeinschaftsvertrag, „wirkt die Gemeinschaft darauf hin, Ungleichheiten zu beseitigen“ (Art. 3 Abs. 2 EGV).51 Das wird mit dem Zum Folgenden siehe insbesondere Bieber / Epiney / Haag, Die Europäische Union. Dieses Thema ist im Entwurf des Verfassungsvertrages sehr viel intensiver angesprochen: Art. I–17 Buchst. e, II–74 Abs. 1, III–117, III–203, III–213 Buchst. c, III–219 Abs. 1, III–229 Buchst. a, III–282 – 283, III–313 Abs. 3 Buchst. a, III–315 Abs. 4 Buchst. b EVV. 50 Martin Heidenreich (Hrsg.), Die Europäisierung sozialer Ungleichheit. Zur transnationalen Klassen- und Sozialstrukturanalyse, 2006. 51 Der Verfassungsvertrag hat diesen Ansatz aufgegeben. Stattdessen betont der Vertragsentwurf einerseits die Verpflichtung der Union auf die „Gleichheit“: (Präambel, Art. I–2, I–45, II–80, III–292 EVV), andererseits den Kampf gegen Diskriminierungen (Art. I–2, I–3 Abs. 3, I–4 Abs. 2, II–81, III–118, III–123, III–167 Abs. 2 Buchst. a, Art. III–214 Abs. 2, III–321 Abs. 2 EVV). Inwieweit dabei (auch) „mehr Gleichheit“ gemeint ist, die den allgemeinsten Sinn des Sozialen ausmacht, ist differenziert zu sehen. Jedenfalls für Art. II–80 erscheint es ausgeschlossen. 48 49
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größten Nachdruck für die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen bekräftigt (Art. 2, 3 Abs. 2, 13 EGV, Art. 23 GRCh).52 Ebenso gehört hierher das Recht Behinderter auf Integration (Art. 26 GRCh).53 Dem allem entspricht ein intensives Programm der Nichtdiskriminierung (Art. 13 EGV, Art. 21 GRCh).54 – Von einem wesentlich anderen Blickpunkt her beleuchtet die Garantie der Daseinsvorsorge (Art. 16, 86 Abs. 2 EGV, Art. 36 GRCh) die Problematik der Ungleichheit.55 Daseinsvorsorge setzt der für soziale Leistungen typischen Strategie der „Gleichheit durch den Ausgleich von Nachteilen“ die Strategie der „Gleichheit durch Allgemeinheit“ entgegen.56 Eine für die Europäische Union besonders charakteristische Dimension liegt in dem Nachdruck, mit dem der Gemeinschaftsvertrag für die Verringerung des Entwicklungsabstands zwischen den Regionen (Art. 2, 3 Abs. 1 Buchst. k, 158 ff. EGV) eintritt.57 – Teilhabe und Inklusion werden durch den Auftrag artikuliert, Ausgrenzungen zu bekämpfen (Art. 136 Abs. 1 EGV).58 Eine besondere Gestalt der Inklusion findet sich in den spezifischen Grundfreiheiten der Wirtschaftsgemeinschaft (Art. 23 ff., 39 ff. EGV): in dem Zugang zum Erwerbsleben in den Mitgliedstaaten und in der Begleitung des Gebrauchs dieser Freiheiten durch ein kohärentes System sozialer Sicherung durch die Mitgliedstaaten (Art. 42, 47 EGV).59 Im Verlauf der Zeit hat sich diese soziale Teilhabe in der ganzen Gemeinschaft immer mehr vom Gebrauch der Freiheit zum wirtschaftlichen Erwerb gelöst.60 Die Unionsbürgerschaft und die Freizügigkeit der Unionsbürger (Art. 17 ff. EGV) unterstreichen das.61
Dabei wird Inklusion grundsätzlich auf die bezogen, die den Mitgliedstaaten als Bürger oder Einwohner zugehören. Die Frage der Inklusion stellt sich aber auch für die, die „draußen“ sind: sei es, dass sie Zugang zum „Drinnen“ suchen; sei es, dass sie auf andere Weise Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten derer suchen, die „drinnen“ sind. Der Vertrag spricht diese Verantwortung vielfältig an (Art. 3 Abs. 1 Buchst. r und s, 61 ff., 158 ff., 277 ff., 181a, 182 ff., 299 Abs. 2 und 3 EGV). 52 Diesen Akzent übernimmt auch der Entwurf des Verfassungsvertrages: Art. I–2, II–81, II–83, III–116, III–118, III–209, III–214. 53 Art. II–86 EVV. 54 Art. I–2, I–3 Abs. 3, I–4 Abs. 2, II–81, III–118, III–123, III–124 Abs. 1, III–167 Abs. 2 Buchst. a, III–321 Abs. 2 EVV. 55 Zum aktuellen Stand der Entwicklung siehe Bernd Schulte, Soziale Daseinsvorsorge und Europäisches Gemeinschaftsrecht – Teil 1, in: Sozialrecht in Deutschland und Europa – SGB, 2006, S. 719 ff.; ders., – Teil 2, in: ebd., 2007, S. 13 ff. 56 Zacher, Sozialstaat und Prosperität. 57 Im Entwurf eines Verfassungsvertrages reich entfaltet: Art. I–3, I–14 Abs. 2 Buchst. c, I–22 Abs. 2 Buchst. c, II–96, III–122, III–220 bis 224, III–234 Abs. 5 Buchst. b, III–247 Abs. 1 Buchst. c, III–416 EVV. 58 Art. I–3 Abs. 3, II–94 Abs. 3, III–117, III–209, III–210 Abs. 1 Buchst. j EVV. 59 Art. III–141 EVV. – Zur Ausgestaltung siehe Schulte, Supranationales Recht. 60 Zum neuesten Stand der Entwicklung siehe Bernhard Spiegel, Die neue europäische Sozialrechtskoordinierung, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht (ZIAS), Jg. 20 (2006), S. 85 ff. 61 Art. I–10, III–123 ff. EVV. – Ulrich Becker, Unionsbürgerschaft und soziale Rechte, ZESAR, 2002, S. 8 ff.
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– Die Solidarität wurde zunächst auf das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten bezogen (Art. 2 EGV).62 Ein verwandtes Anliegen ist das des Zusammenhalts (der Kohäsion) (Art. 2, 158 ff. EVG). Mit der Charta der Grundrechte vollzog sich insofern ein tiefgreifender Wandel: Die Solidarität wurde (auch) zum Nenner der sozialen Rechte der Einzelnen (Überschrift vor Art. 27 GRCh). – Das Prinzip der sozialen Sicherheit ist der zentrale Nenner der Sozialleistungssysteme (Art. 47, 137 Abs. 1 Buchst. c EGV; Art. 34 GRCh). Als solcher Nenner ist die „soziale Sicherheit“ aber vielfach von der Zusage sozialen Schutzes (Art. 2, 136 Abs. 1 EGV) überwölbt:63 ein mittlerweile im internationalen und europäischen Recht üblicher Sammelbegriff, der neben dem Sozialleistungsrecht auch jene Rechtsverhältnisse umfasst, die – wie das Arbeitsverhältnis (Art. 136 – 140 EGV, Art. 27 – 31 GRCh)64 – trotz eines originär anderen Zweckes dem sozialen Zweck nachhaltig Rechnung tragen. – Die Subsidiarität hat zentrale Anerkennung für die Handhabung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten gefunden (Art. 5 Abs. 2 EGV).65 Die Subsidiarität im Verhältnis zwischen unterschiedlichen politischen oder gesellschaftlichen Einheiten etwa innerhalb eines Mitgliedstaates wird davon grundsätzlich nicht betroffen. Die Subsidiarität im Verhältnis der Einzelnen gegenüber den Gemeinschaften und Gemeinwesen, in denen sie leben, muss ebenso wie die Subsidiarität im Verhältnis von Gesellschaft und Staat66 – oder auch: von Gesellschaft und Institutionen der Union – den Grundrechten, insbesondere den Freiheitsrechten, entnommen werden (Art. 6 Abs. 2 EUV; siehe ferner die Grundrechte-Charta).
Von Gerechtigkeit ist im geltenden Vertragsrecht nicht die Rede. Der Entwurf des Verfassungsvertrags spricht demgegenüber sowohl von Gerechtigkeit67 als auch von sozialer Gerechtigkeit.68 Ein allgemeiner Nenner, wie ihn das soziale Staatsziel mitgliedstaatlicher Verfassungen darstellt, findet sich nicht. Zwar ist von einer Zuständigkeit der Gemeinschaft für „eine Sozialpolitik mit einem Europäischen Sozialfonds“ die Rede (Art. 3 Abs. 1 Buchst. j EGV).69 Doch lässt der Kontext (Art. 2, 136 ff. EGV) erkennen, dass darin kein umfassender sozialpolitischer Auftrag liegt. Andererseits: Unionsvertrag (Präambel) und Gemeinschaftsvertrag (Art. 136 Abs. 1 EGV) nehmen auf die Europäische 62 Art. I–3 Abs. 3, I–40, III–257 Abs. 2, III–268, III–292 Abs. 1 EVV. Zur Solidarität zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft sowie Gemeinschaft und Mitgliedstaaten: Art. I–16 Abs. 2, I–40 Abs. 1, I–43 Abs. 1, III–294 Abs. 2, III–300 Abs. 1, III–329 Abs. 2 EVV. Zur weltweiten Solidarität unter den Völkern und Staaten: Art. I–3 Abs. 4 EVV. 63 Art. I–3, II-93 Abs. 1, III–117, III–125 Abs. 2, III–210 Abs. 1 Buchst. c und k, III-217 EVV. 64 Art. I–48, II–87 bis 92, III–209 bis 219 EVV. 65 Auch hier eingehender der Entwurf eines Verfassungsvertrages: Art. I–11, I–18 Abs. 2, Präambel vor Teil II, Art. II–111 Abs. 1, Art. III–259 EVV. 66 Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II: Verfassungsstaat, 3. Aufl. 2004, S. 879 ff. Rz. 51 – 53. 67 Präambel, Art. I–2, Art. I–3 Abs. 3, II–91, II–101, III–268 EVV. 68 Art. I–3 Abs. 3 EVV. 69 Der Entwurf des Verfassungsvertrages spricht von einer „Sozialpolitik hinsichtlich der in Teil III genannten Aspekte“ (Art. I–14 Abs. 2 Buchst. b EVV).
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Sozialcharta Bezug. Sie wird offenbar als wichtigster Ausdruck eines dem Vertragsrecht vorausliegenden Konsenses begriffen.
b) Wege der Implementation Diesen Hintergrund konkretisiert der Vertrag zu einem tentativen wohlfahrtsstaatlichen Arrangement, dessen Verwirklichung aber Sache der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten ist (Art. 136 EGV). Die zentralen Themen sind: Beschäftigung,70 Arbeitsbedingungen,71 sozialer Schutz und Bekämpfung von Ausgrenzungen (Art. 136 Abs. 1 EGV). Gegenüber einer weiteren Konkretisierung findet sich das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 2 EGV) ausgemünzt zur Rücksicht auf die „Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten“ (Art. 136 Abs. 2 EGV). Unmittelbare Regelungen der Union sind möglich (Art. 137 EGV).72 „Fertige“, in sich operationale soziale Programme und Ordnungen sind jedoch Sache der Mitgliedstaaten. Die Union beschränkt sich auf das für die Gemeinschaft Wichtigste.73 Die größte Bedeutung kommt dabei der Rechtsetzung zur Verwirklichung der Diskriminierungsverbote zu (Art. 13 EGV).74 Das spezifische wohlfahrtsstaatliche Arrangement der Gemeinschaft liegt jedoch in dem Auftrag, den von den Mitgliedstaaten gebildeten Raum als gemeinsamen Lebensraum auch über das Maß hinaus zu integrieren, das sich aus dem gemeinsamen Markt und der Gemeinsamkeit nichtwirtschaftlicher Lebensbedingungen bereits ergibt. Die Verträge beschreiten dabei zwei sehr unterschiedliche Wege. – Die sozialleistungsrechtliche Integration des gemeinsamen Wirtschaftsraumes als Sozialraum.75 Zunächst durch die Verkoppelung („Koordination“) der sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten zum Schutze all derer, die ihre Erwerbstätigkeit durch mehrere Mitgliedstaaten führt (Art. 47 EGV). Sodann die Erstreckung der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit (Art. 23 ff., 49 ff. EGV) auch auf die Erbringung von Sozialleistungen.76 Schließlich die Einrichtung der Unionsbürgerschaft (Art. 17 EGV), die Gewährung einer entsprechenden Freizügigkeit (Art. 18 EGV) und die grundsätzliche Eröffnung des Zugangs auch zu sozialen Leistungen (Art. 12 EGV).77 70 Sehr ausgeprägt im Entwurf eines Verfassungsvertrages: Art. I–12 Abs. 3, I–15, I–48, III–133 und 134, III–167 Abs. 3 Buchst. a, III–203 bis 208, III–219, III–229, III–231 Abs. 4 Buchst. a EVV. 71 Art. I–48, II–87 bis 92, III–209 bis 219 EVV. 72 Heinz-Dietrich Steinmeyer, Das Sozialrecht im Gemeinschaftsrecht, in: Hanau / Steinmeyer / Wank, Handbuch, S. 931 ff.; Schulte, Supranationales Recht, Rz. 7 – 23, 230 – 235. 73 Ulrich Becker, Schutz und Implementierung von EU-Sozialstandards, in: Ulrich Becker / Bernd von Maydell / Angelika Nußberger (Hrsg.), Die Implementation internationaler Sozialstandards. Zur Durchsetzung und Herausbildung von Standards auf überstaatlicher Ebene, 2006, S. 139 ff. 74 Ulrich Becker, Die Bedeutung des gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbots für die Gleichstellung von Sachverhalten im koordinierenden Sozialrecht, in: Vierteljahresschrift für Sozialrecht, 2000, S. 281 ff. 75 Ulrich Becker, Nationale Sozialleistungssysteme im europäischen Systemwettbewerb, in: Ulrich Becker / Wolfgang Schön (Hrsg.), Steuer- und Sozialstaat im europäischen Systemwettbewerb, 2005, S. 1 ff. (S. 28 ff.). 76 Schulte, Supranationales Recht, Rz. 104 – 173.
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– Die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts innerhalb der Union. Dafür steht eine reiche Vielfalt von Instrumenten zur Verfügung: vom Sozialfonds (Art. 146 ff. EGV) und all den anderen Fonds (Art. 158 ff. EGV)78 bis hin zum allgemeinen Haushalt (Art. 268 ff. EGV).79 Nimmt der Haushalt Geld nach Maßstäben der Leistungsfähigkeit ein, so geben Förderungsprogramme sie nach Maßstäben der sozialen Bedürftigkeit, des sozialen Ausgleichs oder der sozialen Förderung aus. Aber auch andere Ausgaben können, wenn die Anlässe regional, sektoral oder sonst wie entsprechend angeordnet sind, soziale Zwecke bedienen.
Im Übrigen ist das Zusammenwachsen der Sozialpolitiken innerhalb der Union vor allem dem Sog der immer besseren Kenntnis und des internationalen Systemwettbewerbs überlassen. Zur konstruktiven Auswertung dieser Entwicklungen und Beobachtungen wirken Kommission und Mitgliedstaaten zusammen (Art. 136 ff. EGV). Eine zentrale Rolle kommt der Offenen Methode der Koordination zu:80 einem Verfahren, das die Erfahrungen, Bewertungen und Projekte der Mitgliedstaaten, der Kommission und des Sachverstandes aufeinander zuführt und so gemeinsame Grundlagen für die Politiken der Union und der Mitgliedstaaten schafft. Andere Wege, welche die Wirksamkeit der Union über die Grenzen ihrer vertragsbestimmten Zuständigkeiten hinausführen, sind politische Erklärungen, Berichte, sachverständige Informationen usw. Vor allem unverbindliche sozialpolitische Programme haben inzwischen eine lange Tradition.81 Die Rolle der Gesellschaft findet sich dagegen kaum artikuliert. Die wichtigste Ausnahme bildet der soziale Dialog: die Einbeziehung der Sozialpartner (Art. 137 ff. EGV). Die Familie hat erstmals in der Grundrechte-Charta Erwähnung gefunden (Art. 33 GRCh).82 Einmal mehr ist auf die Gewährleistung der Grundfreiheiten zurückzugreifen (Art. 6 EUV). 5. Die Unübersichtlichkeit des Ganzen
Das allgemeinere, weitere Soziale und das spezifische, engere Soziale durchdringen sich tief und unauflöslich. Die normative, institutionelle und funktionale Komplexität, kraft derer die Union und ihre Mitgliedstaaten sich in ihrer Zuständigkeit und ihrer Verantwortung ergänzen, beeinflussen, aber auch blockieren, steigert diese Verflechtung ins Extrem. Was immer seitens der Union geschieht, kann die Voraussetzungen oder die Wirkungen dessen, was seitens eines Mitgliedstaates geschieht, verändern. Und alles, was 77 Siehe aber auch Art. 18 Abs. 3 EGV. – Ulrich Becker, Unionsbürgerschaft und soziale Rechte, ZESAR 2002, S. 8 ff. 78 Karl Engelhard, Fonds der Europäischen Union, in: Wolfgang W. Mickel / Jan M. Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 3. Aufl. 2005, S. 334 ff. 79 Oppermann, Europarecht, § 11. 80 Offene Methode der Koordination im Sozialrecht. Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Bd. 53, 2005. 81 Eine Zusammenstellung von Beispielen siehe bei Bieber / Epiney / Haag, Die Europäische Union, § 22, Rz. 26 – 29. Der Europäische Verfassungsvertrag enthält eine explizite Legitimation: „Die Union kann Initiativen zur Koordinierung der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten ergreifen“ (Art. I–15 EVV). 82 Wesentlich verbessert im Entwurf eines Verfassungsvertrages Art. II–67, II–69, II–93, III–267 Abs. 2 Buchst. a EVV.
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seitens eines Mitgliedstaates geschieht, kann die Voraussetzungen oder die Wirkungen dessen, was seitens der Union oder eines anderen Mitgliedstaates geschieht, verändern. Zudem ist in Betracht zu ziehen, dass das „Soziale“ immer eine gemeinsame Leistung des Staates und der Gesellschaft ist: hier also der Mitgliedstaaten und der staatsähnlichen supranationalen Strukturen der Union auf der einen Seite und eines komplexen Gewebes von Gesellschaften, die sich primär in den Mitgliedstaaten verfasst sehen, die sich aber weitergehend auch auf den Rahmen der Union beziehen und ihn ausfüllen, auf der anderen Seite. War und ist die Komplementarität von Staat und Gesellschaft schon in jedem freiheitlichen Nationalstaat offen und unfasslich, so gilt das unter den Bedingungen der europäischen Integration erst recht. Was ein „europäischer Sozialstaat“ wirklich bedeuten könnte, ist unter diesen Bedingungen schwer vorstellbar. Jedenfalls: Die Kraft des Zusammenspiels von Staat und Gesellschaft hängt davon ab, dass die Gesellschaft autonom, „ungefasst“, bleibt. Das macht den „freiheitlichen Sozialstaat“ aus. So ist Europa, soweit es ein „Staat“ ist, ein „freiheitlicher Sozialstaat“.
IV. Europäische Sozialpolitik und Europäisches Sozialrecht und die Katholische Soziallehre Das Soziale ist eine Verantwortung der Christen. Das gilt für das Soziale im Allgemeinen: für die Befindlichkeit der Gesellschaften und Gemeinwesen. Gerade die Katholische Soziallehre war nie allein eine Lehre von der sozialen Intervention, sondern primär eine Lehre von der richtigen Gesellschaft und vom richtigen Gemeinwesen an sich.83 Gleichwohl musste sie auch der Notwendigkeit sozialer Korrektur Rechnung tragen. Und so ist auch und gerade das spezifisch Soziale eine Verantwortung der Christen: im Sinne von „mehr Gleichheit“, des Schutzes der Schwächeren84 und des Ausgleichs für Benachteiligte 85; im Sinne von Gerechtigkeit86, Teilhabe und Inklusion87, Solidarität88, Sicherheit89 und Subsidiarität.90 83 Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2006. 84 Kompendium Nr. 81. 85 In der modernen kirchlichen Sozialverkündigung zunächst vor allem ausgedrückt im Eintreten für die Arbeiter, Kompendium Nr. 89 ff. Zum heutigen, differenzierteren Stand siehe ebd., 255 ff. Siehe dazu auch die Artikel dieses Handbuches zum Thema „Arbeit“. Heute ist das Eintreten für die Benachteiligten vor allem ausgedrückt in der „Option für die Armen“. Kompendium, Nr. 81, 182 ff. und passim. 86 Kompendium Nr. 201 f. und passim. 87 Kompendium Nr. 24, 60, 75, 148, 151, 155, 263, 281, 293, 354, 406, 414, 416, 438, 495. „Mehr Beteiligungsgerechtigkeit. Beschäftigung erweitern, Arbeitslose integrieren, Zukunft sichern – Neun Gebote für die Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Memorandum einer Expertengruppe, berufen durch die Kommission VI für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz, 1998. 88 Kompendium Nr. 192 ff. und passim. Alois Baumgartner, Solidarität, in: Marianne HeimbachSteins (Hrsg.), Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, 2004, S. 283 ff. 89 Die soziale Sicherheit ist, so zentral der Begriff weltweit für die Sozialpolitik ist, in der kirchlichen Soziallehre nicht geklärt und kaum gebraucht. Marginal in: Kompendium Nr. 180 f., 352. 90 Kompendium Nr. 185 ff.
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Europa ist eine Verantwortung der Christen.91 Und so sind auch die sozialen Verhältnisse in Europa eine Verantwortung der Christen.92 Die Katholische Soziallehre ist aus Europa hervorgegangen. Europa war der Platz, von dem aus die Kirche gelehrt hat. Europa und Nordamerika waren der Raum, in dem die „soziale Frage“ ihre moderne Gestalt angenommen hat. Europa und Nordamerika waren der Raum, in dem die Christen die soziale Entwicklung der Moderne wesentlich mitgeprägt haben.93 Und Europa war der Erfahrungshorizont der Päpste, von dem her sie anfingen, die Katholische Soziallehre zu formulieren. Erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts weitete sich ihre Botschaft nachdrücklich auf die ganze Welt aus.94 Zugleich aber blieb Europa eine besondere Herausforderung für die soziale Verantwortung der Christen. Zunächst geteilt in die Welt des „freien Europa“ und des kommunistischen Europa.95 Und nun geteilt in das supranational organisierte Europa, in die weitere Wertegemeinschaft des Europarates und in die schwierigen Reste älterer Gesellschaften und politischer Systeme – oder anders addiert: geteilt in die Welt der bewährten rechtsstaatlichen Demokratien, in die Welt postkommunistischer Transformation96 und in die Reste vorpluralistischer Gesellschaften und Staaten. Dass es für dieses Europa eine gemeinsame christliche Botschaft geben könnte, die sich wesentlich von dem unterscheiden dürfte, was Kirche und Christen auch in das soziale Leben anderer Kontinente einzubringen haben, ist unwahrscheinlich. Anderes mag für das Europa gelten, das vor dem Zusammenbruch des Kommunismus das „freie“ genannt wurde und das nun in der Europäischen Union zusammengeschlossen oder zumindest eng damit assoziiert ist. Dieses Europa hat wie nur wenige Teile der 91 Jürgen Schwarze (Hrsg.), Die katholische Kirche und das neue Europa. Dokumente 1980 – 1995. Teil 1 und 2, 1996. 92 Bischofssynode. Sonder-Versammlung für Europa, Damit wir Zeugen Christi sind, der uns befreit hat. Erklärung (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Verlautbarungen des apostolischen Stuhls 103), 1991, Nr. 10 ff.; Bischofssynode. Zweite Sonder-Vollversammlung für Europa: Jesus Christus, der lebt in seiner Kirche, Quelle der Hoffnung für Europa. Instrumentum Laboris (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Verlautbarungen des apostolischen Stuhls 138), 1999, Nr. 71 ff.; Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Europa von Papst Johannes Paul II. (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Verlautbarungen des apostolischen Stuhls 161), 2003, Nr. 84 ff., 97 ff., 100 ff., 109 f., 111 f., 113 ff. 93 Franz-Xaver Kaufmann, Christentum und Wohlfahrtsstaat, in: Zeitschrift für Sozialreform, 1988, S. 65 ff.; Thorsten Meireis, „Sie waren ein Herz und eine Seele und hatten alles gemeinsam“ oder „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“? – Protestantische Motive im Kontext von Wohlfahrtsstaatlichkeit, in: Karl Gabriel (Hrsg.), Europäische Wohlfahrtsstaatlichkeit. Soziokulturelle Grundlagen und religiöse Wurzeln (Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften, 46. Bd.), 2005, S. 15 ff.; Hermann-Josef Große Kracht, Sozialer Katholizismus und demokratischer Wohlfahrtsstaat. Klärungsversuche zu Geschichte und Gegenwart einer ungewollten Wahlverwandtschaft, in: ebd., S. 45 ff.; Elmar Rieger, Die Eigenart der Sozialpolitik in der westlichen Welt. Religiöse Entwicklungsbedingungen des modernen Wohlfahrtsstaates in vergleichender Perspektive, in: ebd., S. 165 ff.; Philip Manow, Plurale Wohlfahrtswelten. Auf der Suche nach dem europäischen Sozialmodell und seinen religiösen Wurzeln, in: ebd., S. 207 ff. 94 Kompendium Nr. 94; Hans F. Zacher, Über einige Schwierigkeiten, das Soziale zu lehren, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft, 1991, S. 41 ff. (S. 60). 95 Als Antwort der Katholischen Soziallehre auf das kommunistische Regime siehe Johannes Paul II., Laborem exercens, 1981. 96 Matthias Freise, Rekombinante Wohlfahrtsstaaten. Osteuropäische Sozialpolitik im Wandel, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften, Bd. 46, 2005, S. 323 ff.
Europäische Sozialpolitik / Europäisches Sozialrecht
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Welt sonst das „goldene Zeitalter des Wohlfahrtsstaates“ erlebt und mochte sich damals in Harmonie auch mit den sozialen Lehren der Kirche sehen. Dass dabei die rechte Definition der Schwächeren und der Benachteiligten weithin ebenso verfehlt wurde wie das rechte Maß von Eigenverantwortung und Kollektivverantwortung oder das rechte Verhältnis zwischen Einzelnen, Familie, Gesellschaft und Staat, schien dabei nicht schwer zu wiegen. Denn auch Kirche und Christen konnten die Grenzen nicht genau markieren. Mittlerweile hat sich das Blatt der Entwicklung gewendet. Viele Umstände wirken zusammen, um einen „Umbau“ des Wohlfahrtsstaates notwendig zu machen.97 Stichworte wie „befähigender“, „aktivierender“ oder „vorsorgender“ Sozialstaat deuten in eine Richtung, die den Leitbildern der kirchlichen Soziallehre mehr entspricht als die Praxis der vorausgegangenen Jahrzehnte. Und Kirche und Christen können Politik und Gesellschaft bei einer entsprechenden Revision der Leitbilder unterstützen. Bisher geschieht das wesentlich im nationalen Rahmen.98 Ob der Versuch, aus christlicher Sicht – sei es im Rahmen der Europäischen Bischofskonferenz, sei es in ökumenischer Zusammenarbeit – europäische Grundsätze aufzustellen, sinnvoll ist, muss hier offen bleiben. Dieses Europa hat eine besondere soziale Verantwortung auch für die Welt. Kraft seiner Geschichte. Kraft seines Beitrages zur Geschichte des Sozialen. Kraft seiner zivilisatorischen und vor allem seiner wirtschaftlichen Macht. Gerade diese Verantwortung ist eine elementar humane – und also eine elementar christliche.99
Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Soziale Demokratie in Europa, 2005. Für Deutschland siehe „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, 1997; „Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik“. Die deutschen Bischöfe. Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, Heft 28, 2003. Für Österreich siehe Sekretariat der österreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), Sozialhirtenbrief der katholischen Bischöfe Österreichs, 1990. 99 Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), Bericht zur Weltordnungspolitik, 2004: Zeit, unsere Versprechen einzulösen, o. J. (2004); Josef Homeyer, Europa und die Globalisierung – Der Beitrag der Kirche, in: Edmond Malinvaud / Louis Sabourin (Hrsg.), Globalization. Ethical and Institutional Concerns. The Pontifical Academy of Social Sciences Acta 7, 2001, S. 317 ff. 97 98
Zehntes Kapitel
Politische Ordnung
Staat Von Josef Isensee I. Was ist Staat? 1. Komplexität und Mutabilität
Was Staat ist, lässt sich nicht auf einen einzigen Begriff bringen oder in einer schulmäßigen Definition einfangen. Das ist in der Sache selbst begründet: der Komplexität und der raum-zeitlichen Mutabilität der staatlichen Erscheinungen. Ein Begriff kann die Sache Staat nur unter einem von unabsehbar vielen Aspekten erfassen. Daraus folgt die unvermeidliche Relativität aller Staatsbegriffe, aber auch die Notwendigkeit vielfältiger Staatsbegriffe. Ein annäherndes Bild des Ganzen kann sich nur aus der Vielzahl der Aspekte ergeben, die sich im Gang rund um das Objekt im Wechsel der Perspektiven zeigen. So fordert der Staat als Thema der wissenschaftlichen Forschung normative wie empirische Methoden. Er beschäftigt juristische wie philosophische, historische wie ökonomische, politik- und andere „sozialwissenschaftliche“ Disziplinen: alle jene, die herkömmlich die Staatswissenschaften im weiten Sinne ausmachen. Aussagen über den Staat schlechthin, sein „zeitloses“ Wesen, laufen Gefahr, sich ins Inhaltsleere und Gemeinplätzige zu verlieren oder aber bestimmte historische Gegebenheiten unhistorisch zu verallgemeinern und zu verabsolutieren. Dennoch führt die Frage nach der Staatlichkeit eines bestimmten Staates über dessen individuelle Existenz und Erscheinung hinaus. Sie muss aber nicht auf die Höhen der Staatsmetaphysik steigen. Sie kann auf mittlerer Abstraktionshöhe stehenbleiben: bei dem geschichtlich bedingten Strukturmodell des „modernen Staates“. Dieses vereint in sich die Eigenschaften, die heute als notwendig oder zumindest als normal vorausgesetzt werden können und in wesentlichen Zügen auch nach den Regeln des Völkerrechts vorausgesetzt werden müssen. Der „moderne Staat“ ist Idealtypus: stilisiertes Abbild der komplexen Wirklichkeit.1 Er repräsentiert die strukturelle Gemeinsamkeit der Staaten jenseits ihrer geopolitischen, ethnischen, verfassungsrechtlichen Besonderheiten. Ihm entsprechen, zumindest dem Anspruch nach, weitgehend auch tatsächlich, die auf der Erde existierenden Staaten (derzeit an Zahl ungefähr 200, von ihnen 192 Mitglieder der Vereinten Nationen). Auf dem Konzept des modernen Staates baut das Völkerrecht auf. Die gegenwartsbezogenen Staatswissenschaften finden in ihm ihr Normalmaß. Er bildet den hinlänglich konsistenten und fassbaren Gegenstand für den historischen Vergleich wie für die Allgemeine Staatslehre und die Dogmatik des Staats- und Völkerrechts, für die politische Theorie, den philosophischen Diskurs und für die christliche Sozialethik. 1 Kategorie des Idealtypus Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse (1904), in: ders., Soziologie, weltgeschichtliche Analysen, 2. Aufl. 1956, S. 234 ff. Vorausgeht die Typenlehre Georg Jellineks, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914 (1. Aufl. 1900), S. 30 ff.
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Josef Isensee 2. Drei Abstraktionsebenen: Staat – moderner Staat – Verfassungsstaat
In allen geschichtlichen Epochen finden sich Erscheinungen von Genossenschaft und Herrschaft, die sich – in einem weiten Verständnis – als „Staat“ erkennen lassen: Verbände, die auf Solidarität ihrer Angehörigen und auf Befehlshierarchie gegründet sind. In diesem allgemeinen Sinn spricht man vom „Staat“ der Perser oder der Athener, vom „Römischen Staat“, vom „Staat des hohen Mittelalters“, von „Staat und Kirche“ nach der konstantinischen Wende. Die Allgegenwart staatlicher Phänomene mag als empirische Bestätigung der metaphysischen Lehre gedeutet werden, dass der Mensch seiner Wesensverfassung nach auf ein Leben im Staat hin angelegt und somit ein „politisches“ Wesen sei.2 Gleichwohl bildet der Staat keine feste, übergeschichtliche Größe. Vielmehr entwickelt er sich unter den realen, örtlichen Gegebenheiten nach den jeweiligen Bedürfnissen der Menschen, die sich in ihm vereinigen, und er nimmt unterschiedliche Gestalt an. Die Theorie tut sich schwer, über die raum-zeitlichen Unterschiede hinweg Merkmale aufzuweisen, die das Bild des Staates als solchen ausmachen. Ein epochenübergreifender Staatsbegriff bleibt denn auch inhaltsarm, unscharf, offen. Dagegen gewinnt der Staatsbegriff an Kontur, wenn er sich auf den modernen Staat bezieht, jenen Typus, der, mit Anbruch der Neuzeit auf europäischem Boden entwickelt, sich heute weltweit verbreitet hat: die Gebietskörperschaft, die den Anspruch auf Souveränität und virtuelle Allzuständigkeit beansprucht.3 Dieser „moderne“ Staat gilt in der internationalen Gemeinschaft als der Staat schlechthin. Juristen und Historiker neigen dazu, den Begriff des Staates mit dem konkreten, an die Neuzeit gebundenen Begriff des modernen Staates zu identifizieren.4 Die Anwendung des Begriffs auf vormoderne politische Phänomene erscheint als unzulässige Analogie, als Rückprojektion neuzeitlicher Vorstellungen. Die Einschränkung des Staatsbegriffs findet gewissen Rückhalt in der Etymologie.5 Denn das Wort „Staat“ (wie seine Entsprechungen: stato, estado, état, state) kommt erst in der Neuzeit auf. In Machiavellis „Principe“ (1513) ist „stato“ der Oberbegriff der Staatsformen Monarchie und Republik; er umschließt alle Gewalten, die jemals Macht über Menschen ausgeübt haben oder derzeit ausüben. Die lateinische Wurzel status (ursprünglich: Zustand, Rang, Stand) wandelt ihren Sinn und nimmt nunmehr die Bedeutungen an von Machtbesitz, Machtinteresse („ragion di stato“), herrschende Gruppe, Staatsanstalt, Gebietskörperschaft, Einheit von Herrschaftsorganisation und Gesellschaft. Der römischen Antike lag es fern, Gesetze einem Abstraktum Staat zuzurechnen. An dessen Stelle standen die konkret handelnden Größen (Senatus Populusque RomaAristoteles, Politik I / 2 (1253a). Zu Begriff und Wesen: Otto Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staates (1931), in: ders., Staat und Verfassung, 2. Aufl. 1962, S. 470 ff.; Ernst Kern, Moderner Staat und Staatsbegriff, 1949; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966; ders., Die Modernität des modernen Staates, in: Verfassung und Recht in Übersee, 1973, S. 5 ff.; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, 1970, S. 32 ff.; Andreas Anter, Max Webers Theorie des modernen Staates, S. 19 ff. 4 So Carl Schmitt, Nachtrag zu: Staat als konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 383 f. Zuvor Otto Brunner, Land und Herrschaft, 5. Aufl. 1965, S. 111 ff. Vgl. Quaritsch (FN 3), S. 35. – Zur Begriffsgeschichte Stephan Skalweit, Der „moderne“ Staat, 1975. 5 Zur Staats-Etymologie, Ludwig-Paul Weihnacht, Staat, 1968; Werner Suerbaum, Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff, 1970; Kern (FN 3), S. 23 ff. 2 3
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nus). Es gab kein Wort für den Staat in seiner Ganzheit und Allgemeinheit, dafür aber Wörter für dessen einzelne Erscheinungsformen und Wesenszüge: Gemeinwesen (res publica), Bürgerschaft (civitas), Herrschaft (regnum), Führung (regimen), Amtsgewalt (imperium), Macht (potestas). Alle diese Bedeutungen fließen im Laufe der Neuzeit in das Wort „Staat“ ein, das damit gleichermaßen Traditionsgut aufnimmt wie Substanz der Moderne, das ebenso Kontinuität verkörpert wie Epochenbruch. Es ist daher legitim, „Staat“ auch auf vormoderne Herrschaftsformen zu beziehen, zumal die deutsche Sprache kein angemessenes Ersatzwort bereithält. Dem Staatsbegriff des Völkerrechts liegt der Typus des modernen Staates zugrunde. Er umfasst die Merkmale, die allen Gebietsherrschaften gemeinsam sind, die heute als Staaten anerkannt oder zur Anerkennung reif sind: die drei Elemente Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt. Der völkerrechtliche Staatsbegriff wie der wissenschaftliche Idealtypus moderner Staat, der ihm korrespondiert, vernachlässigt die Binnenstrukturen der Staaten, die Verteilung und Begründung der Staatsgewalt, deren Ziele und Grenzen, also deren jeweilige Staats- und Regierungsform. Daher umfasst er gleichermaßen Demokratien und Autokratien, freiheitliche und totalitäre Systeme. Insofern ist er indifferent zur inneren Ordnung des jeweiligen Staates: ein Passepartout, in das sich die unterschiedlichsten Verfassungen fügen.6 Daraus folgt, dass es den modernen Staat als solchen in der Wirklichkeit nicht gibt. Es gibt ihn immer nur als eine in bestimmter Weise verfasste Größe. An der Frage nach der richtigen Verfassung entzünden sich die politischen Fundamentalkonflikte innerhalb der Staaten wie zwischen den Staaten, so im 20. Jahrhundert zwischen dem westlich-liberalen und dem östlich-sozialistischen Lager. Nach dem Zusammenbruch des letzteren hat das westliche Modell des Verfassungsstaates die ideelle Hegemonie erlangt. Es gründet auf den Prinzipien der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung und der Menschenrechte, wie sie auf europäischem und amerikanischem Boden im Zeitalter der Aufklärung gewachsen sind. Im Verfassungsstaat verbinden sich Demokratie und Rechtsstaat zur „freiheitlichen Demokratie“. Die Begründung staatlichen Handelns aus dem Willen des Volkes findet Ziel und Grenze in der Gewähr der Freiheit des Individuums wie der Gesellschaft.7 Mächtige politische und rechtliche Tendenzen drängen in der Weltgesellschaft darauf, den Verfassungsstaat als die einzig legitime Erscheinungsform des Staates anzuerkennen und alle bestehenden Staaten zu verpflichten, sich diesem Leitbild gemäß zu organisieren. Strebungen dieser Art gehen vor allem aus von den Staaten des westlichen Kulturkreises, die, als liberale Demokratien verfasst, für ihre politischen Ideen und Strukturen universale Geltung einfordern. Diese weltmissionarischen Tendenzen sind schon in der Französischen Revolution angelegt. Die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 hatte einer Gesellschaft, in der diese Rechte nicht gesichert sind und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, abgesprochen, überhaupt eine Verfassung zu haben.8 Der Begriff der Verfassung wird also inhaltlich aufgeladen und der (im Sinne der Revolution) „wahren“ Ordnung des Staates vorbehalten. Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 47 f. Zum Typus Verfassungsstaat: Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S. 13 ff., 49 f.; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 5. Aufl. 1994, S. 93 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Begriff und Probleme des Verfassungsstaates (1997), in: ders., Staat – Nation – Europa, 1999, S. 127 (128 f.); zur Genese und heutigen Gestalt des Verfassungsstaates vgl. die Beiträge in: HStR I, 3. Aufl. 2003, II, 3. Aufl. 2004. 8 Art. 16 Déclaration des droits del l‘homme et du citoyen von 1789. 6 7
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Mithin sind drei Abstraktionsebenen zu unterscheiden: auf oberer der Staat als epochenübergreifende Größe, auf mittlerer die neuzeitliche Erscheinungsform des modernen Staates, auf unterer und konkretester der Verfassungsstaat. Das thematische Zentrum bildet der moderne Staat. Der Verfassungsstaat erscheint heute in westlicher Sicht als seine ideale Gestalt. Doch stellt sich die Frage, ob und wieweit er auch in dieser Gestalt auf vormodernen Grundlagen fußt und klassischen Grundsätzen verpflichtet ist.
II. Der moderne Staat – Begriff und Wesen 1. Drei Elemente: Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt
Die Staaten sind die originären und regulären Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft. Daher ist das Völkerrecht darauf angewiesen, den Staat zu definieren. Die Staatsqualität entscheidet über die Anerkennung als Völkerrechtssubjekt und über die Zugehörigkeit zum System völkerrechtlicher Rechte und Pflichten. Die nach Völkerrecht notwendigen, aber auch hinreichenden Voraussetzungen sind die „drei Elemente“: Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt.9 Staatsgebiet ist ein abgegrenzter Teil der Erdoberfläche als ausschließlicher Herrschaftsbereich. Staatsvolk ist ein sesshafter, auf Dauer angelegter Personenverband, der heute grundsätzlich durch das mitgliedschaftliche Band der Staatsangehörigkeit rechtlich verfestigt wird. Auf Einwohnerzahl und Gebietsgröße kommt es nicht an. Auch Mikro-Staaten wie Liechtenstein oder der Vatikanstaat haben volle Staatsqualität. 10 Staatsgewalt erfordert organisierte Herrschaft mit der Aussicht auf Dauer, ausgeübt durch eine effektive, handlungsfähige Regierung, und zwar zumindest über den größten Teil des Territoriums und über die Mehrzahl der Einwohner. Staatsgewalt bedarf der Souveränität. Nach innen bedeutet diese reale Überlegenheit über alle politischen Kräfte im Territorium und die Fähigkeit, seinen Willen im Konfliktfall gegen widerstrebende durchzusetzen. Die innere Souveränität ist eine existentielle Kategorie der Macht, dagegen die äußere eine des Rechts. Äußere Souveränität bedeutet rechtliche Unabhängigkeit gegenüber fremder Staatsgewalt. Faktische Abhängigkeit wird freilich nicht ausgeschlossen. Äußere Souveränität ist eingebettet in die Ordnung des Völkerrechts; sie kann gegen diese nicht instrumentalisiert werden. Zunehmend wird sie relativiert durch internationale Organisationen, deren Zahl und Bedeutung stetig zunehmen. Die Eingliederung europäischer Staaten in den supranationalen Staatenverbund der Europäischen Union führt zu Einbußen an Souveränität, nicht jedoch zu deren Verlust, solange die Mitgliedstaaten noch die Herren der Verträge bleiben, auf denen die Union gründet.11 9 Der geistige Vater: Jellinek (FN 1), S. 174 ff., 394 ff. Zum völkerrechtlichen Staatsbegriff Walter Rudolf, Wandel des Staatsbegriffs im Völkerrecht?, 1968; Georg Dahm, Völkerrecht Bd. I, 1958, S. 74 ff.; Alfred Verdroß / Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 223 ff.; Karl Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl. 2004, S. 24 ff.; Matthias Herdegen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2008, S. 67 ff. 10 Vom Stato della Città del Vaticano ist der Heilige Stuhl zu unterscheiden, der, obwohl nicht Staat, doch Völkerrechtssubjekt ist; vgl. Verdroß / Simma (FN 9), S. 247 ff. 11 Dazu Christian Hillgruber, Der Nationalstaat in übernationaler Verflechtung, in: HStR II, 3. Aufl. 2004, § 32 Rn. 75 (Nachweis). Aus Sicht des Historikers: Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 1999, S. 318 ff.
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Der völkerrechtliche Staatsbegriff begnügt sich mit einem Minimum an Merkmalen, über das Konsens im Pluriversum der Staaten besteht. Er erfasst gleichermaßen liberale Demokratien und sozialistische Parteioligarchien, bürgerliche Rechtsstaaten und Militärdiktaturen, säkulare Staaten und Hierokratien. Der Begriff des Staates blendet die Binnenstruktur aus und wahrt dadurch dessen Identität im Wechsel seiner Regierungen und Verfassungen, auch bei revolutionärer Umwälzung. Die Regelung seiner inneren Angelegenheiten kommt jedem Staat selber zu. Allerdings geraten die hergebrachten Konzepte von autarker Selbstbestimmung und Impermeabilität zunehmend in den Sog der Universalisierung des Schutzes der Menschenrechte und des faktischen Zwangs zu internationaler Zusammenarbeit. Der völkerrechtliche Staatsbegriff stellt auf die Effektivität von Herrschaft ab, nicht auf deren Legitimität, über die sich auch keine Übereinstimmung in der ideologisch zerklüfteten Staatenlandschaft herstellen ließe. Doch die ethisch indifferente Effektivität gibt die wirklichkeitsnahe Anknüpfung für die völkerrechtlichen Bindungen, die ihrerseits befriedend und disziplinierend auf die staatliche Macht zurückwirken. Der Staat ohne Legitimität ist Staat, aber gerade dadurch auch Subjekt völkerrechtlicher Verantwortlichkeit, eingebunden in internationale Pflichten, zu denen heute auch die Wahrung und der Schutz der universalen Menschenrechte gehören.
2. Moderner Staat als Strukturmodell
Staat ist mehr als die Summe seiner drei Elemente. Diese bilden nur das rechtliche Skelett eines organischen Ganzen; einer lebendigen, wirkenden Einheit, welche die Regierenden und Regierten umschließt und die Generationen in der Abfolge verbindet. Sie ist nicht von Natur gegeben, obwohl sie notwendig an reale Gegebenheiten anknüpft, sondern zweckrationale Organisation. Die Einheit wird durch Institutionen hergestellt, dadurch allein aber nicht wirksam und dauerhaft gewährleistet. Sie muss auch von den Bürgern wie von den Amtsträgern durch existentielle Integration vollzogen, gelebt und immer wieder erneuert werden, damit sie Wirklichkeit wird und bleibt.12 a) Offenheit in Zielen und Aufgaben Der Staat ist dazu bestimmt, das Überleben der in ihm vereinten Menschengruppe zu sichern und das gute Leben zu ermöglichen. Das ist die abstrakteste Definition des Gemeinwohls, aber noch kein Konzept der Staatsziele und Staatsaufgaben. Der moderne Staat beansprucht zwar virtuelle Allzuständigkeit, doch ist er (von der Sicherheit abgesehen) nicht auf die Wahrnehmung einzelner Aufgaben von vornherein festgelegt.13 Das Gemeinwohl ist kein vorgegebenes Programm, sondern eine vorgegebene Idee, die das staatliche Handeln leitet und unter den jeweiligen Umständen schöpferisch zu verwirklichen ist.14 Die Bestimmung der Staatsaufgaben erfolgt durch die Verfassung und in 12 Zur Integration Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 (136 ff.). 13 Näher Josef Isensee, Staatsaufgaben, in: HStR IV, 3. Aufl. 2006, § 73 Rn. 42 ff., 55 ff. 14 Näher ders., Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: HStR IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 1 ff., 46 ff.
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deren Rahmen durch Recht und Politik. Die verfassungspolitischen Optionen bewegen sich zwischen dem Minimum der klassisch liberalen Reduzierung der Wirksamkeit des Staates auf den Zweck der inneren und äußeren Sicherheit, wie Wilhelm von Humboldt sie entworfen hat,15 und dem Maximum der Aktualisierung aller Potenzen, wie sie in Bezug auf die Aufgaben der „totale“ Staat, in Bezug auf die Entscheidungsstruktur der „autoritäre“ Staat darstellt und, in der Kombination beider Momente, der „totalitäre“ Staat. Die Eigenart des modernen Staates wird weniger durch die Ziele als durch die Mittel bestimmt. Er besitzt eine General- und Blankovollmacht, in der jeweiligen Situation die angemessenen Lösungen zu finden.16 Für seine Qualität als Staat entscheidet nicht, welche Aufgaben er aktuell wahrnimmt, sondern dass er über die Fähigkeit verfügt, von sich aus den Kreis seiner Aufgaben zu definieren und zu bestimmen, welche Aufgaben und in welchem Umfang er an sich zieht (Kompetenz-Kompetenz). Was das Gemeinwohl erheischt, ist ihm grundsätzlich nicht vorgegeben, sondern aufgegeben. Die Mittel, mit denen er ausgestattet ist, sollen ihn befähigen, den unabsehbaren Herausforderungen zu begegnen. Zu diesen Mitteln gehören auch die Kooperation mit anderen Staaten und die Eingliederung in supranationale Verbände. Die virtuelle Allzuständigkeit des modernen Staates endet an den Grenzen, die jedweder Organisation gesetzt sind: den höchstpersönlichen Leistungen und ihren Quellen, Gesinnung, Moral, Intuition, Kreativität. Die Allzuständigkeit beschränkt sich auf den innerweltlichen Horizont. Der moderne Staat ist seinem Wesen nach säkular. Er identifiziert sich nicht mit transzendenter Wahrheit, und er enthält sich – anders als der „christliche Staat“ des Mittelalters – der Sorge für das Seelenheil seiner Bürger.17 Für eine rational handelnde Staatsorganisation ist es ein Gebot der Klugheit, dem Subsidiaritätsprinzip zu folgen und sich solcher Tätigkeiten zu enthalten, die private und gesellschaftliche Potenzen ebensogut, wenn nicht besser wahrnehmen können. Für den freiheitlichen Staat ist die Beschränkung auf die subsidiäre Kompetenz ethisches Gebot. Dieses wird durch die Grundrechte, die das Tätigkeitsfeld der Individuen und der nichtstaatlichen Verbände gegen staatliche Ingerenz und Konkurrenz schützen, rechtlich sanktioniert.18 Staatliches Handeln, das in grundrechtliche Schutzbereiche eingreift, bedarf der Rechtfertigung aus Gründen des Gemeinwohls. Das Subsidiaritätsprinzip sichert den Vorrang der freien Kräfte in der arbeitsteiligen Verwirklichung des umfassenden Gemeinwohls. Der Katholischen Soziallehre kommt das Verdienst zu, das freiheitliche Prinzip der Subsidiarität begründet und dem modernen Staat vermittelt zu haben.19 15 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792. 16 Krüger, Staatslehre (FN 3), S. 827 ff. 17 Dazu Martin Heckel, Säkularisierung, in: ZRG Kan. Abt. LXVI (1980), S. 1 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 2006. Differenzierend Christian Hillgruber, Staat und Religion, 2007. 18 Näher Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 18 ff., 106 ff., 365 ff., 370 ff. (Nachweis); ders. (FN 13), § 73 Rn. 65 ff.; Peter Blickle / Thomas O. Hüglin / Dieter Wyduckel (Hrsg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, 2002. 19 Klassische Deklaration durch Papst Pius XI. in der Enzyklika „Quadragesima anno“ vom 15. Mai 1931. Zur weiteren Entfaltung in Lehrschreiben und Literatur: Anton Rauscher, Subsidiaritätsprinzip und berufsständische Ordnung, in: „Quadragesimo anno“, 1958; ders., Personalität,
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b) Entscheidungs- und Wirkungseinheit Die im Staat vereinten Menschengruppen sind so organisiert, dass sie einen einheitlichen Willen bilden und diesem Willen gemäß handeln, dass die einzelnen Kräfte so zusammengeführt werden, dass sich eine Gesamtwirkung ergibt, die, jedenfalls der Anlage nach, die Summe der einzelnen Kräfte übersteigt.20 Als Entscheidungs- und Wirkungseinheit ist der Staat befähigt, die Herausforderungen der Wirklichkeit aufzunehmen. In ihm organisiert sich die Aktivität des neuzeitlichen Menschen, der die natürliche Umwelt und die Ordnung des Zusammenlebens als immer wieder neue Gestaltungsaufgabe begreift, nach Maßgabe seiner wechselnden politischen Bedürfnisse und Ziele. Dazu bedarf es der Klarheit darüber, wer entscheidet, insbesondere, wenn mehrere Entscheidungsprätendenten konkurrieren, wer letztverbindlich entscheidet. Dazu bedarf es der Kompetenz- und Verfahrensregeln, die den Kern jedweder Staatsverfassung, sei sie geschrieben oder ungeschrieben, ausmachen. Auch im dezentralen, gewaltenteiligen System des Verfassungsstaates muss eine Instanz bereitstehen, die das Recht des letzten Wortes besitzt und (ohne die Möglichkeit der Kritik abzuschneiden) den Rechtsgehorsam einfordert. Darin unterscheidet er sich von der Entscheidungspluralität des mittelalterlichen Ständewesens. Das letzte Wort kann dem Staatsoberhaupt zukommen (in Präsidialdemokratien), dem Parlament (in der parlamentarischen Demokratie englischen Typus) oder dem Verfassungsgericht (im deutschen Richterstaat). Die staatliche Entscheidungseinheit bewährt sich auch im Streit über die Interpretation vorgegebener Normen, nicht zuletzt der Verfassungsnormen. Das Staatsdenken seit Hobbes und Locke begreift die Frage nach der (stets bestreitbaren) Richtigkeit der politischen Ordnung auch als Frage nach der (dem Streit entzogenen) Entscheidungskompetenz (quis interpretabitur?). Je größer der Dissens der Gesellschaft in der Sache, desto notwendiger der Konsens über die Entscheidungsinstanz, den Modus der Legalität. Wenn nach Hobbes die formale Kompetenz (auctoritas), nicht aber die materiale Richtigkeit (veritas) die staatliche Norm ausmacht und ihre Verbindlichkeit begründet, so leugnet er nicht, dass kompetenzkonforme Legalität auf Legitimität verwiesen ist; wohl aber versagt er dem Normunterworfenen den direkten, nicht legalitätsvermittelten Rekurs auf die Legitimität; er spricht ihm das Recht ab, den Gesetzesgehorsam zu verweigern. Wo das Gemeinwohl die einheitliche Entscheidung unter Zeitdruck verlangt, kann diese nicht dem unendlichen freien Diskurs der Gesellschaft und dem Schwarmgeisterwesen überlassen werden. Hier zeigt sich ein Analogon zwischen Staat und katholischer (Amts-) Kirche: Wo die Inhalte der autoritativen Texte unklar sind, bedarf es der Instanz, die über die Auslegung letztverbindlich entscheidet, wenn die Kircheneinheit diese fordert. Die Entscheidungs- und Handlungseinheit des modernen Staates ist Bedingung seiner Rechtseinheit. Diese bewährt sich in der Rechtsetzung wie in der Norminterpretation. Der Staat ist Erzeuger und Hüter der Rechtsordnung. Er kann also nicht (wie Hans Kelsen meint) in dieser aufgehen. Seine Existenz ist mit ihr nicht identisch.21 Solidarität, Subsidiarität, in: ders., Kirche in der Welt, 1. Bd., 1988, S. 253 (286 ff.); Johannes Messner, Der Staat, 1978, S. 133 ff. 20 Hermann Heller, Staatslehre, 3. Aufl. 1963, S. 228 ff. Vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 12 ff. 21 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 14 ff., 95 ff.
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c) Staatsmacht kraft Bürgergehorsam Der Staat, der seinen Willen durchsetzen, den inneren Frieden gewährleisten und sich im internationalen Konzert behaupten will, ist notwendig Machteinheit. Grundlage ist das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit.22 Allein der Staat hat das Recht, Zwang anzuwenden und organisiertes Zwangspotential bereitzuhalten: Polizei, Armee, behördliche wie gerichtliche Zwangsvollstreckung. Kraft dieses Instrumentariums unterscheidet er sich von nichtstaatlichen Verbänden. Überhaupt sind es die Mittel, nicht die Zwecke, die seine Besonderheit ausmachen. Zwang ist nicht die einzige, nicht einmal die übliche Erscheinung der Staatsgewalt. Das mehrdeutige deutsche Wort „Gewalt“ kann missverständlich wirken. Das „Gewalt“monopol des Staates erfasst allein den physischen Zwang (lateinisch vis), während die Staats„gewalt“ die Herrschaft in der Fülle ihrer Mittel (lateinisch potestas) umschließt, also das gesamte Einfluss- und Handlungspotential des Staates: Organisations-, Personal- und Finanzmacht, förmliche und informelle Regelung, Information und Werbung, Planung und Ausführung, Befehl und Leistung. Die staatliche Verwaltung, die dem Bürger alltäglich begegnet, stellt sich als bürokratische Anstalt dar, darin vergleichbar privaten Dienstleistungsbetrieben. Dennoch wird selbst „schlichte“ Verwaltungstätigkeit indirekt durch das Gewaltmonopol geprägt. Es ist latent wirksam, auch wo es sich nicht aktualisiert. Es vermittelt dem Träger der Staatsgewalt die faktische Überordnung über die Gesellschaft, der die (öffentlich-)rechtliche Hoheitsstruktur der Staatsgewalt entspricht, in ihrer Einzigkeit, Einseitigkeit, Unwiderstehlichkeit, autoritativen Verbindlichkeit. Typische Hoheitsfunktionen sind polizeiliche Gefahrenabwehr, Besteuerung, Wirtschaftsaufsicht. Doch die Staatsgewalt ist nicht auf die ihr eigentümlichen subordinationsrechtlichen Handlungsformen (Gesetz, Verwaltungsakt, Urteil) beschränkt; sie ist auch der Koordination fähig, etwa der vertraglichen Verständigung. Kraft seiner inneren Souveränität erweist sich der Staat als hinreichend unabhängig von den gesellschaftlichen Potenzen. Er vermag von sich aus zu bestimmen, was in der jeweiligen Situation das Gemeinwohl erheischt, und ist fähig, seine Entscheidung auch gegen den Widerstand der mächtigsten Gruppen durchzusetzen, so dass es keiner von diesen gelingt, ihn für ihre partikularen Interessen zu instrumentalisieren. Souveränität bedeutet also Gemeinwohlfähigkeit. Die Macht des Staats gründet auf Anerkennung der Bürger und ihrer Bereitschaft, spontan oder auf Anordnung, Leistungen für das Gemeinwohl zu erbringen und den staatlichen Normen zu folgen. Der Rechtsgehorsam muss immer erneut von den Regierenden eingeworben und kann letztlich nur bei einer kleinen Zahl Abweichender erzwungen werden. Macht ist „verwandelter Gehorsam“.23 So gründet der moderne Staat auf der apriorischen Bürgerpflicht zum Gehorsam nach Maßgabe der jeweiligen legalitätsstiftenden Kompetenz- und Verfahrensordnung des Staates; im Verfassungsstaat ist es der Rechtsgehorsam, den der Bürger dem verfassungsmäßigen Gesetz und der gesetzmäßigen Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung schuldet. Die formale Gehorsamspflicht umschließt als materialen Kern die Pflicht, sich der Eigenmacht zu enthalten und körperlichen Zwang zu unterlassen (Friedenspflicht). 22 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), Studienausgabe 2. Hbb., 1962, S. 1043. Dazu Isensee (FN 6), § 15 Rn. 86 ff. 23 Jellinek (FN 1), S. 426.
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Staatliche Macht ist an sich weder böse noch gut. Es kommt auf den Gebrauch an. Die staatsethische Grundfrage geht dahin, ob das Recht der Macht oder die Macht dem Recht folgt. „Wer genug Macht hat, alle zu schützen, hat auch genug, alle zu unterdrücken.“24 Damit werden die Widmung und die Zähmung der Macht zum zentralen Thema des Staatsrechts und der Staatsethik. Dennoch ist der Staat wesenhaft auf Macht angewiesen, auch der Verfassungsstaat. Ohne Macht wäre Recht ohnmächtig.
d) Friedenseinheit Der moderne Staat ist Friedenseinheit. Dadurch unterscheidet er sich vom mittelalterlichen Gemeinwesen, das Fehde und Selbsthilfe Raum gab und umfassenden, effektiven Landfrieden nicht kannte. Der moderne Staat dagegen hat die Gesellschaft befriedet, den Bürger entwaffnet, Selbstjustiz abgelöst durch Verfahren. Die erste Grundpflicht des Bürgers, die den staatlichen status civilis konstituiert, geht dahin, auf Androhung wie Anwendung physischer Gewalt als Mittel der Konfliktlösung zu verzichten. Der Friedenspflicht des Bürgers korrespondiert das Gewaltmonopol des Staates. Dieses bildet Grundlage wie Grenze verfassungsrechtlicher Freiheitsgewähr. Wenn in der freiheitlichen Demokratie der Inhalt der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls grundsätzlich diskutabel ist, so steht außer jeder Diskussion das Gewaltverbot als Bedingung der Möglichkeit von freier Diskussion, von Sicherheit der Rechtsgüter, von bürgerlicher Gesittung und Kultur. Kein Bürger darf seine bessere Einsicht und seine höhere Moral durch Androhung und Anwendung von physischem Zwang durchsetzen.25 Als Ausgleich bietet die freiheitliche Demokratie ihren Bürgern Freiheitsrechte, an der politischen Willensbildung teilzunehmen und auf sie mit der Kraft des Wortes einzuwirken. Die Friedenseinheit des Staates wird nicht notwendig durch innergesellschaftliche Konflikte in Frage gestellt. Doch dürfen diese nicht dazu führen, dass die Gesellschaft in militante Freund-Feind-Lager auseinanderbricht und Gruppen der Gesellschaft zu Kombattanten werden. Der moderne Staat ist wesenhaft politische Einheit im Sinne von Carl Schmitt,26 die damit steht und fällt, dass keine Gruppe das Recht und die Macht zu Feinderklärung und Bürgerkriegführung hat. Geschichtlich ist der moderne Staat hervorgegangen aus den Erfahrungen der Bürgerkriege in der frühen Neuzeit. Er ist die institutionelle Überwindung des Bürgerkriegs. Dieser bildet in Thomas Hobbes’ Philosophie das politische Urtrauma des status naturalis. Er wird abgelöst durch den status civilis: aufgrund allseitiger Vereinbarung des Bürgerfriedens und Unterwerfung unter den Staat als dessen machtbewehrten Garanten; dieser aber kann von seinen Bürgern Gehorsam auch nur verlangen, solange er ihnen effektiv Sicherheit gewährleistet. Schutz und Gehorsam bedingen sich gegenseitig.27
Thomas Hobbes, De cive, 1642, caput VI, 13, Annotatio. Josef Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol als Grundlage und als Grenze der Grundrechte, in: Festschrift für Horst Sendler, 1991, S. 39 ff. 26 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 2. Aufl. 1963, S. 20 ff. 27 Hobbes (FN 24), caput VI, 3. 24 25
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e) Nationale Solidargemeinschaft Der Staat ist eine Solidargemeinschaft, deren Mitglieder füreinander und für das Ganze einstehen müssen: einer für alle, alle für einen.28 Die Solidarität gilt nicht nur in der Gleichzeitigkeit, sie gilt über die Zeiten hinweg. Staat ist Einheit in der Zeit. Er verknüpft die gegenwärtige Generation mit den vergangenen Generationen, in deren Geschichte sie im Guten wie im Bösen eintritt, die sie beerbt und für die sie haftet; sein gegenwärtiges Handeln kann Gunst wie Last für die künftigen Generationen zeitigen. Die intersubjektive wie intertemporale Einheit bedeutet Fortbestand von Rechten und Pflichten (nicht zuletzt Haftung für Staatsschulden), aber auch Chance, das geistige und wirtschaftliche Erbe zu erneuern, Verantwortung für die Nachwelt im Umgang mit den natürlichen, kulturellen, moralischen Ressourcen. Die staatliche Solidarität wird rechtlich verfasst und organisiert als (Gebiets-)Körperschaft, damit als juristische Person, die dem Verband rechtliche Identität vermittelt, unabhängig vom Wechsel der einzelnen Mitglieder und gelöst von den biologischen Gesetzen menschlicher Sterblichkeit. Die Mitgliedschaft im körperschaftlichen Staatsverband, im Staatsvolk als rechtlicher Einheit, folgt aus der Staatsangehörigkeit. Sie bindet die Staatsangehörigen, die Staatsbürger im Rechtssinne, trotz Auswanderungsfreiheit, grundsätzlich unentrinnbar und auf Lebenszeit ein in die Gefahren- und Schicksalsgemeinschaft des Heimatstaates. Das personenrechtliche Band, das unabhängig vom jeweiligen Aufenthalt fortbesteht, schafft einen wesentlichen Statusunterschied des Staatsangehörigen zum Ausländer, der sich freiwillig unter fremde Gebietshoheit begeben hat und sich dieser jederzeit wieder entziehen kann, staatsrechtlich gesehen nur Gast ist.29 Die staatliche Einheit des Volkes erfährt eine metarechtliche Begründung, wenn sie zugleich nationale Einheit ist, wie es dem Ideal des Nationalstaats seit der Französischen Revolution entspricht. Die nationale Einheit geht hervor aus dem Zusammengehörigkeitsbewusstsein ihrer Mitglieder, aus dem politischen Willen zum staatlichen Zusammenleben. Die politische Bürgertugend, die diesem Wir-Gefühl entspricht, ist der Patriotismus.30 „Eine Nation ist eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man zu tragen gewillt ist.“31 Nation lebt aus dem „tagtäglichen Plebiszit“.32 In diesem vitalen Prozess der Integration bewährt und bildet sich die nationale Einheit. Das Volk, verstanden als die Willensein28 Zu Substanz und Facetten der Solidarität Ernst Dassmann / Otto Depenheuer / Meinhard Heinze, Solidarität in Knappheit, 1998. – Zu Inhalt und Stellenwert in der Katholischen Soziallehre: Gustav Gundlach, Solidarismus, in: StL Bd. 4, 5. Aufl. 1931, Sp. 1613 f.; Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre (neu hrsg. von Lothar Roos), 1997, S. 47 ff.; Anton Rauscher, Grundlagen und Begriffsgeschichte des Solidaritätsprinzips, in: ders., Kirche in der Welt, 3. Bd., 1998, S. 86 ff. Ferner Jürgen Schmelter, Solidarität, 1991, S. 83 ff. 29 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HStR II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 88; vgl. auch BVerfGE 83, 37 (50 f.). 30 Donate Kluxen-Pyta, Nation und Ethos, 1991, S. 71 ff.; Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, 2005, S. 75 ff., 113 ff. (Nachweis). 31 Ernest Renan, Qu’est-ce qu’une nation? (1882), dt. in: ders., Was ist eine Nation?, 1995, S. 57. Zur heutigen Relevanz: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz? (1994), in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 34 ff.; Josef Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat – wechselseitige Bedingtheit, in: Festschrift für Gerd Roellecke, 1997, S. 137 (147 ff.); Andreas Anter, Die Macht der Ordnung, 2. Aufl. 2007, S. 238 ff. 32 Renan (FN 31), S. 57.
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heit der Nation, bildet das Subjekt der völkerrechtlichen Selbstbestimmung, aufgrund deren die bestehenden Staaten, aber auch die politischen Bewegungen zur Änderung der Staatenordnung sich legitimieren. Die Nation formiert sich nicht nach vorgegebenen rationalen Kriterien, sondern nach gewillkürten, kontingenten Merkmalen erlebter, erhoffter, gefühlter Gemeinsamkeit, vor allem solchen der Sprache, der Religion, der Kultur, der Geschichte, der ethnischen Herkunft.33 Örtliche Gemeinsamkeit macht noch keine Nation, auch nicht gemeinsame geopolitische, wirtschaftliche oder militärische Interessen. „Ein Zollverein ist kein Vaterland.“34 Allein das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit garantiert noch nicht Solidarität. Vielmehr setzt es diese voraus. Die Staatsgewalt kann die nationale Solidarität der ihr unterworfenen Bevölkerung nicht erzwingen. Aber sie kann mit ihren begrenzten Mitteln versuchen, sie zu stabilisieren, zu fördern und, wo sie nicht vorhanden ist, anzuregen und aufzubauen. Dazu trägt eine allseits akzeptierte Verfassung bei. Doch sie allein begründet keine belastbare Solidarität. Ein Verfassungspatriotismus, der auf sie allein baut, vermag nicht, den echten, Land und Leuten verpflichteten Patriotismus zu ersetzen.35 Er bietet den europäischen Nationalstaaten auch keinen Ausweg aus den Schwierigkeiten, die Massen von Zuwanderern aus fremden Kulturkreisen auf eine allseits verträgliche Weise zu integrieren. Im nationalen Prinzip bringen sich irrationale Kräfte des aus krummen Holz geschnitzten Menschen zur Wirkung. Diese bedürfen der Domestizierung durch rechtsstaatliche Vorkehrungen. Das Potential nationalistischer Hybris, das sich im 19. und im 20. Jahrhundert vielfach entlud, wird heute gebannt durch weltweite Verflechtungen und Rechtsgarantien. Die nationalstaatlichen Solidargemeinschaften gliedern sich zunehmend in supranationale und internationale Solidargemeinschaften ein. 3. Ethische Indifferenz des Staatsbegriffs
Der Typus des modernen Staats ist ethisch indifferent, wenn man von seinem freilich konstitutiven Zweck absieht, den inneren Frieden zu gewährleisten. Die Strukturen sind formal. Ein Staat bar jeder Gerechtigkeit ist Staat. Scheinbar liegt darin ein Widerspruch zu Augustinus, der Staaten (regna), denen die Gerechtigkeit fehlt, mit großen Räuberbanden vergleicht.36 Doch der Vergleich bezieht sich auf die Legitimität, nicht aber auf die Existenz als Staat. Im Gegenteil: Augustinus eliminiert die Gerechtigkeit, die nach Cicero das Wesen der res publica ausmacht, aus deren Begriff, weil das heidnische Rom sonst keine res publica hätte sein können. Denn es habe sich der wahren Gerechtigkeit verschlossen, die sich im Dienst für den wahren, den christlichen Gott verwirkliche. Es genügt für Augustinus, dass sich eine vernunftbegabte Menge in einträchtigem Streben zusammenschließt, wie gut oder wie schlecht die Ziele auch sein mögen. Ein Volk, das 33 Dazu Heller (FN 20), S. 148 ff.; Isensee (FN 31), S. 147 ff. Vgl. auch Schulze (FN 11), S. 108 ff., 172 ff. 34 Renan (FN 31), S. 55. 35 Darstellung und Analyse der einschlägigen deutschen Doktrinen: Kronenberg (FN 30), S. 189 ff. – Zu dem gebrochenen Nationalgefühl der Deutschen Josef Isensee, Wiederentdeckung deutscher Identität, in: Festschrift für Christian Starck, 2007, S. 55 ff. 36 Augustinus, De civitate dei, IV, 4. – Zu Staatsbegriff und Staatslehre des Kirchenvaters: Suerbaum (FN 5), S. 170 ff.
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auf schlechte Ziele ausgeht, bleibt Volk und als solches fähig, eine res publica zu begründen.37 Wenn der Staat seine ethischen Pflichten missachtet, bleibt er als Subjekt dieser Pflichten bestehen. Die Gerechtigkeit scheidet aus dem Staatsbegriff aus, nicht jedoch aus der Staatsethik. Aus heutiger Sicht ist zu ergänzen: auch nicht aus dem Staats- und Völkerrecht, die Gebote der materialen Gerechtigkeit in positivrechtliche Geltung überführen. Die formalen Strukturen des modernen Staates sind unter den obwaltenden Umständen Bedingungen der Möglichkeit, dass er seine ethischen und rechtlichen Pflichten erfüllt. Die innere Souveränität ermöglicht ihm Überlegenheit über Gruppenmacht und Distanz zu partikularen Interessen. Mithin verschafft sie ihm die effektive Fähigkeit, das Gemeinwohl zu bestimmen und umzusetzen. Das Gewaltmonopol bildet die Voraussetzung für den inneren Frieden, für die Herrschaft des Rechts, für den offenen Diskurs, für die unbefangene furchtlose Ausübung bürgerlicher Freiheit.
III. Erfüllung des modernen Staates im Verfassungsstaat Der Typus des modernen Staates, der sich unterschiedlichen Staatsformen offenhält, tritt in die Geschichte ein in der Form der absoluten Monarchie des 16. / 17. Jahrhunderts. Seine reifste und subtilste Gestalt findet er im Verfassungsstaat, wie er sich seit der Amerikanischen und Französischen Revolution des 18. Jahrhunderts entwickelt hat. Der Verfassungsstaat geht davon aus, die Herrschaft der Gesetze aufzurichten und die Wirklichkeit der Freiheit herbeizuführen. Er löst die Frage der Herrschaftszuständigkeit im demokratischen Sinn. Das Staatsvolk ist Ursprung der Staatsgewalt. Vom Volkssouverän, der sich in Wahlen und Abstimmungen äußert, fließt demokratische Legitimation über die parlamentarische Volksvertretung zur Verwaltung und zur Gerichtsbarkeit. Die parlamentarische Repräsentation und das Mehrheitsprinzip stellen im gewaltenteiligen, föderalen und dezentralen Kompetenzgefüge eine souveräne staatliche Entscheidungseinheit her. Die freiheitliche Demokratie ermöglicht praktische Konkordanz zwischen politischer Freiheit der Bürger und Funktionstüchtigkeit des staatlichen Entscheidungsund Handlungssystems. Frühliberale wie spätmarxistische Utopien, welche staatliche Entscheidung durch Konsensbildung über freien, allgemeinen, unendlichen Dialog der Bürger, über „herrschaftsfreien Diskurs“ (Habermas), ersetzen wollen, scheitern an den Gegebenheiten des staatlichen Lebens: Problem- und Zeitdruck, Ungewissheit über die Folgen, Unaufhebbarkeit des Meinungsdissenses einer offenen Gesellschaft. Das demokratische Prinzip gründet auf der staatlichen Einheit des Volkes als dem Verband der Staatsangehörigen. Demokratie ist Selbstbestimmung des Volkes. Damit bedeutet Mitbestimmung von Nichtstaatsangehörigen demokratiewidrige Fremdbestimmung. Die Solidarhaftung aller Staatsangehörigen bringt in das demokratische Konzept souveräner Entscheidungsteilhabe das Ethos gemeinsamer Verantwortung ein. Der Rechtsstaat domestiziert die Staatsmacht, steckt ihr in den Grundrechten Grenzen und zeigt ihr die Ziele auf: die Freiheit zu schützen, ihr die rechtlichen und realen Voraussetzungen zu vermitteln, soziale Gerechtigkeit zu wahren. Aber er bedarf auch der Staatsmacht, um dem Recht gegen jedermann Geltung zu verschaffen und soziale 37
Augustinus (FN 36), XIX, 21, 24.
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Gerechtigkeit in der Gesellschaft durchzusetzen. Die Freiheitsgrundrechte tasten nicht die staatliche Allzuständigkeit als solche an und verkürzen nicht seine Gemeinwohlverantwortung, wohl aber schränken sie die staatlichen Befugnisse ein. Insbesondere ist es dem Verfassungsstaat verwehrt, Gesinnungseinheit seiner Bürger zu erzwingen. Er hat nur beschränkte, freiheitsschonende Mittel, den Grundkonsens seiner Bürger, auf den er verwiesen ist, zu beeinflussen. Grundrechtliche und demokratische Freiheit steht von vornherein unter dem Vorbehalt der Friedlichkeit. Sie existiert nur im status civilis der staatlich befriedeten Ordnung unter dem Gewaltmonopol. Die vom Verfassungsstaat vorausgesetzte Friedenseinheit ist nicht gefeit gegen innere Bedrohung durch Freiheitsexzess, private Gewalt, politische Fanatisierung, Terrorismus. Sie wird aber gestärkt durch den verfassungsrechtlichen Schutz konsensfähiger materialer Gerechtigkeitswerte und durch die Offenheit des staatlichen Systems für Wandel und Erneuerung. IV. Ethische Staatsfundamente in abendländisch-christlicher Tradition Der Verfassungsstaat der Gegenwart ist nicht voraussetzungsloser Neuanfang seit dem 18. Jahrhundert, wie es ein unhistorischer Affekt gegen alles „Vordemokratische“ insinuiert, sondern Anknüpfung an „vordemokratische“ und demokratieindifferente Vorgaben und deren schöpferische Weiterentwicklung. Der moderne Staat gründet auf vorneuzeitlichen Voraussetzungen und steht im Kontinuum der europäischen Staatsethik, die von Antike und Christentum ausgeht.38 1. Gehorsam unter Vorbehalt
Vom griechisch-römischen Staatsdenken her gilt Staatsmacht als ethisch gebunden an vorgegebene Maßstäbe der Gerechtigkeit. Macht als solche gibt noch keine Legitimation. Vielmehr ist sie ihrerseits auf Legitimation angewiesen. Damit steht der staatsbürgerliche Gehorsam unter dem Vorbehalt des Widerstandsrechts, das auflebt, wenn staatlicher Befehl gegen höheres Recht verstößt. Das Christentum steigert den Rechtfertigungszwang des Staates. Es weist unverfügbare Vorgaben auf, die im göttlichen und im natürlichen Recht gründen. Das Gebot Gottes beansprucht höhere Verpflichtungskraft als das des Staates (Apg 5,29). Dennoch ist der Christ zum staatsbürgerlichen Gehorsam verpflichtet, und zwar nicht aus äußerem Zwang, sondern kraft Gewissenspflicht (Röm 13). Doch diesen Gehorsam schuldet er nicht dem (kontingenten und oft verderbten) Staat, sondern Gott, der den Staat als Teil menschlicher Daseinsverfassung geschaffen hat. Der Christ gehorcht dem Staat, indem er zu ihm auf Distanz geht. Er gibt dem Staate, was des Staates, und Gott, was Gottes ist (Mt 22,21). Die staatliche Ordnung wird zugleich gerechtfertigt und relativiert.39 38 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche und moderner Welt, in: Reinhard Koselleck (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, 1977, S. 154 ff.; Josef Isensee, Die katholische Kirche und das verfassungsstaatliche Erbe der Aufklärung, in: Festschrift für Herbert Schambeck, 1994, S. 213 ff. 39 Zum Verhältnis der frühen Kirche zum römischen Imperium Paul Mikat, Konflikt und Loyalität, 2007, S. 7 ff. (Nachweis).
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Josef Isensee 2. Gemeinwohl und Amtsprinzip
Herrschaft hat sich am Gemeinwohl zu orientieren, dem „allgemeinen“ Wohl der staatlich geeinten Bürgerschaft, nicht aber am besonderen, eigenen Wohl der Herrschaftsinhaber: res publica res populi.40 Herrschaftsausübung ausschließlich im Dienst der Allgemeinheit und Ausschaltung des Eigennutzes der Herrschenden sind Kriterium aller „guten“ Staatsformen.41 Herrschaftsausübung ist damit treuhänderisch, rechenschaftspflichtig, verantwortlich. Dieses ethisch determinierte Herrschaftskonzept wird rechtlich verfasst in der Institution des Amtes, das die römische Republik entwickelt, die katholische Kirche sich schöpferisch zu eigen macht und an den modernen Staat weitergibt. Das Amt enthält bestimmte, nach der Leistungs- und Verantwortungsfähigkeit einer natürlichen Person zugemessene Befugnisse, die ihrem Inhaber zu selbstloser, unbestechlicher, unparteilicher Wahrnehmung anvertraut sind.42 Der Staatsbegriff spaltet sich auf in den Staat im weiteren Sinne: das Gemeinwesen, die Allgemeinheit, und den Staat im engeren Sinne: das Ämterwesen, die Herrschaftsorganisation. Damit werden Regierende und Regierte unterschieden, ohne dass die Zieleinheit der res publica preisgegeben wird. Sie liegt im Gemeinwohl als Inbegriff aller legitimen Staatsziele, als Regel der Regeln staatlichen Handelns. Das Subjekt der ausschließlichen Gemeinwohlverpflichtung wird rechtlich fassbar. Die Legitimation des Staates als Herrschaft für das Volk (res populi) wirkt seit der altrömischen res publica durch alle politischen Epochen hindurch bis in die Gegenwart: res publica perennis. Das republikanische Telos kann sich mit der demokratischen Legitimation – Herrschaft durch das Volk – verbinden.43 Im Gemeinwesen der Gegenwart erscheint freilich der Inhalt des Gemeinwohls nicht als fraglos vorgegeben. Seine Bestimmung ist wesentliches Ziel des offenen politischen Prozesses. Das Gemeinwohlethos des Amtes muss sich heute gegenüber den äußeren und inneren Gefährdungen der pluralistischen Demokratie bewähren und die treuhänderisch anvertraute Staatsfunktion nicht nur vor eigennützigem Missbrauch, sondern auch vor Instrumentalisierung für Gruppeninteressen schützen. Die rechtliche Pflichtenbindung wächst mit der Macht. Der Amtsträger steht unter strengerem Gesetz als der Bürger, der zunächst für sich selbst und seinen privaten Lebenskreis zu sorgen hat und dem Eigennutz grundsätzlich legitim zusteht. Gleichwohl gehört zur republikanischen Tradition auch die Bereitschaft des Bürgers, die Sache des Gemeinwesens zu seiner eigenen zu machen; die res publica gründet auf Bürgertugenden und -pflichten. Der Verfassungsstaat ist auf die staatsethischen Ressourcen verwiesen, aus denen er, unter den Bedingungen der Freiheit, seine Energie bezieht. Um der Freiheit willen kann er jedoch über seine Voraussetzungen nicht mit Rechts- und Zwangsgewalt disponieren. Er hat nur begrenzte Einwirkungsbefugnisse. Das Verfassungsrecht gewährleistet im Wesentlichen Grundrechte. Aber es baut auf die metarecht40 41
Cicero, De re publica, I, 39. Aristoteles, Politik, III, 6,7; Cicero (FN 40), I, 25, III, 1; ebenso Thomas von Aquin, De regno
I, 3. 42 Zu Begriff, Geschichte und Ethos des Amtes Otto Depenheuer, Das öffentliche Amt, in: HStR III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rn. 1 ff.; Isensee (FN 14), § 71 Rn. 132 ff. 43 Josef Isensee, Republik – Sinnpotential eines Begriffs, in: JZ 1981, S. 1 (8); Rolf Gröschner, in: HStR II, 3. Aufl. 2004, § 23 Rn. 13 ff., 34 ff.
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liche Erwartung, dass die Bürger ihre Grundrechte, alles in allem, gemeinwohlgerecht verwirklichen, also republikanisches Bürgerethos zeitgemäß erneuern. Das klassische Amtsprinzip (wie die Idee des Gemeinwohls, die sich in ihm zur Geltung bringt) ist nicht überholt durch die Institutionen des Verfassungsstaates, ebensowenig, wie das Prinzip der Gewaltenteilung durch das jüngere der Grundrechte überholt ist. Ein Staat ohne Gewaltenteilung, der sich zu Grundrechten bekundet, würde diese nicht wirksam garantieren, weil das handelnde Staatsorgan als Richter in eigener Sache auch über die Grundrechtsgemäßheit seines Handelns entschiede. Dagegen würde eine gewaltenteilige Organisation auch ohne Anerkennung von Grundrechten die Machtausübung disziplinieren und im Ergebnis Bürgerfreiheit schonen. Ohne Fundierung im Amtsprinzip griffen aber Gewaltenteilung wie Grundrechte ins Leere, weil dieses die Bedingung der Möglichkeit rechtlicher Bindung und Kontrolle darstellt. Der sozialistische Staat, der das Ethos des Amtes durch das der sozialistischen Parteilichkeit ersetzte, konnte sich internationalen Menschenrechtspakten anschließen, ohne praktische Konsequenzen ziehen zu müssen, weil er gewaltmonistisch organisiert war, die Idee des Gemeinwohls verwarf und das Ethos des Amtes durch das Ethos der Parteilichkeit ersetzte.44 Zu den historischen Verdiensten der katholischen Staatslehre gehört es, das Bewusstsein der Res-publica-Tradition wachgehalten zu haben, wie sie von Aristoteles und Thomas repräsentiert wird. Freilich hat sie sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts weitgehend den Entwicklungen seit der Renaissance und der Aufklärung verschlossen und sich gerade dadurch in Gefahr begeben, die vormodernen Erkenntnisse ohne Rücksicht auf den Wechsel des historischen Kontexts unvermittelt fortzuschreiben. Wenn sie sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Menschenrechte (und andere verfassungsstaatliche Prinzipien) zu eigen macht, so hat sie damit immer noch nicht das Konzept des modernen Staates, die Bedingung der Möglichkeit von Menschenrechten, rezipiert. Der Weg von Augustinus und Thomas zu den Menschenrechtsdeklarationen führt notwendig über Bodin, Hobbes, Locke und Kant, nicht aber an ihnen vorbei.45 3. Säkularität des Staates
Die Wirksamkeit des modernen Staates beschränkt sich auf innerweltliche Aufgaben. Er kennt, anders als der Herrschaftsverband des Mittelalters, keinen geistlichen Auftrag für das Seelenheil der anvertrauten Menschen und für die Durchsetzung transzendenter Heilswahrheit. Die Einheit des Corpus Christianum zerbrach mit der Reformation. Der Versuch, die Glaubenseinheit mit staatlichen Mitteln wiederherzustellen, führte in konfessionelle Bürgerkriege. Der souveräne moderne Staat, der aus ihnen hervorging und sie überwand, formierte sich zunächst in konfessioneller Geschlossenheit, also sogar strenger und enger religiös gebunden als das vorreformatorische Gemeinwesen, das auf allgemein-christlichem Fundament gebaut war.46 Die langfristige Folge aber, die seit 44 Repräsentativ: Ernst Bloch, Parteilichkeit in Wissenschaft und Welt (1951), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. X, 1977, S. 330 ff., 377 ff.; Hilde Benjamin, Die dialektische Einheit von Gesetzlichkeit und Parteilichkeit durchsetzen, in: Neue Justiz 1958, S. 368 ff. 45 Bemerkenswert ist der Umstand, dass die grundlegenden Werke der modernen Staatsphilosophie von Machiavelli bis Rousseau auf dem römischen Index librorum prohibitorum gelandet sind (Anthologie: Isensee [FN 38], Aufklärung, S. 237 [Anm. 66]).
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der Aufklärung zu voller Wirkung gelangte, war der generelle Rückzug des Staates aus religiöser Verantwortung. Nunmehr überlässt er die Frage nach letzter Wahrheit den Privaten. Die Allzuständigkeit des Staates besteht nur im säkularen Horizont. Der Staat umfasst nicht das Humanum in seiner Ganzheit. Er ist nur noch sektoraler Staat, nicht mehr societas perfecta, wie Aristoteles und Thomas von Aquin ihn verstanden. Die Säkularisierung des Staates bringt gegenläufige Entwicklungen hervor. Die eine führt zu Kompensation des Transzendenzverzichts durch politische Ideologie, die als „Zivilreligion“ (Rousseau) dienen kann, als immanente Heils- und Erlösungslehre, wie sie prototypisch der Marxismus darstellt. Der Zivilreligion adäquat ist die Form des totalitären Staates, der auf ganzheitliche Erfassung des Menschen ausgerichtet ist. Der konträre Staatstypus, der Verfassungsstaat, akzeptiert dagegen die religiöse wie die ideologische Spaltung der Gesellschaft als unaufhebbar gegeben. Er nimmt seine Kompetenz nicht nur in der religiösen Wahrheitsfrage zurück, sondern auch in Angelegenheiten der Weltanschauung und Wissenschaft, der Kultur und öffentlichen Meinung, der Wirtschaft und der politischen Willensbildung. In den Grundrechten akzeptiert er originäre, gemeinwohlrelevante Kompetenzen Privater. Er baut die politische Einheit nicht auf Wahrheit (weder religiöse noch weltanschauliche), sondern auf Freiheit, die durch Grundrechte sowie durch rechtsstaatliche und demokratische Institutionen verfassungsrechtlich gewährleistet wird. Damit akzeptiert er ein von ihm gesondertes, aus eigenem Recht wirkendes Gegenüber: die Gesellschaft als die Sphäre der privaten und der öffentlichen Freiheitsentfaltung. Die Säkularisierung des Staates, die sich in einem langwierigen historischen Prozess gegen den Widerstand der christlichen Kirchen durchgesetzt hat, ist gleichwohl geschichtliche Konsequenz des Christentums. Letztlich lässt sie sich zurückführen auf den Dualismus der zwei Reiche, die Polarität von Immanenz und Transzendenz, von Kirche und Staat, von Gesetz und Gewissen. Mit diesem Dualismus setzt die christliche Gewaltenteilung ein, die allen staatsrechtlichen Gewaltenteilungen vorausgeht. Die „absolute Entzweiung“ (Hegel), die mit dem Christentum (genauer: dem lateinischen Christentum) in die europäische Geschichte gekommen ist, bestimmt durch alle Säkularisierungen hindurch das politische Bewusstsein. Es ist kein Zufall, dass sich im islamischen Kulturkreis (wie auch im ostkirchlichen) die Scheidung von Religion und Politik nicht durchgesetzt hat.47 4. Menschenrechte und Menschenwürde
Die Menschenrechte entspringen dem Geist der Aufklärung, und doch sind ihre Prämissen im Menschenbild des Christentums angelegt: die Gleichheit aller, die von Gott erschaffen sind, die Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen, in dem sich ein Gedanke Gottes verkörpert, seine Personalität und Eigenverantwortung. Die Schöpfungs- und Erlösungslehre begründet die Würde des Menschen, und zwar nicht nur für das Abstraktum Menschheit, sondern für jeden Einzelnen, der geschaffen und erlöst, zum ewigen Heile berufen und deshalb zu irdischer Bewährung gehalten ist. Die dignitas humana 46 Darauf weist Hillgruber zu Recht hin (FN 17, S. 16 ff.) im Widerspruch zu der herrschenden Auffassung, wie sie Böckenförde repräsentiert (FN 17, S. 54 ff.). 47 Baber Johansen, Staat, Recht und Religion im sunnitischen Islam, in: Essener Gespräche 20 (1986), S. 12 ff.
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kommt dem Menschen als Person zu.48 Als Gottes Ebenbild ist er geschaffen.49 Als solches haben die Menschen einander zu achten. Wer Menschenblut vergießt, den übergibt Gott der Strafe.50 Er hat ihn „wenig niedriger gemacht als Gott“, zum Herrn gemacht über seiner Hände Werk.51 Freilich ist damit nicht das moderne Menschenbild der Menschenrechte vorweggenommen. Die biblische Offenbarung zeigt den Menschen in seiner Beziehung zu Gott. Diese aber präjudiziert nicht ohne weiteres die Beziehung zur Staatsgewalt.52 Dennoch haben die transzendenten Vorstellungen die säkularen beeinflusst. Die personalen Momente, welche die Beziehung zu Gott prägen, strahlen auf innerweltliche Beziehungen aus. Das ist keine bloße Versöhnungshypothese der Kirche, die ihren Frieden mit der modernen Welt machen möchte. Es ist auch die Prämisse Nietzsches, der gegen Christentum und christliches Ethos ankämpft. Die Idee der Gleichheit aller Menschen gilt ihm als eine schädliche Folge des Christentums: „Die ,Gleichheit der Seelen vor Gott‘, diese Falschheit, dieser Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Princip der ganzen Gesellschafts-Ordnung geworden ist – ist christlicher Dynamit.“53 Tocqueville beobachtet in der Frühzeit der USA eine tatsächliche Affinität des Christentums zur Demokratie: Christen, deren religiöses Gemüt von Wahrheiten des Jenseits zehre, erwärmten sich „für die Freiheit des Menschen, die Quelle aller sittlichen Größe. Das Christentum, das alle Menschen vor Gott gleich werden ließ, wird sich nicht dagegen sträuben, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich werden.“54 Das Christentum hat sich freilich im Mittelalter mit patriarchalischen Gewaltverhältnissen und mit universalistischem Staatsdenken verbunden. Erst in der Neuzeit bricht sich der Individualismus politisch Bahn, und der Einzelne begreift seine Freiheit, Gleichheit und Würde als Recht, sich von hergebrachten Autoritäten und aus tradierten Ordnungen zu emanzipieren. Die Rolle der Kirche in der Wirkungsgeschichte der Freiheitsidee ist ambivalent. Sie hat den Entwicklungsprozess der Menschenrechte behindert, und sie hat ihn gefördert.55 Doch auch dort, wo sie, bei Rückprojektion heutiger Maßstäbe, sich im krassesten Widerspruch zu den Menschenrechten befand, bei den Ketzerverbrennungen, als sie dem Häretiker weder die Gewissensfreiheit zuerkannte 48 Zum christlichen Menschenbild und seinem Einfluß auf die modernen Menschenrechte: Walter Kasper, Wahrheit und Freiheit, 1988, S. 14; Frank-Lothar Hossfeld, Grundzüge des biblischen Menschenverständnisses, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Christliches Menschenbild und soziale Orientierung, 1993, S. 9 ff.; Hans Maier, Überlegungen zu einer Geschichte der Menschenrechte, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 43 (48 ff.). 49 Genesis 1,27. Vgl. auch Jakobus 3,9. 50 Genesis 9,6. 51 Psalm 8, 5 – 9. 52 Exegetisch begründete Kritik an einer solchen Analogie: Klaus Berger, Die Wahrheit ist Partei. Öffentliches Handeln und biblische Weisheit, 2007, S. 149 ff. 53 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist (1888), in: Kritische Studienausgabe (hrsg. von Giorgio Colli und Massimo Montinari), Bd. 6, 1999, S. 165 (252). Vgl. auch ders., Jenseits von Gut und Böse (1886), ebd., Bd. 5, 1999, S. 9 (83). 54 Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique (1835 – 40), (dt.) Über die Demokratie in Amerika (hrsg. von Jacob P. Mayer), 1976, I. Teil, Einleitung (S. 14). 55 Zum Abwehrkampf der Päpste des 19. Jahrhunderts gegen die Menschenrechte Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, in: ZRG Kan. Abt. LXXIII, 1987, S. 296 ff.
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noch das Recht auf Leben, achtete sie den geistlichen Kern seiner Person, maßte sie sich nicht an, über sein ewiges Heil zu verfügen und dem Spruch Gottes vorzugreifen.56
5. Universalisierbarkeit des europäischen (Verfassungs-)Staates?
Der Typus des modernen Staates wird geprägt durch Eigenschaften des Menschen der europäischen Neuzeit: Aktivität, Rationalität, Autonomie, Bereitschaft, den Wechsel geschichtlicher Möglichkeiten und Herausforderungen aufzunehmen. Das Staatsmodell ist als effizientes Werkzeug für offene Ziele konstruiert, damit als Medium der Aktivität und organisierten Evolution. Prägende Epochen sind die Renaissance als Gründungszeit des modernen Staates und die Aufklärung als Gründungszeit des Verfassungsstaates, dessen reifste Form. Auch in diesen Epochen, die sich von kirchlicher Tradition lösten, blieben christliche Ideen in säkularisierter Form wirksam: die Einzigkeit der Person, die innerweltliche Einmaligkeit und Endgültigkeit des Lebens und der Bewährung in der Welt. Wo dagegen das irdische Dasein als wiederholbar erscheint, wie in den Wiedergeburtslehren Asiens, da muss auch die politische Mentalität eine andere sein als die des Westens, gelassener, gleichmütiger, nicht zeitbedrängt, nicht tatenbedürftig. Hier erhebt sich eine Überlebensfrage des modernen Staates: ob er, als Schöpfung des „okzidentalen Rationalismus“57, außerhalb des Kulturkreises, dem er entstammt, dauerhaft Wurzeln schlagen kann, in Kulturen, die nicht Renaissance und Aufklärung erlebt haben, in denen christliche und antike Tradition nicht wirksam sind. Die jungen Staaten der Dritten Welt haben das Gerüst des modernen Staates von ihren vormaligen Kolonialherren übernommen und dadurch, wenigstens der rechtlichen Form nach, ein Mindestmaß an erdumspannender Staatenhomogenität ermöglicht. Die Frage ist aber, ob auf Dauer nicht autochthone politische Kräfte die von außen übergestülpte politische Form sprengen, wie es der Iran mit seiner „islamischen Republik“ – vielleicht zukunftsweisend – exerziert. Außereuropäischen Staaten fehlt die ethische Infrastruktur der Amtsverfassung, soweit das Bestechungsverbot nicht durchsetzbar ist und das Ethos der Familienbindung wie der Gruppenloyalität vorherrscht. Vollends wird sich noch zeigen müssen, ob die liberale Demokratie gedeihen kann, wo nicht Wettbewerbsgeist, Fairness und Kompromissbereitschaft zu Hause sind, sondern wo um jeden Preis letzte Wahrheiten und das Gesicht zu wahren sind. Gleichwohl finden solche Bedenken heute kaum Gehör, insbesondere nicht in der westlichen Staatengruppe. Sie geht davon aus, dass ihre politischen Ideen, insbesondere Menschenrechte und Demokratie, universale Geltung beanspruchen und verdienen. Diese Auffassung ist zu politischer Weltmächtigkeit gelangt, seit ihr stärkster Widersacher, der totalitäre Sozialismus, gescheitert ist. Staaten, die sich den menschenrechtlichen und demokratischen Prinzipien heute noch verschließen, stehen unter Anpassungsdruck der internationalen Gemeinschaft und unter Legitimationszwang vor der eigenen Bevölkerung. Ein säkularweltmissionarischer Drang will alle Welt zu den ver56 Das entsprach der thomasischen Gewissenslehre, Summa theologiae II 1 q. 19, 5; II 2 q. 10, 8; q. 11, 3 ad 3; II 2 q. 104, 1 ad 1. Dazu Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962, S. 63 ff. („Höhepunkt im Entwicklungsprozeß um die Herausbildung des auf sittliche Autonomie gegründeten Persönlichkeitsbegriffs“). Vgl. auch Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche (FN 38), S. 162. 57 Max Weber (FN 22), S. 1034 ff.
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fassungsstaatlichen Idealen bekehren, die Demokratie ausbreiten und die Menschenrechte durchsetzen – äußerstenfalls mit Nachhilfe militärischen Zwangs in der Form einer humanitären Intervention.58 Die Macht der verfassungsstaatlichen Ideen zeigt sich darin, dass Regime, die ihnen praktisch widerstreben, doch aus politischer Klugheit wenigstens semantische Reverenz erweisen und demokratisch-menschenrechtliche Attrappen aufbauen. V. Deutungsperspektiven der Staatlichkeit Staat entfaltet sich in vielen Dimensionen, denen jeweils eigene Begriffe und Deutungen zukommen. 1. Der Teil und das Ganze: Staatsgewalt und Gemeinwesen
Im verfassungsjuristischen und -theoretischen Sprachgebrauch erscheint in der Regel „Staat“ im engeren Sinne: als Herrschaftsinstitution, als Träger der Staatsgewalt. Als solcher bildet er das Gegenüber der „Gesellschaft“; diese ist die staatstheoretische Chiffre für die Gesamtheit staatsunterworfener Individuen und Verbände, die zugleich die Träger grundrechtlicher Freiheiten sind; Geber wie Nehmer im sozialstaatlichen Umverteilungsprozess. Der Staat dagegen hat an der grundrechtlichen Freiheit nicht teil. Er ist ihr verfassungsrechtlicher Garant und ihr potentieller Widersacher. Als solcher ist er das zentrale Regelungsthema der Verfassung, Werk politischer Organisation, zweckrationale Veranstaltung im Dienste der Angehörigen der Gesellschaft. – Staat kann aber auch weit verstanden werden: als die staatlich verfasste Allgemeinheit, der Verband der Bürger, das Gemeinwesen. Hier bedeutet er das Ganze, das „Staat“ (im engeren Sinne) und „Gesellschaft“ umgreift.59 Im sozialwissenschaftlichen Gebrauch fungiert bisweilen anstelle des weiten Staats- ein weiter Gesellschaftsbegriff, als dessen Subsystem dann das „politische System“ erscheint.60 Spaltung und Verdoppelung des Staatsbegriffs machen aussagbar, dass der Bürger gegen den Staat Rechte geltend machen kann, obwohl er im Staat lebt, aus dessen Ordnung Rechte ableitet und diese über dessen Rechtsschutzinstanzen durchsetzt. Das System der Gewaltenteilung ermöglicht, dass Staatlichkeit sich doppelwirksam äußert und auch Konflikte zwischen Bürger und Staat im Staat ausgetragen werden. Der engere Staatsbegriff aktualisiert sich, wo das Eigenrecht des Privaten, der weitere, wo die Integration des Bürgers Thema wird. Staatsdistanz und staatliche Einheit schließen einander nicht aus. Grundrechte, Rechtsstaat und soziales Staatsziel setzen den engeren Begriff voraus. Er leitet auch vornehmlich das (liberal-)staatsrechtliche Denken, indes der weitere Begriff in der Staats- und Verfassungstheorie, vor allem in der Staatsethik bedeutsam wird, soweit diese die Res-publica-Tradition aufnehmen, die sittliche Relevanz des Staates, Dazu Herdegen (FN 9), § 34 Rn. 25 ff. Isensee (FN 18), S. 149 ff.; Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR II, 3. Aufl. 2004, § 31 Rn. 25 ff., 29 ff. (Nachw.); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart (1972), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 209 ff. 60 Niklas Luhmann, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Stavros Panou u. a. (Hrsg.), Contempory Conceptions of Social Philosophy, Part 4, 1988, S. 64 ff. 58 59
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Gemeinwohl, Amt, Bürgerpflichten, Integration. Nur in dieser Perspektive kann Staat als Ort sittlicher, kultureller, geschichtlicher Werte erscheinen, kann er Loyalität, Gemeinsinn, Opferbereitschaft, gemüthafte Zuwendung auf sich ziehen, Patriotismus entzünden, Vaterland sein. Das Gemeinwesen ist der Sitz des Gemeinwohls, die Herrschaftsinstanz dagegen der der Staatsraison, aber auch der rechtlichen Pflichten. Auf das Gemeinwesen richten sich die Deutungen des Staates als lebendiges Ganzes und als Organismus (Schelling, Müller),61 auf die Herrschaftsorganisation dagegen die Deutungen, die den Staat als ein gemachtes Gegenüber des Einzelnen zeigen: als Apparat, Maschine, Mechanismus, Kunstwerk,62 aber auch als sterblicher Gott,63 als „das kälteste aller Ungeheuer“.64 Im ersten Blickfeld kann Staat als permanenter Prozess der Einheitsbildung, als Integration (Smend) oder als soziologisches Beziehungsgeflecht erscheinen (Simmel, von Wiese), im zweiten dagegen als Institution, als Herrschaftsanstalt (Max Weber) oder gar nur als unspezifiziertes Dienstleistungsunternehmen.65 Die klassische Philosophie des Gemeinwesens ist die der societas perfecta et completa. Aristoteles sieht den Staat als die „vollkommene“, nicht mehr über sich hinausweisende, autarke Verbandseinheit, die Gemeinschaft, in welcher der Einzelne die Erfüllung seiner materiellen wie ideellen Bedürfnisse und seine sittliche Vollendung findet. Der Staat begnügt sich nicht mit den praktischen Aufgaben des Schutzes vor gegenseitigen Beeinträchtigungen und der Pflege des Marktverkehrs; das sind notwendige aber nicht hinreichende Bedingungen menschlichen Daseins (in der Sprache Hegels: Notund Verstandesstaat). Vielmehr ist sein Wesensziel, dass man gut lebe. Er ist die „Gemeinschaft von Familien und Ortschaften in einem vollkommenen und sich selbst genügenden Dasein“.66 Thomas von Aquin übernimmt dieses ganzheitliche Staatsverständnis, aber er relativiert es, indem er auch der Kirche innerhalb ihres Bereichs den gleichen Anspruch einer societas perfecta zuerkennt wie dem Staat innerhalb des seinen.67 Dieses ganzheitliche Bild zerbricht mit der Säkularisierung des Staates. Der Entscheidungs- und Machteinheit, von der er ausgeht, korrespondiert keine Glaubens- und Gesinnungseinheit. Hegel unternimmt einen letzten, großen Versuch, die verlorene Ganzheit wiederherzustellen und über das utilitaristische Konzept des Not- und Verstandesstaates hinauszugelangen, indem er subjektive Freiheit und objektive Ordnung, bürgerliche Gesellschaft und obrigkeitliche Anstalt, Geist und Geschichte einmünden Dazu Jellinek (FN 1), S. 148 ff. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien (1860), hrsg. von Walter Rehm, 1981, S. 27 ff. 63 Thomas Hobbes, Leviathan, (engl.) 1651, cap. 17. Zur Staatsmetaphorik Hobbes’: Carl Schmitt, Der Leviathan, 1938, S. 9 ff., 47 ff. 64 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883), in: Kritische Studienausgabe (FN 53), Bd. 4, 1999, S. 61 („Vom neuen Götzen“). 65 Die heute verbreitete betriebswirtschaftliche Sicht findet sich bereits bei Lenin, Staat und Revolution (1917), in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. II, 1970, S. 315 (357 ff.). 66 Aristoteles (FN 41), III, 9. 67 Zur Staatslehre des Aquinaten: Ulrich Matz, Thomas von Aquin, in: Hans Maier u. a. (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, 1. Bd., 2. Aufl. 1968, S. 114 (119 ff., 144 ff.). Die Doktrin der societas perfecta wird aufgenommen von Papst Leo XIII (dazu Peter Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII., 1925, S. 64 f., 69 ff.). In dem Maße, in dem sich die päpstlichen Lehrschreiben der Folgezeit den rechtsstaatlichen Differenzierungen, zumal den Menschenrechten, öffnen, greifen sie aber auf den engeren Staatsbegriff zurück. 61 62
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lässt in den Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee.68 Ein matter Abglanz der ganzheitlichen Staatsidee findet sich in Smends Bild des Staates als Wert- und „Lebenstotalität“, die freilich nur Hohlform ist, Leerziel der Integration: Einheit durch Bewegung.69 Der moderne Staat kann und will nicht mehr sein als sektoraler Staat. Die Einheit, die er herstellt, ist funktionsbezogen und funktionsbegrenzt. Soweit die verfassungsrechtlichen Institutionen des demokratischen Rechtsstaates über das „Element“ der Staatsgewalt hinaus in die Gesellschaft reichen (wie Grundrechte und soziales Staatsziel), decken sie nur einen, allerdings wichtigen Ausschnitt des Gemeinwesens ab. Der Verfassungsstaat will um der Freiheit der Bürger willen von Rechts wegen nicht mehr sein als „Not- und Verstandesstaat“. Außen vor bleiben weithin Sittlichkeit und Religion, Kultur und Wirtschaft; sie behalten aber Bedeutung als metarechtliche Voraussetzungen, auf denen die politischen Institutionen gründen.
2. Horizontale und vertikale Staatsdimension: Bürgerschaft und Herrschaft
Staat ist auf horizontaler Ebene Koordination der Bürger, genossenschaftlicher Verband, auf vertikaler deren Subordination unter die Staatsgewalt, herrschaftlicher Verband. Die als Staat organisierte Menschengruppe stellt sich auf der horizontalen Ebene dar als Volk und Nation, in vertikaler dagegen als Gesellschaft, die konstituiert wird durch die Unterworfenheit ihrer Angehörigen unter die Staatsgewalt (status passivus), die grundrechtlich gesicherte Freiheit von staatlichem „Eingriff“ (status negativus) und die rechtliche Gewähr staatlicher Leistungen (status positivus). Das demokratische Prinzip verbindet beide Ebenen dadurch, dass das Volk sich als Legitimationsursprung der Staatsgewalt und als Kreationsursprung der Staatsorgane verfasst (status activus).70 Zwischen den Ebenen vermittelt die Idee demokratischer Repräsentation, welche das Handeln der Staatsorgane als organisierten Willen des Volkes ausweist. Die Entfaltung des Staates in horizontaler wie vertikaler Dimension spiegelt sich in der Philosophie des Staatsvertrages: Zunächst gründen die vielen Individuen durch Vereinbarung aller mit allen den unkündbaren staatlichen Verband (pactum unionis), sodann organisieren sie vertraglich die Herrschaft, der sie sich unterwerfen wollen (pactum subiectionis).71
3. Reale und rechtliche Existenz: Lebenswirklichkeit und Rechtsperson
Der Staat ist Erscheinung der Wirklichkeit: organisierender Faktor des sozialen Lebens, ein Zusammenhang von Handlungen und Wirkungen, ein Sinnganzes, das sich im praktischen Vollzug und „plébiscite des tous les jours“ (E. Renan) herstellt und im Bewusstsein seiner Bürger spiegelt. Doch lässt sich deshalb der Staat nicht auf einen bloß sozio-psychologischen Sachverhalt reduzieren, etwa mit Smend auf das Gemeinschaftserleben der Bürger. 68 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, §§ 227, 256 ff., 270; ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1830, § 552. 69 Smend (FN 12), S. 136 ff. (162, 189). 70 Statuslehre Jellinek (FN 1), S. 418 ff.; ders., System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 94 ff. 71 Henning Ottmann, Vertragstheorien, in: Staatslexikon, Bd. 5, 7. Aufl. 1989, Sp. 728 ff.
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Der Staat existiert wesensnotwendig auch in der Dimension des Sollens, rechtlich wie sittlich, geht aber nicht im reinen Sollen auf. Er kann nicht mit der Rechtsordnung identifiziert werden (so normativistische Simplifikationen wie der juristische Staatsbegriff Kelsens).72 Er steht zugleich außerhalb wie innerhalb der Rechtsordnung. Außerhalb: insoweit er Quelle ihrer Erzeugung und Garant ihrer tatsächlichen Durchsetzung ist und sich des Rechts als typischen Handlungsmittels bedient; innerhalb: insoweit er selbst an sie gebunden, Träger von Rechten und Pflichten, in das Netz rechtlicher Beziehungen eingespannt und selbst Regelungsobjekt des Rechts ist. Rechtlich ist der Staat als juristische Person in der Form des öffentlichen Rechts organisiert. Im frühen 19. Jahrhundert diente diese Konstruktion dazu, den Monarchen der Staatsidee zu unterwerfen, ihn als Organ (nicht Inhaber) des Staates auszuweisen.73 Heute dient sie der Zurechnung von Rechten und Pflichten. Der föderal geteilte und dezentralisierte Staat der Bundesrepublik Deutschland ist in vielen juristischen Personen organisiert, denen jeweils Teilrechtsfähigkeit nach Maßgabe ihrer Kompetenz zukommt.74 Dieselbe Rechtsperson kann in der einen Hinsicht staatliche, in der anderen grundrechtliche Funktionen wahrnehmen (so die Hochschule als staatliche Ausbildungsstätte und als Organisation grundrechtlich freier Forschung und Lehre). Die empirische wie die rechtliche Existenzform des Staates wird von Jellinek durch den doppelten Staatsbegriff bestimmt, den sozialen („die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit sesshafter Menschen“)75 und den juristischen Staatsbegriff („die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgestattete Gebietskörperschaft“).76
VI. Der Verfassungsstaat und die nichtstaatlichen Potenzen 1. Der sektorale Staat
Der Verfassungsstaat zielt nicht darauf, den Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen, sondern nur in bestimmten Beziehungen. Planmäßig, um der Freiheit willen, bildet er nur eine unvollständige, eine sektorale Einheit. Darin ist er der konträre Typus zur societas perfecta et completa, wie sie Aristoteles entwarf und wie sie in der antiken Polis ihre reale Entsprechung fand: als ganzheitliche, sich selbst genügende Einheit, die Herrschaft und Ökonomie, Recht und Moral, Religion, Kult und Kultur umschloss, die dem Menschen die volle Erfüllung seines Menschseins bieten wollte und forderte, dass der Mensch im Bürger aufging. Das ganzheitliche Konzept zerbrach mit den christlichen Vorbehalten gegen die staatliche Ordnung, dem „größten Umschlag, der jemals vorgekommen“.77 Dieser fundamentalen Spaltung folgten weitere Spaltungen, welche die 72 Kelsen (FN 21), S. 24 ff., 95 ff. Differenzierter Adolf Merkel, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, S. 291 f. 73 Eduard Albrecht, Rezension über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, in: Göttingische gelehrte Anzeigen vom 21. September 1837, S. 1489 ff. 74 Zur Bundesrepublik Deutschland Isensee (FN 6), § 15 Rn. 163 ff. 75 Jellinek (FN 1), S. 180 f. 76 Jellinek (FN 1), S. 183. 77 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905), Ausgabe Rudolf Stadelmann, 1949, S. 149.
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Grundverfassung der modernen Welt ausmachen. Der Staat kann nun nicht mehr auf kollektiver Ebene die Ganzheit des Menschen spiegeln, sondern nur noch partielle Bedürfnisse. Staat, Religion, Kultur und Wirtschaft sind unterschiedliche Potenzen, die ihre je eigene Sachgesetzlichkeit und ihren je eigenen Entfaltungsbedarf haben, ungeachtet wechselseitiger Abhängigkeiten.78 Der Verfassungsstaat respektiert das Eigengesetz der Lebensbereiche, erkennt ihnen Autonomie zu und behält sich nur begrenzte Einwirkungsbefugnisse vor. Dem Individuum öffnet er in den Grundrechten Vielfalt der Optionen. Seine Freiheit realisiert sich in unterschiedlichen sozialen Rollen, die nebeneinander übernommen werden können in den verschiedenen Räumen des Privaten und der Familie, des Berufs und der Freizeit, des kirchlichen, kulturellen, politischen Lebens. Die Differenziertheit und relative Eigenständigkeit der Lebensbereiche ermöglicht zivilisatorische Gewaltenteilung. Nicht im Staat stellt sich heute die Einheit der Lebenswelt dar, sondern in der Person des Menschen, die sich ihrer Individualität gemäß in den verschiedenen Lebensbereichen entfaltet. Der Pluralismus, aus der Sicht eines ganzheitlichen, geschlossenen Staatsideals anarchischer Verfall, erweist sich aus der Sicht individueller Freiheit als deren Lebensbedingung, als Ordnungsprinzip wider Willen. Die Rückkehr zur ganzheitlich geschlossenen Staatlichkeit, die der totalitäre Staat des 20. Jahrhunderts angestrebt hatte, war Rückfall in die Barbarei, Zerstörung der politischen Zivilisation von mehr als zwei Jahrtausenden.
2. Nichtidentität des Staates mit Religion, Kultur, Wirtschaft
Der moderne Staat als solcher hat keine Religion. Seine verfassungsrechtliche Identität liegt nicht in der Religion, sondern in der Freiheit der Religion. Die Religion ist nicht das staatliche Allgemeine, sondern das Besondere der Gesellschaft, für den Staat aber, unter säkularem Aspekt, als soziales Faktum beachtlich. Ebensowenig wie eine Staatsreligion kann es in der freiheitlichen Verfassung eine Staatskultur und eine Staatswirtschaft geben, obwohl sich der Verfassungsstaat bewusst als Kulturstaat und als Sozialstaat versteht und nicht umhinkann, Kultur-, Sozial- und Wirtschaftspolitik zu machen. Er setzt die kulturellen und wirtschaftlichen Potenzen voraus und respektiert ihre Freiheit als vorgegeben, wenn er im Rahmen seiner begrenzten Befugnisse anregt, fördert, rechtliche Rahmenbedingungen schafft, und auch wenn er um des Gemeinwohls willen in das Marktgeschehen interveniert und dessen Resultate nach seinen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit korrigiert. Der Verfassungsstaat kann nur äußere Legalität erzwingen und nur vertretbare Leistungen rechtlich organisieren, nicht aber Intuition, Kreativität, Wagnis, Moralität, also die eigentlichen Lebenskräfte der Kultur und der Wirtschaft. Ihrer Eigengesetzlichkeit kann er sich auch nicht entziehen, wenn er selbst kulturelle Einrichtungen unterhält wie Schulen, Museen oder Wirtschaftsunternehmen betreibt wie Banken, Post, Bahn. So herrscht in der staatlichen Universität das Gesetz autonomer Wissenschaft. Der Staat respektiert ihre Freiheit und garantiert ihre organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen.
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Vgl. Burckhardt (FN 77), S. 51 ff.
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Josef Isensee 3. Polarität von Grundrechtsfreiheit und Demokratie
Die liberale Verfassung, welche die Religionsfreiheit und die Freiheit der Kindererziehung, die Wissenschafts- und Kunstfreiheit, die Berufsfreiheit und die Freiheit des Eigentums sowie Tarifautonomie grundrechtlich gewährleistet, schützt diese vor dem Zugriff des Staates und ermöglicht insoweit, dass sich das geistige und das wirtschaftliche Leben nach eigener Sachgesetzlichkeit entfalten, ohne dass aber ihre Förderung dem Staat verwehrt wird. Aus den Grundrechten fließt eigenständige verfassungsrechtliche Legitimation, die sich wesenhaft unterscheidet von der demokratischen Legitimation, die der Staatsgewalt aus dem Willen des Volkes zukommt. Beide Legitimationsquellen speisen sich letztlich aus der Freiheitsidee: die Grundrechte aus der Selbstbestimmung der Individuen, die Demokratie, an der die einzelnen Staatsbürger durch Mitbestimmung teilhaben, aus jener des Staatsvolkes.79 Wenn Demokratie die staatliche Ordnung aus der Bürgerschaft hervorgehen lässt, schaffen die Freiheitsgrundrechte den Individuen und Gruppen ein Mindestmaß an Staatsdistanz. Sie sichern Bereiche des Unabstimmbaren, nicht nur gegen die staatliche Mehrheitsdemokratie, sondern grundsätzlich auch gegen staatlich verfügte „Demokratisierung“ gesellschaftlicher Bereiche, kraft deren individuelle Selbstbestimmung durch kollektive Mitbestimmung abgelöst würde. Zwischen den beiden Sphären des Verfassungsstaates besteht kein Gegensatz, wie er sich in der altliberalen Sicht des 19. Jahrhunderts zwischen Staat und Gesellschaft darstellte: Vielmehr sind beide einander polar zugeordnet.
4. Religion, Kultur, Wirtschaft als „Gesellschaft“
Im Raster von Staat und Gesellschaft ist, jedenfalls schwerpunktmäßig, die Gesellschaft der Ort für Religion, Kultur und Wirtschaft.80 Darin liegt allerdings keine wesentliche Aussage über die drei Potenzen als solche, sondern nur über ihre Beziehung zum Staat. Die Gesellschaft wird ausschließlich von ihm her konstituiert: negativ dadurch, dass sie nicht zu seinen Institutionen gehört, positiv dadurch, dass sie die persönliche Reichweite staatlicher Herrschaftsbeziehungen und staatsgerichteter Rechte und Pflichten abdeckt. Darin entspricht das Theorem von Staat und Gesellschaft der Thematik der Verfassung, die sich auf Organisation, Legitimation und Inpflichtnahme des Staates im engeren Sinne konzentriert und, wenn sie Grundrechtspflichten und Handlungsprogramme des Staates gegenüber Religion, Kultur, Wirtschaft vorsieht, nicht in derselben Weise Religions-, Kultur- oder Wirtschaftsverfassung sein will, wie sie Staatsverfassung ist. Glaubensverkündigung, wissenschaftliches Forschen oder Tarifabschlüsse erscheinen zwar, vom Staat aus gesehen, als Grundrechtsausübung. Dennoch bleibt in dieser staatsperspektivischen Verkürzung die religiöse, die wissenschaftliche oder die ökonomische Qualität der jeweiligen Akte außer Betracht. Sie lassen sich aber nicht auf Verfassungsvollzug reduzieren. Für die Kirche ist die staatszugewandte Seite ihres Wirkens als ein „gesellschaftlicher“ Verband unter anderen zwar wichtig, aber eben nicht das Eigentliche ihres trans79 Christian Starck, Grundrechtliche und demokratische Freiheitsidee, in: HStR III, 3. Aufl. 2005, § 33 Rn. 1 ff. 80 Rupp (FN 59), § 31 Rn. 17 ff., 29 ff.
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zendenten Heilsauftrags. Ihr Mitgliederkreis und ihre Organisation werden nicht durch personale und territoriale Staatsgrenzen determiniert. Auch Information und Kommunikation, Wissenschaft und Kunst, rechtliche und wirtschaftliche Beziehungen, gewerkschaftliche Solidarität müssen nicht an den Staatsgrenzen haltmachen. Die Gesellschaft ist permeabel, soweit der Staat sie nicht abschließt. Die religiösen, kulturellen, wirtschaftlichen Einheiten sind mit jener des Staates inkongruent. Sie können nicht ohne Weiteres als Teilgliederungen des Gemeinwesens betrachtet werden. Sie gehen nicht im staatlich verfassten Gemeinwesen auf und sind nicht notwendig um das staatliche Gemeinwohl zentriert wie Planeten um die Sonne. Was dem Staat als Belang der Allgemeinheit gilt, kann sich der Kirche als partikulares Interesse darstellen, und umgekehrt. Die Relativität der Gemeinwohlperspektiven entspricht der Polyzentrik der sozialen Systeme, unter denen der Staat nur eines von vielen ist, freilich ein hochbedeutsames. Seine innere Souveränität wird dadurch nicht in Frage gestellt, weil diese sich nur auf eine begrenzte, die für die staatliche Entscheidungs- und Friedenseinheit erhebliche Materie bezieht. Die sektorale Machtüberlegenheit des Staates wird aber gefährdet, wenn der Pluralismus der nichtstaatlichen Potenzen in Monismus einer einzigen gesellschaftlichen Macht übergeht.
5. Verwiesenheit des Verfassungsstaates auf nichtstaatliche Potenzen
Der Verfassungsstaat – societas imperfecta et incompleta – ist lebensnotwendig verwiesen auf die nichtstaatlichen Potenzen der Religion, Kultur, Wirtschaft. Als Organisation ist er abhängig von Spontaneität, als System der Legalität von Moralität, als säkulare, zweckrationale Ordnung von religiösen Kräften, die das Absolutheitsstreben auf Transzendenz ausrichten und verhindern, dass es sich auf unerreichbare innerweltliche Heilsziele wendet und in politischem Fanatismus entlädt. Der Steuerstaat zehrt vom wirtschaftlichen Erfolg seiner Bürger, der von ihren individuellen Möglichkeiten, Entscheidungen und Anstrengungen abhängt. Allgemein lebt der Staat aus Voraussetzungen, über die er um der Freiheit willen nicht verfügen kann.81 Das gilt nicht nur für den Funktionsbedarf des Staates im engeren, sondern auch für die Identität des Staates im weiteren Sinne. Religion, Kultur, Wirtschaft prägen die nationale Besonderheit. Das Gemeinwesen zehrt wesentlich vom geistigen Erbe aus früheren Epochen. Wenn Religion und Sprache, Wirtschaftsmentalität, ethische Standards auch nicht einem bestimmten Staat vorbehalten sein müssen, so finden sich in jedem Staat spezifische, eigentümliche Kombinationen und Modifikationen. Dem Verfassungsstaat ist es durch die Grundrechte nicht schlechthin verwehrt, für den Bestand seiner Voraussetzungen zu sorgen. Soweit ihm die Befugnisse fehlen, diesen Bereich zu regeln und zu organisieren, kann er fördern, pflegen, schulische Erziehung leisten, Vorbilder aufweisen. Er kann nationale und kulturell gewachsene Homogenität der Gesellschaft und Identität des Gemeinwesens auch preisgeben oder planmäßig verändern, etwa durch Öffnung der Grenzen für Masseneinwanderung und -einbürgerung, durch Schul- und Bildungspolitik für eine multikulturelle Gesellschaft.82 Böckenförde (FN 20), S. 36 f. Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, 2. Aufl. 2000, § 115 Rn. 158 ff., 162 ff., 222 ff. (Nachweis). 81 82
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VII. Wechselseitige Bedingtheit von Staat und Recht Das Verhältnis von Staat und Recht ist ambivalent. Der Staat ist Schöpfer des Rechts, aber auch dessen Geschöpf. Innerhalb seines Herrschaftsbereichs legt der moderne Staat die Bedingungen fest, unter denen positives Recht erzeugt, verbindlich ausgelegt und zwangsweise durchgesetzt wird. Doch das bedeutet nicht, dass alles Recht von ihm ausginge, sondern nur, dass jedwede Befugnis zur Rechtsetzung sich aus seinen Normen, letztlich aus seiner Verfassung, ableitet. Das gilt auch für die Rechtserzeugung durch Verträge zwischen Privaten. Denn diese gründen auf der Privatautonomie im Rahmen der staatlichen Gesetze. Die Privatautonomie wird ihrerseits unterfangen von den Grundrechten der Verfassung. Die privatautonom erzeugten Normen gehören demselben Rechtssystem an wie die staatlichen.83 Für ein Gewohnheitsrecht, das sich außerhalb dieses Systems entwickelt, bleibt immer weniger Raum. Dagegen wird das staatliche Recht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in zunehmendem Maße überlagert von supranationalem Recht. Das Recht ist angewiesen auf die Staatsgewalt, um Wirksamkeit zu erreichen. Diese ist ihrerseits angewiesen auf das Recht. Macht als Selbstzweck ist nicht zustimmungsfähig, am wenigsten für eine Gesellschaft freier Bürger. Legitimation erlangt sie nur, wenn sie sich in den Dienst des Rechts stellt, auch jenes Rechts, das sie selber geschaffen hat, und wenn sie sich der Rechtsidee unterwirft. Verfassungsstaatliche Herrschaft ist Herrschaft der Gesetze. Nur über das Recht vermag sich eine Vielzahl von Menschen zu einer handlungsfähigen Einheit mit der Aussicht auf Dauer zu organisieren. Das wichtigste rechtliche Medium, das den Staat in Form bringt, ist seine Verfassung, und zwar gleich, ob sie in einer besonderen Urkunde (Verfassungsgesetz oder -vertrag) eigens ausgewiesen wird oder auch ohne solchen Ausweis als rechtliche Grundordnung (materielle Verfassung) zu effektiver Geltung gefunden hat. Die höchste Norm des staatlichen Rechts unterliegt nicht den demokratischen und rechtsstaatlichen Regeln, die sie selber erst aufrichtet. Nach traditioneller demokratischer Doktrin gründet sie nicht in vorgegebenem Recht, sondern allein in der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, seiner originären Willensmacht, die als solche rechtlich ungebunden und unbeschränkbar, schlechthin souverän dargestellt wird.84 Das aber ist demokratische Allmachtsphantasie jenseits der politischen Wirklichkeit. Auch die Verfassunggebung hat heute völkerrechtliche Vorgaben zu beachten. Sie folgt allgemeinen, übergreifenden Leitvorstellungen von Demokratie, Gewaltenteilung und Menschenrechten. Viele Verfassungstexte beginnen mit der Anrufung oder Nennung Gottes als Demutsgeste, als Absage an gesetzgeberische Selbstherrlichkeit, als Unterwerfung unter ein unverfügbares, höheres Gesetz. Das deutsche Grundgesetz enthält darüber hinaus das Bekenntnis des Verfassunggebers zur Menschenwürde und zu den Menschenrechten als „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Es erkennt damit vorstaatliche Fundamente an, auf denen es sein Recht aufbaut.85 Die Verfassung legt die Zuständigkeiten und VerKelsen (FN 21), S. 153. Zur Geschichte: Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir constituant, 1909. Aus heutiger Sicht: Josef Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995 (Nachweise). 85 Näher mit Nachweisen Josef Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 26 Rn. 1 ff. 83 84
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fahren staatlichen Handelns und korrespondierender Verantwortung fest. Sie nennt Grundlagen, Ziele und Aufgaben der Staatsgewalt. Sie markiert deren Grenzen.
VIII. Warum überhaupt Staat? 1. Notwendigkeit einer Rechtfertigung
Der Staat ist kein Naturereignis, das fraglos hinzunehmen ist, sondern Fügung der Menschen, die in Frage gestellt werden kann und muss. Er lebt von der Zustimmung und Gehorsamsbereitschaft seiner Bürger. Als bloße Machterscheinung kann er nicht auf Zustimmung hoffen. Vielmehr hat er sich in seiner Existenz, seiner organisatorischen Gestalt und in seinem Handeln als sinnhaft und notwendig vor dem Tribunal der Vernunft zu rechtfertigen. Wenn die Rechtfertigungsfrage einmal gestellt und der Staat als Objekt verantwortlichen Handelns begriffen ist, kann er niemals mehr ohne Vorbehalt angenommen werden. Das Staatsleben wird nunmehr am Staatsideal, die Wirklichkeit an normativer Vorgabe gemessen, die Akzeptanz des Staates an die Wahrung bestimmter Bedingungen, Formen, Ziele und Grenzen geknüpft, die Möglichkeit des Widerstandsrechts für den äußersten Konfliktfall akzeptiert. Die Frage nach der Rechtfertigung führt vom Ob des Staates auf das Wie seiner Verfassung, sodann von der Frage nach der anerkennungsfähigen Verfassung des Staates auf die Frage nach seiner bestmöglichen Verfassung. Legitimieren heißt: begründen, warum Staat ist. Die Frage nach dem Warum führt weiter auf unterschiedliche Ebenen, denen jeweils eigene Fragequalität zukommt: Woher der Staat kommt und wohin er führt, nach dem geschichtlichen Anfangs- und Endzustand, wozu er da ist und von wem er sich beglaubigt, nach Sachziel und Willensursprung. Die Staatsphilosophie blickt auf den Staat als solchen, als abstraktes Objekt. Sie fragt, warum Herrschaft ist und nicht Anarchie. Heute wird aber auch die Frage dringlich, warum das Pluriversum der Staaten ist und nicht ein weltstaatliches Universum. Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum einzelne Staaten so existieren, wie sie in ihrem gegebenen territorialen und personalen Umfang sind, und nicht anders.86
2. Leitidee eines anarchischen Urzustandes
„Von Natur, wie Gott den Menschen anfangs schuf, ist niemand eines Menschen oder der Sünde Knecht“, schreibt Augustinus. Vernunftbegabt und als Gottes Ebenbild geschaffen, sollte der Mensch nur über die vernunftlosen Geschöpfe herrschen, also nicht Mensch über Mensch, sondern Mensch über Tier. Mit der Sünde aber sei die Knechtschaft eingezogen. Der Christ müsse sich der unabwendbaren Ungerechtigkeit fügen, die erst vergeht, „wenn alle Herrschaft und Gewalt aufgehoben wird und Gott alles ist in allen“.87 Der Staat ist Folge des Sündenfalls: Strafe für die Untertanen, Prüfung für die 86 Näher mit Nachweisen zur Rechtfertigungsfrage und zu den Antworten Josef Isensee, Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, in: Petra Kolmer / Harald Korten (Hrsg.), Recht – Staat – Gesellschaft, 1999, S. 21 ff. 87 Augustinus, De civitate Dei, XIX, 15 – insbesondere zur Sklaverei.
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Herrschenden, Schutz der natürlichen Ordnung. Der Christ gelangt zu innerer Freiheit, wenn er den Staat als Zuchtrute Gottes begreift und ihn in leidendem Gehorsam der eigenen Sündhaftigkeit gemäß akzeptiert. Ganz anders die Sicht des Aquinaten: Auch wenn der Mensch noch im Stande der Unschuld lebte, gäbe es den Staat.88 Denn er ist seiner Wesensnatur nach darauf angelegt, frei mit Freien zu staatlicher Gemeinschaft zusammenzufinden. Diese aber bedarf einer Kraft, welche die auseinanderstrebenden Individualinteressen auf das gemeinsame Wohl hinlenkt.89 Die Ausrichtung auf den Staat ist also hier kein Ausdruck der Verderbnis, sondern – wie bei Aristoteles – glückenden Menschseins. Der Einzelne findet seine irdische Erfüllung im politischen Gemeinwesen, freilich – insofern anders als bei Aristoteles – seine irdisch-vorläufige und seine nur partielle Erfüllung. Er ist nicht in seinem ganzen Sein, Haben und Tun auf den Staat ausgerichtet, vielmehr in der Ganzheit seiner Person auf Gott.90 Damit öffnet Thomas den Weg für eine aktive Zuwendung zum Staat und die Identifikation des Bürgers mit dem Gemeinwesen, aber auch für die Begrenzung des Gehorsams, für Gewissensvorbehalte und Widerstandsrecht. Die Rechtfertigungslehre des Augustinus wie die des Thomas haben auf das christliche Staatsverständnis eingewirkt, die erstere besonders auf das des Luthertums. Das Bild des verlorenen anarchischen Paradieses wird von der politischen Philosophie aufgenommen und säkular gewendet: als das Ursprungsreich der natürlichen Unschuld, verderbt durch den Sündenfall des Privateigentums (Rousseau); als urkommunistischer Zustand naturwüchsiger Demokratie, zerstört durch Klassenspaltung (Engels). Anfangsmythen dieser Art entsprechen restaurativer Nostalgie der politischen Romantik wie säkularer Erlösungsprophetie der politischen Gnosis. Dem Fortschrittsbewusstsein der Aufklärung entspricht dagegen das Bild einer finsteren Vergangenheit, welche die Vernunft überwunden hat und in welche kein Rückfall stattfinden darf: die Legitimation des modernen Staates durch Hobbes als die Rettung aus dem anarchischen Naturzustand eines Kampfes aller gegen alle, als die institutionelle Überwindung des Bürgerkrieges. Über die Zeiten hinweg konkurrieren die Macht- und die Vertragstheorie. Erstere lässt den Staat aus dem „Recht“ des Stärkeren hervorgehen (Spinoza), sei es aus einer endogenen Verbandsgruppe, sei es aus einer exogenen Erobererschicht. Letztere gründet ihn auf der allseitigen vertraglichen Einigung der Bürger (Hobbes, Locke, Pufendorf, Wolff). Beide Theorien sind freilich nur bedingt plausibel. Rohe Macht schafft nicht Legitimität; dem Vertragskonstrukt aber ermangelt es an hinreichender Entsprechung in der Realität. Keine der Legitimationstheorien spiegelt den geschichtlichen Prozess der Staatswerdung. Umgekehrt sind aber die gängigen Darstellungen der geschichtlichen Entstehung des Staates – durchwegs Spekulationen anhand kargen Quellenmaterials und bedingt analogiefähiger ethnologischer Befunde – weithin historische Rückprojektionen der Macht- oder Vertragstheorie.
88 89 90
Thomas von Aquin, Summa theologiae, I q. 96, a. 4. Ders., De regimine principum, I, 1. Ders., Summa theologiae I–II, q. 21, a. 4 ad 3.
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3. Leitidee einer endzeitlichen Anarchie
Die politische Theologie vermittelt dem Staat eine heilsgeschichtliche Legitimation über die ambivalente Aufgabe: das Unheil der Endzeit zu verzögern oder ihr Heil zu beschleunigen. Das Heilige Römische Reich des Mittelalters sah sich als die Kraft, die den Antichrist aufhält (κáôÝ÷ùí: 2 Thess 2,3 ff.). Der Chiliasmus seit Joachim von Fiore folgt der Vision, das verlorene Paradies wieder herzustellen, und zwar auf dieser Erde als das Endziel der Geschichte, und das tausendjährige Reich heraufzuführen (Offb 20). Diese Vision geht ein in die marxistische Endzeitutopie vom kommunistischen Reich der Freiheit, in dem mit den Klassenunterschieden die Herrschaft des Menschen über den Menschen, somit der Staat, abgestorben ist. Der Zweck des sozialistischen Staates der Zwischenzeit besteht darin, sich selbst überflüssig zu machen durch Liquidation der verbliebenen Klassengegensätze und Umerziehung der Gesellschaft, auf dass sie reif zur Freiheit werde. Für die unabsehbar währende kommunistische Parusieverzögerung etabliert sich im Namen der Abschaffung des Staates die totalitäre Erziehungsdiktatur Lenins, welche die Wahrheit des geschlossenen weltgeschichtlichen Prozesses verwaltet und die praktischen Folgerungen zieht: die bisher größte Steigerung der Staatsgewalt in der Geschichte. In den Sog dieser Ideologie geraten politische (Befreiungs-)Theologien, die das Reich Gottes in dieser Welt verwirklichen und den Staat für diese Aufgabe instrumentalisieren wollen.91 4. Rechtfertigung aus dem Zweck
a) Universalismus – Individualismus Im Blick auf den Zweck des Staates sind das universalistische und das individualistische Legitimationsmuster zu unterscheiden. Universalistisch ist der Vorrang des Ganzen vor dem Teil, die Integration des Individuums in den staatlichen Organismus (Aristoteles). Der Staat kann als der „absolute, unbewegte Selbstzweck“ erscheinen, indes es höchste Pflicht der Einzelnen ist, „Mitglieder des Staates zu sein“. Das Wesen des Staates ist nicht, wie es dem Individualismus entspräche, Schutz des Lebens und des Eigentums, vielmehr, „das Höhere, welches dieses Leben und Eigentum selbst auch in Anspruch nimmt und die Aufopferung desselben fordert“ (Hegel).92 Dem Individualismus gilt dagegen der Einzelne in seiner personalen Würde als Selbstzweck, der Staat nur als Mittel. Der Staat ist dazu da, Leben, Freiheit und Eigentum der Individuen vor gegenseitigen Übergriffen und vor äußeren Gefahren zu schützen, die rechtlichen Rahmenbedingungen eines störungsfreien Zusammenlebens herzustellen und einen Gesamtzustand der Sicherheit zu gewährleisten. Die Freiheit des Einzelnen wie der Gesellschaft insgesamt wird als der Staatsgewalt vorgegeben und als virtuell unbegrenzt gedacht. Die Staatsgewalt dagegen als notwendig begrenzt. Die Ausübung der Freiheit bedarf keiner Begründung; ihre Beschränkung durch den Staat aber steht unter Rechtfertigungszwang.93 91 Dazu Joseph Ratzinger, Politik und Erlösung, 1986, S. 7 ff.; Rupert Hofmann (Hrsg.), Gottesreich und Revolution, 1987. 92 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, §§ 100, 256 ff., 270. 93 So das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip (Kategorie: Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 126). Zu den verfassungsrechtlichen Konsequenzen Isensee (FN 6), § 15 Rn. 174 ff. (Nachweis).
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Der Gegensatz verliert bei näherer Analyse an Schroffheit, weil der Universalismus auf das Gemeinwesen insgesamt blickt, der Individualismus dagegen in der Regel nur auf den Staat im engeren Sinne. Dieser wird zweckrational organisiert, damit er die Lebensbedingungen der Bürger sichere und fördere. In der Zuspitzung der Assekuranztheorie erscheint er als bloße Versicherungsanstalt. Doch bleibt dabei unerklärbar, dass der moderne Sozialstaat vom Einzelnen Umverteilungsopfer verlangt, die nicht durch adäquate Vorteile aufgewogen werden. Die Rechtfertigung kann nur ein Ethos überindividueller Solidarität leisten. Vollends gilt das für die Pflicht der Bürger, im Falle äußerer oder innerer Not ihr Leben für Mitbürger und Allgemeinheit einzusetzen. Der Universalismus dagegen erkennt dem Staat einen Blankoanspruch zu, der offen ist für transpersonale Macht-, Kultur-, Fortschrittszwecke aller Art, sich aber damit über die unverfügbaren Positionen der Bürger hinwegsetzen oder sich am Widerstand ihrer Grundrechte brechen kann. b) Teleologie des Verfassungsstaates Die Herstellung des Bürgerfriedens und der Sicherheit ist das fundamentale materiale Ziel des modernen, gewaltmonopolistischen Staates, wie immer er verfasst ist. Der Rechtsstaat fügt der Sicherheit der Bürger voreinander die Sicherheit der Bürger vor der Staatsgewalt und darin die Freiheit gegenüber ihrem Eingriff hinzu. Der soziale Rechtsstaat gewährleistet darüber hinaus die Sicherheit gegenüber den Existenzrisiken des Arbeitsmarktes. Dem Staatsziel, physische Sicherheit zu gewährleisten, ist heute die ökologische Dimension zugewachsen: der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen vor den Schäden der technischen Zivilisation. Die Verfassungen fügen weitere Staatsziele hinzu. Dennoch ergeben die anerkannten Staatsziele kein geschlossenes materiales Konzept des Gemeinwohls, das als Ziel der Ziele des staatlichen Handelns die Notwendigkeit seiner Existenz rechtfertigt. Das Gemeinwohl erscheint nicht mehr, wie in den vormodernen Epochen, als vorgegeben, es muss vielmehr in der jeweiligen Situation erkannt und bestimmt werden. Je offener und unsicherer die Inhalte sind, desto wichtiger werden Kompetenz und Verfahren zur Entscheidung über den Inhalt. Damit führt die Frage nach dem sachlichen Zweck der Staatsgewalt auf seinen personalen Willensursprung. Dieser liegt nach dem demokratischen Prinzip im Volk. Im Übrigen stecken die Ziele des Gemeinwohls zwar die Reichweite der möglichen Verantwortung des Staates im engeren Sinne ab. Aber sie rechtfertigen nicht ohne weiteres aktuelles staatliches Handeln. Der Staat im engeren Sinne hat kein Monopol zur Förderung des Gemeinwohls. Er teilt diese Aufgabe mit den Bürgern und Verbänden der Gesellschaft. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip ist die Wahrnehmung gemeinwohlwichtiger Aufgaben durch den Staat nur legitim, soweit sie nicht aus der Gesellschaft heraus, auf grundrechtsautonomer Basis, erreicht werden können.
5. Rechtfertigung aus dem Willensursprung
Theonome Lehren leiten den Staat und seine Emanationen aus dem Willen Gottes ab. „Wo aber Obrigkeit ist, da ist sie von Gott angeordnet“ (Röm 13,1). Eine kurzschlüssige Interpretation identifiziert den jeweiligen Stand der staatlichen Ordnung mit dem Wil-
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len Gottes und erklärt ihn so für sakrosankt. Dieser theonome Positivismus entlastet die Regierenden vom Rechtfertigungszwang gegenüber den Regierten. Doch in Wahrheit wird Theonomie nur wirksam in der Vermittlung durch Freiheit und Verantwortung des Menschen, die ihrerseits zum göttlichen Weltplan gehören. Die Rechtfertigung der Obrigkeit aus dem Willen Gottes in Röm 13 heiligt nicht den blinden Gehorsam. Im Gegenteil: Sie relativiert ihn, weil der Christ den Gehorsam nicht um der irdischen Macht, sondern um Gottes willen leistet. Wenn der staatliche Befehl dem Gebot Gottes widerstreitet, muss der Christ Gott mehr gehorchen als den Menschen (Apg 4,19; 5,29). Macht und Gehorsam als solche entsprechen Gottes Willen. Aber die Ausübung von Macht und die Inanspruchnahme von Gehorsam müssen sich jeweils an höherem Gesetz messen lassen. Die säkulare Legitimation, wie sie das politische Denken der Neuzeit einfordert, gründet im Willen des Volkes, der wiederum aus dem Willen der einzelnen Bürger hervorgeht. Der Bürger unterwirft sich in der Demokratie einem Herrschaftssystem, an dem er aktiv Anteil hat. Der Wille des Volkes bildet sich in den rechtsförmlichen Verfahren von Wahlen und Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip. Er legitimiert die staatlichen Institutionen und wird von diesen wiederum repräsentiert. Neben die förmlichen Emanationen des Volkswillens treten die informellen politischen Wirkungen der Gesellschaft, unter ihnen die öffentliche Meinung. Das demokratische Prinzip schafft nur formale Legitimation aus dem Volkswillen, ohne aber, wie es die demokratische Ideologie Rousseaus verheißt, auch die materiale Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl zu gewährleisten.94 Daher findet das demokratische Prinzip seine Ergänzung in den inhaltlichen Zielen und Garantien des republikanischen Rechtsstaates. Diese wiederum bedürfen zu ihrer Umsetzung der Staatsorgane, die sich aus dem Willen des Volkes legitimieren. Der Verfassungsstaat legitimiert sich also formal aus dem Willen und material aus dem Wohl des Volkes. 6. Pluriversum der Staaten oder weltstaatliches Universum
Die philosophische Rechtfertigung erklärt, warum es den Staat überhaupt, nicht aber, warum es die vielen Staaten des Erdkreises gibt. Das staatliche Pluriversum gerät heute unter Rechtfertigungsdruck, angesichts der Idee der einen Menschheit und der universalen Menschenrechte, angesichts des Bedürfnisses nach einer weltweiten Friedensordnung, nach Abbau von Spannungen und Kriegsgefahr, nach Gleichheit der Lebenschancen und einer einheitlichen Ordnung der Weltwirtschaft, nach gerechter und ökonomischer Verteilung der Güter, nach schonendem Umgang mit den Lebensgrundlagen, die zunehmend als gemeinsames Erbe begriffen werden, nach kosmopolitischer Solidarität. Trotz der Universalisierungstendenzen sind die Staaten die wesentlichen Akteure der internationalen Ordnung geblieben. Die politischen Spannungen würden sich, gäbe es einen Universalstaat, nicht auflösen, sondern nach innen verlagern. Die Vielzahl der Staaten rechtfertigt sich gerade aus ihrer tatsächlichen Mannigfaltigkeit. Sie ermöglicht die Entfaltung kollektiver Individualität, die geopolitische, ethnische und geschichtliche 94 Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, 1762, ch. 3. Kritische Analyse Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962, S. 159 ff. Republikanisch-rechtsstaatliche Perspektive: Isensee (FN 14), § 71 Rn. 95 ff.
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Eigenart zur Geltung bringt, Religion und Kultur, Sprache und Sitte spezifisch kombiniert und Besonderheiten des Freiheitsstandards gewährleistet. Das Pluriversum ermöglicht den friedlichen Wettbewerb der Systeme, ohne ihre wechselseitige Angleichung zu verhindern. Es gibt der Innovation Raum und zeigt Alternativen. Die Teilung der Macht auf viele Staaten schafft internationale Gewaltenteilung, die der Humanität und den Menschenrechten wenigstens regionale Lebenschancen sichert und weltweite Unterdrückung verhindert. Gegenüber einem kosmopolitischen Leviathan gäbe es kein Asyl.95 Der bestehende einzelne Staat lässt sich nicht aus abstrakten Prinzipien herleiten. Er ist kein Produkt philosophischer Notwendigkeit, zumeist noch nicht einmal Werk rationaler Interessenkalkulation, sondern geographischer und historisch-politischer Kontingenz. Er rechtfertigt seine Existenz aus dem Willen der Menschengruppe, die in ihm vereint ist. Dieser Wille richtet sich auf die staatlich organisierte Solidargemeinschaft, die das gute Leben aller ihrer Zugehörigen unter den wechselnden Herausforderungen gewährleistet. Der Wille aber speist sich aus unterschiedlichen Motiven. Doch braucht er keine verallgemeinerungsfähigen Gründe. Davon geht das Völkerrecht aus, das jedem Volk das Recht auf Selbstbestimmung in staatlicher Form zuerkennt.96
IX. Zukunftsfähigkeit des Staates Philosophen des 19. Jahrhunderts von Fichte bis Nietzsche sagten den Tod des Staates voraus. Bis heute hat die Geschichte die Prophezeiung nicht eingelöst. Dagegen hat das Modell des modernen Staates im 20. Jahrhundert seinen historisch größten Triumph erfahren, sich weltweit und flächendeckend verbreitet: Baustein der „one world“. Doch bleibt die Frage, ob eine politische Form, die sich in Europa unter seinen eigentümlichen kulturellen Bedingungen entwickelt hat, auf Dauer bestehen kann, wo diese Bedingungen nicht in hinlänglichem Maße vorhanden sind: Amtsprinzip und Rationalität, nationale Konsistenz und Solidarität, Befriedung der Gesellschaft und Gewaltmonopol. Vollends stößt der Universalitätsanspruch der Menschenrechte und der Demokratie auf Widerstand autochthoner Kräfte. Doch auch in den europäischen Ländern schwinden die überkommenen Voraussetzungen der Staatlichkeit in Religion, Kultur, Ethos. Vollends wird das nationale Fundament brüchig angesichts der Massen von Zuwanderern aus fremden Kulturkreisen, die sich der Assimilation verweigern und die Integrationskraft der einheimischen Gesellschaft überfordern. Ein hochgezüchteter Individualismus, der sich auf grundrechtliche Ansprüche beruft, verdrängt die Bereitschaft, die Lasten staatsbürgerlicher Loyalität und Solidarität zu tragen. Unter den an ihrer Geschichte leidenden Deutschen wird 95 Näher Josef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt – eine Apologie, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 1. Jg. (2003), S. 7 ff. Zur Bedeutung der Grenze Anter (FN 31), S. 259 ff. 96 Zu Semantik und Realität des Selbstbestimmungsrechts: Dietrich Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht, in: Der Staat 23 (1984), S. 523 ff.; Helmut Quaritsch, Wiedervereinigung in Selbstbestimmung, in: HStR VIII, 1995, § 193 Rn. 3 ff.; Christian Hillgruber, Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft, 1998, S. 739 ff.; Peter Hilpold, Die Sezession – zum Versuch der Verrechtlichung eines faktischen Phänomens, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 63 (2008), S. 117 ff.
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geradezu Poleophobie als neue Bürgertugend kultiviert. Ihr Nationalgefühl ist ermüdet. Symptomatisch ist ein Sprachgebrauch, der die negativ besetzte Kategorie des Staates durch die positiv besetzte Kategorie der Verfassung ersetzt. Die politische Praxis unterläuft Strukturen der Staatlichkeit, indem die Entscheidungskompetenzen aus der Staatsorganisation ausgelagert werden auf Gremien der Parteien, und die innere Souveränität übergeht in die Hände nichtstaatlicher Potenzen. Damit wird der Weg frei zur Privatisierung klassischer Staatsaufgaben. Die Staatsorgane neigen ihrerseits dazu, ihre hoheitlichen Befugnisse zurückzunehmen, sich wie Wirtschaftsunternehmen zu gerieren und betriebswirtschaftlichen Maximen zu folgen. Die Entscheidungsmöglichkeiten des Staates werden in zunehmendem Maße determiniert durch technischen Sachzwang.97 Von außen wird das Konzept des Staates in Frage gestellt durch Tendenzen zu Globalisierung und Kosmopolitisierung. Der einzelne Staat verliert die Fähigkeit, seine Aufgaben autark zu erfüllen, etwa Daseinsvorsorge, Marktkapazität, Umweltschutz, äußere oder innere Sicherheit. Um seinen Aufgaben genügen, um sich überhaupt noch als politische Handlungseinheit behaupten zu können, ist er angewiesen, mit anderen Staaten zu kooperieren und sich mit ihnen zu verbinden, auf Elemente seiner Souveränität zu verzichten und sich in internationale Organisationen einzugliedern, die ihm Mitbestimmung als Ausgleich für die Einbuße an Selbstbestimmung bieten und die neue Permeabilität mit Synergieeffekten vergüten. Interdependenz und Verflechtung der Staaten werden rechtlich verfestigt durch das internationale und das supranationale Recht, das an thematischer Reichweite, an Regelungsdichte und an normativer Kraft zunimmt. Das klassische ius belli, in dem sich herkömmlich die politische Einheit des Staates manifestierte, ist heute durch völkerrechtliche Vorkehrungen der Friedenssicherung und ihr Sanktionensystem abgelöst. Die völkerrechtlichen Regeln des Staatenkrieges versagen vor den neuen Herausforderungen des weltweit operierenden Terrorismus, wie auch die innerstaatliche Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Sicherheit überrollt wird. Dennoch hat, alles in allem, das Strukturmodell des modernen Staates den Herausforderungen standgehalten. Seine Gesamtstruktur, nicht jede Einzelheit, zeigt sich als vital und anpassungsfähig genug, um neue Entwicklungen aufzunehmen. Auch die zunehmende internationale Verflechtung hat den Staat als das maßgebende Subjekt politischen Handelns bisher nicht abgelöst und keine Alternative hervorgebracht. Die Europäische Union hat bisher die Staatlichkeit ihrer Mitglieder nicht aufgehoben, sondern bestätigt. Sollte sich der bisher bestehende Staatenverbund einmal zu bundesstaatlicher Einheit verdichten, so wüchse ihm seinerseits Staatsqualität zu. Damit aber ginge ein Unikat, die originellste politische Erfindung unserer Zeit, über in eine konventionelle politische Form. Weiterführende Literatur Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Der Staat als sittlicher Staat, 1978. Fenske, Hans / Mertens, Dieter / Reinhard, Wolfgang / Rosen, Klaus: Geschichte der politischen Ideen von der Antike bis zur Gegenwart, 1996. 97 Bild des „technischen Staates“: Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, 1961, S. 22 ff.
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Isensee, Josef / Kirchhof Paul (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. I, Historische Grundlagen, 3. Aufl. 2003; Band II, Verfassungsstaat, 3. Aufl. 2004; Band III, Demokratie – Bundesorgane, 3. Aufl. 2005; Band IV, Aufgaben des Staates, 3. Aufl. 2006. Mikat, Paul: Grundelemente katholischer Staatsauffassung, in: Studien und Berichte der Katholischen Akademie in Bayern, Band 13, Christentum und Liberalismus, 1960, S. 85 ff. Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt, 2002. Uhle, Arnd: Staat – Kirche – Kultur, 2004.
Zur Entwicklung des katholischen Staatsdenkens Von Rudolf Uertz Quellen der katholischen Staatslehre sind neben den biblischen Offenbarungsschriften die Kirchenväter (Johannes Chrysostomus, Augustinus u. a.), die mittelalterliche Scholastik (insbesondere Thomas von Aquin), die Spätscholastik (Francisco de Vitoria, Francisco de Suarez, Robert Bellarmin u. a.) sowie die Lehre der Kanonistik zum Verhältnis von Kirche und Staat. Auf diesen Quellen baut die moderne Staatslehre Leos XIII. (1878 – 1903) und seiner Nachfolger bis hin zu Pius XII. (1939 – 1958) auf. Mit der Soziallehre seit Johannes XXIII. (1958 – 1963) und dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) öffnet sich die katholische Staatslehre, die sich nunmehr als Politische Ethik versteht, verstärkt auch liberalen Ideen (Menschen- und Grundrechte, Verfassungsstaat, Religionsfreiheit, Demokratie, pluralistische Gesellschaft, Differenzierung zwischen Moral und Recht u. a.). In den Lehrbüchern wird die Staatslehre als Teilgebiet der Katholischen Soziallehre bzw. Sozialethik behandelt, die mit dem päpstlichen Rundschreiben Rerum novarum (Über die Arbeiterfrage, 1891) einsetzt. Doch schon im Jahrzehnt zuvor sah sich das päpstliche Lehramt angesichts der gravierenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüche genötigt, zur Frage der staatlichen Ordnung und der Gehorsamspflicht der Staatsbürger Stellung zu nehmen (Diuturnum illud, 1881; Immortale Dei, 1885; Libertas praestantissimum, 1888, u. a.). Der Staatsbegriff (res publica, civitas) wird in den päpstlichen Rundschreiben im umfänglicheren Sinne gebraucht.1 Er umfasst die politischen Herrschaftsformen der Antike, der Spätantike, des Mittelalters wie auch des neuzeitlichen Gemeinwesens. I. Ideengeschichtliche Entwicklung 1. Bibel und Kirchenväter
Eine geschlossene Staatslehre kennt das Neue Testament nicht; wohl aber enthält es eine Vielzahl situationsbedingter Verhaltensanweisungen gegenüber den politischen Autoritäten, die es mit dem Alten Testament und dem Judentum grundsätzlich anerkennt.2 Auch der Römerbrief bietet keine systematische Grundlegung einer Staatslehre, wenn1 Weitere Staatsenzykliken sind: „Sapientiae christianae“ (1890), „Au milieu des sollicitudes“ (1892); in: Utz / von Galen. – Hans Barion, Kirche und Kirchenrecht, hrsg. von Werner Böckenförde, Paderborn 1984, S. 463 ff., S. 513 – 645, hebt den eigenständigen systematischen und quellenmäßigen Ansatz der katholischen Staatslehre in ihrem Verhältnis zur kirchlichen Soziallehre hervor. 2 Vgl. Neues Testament: Mt 16,19; 18,17; 22,15 – 22; 28,18 – 20; Mk 12,17; Joh 10,10; 21,21; Apg 5,29; Röm 12,12; 13,1 – 7; 13,17; 1 Kor 7,31; 2 Kor 10,6; Eph 3,15; 13,10; Phil 3,20; 1 Tim 2,1 – 3; Tit 3,1; Jak 4,12; 1 Petr 2,13 – 17; Altes Testament: Spr 8,15 f.; Weish 6,3 – 8; Sir 7,14.
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gleich ihm über Jahrhunderte faktisch eine solche Funktion zugefallen ist. Röm 13 wird daher von manchen Interpreten als wirkungsvoller angesehen als die Ethik Jesu im Neuen Testament.3 Der griechische Kirchenvater Johannes Chrysostomus (344 – 407) ist einer der ersten Theologen, die Röm 13 naturrechtlich interpretieren. Er versteht die „von Gott kommende Herrschergewalt“ nicht als eine Offenbarungswahrheit, sondern vielmehr als eine Vernunftwahrheit, der gemäß die politische Herrschaft eine notwendige Bedingung des Erhalts des Gemeinwesens ist.4 Augustinus löst das christliche Denken von der Ziviltheologie des antiken Rom und setzt ihr den Eschatologiegedanken entgegen. Die Verschmelzung von Religion und Politik im römischen Kaiserkult wird abgelöst durch das wirkmächtige Interpretationsmodell von den beiden Bürgerschaften, dem Gottesstaat (civitas Dei) und dem irdischen Staat (civitas terrena), wobei zwischen der heilsgeschichtlichen und profanen Ordnung unterschieden wird.5 Den irdischen Staat, den Augustinus als Produkt des Sündenfalls sieht, rechtfertigt er vom Rechtszweck her. Doch bewahrte die strikte Rechtsbeschränkung und metaphysische Entmächtigung der irdischen Gewalt in der Folgezeit Kirche und Theologie nicht davor, dass sein Werk im Mittelalter hierarchisch-politisch interpretiert wurde.6 2. Die Scholastik
Thomas von Aquin knüpft an Augustinus an, überwindet jedoch den latenten Dualismus der zwei Bürgerschaften, indem er den irdischen Staat schöpfungstheologisch-naturrechtlich würdigt.7 Zugleich weicht der anthropologische Pessimismus Augustins’ bei Thomas einem metaphysischen Realismus, wenn er die vernunftorientierte Sittlichkeit des Menschen betont. Das Recht, gesetzgebend zu befehlen und Befehle durchzusetzen, kommt der politischen Gewalt zu, deren Überlegenheit nicht ontologisch, sondern funktional ist. Der Kirche billigt der Aquinate politische Gewalt insofern zu, als diese für das übernatürliche Heil notwendig ist: insoweit komme der Kirche eine indirekte Gewalt, potestas indirecta, gegenüber dem Staate zu.8 Dabei versteht er Kirche und Staat als „vollkommene Gesellschaften“ (societates perfectae) mit je eigenen Rechtskreisen.9 3 Vgl. Paul Mikat, Zur Gehorsams- und Widerstandsproblematik nach Röm 13,1 – 7, in: Jahresund Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1987, Köln o. J., S. 19 ff. 4 Vgl. Stephan Verosta, Johannes Chrysostomus. Staatsphilosoph und Geschichtstheologe, Graz 1960, S. 351 ff. 5 Für das hierokratische Kirche-Staat-Verhältnis bedeutsam war die Zwei-Gewalten-Lehre Papst Gelasius’ (492 – 496). – Die Lehre von den zwei Bürgerschaften bei Augustinus sollte vor allem für die reformatorischen Kirchen von größter Bedeutung sein (sogenannte Zwei-Reiche-Lehre bzw. Zwei-Schwerter-Lehre). 6 „Was sind Reiche ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden?“ (De civitate Dei IV, 4); vgl. Hans Maier, Augustinus, in: ders. / Horst Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd. 1, 7. Aufl., München 2001, S. 65 ff. 7 Die naturrechtlichen Begründungen von Thomas orientieren sich vor allem an Aristoteles (z. B. der Begriff civitas). Vgl. Ulrich Matz, Thomas von Aquin, in: Hans Maier / Heinz Rausch / Horst Denzer, Klassiker des politischen Denkens, Bd. 1, 4. Aufl., München 1972, S. 114 ff.; Paul Mikat, Gesetz und Staat nach Thomas von Aquin, in: Geschichte, Recht, Religion, Politik. Beiträge von Paul Mikat, Dieter Giesen / Dietlinde Ruthe (Hrsg.), Bd. 2., Paderborn 1984, S. 533 ff. 8 Zur potestas indirecta (et directiva) vgl. Böckenförde, Schriften Bd. 3, S. 113 ff. 9 Vgl. Mikat, Kirche und Staat, S. 111 ff.
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Vor dem Hintergrund des Zerfalls der konfessionellen Einheit infolge der Reformation und der Abspaltung der Anglikanischen Kirche, der Entdeckung Amerikas und der Entwicklung neuer Handelsbeziehungen hatten vor allem spanische Theologen und Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts die thomasisch-scholastischen Ideen weiterentwickelt.10 Gemäß der von Francisco de Vitoria, Francisco de Suarez u. a. vertretenen Volkssouveränitätsthese ist das Volk, zu dessen Wohl die Herrschaft besteht (bonum commune), der ursprüngliche Träger der Gewalt.11
3. Abwehr der Ideen von 1789
Die päpstliche Lehre zwischen 1789 und 1878 (Pius VI., Gregor XVI., Pius IX. u. a.) ist bestimmt durch die Abwehr der kirchen- und religionsfeindlichen Ideen von 1789. Demokratie und Konstitutionalismus werden mit Destruktion und Antireligiosität gleichgesetzt, die Menschenrechte als Aufruhr des Menschen gegen Gott und den göttlichen Ordnungswillen verworfen.12 Geprägt ist diese Haltung u. a. auch durch die Konflikte im Kirchenstaat und die „Römische Frage“ (Anspruch des Papstes als politischer Souverän des Kirchenstaates, der bis 1870 Bestand hatte; Beilegung der „Römischen Frage“ durch die Lateranverträge 1929). Die bestehende monarchische Ordnung wird mit Verweis auf Röm 13 verteidigt. In der Enzyklika Quanta cura und dem anhängenden Syllabus errorum (1864) verurteilt Pius IX. zusammen mit religions- und kirchenfeindlichen Haltungen auch moderate liberalstaatliche Grundsätze. Unterstützung erhält die päpstliche Lehre durch die französischen Konterrevolutionäre Joseph de Maistre, Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald, Hugues Robert Félicité Lamennais u. a., die – ihrem adeligen Stand verpflichtet – die Monarchie wiederherstellen wollen, wobei sie die herkömmliche Ordnung politisch-theologisch rechtfertigen. Zwar gehörte der Traditionalismus nie zum Kernbestand katholischer Staatslehre, doch hat dessen Gedankengut mittelbar auch das Staats- und Rechtsdenken der Kirche einschließlich katholischer Laien beeinflusst. Bei Lamennais mutieren nach anfänglichem Legitimismus die politisch-theologischen Ideen angesichts der auch von Katholiken mitgetragenen belgischen Verfassungsbewegung 1830 / 31 zu einem Liberalkatholizismus. Der Franzose ist der erste, der die Demokratie als eine Option christlicher Gesinnung darstellt.13 Lamennais fordert die Trennung von Kirche und Staat, Religions-, Gewissens-, Unterrichts-, Presse- und Vereinsfreiheit. Entwickelte sich der moderne Staat in den kontinentaleuropäischen Län10 Vgl. Ulrich Horst, Vitoria, in: Maier / Denzer, Klassiker (Anm. 6), S. 165 ff.; Joseph Höffner, Kolonialismus und Evangelium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, 3. Aufl., Trier 1972; Heinrich Rommen, Die Staatslehre des Franz Suarez, München-Gladbach 1926. 11 Die spanischen Spätscholastiker vertreten jedoch noch nicht den modernen Souveränitätsbegriff, sondern sprechen von der summa potestas. Das willentliche Moment der Zustimmung des Volkes bleibt unbestimmt; im Übrigen gehen die Spätscholastiker noch von der Eingliederung des Menschen in eine vorgegebene Ordnung aus. 12 Gregor XVI. und ihm folgend Pius IX. bezeichnen die Meinungs- und Pressefreiheit in „Mirari vos“ (1832) und „Quanta cura“ (1864; dem Rundschreiben ist der „Syllabus errorum“ beigefügt, der in 80 Sätzen die „Irrtümer des Jahrhunderts“ verurteilt) als „Wahnsinn“ („deliramentum“); vgl. Utz / von Galen, Bd. II, S. 14 ff. 13 Vgl. Maier, Revolution und Kirche, S. 159 ff., S. 175 ff.
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dern als eine „Revolte gegen die Religion“ (Hans Maier), so sieht Lamennais, nachdem er sich von der christlichen Monarchie abgewandt hat, Religion und Demokratie prinzipiell keineswegs als Gegensätze, sondern als einander bedingende Größen. Von den Päpsten werden seine liberalen Grundsätze verurteilt. Das Erste Vatikanische Konzil (1869 / 70) verwirft aber andererseits ebenso den Fideismus, jene Theorie, die einseitig Glaubensprinzipien und göttliches Offenbarungsgut zu ihrer Grundlage erhebt. Allerdings bleibt das mit dem Fideismus verbundene traditionalistische Rechtsdenken auch in kirchlichen Kreisen weiterhin in Geltung.
4. Ketteler und Leo XIII.
Ähnlich pragmatisch-konstitutionelle Begründungen wie Lamennais’ Mitstreiter, Charles de Montalembert, vertritt auch Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811 – 1877).14 In Freiheit, Autorität und Kirche (1862) entfaltet er das Grundgerüst für die katholische Haltung zu Staat, Recht und parlamentarischer Vertretung sowie die religionsrechtlichen Grundlinien des Katholizismus im Deutschen Kaiserreich (Kooperationsmodell; Religionsfreiheit als korporatives Grundrecht u. a.). Kettelers Anschauungen sind eine Weiterführung der Ideen, wie sie katholische Abgeordnete in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 / 49 vertraten. Der Mainzer Sozialbischof, den Leo XIII. seinen „großen Vorgänger“ nannte („mon grand prédécesseur“), empfiehlt den Katholiken, alle politischen und publizistischen Möglichkeiten zugunsten katholischer Interessen wahrzunehmen.15 Pragmatisch vertritt er gemäßigt liberale Prinzipien und fordert rechtsstaatliche Grundsätze (staatliche Rechtsschutzgarantie, Verwaltungsgerichtsordnung, oberstes Reichsgericht, unabhängiger Richterstand u. a.). Seine Naturrechtsbegründungen sind nicht dem neuscholastischen Argumentationsstil zuzurechnen, der die kirchliche Soziallehre zwischen ca. 1878 und 1960 prägte. Wie viele andere katholische Theologen und Rechtsphilosophen des 19. Jahrhunderts ist Kettelers Staats- und Rechtsdenken dem historisch-organischen Gedankengut verbunden. Verfassung und Recht werden daher weniger als willentlich-schöpferische Produkte und als artifizielle Ergebnisse eines pluralen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses gesehen. Dem älteren Rechtsdenken verbunden bleibt auch die päpstliche Staatslehre. Leo XIII. kommt das Verdienst zu, die Kirche ein Stück weit an die veränderten Lebensverhältnisse in Staat und Gesellschaft herangeführt zu haben, wobei neben traditionalistischen Ideen verstärkt naturrechtliche Begründungen treten. Angesichts der Säkularisierung des öffentlichen Lebens erneuert Leo das mittelalterlich-scholastische und spätscholastische Naturrechtsdenken als Quelle katholischer Staats- und Soziallehre (sogenannte Neuscholastik).16 Den Verfassungsstaat sieht der Sozialpapst nicht mehr wie noch seine Vorgänger per se als antichristlich an. Doch werden republikanisch-demokratische Ideen nur soweit toleriert, als sie die Monarchie nicht gefährden. Monarchie, Aristokratie und Demokratie sind gleichermaßen legitim, sofern sie dem Gemeinwohl 14 Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, Freiheit, Autorität und Kirche. Erörterungen über die großen Probleme der Gegenwart, 2. Aufl., Mainz 1862. 15 Peter Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII., München-Gladbach 1927, S. 14. 16 Vgl. ebd.; ders., Ursprung und Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule, München-Gladbach 1923. Daneben bezieht sich die leoninische Staatslehre vor allem auf die von der Kanonistik entfalteten Bestimmungen des Verhältnisses von Kirche und Staat.
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zuträglich sind. Zugleich verpflichtet Leo in der Enzyklika Graves de communi (1901) die Katholiken, in ihren sozialen und politischen Aktivitäten die jeweils bestehende Ordnung zu stützen, selbst aber nichts zu unternehmen, um eine demokratische Ordnung herbeizuführen. Die christliche Demokratie sollte demnach sozial und caritativ ausgerichtet sein, jedoch vor politischen Demokratisierungstendenzen bewahrt werden. Gleichwohl engagierten sich in Deutschland wie in Frankreich und weiteren europäischen Staaten katholische Laien und Geistliche selbstbewusst in christlichen Parteien. 5. Zwischenkriegszeit
Die der katholischen Zentrumspartei (1870 / 71 – 1933) verbundenen Moraltheologen waren bemüht, angesichts der Etablierung der Weimarer Demokratie die katholische Staatslehre an das liberale Rechtsstaatsdenken anzuschließen.17 Die Rechtfertigung der neuen demokratisch-republikanischen Ordnung erfolgte primär naturrechtlich vom Gemeinwohl her. Das Gemeinwohl wird gemäß der personalistischen Auffassung dynamisch verstanden: Das bedeutet, dass es als Ordnungsidee weder liberalistisch, noch kollektivistisch verstanden wird, sondern vielmehr die Bedingungen und Ordnungsvoraussetzungen beinhaltet, die gegeben sein müssen, damit die Menschen im politischen Gemeinwesen sinnvoll miteinander leben können. Die Theologen der Zwischenkriegszeit konnten auf der Grundlage der katholischen Staatsdoktrin durchaus Legitimitätsgrundsätze zugunsten der Demokratie anführen, wobei sie sich gemäß dem Gemeinwohlprinzip auf die scholastische Volkssouveränitätsthese stützten. Doch wurde der Wille des Volkes lediglich als faktischer Rechtsgrund konzediert. Da die Grundrechte nicht als überpositive Normen, sondern als integrale Bestandteile der Gemeinwohlordnung verstanden wurden und als solche zur Disposition der rechtmäßigen Autorität standen, konnten sie von Seiten der christlichen Staatsethik nicht als unverzichtbare Rechtsnormen gegen die Diktatur Hitlers geltend gemacht werden. Mit anderen Worten: Das Naturrecht bot mit seinen Prinzipien der Personalität, Solidarität und Subsidiarität sehr wohl sozial- und politikethische Normen, die gegen Inhumanität, Totalitarismus und diktatorische Bestrebungen gerichtet sind, doch hatte die Treue zur bestehenden Verfassung und damit die Unverzichtbarkeit liberaler Grundrechte „naturrechtlich keinen Ort“.18 Schon zu Beginn der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ließen sich vereinzelt Stimmen vernehmen, die angesichts der neuen politischen Verhältnisse eine staatsethische Neubesinnung und entsprechend lehrhafte Ergänzungen der katholischen Staatslehre anmahnten. So kritisierte im Januar 1933 der Moraltheologe Robert Linhardt die organisch-ganzheitliche katholische Sozialtheorie, die in der aktuellen Situation des Jahres 1933 unzulänglich sei; in der brisanten Situation der nationalsozialistischen Machtübernahme helfe die solidaristische Soziallehre nicht weiter. Vielmehr verlange das „katholische Gewissen“, so Linhardt, nunmehr den entschiedenen Rekurs auf die 17 Vgl. Joseph Mausbach, Kulturfragen in der Deutschen Verfassung. Eine Erklärung wichtiger Verfassungsartikel, München-Gladbach 1920, S. 19 ff., 32 ff.; zu Mausbachs Rechtfertigung der Weimarer Demokratie vgl. Paul Mikat, Grundelemente katholischer Staatsauffassung, in: Karl Forster (Hrsg.), Christentum und Liberalismus, München 1960, S. 100 ff. 18 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933 (1961), in: ders., Schriften, Bd. 1, S. 39 ff.
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liberalen Grundrechte, auch wenn diese nicht aus dem Arsenal katholischer Staatslehre stammten.19 Zur Sicherung der Humanität des Gemeinwesens sei es außerdem vonnöten, das Subsidiaritätsprinzip nicht bloß wie die Enzyklika Quadragesimo anno Pius’ XI. (1931) als gesellschaftliche Leitidee zu charakterisieren, sondern dieses Prinzip auch mit den Rechtszwecken des Staates (Grundrechtssicherung, Gewaltenteilung, Friedensordnung u. a.) zu verknüpfen. Ähnlich argumentierte auch der katholische Rechtsphilosoph Heinrich Rommen in seiner revidierten Naturrechtstheorie. Seine naturrechtlich geprägte Rechts- und Staatstheorie ist repräsentativ für die Naturrechtsrenaissance, die das politische und gesellschaftliche Denken nach 1945 erfährt.20
6. Christlicher Personalismus
Zweifellos zeigen sich bereits in den Ansprachen und Rundschreiben von Pius XII. verstärkt Bezugnahmen auf die Person21 als höchstem schutzwürdigem Gut von Staat und Rechtsordnung sowie auf Demokratie und rechtsstaatliche Grundsätze, doch entfaltet erst die politische Ethik Papst Johannes’ XXIII. und des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965) konsistente Begründungen der demokratischen, grundrechtlich und rechtsstaatlich gesicherten Ordnung („christlicher Personalismus“).22 Grundlage des neuen politik- und sozialethischen Begründungsstils, der das Naturrecht keineswegs ablöst, dieses vielmehr personalistisch bzw. verantwortungsethisch modifiziert, ist die Enzyklika Pacem in terris (1963),23 die in Anlehnung an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 die Menschenrechte in die kirchliche Soziallehre integriert. Weitere Schritte der Neuorientierung sind die Akzeptanz der Autonomie der Kultursachgebiete und des Ver19 Robert Linhardt, Verfassung und Verfassungsreform. Eine Besinnung auf die Prinzipien der katholischen Sozial- und Staatsphilosophie, München 1933; vgl. Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, S. 347 ff. 20 Vgl. Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2. Aufl., München 1947 (Leipzig 1936), S. 161 f.; erst in der zweiten Auflage 1947 entfaltet Rommen die Grund- und Menschenrechte, zu denen er sich durch „diese lästerliche Umdeutung“ des Naturrechts durch den Kommentar des Verfassungsrechts des Großdeutschen Reiches von Ernst Rudolf Huber (2. Aufl., Hamburg 1939) animiert sieht. 21 So insbesondere in der Rundfunkbotschaft vom 24. Dezember 1942, in der es heißt: „Ursprung und Wesensziel des gesellschaftlichen Lebens ist die Wahrung, Entfaltung und Vervollkommnung der menschlichen Person.“ – Gustav Gundlach schrieb den „Kommentar zur Weihnachtsansprache Pius’ XII. vom 24. 12. 1942“, in: Periodica 32 (1943), S. 79 – 96 und 216 – 224 (Original lateinisch); wieder abgedruckt unter dem Titel: „Die gesellschaftliche Ordnung“ in dem posthum erschienenen Sammelwerk: Gustav Gundlach S. J., Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft (Bd. I), Köln 1964, S. 108 – 127. – Vgl. zur personalen Grundlage der Katholischen Soziallehre den Beitrag von Anton Rauscher, Das christliche Menschenbild, in diesem Band. 22 Bedeutsam für die personalistische und grundrechtliche Neuorientierung des Katholizismus war der Neothomist Jacques Maritain, Humanisme intégral (Paris 1936; dt.: Christlicher Humanismus. Politische und geistige Fragen einer neuen Christenheit, Heidelberg 1950), der als diplomatischer Vertreter Frankreichs an der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. 12. 1948 mitgewirkt hat. 23 Wichtig ist auch die erste Sozialenzyklika Johannes’ XXIII., „Mater et magistra“ (1961), in: Texte zur katholischen Soziallehre. Einführung von Oswald von Nell-Breuning / Johannes Schasching, 8. Aufl., Kevelaer 1992; vgl. den Kommentar in: Oswald von Nell-Breuning, Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente, 3. Aufl., Wien 1983, S. 74 ff., S. 101 ff.
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antwortungsbereichs der Laien in Politik und Gesellschaft, ferner die Differenzierung zwischen Moral und Recht sowie die Anerkennung der Religionsfreiheit und damit der weltanschaulichen Neutralität des Staates (Gaudium et spes, Dignitatis humanae, beide 1965).24 II. Grundlagen und Struktur Struktur und ideengeschichtliche Entwicklung der katholischen Kirche erlauben es, von einer „offiziellen“ katholischen Staatslehre zu sprechen, die bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil eine beachtliche Kontinuität und Geschlossenheit aufweist. „Die naturrechtliche und schöpfungstheologische Fundierung sicherte dieser Lehre eine von jeweiligen Einzelerfahrungen unabhängige, grundsätzliche Sicht des Staates, die nicht von dem stets möglichen Missbrauch der staatlichen Gewalt bestimmt ist, sondern von der Notwendigkeit des Staates, von seinem Ursprung im Naturrecht und im göttlichen Schöpferwillen, von seinem Wesen und seinen auf das Wohl des Menschen bezogenen objektiven Zielsetzungen.“25 Von seinen biblisch-theologischen Grundlagen her versteht das christliche Denken den Staat und die politische Macht als prinzipiell beschränkt und als vor Gott und dem Gewissen verantwortungspflichtige Größen (Apg 4,19; 5,29). Entsprechend ist das katholische Staatsdenken mit Absolutismus und Totalitarismus grundsätzlich unvereinbar. Zugleich kommt dem Staat vom schöpfungstheologischen Ansatz her eine eigene natürlich-sittliche Qualität zu, die einer Hypertrophierung des Staates und der Staatsmacht entgegensteht. 1. Staat und natürliche Sittlichkeit
Anders als die reformatorischen Anschauungen, die den Staat als Folge der Sünde ansehen, folglich im Staat ein notwendiges, von Gott um der verdorbenen Natur des Menschen willen verordnetes Heilmittel erkennen, sieht das katholische Staatsdenken sich nicht daran gehindert, trotz des Sündenfalls Ethik und Politik aus der menschlichen Natur zu begründen und von ihr her für die Praxis der Politik und der Rechtsgestaltung Normen und Leitideen zu gewinnen.26 Die besondere „katholische“ Akzentuierung des christlichen Staatsdenkens ist das Produkt der schöpfungstheologischen Einbindung und Überhöhung des antiken Erbes. In Anlehnung an die Lehre des Aristoteles, der den Menschen als „zòon politikòn“ (Politik I,3) definiert, ist nach Thomas von Aquin der Mensch von seiner natürlichen Bestimmung her auf das gemeinschaftliche und politische Leben hin angelegt (de regimine principum I,1). Doch während im antiken Heidentum und in nicht-christlichen 24 Vgl. die Dokumente in: Karl Rahner / Herbert Vorgrimler (Hrsg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, 33. Aufl., Freiburg i. Br. 2006. 25 Isensee / Mikat, Staat, Sp. 157 ff. 26 Die reformatorische Lehre folgt hinsichtlich ihrer theologischen Anthropologie der Lehre des Augustinus, wonach durch den Sündenfall die ontologische Struktur des Menschen vollends zerstört ist. Thomas von Aquin dagegen, dem die katholische Lehre folgt, sieht zwar durch die Erbsünde die menschliche Natur verletzt, aber nicht in Gänze beschädigt; die natürliche Neigung des Menschen zur Tugend wurde entsprechend nur gemildert, nicht aber vollends zerstört; vgl. Christoph Schönborn (Hrsg.), Zur kirchlichen Erbsündenlehre. Stellungnahmen zu einer brennenden Frage, 2. Aufl., Freiburg i. Br. 1994.
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Kulturen der einzelne Mensch eingebunden ist in die kollektiven Gebilde Familie, Gesellschaft und Staat, wird mit der christlichen Vorstellung der Person die Idee persönlicher Freiheit und Würde grundgelegt, die nicht für den Menschen als abstrakte Gattung, sondern für jedes einzelne Individuum gilt. Offenbarungstheologisch wird diese Vorstellung abgeleitet aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die durch die Menschwerdung Christi und seine Erlösungstat, die sich auf jeden einzelnen Menschen bezieht, besiegelt wird.27 Die transzendente Dimension des christlichen Personbegriffs bricht die antik-heidnische Einbindung des Individuums in den immanenten Verband des Gemeinwesens auf; sie gibt dem Einzelnen einen Standpunkt außerhalb des physisch-sozialen Organismus und erlegt dem Staat Schutzpflichten auf.28 2. Personalitätsprinzip und Freiheitsidee
Mit seiner theologischen Anthropologie hat das Christentum die Grundlage geschaffen für die moderne Freiheitsidee, die noch in ihren säkular-humanistischen Vorstellungen religiös-christliche Züge enthält. Das grundlegende und zentrale Prinzip der politischen Ethik des Christentums ist das Personalitätsprinzip. Jegliche christliche Theologie und Ethik ist personal orientiert. Allerdings dauerte es geraume Zeit, bis die katholische Staatslehre den Personalitätsgedanken mit liberalen Staats- und Rechtsnormen verband. Die Idee von Menschenrechten, d. h. individueller, gegen den Staat gerichtete Grundund Freiheitsrechte, ist erst in der Neuzeit entstanden; dieses Rechtsinstitut hat sich allerdings nicht in den Volkskirchen, sondern im Bereich der protestantischen Sekten entwickelt. Unverkennbar aber ist in der Personalitätsidee des Christentums mit ihrer Fundamentalnorm, der Menschenwürde, keimhaft die Vorstellung von Menschenrechten angelegt. Gemäß der katholischen Staatslehre kann die staatlich-politische Macht nicht von individualistischen Prinzipien abgeleitet werden, vielmehr resultiert sie, dem metaphysischen Realismus gemäß, aus naturrechtlichen Grundsätzen. „Aus der Natur des Menschen und dem Wesen der realen Bezogenheiten der Menschen untereinander ergeben sich die Ordnungen der Gemeinschaft und ihre Begründungen. Das Naturrecht, das auch den Staat begründet, ist keine rationalistische Satzung, sondern aus dem wirklichen Wesen des Menschen und der Dinge abgelesene und von da her verpflichtende Ordnung.“29 Die Kennzeichnung des Staates als societas naturalis (der Staat wird ebenso wie die Familie als natürliche Gemeinschaft bezeichnet), als in der Wesensnatur des Menschen angelegte Institution, besagt jedoch nicht, dass die „Naturnotwendigkeit“ der menschlichen Gemeinschaft und Ordnung unabhängig von menschlichen Willensentscheidungen sei. Die naturrechtliche Staatslehre im Anschluss an Thomas hat sehr wohl die prinzipielle Bedeutung willentlicher Zustimmung des Volkes zur konkreten Ordnung betont, was in der Vorstellung des Staates als sittlicher Organismus zum Ausdruck kommen sollte.30 27 Vgl. Summa theologicae I – II, prologus; Ulrich Matz, Zum Einfluss des Christentums auf das politische Denken der Neuzeit, in: Günther Rüther (Hrsg.), Geschichte der christlich-demokratischen und christlich-sozialen Bewegungen in Deutschland, 3. Aufl., Bonn 1989, S. 27 ff. 28 Vgl. Leo Scheffczyk (Hrsg.), Der Mensch als Bild Gottes, Darmstadt 1969. 29 Richard Hauser, Autorität und Macht. Die staatliche Autorität in der neueren protestantischen Ethik und in der katholischen Gesellschaftslehre, Heidelberg 1949, S. 357 f.
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Die naturhafte Hinordnung des Menschen auf Gesellschaft und Gemeinwesen ist eine zweifache Aussage: Zum einen ist die in der Schöpfungsordnung angelegte menschliche Vernunft angesprochen, wonach das Leben in Ordnungen ein Gebot der räsonierenden Anlage des Menschen ist. Insofern versteht sich das Naturrecht eigentlich als ein Vernunft- oder Kulturrecht. Zum anderen ist der Mensch von seiner Sittlichkeit dazu befähigt, die politisch-staatliche Ordnung in Freiheit und gemäß den historisch-kontingenten Bedingungen auszugestalten. Die naturrechtlichen Normen sind notwendigerweise entwurfs- und gestaltungsoffen.31
3. Solidarität – Subsidiarität – Gemeinwohl
Maßgebend für die konkrete Rechts- und Staatsordnung ist das Wohl des Volkes. Diesem schon der Antike bekannten obersten Rechtsgrundsatz fügte die Katholische Soziallehre das Prinzip der Solidarität hinzu, das zum einen die Sozialität der Person und ihre Gemeinverhaftung zum Ausdruck bringt (Solidarität als Seinsprinzip). Zum anderen wird darunter die gegenseitige Abhängigkeit und Verpflichtung des Einzelnen in Bezug auf die Gruppen und die Gesamtheit verstanden. Das Solidaritätsprinzip betont die Freiheit des Einzelnen, zugleich aber auch dessen Verantwortung für die Mitmenschen (Solidarität als Rechtsprinzip). So ist der Mensch auf das Wohl der Gesellschaft verwiesen, die ihrerseits dem Wohl des Einzelnen verpflichtet ist. Aus dem Solidaritätsprinzip, das den Anspruch geschuldeter Gerechtigkeit den anderen gegenüber intendiert, leiten sich folglich die gesamten Rechtsansprüche des Gemeinwesens ab. Die Ambivalenz von Eigenverantwortung und sozialer Verpflichtung führt konsequenterweise zum Subsidiaritätsprinzip. Das Subsidiaritätsprinzip, auch als Prinzip der ergänzenden Hilfeleistung oder als Zuständigkeitsprinzip bezeichnet, ist gegen jegliche Form von Etatismus gerichtet; es will vor allem die vom Totalitarismus bedrohten oder zerschlagenen intermediären Gebilde zwischen Einzelnem und Staat beleben und stärken. Das Subsidiaritätsprinzip betont entsprechend dem personalistischen Grundsatz den Vorrang des Einzelnen und der kleineren Einheiten gegenüber den übergeordenten Einheiten bis hin zum Staat. Dessen Zuständigkeit und Hilfe ist nur dann angesagt, wenn die Einzelnen und die kleineren Einheiten die jeweiligen Aufgaben nicht oder nicht ausreichend erfüllen können. Das Subsidiaritätsprinzip, das auch im säkularen Staats- und Gesellschaftsdenken große Resonanz gefunden hat (u. a. in EU-Verträgen), stellt somit eine Richtlinie zur Erhaltung freier Initiative und zur Wahrung des Gemeinwohls dar.
30 Otto Kimminich, Der Staat als Organismus: Ein romantischer Irrglaube, in: Fried Esterbauer / Helmut Kalkbrenner u. a. (Hrsg.), Von der freien Gemeinde zum föderalistischen Europa. FS für Adolf Gasser, Berlin 1983, S. 319 ff., verweist auf die romantischen Einflüsse des Organismusgedankens und seine Aporien. Das Organismusmodell vermag nicht adäquat die Subjektstellung des Einzelnen im pluralistischen Gemeinwesen als Staatsbürger und Grundrechtsträger zum Ausdruck zu bringen. 31 Vgl. Wilhelm Korff, Norm und Gewissensfreiheit, in: ders., Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik, München 1985, S. 95 ff.
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Rudolf Uertz 4. Natürlicher Ordo und menschlicher Willensentscheid
Mit der Betonung des menschlichen Entscheidungswillens als politisch-rechtlichem Faktor steht die katholische Staatlehre in einer gewissen Nähe zur rationalistischen Naturrechtslehre und zur Vertragstheorie. Bereits die spätscholastischen Theologen gingen selbstverständlich von einer willentlichen Beteiligung des Volkes an der Herstellung der konkreten Ordnung aus, wobei die Formen der Zustimmung des Volkes zur Herrschaftsform vielfältig sein konnten. Während der menschliche Wille für die Scholastiker jedoch wesensexplikativ ist, kommt ihm in der Vertragstheorie der Aufklärung (Thomas Hobbes, John Locke u. a.) wesenskonstitutive Bedeutung zu.32 Mit anderen Worten: Die betont individualistische Staatstheorie, die von der Vereinzelung des Menschen ausgeht, muss die Menschen erst durch einen Vertrag zusammenführen. Nach der naturrechtlichchristlichen Auffassung lebt der Mensch als Sozialwesen immer schon in Gesellschaft. Aber auch diese Theorie intendiert vertragliche Elemente, insofern die Gewaltunterworfenen der Ordnung zustimmen müssen. Durch die Verträge oder vertragsähnlichen Formen der Zustimmung (konkludente Handlungen) wird aber nicht das Wesen, sondern die geschichtlich-rechtliche Wirklichkeit des Staates konstituiert.33 Gemäß aristotelisch-thomasischer Auffassung ist die katholische Lehre in der Frage der Staatsordnung neutral: Monarchie, Aristokratie und Demokratie können allesamt legitime Ordnungen sein, sofern sie dem allgemeinen Wohle des Volkes dienlich sind. Für Leo XIII. war die Staatsneutralitätsthese insofern von besonderer Bedeutung, als sie die demokratische Ordnung dort, wo wie sich durchgesetzt hatte, ebenso rechtfertigen konnte wie die noch bestehenden Monarchien. Leo verband die scholastische Volkssouveränitätsthese mit traditionalistischen Argumenten.
5. Personalität und politische Verantwortung
Zweifellos nahm das Lehramt seit Pius XII. zur rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung eine wohlwollendere Haltung ein (u. a. Weihnachtsbotschaften Pius’ XII. 1942 und 1944); doch entfaltete sich in der kirchenamtlichen Lehre erst seit der Sozialethik Johannes’ XXIII. und dem Zweiten Vatikanum eine konsistente politische Ethik, welche auf den Menschenrechtsideen und der Demokratieidee beruht und die das Subsidiaritätsprinzip mit den Rechtszwecken des Staates verknüpft. Wesentliche Elemente der weiterentwickelten politischen Ethik – der Begriff politische Ethik hat den der katholischen Staatslehre abgelöst – sind die Inkorporierung der Menschenrechte in die katholische Sozialethik,34 die Anerkennung der Religionsfreiheit, die systematische Unterscheidung zwischen Moral und Recht sowie die Anerkennung der (relativen) Autonomie der Kultursachgebiete (vgl. Gaudium et spes, Nr. 73 – 76; Dignitatis humanae, Nr. 1 ff.).35 Gemäß dem Duktus der christlichen So32 Johann Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts. Untersuchungen zur Geschichte der Rechts- und Staatslehre, Wien 1932, S. 82. 33 Vgl. Sutor, Politische Ethik, S. 136. 34 Vgl. v. Nell-Breuning, Soziallehre (Anm. 23), S. 101 ff. 35 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Einleitung zu: Zweites Vatikanisches Ökumenisches Konzil: Erklärung über die Religionsfreiheit, Münster 1968, S. 5 ff.
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zialethik kann man zur Weiterentwicklung und Neuorientierung der katholischen Staatslehre seit Johannes XXIII. und dem Konzil sagen, „dass die Lehre von den Menschenrechten die alte Naturrechtslehre von der vorgegebenen Ordnung abgelöst hat; anders gesagt, dass die Menschenrechte die gesellschaftlich wirksame und zeitgemäße Form der Naturrechtslehre darstellen. Die Menschen haben gegeneinander Rechte und Pflichten nicht erst als Glieder ,natürlich’ gedachter Ordnungen, Stände, Gemeinschaften. Sie haben vielmehr Rechte und Pflichten als Personen, die frei und selbstverantwortlich sind, sich aber in dieser Freiheit nur im Miteinander entfalten können. Die zu gestaltende gesellschaftliche und politische Ordnung muss deshalb dem Grundprinzip der Personalität und den darin begründeten weiteren Sozialprinzipien entsprechen. Die Menschenrechte werden dabei, weil in der Personalität gründend, zu den konkreteren, geschichtlich wirksamen Kriterien dieser Ordnung.“36
6. Aktualität christlicher Sozialethik
Das Zweite Vatikanum hat mit seinen Staatsaussagen den naturrechtlich-schöpfungstheologischen Ansatz nicht preisgegeben, doch war es „bei betonter Verweisung auf das Neue Testament um eine tiefere, gesamtgesellschaftlich bezogene theologische Durchdringung bemüht. ( . . . ) Dass die katholische Staatslehre auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil vom Freiheitsprinzip her für die Probleme und Ordnungsaufgaben einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft geöffnet wurde und dass die Kirche ihre Stellung in der Welt nicht mehr primär bestimmt sieht durch die rechtlich-institutionellen Regelungen ihres Verhältnisses zu den einzelnen Staaten, das macht auf dem Felde der katholischen Staatslehre den konziliaren Ertrag aus, der das überkommene Erbe in eine neue Dimension weist, die noch in vielfacher Hinsicht seitens der Kirche der theoretischen Reflexion und der praktischen Bewältigung bedarf.“37 Bedeutsam für die weitere Entwicklung ist die politische Ethik Johannes Pauls II.38 Mit seinen personalistisch-theologischen Vorstellungen hat er nicht zuletzt die Grundlagen für eine Ethik der Solidarität gelegt, die vor allem die polnischen Katholiken in ihrem Kampf gegen den Atheismus und die kommunistische Staatsideologie ins Feld führten.39 So hat sich in den letzten Jahrzehnten durch den konziliaren Prozess und die Lehre Johannes Pauls II. eine verstärkt auch von der Bibel beeinflusste theologische Betrachtung des Staates und des politischen Gemeinwesens entwickelt. Über die naturrechtlichen Vorstellungen hinaus treten in den neueren sozialethischen Dokumenten der Kirche die theologische Begründung der Menschenrechte sowie der Eschatologiegedanke stärker in den Vordergrund.40
Vgl. Sutor, Politische Ethik, S. 150. Isensee / Mikat, Staat, Sp. 162. 38 Vgl. „Redemptor hominis“ (1979), „Laborem exercens“ (1981) und „Centesimus annus“ (1991). 39 Jozef Tischner, Ethik der Solidarität, Graz 1982 (polnisch: Krakau 1981). 40 Vgl. Konrad Hilpert, Die Menschenrechte. Geschichte, Theologie, Aktualität, Düsseldorf 1991. 36 37
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Naturrecht – Menschenrechte – Positives Recht Der Beitrag der katholischen Kirche zur Rechtskultur in pluralistischer Gesellschaft Von Markus Graulich
„Der Kirche kommt es zu, immer und überall die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern.“1 Diese programmatische Feststellung gibt den Rahmen an, innerhalb dessen sich der Beitrag der katholischen Kirche zur Rechtskultur in pluralistischer Gesellschaft entfaltet. Vor dem Hintergrund der Anerkenntnis der recht verstandenen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten, d. h. auch des weltlichen Rechts, bringt die Kirche das christliche Menschenbild als Paradigma des Verhältnisses von Rechtsordnung und Wertordnung in den gesellschaftlichen Diskurs ein und versucht, dem ethischen Relativismus, der seine Auswirkungen auch im Feld der Gesetzgebung hat, in der Tradition des Naturrechts und seinem Ausdruck in den Menschenrechten zu begegnen und dabei zugleich einen Beitrag zur Reinigung der Vernunft zu leisten, d. h. eine Gesetzgebung zu ermöglichen, die ihre vorpositiven Grundlagen nicht von vorneherein ausschließt.
I. Die Autonomie der irdischen Wirklichkeit In seiner Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes, trifft das Zweite Vatikanische Konzil im Hinblick auf das Verhältnis von Kirche und Staat einige grundlegende Aussagen, welche auch den Rahmen dessen abstecken, was in der Perspektive der katholischen Kirche das Verhältnis von Recht und Religion, von Kirche und staatlicher Gesetzgebung angeht. Zunächst einmal wird vom Konzil die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten, d. h. die Tatsache festgestellt, dass die menschliche Gesellschaft eigene Gesetzmäßigkeiten hat, denen sie unterliegt. Diese Autonomie wird von der Kirche anerkannt und gefördert, ohne dass sich die Kirche dabei an ein gesellschaftliches, wirtschaftliches oder politisches System bindet.2 Auf diese Weise hat die Kirche jene Unterscheidung von weltlicher Ordnung und Heilsordnung, von Politik und Religion, von Herrschaft und Heil, welche schon im Can. 747 § 2 CIC. Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Nr. 36 und Nr. 76; Kompendium der Soziallehre der Katholischen Kirche, Nr. 45; Anton Losinger, „Iusta autonomia“. Studien zu einem Schlüsselbegriff des II. Vatikanischen Konzils, Paderborn u. a. 1989. 1 2
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Judentum grundgelegt ist, anerkannt, weiter ausgebaut und auf die Realitäten einer pluralistischen Gesellschaft bezogen. Vor diesem Hintergrund wird es möglich, auch die Autonomie und Unabhängigkeit zwischen Kirche und Staat in den rechten Zusammenhang zu stellen, sowie deren Aufgaben und Zuständigkeiten auf den verschiedenen Feldern des menschlichen Zusammenlebens voneinander zu unterscheiden.3 „Wird aber mit den Worten ,Autonomie der zeitlichen Dinge‘ gemeint, dass die geschaffenen Dinge nicht von Gott abhängen und der Mensch sie ohne Bezug auf den Schöpfer gebrauchen könne, so spürt jeder, der Gott anerkennt, wie falsch eine solche Auffassung ist. Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts. Zudem haben alle Glaubenden, gleich, welcher Religion sie zugehören, die Stimme und Bekundung Gottes immer durch die Sprache der Geschöpfe vernommen. Überdies wird das Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes unverständlich.“4
Gleichzeitig mit dieser Mahnung, der Theonomie in der Autonomie den rechten Platz zu geben, erinnert das Konzil auch daran, dass Kirche und Staat, „wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen [dienen]. Diesen Dienst können beide zum Wohl aller um so wirksamer leisten, je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen; dabei sind jeweils die Umstände von Ort und Zeit zu berücksichtigen. Der Mensch ist ja nicht auf die zeitliche Ordnung beschränkt, sondern inmitten der menschlichen Geschichte vollzieht er ungeschmälert seine ewige Berufung. Die Kirche aber, in der Liebe des Erlösers begründet, trägt dazu bei, dass sich innerhalb der Grenzen einer Nation und im Verhältnis zwischen den Völkern Gerechtigkeit und Liebe entfalten. Indem sie nämlich die Wahrheit des Evangeliums verkündet und alle Bereiche menschlichen Handelns durch ihre Lehre und das Zeugnis der Christen erhellt, achtet und fördert sie auch die politische Freiheit der Bürger und ihre Verantwortlichkeit.“5
II. Das christliche Menschenbild Die Unterscheidung von Kirche und Staat, Rechtsordnung und Heilsordnung und die recht verstandene Autonomie der irdischen Wirklichkeiten schließt also nicht aus, dass die Kirche die christliche Botschaft verkündet, und damit auch ein von dieser Botschaft bestimmtes Bild vom Menschen, von jenem Wesen und der Identität, die Gott dem Menschen geschenkt hat, die sich der Mensch im Gewissen zu Eigen machen und durch freie Entscheidungen im Lauf seines Lebens entfalten kann. Das christliche Menschenbild wirkt sich daher zunächst im konkreten Verhalten der Christen aus, fängt aber im Lauf der Jahrhunderte an, verschiedene Bereiche des menschlichen Zusammenlebens zu beeinflussen, d. h. „deutliche Spuren in der Geschichte des modernen Rechtsstaats, Sozialstaats, Kulturstaats“ zu hinterlassen.6 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, Nr. 76; Kompendium Nr. 424. Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, Nr. 36; vgl. Kompendium Nr. 46. 5 Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, Nr. 76; vgl. Kompendium Nr. 425. 6 Hans Maier, Demokratischer Verfassungsstaat ohne Christentum – was wäre anders?, in: Manfred Brocker / Tine Stein (Hrsg.), Christentum und Demokratie, Darmstadt 2006, S. 15 – 18, hier S. 22; vgl. Paolo Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, München 2003. 3 4
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Dem Christentum gelingt es auf diese Weise, allmählich die unterschiedlichen Traditionen der Völker unter Einschluss der Rechtstraditionen miteinander zu verbinden und damit Ethik, Lebenswelt und Gesetzgebung zu prägen.7 „Ohne die Zutaten des jüdischen und christlichen Denkens und seiner sozialen und institutionellen Vergemeinschaftungsstrukturen hätte sich die spezifische Form einer politischen Ordnung mit beschränkter Zuständigkeit, deren Zweck der Schutz der menschlichen Würde ist, nicht herausbilden können.“8 Dies gilt z. B. im Hinblick auf die auf der Überzeugung der Gleichheit der Menschen auf Grund der Gottebendbildlichkeit beruhende Solidarität, die im Laufe der Zeit zum Fundament der politischen Ordnungsvorstellungen geworden ist.9 Kirche und Staat, kirchliche und staatliche Rechtsordnung, dienen beide dem Menschen und seiner zeitlichen und ewigen Berufung. Die Kirche trägt zu einer Rechtskultur und zur Kultur der Demokratie bei, indem sie daran erinnert, dass der Mensch sich nicht auf die diesseitigen Aspekte des Lebens beschränken lässt, sondern von einer transzendenten Wahrheit getragen wird, die ihm erst vollständig sein Ziel erschließt. „Wenn die transzendente Wahrheit nicht anerkannt wird, dann triumphiert die Gewalt und jeder trachtet, bis zum Äußersten von dem ihm zur Verfügung stehenden Mittel Gebrauch zu machen, um ohne Rücksicht auf die Rechte des anderen sein Interesse und seine Meinung durchzusetzen. Menschen werden da nur insoweit respektiert, als sie als Werkzeug für egoistische Ziele dienen. Die Wurzel des modernen Totalitarismus liegt also in der Verneinung der transzendenten Würde des Menschen, der ein sichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes ist. Aufgrund dieser seiner Natur ist der Mensch Subjekt von Rechten, die niemand verletzen darf: weder der einzelne, noch die Gruppe, die Klasse, die Nation, oder der Staat. Auch die gesellschaftliche Mehrheit darf das nicht tun, indem sie gegen eine Minderheit vorgeht, sie ausgrenzt, unterdrückt, ausbeutet und sie zu vernichten versucht.“10 Freiheit gibt es nicht ohne Verantwortung vor Gott und für den Nächsten. Gott ermöglicht sie und die Rechtsordnung hat sie zu schützen, denn die Rechtsordnung hat den Vollzug der Freiheit zu gewährleisten und zur Konfliktbewältigung in der pluralistischen Gesellschaft beizutragen.11 Aus Sicht der Theologie und der Kirche bleibt hier allerdings die Voraussetzung sicherzustellen: „Menschliche Freiheit und moderne Freiheitskultur erscheinen in ihren Utopien angewiesen auf eine letzte Befreiung zu sich selbst, die menschliche Gesellschaft aus eigener Kraft nicht leisten kann.“12 7 Vgl. Giuseppe Dalla Torre, Europa. Quale laicità? Cinisello Balsamo 2003; Francesco D’Agostino, Giustizia per l’Europa, in: ders. / Fabio Macioce (Hrsg.), Il destino dell’Europa. L’anima dell’Europa e la sua ambiguità, Siena 2006, S. 9 – 17; Roland Minnerath, Wider den Verfall des Sozialen. Ethik im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg i. Br. 2007, S. 12 – 13. 8 Tine Stein, Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt a. M. 2007, S. 13. 9 Vgl. ebd., S. 128. 10 Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus zum hundertsten Jahrestag von Rerum novarum (1. Mai 1991), Nr. 44; vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor über einige grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre (6. August 1993), Nr. 99. 11 Vgl. Josef Römelt, Menschenwürde und Freiheit. Rechtsethik und Theologie des Rechts jenseits von Naturrecht und Positivismus (Quaestiones disputatae 220), Freiburg i. Br. 2006, S. 127 f. 12 Ebd., S. 130.
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Sie sind angewiesen auf die Wahrheit über den Menschen, denn „wenn es keine letzte Wahrheit gibt, die das politische Handeln leitet und ihm Orientierung gibt, [können] die Ideen und Überzeugungen leicht für Machtzwecke missbraucht werden [ . . . ]. Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus.“13 Daher setzen auch Demokratie und Rechtsstaat mit ihren Strukturen der Beteiligung und Mitverantwortung die rechte, d. h. vollständige Sicht des Menschen voraus, die allerdings den demokratischen Prozessen vorausliegt und nicht durch Mehrheitsentscheidungen bestimmt werden kann.
III. Rechtsordnung und Wertordnung In den derzeit vorherrschenden demokratischen Kulturen ist hingegen „die Meinung weit verbreitet, wonach sich die Rechtsordnung einer Gesellschaft darauf beschränken sollte, die Überzeugungen der Mehrheit zu verzeichnen und anzunehmen, und daher nur auf dem aufbauen, was die Mehrheit selber als moralisch anerkennt und lebt. Wenn dann sogar die Meinung vertreten wird, eine allgemeine und objektive Wahrheit sei de facto unannehmbar, würde es die Achtung vor der Freiheit der Bürger – die in einem demokratischen System als die eigentlichen Souveräne gelten – erfordern, dass man auf Gesetzgebungsebene die Autonomie der einzelnen Gewissen anerkennt und daher bei der Festlegung jener Normen, die auf jeden Fall für das soziale Zusammenleben notwendig sind, ausschließlich dem Willen der Mehrheit, welcher Art immer sie sein mag, gerecht wird. Auf diese Weise müßte jeder Politiker in seinem Tun den Bereich des privaten Gewissens klar von dem des öffentlichen Verhaltens trennen.“14 Dagegen setzt die Kirche die Überzeugung, dass ethischer Pluralismus nicht die Bedingung für die Demokratie oder die Autonomie der Gesetzgebung ist, auch wenn gegenwärtig „die Bürger einerseits für ihre eigenen moralischen Entscheidungen die totale Autonomie einfordern und die Gesetzgeber andererseits meinen, diese Entscheidungsfreiheit zu respektieren, wenn sie Gesetze beschließen, die von den Prinzipien der natürlichen Ethik absehen und kulturellen oder moralischen Einstellungen nachgeben, die mehr oder weniger in Mode sind, als ob alle möglichen Auffassungen über das Leben den gleichen Wert hätten.“15 Die Kirche tritt gegen alle Formen des ethischen Relativismus und für die Verteidigung des Wertes, der Würde und der Rechte der menschlichen Person ein. „Grundlage dieser Werte können nicht vorläufige und wechselnde Meinungsmehrheiten sein, sondern nur die Anerkennung eines objektiven Sittengesetzes, das als dem Menschen ins Herz geschriebene Naturgesetz normgebender Bezugspunkt eben dieses staatlichen Gesetzes ist. Wenn infolge einer tragischen Trübung des Gewissens der Skeptizismus schließlich sogar die Grundsätze des Sittengesetzes in Zweifel zöge, würde selbst die 13 Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, a. a. O., Nr. 46; vgl. ders., Enzyklika Veritatis splendor, a. a. O., Nr. 101. 14 Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens (25. März 1995), Nr. 69. 15 Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), Nr. 2.
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demokratische Ordnung in ihren Fundamenten erschüttert, da sie zu einem bloßen Mechanismus empirischer Regelung der verschiedenen und gegensätzlichen Interessen verkäme.“16 Für die Kirche gründet politische Freiheit nicht im Relativismus. Wenn es um den Menschen und seine Würde geht, besitzt nicht jede Auffassung den gleichen Wert. „Es ist nicht Aufgabe der Kirche, konkrete Lösungen – oder gar ausschließliche Lösungen – für zeitliche Fragen zu entwickeln, die Gott dem freien und verantwortlichen Urteil eines jeden überlassen hat. Es ist freilich Recht und Pflicht der Kirche, moralische Urteile über zeitliche Angelegenheiten zu fällen, wenn dies vom Glauben und vom Sittengesetz gefordert ist. Der Christ ist gehalten, berechtigte Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Ordnung irdischer Dinge anzuerkennen. Zugleich ist er gerufen, sich von einer Auffassung des Pluralismus im Sinn eines moralischen Relativismus zu distanzieren, die für das demokratische Leben selbst schädlich ist. Dieses braucht wahre und solide Fundamente, das heißt ethische Prinzipien, die auf Grund ihrer Natur und ihrer Rolle als Grundlage des sozialen Lebens nicht ,verhandelbar‘ sind.“17 Jede Rechtsordnung, „ob sie es will oder nicht lenkt den Blick auf vorrechtliche, aber rechtlich relevante Tatbestände. Nun sind Recht und Sittlichkeit bleibend unterschieden, sie dürfen nicht miteinander vermengt werden. Beide verfolgen unterschiedliche Zwecke, die nicht ohne weiteres deckungsgleich sind [ . . . ] beide Bereiche überlappen einander, aber die eine erschöpft sich nicht in der anderen.“18 Legalität und Moralität sind zu unterscheiden, ohne dass dabei allerdings eine Perichorese auszuschließen wäre.19 Ohne die Beziehung zu einer vorpositiven Wertordnung würde jede Rechtsordnung ihren Referenzpunkt verlieren. „Recht ist mehr als seine positivistische Setzung, es bezieht seine Geltung nicht allein aus der Macht sich durchzusetzen.“20 Ob nun diese vorpositive Ordnung als Naturrecht oder in anderer Weise bezeichnet wird, hängt von unterschiedlichen Traditionen des Denkens ab. Die Kirche argumentiert vom Naturrecht aus, und zwar etsi Deus daretur. IV. Naturrecht Die präpositive Ebene des positiven Rechts, welche im Naturrecht21 zum Ausdruck gebracht wird, hat ihren Grund zunächst im Wesen bzw. in der Natur des Menschen und in den mit dem Personsein und der Würde des Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes unveräußerlich verbundenen natürlichen Rechten und Pflichten. Um bei der UmJohannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, a. a. O., Nr. 70. Kongregation für die Glaubenslehre, a. a. O., Nr. 3. 18 Klaus Demmer, Angewandte Theologie des Ethischen (StThE 100), Freiburg i. Br. 2003, S. 255. 19 Vgl. ebd., S. 255, Anm. 36; vgl. ders., Fundamentale Theologie des Ethischen (StThE 82), Freiburg i. Br. 1999, S. 228 – 229. 20 Klaus Demmer, Angewandte Theologie, a. a. O., S. 255 – 256. 21 Vgl. zu den folgenden Abschnitten: Klaus Demmer, Christliche Existenz unter dem Anspruch des Rechts. Ethische Bausteine der Rechtstheologie (StThE 67), Freiburg i. Br. 1995; Eberhard Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, Mainz 1996; Brian Thierney, L’idea dei diritti naturali. Diritti naturali, legge naturale e diritto canonico 1150 – 1625, Bologna 2002. 16 17
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schreibung des Naturrechts naturalistische Fehlschlüsse (eine Gefahr, auf welche die heutige Diskussion um das Naturrecht in besonderer Weise hinweist) zu verhindern, ist festzuhalten, dass die Natur des Menschen nicht mit seinem faktischen Verhalten identisch, sondern als Gabe, Vorgabe und Aufgabe und damit als zu verwirklichender sittlicher Wert zu verstehen ist. Normative Relevanz im Sinne der vorpositiven Ordnung gewinnt die Natur über die Reflexion, d. h. über die Integration der Erfahrung in den Zusammenhang eines von der umfassenden Anthropologie bestimmten Interpretationsrahmens, wodurch der Mensch in die Lage versetzt wird, das Worumwillen seiner Existenz in der Geschichte deutend zu erkennen und auf diese Weise eine Vorstellung gelingenden Lebens zu entwerfen, die wiederum Konsequenzen für das Handeln nach sich zieht. Erkenntnisprinzip des Naturrechts ist die vom Glauben erleuchtete Vernunft, welche die Natur und die natürlichen Neigungen (inclinationes naturales) des Menschen, die zwar nicht in sich normativ, aber insofern normativ relevant sind, als sie eine bestimmte Richtung vorgeben, deutet, um zum Wesen und den unwandelbaren Prinzipien des Handelns (primäres Naturrecht) vorzustoßen, ohne dabei in Empirie aufzugehen. Dieses primäre Naturrecht (etwa das Prinzip, das Gute zu tun und das Schlechte zu meiden, oder das Prinzip der sogenannten Goldenen Regel) ist allgemeingültig und unwandelbar, d. h. es gilt für alle Menschen und zu allen Zeiten. Die auf diese Weise gewonnenen obersten Prinzipien, die wiederum ein bestimmtes Natur-, Welt- und Menschenbild erkennen lassen, ermöglichen konkrete, normative Schlussfolgerungen (Determinationen) im Hinblick auf das seinem Wesen entsprechende Handeln des Menschen (sekundäres Naturrecht). Vor dem Hintergrund der Prinzipien und der Schlussfolgerungen des Naturrechts werden die einzelnen positiven Rechtsnormen formuliert, in denen sich das Naturrecht zum Ausdruck bringt, ohne in ihnen aufzugehen. Diese Normen sind auf eine Wirklichkeit bezogen, die der Veränderung unterworfen ist, und leiten das Handeln in einer konkreten geschichtlichen Epoche, weshalb sie der Überprüfung und ggf. der Veränderung bedürfen. Die Umsetzung des Naturrechts hat daher im Rahmen einer Hermeneutik zu erfolgen, die eine metaphysische Erstarrung verhindert und in der Lage ist, auch die gesicherten Erkenntnisse humanwissenschaftlichen Bemühens mit einzubeziehen. Der Rückbezug auf das Naturrecht, der heute vor allem im Hinblick auf die Würde des Menschen und die Menschenrechte erfolgt, trägt auf diese Weise zu einer den reinen Rechtspositivismus überwindenden Begründung der Rechtsordnung bei und stellt zugleich insofern deren kritische Grenze dar, als eine Norm, die dem Naturrecht widerspricht, der Grundlage entbehrt. Die Kirche tritt für die Beachtung des Naturrechts als unverzichtbaren Maßstab des Rechts vor allem da ein, wo die Würde und die natürlichen Rechte des Menschen (vor allem der Schwächsten) auf dem Spiel stehen. Das Naturrecht in Reinform ist also dem Menschen nicht zur Hand. Es hat sich gebrochen in der Vielfalt von Weltanschauungen und Menschenbildern, die auf ihre Grundlage, auf ihre Voraussetzung und auf ihre Geschichte hin zu befragen sind.22 „Das Naturrecht ist ein Gesetz ethischer Art. Es ist jene Dynamik, die den Menschen dazu 22
Vgl. Klaus Demmer, Angewandte Theologie, a. a. O., S. 278.
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bringt, die eigene Bestimmung zu verwirklichen. Die Aussage, es gebe ein Naturrecht, meint demnach, dass eine erkennbare ethische Ordnung existiert,“23 d. h. dass es eine Grenze gibt zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen, jenseits derer die Willkür und die Spiele der Macht beginnen.
V. Menschenrechte als Ausdruck des Naturrechts Die Entwicklung hat gezeigt, dass heute die naturrechtliche Tradition eher in Gestalt der Menschenrechte in Erscheinung tritt. Sie haben ihre Grundlage im Naturrecht und „werden immer mehr als gemeinsame Sprache und ethisches Substrat der internationalen Beziehungen dargestellt. Zugleich dienen die Universalität, die Unteilbarkeit und die gegenseitige Abhängigkeit der Menschenrechte als Garantien für die Wahrung der Menschenwürde.“24 Die Menschenrechte ohne ihre Verwurzelung im Naturrecht zu betrachten, „würde bedeuten ihre Reichweite zu begrenzen und einer relativistischen Auffassung nachzugeben, derzufolge Bedeutung und Interpretation dieser Rechte variieren könnten und derzufolge ihre Universalität im Namen kultureller, politischer, sozialer und sogar religiöser Vorstellungen verneint wird. Die große Vielfalt der Sichtweisen ist kein Grund um zu vergessen, dass nicht nur die Rechte universal sind, sondern auch die menschliche Person, die das Subjekt dieser Rechte ist.“25 Gerade die Würde des Menschen verdankt sich nicht der positiv-rechtlichen Setzung, sondern hat ihre Wurzeln in der aus christlicher Tradition stammenden Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Daher ist vor dem Hintergrund heutiger Diskussionen nicht nur im Bereich der Bioethik und Biopolitik zu fragen, „ob ein rein rechtspositives und nicht-metaphysisches Verständnis des Menschenwürdeprinzips die Last tragen kann, ein ,Reich der Unverfügbarkeit‘ zu begründen, welches die Freiheitssphäre der Grundrechtsträger wirksam zu schützen vermag.“26 Menschenrechte sind Ausdruck der Gerechtigkeit und nicht der Gesetzlichkeit oder bloß des Willens der Gesetzgeber. „Die Erfahrung lehrt uns, dass sich die Gesetzlichkeit oft der Gerechtigkeit gegenüber durchsetzt, wenn das Beharren auf Rechte diese als ausschließliches Ergebnis legislativer Maßnahmen oder normativer Entscheidungen der Einrichtungen derjenigen erscheinen lässt, die an der Macht sind. Wenn sie bloß in Begriffen der Gesetzlichkeit dargestellt werden, laufen Rechte Gefahr, schwache Aussagen zu werden, die von der ethischen und rationalen Dimension gelöst sind, die ihr Fundament und Ziel ist.“27 Der spezifische Beitrag der Kirche liegt darin, diese Grundlage sicherzustellen, denn „die Kirche versteht sich als Platzhalterin der ,conditio humana‘.“28 Sie erkennt an, dass 23 24 25 26 27 28
Roland Minnerath, a. a. O., S. 25. Benedikt XVI., Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, 18. April 2008. Ebd. Tine Stein, a. a. O., S. 15 – 16; vgl. Roland Minnerath, a. a. O., S. 26 – 30. Benedikt XVI., Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, 18. April 2008. Klaus Demmer, Angewandte Theologie, a. a. O., S. 283.
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es verschiedene Wege gibt, um die Grundwerte zu verwirklichen, welche nicht verhandelbar sind. Aber sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt, dessen Rechte zu schützen und zu verteidigen sind – von der Empfängnis bis zum natürlichen Ende seines Lebens. Und die Werte, welche die Würde der menschlichen Person schützen und zum Ausdruck bringen, werden nicht durch demokratische Mehrheiten erzeugt, und können daher auch nicht durch Mehrheitsentscheidungen abgeschafft werden; sie werden anerkannt. Daher ist es „keinem Gläubigen gestattet, sich auf das Prinzip des Pluralismus und der Autonomie der Laien in der Politik zu berufen, um Lösungen zu begünstigen, die den Schutz der grundlegenden ethischen Forderungen für das Gemeinwohl der Gesellschaft kompromittieren oder schwächen. Es handelt sich dabei nicht um ,konfessionelle Werte‘, denn diese ethischen Forderungen wurzeln im menschlichen Wesen und gehören zum natürlichen Sittengesetz.“29 Hier ist zu berücksichtigen, was die Bibel an Erfahrung mit einbringt: Schöpfung, Mensch als Ebenbild Gottes, die Gebote usw. Vor diesem Hintergrund erinnert die Kirche die Gesellschaft und die Gesetzgeber daran, dass „nur im Mysterium des fleischgewordenen Wortes das Mysterium des Menschen wahrhaft klar wird. [ . . . ] Christus [ . . . ] macht [ . . . ] dem Menschen selbst den Menschen voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung.“30 Die Unverfügbarkeit der Rechte, welche in der Würde des Menschen ihre Grundlage haben, steht also in der Tradition jüdisch-christlichen Denkens vor dem Hintergrund des in Gesetz und Evangelium ergangenen Wortes Gottes. „Für die historische Entwicklung und den Durchbruch der Idee der Menschenrechte als vorstaatliche, staatlicher Verfügungsgewalt entzogene Rechte, die der Staat nicht erst begründet, sondern gewissermaßen vorfindet und anerkennt, ist dieses biblische Denken eine wesentliche gedankliche Voraussetzung.“31 So kommt es auch im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus im 20. Jahrhundert immer mehr dazu, dass die Kirche sich zum Fürsprecher der Menschenrechte macht. Zunächst steht das Lehramt der Kirche ihnen eher skeptisch gegenüber. „Im Grunde vollzog die Neuzeit, was das Christentum angebahnt, aber selber nicht zustande gebracht hatte und in der Neuzeit nicht mehr mitzuvollziehen bereit war.“32 Das Lehramt der Päpste greift daher die Idee der Menschenrechte zunächst sehr zögernd auf, da sie vom Liberalismus und Laizismus vorgetragen und zum Teil mit antikirchlichen Ideen verbunden wurde. In den Enzykliken Leos XIII. Immortale dei33 und Rerum novarum,34 sowie in den Enzykliken Quadragesimo anno35 und vor allem Divini Kongregation für die Glaubenslehre, a. a. O., Nr. 5. Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, Nr. 22; Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor hominis zum Beginn des päpstlichen Amtes (4. März 1979), Nr. 10; vgl. Kompendium der Soziallehre der Katholischen Kirche Nr. 41; Nr. 105; Nr. 121. 31 Tine Stein, a. a. O., S. 110; vgl. Frank Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte der alttestamentlichen Gesetze, 3. Aufl., Gütersloh 2005. 32 Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, 2. Aufl., Münster 2007, S. 199. 33 Leo XIII., Enzyklika Immortale dei über die christliche Idee des Staates (1. November 1885). 34 Leo XIII., Enzyklika Rerum novarum über die Arbeiterfrage (15. Mai 1891). 35 Pius XI., Enzyklika Quadragesimo anno über die soziale Ordnung (15. Mai 1931). 29 30
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redemptoris36 Pius’ XI. erfolgt dann die Rezeption und zugleich die christliche Verankerung der Idee der Menschenrechte.37 Pius XI. stellt der Lehre des atheistischen Kommunismus die Haltung und Lehre der Kirche entgegen, die ihren Ausgang von Gott nimmt und von ihm her den Menschen38 und die Rechte versteht, die aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen folgen (Recht auf Leben und Unversehrtheit, Recht, sich auf Gott hin auszurichten, Recht zur Versammlung, Recht auf Eigentum usw.). Die Gesellschaft, so Pius XI., steht im Dienst des Menschen und hat ihm bei der Erreichung seiner Ziele behilflich zu sein. Daher hat sie auch die Rechte, welche der Schöpfer den Menschen gegeben hat und wie sie die Katholische Soziallehre darlegt, zu achten. Das Christentum hat zuerst die Brüderlichkeit und die Würde der Arbeit proklamiert und dazu beigetragen, die menschliche Gesellschaft umzuformen. Im Gegensatz zu den Ideologien, die kommen und gehen, hat die Lehre der Kirche ein solideres Fundament. Auf den Aussagen seines Vorgängers kann Papst Pius XII.39 aufbauen, wenn er feststellt, dass es zwischen dem wahren Humanismus und dem Christentum keinen Gegensatz geben kann. Zeuge dafür ist wiederum die auf dem Naturrecht ruhende Soziallehre der Kirche. Die Kirche kämpft um ihre Freiheit, aber diese Kämpfe „sind ebenso geführt für die wahre Freiheit und für die Grundrechte des Menschen. In ihren Augen sind diese grundlegenden Rechte so unverletzlich, daß gegen sie keine Staatsraison, kein Vorwand des Gemeinwohls in die Waagschale geworfen werden kann. [ . . . ] Doch wer wird diese bedingungslose Achtung vor den Menschenrechten haben, wenn nicht der, welcher bewußt unter den Augen eines persönlichen Gottes handelt.“40 Es ist beständige Lehre der Kirche, „daß die unsterbliche Seele des Menschen, erschaffen nach dem Bilde ihres Schöpfers, ihm eine angeborene Würde und Rechte verleihe, die keine irdische Macht erlaubterweise antasten darf.“41 Daraus folgt, dass der Mensch unabhängig vom Staate gewisse Freiheiten besitzt,42 die nur dann geschützt werden können, wenn man auch die dahinterstehende Freiheit und die Wahrheit über den Menschen annimmt, wie sie der christliche Glaube vermittelt. Teil dieser Wahrheit ist es, dass die Freiheit und die Rechte des Menschen untrennbar mit seinen Pflichten verbunden sind und dieses Gleichgewicht nicht gestört werden darf.43 Pius XI., Enzyklika Divini redemptoris über den atheistischen Kommunismus (19. März 1937). Vgl. Paul Wuthe, Für Menschenrechte und Religionsfreiheit in Europa. Die Politik des Heiligen Stuhls in der KSZE / OSZE (Theologie und Frieden 22), Stuttgart 2002, S. 47 f. 38 Vgl. Pius XI., Enzyklika Divini redemptoris über den atheistischen Kommunismus (19. März 1937) mit Verweis auf ders., Enzyklika Divini illius magister über die christliche Erziehung der Jugend (31. Dezember 1929). 39 Vgl. Heribert Franz Köck, Das Naturrecht und die Menschenrechte bei Pius XII., in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Pius XII. zum Gedächtnis, Berlin 1977, S. 471 – 510. 40 Pius XII., Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses für humanistische Studien am 25. September 1949, in: Arthur-Fridolin Utz / Joseph-Fulko Groner (Hrsg.) [Utz / Groner], Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII., Bd. I (1954), Nr. 356 – 361, hier: Nr. 359. 41 Pius XII., Ansprache an Kongressmitglieder der USA-Regierung am 4. Dezember 1949, in: ebd., Nr. 362 – 364, hier: Nr. 362. 42 Vgl. Pius XII., ebd., hier: Nr. 363. 43 Vgl. Pius XII., Brief an den Bischof von Augsburg, Dr. Josef Freundorfer, vom 27. Juni 1955, in: Utz / Groner, Bd. III (1961), Nr. 5125. 36 37
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Später greift dann Johannes XXIII. das Thema der Menschenrechte in seiner Enzyklika Pacem in terris auf,44 und über diesen Text werden die Menschenrechte auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil rezipiert. Johannes XXIII. betrachtet in seiner Enzyklika die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von Seiten der Vereinten Nationen „als Stufe und als Zugang zu der zu schaffenden rechtlichen und politischen Ordnung aller Völker auf der Welt [ . . . ]. Denn durch sie wird die Würde der Person für alle Menschen feierlich anerkannt, und es werden jedem Menschen die Rechte zugesprochen, die Wahrheit frei zu suchen, den Normen der Sittlichkeit zu folgen, die Pflichten der Gerechtigkeit auszuüben, ein menschenwürdiges Dasein zu führen.“45 Mit Papst Johannes XXIII. beginnt auf diese Weise die Zeit der „kirchlichen Mitwirkung in der Menschenrechtsbewegung“.46 Heute zählt es die Kirche zu ihren Aufgaben, die Achtung der Menschenwürde zu fördern,47 nicht erstrangig im rechtlichen Bereich, sondern vor allem im Hinblick auf ihre Ausübung. Daher das Eintreten der Kirche für die Achtung der Menschenrechte von Seiten der demokratischen Staaten und für die Sicherstellung dieser Rechte durch das staatliche Gesetz.48 Diese Anerkennung und Umsetzung gibt der Demokratie eine glaubwürdige und solide Grundlage. „Unter den vorrangigsten Rechten sind zu erwähnen: das Recht auf Leben, zu dem wesentlich das Recht gehört, nach der Zeugung im Mutterschoß heranzuwachsen; das Recht, in einer geeigneten Familie und in einem sittlichen Milieu zu leben, das für die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit geeignet ist; das Recht, seinen Verstand und seine Freiheit in der Suche und Erkenntnis der Wahrheit zur Reife zu bringen; das Recht, an der Arbeit zur Erschließung der Güter der Erde teilzunehmen und daraus seinen Lebensunterhalt für sich und die Seinen zu gewinnen; das Recht auf freie Gründung einer Familie und auf Empfang und Erziehung durch verantworteten Gebrauch der eigenen Sexualität. Quelle und Synthese dieser Rechte ist in gewissem Sinne die Religionsfreiheit, verstanden als Recht, in der Wahrheit des eigenen Glaubens und in Übereinstimmung mit der transzendenten Würde der Person zu leben.“49 Die Religionsfreiheit ist allerdings nicht darauf zu beschränken, Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit des Einzelnen zu sein. Die Anerkennung des Menschenrechts der Religionsfreiheit ist zugleich auch ein Zeichen, dass die freiheitlich-demokratische Gesellschaft und Kultur der Religion bedarf, um sie selbst sein zu können, ohne dass dadurch die Unterscheidung zwischen Religion und Staat aufgehoben würde.50 „Der Staat darf die Religion nicht vorschreiben, sondern muss deren Freiheit und den Frieden der Bekenner verschiedener Religionen untereinander gewährleisten; die Kirche als sozialer Ausdruck des christlichen Glaubens hat ihrerseits ihre Unabhängigkeit und lebt aus dem Glauben heraus ihre Gemeinschaftsform, die der Staat achten muss. Beide Sphären sind unterschieden, aber doch aufeinander bezogen.“51 44 Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris über den Frieden unter allen Völkern in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit (11. April 1963), u. a. Nr. 11 – 27. 45 Ebd., Nr. 144. 46 Paul Wuthe, a. a. O., S. 49. 47 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor hominis, a. a. O., Nr. 17; can. 747 § 2 CIC. 48 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, a. a. O., Nr. 71. 49 Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, a. a. O., Nr. 47. 50 Vgl. Josef Römelt, Menschenwürde, a. a. O., S. 133; vgl. Roland Minnerath, a. a. O., S. 90 – 93.
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VI. Reinigung der Vernunft als Beitrag zum öffentlichen Diskurs Wie die Staaten die Sicherung der Menschenrechte vor dem Hintergrund der eigenen Autonomie der demokratischen Ordnung in institutioneller und verfassungsrechtlicher Sicht in Angriff nehmen, ist nicht Sache der Kirche, die sich aus dieser Diskussion im Hinblick auf die konkrete Umsetzung heraushält. Sie weist hin auf die notwendigen Grundlagen und auf die Forderung, das staatliche Gesetz müsse notwendigerweise mit dem Sittengesetz in Einklang stehen,52 wie es auch der Tradition der Rechtstheologie und Ethik entspricht. Die Kirche bietet dem Staat ihre Hilfe an, wenn es darum geht, die Vernunft zu reinigen, d. h. die Ideale der Freiheit und der Demokratie von ihren blinden Flecken zu befreien. „An dieser Stelle berühren sich Politik und Glaube. Der Glaube hat gewiss sein eigenes Wesen als Begegnung mit dem lebendigen Gott – eine Begegnung, die uns neue Horizonte weit über den eigenen Bereich der Vernunft hinaus öffnet. Aber er ist zugleich auch eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst. Er befreit sie von der Perspektive Gottes her von ihren Verblendungen und hilft ihr deshalb, besser sie selbst zu sein. Er ermöglicht der Vernunft, ihr eigenes Werk besser zu tun und das ihr Eigene besser zu sehen. Genau hier ist der Ort der Katholischen Soziallehre anzusetzen: Sie will nicht der Kirche Macht über den Staat verschaffen; sie will auch nicht Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Glauben zugehören, denen aufdrängen, die diesen Glauben nicht teilen. Sie will schlicht zur Reinigung der Vernunft beitragen und dazu helfen, dass das, was recht ist, jetzt und hier erkannt und dann auch durchgeführt werden kann. Die Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist. Und sie weiß, dass es nicht Auftrag der Kirche ist, selbst diese Lehre politisch durchzusetzen: Sie will der Gewissensbildung in der Politik dienen und helfen, dass die Hellsichtigkeit für die wahren Ansprüche der Gerechtigkeit wächst und zugleich auch die Bereitschaft, von ihnen her zu handeln, selbst wenn das verbreiteten Interessenlagen widerspricht. Das bedeutet aber: Das Erbauen einer gerechten Gesellschafts- und Staatsordnung, durch die jedem das Seine wird, ist eine grundlegende Aufgabe, der sich jede Generation neu stellen muss. Da es sich um eine politische Aufgabe handelt, kann dies nicht der unmittelbare Auftrag der Kirche sein. Da es aber zugleich eine grundlegende menschliche Aufgabe ist, hat die Kirche die Pflicht, auf ihre Weise durch die Reinigung der Vernunft und durch ethische Bildung ihren Beitrag zu leisten, damit die Ansprüche der Gerechtigkeit einsichtig und politisch durchsetzbar werden.“53 Diese Verankerung des Gesetzes ist die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, dass das Recht von Macht und Ideologie missbraucht wird.54 Daher soll das Engagement der Politiker im Verfahren der Gesetzgebung möglichst auf die Übereinstimmung mit den Prinzipien der katholischen Moral- und Soziallehre zielen, wenigstens aber auf Schadensbegrenzung bedacht sein, damit die ungerechten Aspekte des Gesetzes begrenzt 51 Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est über die christliche Liebe (25. Dezember 2005), Nr. 28 a. 52 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, a. a. O., Nr. 72. 53 Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, Nr. 28 a. 54 Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an einen Kongress zum Naturrecht, 12. Februar 2007.
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werden können55 und „durch die Politik eine soziale Ordnung entsteht, die gerechter ist und mehr der Würde des Menschen entspricht“.56 Die Kirche will sich nicht an die Stelle des Staates setzen. „Aber sie kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben. Sie muss auf dem Weg der Argumentation in das Ringen der Vernunft eintreten, und sie muss die seelischen Kräfte wecken, ohne die Gerechtigkeit, die immer auch Verzichte verlangt, sich nicht durchsetzen und nicht gedeihen kann. Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muss von der Politik geschaffen werden. Aber das Mühen um die Gerechtigkeit durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse des Guten geht sie zutiefst an.“57
VII. Zusammenschau Die katholische Kirche hat eine Kompetenz, wenn es um die Frage nach dem Woher und dem Wohin des menschlichen Lebens geht, um die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Würde. Daher ist sie im politisch-gesellschaftlichen Diskurs nicht als ein Akteur unter vielen mit konkreten Zielsetzungen zu betrachten. Der Kirche geht es darum, die politische Debatte hin zu öffnen auf die Frage nach dem Sein und nach dem Wesen, die von anderen schon nicht mehr gestellt wird.58 Sie garantiert jene Werte, ohne die Demokratie und eine dem Menschen gerechte Gesetzgebung weder bestehen noch überleben kann. Will sie das zum Wohl des Menschen wahrhaft tun, darf die Kirche nicht darauf verzichten, ihr auf der theologischen Reflexion aus dem Glauben beruhendes Bild vom Menschen – durchaus mit konfessionellem Profil – „gelegen oder ungelegen“ (2 Tim 4,2) zu verkünden, es nicht der Mehrheit anzupassen, um akzeptiert zu werden, und es nicht profaner Plausibilisierungsstrategie zu unterwerfen. Um des Menschen willen muss sie sich da zu Wort melden, wo sie vor dem Hintergrund der Offenbarung und dem aus ihr hervorgehenden Menschenbild Grundsätzliches zu sagen hat, getreu ihrer Aufgabe, „der Politik im konkreten Fall die moralischen Grenzen aus dem Sittengesetz [ . . . ] aufzuzeigen“.59 Um seiner Freiheit willen ist der moderne säkulare Rechtsstaat das Wagnis eingegangen, sich auf Voraussetzungen zu beziehen und zu gründen, welche er selber nicht garantieren kann.60 „Aus dem Glauben der Menschen bezieht der Staat eine seiner tragenden Ressourcen: aus unbedingten, in der Transzendenz wurzelnden Werten speist Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, a. a. O., Nr. 73. Kongregation für die Glaubenslehre, a. a. O., Nr. 6. 57 Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, Nr. 28 a. 58 Vgl. Paul Christopher Manuel / Margaret Macleish Mott, The Latin European Church: „une messe est possible“, in: Paul Christopher Manuel / Lawrence C. Reardon / Clyde Wilcox (Hrsg.), The Catholic Church and the Nation State. Comparative Perspectives, Washington 2006, S. 53 – 68. 59 Otto Depenheuer, Religion als ethische Reserve der säkularen Gesellschaft. Zur staatstheoretischen Bedeutung der Kirche in nachchristlicher Zeit, in: ders. u. a. (Hrsg.), Nomos und Ethos (FS Isensee), Schriften zum Öffentlichen Recht 86, Berlin 2002, S. 20. 60 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politischtheologischen Verfassungsgeschichte 1957 – 2002, Münster 2004, S. 229. 55 56
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sich das Ethos der modernen Gesellschaft. Aber diese Werteprägung der Gesellschaft ist nur mittelbare Wirkung von Religion, kann nicht unmittelbares Anliegen der Kirche sein,“61 um die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten und die Unabhängigkeit von Staat und Kirche nicht zu gefährden.
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Otto Depenheuer, a. a. O., S. 23.
Positivität des Rechts und Naturrecht im katholischen Staatsdenken Von Christoph Schönberger I. Einführung Mit der Positivität des Rechts hat sich das katholische Staatsdenken seit jeher schwer getan. Positives Recht ist das von der zuständigen weltlichen Autorität gesetzte Recht. Dieses Recht führt seine juristische Gültigkeit nicht auf die Übereinstimmung mit kirchlichen Lehren oder allgemeinen Moralprinzipien zurück, sondern auf seine Verabschiedung in den dafür vorgesehenen Verfahren. Ein deutsches Bundesgesetz gilt rechtlich etwa deshalb, weil es im Einklang mit dem Grundgesetz erlassen wurde. Die katholische Staats- und Rechtslehre hat dieser Autonomie des weltlichen Rechts meist skeptisch gegenübergestanden.1 Diese Skepsis beruhte zum einen auf der Inanspruchnahme einer Sonderstellung durch die Kirche, die sich dem weltlichen Recht nicht in gleicher Weise unterworfen sah wie andere Institutionen. Zum anderen lag sie im Anspruch der Kirche begründet, aus Glaube wie Vernunft Prinzipien und Regeln für die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens ableiten zu können, die auch für die weltliche Rechtsordnung verpflichtende Kraft beanspruchten.2 Nach der Französischen Revolution hat sich diese Distanz des Katholizismus zur Positivität des weltlichen Rechts in voller Härte ausgebildet und ist erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schrittweise abgebaut worden. Speziell in Deutschland hat diese Problematik nach der Gründung des kleindeutschen Nationalstaats 1870 / 71 eine besondere Färbung bekommen. Denn mit dem Ende der staatsrechtlichen Verknüpfung zur traditionellen katholischen Vormacht Österreich gerieten die Katholiken im mehrheitlich protestantischen Deutschen Reich in eine neuartige Minderheitssituation. Diese Minderheitssituation, durch den Kulturkampf verschärft und auch verstärkt ins Bewusstsein getreten, hat die Weltsicht der deutschen Katholiken bis weit in das 20. Jahrhundert geprägt und ist auf das katholische Staatsdenken in Deutschland nicht ohne Einfluss geblieben. Eine der Konsequenzen dieser Situation war es etwa, dass Staatsdenken im katholischen Bereich lange Zeit sehr viel mehr Sache der Moraltheologen als der Juristen blieb; es kam zu einer „Sezession des katholischen Staatsdenkens aus dem Zusammenhang des öffentlichen Rechts, ja der deutschen Jurisprudenz über1 Anderes gilt in der Tendenz für das positive Recht der Kirche selbst. Das kanonische Recht „baut seit jeher auf handfesten Positivismus und erweist sich gefeit gegen naturrechtliche Anfechtungen“, wie Josef Isensee einmal allzu pointiert formuliert hat: Isensee, S. 163; zum Verhältnis von Naturrecht und Kirchenrecht zusammenfassend Hollerbach, Katholizismus und Jurisprudenz, S. 295 ff. 2 Als zusammenfassende Darstellung dieser Position ist immer noch lesenswert Heinrich Rommen, Der Staat in der katholischen Gedankenwelt, Paderborn 1935.
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haupt“3. Spezifische Belange und Sachgesetzlichkeiten des positiven Rechts konnten sich durch diesen „Rückzug auf die eigene, umgrenzte katholische Sonderwelt“4 kaum zur Geltung bringen. Seit dieser Zeit ist für das Verständnis der Positivität des Rechts – neben der besonderen Frage des Staat-Kirche-Verhältnisses – in erster Linie die Diskussion über das Verständnis des Naturrechts von Bedeutung. Traditionell ging es hierbei vor allem um sachlich-inhaltliche Anforderungen an die Gestaltung von Rechtsnormen, weniger hingegen um die Legitimation und das Verfahren ihrer Erzeugung. Im 20. Jahrhundert hat sich dann aber auf diesem Feld im katholischen Staatsdenken eine bemerkenswerte Wandlung vollzogen, die der Eigenständigkeit des positiven Rechts deutlich stärker Rechnung trägt als die traditionellen Lehrsysteme des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. II. Vom Recht der Wahrheit zum Recht der Person Das Naturrecht hat eine ehrwürdige Tradition seit der Antike. Unter seinem Namen ist – in sehr verschiedenen Formen, mit großen Diskrepanzen hinsichtlich Inhalt und Begründung5 – immer wieder versucht worden, aus der menschlichen „Natur“ Regeln für die rechtliche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens zu entwickeln. 1. Das neuscholastische Naturrecht des ausgehenden 19. Jahrhunderts und seine Problematik
Speziell im kirchlichen Bereich ist das Naturrecht erst spät, nämlich seit den großen Lehrschreiben Leo XIII. am Ausgang des 19. Jahrhunderts, zu einer lehramtlich sanktionierten Doktrin geworden, die an die aristotelisch-thomistische Tradition anknüpfte. Diese Sanktionierung geschah aus der Defensive heraus: Das Papsttum reagierte auf den Verlust seiner weltlichen Machtstellung durch die italienische Einigung, die starke Renaissance des Naturrechtsdenkens im deutschen Katholizismus geschah unter den Bedingungen der Kulturkampferfahrung.6 Das brachte das neuscholastische Naturrecht des ausgehenden 19. Jahrhunderts7 von vornherein in eine merkwürdige Lage. Es isolierte sich bewusst aus der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussion, behauptete aber zugleich, an dieser mit nicht aus der Offenbarung abgeleiteten Argumenten der „natürlichen“ Vernunft bestimmend teilzunehmen. Dieses Naturrecht trat als überzeitliches Wesensrecht auf. Es ging von einer metaphysischen Wesensnatur des Menschen aus, die als zeitlos und unveränderlich galt. Aus ihr sollten allgemeingültige und jedem geschichtlichen Wandel enthobene normative Aussagen folgen. Das neuscholastische Naturrecht blieb aber nicht bei allgemeinen Grundaussagen stehen, sondern wollte aus ihnen zugleich konkretisierte Handlungsnormen für einzelne Situationen ableiten. Damit geriet es in die Gefahr, historisch Kontingentes für überzeitlich-allgemeingültig Maier, S. 10; dazu auch Hollerbach, Katholizismus und Jurisprudenz, S. 273 f. Maier, S. 10. 5 Klassische Überblicksdarstellungen etwa bei Welzel und Wolf. 6 Dazu Kaufmann, S. 155 ff. 7 Zu dessen wissenschaftlicher Herausbildung (bei Autoren wie Luigi Taparelli in Italien, Theodor Meyer und Viktor Cathrein in Deutschland) am Beispiel des Jesuiten Theodor Meyer eingehend Uertz, S. 193 ff. 3 4
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zu erklären.8 Das augenfälligste Beispiel derartiger Argumentationen war die Verurteilung der Menschenrechte – und hier vor allem der Religions- und Gewissensfreiheit – durch die Päpste des 19. Jahrhunderts. Grundlage hierfür war ein ungeschichtlich-statisches Bild von Staat und Gesellschaft, in dem Recht und Moral letztlich zusammenfielen und dem Irrtum kein Recht gegen die Wahrheit zukommen konnte. Die Verurteilung der Glaubens- und Gewissensfreiheit war eine durchaus folgerichtige Konsequenz eines in sich geschlossenen Gedankensystems.9 Die Kirche forderte die Religionsfreiheit daher nur für sich selbst, nicht aber für andere Glaubensgemeinschaften, und selbst Leo XIII. sah in der Duldung anderer Religionen ein nur unter gewissen Umständen hinzunehmendes Übel.10 Dem Einwand, hier werde mit zweierlei Maß gemessen, hielt Kardinal Ottaviani noch bis zum Zweiten Vatikanum entgegen: „In der Tat, zweierlei Maß und Gewicht ist anzuwenden, das eine für die Wahrheit, das andere für den Irrtum.“11 Das naturrechtliche Gedankensystem führte hier zu einer Vorstellung von Recht, nach der dieses nicht dem Menschen kraft seines Personseins zukam, sondern nur, soweit er in der religiösen und sittlichen Wahrheit stand.12 Die entsprechenden Argumentationen haben außerhalb des katholischen Binnenbereichs nur wenig Resonanz gefunden, von der Sondersituation der deutschen Naturrechtsrenaissance nach dem Zweiten Weltkrieg einmal abgesehen.13 Das Grundproblem des neuscholastischen Naturrechtsgebäudes hat schon der junge Konzilstheologe Joseph Ratzinger prägnant formuliert. An dieser deduktiven Naturrechtssystematik sei „ideologisch“ die Vermischung „vermeintlich reiner Wesenserhellung“ mit einer „kräftige[n] Dosis zeitbestimmter Vorstellungen“.14 Die naturrechtlich argumentierende Katholische Soziallehre habe mit überzeitlichem Anspruch Kontingent-Konkretes behauptet, und hierin liege auch ihre „eigentliche Schwäche“15: „Sie hat Böckenförde, Kirchliches Naturrecht und politisches Handeln, S. 98 ff. Dazu näher Isensee. 10 Vgl. Peter Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII., Mönchengladbach 1925, S. 187 ff. 11 Alfredo Ottaviani, Institutiones juris publici ecclesiastici, Bd. II: Ecclesia et status, 4. Aufl., Rom 1960, S. 55 f. Das Argument ist seit dem Hochmittelalter vertraut und bereits von Papst Innozenz IV. im Hinblick auf das Verhältnis von Christen und Heiden verwendet worden; vgl. James Muldoon, Popes, Lawyers and Infidels. The Church and the Non-Christian World 1250 – 1550, Philadelphia 1979, S. 166. 12 Dazu Böckenförde, Einleitung, S. 8 f. 13 Zu dieser Naturrechtsrenaissance in einem abgewogenen Rückblick Hollerbach, Katholizismus und Jurisprudenz, S. 278 ff. In der zeitgenössischen Rechtsprechung bedeutete einen klaren Schlusspunkt bereits das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Juli 1959 zur Verfassungsmäßigkeit des väterlichen Stichentscheids bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ehepartnern, BVerfGE 10, 59 (81). Das Gericht lehnte es ab, sich bei der verfassungsrechtlichen Prüfung an naturrechtlichen Vorstellungen zu orientieren, zumal angesichts der anzutreffenden „Vielfalt der Naturrechtslehren“: „Für die hier vorzunehmende Prüfung kommt daher als Maßstab nur das Grundgesetz in Betracht.“ 14 Ratzinger, Naturrecht, Evangelium und Ideologie in der katholischen Soziallehre, S. 27: „Gedankengänge der Aufklärung und des Frühkapitalismus, dazu die eigentümliche Welt des Mittelalters, die ihrerseits zu einem nicht unerheblichen Teil auf einer Restauration des Alten Testaments beruht, das man als Gesetzbuch einer christlichen Welt betrachtete, für die das Neue Testament keine hinlänglich deutlichen Normen lieferte. All das, einfach die ganze konkret gewachsene historische Situation, bestimmte unvermeidlich auch die scheinbar rationalen Schlussfolgerungen, die sich von der geschichtlichen Welt nicht ablösen konnten, in der sie sich vollzogen.“ 15 Ratzinger, Naturrecht, Evangelium und Ideologie in der katholischen Soziallehre, S. 29. 8 9
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sich diesem Faktum der Geschichtlichkeit weitgehend entzogen und in abstrakten Formeln eine überzeitliche Sozialdogmatik zu formulieren versucht, die es so nicht geben kann. Nicht dass die besonderen Gegebenheiten des Jahrhunderts mit einflossen, war ein Fehler, sondern dass beides – der Wertungsmaßstab des Evangeliums und die gegebenen Sozialtatsachen – unter das Pseudonym des Naturrechts zusammengezogen wurde und dadurch eine Vermengung von an sich berechtigten Elementen entstand, die es kaum noch gestattete, den einzelnen Komplexen den ihnen zukommenden Platz zu belassen.“ Verstärkt seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist das neuscholastische Naturrecht denn auch wissenschaftlich kritisiert worden und hat die lehramtlichen Äußerungen seit der Enzyklika Pacem in terris Johannes’ XXIII. im Jahr 1963 immer weniger geprägt.16 Der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit vom 8. Dezember 1965 kommt in diesem Prozess eine Schlüsselrolle zu. Denn das Konzil bricht hier endgültig mit dem neuscholastischen Objektivismus. Es begründet die Religions- und Gewissensfreiheit der Person unabhängig von der objektiven Wahrheit der religiösen Überzeugung des Einzelnen oder seinem subjektiven Bemühen um diese Wahrheit. Hierin liegt der grundlegende Schritt vom „Recht der Wahrheit“ zum „Recht der Person“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde).17 Zugleich zieht die Erklärung über die Religionsfreiheit die Unterscheidung von Recht und Moral klarer; das Recht wird so vor einer schlichten Indienstnahme für Moral und Religion geschützt und in seiner eigenständigen Bedeutung, seiner eigenen Wahrheit anerkannt.18 2. Die Schwierigkeit naturrechtlicher Argumentation seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil
Seit dieser grundsätzlichen Neuorientierung durch das Zweite Vatikanum ist freilich die systematische Stellung des Naturrechts im katholischen Kontext unsicher geworden. Zurückhaltend heißt es denn auch in der ersten Enzyklika Benedikts XVI. lediglich, die Soziallehre der Kirche „argumentier[e] von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensmäßig ist“.19 Der Papst verwendet hier im Hinblick auf das Naturrecht eine eher distanzierte Sprache. Die Soziallehre der Kirche gründet sich nicht auf das Naturrecht, sie „argumentiert“ lediglich von dort her.20 In seinem bekannten Münchener Gespräch mit Jürgen Habermas im Januar 2004 hatte der damalige Kurienkardinal Ratzinger noch stärkere Zweifel am traditionellen naturrechtlichen Argumentieren geäußert21: „Das Naturrecht ist – besonders in der 16 Eingehend dazu Uertz, S. 463 ff.; wichtige Beiträge der entsprechenden Debatte bei Böckle / Böckenförde. 17 Böckenförde, Einleitung, S. 9; vgl. auch Uertz, S. 480 ff.: „Vom Gottesrecht zum Menschenrecht“. 18 Hollerbach, Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens, S. 35. 19 Benedikt XVI., Deus caritas est (2005), 28a. 20 Christian Geyer hat insoweit von „haarfeinen Rissen im scheinbar ehernen Vokabular der überkommenen Lehre“ gesprochen: ders., Ratzingers Erste. Fragmente einer Sprache der Liebe: Die neue Enzyklika, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Januar 2006; eine naturrechtsaffirmativere Deutung hingegen bei Lothar Roos, Liebe und Gerechtigkeit, in: Die Neue Ordnung 60 (2006), S. 84 ff. (88 ff.). 21 Ratzinger, Was die Welt zusammenhält, S. 50 f.
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katholischen Kirche – die Argumentationsfigur geblieben, mit der sie in den Gesprächen mit der säkularen Gesellschaft und mit anderen Glaubensgemeinschaften an die gemeinsame Vernunft appelliert und die Grundlagen für eine Verständigung über die ethischen Prinzipien des Rechts in einer säkularen pluralistischen Gesellschaft sucht. Aber dieses Instrument ist leider stumpf geworden . . . Die Idee des Naturrechts setzte einen Begriff von Natur voraus, in dem Natur und Vernunft ineinander greifen, die Natur selbst vernünftig ist. Diese Sicht von Natur ist mit dem Sieg der Evolutionstheorie zu Bruche gegangen . . .“ Ungeachtet derartiger Relativierungen sind Argumentationen mit der Natur des Menschen weiterhin sehr verbreitet22 und schillern häufig zwischen einer vorsichtigen, stärker direktiven als autoritativen Form der Argumentation und dem älteren Absolutheitsanspruch des neuscholastischen Lehrsystems.23 In diesen Unsicherheiten kommt ein fundamentales Problem zum Ausdruck. Besteht der Ertrag der Verabschiedung der Neuscholastik allein in der Anerkennung der eigenständigen Bedeutung des positiven Rechts, bezieht er sich also – bei gleichbleibenden Inhalten – lediglich auf die differenziertere Verzahnung zwischen Naturrecht und positivem Recht? Lag das Problem der traditionellen Lehre also nicht in ihrem Lehrgebäude selbst, sondern nur in dem Versuch, dieses über den moralischen Bereich hinaus auch auf den äußeren weltlichen Bereich zu erstrecken?24 Wäre das der Fall, so könnte das gesamte traditionelle Naturrechtssystem unverändert fortbestehen, wenn denn nur anerkannt wird, dass die Umsetzung seiner Vorgaben in der weltlichen Rechtsordnung den einzelnen Christen nach deren eigenem Gewissen obliegt. Das ließe sich aber wohl nur dann behaupten, wenn naturrechtliches Argumentieren auf einen vorvernünftigen theologischen Kern reduziert würde. Soll das Naturrecht hingegen weiterhin gerade eine Argumentationsform sein, die das Gespräch mit der weltlichen Vernunft ermöglicht und voranbringt, reicht es nicht aus, lediglich seinen Erstreckungs- und Verpflichtungsbereich im Respekt vor der Eigenständigkeit des positiven Rechts zurückzunehmen. Hier muss naturrechtliches Argumentieren selbst auch seine objektivistischen Traditionsformeln kritisch befragen und sie gegebenenfalls aufgeben oder modifizieren. Ansonsten verstünde das Naturrecht die Freiheit, die in der Autonomie des positiven Rechts liegt, nicht als sein eigenes Anliegen, sondern nähme sie lediglich mehr oder minder widerwillig hin.
22 Für die römischen Dokumente vgl. etwa die insgesamt 43 Einträge zu Natur, Naturrecht – Natürliches Recht im Kompendium der Soziallehre der Kirche, S. 509 f. 23 Skeptisch etwa Daniel Deckers in seiner Besprechung des Kompendiums: ders., In mehr als hundert Jahren gewachsen. Ein hilfreicher Überblick über den Stand der katholischen Soziallehre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Februar 2006: „Der Begriff Naturrecht wird in den herangezogenen Texten mit einer an Naivität grenzenden Selbstverständlichkeit gebraucht, die nichts von den schwerwiegenden Anfragen an die philosophischen Prämissen sowie an Theorie und Praxis der Normbegründung erahnen lässt, denen die kirchliche Sozialverkündigung seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert ausgesetzt ist.“ 24 In diese Richtung Böckenförde, Einleitung, S. 11 ff.; ders., Besprechung zu: Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. April 2005: „Nur so lässt sich eine Verbindung von christlicher Wahrheit und Freiheit, die deren Differenz voraussetzt und diese Wahrheit nicht in Freiheit hinein verdampfen lässt, erreichen und erhalten.“
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III. „Ewige Wiederkehr“ des Naturrechts? 1. Zur fortbestehenden Funktion naturrechtlichen Argumentierens
Es wäre nun allerdings zu einfach, aus der Verabschiedung des neuscholastischen Naturrechts auf die Erledigung jeder Form von naturrechtlicher Reflexion schließen zu wollen – jedenfalls dann, wenn diese Reflexion die Autonomie des positiven Rechts achtet, ihm aber kritisch oder legitimierend gegenübertritt.25 Die Überwindung einer spezifischen Form naturrechtlichen Denkens bedeutet nicht automatisch den Abschied von naturrechtlichem Denken überhaupt. Das hieße, den reichen Theorie- und Erfahrungsvorrat zu unterschätzen, den theologisch wie säkular geprägte Naturrechtsvorstellungen der europäischen Entwicklung vermittelt haben. Nicht zuletzt auch die junge deutsche Demokratie hat sowohl in der Weimarer Zeit als auch in der frühen Bundesrepublik durchaus davon profitiert, dass sie mit Argumenten aus der theologisch-naturrechtlichen Tradition gestützt wurde.26 Die Verabschiedung der gesamten naturrechtlichen Tradition hieße auch, sich eine Reflexionsform vorschnell abzuschneiden, die in vielerlei Hinsicht anschlussfähig an moderne Grundlagendiskussionen der praktischen und politischen Philosophie ist, ja vielleicht gerade in diesen Diskussionen ihr Potential heute überhaupt erst entfaltet. Auch der heutige Papst hält es – bei aller Distanz zum traditionellen Naturrecht – durchaus für denkbar, dass eine moderne Reflexion über Menschenrechte und die Grenzen des Menschen die Frage erneuern helfen könnte, „ob es nicht eine Vernunft der Natur und so ein Vernunftrecht für den Menschen und sein Stehen in der Welt geben könne“.27 Freilich sind naturrechtliche Denkformen auch außerhalb der Auseinandersetzung mit dem spezifisch katholischen Naturrecht der Neuscholastik einer wissenschaftlichen Grundsatzkritik unterzogen worden. So hat Niklas Luhmann dem Naturrechtsgedanken einerseits attestiert, nicht schlicht auf scheinbar immer schon Gültiges zu verweisen. Vielmehr habe er in das Recht eine bewusste Unterscheidung zwischen Änderbarem und Unveränderbarem hineingebracht und damit – in einer dialektischen Volte – überhaupt erst die Vorstellung von der Positivität und Änderbarkeit des Rechts, von seiner Zukunftsgerichtetheit möglich gemacht. Andererseits hält Luhmann die Leistungsfähigkeit des Naturrechtsgedankens in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften für erschöpft. Luhmann zufolge ist hier die Funktion des Naturrechtsgedankens auf das positive Recht übergegangen: „Die politisch-administrative Entscheidungspraxis wird nicht mehr durch gesellschaftliche Vorgabe invarianter Normen, sondern durch gesellschaftliche Vorgabe variabler Problemstellungen geführt und in ihrem 25 Vgl. allgemein Seelmann, § 8, S. 135 ff., Rdnr. 2 f.; zur legitimierenden oder kritischen Funktion des Naturrechts klassisch Wolf, S. 197; historisch dazu für den deutschen Sprachraum Diethelm Klippel (Hrsg.), Legitimation, Kritik und Reform. Naturrecht und Staat in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Wien 2000. 26 Zum unterstützenden Beitrag des katholischen Naturrechts für die deutsche Demokratie vgl. für Weimar klassisch Rudolf Smend, Protestantismus und Demokratie (1932), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl., Berlin 1994, S. 297 ff. (308); zu den entsprechenden innerkatholischen Kontroversen näher etwa Hollerbach, Katholizismus und Jurisprudenz, S. 111 ff. Für die frühe Bundesrepublik Manfred Spieker, Die Demokratiediskussion unter den deutschen Katholiken 1949 – 1963, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Katholizismus, Rechtsethik und Demokratiediskussion 1945 – 1963, Paderborn u. a. 1981, S. 77 ff. 27 Ratzinger, Was die Welt zusammenhält, S. 51.
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Belieben eingeschränkt. Als Folge dieser Wendung wird die volle Positivierung des Rechts zugleich notwendig und unbedenklich.“28 Die Frage ist freilich, ob die rechtssoziologische Einsicht in die Vorteile der Vollpositivierung von Recht tatsächlich jede weitergehende naturrechtliche Reflexion erledigt. Sicherlich hat Luhmann darin recht, dass „der Begründungsbedarf, auf den dieser Begriff [der des Naturrechts; d. V.] antworten soll“, nicht „durch gedankenloses Kontinuieren eines Hochtitels der Tradition erfüllt werden kann“29. Und ebenso richtig ist es, die besondere Ideologieanfälligkeit naturrechtlicher Denkformen im Blick zu behalten, ihre Verwendung als bloßes Reflexionsverbot oder pathetische Untermauerung kontingenter Behauptungen, die für den kirchlichen Bereich gerade das neuscholastische Naturrecht so deutlich vor Augen geführt hat. Aber es dürfte voreilig sein, die Funktion des Naturrechts in der Veränderbarkeit des Rechts aufgegangen und aufgehoben zu sehen. Vielmehr antwortet es auch heute auf einen Reflexionsbedarf, wie er in der bemerkenswerten Renaissance rechtsphilosophischen wie ethischen Denkens seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Ausdruck kommt. Dabei wird die Rolle des Rechts in verschiedenen Hinsichten einer prinzipiellen Betrachtung unterzogen,30 die von Gerechtigkeitsfragen bis hin zu den heute so drängenden Regelungsproblemen am Anfang und Ende des menschlichen Lebens reichen kann. Selbstverständlich sind die dabei entwickelten Positionen und Argumentationen Teil der wissenschaftlichen Argumentation und stehen in der wissenschaftlichen Kritik. Und ebenso selbstverständlich besteht auch bei diesen Positionen stets die alte Gefahr, als pures Reflexionsverbot missbraucht zu werden. Dennoch geht es dabei weiterhin um das Bedürfnis nach prinzipieller Selbstverständigung des Menschen über sich selbst und die Regeln des Umgangs mit seinesgleichen, das durch die Vollpositivierung und rasante Änderbarkeit des Rechts nicht erfüllt oder ersetzt wird, ja durch diese wahrscheinlich überhaupt erst mit neuer Dringlichkeit entsteht.
2. Die Schwierigkeit spezifisch christlichen Naturrechtsdenkens
Damit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, was christliches Naturrechtsdenken in spezifischer Weise zu diesem Diskurs beitragen kann. Die Schwierigkeit dieser Frage liegt darin begründet, dass das christliche – und insbesondere das katholische – Naturrechtsdenken in seinen wechselnden Ausformungen stets großen Wert darauf gelegt hat, nicht mit dem Anspruch des Offenbarungsglaubens aufzutreten, sondern mit Argumentationsformen der Vernunft, die auch ohne Anerkennung spezifischer Glaubenswahrheiten zustimmungsfähig sein sollen. Das entspricht auch seinen Wurzeln in der spanischen Spätscholastik des 16. Jahrhunderts, als Autoren wie der Dominikaner Francisco de Vitoria theologische Rechtfertigungen der spanischen Eroberung Lateinamerikas bestritten und ein selbständiges natürliches Existenzrecht der eingeborenen 28 Niklas Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft (1970), in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a. M. 1981, S. 119 ff., S. 150 ff. (Zitat S. 151). 29 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993, S. 517. 30 Beispielhaft immer noch: Günter Ellscheid, Die Verrechtlichung sozialer Beziehungen als Problem der praktischen Philosophie, in: Neue Hefte für Philosophie 17 (1979), S. 37 ff.
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Bevölkerung verteidigten.31 In der Berührung mit der nichtchristlichen Welt erwies sich der abstrahierende Rückgriff hinter die spezifisch christlichen Normen auf einen alle umgreifenden „natürlichen“ Rechtsrahmen als unumgänglich.32 Hier wurden auch bereits erste Versuche unternommen, die Staatsgewalt aus Gründen der vernünftigen Menschennatur auf die Volksgesamtheit zurückzuführen.33 Dem Anspruch nach soll das Naturrecht seither Christen und Heiden, Gläubige und Ungläubige gleichermaßen mit Vernunftgründen erreichen. Diese Grundhaltung führt etwa in heutigen ethischen Diskursen zu einem stärker werdenden Rekurs auf kantisch-transzendentalphilosophische Argumentationsfiguren,34 neben denen spezifisch christliche Motive oder theologische Argumentationsfiguren nur noch in geringem Maß aufscheinen. Man mag dieses Problem vielleicht gering achten, wenn man mit dem heutigen Papst meint, die spezifische Leistung des Christentums liege gerade in der stetigen Verknüpfung von Glaube und Vernunft, in der Läuterung und Klärung des Glaubens im Durchgang durch das Säurebad der Vernunft35 – wie auch umgekehrt in der Bedeutung des Glaubens als „reinigende Kraft für die Vernunft selbst“36. In diesem Sinn hat der damalige Kardinal Joseph Ratzinger in seinem Gespräch mit Jürgen Habermas gesagt: „Ich würde demgemäß von einer notwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion sprechen, die zu gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen.“37 Doch auch im Christentum ist spätestens seit Pascal bewusst, dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nicht der Gott der Philosophen sein muss.38 Erst recht 31 Dazu grundlegend Höffner; hierzu näher Christoph Schönberger, Die Entdeckung der Neuen Welt, der Aufstand des christlichen Gewissens und die Anfänge des modernen Völkerrechts. Überlegungen zu Joseph Höffners Hauptwerk „Christentum und Menschenwürde“ (1947), in: Nils Goldschmidt / Ursula Nothelle-Wildfeuer (Hrsg.), Christliche Gesellschaftslehre und Freiburger Schule (im Erscheinen). 32 Prägnant dazu Ratzinger, Naturrecht, Evangelium und Ideologie in der katholischen Soziallehre, S. 25; umfassend Muldoon (FN 11). 33 Eingehend dazu Mariano Delgado, Die Zustimmung des Volkes in der politischen Theorie von Francisco de Vitoria, Bartolomé de las Casas und Francisco Suárez, in: Frank Grunert / Kurt Seelmann (Hrsg.), Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik, Tübingen 2001, S. 157 ff.; vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, 2. Aufl., Tübingen 2006, S. 356 ff., 387 ff. Im Weimarer Katholizismus hat man dann an diese spätscholastisch-spanische Tradition anknüpfen können, um die Republik zu verteidigen; vgl. etwa Godehard Josef Ebers, Reichsverfassung und christliche Staatslehre, in: Hochland 26 (1929), S. 564 ff. (566 ff.); Peter Tischleder, Ursprung und Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule, Mönchengladbach 1925. 34 Vgl. dazu nunmehr etwa die Rawls-Rezeption bei Franz-Josef Bormann, Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und Partizipation. John Rawls und die katholische Soziallehre, Freiburg i. Br. 2006. Skeptisch dazu allgemein schon Luhmann, der in seine Naturrechtskritik „erst recht . . . einen von Natur abgelösten transzendentalen Vernunftbegriff kantischer Prägung“ einbezieht, „aus dem nur das herausgeholt werden kann, was Kant an selbstjudizierender Kompetenz vorab schon hineingeschmuggelt hatte“: ders., Das Recht der Gesellschaft (FN 29), S. 517. 35 Vgl. nur Ratzinger, Einführung in das Christentum, S. 103 ff. und 115 ff., mit entschiedener Betonung der Konvergenz zwischen dem Gott der Bibel und dem „Gott der Philosophen“; eindringlich zu diesem Leitgedanken der Theologie Benedikts XVI. aus der Perspektive der evangelischen Theologie Eberhard Jüngel, Aufklärung im Lichte des Evangeliums, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Mai 2005, S. 8. 36 Benedikt XVI., Deus caritas est, 28a. 37 Ratzinger, Was die Welt zusammenhält, S. 57.
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wohl nicht, so wäre hinzuzufügen, der Gott eines an alle Vernünftigen appellierenden Naturrechts, mag es auch von sich als Christen verstehenden Gelehrten formuliert werden. Dahinter verbirgt sich eine alte theologisch-philosophische Problematik, die im Katholizismus traditionell gerade in einem Naturbegriff entschärft worden ist, der Gott und Welt nicht auseinanderriss, sondern sie aufeinander bezog. Im Unterschied dazu hat der Protestantismus das mögliche Auseinandertreten von Glaube und Vernunft bekanntlich theologisch auf die Spitze getrieben („natura corrupta“) und besitzt deshalb bis heute ein sehr viel gespalteneres Verhältnis zu naturrechtlichem Denken.39 Auch ungeachtet derartiger konfessioneller Eigenwege wirft gerade das Insistieren auf die eigenständige Vernünftigkeit naturrechtlichen Argumentierens jedenfalls mit besonderer Schärfe die Frage auf, worin denn nun gerade das spezifisch Christliche derartiger Entwürfe bestehen soll.
3. Institutionelle Aspekte der Normenpluralität
Vielleicht liegt die Antwort auf dieses Problem allerdings nicht allein im Inhaltlichen, sondern auch im Strukturellen und Institutionellen. Entwicklungsgeschichtlich betrachtet ist die Herausbildung eines Dualismus von weltlichem und geistlichem Recht seit der „Papstrevolution“ des 11. Jahrhunderts einer der zentralen Faktoren der spezifisch europäisch-westlichen Entwicklung.40 Wie Paolo Prodi gezeigt hat, ist damit in der abendländischen Kultur eine Grunderfahrung der Pluralität der Inanspruchnahme des Einzelnen durch unterschiedliche Institutionen eingeübt worden.41 Die Freiheit ethischer Weltdeutungen gegenüber dem Regelungsanspruch des weltlichen Rechts ist in spezifischer Weise überhaupt erst durch das institutionelle Ringen von Kirche und Staat möglich und erfahrbar geworden.42 Selbstverständlich war diese Pluralitätserfahrung in der Regel nicht das erstrebte Ziel dieser Auseinandersetzungen; vielmehr versuchten beide Seiten häufig genug, die jeweils andere zu unterwerfen oder ganz aufzusaugen, in theokratischer oder säkularer Richtung. Aber erst diese institutionelle Erfahrung hat die spätere Entwicklung hin zur Ausdifferenzierung von Recht und Moral, von öffentlicher Norm und privatem Gewissen überhaupt möglich gemacht. Das heutige Verblassen des institutionellen Ringens von geistlicher und weltlicher Gewalt in der westlichen Welt ist nicht ohne Gefahr für den Fortbestand der freiheitlichen Gesellschaft, verwandelt es 38 „Dieu d’Abraham, Dieu d’Isaac, de Jacob – non des philosophes et des savants“, heißt es in dem berühmten „Mémorial“, das man nach dem Tod Pascals in dessen Rock eingenäht fand; vgl. dazu Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus (1971), Bd. 1, 2. Aufl., München 1985, S. XVII. 39 Die Unterschiede, die trotz aller wechselseitigen Annäherungen fortbestehen, zeigen sich deutlich, wenn man die beiden hervorragenden Lexikonartikel zum Naturrecht in der Theologischen Realenzyklopädie von Friedo Ricken einerseits, Falk Wagner andererseits miteinander vergleicht. 40 Grundlegend dazu: Harold Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a. M. 1991; vgl. bereits Eugen Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen (1931), Moers 1987, S. 131 ff. 41 Das Anliegen von Prodis „Geschichte der Gerechtigkeit“ umschreibt treffender der Untertitel des italienischen Originals: Dal pluralismo dei fori al moderno dualismo tra scienza e diritto. 42 Eindrucksvoll und knapp dazu immer noch Albert Mirgeler, Kritischer Rückblick auf das abendländische Christentum, 2. Aufl., Freiburg i. Br. 1969, S. 124 ff.
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doch die europäische Grunderfahrung der Normenpluralität in die Eindimensionalität von der öffentlichen Gewalt erlassener Normen.43 Diese Gefahr wird demjenigen als gering erscheinen, der annimmt, die Rechtssysteme der westlichen Gesellschaften könnten ihren freiheitlichen Charakter auf Dauer auch ohne einen spezifisch prägenden Dualismus von geistlicher und weltlicher Gewalt sichern.44 Zudem lässt sich überlegen, ob nicht andere Formen von Normenpluralität – etwa die zunehmende Erfahrung der gleichzeitigen Einwirkung mehrerer Ebenen des Rechts (staatliches Recht, Europarecht, Völkerrecht) auf den Einzelnen oder die Herausbildung einer von den Staaten mehr und mehr abgelösten weltweiten „lex mercatoria“ 45 – heute in gewissem Umfang an die Stelle der älteren Erfahrung des geistlich-weltlichen Dualismus getreten sind. Einen systematischen Orientierungspunkt für die Ausrichtung des individuellen Handelns stellen derartige neue Pluralitätserfahrungen aber wohl kaum bereit. Christentum und christlicher Glaube leisten der pluralistischen Demokratie vielmehr weiterhin einen Dienst, wenn sie auf der Unterscheidung von Geistlichem und Weltlichem beharren und damit die zentrale europäische Pluralitätserfahrung immer wieder erneuern. Das Festhalten an dieser Unterscheidung ist aber nicht gleichbedeutend mit Indifferenz gegenüber dem Gemeinwesen oder einem bloß eigensüchtigen Beharren auf christlich-kirchlichen Sonderinteressen, das die Gesamtbelange politischer Entscheidungen aus dem Blick verlöre46; es schließt nicht aus, dass Christen nicht nur Bürger, sondern auch Bürgen des Gemeinwesens sein können.47 Die katholische Kirche mag jedoch als Universalkirche zu den einzelnen nationalen politischen Ordnungssystemen ein gewisses institutionelles Widerlager bilden, das sich heute vor allem aus ihrem Charakter als weltumspannende Institution und „global player“48 ergibt; in dieser einzigartigen Stellung verkörpert sie institutionell weiterhin die Unterscheidung von Geistlichem und Weltlichem. Die naturrechtliche Reflexion kann dabei in gewissem Umfang die Grunderfahrung von Normenpluralität wach halten und einer völligen Privatisierung der individuellen Ethik ebenso entgegenwirken wie einer zunehmenden Moralisierung des positiven Rechts.
Vgl. dazu die Überlegungen bei Prodi, S. 325 ff. In eine andere Richtung geht die Prodi-Kritik bei Jan Schröder, Verzichtet unser Rechtssystem auf Gerechtigkeit? Zur Entstehung und Bewältigung des Gerechtigkeitsproblems im neuzeitlichen Recht. Eine Auseinandersetzung mit Paolo Prodi (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse), Mainz 2005. Schröder nimmt das heutige Recht gegen den Vorwurf in Schutz, auf Gerechtigkeit zu verzichten, geht aber damit am eigentlichen Anliegen Prodis – nämlich dem Ende des Pluralismus rechtlicher Foren – vorbei. 45 Gunther Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), S. 1 ff. 46 Den Vorwurf eines blinden Beharrens auf den bona particularia – Kirche, Schule, konfessionelle Verbände – hat Ernst-Wolfgang Böckenförde bekanntlich gegenüber dem Verhalten des deutschen Katholizismus am Ende der Weimarer Republik erhoben: ders., Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933, S. 55 ff.; skeptisch dazu etwa Maier, S. 32 ff. 47 So schon die prägnante Formulierung Peter Tischleders in der Weimarer Zeit: ders., Der katholische Klerus und der deutsche Gegenwartsstaat, Freiburg i. Br. 1928, S. 59 ff. 48 Otto Kallscheuer, Der Vatikan als Global Player, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 7 / 2005, S. 7 ff. 43 44
Positivität des Rechts und Naturrecht im katholischen Staatsdenken
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Literatur Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Eine kritische Betrachtung (1961), in: ders., Kirchlicher Auftrag und politische Entscheidung, Freiburg i. Br. 1973, S. 30 ff. – Einleitung, in: Zweites Vatikanisches Ökumenisches Konzil. Erklärung über die Religionsfreiheit. Authentischer lateinischer Text der Acta Apostolicae Sedis. Deutsche Übersetzung im Auftrage der deutschen Bischöfe, Münster 1968, S. 5 ff. – Kirchliches Naturrecht und politisches Handeln, in: Böckle / Böckenförde, S. 96 ff. Böckle, Franz / Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hrsg.): Naturrecht in der Kritik, Mainz 1973. Höffner, Joseph: Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1947 (3. Aufl. unter dem Titel: Kolonialismus und Evangelium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1972). Hollerbach, Alexander: Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens, in: Böckle / Böckenförde, S. 9 ff. – Katholizismus und Jurisprudenz. Beiträge zur Katholizismusforschung und zur neueren Wissenschaftsgeschichte, Paderborn u. a. 2004. Isensee, Josef: Die katholische Kritik an den Menschenrechten. Der liberale Freiheitsentwurf in der Sicht der Päpste des 19. Jahrhunderts, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde / Robert Spaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde, Stuttgart 1987, S. 138 ff. Kaufmann, Franz-Xaver: Wissenssoziologische Überlegungen zu Renaissance und Niedergang des katholischen Naturrechtsdenkens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Böckle / Böckenförde, S. 126 ff. Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Freiburg i. Br. 2006 (Vaticana 2004). Maier, Hans: Katholische Sozial- und Staatslehre und neuere deutsche Staatslehre, in: AöR 93 (1968), S. 1 ff. Prodi, Paolo: Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, München 2003. Ratzinger, Joseph: Naturrecht, Evangelium und Ideologie in der katholischen Soziallehre, in: Klaus von Bismarck / Walter Dirks (Hrsg.), Christlicher Glaube und Ideologie, Mainz 1964, S. 24 ff. – Einführung in das Christentum (1968), München 1985. – Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: Jürgen Habermas / Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Mit einem Vorwort herausgegeben von Florian Schuller, Freiburg i. Br. 2005, S. 39 ff. Ricken, Friedo: Naturrecht I, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 24, Berlin u. a. 1994, S. 132 ff. Seelmann, Kurt: Rechtsphilosophie, 4. Aufl., München 2007. Uertz, Rudolf: Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789 – 1965), Paderborn u. a. 2005. Wagner, Falk: Naturrecht II, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 24, Berlin u. a. 1994, S. 153 ff. Welzel, Hans: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962. Wolf, Erik: Das Problem der Naturrechtslehre, 3. Aufl., Karlsruhe 1964.
Der moderne Verfassungsstaat des Grundgesetzes Von Markus Heintzen I. Grundsätzliche verfassungsgeschichtliche Entwicklungslinien 1. Der moderne Staat
„Moderner Staat“ und „Verfassungsstaat“1 sind begriffliche Markierungen des heutigen Standes einer ca. 400 Jahre zurückreichenden historischen Entwicklung, die in Europa angefangen und sich dann in den USA fortgesetzt hat. Sie beschreiben einen Typus neuzeitlicher politischer Ordnung, der gegenwärtig universell als legitim akzeptiert ist und dem die Bundesrepublik Deutschland und ihr Grundgesetz entsprechen. Damit wird nicht behauptet, dass „moderner Staat“ und „Verfassungsstaat“ in einer größeren raum-zeitlichen Perspektive erstrebenswerte Endpunkte einer Entwicklung oder aber Ausnahmen in Räumen grundsätzlich begrenzter Staatlichkeit sind. Der moderne Staat ist die säkularisierende Antwort auf das Elend der konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts.2 Seine Modernität, die den Staat als politische Organisationsform der Neuzeit von früheren Gemeinwesen wie der griechischen polis, der res publica, dem imperium oder dem mittelalterlichen Reich unterscheidet, ist zunächst nicht in seinen Zielen, sondern in seinen Mitteln begründet. Wichtige Modernitätsmerkmale waren das Gewaltmonopol, das nicht-staatliche, auch religiös motivierte Ausübung physischer Gewalt in die Illegalität abgedrängt hat, und die innere und äußere Souveränität; rasch sind nach politischen Zwecken und im Interesse wirtschaftlich-technischer Entwicklung gestaltbares positives Recht und bürokratisch-juristische Herrschaftsausübung hinzugekommen. Der moderne Staat steht im Ausgangspunkt für den Staatszweck Sicherheit. Gewaltmonopol und Souveränität sind Kategorien, die vorneuzeitlichen Gemeinwesen fremd waren; vom „Staat“ des Hohen Mittelalters oder von römischem Staatsrecht zu sprechen, ist irreführend, weil zu Unterschiedliches mit gleichen Begriffen belegt wird; dem entspricht, dass auch das Wort „Staat“ in seiner heutigen Bedeutung frühneuzeitlichen Ursprungs ist.3 Modernitätsmerkmal ist neben dem Gewaltmonopol die Einheit der Staatsgewalt, die sich in eine Handlungs-, eine Wirkungs- und eine Entscheidungseinheit ausdifferenzieren lässt. Den Unterschied zwischen modernem Staat 1 Zu diesen Begriffen Josef Isensee, Staat (I – VI), in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 5, 7. Aufl., 1989, Sp. 133 – 157; ders., Staat und Verfassung, in: ders. / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl., 2004, § 15 (S. 3 ff.); Listen mit identitätsbestimmenden Merkmalen ebd., Rn. 65, 195. Siehe auch Christoph Möllers, Staat (J), in: Werner Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 4. Aufl., 2006, Sp. 2272 ff. 2 Vgl. Josef Isensee (FN 1). 3 Zur Etymologie Paul-Ludwig Weinacht, Staat, 1968.
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und vormodernen Gemeinwesen sollte man andererseits nicht überbetonen.4 Es gibt auch zahlreiche Kontinuitäten. Hervorzuheben sind die Kategorien Gemeinwohl und Amt, die zum christlichen Erbe des modernen Verfassungsstaates gehören, die Lehre von den guten Staats- und Verfassungsformen, weiterhin die heute selbstverständliche Rechtfertigungsbedürftigkeit der Ausübung von Hoheitsgewalt sowie die Ausschaltung des Eigennutzes aus der politischen Ethik. Auch die kategoriale Trennung von geistlichem und weltlichem Bereich ist älter; Historiker sprechen insoweit von der „gregorianischen Revolution“.5 Die Modernität ist Kennzeichen der Staatsgewalt. Letztere ist aber nur eines der drei Elemente der Staatsdefinition; zu ihr treten Staatsgebiet und Staatsvolk als territoriale und personale Grundlagen hinzu. Dies führt zu der Unterscheidung zwischen dem Staat im engeren Sinne, der Herrschaftsorganisation, und dem Staat im weiteren Sinne, dem Gemeinwesen. Der moderne Staat ist Herrschaftsorganisation, insoweit sektoral begrenzt, nicht societas perfecta. Die Modernität des Staates darf nicht auf seine Souveränität reduziert, sondern muss in einem Zusammenhang mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt gesehen werden. Der moderne Staat hat diesen Fortschritt gefördert. In der globalisierten Welt beginnt sich dieser aber von politisch-staatlicher Ordnung zu lösen. Institutionen des modernen Staates wie Berufsbeamtentum oder Haushaltswesen, die lange Zeit als Vorbilder in den gesellschaftlichen Bereich hineinstrahlten, gelten heute als rückständig und werden durch Anpassung an Marktmechanismen reformiert.
2. Der Verfassungsstaat
Der Verfassungsstaat ist eine Weiterentwicklung des modernen Staates, die gegen konservativen, auch katholischen Widerstand in Frankreich und in den USA des späten 18. Jahrhunderts angebahnt worden ist und mit der die umfassenden Machtmittel des modernen Staates und die Gestaltbarkeit staatlichen Rechts zugunsten individueller und gesellschaftlicher Freiheit begrenzt werden. Die rechtliche Bindung des souveränen Herrschers, sodann seine Ersetzung durch das Volk als Quelle und Träger aller staatlichen Gewalt und durch den Staat als vom Herrscher zu unterscheidende juristische Person waren insoweit konsequent. In Deutschland hat der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat sich mit der Weimarer Reichsverfassung vorläufig und mit dem Grundgesetz wohl6 endgültig durchgesetzt. Versuche, das Grundgesetz bei der Wiedervereinigung Deutschlands durch eine gesamtdeutsche Verfassung abzulösen, waren nicht als grundsätzliche Infragestellung gemeint.7 Die Stabilität der vom Grundgesetz geschaffenen politischen Ordnung wird durch die 52 Verfassungsänderungen, die es 4 Ebenso Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: ders. / Paul Kirchhof (Hrsg.) (FN 1), § 15, Rn. 61 – 64. 5 So die Grundthese des Buches von Harald J. Berman, Recht und Revolution, 1995. 6 Hinter dem Wort „wohl“ steht nicht nur grundsätzliche Vorsicht, sondern etwa auch die Einschätzung, dass eine politische Mehrheit für eine ersatzlose Streichung von Atavismen wie der Sozialisierungsermächtigung in Art. 15 GG kaum zustande zu bringen wäre. 7 Zu der damaligen Alternative zwischen den Art. 23 und 146 GG (jeweils alter Fassung): Josef Isensee, Schlußbestimmungen des Grundgesetzes: Art. 146, in: ders. / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 166 (S. 271 ff.).
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zwischen 1951 und 2006 gegeben hat8, nicht in Frage gestellt, sondern mittelbar bekräftigt. Der Verfassungsstaat steht für die Staatszwecke Freiheit und Gleichheit der Individuen. Ein Staat ohne freiheitlich-demokratische Verfassung steht in der Staatengemeinschaft heute unter Rechtfertigungszwang, der aber trotz des Zusammenbruchs kommunistischer Ideologien und des Siegeszugs elektronischer Kommunikationstechnologien nicht unerträglich ist, wie die Beispiele Chinas, Russlands, vieler islamischer Staaten und autoritärer Regime in Entwicklungsländern zeigen; dieser Rechtfertigungszwang erklärt Scheinkonstitutionalismus. Verfassung ist, im Gefolge von Art. 16 der Französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, als grundlegender juristischer Text gemeint, in dem es zumindest um Menschenrechte und um Gewaltenteilung geht. („Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a pas de constitution.“) Nur der moderne Staat ist im Staatsbegriff des Völkerrechts aufgegangen und insoweit universell nicht nur als legitim anerkannt, sondern verbindlich. Staaten ohne Gewaltmonopol sind als failing oder failed states völkerrechtlich bedenkliche Anomalien. Das Völkerrecht, dessen Staatsdefinition auf der Drei-Elemente-Lehre – Staatsgebiet, Staatsvolk, effektive Staatsgewalt – aufbaut, setzt nach wie vor, auch nach dem Ende des Kommunismus, primär auf die Effektivität von Machtlagen und nur verhalten auf deren Legitimität, über die sich in einer pluralen Staatengemeinschaft leichter streiten lässt. Demokratische Verfassungsstaatlichkeit ist – ohne dass damit eine politische Ausgrenzung verbunden wäre – in der westlichen Staatengemeinschaft beheimatet. Die „Welt“, von der Satz 1 der Präambel und die Artikel 1 Abs. 2 und 24 Abs. 2 Grundgesetz sprechen, ist die Welt von 1949, mit der Zahl nach deutlich weniger Staaten und mit Kolonialismus und Kommunismus.9 Der Verfassungsstaat setzt den modernen Staat voraus, auch wenn dessen Strukturen nicht notwendig im Verfassungstext zu finden sind. Es ist deshalb nicht möglich, die Freiheitlichkeit des Verfassungsstaates in einen Gegensatz zu Gewaltmonopol und Friedenspflicht,10 Kernelementen des modernen Staates, zu bringen, wie dies etwa mit der Formel „ziviler Ungehorsam“ geschieht. Ein strukturell ähnlicher Rückschritt ist der politische Streik; der Streik ist ein Mittel der Interessendurchsetzung im sozialen Staat, nicht der Interessendurchsetzung gegen demokratische Entscheidungsstrukturen. In einem funktionierenden Verfassungsstaat besteht für ein Widerstandsrecht kein Bedürfnis; die Verfassung hat hier die Funktion von Naturrecht; wird sie beachtet, so kann es keinen Widerstandsfall geben. In der Situation der Notstandsgesetzgebung ist es im Juni 1968 in Art. 20 Abs. 4 GG gleichwohl positiviert und in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a) GG zum verfassungsbeschwerdefähigen Recht erklärt worden.11 8 Dokumentation bis zum 44. Änderungsgesetz bei Angela Bauer / Matthias Jestaedt, Das Grundgesetz im Wortlaut. Änderungsgesetze, Synopse, Textstufen und Vokabular zum Grundgesetz, 1997. 9 Zum Pluriversum heutiger Staatlichkeit Josef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt – eine Apologie, ZSE 2003, S. 7 ff. 10 Auch wenn der Vorbehalt der Friedlichkeit vom Grundgesetz als selbstverständlich vorausgesetzt und nur punktuell thematisiert wird, so bei der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG). – Klassische Vorgabe zu Gesetzesgehorsam und Friedenspflicht ist Röm 13,1 – 7, aber auch Apg 5,29. 11 Dazu Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969. Jüngst Stefanie Schmahl, Rechtsstaat und Widerstandsrecht, JöR 55 (2007).
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II. Verfassung 1. Der Staatsbezug der Verfassung
Verfassung12 kann als empirischer Begriff Zustände von Menschen und ihren Organisationen beschreiben, etwa im Sinne von gesundheitlicher Verfassung oder von guter Verfassung, politeia oder good governance des Gemeinwesens; das ist im Weiteren nicht gemeint. Verfassung kann sich als normativer Begriff auf die Organisation menschlicher Verbände und Gemeinschaften beziehen. Zwischen empirischem und normativem Verfassungsbegriff sind Wechselwirkungen denkbar. Reale Machtverhältnisse können so mächtig sein, dass der normative Anspruch einer Verfassung an ihnen zerbricht und diese Verfassung nur noch einen Rechtsschein erzeugt.13 Unterhalb dieses „worst case“ ist denkbar und nicht grundsätzlich illegitim, dass politische Lagen in die Interpretation der Verfassung einfließen oder dass die Verfassung umgekehrt normative Kraft14 entfaltet und die Rechtswirklichkeit verändert. Unter den Bezugsgrößen normativer Verfassungen, bei denen noch in geschriebene und ungeschriebene differenziert werden kann, ragt der Staat heraus. Zwischen Staat und normativer Verfassung besteht zwar keine notwendige Verbindung: Der Verfassungsbegriff ist älter als der moderne Staat15; auch kann z. B. die Satzung eines Vereins, also eines unterstaatlichen Verbandes, als dessen Verfassung angesehen werden; schließlich ergibt der Verfassungsbegriff möglicherweise für politische Einheiten Sinn, die dem Typ nach deutlich jünger sind als der moderne Staat, namentlich die Europäische Union. Das Projekt einer europäischen Verfassung hat sich aber wohl jedenfalls zunächst am Verfassungsbegriff verhoben; vorsichtiger, diffuser, und damit schwerer angreifbar ist von Konstitutionalisierungsprozessen die Rede.16 Staat und Verfassung stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung.17 Seine Karriere verdankt der normative Verfassungsbegriff dennoch der Verbindung mit dem modernen Staat. Diese Karriere hat im 18. Jahrhundert begonnen18 und lässt 12 Zum Verfassungsbegriff siehe etwa Dieter Grimm, Verfassung, in: Staatslexikon der GörresGesellschaft, Bd. 5, 7. Aufl., 1989, Sp. 633 ff.; Heinz Mohnhaupt und Dieter Grimm, Verfassung I bzw. II, in: Otto Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 831 ff., S. 863 ff.; Martin Morlok, Verfassung, in: Werner Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 4. Aufl., 2006, Sp. 2556 ff.; Walter Pauly, Verfassung, in: Albrecht Cordes (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5, 1998, S. 698 ff.; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., 1984, S. 69 ff. 13 Hierzu klassisch die Schrift von Ferdinand Lassalle, Über Verfassungswesen, 1862. 14 Begriffsprägend: Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959. 15 Dann zumeist nicht normativ, sondern empirisch verstanden und auf vorstaatliche Gemeinwesen bezogen. 16 Affirmativ etwa Stefan Oeter, Europäische Integration als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 1999, S. 901 ff. Kritisch Rainer Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: Carl Eugen Eberle (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart, Festschrift für Winfried Brohm, 2002, S. 191 ff. Zur neueren Entwicklung etwa Hans Michael Heinig, Europäisches Verfassungsrecht ohne Verfassung(svertrag), JZ 2007, S. 905 ff.; Hans-Jürgen Rabe, Zur Metamorphose des Europäischen Verfassungsvertrags, NJW 2007, S. 3153 ff. 17 Dies betont vor allem Josef Isensee (FN 1), § 15, Rn. 1 – 5. 18 Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: ders. (Hrsg.), Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 29 ff.
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sich, vergröbernd, in zwei Schritten darstellen. Verfassung war zunächst legitimationsstiftende Beschränkung der inneren Souveränität eines Monarchen, insbesondere als Vertrag zwischen Monarch und Ständen. Verfassung wandelte sich zur Begründung der Staatsgewalt durch die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, also durch einseitige, voraussetzungslose normative Setzung. Diese Wandlung vollzog sich idealtypisch durch Revolution. Sie implizierte, dass Souveränität aufhörte, Eigenschaft einer natürlichen Person – des Monarchen – zu sein, und auf den Staat als davon unabhängige juristische Person19 übergeht, deren Träger das Volk als neues Legitimationssubjekt ist. Dem zweiten Konzept folgt auch heute noch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Es gibt sich im ersten Satz seiner Präambel und in Art. 146, seinem letzten Artikel, als Erzeugnis verfassungsgebender Gewalt des deutschen Volkes zu erkennen. Die Verfassung ist danach normative Grundlage der Staatsorganisation und des staatlichen Rechts, deren eigene Begründung, aber auch Geltung prekär ist.
2. Verfassung, Verfassungsrecht, Staatsrecht
Üblicherweise wird zwischen formeller und materieller Verfassung unterschieden. Verfassung im formellen Sinne kann in der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG nur sein, was in der einen Verfassungsurkunde, dem Grundgesetz, ausdrücklich niedergelegt ist. Es gilt insbesondere der Grundsatz der Urkundlichkeit und Einsichtbarkeit jeder Verfassungsänderung. Verfassungsdurchbrechungen, d. h. von der Verfassung abweichende, außerhalb der Verfassungsurkunde stehende, aber mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossene Gesetze sind unzulässig. Die Verfassung im formellen Sinne ist ein in einer besonderen Urkunde niedergelegtes Gesetz, das unmittelbar auf einem Akt der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes beruht, dem im Verhältnis zum übrigen innerstaatlichen Recht ein erhöhter Rang zukommt und das nur unter erschwerten Bedingungen geändert werden kann. In einem materiellen Sinne regelt die Verfassung die Staatsform, weist den obersten Staatsorganen Aufgaben und Befugnisse zu, regelt Grundzüge ihrer Organisation und ihres Verfahrens, ordnet sie einander zu und grenzt sie gegeneinander ab, formuliert Grundsätze und Ziele der Staatstätigkeit und äußert sich zum Verhältnis des Staates zu den Individuen und gesellschaftlichen Potenzen; in einem Bundesstaat kommt das Verhältnis von Bund und Ländern hinzu, das nur in der Bundesverfassung geregelt werden kann. Die Begriffe Verfassungsrecht im materiellen Sinne und Staatsrecht können als Synonyme aufgefasst werden. Der Begriff Verfassungsrecht im formellen Sinne ist teils enger, teils weiter. Er ist enger, weil für das politische Leben grundlegende Fragen nicht notwendig in der Verfassung im formellen Sinne geregelt sind. So überantwortet das Grundgesetz in Art. 38 Abs. 3 die Festlegung des Wahlsystems für Bundestagswahlen dem einfachen Gesetzgeber. Die Alternative zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl wird erst in § 1 Abs. 1 Satz 2 Bundeswahlgesetz zugunsten der personalisierten Verhältniswahl entschieden, einem Verhältniswahlsystem mit mehrheitswahlrechtlichen Ein19 Dazu Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat, 1997; Henning Uhlenbrock, Der Staat als juristische Person – Dogmengeschichtliche Untersuchung zu einem Grundbegriff der deutschen Staatsrechtslehre, 2000.
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sprengseln, die sich vor allem bei den sogenannten Überhangmandaten zeigen. Der Begriff Verfassungsrecht im formellen Sinne ist weiter, weil sich in der Verfassung im formellen Sinne auch Regelungen befinden, die für das politische Leben nicht grundlegend sind, so Art. 27 GG, wonach alle deutschen Kauffahrteischiffe eine einheitliche Handelsflotte bilden. Verfassungsrecht will politischem Leben dauerhaft Ordnung geben und Richtung weisen und muss darum hinreichend entwicklungsoffen sein. Verfassungsrecht ist politisches Recht20 mit einem festen, nicht legal, sondern nur durch Revolution zu ändernden Kern der positiven Verfassung. Auch ohne eine ausdrückliche Regelung wie Art. 79 Abs. 3 GG21 hat jede freiheitlich-demokratische Verfassung „positive Kerne“. Jedenfalls das bringt Verfassungsrecht als Form von Herrschaftsregulierung auch heute noch in eine Nähe zum Naturrecht.
III. Bauprinzipien freiheitlicher Verfassungsstaaten 1. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung
Das grundlegende verfassungsrechtliche Bauprinzip jedes freiheitlichen Verfassungsstaates kann auf die Formel „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ gebracht werden.22 Diese Formel, in den 1970er-Jahren zu Unrecht als „fdGO“ verächtlich gemacht, findet sich an mehreren Stellen im Grundgesetz (Art. 10 Abs. 2 Satz 2, Art. 11 Abs. 2, Art. 18 Satz 1, Art. 21 Abs. 2 Satz 1, Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. b), Art. 87a Abs. 4 Satz 1, Art. 91 Abs. 1). Die drei Wortbestandteile der Formel sind mit dem Leitbegriff im Titel dieses Beitrags eng verbunden. Sie setzen alle den modernen Staat voraus. „Grundordnung“ kann gleichgesetzt werden mit Verfassung. „Demokratisch“ bezeichnet das heute wichtigste Verfassungsprinzip des modernen Staates, das – in variierender Ausgestaltung – allen Staaten der westlichen Staatengemeinschaft gemeinsam ist. „Freiheitlich“ ist die verfassungsrechtliche Kernaussage zum Verhältnis von Staat (im engeren Sinne) zu Individuum und Gesellschaft. Die Formel ist nicht tautologisch, sondern beschreibt ein – produktives – Spannungsverhältnis: hier privater und gesellschaftlicher Bereich, nicht staatlich und, durch Grundrechte geschützt, freiheitlich, angetrieben von verschiedenen individuellen Interessen; dort staatlicher Bereich, gemeinwohlgebunden und demokratisch den privaten und den gesellschaftlichen Bereich ordnend und fördernd; kurz: hier Gesellschaft, da Staat. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung wird vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung umschrieben als eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- oder Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehr20 Hierzu Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders. / Paul Kirchhof (Hrsg.) (FN 7), § 162 (S. 103 ff.). 21 Überblick über die Rechtslage in der Europäischen Union und in ihren Mitgliedstaaten bei Markus Sichert, Grenzen der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union, 2005. 22 Zum Verhältnis von Verfassungsstaat und freiheitlich-demokratischer Grundordnung vgl. Josef Isensee (FN 1), Rn. 170. In ähnlicher Weise als zusammenfassende Chiffre wirkt die Formel „in einer demokratischen Gesellschaft“ in internationalen Menschenrechtstexten; vgl. Markus Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 76 ff.
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heit und der Freiheit und Gleichheit darstellt; zu ihren grundlegenden Prinzipien seien mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und auf freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.23 Die Formel umschließt zwei weitere Bauprinzipien freiheitlicher Demokratien, die – entgegen in den 1960er- und 1970er-Jahren geäußerter Kritik24 – keine deutschen Sonderwege sind; dies sind die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft und das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip.
2. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft
Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft25 ist nicht normativ, sondern theoretisch-analytisch. Staat und Gesellschaft sind zwei gesonderte, aber aufeinander bezogene Handlungs- und Funktionsbereiche, Staat als Staat im engeren Sinne, auf die Staatsgewalt reduziert,26 vom Staat im weiteren Sinne unterschieden, dessen personelles Substrat nicht die Gesellschaft ist, sondern das Volk, die Nation,27 Gesellschaft als Summe der vielfältigen wirtschaftlichen und kulturellen Aktivitäten und Organisationen des Individuums.28 Kennzeichen der Gesellschaft sind reale Freiheit und reale Ungleichheit,29 Interesse und Überzeugung, Pluralismus und Wettbewerb. Die Kirchen finden – aus der säkularen Sicht des freiheitlichen Verfassungsstaates, also unbeschadet ihres religiösen Auftrags – ihren Standort in der Gesellschaft. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft steht in einem engen Zusammenhang zu der Unterscheidung von priBVerfGE 2, 1. Vgl. auch § 92 Abs. 2 StGB. Insbesondere Horst Ehmke, „Staat“ und „Gesellschaft“ als verfassungstheoretisches Problem, Festschrift für Rudolf Smend, 1963, S. 23 ff.; Konrad Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, DÖV 1975, S. 437 ff. 25 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat und Gesellschaft, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 5, 7. Aufl., 1989, Sp. 228 ff.; Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie – Die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen, 1981; Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.) (FN 1), § 31 (S. 879 ff.). 26 Hierzu Josef Isensee, in: ders. / Paul Kirchhof (Hrsg.) (FN 7), § 15, Rn. 145 – 150. 27 „Gesellschaft“ und „Volk“ stimmen in ihrer personellen Zusammensetzung weitgehend, aber nicht vollständig überein. Die „Gesellschaft“ ist nicht national, sondern international, so dass auch Ausländer unproblematisch Teil der Gesellschaft sind. Teil der Gesellschaft, nicht aber des Volkes, sind weiter juristische Personen. Die „Gesellschaft“ ist Gegenüber des Staates im engeren Sinne, das „Volk“ personelles Substrat des Staates im weiteren Sinne; die Gesellschaft setzt sich aus Individuen zusammen, das Volk aus Bürgern. 28 Nach Jacob Burckhardt sind Staat, Religion und Kultur unterschiedliche Potenzen mit eigener Sachgesetzlichkeit; erstmals genannt in der 1868 gehaltenen Vorlesung „Über das Studium der Geschichte“; vgl. weiterhin dessen vierbändiges, posthum erschienenes Werk Griechische Culturgeschichte, 1898 – 1902. Mit der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft wird dies vom Verfassungsstaat respektiert. 29 Kritisch zu der Konzeption realer Freiheit Walter Krebs, Rechtliche und reale Freiheit, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 2, 2006, § 31 (S. 291 ff.). 23 24
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vatem und öffentlichem Recht, wobei man sich nicht davon verwirren lassen darf, dass der Staat sich auch der Handlungs- und Organisationsformen des Privatrechts bedient.30 Als Kriterium, um Staat und Gesellschaft voneinander abzugrenzen, mag die verfassungsrechtliche Unterscheidung von Grundrechtsberechtigung (= Gesellschaft) und Grundrechtsverpflichtung (= Staat) dienen. Diese Unterscheidung findet ihren Ursprung in staatlichem Recht, insbesondere in Art. 79 Abs. 3 GG. Das darf indes nicht dahin missverstanden werden, die Gesellschaft werde vom (jeweiligen) Staat her konstituiert. Es bleibt dabei: Beide Bereiche sind eigenständig, keiner kann auf den anderen zurückgeführt werden. Ein freiheitlicher Verfassungsstaat ist sektoral, nie total.
3. Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip
Rechtsstaatliches Verteilungsprinzip heißt: „Die Freiheitssphäre des Einzelnen wird als etwas vor dem Staat Gegebenes vorausgesetzt, und zwar ist die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist.“31 Jedes Staatshandeln, nicht nur Grundrechtseingriffe, ist rechtfertigungsbedürftige Ausübung von Kompetenzen, die juristisch begründet sein müssen. Das Individuum dagegen verfügt über natürliche Handlungsfreiheit und wird von einer freiheitlichen Verfassung grundsätzlich nicht zum Handeln verpflichtet; Grundpflichten sind schwächer ausgeprägt als Grundrechte; anders als Grundrechte sind Grundpflichten nicht aus sich heraus unmittelbar verbindlich; sie bedürfen rechtlicher Konkretisierung; Art. 7 Abs. 2 der Verfassung von Brandenburg „Jeder schuldet jedem die Anerkennung seiner Würde“ ist insoweit für einen Juristen32 eine bizarre Sentenz. Eine Grundpflicht wie die Sozialbindung des Eigentums ist – aus juristischer Sicht – keine abstrakte, unmittelbare Handlungsanleitung an den Eigentümer, sondern eine Ermächtigung an den Gesetzgeber zu Eingriffen in die Eigentumsfreiheit, die in konkreten Handlungsanleitungen bestehen. An dieser Stelle unterscheidet eine freiheitliche Verfassung sich auch von einer Soziallehre. Den nicht zu leugnenden negativen – egoistischen und aggressiven – Potentialen individueller Freiheit tritt der Verfassungsstaat mit Gesetzen entgegen, die aber nur äußere Legalität erzwingen können und sollen. Eine Grundpflicht kann hier nicht mehr sein als ein Appell an individuelle Einsicht. Ein solcher Appell und seine grundsätzliche Befolgung werden von einer freiheitlichen Verfassung vorausgesetzt und müssen zu ihrem Funktionieren vorausgesetzt werden. Vor 40 Jahren hat Ernst-Wolfgang Böckenförde dies so formuliert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“33 Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip verwehrt es dem Verfassungsstaat indes nicht, diese Voraussetzungen erzieherisch oder finanziell zu pflegen oder zu fördern. 30 Zu diesem Dauerthema jüngst Walter Leisner, Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht, JZ 2006, S. 869 ff. 31 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 126. 32 Theologisch erinnert sie an Röm 13,8, nur: das Original ist eindeutig besser. 33 Zitat: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders. (Hrsg.), Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 (60). Vgl. auch ders., Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.) (FN 1), § 24 Rn. 74 – 80.
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IV. Der Bauplan des Grundgesetzes In der Realisation dieser Bauprinzipien erweist sich das Grundgesetz als eine Rahmenverfassung.34 Eine Rahmenverfassung ist mehr als ein Organisationsstatut, das nur Kreation, Zuständigkeit und Zusammenwirken der obersten Staatsorgane regelt. Die Rahmenverfassung enthält darüber hinaus Aussagen über Status und Zweck des Gesamtstaats und zum Verhältnis von Staat, Individuum und Gesellschaft. Anders als eine Vollverfassung hält sie sich aber mit Staatszielen und Verfassungsaufträgen zurück und beansprucht auch nicht, rechtliche Grundordnung für gesellschaftliche Bereiche – im Sinne einer Wirtschafts-, Arbeits-, Kultur-, oder Religionsverfassung – zu sein und diese gewissermaßen von „innen“ heraus und nicht nur in ihrem „Außen“-Verhältnis zum Staat im engeren Sinne zu verfassen. Verfassungen sollen kurz und unklar sein.35 Nur dann lassen sie innerhalb weit gesteckter Grenzlinien der Staatspraxis genug Spielraum und sind zukunftsoffen. Letzteres ist auch wichtig, weil Verfassungen nur unter erschwerten Bedingungen geändert werden können.36 Für die Zwecke eines groben Überblicks können die Artikel des Grundgesetzes im Wesentlichen zu vier Blöcken zusammengefasst werden.37 Der erste Block ist der I. Abschnitt, die Art. 1 bis 19, er ist den Grundrechten gewidmet, in der Terminologie dieses Beitrags dem Verhältnis des Staates (im engeren Sinne) zum Individuum und seinen privatautonomen Organisationen.38 Der zweite Block umfasst die gesamtstaatlichen, also für den Bund und für die Länder geltenden Verfassungsaussagen, die Artikel 20 bis 37, darunter die Staatsstrukturbestimmungen des Art. 20 (Republik, Demokratie, Sozialstaat, Bundesstaat, Rechtsstaat, Gewaltenteilung), den Europaartikel (Art. 23 GG) und die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 GG, insbesondere Abs. 2). Der dritte Block besteht aus den Abschnitten des Grundgesetzes zu den obersten Bundesorganen, also Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident und Bundesregierung (Art. 38 – 69 GG).39 Im vierten Block geht es um wichtige Staatsfunktionen: die Gesetzgebung (Art. 70 – 82 GG), die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwal34 Die Formulierung geht wohl auf Ernst-Wolfgang Böckenförde zurück, vgl. ders., Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 11 (17 f., wo von „Rahmenregelung“ die Rede ist). 35 Das Zitat wird dem französischen Diplomaten und Politiker Talleyrand zugeschrieben, vgl. Klaus Stern (FN 12), S. 87. 36 Insbesondere ist nach Art. 79 Abs. 2 GG die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates erforderlich. Praktisch läuft das darauf hinaus, dass Verfassungsänderungen derzeit nur im Konsens von CDU / CSU und SPD möglich sind. 37 Eine andere Einteilung ordnet die einzelnen Bestimmungen den Verfassungsprinzipien Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat und Bundesstaat zu. 38 Individuum und Gesellschaft sind noch an zumindest fünf anderen Stellen Regelungssubjekte der Verfassung, in den Art. 33 und 34 GG, wo es um staatsbürgerliche Rechte, öffentlichen Dienst und Staatshaftung geht, in den Justizgrundrechten der Art. 101 bis 104, in Art. 140 GG, der Verweisung auf die Kirchenartikel in den Art. 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung, in den Regelungen zu politischen Parteien und Bundestagswahlen (Art. 21 und 38 GG). Die jeweiligen Regelungsstandorte lassen sich bis auf Art. 140 GG mit dem Kontext erklären. 39 Das Bundesverfassungsgericht, das oberstes Staatsorgan, aber auch Gericht ist, ist erst Thema in den Art. 93 und 94 GG im Abschnitt über die Rechtsprechung. Der Gemeinsame Ausschuss, Art. 53a GG, wird im Text nicht erwähnt, weil er, ein Notstandsorgan, noch nie zusammengetreten ist.
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tung (Art. 83 – 91b GG), die Rechtsprechung (Art. 92 – 104 GG), das Finanzwesen (Art. 104a – 115 GG), den Verteidigungsfall (Art. 115a – 115l GG). Die Art. 115a bis 115l GG könnten in einem Abschnitt über das Militärwesen aufgehen, wenn dem nicht mehr ein seit 1945 nachhaltig gestörtes Verhältnis zu diesem Bereich entgegensteht.40 Die Abschnitte über Gesetzgebung, Verwaltung, Justiz und Finanzen sind nach demselben Schema untergliedert: Zunächst geht es um das Verhältnis von Bund und Ländern, danach um Interna des Bundes. Vorangestellt ist eine Präambel, die auf die Verantwortung des deutschen Volkes vor den Menschen und vor Gott hinweist.41 Von Art. 116 folgen bis Art. 146 GG Übergangs- und Schlussbestimmungen.
V. Die Grundrechte 1. Allgemeines
Die von Juristen sogenannten Allgemeinen Grundrechtslehren beschäftigen sich mit den Fragen, wer aus Grundrechten berechtigt und wer aus Grundrechten verpflichtet ist, wie sich Grundrechte systematisieren lassen, welche Gewährleistungsdimensionen sie haben und unter welchen Voraussetzungen sie eingeschränkt werden können.
a) Grundrechtsberechtigung Grundrechte sind von Haus aus Individualrechte. Gemäß Art. 19 Abs. 3 GG sind neben dem Individuum auch inländische juristische Personen grundrechtsberechtigt, soweit die Grundrechte ihrem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar sind. Letzteres trifft auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit ersichtlich nicht, auf die Eigentumsgarantie aber völlig unproblematisch zu. „Juristische Person“ im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG erfasst alle Gemeinschaften und Organisationen zwischen dem Individuum und dem Staat und seinen Untergliederungen. „Wesen“ verweist auf Personalität, die dadurch aber nicht zu einem Verfassungsprinzip wird. Juristische Personen sind zwar nicht nur rechts40 Derzeit finden sich verstreute Regelungen auch außerhalb dieses Abschnitts des Grundgesetzes, u. a. in den Art. 12a, 24 Abs. 2, 26, 45a Abs. 2 und 3, 45b, 60 Abs. 1, 65a, 73 Abs. 1 Nr. 1 und 87a und 87b GG, die das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, aber etwas mühsam zu einer Grundentscheidung für die wirksame militärische Landesverteidigung zusammenfasst (ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 12, 45 (50 ff.)). 41 Dazu Alfred J. Noll / Manfried Welan, Gott in der Verfassung?, 2003; Werner Weinholt, Gott in der Verfassung. Studie zum Gottesbezug in Präambeltexten der deutschen Verfassungstexte des Grundgesetzes und der Länderverfassungen seit 1945, 2003. Zusammenfassend auf eine Unterscheidung von nominatio und invocatio dei hinweisend, deren Sinn und Konsequenz aber unklar bleibt, Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl., 2004, Präambel, Rn. 25 / 26. In einem Vergleich der EU-Mitgliedstaaten liegt das Grundgesetz auf einer mittleren Linie. Deutlich stärkere Gottesbezüge findet man in den Verfassungen Griechenlands oder Irlands. „Im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit. Das Fünfte Verfassungsändernde Parlament der Hellenen beschließt: . . .“ (Vorspruch der griechischen Verfassung von 1975). „Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt, und auf die, als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen wir, das Volk von Irland, in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus, der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung beigestanden hat.“ (1. Satz der Präambel der irischen Verfassung von 1937).
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technisches Konstrukt, sondern haben eine eigene rechtsethische Substanz.42 Ihr Grundrechtsstatus rechtfertigt sich aber maßgebend aus dem vom Bundesverfassungsgericht sogenannten Durchgriff auf die hinter ihnen stehenden natürlichen Personen.43 Deutsche und Ausländer sind grundsätzlich in gleicher Weise grundrechtsberechtigt.44 Dies gilt für die Menschenwürde, die allgemeine Handlungsfreiheit und, praktisch besonders wichtig, den allgemeinen Gleichheitssatz. Ausgenommen sind Grundrechte, die unter einem Deutschenvorbehalt stehen. Im Grundgesetz sind dies die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG), die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), die Freizügigkeit im Bundesgebiet (Art. 11 Abs. 1 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), die Garantie der (deutschen) Staatsangehörigkeit (Art. 16 Abs. 1 GG) und das Auslieferungsverbot (Art. 16 Abs. 2 GG), weiterhin die Betätigungsfreiheit in politischen Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) und, vorbehaltlich des Asylgrundrechts (Art. 16a GG), die Einreisefreiheit. Deutschenvorbehalte der Verfassung schließen nicht aus, dass der einfache Gesetzgeber Ausländern vergleichbare Positionen doch gewährt oder dass Ausländer sich im Schutzbereich von Deutschengrundrechten auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) berufen, nur sind solche Rechtspositionen leichter einschränk- oder entziehbar. EU-Ausländer können sich, grundsätzlich anders als Deutsche, gegenüber der deutschen Staatsgewalt auf die Grundfreiheiten des EG-Vertrags berufen, die gemäß Art. 14 Abs. 2 EG-Vertrag den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital im Binnenmarkt gewährleisten. Die ungleiche Berechtigung aus den Grundfreiheiten kann zu sogenannten Inländerdiskriminierungen führen, bei denen Deutsche in Deutschland rechtlich schlechter dastehen als EU-Ausländer, weil nur für Letztere Beschränkungen des deutschen Rechts, die an sich allgemein gelten, vom Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten überlagert werden.
b) Grundrechtsverpflichtung Grundrechtsverpflichtet ist der Staat. Gemäß Art. 1 Abs. 3 GG binden ihn die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht; sie sind nicht, etwa wegen ihrer Abstraktheit, bloße Programmsätze. Die Aussage des Art. 1 Abs. 3 GG hat es deshalb in sich; sie 42 So ausdrücklich Josef Isensee, Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: ders. / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 1992, § 118 Rn. 5. Klassisch zu diesem Fragenkreis Günter Dürig, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Art. 19 III Rn. 1 ff. (Stand: 1977). 43 Vgl. BVerfGE 21, 362 (369); 68, 193 (206); 75, 192 (196). In E 61, 82 (101) ist von „Durchblick“, nicht von „Durchgriff“ die Rede. In E 95, 267 (317) und 99, 367 (389), in Bezug auf den allgemeinen Gleichheitssatz, wird mit dem Kriterium „individuelle(r) Betroffenheit“ gearbeitet. In E 50, 290 (364 f.) wird aus der Entfernung juristischer Personen vom personalen Gewährleistungskern eine Abschwächung ihres Grundrechtsschutzes abgeleitet; das überzeugt nicht, weil es in dieser Entscheidung um das Mitbestimmungsgesetz gegangen ist, mithin nicht um einen Konflikt zwischen juristischen Personen, hier Wirtschaftsunternehmen und Konzernen, und Individuen, hier Arbeitnehmern, sondern um einen Konflikt zwischen Unternehmen und Gewerkschaften, also anderen Großorganisationen. Zur Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Peter J. Tettinger, Juristische Personen des Privatrechts als Grundrechtsträger, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.) (FN 29), § 51 Rn. 6 – 20. 44 Zu diesem Fragenkreis Markus Heintzen, Ausländer als Grundrechtsträger, in: ebd., § 50 (S. 1163 ff.). Seit Mitte der 1990er-Jahre liegt die Zahl der legal in Deutschland wohnenden Ausländer bei gut sieben Millionen Menschen.
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klingt einfacher als sie ist. Ein erstes Problem entsteht aus der Gliederung des Staates, gewaltenteilig (Legislative, Exekutive [Regierung, Verwaltung, Militär], Justiz), föderal (Bund und Länder), selbstverwaltend (unmittelbare und mittelbare Staatsverwaltung, letztere durch Körperschaften, insbesondere Kommunen, Anstalten und Stiftungen). Nach Art. 1 Abs. 3 GG ist alle Staatsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden. Staatsgewalt der Bundesländer und ihrer Gliederungen ist zusätzlich an Grundrechte in den Verfassungen der Länder gebunden; Art. 142 GG sorgt dabei für die nötige Harmonie mit den Grundrechten des Grundgesetzes, und der Vorrang des Bundesrechts im Allgemeinen sorgt dafür, dass Landesgrundrechte nicht die Einheit des Bundesrechts gefährden. Ein zweites Problem entsteht daraus, dass der Staat nicht nur hoheitlich, sondern auch wie ein Privater privatrechtlich handeln kann, etwa wenn eine Stadt Energieversorgung über eine Stadtwerke-Aktiengesellschaft betreibt. Es stellt sich dann die Frage, ob die Aktiengesellschaft der Stadt wie Stadt und Staat an Grundrechte gebunden ist oder aber wie ein privatwirtschaftliches Unternehmen nicht an Grundrechte, insbesondere den Gleichheitsgrundsatz, gebunden ist. Eine befriedigende Antwort auf diese Frage (des sogenannten Verwaltungsprivatrechts) ist auch nach 60 Jahren Grundgesetz noch nicht gefunden. In Teilbereichen geben unterverfassungsrechtliche Regelungen, etwa Richtlinien der EG über die Vergabe öffentlicher Aufträge, eine Antwort. Ein drittes Problem resultiert aus der internationalen Begrenzung deutscher Staatsgewalt. Grundrechte setzen Staatsgewalt voraus. Wer deutscher Staatsgewalt nicht unterliegt, kann sich auf deutsche Grundrechte darum nicht berufen. Das gilt für den Ausländer, der aus sozialen Gründen Zutritt zum deutschen Staatsgebiet begehrt, ebenso wie für den Ausländer, der von Auslandseinsätzen der Bundeswehr betroffen ist. Hier besteht kein deutscher Grundrechtsschutz. In beiden Fällen ist der Ausländer deshalb nicht rechtlos; an die Stelle deutscher Grundrechte tritt Völkerrecht. Ein viertes Problem ist die Hoheitsgewalt der Europäischen Union. Das Bundesverfassungsgericht behauptet, dass Rechtsakte der Europäischen Union und darauf beruhende deutsche Ausführungsakte die Grundrechtsberechtigten in Deutschland betreffen und berühren.45 Daraus leitet es zwar keine Bindung der Europäischen Union an Grundrechte des Grundgesetzes ab, wohl aber seine grundsätzliche (wenn auch praktisch nicht ausgeübte) Befugnis, solche Rechtsakte selbst auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Grundgesetzes zu prüfen. Nähme jeder der inzwischen siebenundzwanzig Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine solche Befugnis für sich in Anspruch, müsste man sich um die Einheit des Unionsrechts Sorgen machen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist, bei Lichte betrachtet, aber wohl nur eine Rückzugsposition dieses Gerichts in seinem Prestigeduell mit dem Europäischen Gerichtshof. c) Einteilung der Grundrechte nach Inhalt und Funktion Inhaltlich lassen sich die Grundrechte im Wesentlichen in drei Gruppen aufteilen: in erster Linie Freiheitsgrundrechte, dann Gleichheitsgrundrechte und Justizgrundrechte. Eine andere Systematisierung der Grundrechte unterscheidet den status negativus, den status positivus und den status activus und stellt diese dem status passivus der allgemeinen Subordination unter Hoheitsgewalt und früher sogenannten besonderen Gewaltverhältnissen, wie dem Beamtenverhältnis, gegenüber.46 45
So die Rechtsprechungsänderung in BVerfGE 89, 155 Leitsatz 7.
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Grundrechtliche Freiheit ist Freiheit vom Staat; sie ist negativ. „Negativ“ ist in keiner Weise als Bewertung der Grundrechtsausübung gemeint, die sittlich oder intellektuell herausragend sein mag; es heißt nur, dass dieser Inhalt vom Grundrechtsträger autonom bestimmt wird und den grundrechtsverpflichteten Staat grundsätzlich nichts angeht.47 Damit sind Freiheitsgrundrechte ihrer Funktion nach zunächst Eingriffsabwehrrechte.48 Sie gebieten ein Unterlassen staatlicher Eingriffe in ihre Schutzbereiche, die sich nicht rechtfertigen lassen, die insbesondere unverhältnismäßig sind. Neben der Eingriffsabwehrfunktion gibt es eine Reihe weiterer Grundrechtsfunktionen – mit „Konjunkturen“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich in neuerer Zeit auch damit erklären lassen, dass das Bundesverfassungsgericht in einem Rechtsprechungs-„Dialog“ mit ausländischen, supra- und internationalen (Verfassungs-)Gerichten steht, allen voran der Europäische Gerichtshof (der Europäischen Union, in Luxemburg) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (des Europarates, in Straßburg). Dies sind die grundrechtlichen Schutzpflichten, die vom Staat kein Unterlassen, sondern ein Einschreiten gegen nicht grundrechtsverpflichtete Dritte (insbesondere Private und ausländische Staaten) fordern und bei denen sich das eingriffsabwehrrechtliche Übermaßverbot in ein Untermaßverbot umkehrt. Eine weitere Grundrechtsfunktion sind Drittwirkungen der Grundrechte im Privatrechtsverkehr, in der Praxis insbesondere im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer.49 Eine vierte Grundrechtsfunktion sind Verfahrensgarantien, die es ermöglichen, in staatlichen Verfahren grundrechtliche Belange besser vertreten zu können. Fünftens sind grundrechtliche Ansprüche auf staatliche Leistungen zu nennen,50 um die es nach dem Bankrott des sozialistischen Konkurrenzmodells zum freiheitlichen Verfassungsstaat und angesichts nun vierzigjähriger, unter internationalem Druck kritisch werdender Staatsverschuldung in Deutschland aber deutlich ruhiger geworden ist als in den 1970er-Jahren. Sechstens gibt es grundrechtliche Institutsgarantien oder institutionelle Garantien, durch die zivilrechtliche Rechtsinstitute (Ehe, Familie, Eigentum, Erbrecht) oder öffentlich-rechtliche Rechtsinstitutionen (kommunale Selbstverwaltung, Berufsbeamtentum) geschützt und damit konserviert werden;51 Instituts- oder institutionelle Garantien sind Grundrechte mit einem normgeprägten Schutzbereich (im Unterschied zum Schutz realer Freiheit). So verletzt 46 Man merkt der Terminologie an, dass die status-Lehre über 100 Jahre alt ist. Klassisch: Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., 1919. 47 Zu katholischer Kritik Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung, Bd. LXXIII (1987), S. 296 ff. 48 Dazu Ralf Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003. 49 Typischer Fall: Eine Verkäuferin erscheint mit Kopftuch zur Arbeit; dieses Kopftuch missfällt der Kundschaft so, dass der Arbeitgeber / Geschäftsinhaber Umsatzeinbußen hinnehmen muss. Darf der Arbeitgeber nun kündigen oder muss er im Rahmen einer Interessensabwägung der Religionsfreiheit der Verkäuferin / Arbeitnehmerin Vorrang geben? Vgl. BAGE 103, 111; BVerwGE 116, 359. 50 Hier wird zwischen originären Leistungs- und derivativen Teilhaberechten unterschieden; letztere setzen voraus, dass der Staat, kraft autonomer Entscheidung, überhaupt Leistungen gewährt, und gewährleisten dann die gleichheitsgemäße Teilhabe an diesen Leistungen. Weiterhin wird zwischen subjektiven Rechten, die einklagbar wären, und Staatszielbestimmungen unterschieden, die unter einem Vorbehalt politischer Zuteilung stehen; Rechte auf Arbeit, Bildung oder Wohnung sind vielfach nicht als subjektive Rechte, sondern als Staatsziele gemeint. 51 Umfassend Ute Mager, Einrichtungsgarantien, 2003.
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nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare den besonderen Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG nicht. Diese Institutsgarantie hindere den Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder nahe kommen.52 Schließlich lassen Grundrechte sich als objektive Wertentscheidungen deuten. Objektiv bedeutet dabei losgelöst von subjektiven Berechtigungen; Wert ist ein juristisch schwer zu bestimmendes aliud zu Geboten, Verboten und Erlaubnissen. Die Rechtsprechung ist in den 1950er- und 1960er-Jahren in einem Zusammenhang mit christlichabendländischen Werten gesehen worden. Dieser Zusammenhang hat sich inzwischen deutlich gelockert.53 Sowohl auf der Seite der Grundrechtsgewährleistungen, hier bei den Grundrechten als objektiven Wertentscheidungen, als auch bei der Beschränkung vorbehaltloser Grundrechte, wie Glaubens- oder Kunstfreiheit, ist der höchstrichterliche Anspruch, solch abstrakte Maßstäbe autoritativ selbst zu konkretisieren, auf Akzeptanzprobleme gestoßen54 und wurde wohl zurückgenommen. Auch insoweit gilt: Grundrechte sind primär subjektive Rechte des Individuums, nicht objektive Prinzipien. d) Grundrechtsschranken Kein Recht ist ohne Schranke. Das gilt für ein Grundrecht in besonderem Maße,55 denn angesichts der Weite seiner Gewährleistung sind Kollisionen und Konflikte mit Rechtsgütern und Interessen der Allgemeinheit oder anderer unvermeidbar; diese können nicht einseitig zugunsten des Grundrechts gelöst werden. Daher steht, mit Ausnahme der Menschenwürde, jedes Grundrecht, auch das Grundrecht auf Leben, unter einem Vorbehalt staatlicher Beschränkung und ist ein Grundrecht nur verletzt, wenn sich ein staatlicher Grundrechtseingriff nicht durch Grundrechtsschranken rechtfertigen lässt. Hierbei sind zu unterscheiden: Grundrechte unter einfachem Gesetzesvorbehalt, Grundrechte unter qualifiziertem Gesetzesvorbehalt und die vorbehaltlosen Grundrechte. Art. 2 Abs. 2 GG ist ein Beispiel für ein Grundrecht unter einfachem Gesetzesvorbehalt. Ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt ist Art. 5 Abs. 2 GG, der Eingriffe u. a. in die Meinungsfreiheit nur durch allgemeine Gesetze oder Gesetze zum Schutz der Jugend oder der persönlichen Ehre erlaubt. Vorbehaltlos ist ein Grundrecht ohne ausdrückliche Ermächtigung an den Gesetzgeber, Schranken zu ziehen, etwa die Freiheit BVerfGE 107, 313. Dazu kritisch Marc Schüffner, Eheschutz und Lebenspartnerschaft, 2007. Seine frühe Aussage, die Glaubensfreiheit des Grundgesetzes schütze nur, was „sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen herausgebildet hat“, hat das BVerfG 1975 ausdrücklich aufgegeben (E 41, 29 (50), im Unterschied zu BVerfGE 12, 1 (4)). Zu kultureller Identität heute Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004. 54 Vgl. etwa Josef Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis, in: Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages, Sitzungsberichte, Bd. II / 1 H (Festvortrag), 1996. 55 Grenzfall: die Garantie der Menschenwürde; vgl. unten. Wird sie als Grundrecht verstanden, ist jeder Eingriff eine Verletzung. Anders, wenn sie nicht als Grundrecht, sondern als deren Grundlage betrachtet wird. Dazu Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 377 ff., S. 427 ff. – Allgemein Andreas von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999. 52 53
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des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 1 GG).56 Auch hier darf der Gesetzgeber Schranken ziehen, dies aber nur im Interesse von Rechten und Gütern, die sich ihrerseits aus dem Grundgesetz ergeben (kollidierendes Verfassungsrecht). Solche Rechte und Güter, die sich aus dem Grundgesetz ergeben, haben denselben normativen Rang wie Art. 4 Abs. 1 GG. Deshalb kann bei einer Kollision nicht einfach Art. 4 Abs. 1 GG vorgehen, sondern muss – in den Worten des Bundesverfassungsgerichts – ein schonender Ausgleich nach Maßgabe praktischer Konkordanz gefunden werden. Für jede Anwendung eines Freiheitsgrundrechts ergeben sich damit folgende Prüfungsschritte: Ist der Schutzbereich des Grundrechts eröffnet, dies in persönlicher und in sachlicher Hinsicht? Liegt ein Grundrechtseingriff vor? Lässt sich der Grundrechtseingriff rechtfertigen, in formeller und in materieller Hinsicht? In formeller Hinsicht ist insbesondere nach einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage zu fragen, wobei die sogenannte Wesentlichkeitstheorie fordert, dass grundrechtswesentliche Fragen durch Parlamentsgesetz geregelt werden müssen und nicht Rechtsverordnungen oder Satzungen überlassen werden dürfen. In materieller Hinsicht ist insbesondere zu fragen, ob der Eingriff dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist eine Zweck-Mittel-Relation. Seine Anwendung setzt einen Grundrechtseingriff als Mittel und einen von diesem Grundrechtseingriff verfolgten Zweck voraus. Weder Zweck noch Mittel dürfen per se verfassungswidrig sein. Sind Zweck und Mittel nicht per se verfassungswidrig, so ist zu fragen, ob das Mittel im Hinblick auf den Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist. Geeignet ist ein Mittel, mit dessen Hilfe der Zweck gefördert werden kann. Erforderlich ist ein Mittel, wenn es kein milderes und im Hinblick auf den Zweck dennoch gleich wirksames Mittel gibt. Angemessen ist ein Mittel, wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt bleibt. Da „Zumutbarkeit“ ein äußerst vages Kriterium ist, billigt das Bundesverfassungsgericht jedenfalls dem Gesetzgeber (im Unterschied zu Exekutive und Judikative) eine Einschätzungsprärogative zu und schreitet nur ein, wenn die betroffenen Interessen ersichtlich wesentlich schwerer wiegen. Nur geringe praktische Bedeutung haben die in Art. 19 Abs. 1 und Abs. 2 GG ausdrücklich genannten formellen und materiellen Schrankenelemente. Nach Art. 19 Abs. 1 GG muss ein grundrechtseinschränkendes Gesetz allgemein sein, darf nicht nur für den Einzelfall gelten57 und muss das eingeschränkte Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. Die „psychologische Schranke“ des Zitiergebots ist vom Bundesverfassungsgericht mit zahlreichen Ausnahmen durchsetzt worden.58 Nach Art. 19 Abs. 2 GG darf in keinem Fall ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Diese Wesensgehaltgarantie hat auch nach 50 Jahren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine dogmatische Kontur; sie tritt völlig hinter den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zurück und könnte heute folgenlos aus dem Grundgesetz gestrichen werden.
56 Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG steht dazu nicht im Widerspruch. Dort ist kein Eingriffs-, sondern ein Ausgestaltungsvorbehalt geregelt. 57 Dazu BVerfGE 99, 367 (400). 58 Dazu Peter Axer, Zitiergebot, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 3 (im Erscheinen).
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Markus Heintzen 2. Das Individuum
Aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG, bis auf Art. 20 also Grundrechte, darunter drei Wirtschaftsgrundrechte, entnimmt das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung ein Menschenbild des Grundgesetzes. „Das (scil. dieses) Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.“59 Art. 1 Abs. 1 des Verfassungsentwurfs vom Herrenchiemsee sollte sinngemäß zum Ausdruck bringen, der Staat sei kein Selbstzweck, sondern um des Menschen willen da.60 Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes lautet seit 1949: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“61 Dies interpretierend ist auch unter Juristen einiges unumstritten. „Unantastbar“ heißt: Menschenwürde beruht auf dem Menschsein; sie steht jedem Menschen in gleicher Weise zu; sie beruht nicht auf staatlicher Verleihung. „Zu achten und zu schützen“ heißt: Der Staat ist zugleich Opponent der Menschenwürde, der Eingriffe zu unterlassen hat, wie Garant, der gegen Eingriffe Dritter62 oder ihre sonstige Gefährdung63 Schutz durch positives Tun zu gewähren hat. „Für das Menschenbild der Verfassung folgt daraus, dass es sich nicht auf den sich in den Grenzen des staatlichen Rechts frei entfaltenden und verwirklichenden Menschen reduzieren lässt. Der schwache, hilfsbedürftige und überforderte Mensch hat in ihm ebenso Platz wie die souveräne und auf sich gestellte Persönlichkeit.“64 Die Menschenwürde ist nicht abwägbar und damit eingriffsfest. All das ist in Art. 1 Abs. 1 GG verbindlich festgeschrieben und darf nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht geändert werden.65 Der Grundrechtsschutz der Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 2 Satz 1 beginnt vor der Geburt, nicht erst danach oder bei ausgebildeter Personalität. Das Bundesverfassungsgericht lässt bisher offen, „ob, wie es Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie nahe 59 BVerfGE 4, 7 (15 f.). Diese Entscheidung hat auch politischen Gehalt; in ihr steht auch, dass die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG gegen den staatlichen Steuergesetzgeber keinen Schutz biete und dass ein bestimmtes Wirtschaftssystem, insbesondere die Soziale Marktwirtschaft, durch das Grundgesetz nicht gewährleistet sei. Zuletzt zum Menschenbild BVerfGE 109, 133 (151). Ferner Ernst-Wolfgang Böckenförde, Das Bild vom Menschen in der Perspektive der heutigen Rechtsordnung, in: ders. (Hrsg.), Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 58 ff.; Peter M. Huber, Das Menschenbild im Grundgesetz, Jura 1998, S. 505 ff. 60 Originaltext in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts 1 (1951), S. 48. 61 Die Formulierung knüpft an die Präambeln der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 an, dort in der englischen Fassung „inherent dignity“. 62 Etwa Abtreibungen, Risiken der Atomindustrie, Embryonenforschung. Zu Letzterem vgl. Josef Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR 131 (2006), S. 173 (198 f.). 63 Etwa die Verfehlung des finanziellen Existenzminimums. 64 Peter M. Huber (FN 59), S. 505 (509). 65 Zur Menschenwürde aus dem juristischen Schrifttum: Christoph Enders (FN 55); Matthias Herdegen, in: Maunz / Dürig, Art. 1 Abs. 1, insb. Rn. 71 ff.; Josef Isensee (FN 62); Martin Nettesheim, Die Garantie der Menschenwürde zwischen metaphysischer Überhöhung und bloßem Abwägungstopos, AöR 130 (2005), S. 71 ff.
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legen, menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle entsteht“66. Zu umstrittenen Fragen wie Embryonenschutz und Stammzellenforschung hat das Gericht noch nicht konkret Position bezogen. Die Grundrechtsberechtigung endet mit dem Tod, der eintritt, wenn das gesamte Organ Hirn irreversibel funktionsunfähig geworden ist. Mit unterschiedlichen Begründungen wird ein postmortaler Persönlichkeitsschutz angenommen, der praktisch wichtig ist für die Totenruhe, die Organentnahmen67 und den Ehrschutz. 3. Die individuelle Lebenssphäre
Grundrechtlicher Freiheitsschutz gilt, ausgehend von der Menschenwürdegarantie, der privaten Lebenssphäre des Individuums. Anders als Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention68 kennt das Grundgesetz zwar kein umfassendes Recht auf Privatheit. In diese Rolle ist das aus dem Zivilrecht übernommene, verfassungsrechtlich auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gestützte allgemeine Persönlichkeitsrecht hineingewachsen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen; es sichert einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem der Einzelne seine Individualität entwickeln und wahren kann.69 Neben dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht sind insoweit zu nennen: die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG), die Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG), die Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG)70, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 GG), der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und der Kindererziehung (Art. 6 Abs. 2 bis 5 GG),71 einschließlich des schulischen Religionsunterrichts (Art. 7 Abs. 2 und 3 GG),72 das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG). Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG sind die Normen, in denen bei den Beratungen über das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat kirchlicher Einfluss am stärksten zur Geltung gekommen ist. Dies lässt sich heute noch an Auffälligkeiten der Formulierung erkennen. Dort ist von „der staatBVerfGE 88, 203 (251). Dazu Josef Isensee, Grundrechtsschutz nach dem Hirntod – Verfassungsrechtliche Aspekte der Organtransplantation –, in: Ursula Nothelle-Wildfeuer / Norbert Glatzel (Hrsg.), Christliche Sozialethik im Dialog. Zur Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Festschrift für Lothar Roos, 2000, S. 583 ff. 68 Dazu Stefan Breitenmoser, Der Schutz der Privatsphäre gemäß Art. 8 EMRK, 1986. 69 BVerfGE 54, 148 (153); 72, 155 (170); 79, 256 (268). Zu der Frage, ob es der Gesetzesvorbehalt der Strafjustiz ermöglicht, tagebuchähnliche Aufzeichnungen zur Überführung eines Mörders zu beschlagnahmen und zu verwerten, BVerfGE 80, 367. 70 Zu den Fragen und Problemen, die daraus erwachsen, dass philosophisch und theologisch geprägte Begriffe, indem sie in Grundrechtsverbürgungen übernommen werden, zugleich staatlicher Definitionsmacht überantwortet werden: Josef Isensee, Wer interpretiert die Freiheitsrechte?, 1980. Zur philosophischen Prägung der Art. 1 bis 3 GG: Matthias Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie (im Erscheinen). 71 Vgl. dazu die Kommentierung von Matthias Jestaedt, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 6 Abs. 2 und 3 (Stand: Dezember 1995). 72 Zu verfassungsrechtlichen Besonderheiten Ostdeutschlands aufgrund von Art. 141 GG: BVerfGE 104, 305; BVerwGE 110, 326. 66 67
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lichen Ordnung“ bzw. der „staatliche(n) Gemeinschaft“ die Rede, nicht, wie sonst im Grundgesetz, von der staatlichen Gewalt; weiter ist nur dort von einem „natürlichen“ Recht die Rede. Dem Schutz der individuellen Lebenssphäre dienen weiter, schon außerhalb der Privatsphäre, die auf die staatliche Justiz bezogenen Grundrechte: die Garantie des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 GG), die Abschaffung der Todesstrafe (Art. 102 GG), den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), rechtsstaatliche Bindungen von Strafjustiz, Strafverfolgungsorganen und Polizei (Art. 103 Abs. 2 und 3, Art. 104 GG), schließlich das in seiner Wirksamkeit leicht unterschätzte Petitionsrecht (Art. 17, 17a GG).73 Diese Justizgrundrechte sind u. a. in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a) GG, der Vorschrift, in der aufgezählt wird, auf welche Bestimmungen des Grundgesetzes eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht gestützt werden kann, als besondere Normgruppe ausgewiesen. Sie werden ergänzt von Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips, die nicht ausdrücklich positiviert sind, wie dem Verbot überlanger Verfahren, dem Folterverbot oder der Unschuldsvermutung. Einige Grundrechte schützen sowohl die private als auch die öffentliche Ausübung, so die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) forum internum und forum externum, die Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG private und öffentliche Meinungen, die Wissenschafts- und die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) deren Werk- und Wirkbereich, schließlich die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 GG), bei Letzterer wird, ebenso wie bei Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zwischen einer individuellen und einer kollektiven Gewährleistungsdimension unterschieden.74 Eine vierte Gruppe von Freiheitsgrundrechten beschäftigt sich mit dem Aufenthalt im Staatsgebiet und der Staatsangehörigkeit; sie besteht aus der Freizügigkeit (Art. 11), einschließlich der Einreisefreiheit der Deutschen, der Ausreisefreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), dem Schutz vor Ausbürgerung und Auslieferung (Art. 16 Abs. 1 und 2 GG) und dem Asylrecht, das als einziges Grundrecht nur Ausländern zusteht (Art. 16 a GG) und das Schutz gegen politische Verfolgung,75 nicht aber gegen Armut und Unterentwicklung bietet. Als sogenannte allgemeine Handlungsfreiheit ist Art. 2 Abs. 1 GG lex generalis zu den speziellen Freiheitsgrundrechten. In deren Anwendungsbereich tritt Art. 2 Abs. 1 GG zurück. Positiv heißt das, die Norm kommt nur zum Zuge bei menschlichen Betätigungen, die von keinem speziellen Freiheitsgrundrecht erfasst sind. Dies können triviale Tätigkeiten sein, so das Füttern von Tauben in öffentlichen Parks.76 Bei Art. 2 Abs. 1 GG ressortiert aber z. B. auch die Vertragsfreiheit.77 Seiner Funktion nach als „Auffang73 Zum Petitionsrecht vgl. auch die Art. 45b und 45c GG zu Wehrbeauftragtem und Petitionsausschuss. 74 Schon im Interesse einer komprimierten Darstellung wird bei diesen Grundrechten hier der jeweils zweite Aspekt hervorgehoben. 75 Definition in: BVerfGE 76, 143 (157 ff.); 80, 315 (335). Diese Definition lehnt sich eng an die Genfer Flüchtlingskonvention an. 76 BVerfGE 54, 143. 77 Zur Vertragsfreiheit vgl. BVerfGE 88, 384 (403); 89, 48 (61); 103, 197 (215).
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grundrecht“ hat Art. 2 Abs. 1 einen sachlich unbestimmten und offenen Schutzbereich. Man kann die Norm so lesen, als stünde dort: „Jeder kann tun und lassen, was er will, sofern er nicht gegen Gesetze verstößt, die formell und materiell verfassungsgemäß, die insbesondere verhältnismäßig sind.“ Die Begriffe „Entfaltung“, „Persönlichkeit“ und auch „Sittengesetz“ haben in der Rechtspraxis der Bundesrepublik Deutschland seit dem Ende der Naturrechtsrenaissance der 1950er-Jahre keine Bedeutung – was man bedauern mag, was man aber zunächst zur Kenntnis nehmen muss. Die Gleichheitsgrundrechte schließlich entziehen sich einer Einteilung nach privat und öffentlich, weil sie keine Schutzbereiche haben, die so qualifiziert werden könnten. Sie unterteilen sich in drei Normtypen: spezielle Gewährleistungen wie die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die Wahlrechtsgleichheit oder die Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten (Art. 3 Abs. 2, 38 Abs. 1 Satz 1 und 33 Abs. 1 GG), Diskriminierungsverbote, etwa das Verbot der Benachteiligung oder Bevorzugung wegen des Glaubens oder wegen religiöser oder politischer Anschauungen (Art. 3 Abs. 3 GG), den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“). Gleichheit ist grundsätzlich Rechtsgleichheit, zum Teil als Chancengleichheit; nur in wenigen Fällen wird der Staat verpflichtet, auf die sozialen Verhältnisse im Sinne von tatsächlicher Gleichstellung einzuwirken (vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 und Art. 6 Abs. 5 GG). Von einem Normsetzer verlangt Art. 3 Abs. 1 GG nach der ursprünglichen Willkürformel des Bundesverfassungsgerichts, wesentlich Gleiches nicht willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches nicht willkürlich gleich zu behandeln; Willkür bedeutet das völlige Fehlen eines sachlichen Grundes. Diese Formel lässt dem Gesetzgeber viel Spielraum; es ist sehr selten, dass sich für sein Handeln gar kein sachlicher Grund finden lässt. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb, je nach der Intensität, mit der eine Ungleichbehandlung die Betroffenen beeinträchtigt, die Willkürformel verschärft. Nach der sogenannten neuen Formel ist Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu einer anderen Gruppe anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und von solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten.78 Für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung genügt nach der neuen Formel nicht mehr irgendein sachlicher Grund. Nähere Maßstäbe und die Abgrenzung der Anwendungsbereiche von Willkürformel und neuer Formel lassen sich – so das Bundesverfassungsgericht – nicht abstrakt-allgemein, sondern nur bezogen auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche präzisieren.
4. Die „Gesellschaft“
Das Grundgesetz hat keine Angst vor intermediären Gewalten. Auf der anderen Seite kann sich jede gesellschaftliche Organisation dank Art. 19 Abs. 3 auf ein sie gegen den Staat schützendes Grundrecht berufen: die Kirchen auf Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 140 GG, die Medien auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG, Kunst und Wissenschaft auf Art. 5 Abs. 3 GG, die Verbände auf Art. 9 Abs. 1 GG, die Gewerkschaften und die Arbeitgeberorganisationen auf Art. 9 Abs. 3 GG, die Unternehmen auf Art. 12 Abs. 1 78
Zusammenfassend BVerfGE 107, 27 (46).
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und Art. 14 Abs. 1 GG, die politischen Parteien auf Art. 21 Abs. 1 GG. Jede dieser Bestimmungen ist eine vom Staat gewährte Freiheit, mit dem Vorbehalt staatlicher Eingriffe zugunsten des Gemeinwohls. Dieser Vorbehalt mag politisch zum Teil schwer durchsetzbar sein, verfassungsrechtlich ist er unproblematisch. Der Staat ist kein bloßes gesellschaftliches „Subsystem“ neben anderen, sondern diesen in seiner Gemeinwohlverantwortung übergeordnet. Keine dieser Bestimmungen gewährleistet Autonomie oder gar Privilegien, keine ist Grundlage einer Teilverfassung.79 Sie thematisieren selten ausdrücklich die Betätigung dieser Organisationen, häufiger dafür ihre Gründung oder ihren Bestand80 oder die Betätigung des Individuums in ihnen.81 Entsprechend schützt Art. 12 Abs. 1 GG die Wahl eines Berufes stärker als dessen Ausübung. Berufsausübungsregelungen, darin eingeschlossen Regelungen zur Ausübung gewerblicher und unternehmerischer Tätigkeit, werden im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit von jeder vernünftigen Erwägung des Gemeinwohls legitimiert.
VI. Die Staatsorganisation Die Staatsorganisation der Bundesrepublik Deutschland beruht auf vier Verfassungsprinzipien, die in Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG enthalten sind: auf dem Demokratie-, dem Rechtsstaats-, dem Sozialstaats- und dem Bundesstaatsprinzip, die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG auch nicht mit verfassungsändernder Mehrheit aufgehoben oder umgestaltet werden können, die in den weiteren staatsorganisationsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes ausgestaltet werden und denen, soweit übertragbar, im Interesse notwendiger Homogenität auch die Verfassungen der Bundesländer (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) und die Europäische Union (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG) zu entsprechen haben. Der Kreis grundlegender Verfassungsprinzipien wird zum Teil weiter gezogen und ergänzt um Parteienstaatlichkeit, internationale Offenheit oder kommunale Selbstverwaltung. Unmittelbar Art. 20 Abs. 1 GG kann noch das republikanische Prinzip entnommen werden, das sich nicht in einer Absage an eine Monarchie erschöpft, sondern die Amtsträger auf das Gemeinwohl verpflichtet82 und dem sich „Ehrenamt“ oder „Zivilgesellschaft“ zuordnen ließen. Zwischen den grundlegenden Verfassungsprinzipien gibt es „Antinomien“ – eine grundgesetzliche Fortsetzung der antiken Lehre von der gemischten Verfassung. 79 „Teilverfassungen“ stehen in einem Widerspruch zum Charakter des Grundgesetzes als Rahmenverfassung. Teilverfassungen wollen rechtliche Grundordnungen gesellschaftlicher Teilbereiche wie Medien, Religion oder Wirtschaft sein. So hat das BVerfG aus den nur acht Wörtern der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG), insbesondere in den Zeiten grundsätzlicher Auseinandersetzung zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkbetreibern, eine duale Rundfunkordnung mit konkreten Vorgaben zu ihrer Ausgestaltung deduziert; diese Entscheidungen sind zunächst nummeriert worden; nach dem 8. Rundfunkurteil hat man mit dem Zählen aufgehört; das kumulierte Textvolumen dieser Entscheidungen muss angesichts ihrer schmalen normativen Grundlage erstaunen. Teilverfassungskonstruktionen bergen die Gefahr einer Verflüchtigung normativer Substanz und Seriosität und einer Verrechtlichung wichtiger gesellschaftlicher Diskussionen. Ebenso kritisch: Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff. 80 Vgl. Art. 9 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3 Satz 1, Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG sowie Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 2 WRV (anders Art. 137 Abs. 3 WRV). 81 Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Art. 3 GG. 82 In diesem Sinne Josef Isensee, Republik – Sinnpotential eines Begriffs, JZ 1981, S. 1 ff.; vgl. auch Stefan Huster, Republikanismus als Verfassungsprinzip, in: Der Staat 34 (1995), S. 606 ff.
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1. Das Demokratieprinzip
Demokratie ist ein Rechtsbegriff des Grundgesetzes. Was, ausgehend von dem natürlichen Wortsinn „Herrschaft des Volkes“, unter dem Grundgesetz Demokratie heißt, ist deshalb keine Frage politischer Programmatik oder staatsphilosophischer Reflexion, sondern eine Frage der Grundgesetzinterpretation.83 Volk ist für das Grundgesetz der föderal gegliederte Verband der deutschen Staatsangehörigen,84 nicht die Summe der von der Ausübung deutscher Staatsgewalt Betroffenen. Die Herrschaft des Volkes wird, so der Grundsatz in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung, also repräsentativ-gewaltenteilig, in Wahlämtern auf Zeit ausgeübt. Vor der Herrschaftsausübung liegt deren Begründung, die das Grundgesetz der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes zuschreibt. „Verfassungsgebende Gewalt“ ist eine verfassungsrechtlich prekäre Größe; sie ist Voraussetzung und Grundlage einer staatlichen Rechtsordnung, kann darum nicht deren Teil sein. Im Stufenbau der Rechtsordnung ist die verfassungsgebende Gewalt des Volkes der Punkt, der juristisch nicht mehr hinterfragt werden kann; wer z. B. behauptet, Verfassungsgebung müsse demokratisch sein, ist in der Verlegenheit, schlecht angeben zu können, aus welchen Rechtsnormen sich dieses Demokratiegebot ergibt.85 In Betracht kommen: Naturrecht oder Völkerrecht. Weitere Problemlösungen sind die Erklärung der Verfassungsgebung als politisches Machtphänomen,86 ihre nachträgliche Legitimation durch Vollzug. Die Folgefrage, wo die vom Volk ausgehende Staatsgewalt „hingeht“,87 lässt sich leichter beantworten. Ihr Weg entspricht den vom Grundgesetz vorgegebenen Formen demokratischer Legitimation.88 Dies sind die funktionell-institutionelle, die organisatorisch-personelle und die sachlich-inhaltliche Legitimation. Funktionell-institutionelle Legitimation beruht darauf, dass staatliche Funktionen und Institutionen in der Verfassung selbst vorgesehen sind. Organisatorisch-personelle Legitimation erhalten Organe oder das Personal des Staates durch eine ununterbrochene Kette von Wahl- und Ernennungsakten, die unmittelbar oder mittelbar auf das Volk zurückführt; so wird ein Bun83 Insbesondere der Art. 20 Abs. 1, 23 Abs. 1 Satz 1 und 28 Abs. 1 Satz 1 GG. Zur Terminologie des Grundgesetzes vgl. die nützliche Zusammenstellung von Angela Bauer / Matthias Jestaedt (FN 8). 84 Unter Ausschluss der ca. 7,3 Millionen legal in Deutschland wohnenden Ausländer, es sei denn, diese haben neben der ausländischen auch eine deutsche Staatsangehörigkeit (was in Berlin auf ca. 30 Prozent der ca. 170 000 dort lebenden Türken zutrifft). 85 Carl Schmitt würde die verfassungsgebende Gewalt, bei ihm verfassunggebende Gewalt, in den Bereich der von ihm sogenannten Politischen Theologie verweisen; ders., Politische Theologie I, 3. Aufl., 1979; ders., Politische Theologie II, 1970. 86 Das ist naheliegend, wenn Verfassungsgebung die Folge einer siegreichen Revolution ist. 87 Formulierung bei Bert Brecht, Drei Paragraphen der Weimarer Verfassung. Paragraph I, in: ders., Gedichte Bd. I, 1967, S. 378. 88 Zum Weiteren Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie (FN 33), Rn. 14 – 22. Modifizierend zur funktionalen Selbstverwaltung BVerfGE 107, 59; dazu Matthias Jestaedt, Demokratische Legitimation – quo vadis?, JuS 2004, S. 649 ff.; Andreas Musil, Das Bundesverfassungsgericht und die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, DÖV 2004, S. 116 ff. Ein anderes Demokratiekonzept etwa bei Martin Nettesheim, Demokratisierung der Europäischen Union und Europäisierung der Demokratietheorie, in: Peter M. Huber u. a. (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005.
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desbeamter vom Bundespräsidenten ernannt, der von der Bundesversammlung gewählt worden ist, die ihrerseits aus Mitgliedern der Volksvertretung des Bundes und der Länder besteht. Sachlich-inhaltliche Legitimation bedeutet, dass die Staatstätigkeit ihrem Inhalt nach dem Volk zugerechnet werden kann, etwa weil eine Maßnahme der Verwaltung einem Gesetz entspricht, das vom Parlament, der Volksvertretung, erlassen worden ist. Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes ist ein Prinzip der Staatsorganisation. Das Grundgesetz fordert nicht seine Übertragung auf nicht-staatliche Organisationen, wie Wirtschaftsunternehmen, Kirchen, Verbände. Diese entscheiden aus grundgesetzlicher Sicht autonom, wie sie sich organisieren. Die Freiheitsgrundrechte schützen auch gegen staatlich verfügte Ablösung von Selbstbestimmung durch Mitbestimmung in einem Kollektiv. Anders ist es, wegen ihrer besonderen Staatsnähe, bei den politischen Parteien, deren innere Ordnung gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG demokratischen Grundsätzen entsprechen muss. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG nennt als Legitimationsquellen Wahlen und, danach, Abstimmungen. Wahlen sind Entscheidungen zu Personalfragen, Abstimmungen Entscheidungen zu Sachfragen. Zu den Bundestagswahlen enthält Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG Grundsätze: Sie müssen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein. Das Wahlsystem ist verfassungsrechtlich nicht festgelegt; die Entscheidung zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl ist gemäß Art. 38 Abs. 3 GG Sache des einfachen Gesetzgebers. § 1 Abs. 1 Satz 2 Bundeswahlgesetz entscheidet sich für ein mit der Personenwahl verbundenes Verhältniswahlsystem. Der Bundestag ist das Verfassungsorgan, welches das Volk (nicht die Gesellschaft)89 repräsentiert. Die Bundesrepublik erweist sich darin als eine parlamentarische Demokratie – im Unterschied zu einem Präsidialsystem, wo Repräsentant des Volkes nicht ein Parlament, sondern ein Präsident ist. Der Bundestag verfügt über die klassischen Funktionen eines Parlamentes: die Wahlfunktion, die Legislativfunktion, die Kontrollfunktion und die Öffentlichkeitsfunktion, die er, politisch in Fraktion und sachlich in Ausschüsse gegliedert, wahrnimmt. Das Grundgesetz ist, vor dem Hintergrund negativer Weimarer Erfahrungen, bei Plebisziten zurückhaltend. Es bekennt sich zum Grundsatz der repräsentativen Demokratie und erwähnt Plebiszite nur in Art. 29 (Neugliederung des Bundesgebietes). Die Agenda für Plebiszite dürfte auf Bundesebene nur durch Grundgesetzänderung erweitert werden, für die Mehrheiten politisch nicht in Sicht sind. Auf der Ebene der Bundesländer und der Kommunen, für die Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG auch gilt, eröffnet sich für Plebiszite dagegen breiterer Raum. Bindeglied zwischen dem Volk und der organisierten Staatlichkeit sind gemäß Art. 21 Abs. 1 GG die politischen Parteien. In ihnen spiegelt sich die Konfliktstruktur der Gesellschaft. Die Parteien sind staatsfreie, gesellschaftliche Organisationen, auf die aber wegen ihrer Mittlerfunktion Grundsätze der Staatsorganisation, insbesondere das Demokratieprinzip, übertragen werden und die eine staatliche Teilfinanzierung erhalten.90 Mit „Parteienstaat“ bringt man positiv zum Ausdruck, dass politische Parteien für das FunkZu diesen beiden Begriffen vgl. FN 27. Über sie ist in sechs größeren Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gerungen worden: BVerfGE 8, 51; 20, 56; 24, 300; 52, 63; 73, 40; 85, 264. 89 90
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tionieren einer parlamentarischen Demokratie unverzichtbar sind, zum Teil aber auch negativ, dass die Parteien ihre hervorgehobene Position missbrauchen, insbesondere zu Ämterpatronage im Staatsdienst, die mit dem dort geltenden Prinzip der Bestenauslese (Art. 33 Abs. 2 GG) unvereinbar ist, und zur Beeinflussung der Abgeordneten, deren Mandat gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG frei ist. Im Parteienstaat ändert das Gewaltenteilungsprinzip seinen Inhalt. Es stehen nicht mehr Parlament und Regierung einander gegenüber, sondern Parlamentsmehrheit und Regierung einerseits und parlamentarische Opposition andererseits. 2. Das Rechtsstaatsprinzip
Rechtsstaat ist eine spezifisch deutsche Wortprägung, die sich der Sache nach als gemeineuropäisches Verfassungsprinzip etabliert hat. Ausgangspunkt ist das Ideal von der Herrschaft der Gesetze: Gesetze sollen regieren, nicht Menschen.91 Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass die Ausübung staatlicher Macht nur auf der Grundlage der Verfassung und von formell und materiell verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig ist.92 Dem Rechtsstaatsprinzip werden formelle und materielle Elemente entnommen, die untereinander und im Verhältnis insbesondere zu Demokratie- und Sozialstaatsprinzip vielfältig in Antinomie-, aber auch Ergänzungsbeziehungen stehen, welche nicht einseitig aufgelöst werden können. Wichtige Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips sind die Verfassungsstaatlichkeit, die Freiheitlichkeit, die Rechtsgleichheit, die Gewaltenteilung, der Vorrang und der Vorbehalt des Gesetzes, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der effektive Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte, das öffentlich-rechtliche Ersatzleistungssystem, der Vertrauensschutz und das Übermaßverbot. Rechtsstaatlichkeit lässt sich nicht auf Gesetzesförmlichkeit reduzieren; das Grundgesetz macht in Art. 20 Abs. 3 mit der Formel „Gesetz und Recht“ selbst deutlich, dass Gerechtigkeit in positivierten Normen nicht aufgeht. Andererseits darf der Gerechtigkeitsgehalt formaler Regelhaftigkeit nicht unterschätzt werden. Solche Regelhaftigkeit steht etwa in einem klaren Gegensatz zu einem der Charakteristika jedes Unrechtsregimes, zur Willkür. Zur Lösung eines möglichen Konflikts zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit hat, vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes und mit Blick auf das nationalsozialistische Unrechtsregime, Gustav Radbruch mit seiner berühmten Formel das Wesentliche gesagt: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“93 In einem funktionierenden Verfassungsstaat ist dieser Grenzfall theoretisch, denn ein Gesetz, das in unerträglichem Widerspruch zur Gerechtigkeit steht, wird regelmäßig verfassungswidrig und nichtig sein.
91 92 93
Dazu Josef Isensee, in: ders. / Paul Kirchhof (Hrsg.) (FN 1), § 15 Rn. 172. So Klaus Stern (FN 12), S. 781, der dies als unstreitig bezeichnet. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl., 1973, S. 345.
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Markus Heintzen 3. Das Sozialstaatsprinzip
Das Sozialstaatsprinzip unterscheidet sich von Demokratie-, Rechtsstaats- und Bundesstaatsprinzip. Dies nicht, weil es nur in einem Adjektiv, einem nicht so gewichtigen Beiwort („sozial“) Eingang in die Art. 20 Abs. 1, 23 Abs. 1 Satz 1 und 28 Abs. 1 Satz 1 GG gefunden habe, die Prinzipien sind normativ trotzdem gleichrangig. Sondern weil es weniger die Organisation als ein wichtiges Ziel des Staates, die soziale Gerechtigkeit, betrifft. Und dieses Ziel ist ständigen Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse ausgesetzt. Es eignet sich darum weniger für grundsätzliche Festlegungen in einer Verfassung, derer das Grundgesetz sich auch enthält.94 Das Grundgesetz beschränkt sich auf eine verbindliche Zielvorgabe, die den politischen Kräften so viel Spielraum lässt, dass der Vorwurf, ein Gesetz sei sozialstaatswidrig, nur selten begründet sein wird.95 Das Sozialstaatsprinzip enthält insbesondere kein Rückschrittsverbot, steht einem Abbau staatlicher Sozialleistungen also nicht grundsätzlich entgegen. 2005 ist knapp die Hälfte des Bundeshaushalts (ca. 260 Mrd. Euro) für Zwecke der sozialen Sicherung ausgegeben worden (insgesamt ca. 125 Mrd. Euro), insbesondere als Staatszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung. Das Grundgesetz nennt weiter wichtige Strukturen von Sozialstaatlichkeit, insbesondere die Sozialversicherungen (einschließlich der Arbeitslosenversicherung) als öffentlich-rechtliche Pflichtversicherungen mit dem Recht auf Selbstverwaltung unter staatlicher Aufsicht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 und Art. 87 Abs. 2 GG), die Sozialhilfe als moderne, subjektivrechtliche Fortsetzung früherer Armenfürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG), das Arbeitsrecht als Schutzrecht für typischerweise sozial schwächere Arbeitnehmer (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) und die Ausbildungsförderung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 13 GG). Das Grundgesetz stellt diese Strukturen neben das Tarifvertragssystem (zu diesem Art. 9 Abs. 3 GG).96 Zwischen sozialstaatlicher Intervention und grundrechtlicher Freiheit und Eigenverantwortung gibt es Spannungen, die zu einem verhältnismäßigen Ausgleich zu führen sind. Gemäß § 31 des Sozialgesetzbuches – Allgemeiner Teil – (SGB I) setzen, vereinfacht formuliert, Ansprüche auf Sozialleistungen eine parlamentsgesetzliche Grundlage voraus; sie können nicht unmittelbar aus dem Sozialstaatsprinzip deduziert werden. Das Sozialstaatsprinzip steht in einem engen Zusammenhang mit den Staatseinnahmen. Gesamtstaatlich sind insoweit drei große Posten zu nennen: die Steuereinnahmen (2005 gesamtstaatlich ca. 490 Mrd. Euro), das Aufkommen an Sozialversicherungsbeiträgen und die Staatsverschuldung (Nettokreditaufnahme 2005 49,5 Mrd. Euro).97 Solidaritätsbasis von Sozialversicherungsbeiträgen ist der Versichertenkreis98, von Steuern 94 Ewald Wiederin, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, VVDStRL 64 (2005), S. 53 (72) begreift dies als radikalen Bruch mit der eigenen Tradition. Zu europäischen Perspektiven vgl. Jens-Peter Schneider, Verwaltungsrechtliche Instrumente des Sozialstaates, ebd., S. 238 ff. 95 Vgl. BVerfGE 45, 376 – Ausschluss eines durch eine Berufskrankheit der Mutter vor der Geburt geschädigten Kindes von der gesetzlichen Unfallversicherung. 96 Zu dem Verhältnis von Art. 9 Abs. 3 GG zum Solidaritätsprinzip: Franz Reimer, Personalität, Solidarität, Subsidiarität? Zur Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes, in: Freiburger Universitätsblätter, Heft 173, 2006, S. 97 (112). 97 Zahlenmaterial in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2006 für die Bundesrepublik Deutschland.
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und Krediten die Volkswirtschaft, nicht Staatsvolk und Bürger. Steuern sind nicht nur quantitativ, sondern auch wegen ihrer Gegenleistungsfreiheit und ihrer freien Verfügbarkeit für das Parlament das wichtigste Finanzierungsinstrument. Sie belasten wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, dies ggf. progressiv99; sie dürfen auch zu Zwecken der Umverteilung zwischen Reich und Arm und gesellschaftlicher Lenkung eingesetzt werden. Dem staatlichen Steuerzugriff setzen die Freiheitsgrundrechte nur schwache Grenzen. Die Eigentumsgarantie schützt grundsätzlich nicht das Vermögen als solches, auf das die Steuer zugreift, sondern nur einzelne Vermögensgüter, und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz setzt als Zweck-Mittel-Relation einen klar begrenzten Zweck voraus, Einnahmeerzielung ist aber insbesondere quantitativ nicht klar zu begrenzen.
4. Das Bundesstaatsprinzip
Das Bundesstaatsprinzip hat es schwerer als Demokratie-, Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip, im Bewusstsein der Öffentlichkeit als grundlegend und wichtig akzeptiert zu werden. Es steht in einem Spannungsverhältnis zu der Erwartung gleichwertiger oder einheitlicher Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet; ihm wird vorgeworfen, eine Ursache für Überbürokratisierung – Beispiele wären die Kultusministerkonferenz, Politikblockaden sowie die Oppositionsmehrheit im Bundesrat – zu sein. Spätestens seit der Wiedervereinigung Deutschlands lässt es sich aber wieder mit landsmannschaftlichen Unterschieden rechtfertigen. Weitere Rechtfertigungen sind vertikale Gewaltenteilung, ein begrenzter Wettbewerb um die richtige politische Lösung und letztlich doch größere Bürgernähe und Effizienz beim Verwaltungsvollzug und im Finanzwesen. Bundesstaat ist nach der klassischen, keiner konkreten Verfassungsordnung verhafteten Definition von Gerhard Anschütz „ein Gesamtstaat, körperschaftlich zusammengesetzt aus einfachen Staaten, die einerseits ihm unterworfen, andererseits beteiligt sind bei der Bildung seines Willens“.100 Die Bundesrepublik Deutschland besteht danach aus 17 Staaten, dem Bund und den 16 Bundesländern. Der Bund als Gesamtstaat hat die grundsätzliche Befugnis zu einheitlicher Außenvertretung; bei ihm liegen Souveränität und Kompetenz-Kompetenz. Die Länder haben Staatsqualität, sind also mehr als Verwaltungseinheiten. Die Kommunen sind in der föderalen Zwei-Ebenen-Konstruktion Teil der Länder.101 Aus ihrer Staatsqualität folgt, dass die Länder politisch gewichtige Entscheidungszentren mit eigenen Kompetenzen und eigener Finanzausstattung sind. Dies setzt eine Aufteilung der staatlichen Aufgaben und Befugnisse auf den Bund und auf die Länder 98 Zur Bismarck-Zeit, als das Sozialversicherungssystem geschaffen wurde, waren es ca. 10 Prozent der Bevölkerung. Derzeit sind es fast 90 Prozent, mit der Tendenz, die verbleibenden 10 Prozent – im Wesentlichen Selbstständige und Beamte – als Nettozahler für ein zuletzt chronisch defizitäres System zu vereinnahmen, das sich dann Bürgerversicherung nennen soll. 99 Zur Steuerprogression: Kurt Schmidt, Die Steuerprogression, 1960; Michael Elicker, Kritik der direkt progressiven Einkommensbesteuerung, StuW 2000, S. 3 ff.; Lutz Lammers, Steuerprogression (im Erscheinen). 100 Gerhard Anschütz, Das System der rechtlichen Beziehungen zwischen Reich und Ländern, in: ders. / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 1930, S. 295. 101 Bei den sogenannten Stadtstaaten Berlin, Hamburg und – eingeschränkt – Bremen fallen die Rollen „Land“ und „Stadt“ sogar zusammen.
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voraus, die nur im Grundgesetz als normativer Klammer erfolgen kann, nicht in einfachen Gesetzen von Bund oder Ländern. Das Grundgesetz widmet dem breiten Raum, getrennt nach Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung und Finanzen. Im Bereich der Gesetzgebung ist die Rolle der Länder gering, aber auch der hier aktivere Bund sieht sich zunehmender Konkurrenz durch die Europäische Union ausgesetzt. Im Bereich der Verwaltung ist es umgekehrt. Hier liegt das Schwergewicht bei den Ländern, die nicht nur ihre eigenen Gesetze ausführen, sondern grundsätzlich auch die Gesetze von Bund und Europäischer Union (Art. 83 GG). Bundesgerichte sind im Wesentlichen: das Bundesverfassungsgericht, der Bundesgerichtshof, das Bundesarbeitsgericht, das Bundesverwaltungsgericht, das Bundessozialgericht und der Bundesfinanzhof. Die instanziell nachgeordnete Arbeitsebene der Justiz, aber auch die Personalrekrutierung, ist Sache der Länder. Eine komplizierte Finanzverfassung schließlich versucht, Finanzkraft und Finanzbedarf von Bund und Ländern zu einem Ausgleich zu bringen. All diesen Regeln ist die grundsätzliche Aussage des Art. 30 GG vorangestellt, wonach die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder ist, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt. Art. 30, entsprechend Art. 70 Abs. 1 GG, gehen von einem grundsätzlichen Vorrang der Länder als kleineren Einheiten aus. Neben einer Kompetenztrennung muss es Regelungen über ein Zusammenwirken von Bund und Ländern geben. Insoweit sieht das Grundgesetz vor allem den Bundesrat, durch den die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mitwirken (Art. 50 GG), Aufsichts- und Einwirkungsrechte des Bundes und schließlich das Bundesverfassungsgericht vor. Ihre historischen Wurzeln hat die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland weniger in der Anerkennung von Grund- und Menschenrechten als im Föderalismus. Im Verhältnis der Bundesländer untereinander ist kooperativer Föderalismus rechtlich leichter zu installieren als im Verhältnis der Länder zum Bund, denn in diesem horizontalen Verhältnis stößt er nicht auf Kompetenzschranken wie das Verbot einer Mischverwaltung. Am 1. September 2006 ist mit der sogenannten Föderalismusreform eine umfangreiche Änderung des Grundgesetzes in Kraft getreten. Reformziele waren: die Stärkung der Gesetzgebung beider Ebenen, insbesondere durch eine deutlichere Kompetenzzuordnung, der Abbau von Zustimmungs- und damit Vetorechten des Bundesrates bei der Bundesgesetzgebung, insbesondere durch die Änderung von Art. 84 Abs. 1 GG, weiterhin der Abbau von Mischfinanzierungen und die Betonung von Verantwortlichkeiten, ein Dauerthema, und die Stärkung der Europatauglichkeit der föderalen Ordnung. Eine Neuregelung der immer komplizierter gewordenen bundesstaatlichen Finanzbeziehungen soll als Föderalismusreform II folgen. In der Entwicklung der bundesstaatlichen Ordnung haben sich in der Bundesrepublik Deutschland mehr unitarischzentralistische und mehr föderalistisch-dezentrale Konjunkturen abgelöst.102 Mit der Föderalismusreform setzt sich ein föderalistischer Trend fort, der in den 1980er-Jahren begonnen hat und durch die Wiedervereinigung Deutschlands unterbrochen worden ist, welche die Rolle des Bundes gestärkt hat.
102
1907.
Vgl. den Klassiker: Heinrich Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche,
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5. Das Verhältnis von Staat und Kirchen
In Art. 137 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung steht: „Es besteht keine Staatskirche.“ Dort steht nicht, Staat und Kirche seien getrennt. Der Ausschluss der Staatskirche bedeutet, dass Kirche und Religion sich aus dem staatlichen Bereich zurückziehen und dass der Staat religiös neutral und tolerant ist. Der Ausschluss der Staatskirche verhindert aber nicht, dass Staat und Kirchen, organisatorisch getrennt, in besonderer Weise kooperieren. Im Gegenteil: Das Grundgesetz thematisiert einzelne Kooperationsagenden ausdrücklich: den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen (Art. 7 Abs. 3 GG103), die Kirchensteuer, die mit Unterstützung der staatlichen Finanzverwaltung erhoben wird (Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 6 WRV),104 die Staatsleistungen an die Kirchen (Art. 140 GG i.V. m. Art. 138 Abs. 1 WRV), den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage, die „als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ gesetzlich geschützt werden (Art. 140 GG i.V. m. Art. 139 WRV), schließlich die Anstaltsund Militärseelsorge (Art. 140 GG i.V. m. Art. 141 WRV). Hinzu kommen Vorschriften, welche die Kooperation von Staat und Kirchen nicht ausdrücklich, aber implizit erfassen; dies betrifft etwa die theologischen Fakultäten an staatlichen Hochschulen (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG), das kirchliche Privatschulwesen (Art. 7 Abs. 4 und 5 GG) oder die Konkordate und Staatskirchenverträge (Art. 59 GG). Im Grundgesetz, übrigens auch in dem europäischen Verfassungsentwurf, hat das Thema „Religion und Kirche“ zwei normative Standbeine, ein individualrechtlich-grundrechtliches und ein staatskirchenrechtliches; beide behandeln das Thema nicht als ein vom Ansatz her allein individualrechtliches Religionsverfassungsrecht.105
VII. Die Ziele und Inhalte der Staatstätigkeit Das Gemeinwohl ist das allgemeinste Staatsziel, vergleichbar dem öffentlichen Interesse.106 Inhaltlich offen, ist es vielfältig als konturlos und ideologieanfällig kritisiert worden. Andererseits erweist sich das Ziel eines ethisch guten Zustands des Gemeinwesens trotz Individualisierung und trotz Relativismus als ebenso unverzichtbar wie das Gemeinwesen selbst. Im Grundgesetz kommt das Wort an mehreren Stellen vor: Nach Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG soll der Gebrauch des Eigentums zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen; nach Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG sind Enteignungen nur zum Mit der Ausnahme des Art. 141 GG, der unstreitig für Bremen und (West-)Berlin gilt. Zu ihr vgl. jüngst Matthias Gehm, Aktuelle Rechtsprechung des BFH zur Kirchensteuer, NVwZ 2007, S. 56 ff.; Sebastian Müller-Franken, Kirchenfinanzierung im freiheitlichen Staat des Grundgesetzes, BayVBl. 2007, S. 33 ff. – Schon Art. 137 Abs. 6 WRV steht einer finanziellen Trennung von Staat und Kirche entgegen. Ihr steht weiter entgegen, dass die von Art. 138 Abs. 1 WRV vorgesehene Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen bis heute nicht erfolgt ist. 105 Zu der Alternative u. a. Hans M. Heinig / Christian Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, 2007. 106 Der früher gebräuchliche Begriff der Staatsraison bezieht sich auch nicht auf den Staat als Gemeinwesen, sondern auf den Staat als Herrschaftsinstanz. Zum Ganzen jüngst: Josef Isensee, Salus publica – suprema lex?, 2006. Der Gemeinwohlbegriff lässt sich auch auf die Europäische Union beziehen; dazu Peter Häberle, „Gemeinwohl“ und „Gemeinsinn“ im nationalverfassungsrechtlichen und im europarechtlichen Kontext, in: Herfried Münkler / Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. 2, 2002, S. 99 ff. 103 104
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Wohle der Allgemeinheit zulässig; die Amtseide von Bundespräsident, Bundeskanzler und Bundesministern verpflichten diese auf das Wohl des deutschen Volkes (Art. 56 und 64 Abs. 2 GG).107 In einem freiheitlichen Verfassungsstaat ist, jenseits eines notwendigen Grundkonsenses,108 das Gemeinwohl der Politik auf- und nicht vorgegeben. Politik in einem demokratischen Verfassungsstaat ist Gemeinwohlfindung bei vorgegebenen Kompetenz- und Verfahrensregeln, insbesondere dem Mehrheitsprinzip, und offenem Ergebnis, das unter Kritikvorbehalt steht.109 Gemeinwohl ist nicht Erkenntnisobjekt, sondern Entscheidungsziel. Demokratische Verfassungslehre widmet den Institutionen und Verfahren staatlichen Handelns mehr Aufmerksamkeit als ihren Inhalten. Staatszwecke, Staatsziele und Staatsaufgaben sind nicht klar abgrenzbare Begriffe. Sie sind von abnehmendem Abstraktionsniveau und zunehmender normativer Verfestigung unterhalb des Gemeinwohls. Alle drei sind, im Unterschied zum Gemeinwohl, inhaltlich bestimmt. Staatsziele und Staatsaufgaben sind normative Größen. Staatszwecke sind staatsphilosophische Rechtfertigungen für Staatlichkeit. Staatszwecke sind Friede, Freiheit, Gleichheit, Wohlstand. Staatsziele sind soziale Gerechtigkeit (Art. 20 Abs. 1 GG), Umweltschutz (Art. 20a GG) oder das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht (Art. 109 Abs. 2 GG). Staatsaufgaben sind konkrete Tätigkeitsfelder, auf die der Staat nach Maßgabe seiner Verfassung durch Rechtsnormen zugreift oder zugreifen darf.110 Von wenigen obligatorischen und notwendigen Staatsaufgaben abgesehen, ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben, was Staatsaufgabe ist und in welchem Umfang der Staat sich einer solchen Aufgabe annimmt. Auch im Bereich klassischer Staatszwecke, wie innere Sicherheit, ist ein Rückzug des Staates zugunsten Privater nicht ausgeschlossen. Eine wichtige Schranke ist Art. 33 Abs. 4 GG, wonach die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Beamten und sonst öffentlich Bediensteten vorbehalten ist. Verfassungsrechtlich hat der Staat viel Spielraum, um die in den letzten Jahrzehnten ständig gestiegene Staatsquote111 durch Privatisierungen zu senken.112 Dabei wird zwiEine entsprechende Regelung für Abgeordnete des Deutschen Bundestages fehlt. Josef Isensee, Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: ders. / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Bd. 4, 2006, § 71 Rn. 70 – 73, nennt das Grundgesetz einen Teilentwurf des Gemeinwohls. 109 Repräsentativ dazu: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 4. Aufl., 1968. Kritik an ungeschichtlich-substantialistischen Gemeinwohlkonzeptionen bei Josef Isensee, Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: ebd., § 71 Rn. 46 Fn. 69. 110 BVerfGE 12, 205 (243); ferner Josef Isensee, Staatsaufgaben, in: ebd., § 73 Rn. 12 – 16. 111 Die Staatsquote ist definiert als das Verhältnis der Summe der Haushaltsausgaben von Bund, Ländern, Kommunen und gesetzlichen Sozialsystemen zum Bruttoinlandsprodukt (zum Teil auch zum Bruttosozialprodukt). In Deutschland lag die Staatsquote 2005 bei 46,8 Prozent, im EUDurchschnitt bei 47,1 Prozent. 112 Beispiele aus den Bereichen Militär und Sicherheitsorgane bei Heike Krieger, Der privatisierte Krieg: Private Militärunternehmen im bewaffneten Konflikt, Archiv des Völkerrechts, 2006, S. 159 ff. – Das juristische Schrifttum zu Privatisierungen ist inzwischen kaum noch zu übersehen. An jüngeren Habilitationsschriften vgl. Martin Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999; Christof Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001; Jörn A. Kämmerer, Privatisierung. Typologie – Determinanten – Rechtspraxis – Folgen, 2001; Barbara Remmert, Private Dienstleistungen in staatlichen Verwaltungsverfahren, 2003; Wolfgang Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002. 107 108
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schen formellen und materiellen Privatisierungen,113 zwischen funktionellen und Vermögensprivatisierungen unterschieden, mit der Möglichkeit von Übergängen. Von einer formellen Privatisierung spricht man, wenn der Staat eine Aufgabe behält, diese aber fortan in Organisationsformen des Privatrechts wahrnimmt, z. B. durch eine GmbH, deren Anteile ganz oder mehrheitlich in seinem Besitz bleiben. Von einer materiellen Privatisierung spricht man, wenn der Staat sich aus der Wahrnehmung einer Aufgabe zurückzieht, so dass Private zugreifen können. Von einer funktionellen Privatisierung spricht man, wenn der Staat eine Aufgabe zwar behält, an ihrer Wahrnehmung aber Private beteiligt. Von einer Vermögensprivatisierung spricht man, wenn der Staat Vermögen – das möglicherweise der Wahrnehmung eigener Aufgaben gewidmet war – veräußert. VIII. Europäisierung und Internationalisierung In dem Bereich zwischen Staat und universeller Völkergemeinschaft gibt es weitere Gemeinschaften. Im Fall der Bundesrepublik Deutschland sind dies die Europäische Union und die westliche Interessen- und Wertegemeinschaft. Eine wichtige Grundlage für beide ist verfassungsstaatliche Homogenität. Europäisierung und Internationalisierung114 sind Konsequenz der Tatsache, dass freiheitliche Gesellschaften sich dank wissenschaftlich-technischem und dank ökonomischem Fortschritts, dank besserer Kommunikations- und Verkehrsverbindungen über nationale Grenzen entwickeln, verflechten und interdependent werden. Da sie weiterhin auf Staatlichkeit angewiesen sind, muss auch der Staat sich öffnen, im Fall der Bundesrepublik Deutschland nicht nur internationalisieren, sondern zuvörderst europäisieren. Im Verhältnis zur universellen Staatengemeinschaft ist dem Grundgesetz schon früh, vor dem UNO-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland 1973, eine völkerrechtsfreundliche Tendenz bescheinigt worden.115 Art. 1 Abs. 2 GG bekennt sich zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt, betrachtet all dies also als der deutschen Staats- und Rechtsordnung vorgegeben. Art. 24 Abs. 1 GG ermächtigt den Bund zur Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, ermächtigt also zum Souveränitätsverzicht. Für die wichtigste zwischenstaatliche Einrichtung, die Europäische Union, ist bei Ratifikation des Maastrichter Vertrages 1992 in Art. 23 GG eine umfangreiche Spezialbestimmung geschaffen worden. Die Besonderheit der Europäischen Union, die sie von anderen Staatenverbindungen unterscheidet, lässt sich nach wie vor in dem schillernden Begriff der Supranationalität bündeln. Die Supranationalität äußert sich in der Breite der ihr zugestandenen Aufgaben, der Verpflichtung auf gemeinsame politische Grundwerte, der autonomen Rechtsetzungsgewalt, der Fähigkeit, Recht zu setzen, das in den Mitgliedstaaten unSynonym Organisations- und Aufgabenprivatisierungen. Vgl. als Einführung in die aktuelle Diskussion die Referate von Juliane Kokott und Thomas Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), S. 7 ff., 41 ff. Auf weitere Begriffe in diesem Sachzusammenhang, wie insbesondere Globalisierung, kann hier nicht eingegangen werden. 115 Vgl. grundlegend Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964. 113 114
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mittelbar, d. h. ohne deren Vermittlung, gilt, weiter in der Selbstständigkeit ihrer Organe, der finanziellen Ausstattung,116 dem umfänglichen Rechtsschutz und ihrer Unvollendetheit und Dauerhaftigkeit.117 Waren die drei europäischen Gemeinschaften MontanUnion, EWG und EAG zunächst ökonomische Zweckverbände, so haben Einheitliche Europäische Akte, Binnenmarktprogramm, Maastrichter Vertrag, Post-Maastricht-Prozess und Wirtschafts- und Währungsunion zu einer Kompetenzausweitung geführt, die etwa die Einschätzung rechtfertigt, dass die Rechtsetzungsbefugnisse der Europäischen Union denen des Bundes, aufs Ganze gesehen, vergleichbar sind. Trotz der fortschreitenden Integration behalten aber die Mitgliedstaaten als Nationalstaaten weiterhin eine zentrale Rolle. Die Europäische Union beruht auf völkerrechtlichen Verträgen, welche diese Mitgliedstaaten geschlossen haben und wieder ändern können; die Mitgliedstaaten bleiben „Herren der Verträge“. Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung darf die Gemeinschaft nur in den Grenzen der Befugnisse und Ziele tätig werden, die ihr diese Mitgliedstaaten vertraglich gegeben haben (Art. 5 Abs. 1 EG-Vertrag).118 Die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung werden vom Europäischen Rat formuliert, der aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten der Kommission besteht (Art. 4 EU-Vertrag). Art. 24 Abs. 2 GG ermächtigt den Bund, sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen. Dies ist die verfassungsrechtliche Grundlage für UNO und NATO. Angriffskriege werden in Art. 26 Abs. 1 GG ähnlich kategorisch verboten wie in Art. 102 GG die Todesstrafe. Nach Art. 25 GG sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts und gehen den Gesetzen vor. Letzteres gilt gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG für völkerrechtliche Verträge nicht; sie sind Bundesgesetzen nur gleichrangig, können also, mit innerstaatlicher Wirkung, durch nachfolgende Bundesgesetze geändert werden (was z. B. dem deutschen Steuergesetzgeber ein „overriding“ von Doppelbesteuerungsabkommen ermöglicht119). Auf den Auftrag in Art. 24 Abs. 3 GG, Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beizutreten, hat der Bund nur verhalten reagiert, weil er befürchten musste und muss, wegen der Verbrechen des NaziRegimes zur Verantwortung gezogen zu werden. IX. Schluss Prinzipien der christlichen, insbesondere der Katholischen Soziallehre, wie Personalität, Solidarität oder Subsidiarität sind mit dem Grundgesetz, der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, kompatibel. Sie sind gewiss nicht dessen Norminhalt, auch nicht Der EG-Haushalt hat inzwischen ca. 40 Prozent des Volumens des Bundeshaushalts. Dazu Christian Calliess, in: ders. / Matthias Ruffert (Hrsg.), Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 3. Aufl., 2007, Art. 1 EUV, Rn. 22; Thomas Oppermann, Europarecht, 3. Aufl., 2005, § 12 Rn. 8 ff. 118 Hierzu etwa Uwe Kischel, Souveränität, Einbindung, Autonomie – die Entwicklung der Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten, in: Wilfried Erbguth u. a. (Hrsg.), Verwaltung unter dem Einfluss des Europarechts, 2006, S. 11 ff. 119 Zu diesem durchaus realen steuerrechtlichen Beispiel: Andreas Musil, Deutsches Treaty Overriding und seine Vereinbarkeit mit Europäischem Gemeinschaftsrecht, 2000. 116 117
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in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG mit dem auf das Verhältnis der Europäischen Union zu ihren Mitgliedstaaten bezogenen Subsidiaritätsprinzip.120 Das Grundgesetz ist um religiöse und weltanschauliche Neutralität bemüht; zudem unterscheidet eine theologisch begründete, weltweit Gültigkeit beanspruchende Soziallehre sich von einer Verfassung, die bei aller „juristischen Transzendenz“ doch ein juristischer Text bleibt, mit Inhalten und Zielen, die klar beschreibbar, notfalls gerichtlich tenorierbar sein müssen und die auf einen konkreten raum-zeitlichen Kontext bezogen sind.121 Einem Kontakt zwischen Katholischer Soziallehre und geltendem Verfassungsrecht werden durch Neutralitätsgebote auf Seiten des Verfassungsrechts gewisse Grenzen gesetzt. Diese Grenzen lassen sich auf der Ebene der Verfassungsrechtswissenschaft überwinden. In dieser Richtung wäre von juristischer Seite noch einiges zu tun. Literaturverzeichnis Badura, Peter: Staatsrecht, 3. Aufl., 2003. Campenhausen, Axel von / Wall, Heinrich de: Staatskirchenrecht, 4. Aufl., 2006. Degenhart, Christoph: Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 23. Aufl., 2007. Ehlers, Dirk: Die gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Kirche, ZevKR 1987, S. 158 ff. Grimm, Dieter: Verfassung, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 5, 7. Aufl., 1989, Sp. 633 ff. – Verfassung II, in: Otto Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 863 ff. Hufen, Friedhelm: Staatsrecht II, 2007. Ipsen, Jörn: Staatsrecht, Teil 1. Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl., 2005, Teil 2. Grundrechte, 8. Aufl., 2005. Isensee, Josef: Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders. / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 162 (S. 103 ff.). – Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 11, 1977, S. 92 ff. Maurer, Hartmut: Staatsrecht I. Grundlagen – Verfassungsorgane – Staatsfunktionen, 5. Aufl., 2007. Münch, Ingo von / Kunig, Philip (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl., 3 Bände, 2000 – 2003. Pieroth, Bodo / Schlink, Bernhard: Grundrechte. Staatsrecht II, 23. Aufl., 2007. Sachs, Michael: Grundgesetz. Kommentar, 4. Aufl., 2007. Zippelius, Reinhold / Würtenberger, Thomas: Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl., 2005. 120 Vgl. auch Art. 2 Abs. 2 EU-Vertrag, Art. 5 Abs. 2 EG-Vertrag. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips kann man auch die verfassungsrechtliche Bestimmung des Verhältnisses von individueller Freiheit und Gemeinwohlbindung, von Erziehung durch Eltern und Familie und durch die staatliche Schule, von Privatwirtschaft und Staatswirtschaft, von Kommunen und sonstigen verselbstständigten Verwaltungsträgern zum Staat, von Ländern und Bund sehen, nur muss man sich jeweils darüber im Klaren sein, dass „Subsidiaritätsprinzip“ dann nur die Zusammenfassung vorgegebener Normen ist, ohne ein Jota normativer Eigensubstanz. Am ehesten in Richtung Subsidiaritätsprinzip lässt sich das Wort „zuvörderst“ in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG deuten. 121 Im Ergebnis ebenso Franz Reimer, Personalität, Solidarität, Subsidiarität? Zur Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes, in: Freiburger Universitätsblätter, Heft 173, 2006, S. 97 – 116. Vgl. auch Christian Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Aufl., 1999; Peter Häberle, Solidarität als Rechtsprinzip, JöR 55 (2007).
Die Wertorientierung des Grundgesetzes Von Anton Rauscher
Das Ende der nationalsozialistischen Diktatur und der völlige Zusammenbruch des deutschen Staates wirkte 1945 auf die Menschen wie ein Schock. Einerseits waren sie erleichtert, dass die Bombennächte aufhörten und die Waffen endlich schwiegen; andererseits breitete sich eine lähmende Hoffnungslosigkeit aus, weil niemand sagen konnte, ob und wie das Leben weitergehen würde. Es war nicht nur die ungeheuere materielle Not, die auf den Menschen und Familien, auf den vielen Heimkehrern und den Flüchtlingen lastete; nicht weniger schlimm war die geistige Not, die viele erfasste, je mehr sie sich der furchtbaren Verbrechen und der Gewaltherrschaft der braunen Machthaber bewusst wurden. Die Deutschen hatten nicht nur ihr Selbstbestimmungsrecht und ihre staatliche Souveränität verloren, sondern auch die Achtung und die Gleichberechtigung in der Völkergemeinschaft. In allen Schichten der Bevölkerung setzte ein Nachdenkprozess und eine Gewissenserforschung ein. Wie war es möglich, dass die Nationalsozialisten 1933 legal die Macht erringen und in kurzer Zeit Staat und Gesellschaft ihrer Ideologie dienstbar machen konnten? Wie war es möglich, dass in Deutschland mit seiner zwar wechselvollen Geschichte, aber unbestritten reichen Kultur und Tradition, die Barbarei ausbrechen konnte und Millionen Menschen in Vernichtungslagern umgebracht wurden? Wie war es möglich, dass der Rechtsstaat und die Demokratie, die in der Weimarer Reichsverfassung Gestalt angenommen hatten, in ihr Gegenteil verkehrt wurden? Wie war es möglich, dass viele Bürger nicht auf ihr Gewissen gehört, sondern auch Befehle und Gesetze ausgeführt hatten, die radikal gegen die Humanität und gegen die Menschenwürde verstießen? Die Fragen spitzten sich darauf zu, ob die NS-Gesetze und die auf ihrer Grundlage erlassenen Vorschriften sowie die Urteile von Gerichten wenigstens für die Zeit ihrer tatsächlichen Geltung als rechtmäßig angesehen werden müssen oder ob sie, auch wenn sie in Gesetzesform ergangen sind, „von Anfang an ungültig, Nicht-Recht, waren“.1 Dass die Juristen, zumal die Richter, die verbrecherischen Gesetze der NS-Zeit – etwa die Nürnberger Rassengesetze – widerspruchslos hingenommen haben, geschah gewiss nicht immer aus mangelnder Rechtsgesinnung und auch nicht stets aus Feigheit, sondern nicht selten aus dem tradierten Selbstverständnis der Juristen, dass nur das Gesetz und nicht die eigene Meinung oder das Gewissen Maßstab der Beurteilung sein dürfen. Dass jede staatliche Norm, also auch ein „Führerbefehl“, gültiges Gesetz sei, war in der Rechtsphilosophie und in der Staatsrechtslehre seit langem „nahezu unangefochten die herrschende Meinung“.2 1 Vgl. Arthur Kaufmann, Die Naturrechtsdiskussion in der Rechts- und Staatsphilosophie der Nachkriegszeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33 / 1991, S. 5. 2 Ebd., S. 4.
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I. Die Abkehr vom Rechtspositivismus Der Rechtspositivismus hatte sich im 19. Jahrhundert als Reaktion auf das Vernunftrecht der Aufklärung entwickelt, wonach der Richter die Befugnis hatte, jederzeit seinem „vernünftigen Ermessen“ den Vorrang vor dem geschriebenen Gesetz zu geben. Um der eingetretenen Willkür in der Rechtsprechung zu begegnen und die Rechtssicherheit wieder herzustellen, setzte sich die Auffassung durch, dass ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetze, zumal wenn sie von einem demokratisch gewählten Parlament beschlossen sind, Sicherheit genug bieten, um Missbrauch und Pervertierung vorzubeugen. Die Grundfragen nach dem Maßstab des Rechts und der Gerechtigkeit, die in der Antike und im christlichen Mittelalter zur Entstehung des naturrechtlichen Denkens geführt hatten, wurden nicht gestellt. Die Fortschrittseuphorie, die damals die Gesellschaft und die Politik, auch die Wissenschaften erfasst hatte, sowie die wert- und metaphysikfeindliche Zeitströmung waren dominant. Das Problem der „lex corrupta“ wurde nur noch als theoretisch gedachter Fall abgehandelt. Hinzu kam, dass der aufkeimende Nationalismus den Staat und seine Souveränität so sehr in den Mittelpunkt rückte, dass eine Rückbindung von Recht und Gesetz an die Gerechtigkeit, an ethische Fundamente und an das Gewissen als Prüfinstanz für unnötig, ja für schädlich angesehen wurde. Das Fehlen eines naturrechtlichen Korrektivs beschleunigte das Abgleiten der Jurisprudenz und der Staatswissenschaften von der Positivität des Rechts in den Rechtspositivismus. Früher meldeten sich, wenn problematische Entwicklungen anstanden, Philosophen und Theologen zu Wort und drängten zu einem – heute würde man sagen – interdisziplinären Dialog. Aber diese Fähigkeit, sich in die wissenschaftliche Auseinandersetzung einzuschalten, war der Theologie abhandengekommen. Dies hing damit zusammen, dass das Interesse am Naturrecht auch im kirchlichen Bereich verloren gegangen war. Man behandelte es noch als einen historischen Merkposten, aber nicht mehr als eine Quelle kritischer Orientierung. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzte die Erneuerung des naturrechtlichen Denkens ein, um die Fehlentwicklungen in der modernen Industriegesellschaft genauer analysieren und beurteilen zu können. In seinem Bemühen, wieder Brücken zur modernen Gesellschaft zu bauen, griff Leo XIII. auf das Naturrechtsdenken in seiner Sozialverkündigung zurück, wie es Thomas von Aquin und die Scholastiker für ihre Zeit entfaltet hatten. Auf dem Gebiet der Rechts- und Staatswissenschaften hat das Staatslexikon der Görres-Gesellschaft Pionierarbeit geleistet. Den Anstoß dazu gab der von Preußen der katholischen Kirche aufgezwungene Kulturkampf (1871 – 1878).3 In der 1878 verfassten Denkschrift heißt es, dass das Hauptgewicht des neuartigen Werkes „auf die Erörterung der fundamentalen Begriffe von Religion und Moral, Recht und Gesetz, natürlichem und positivem Recht, von Staat und Kirche, Familie und Eigentum“ gelegt werden solle. „Das Recht ist auf seinen ewigen Grund, den Schöpfer selbst zurückzuführen, das Naturrecht als Grundlage und Norm der positiven Rechtsbindung zur Anerkennung zu bringen; es sind die sittlich-religiösen Momente zu betonen, welche die Verbindlichkeit menschlicher Gesetze für das Gewissen der Individuen bedingen.“4 Das Vgl. die aufschlussreiche Darstellung von Rudolf Lill, Der Kulturkampf, Paderborn u. a. 1997. Vgl. Clemens Bauer, Das Staatslexikon der Görresgesellschaft – Spiegel der Entwicklung des deutschen Katholizismus, in: ders., Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile, Frankfurt a. M. 1964, S. 58. 3 4
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Staatslexikon – die erste Auflage erschien 1887 / 89 – hat das Selbstbewusstsein der katholischen Wissenschaftler gestärkt und die Entschlossenheit der Katholiken, für ihre Gleichberechtigung als Bürger im modernen Staat zu kämpfen. Dabei muss man bedenken, dass die Katholiken damals nur etwa ein Drittel der Bevölkerung im Deutschen Reich ausmachten. Darüber hinaus hat das Staatslexikon die katholischen Positionen einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Es hat dazu beigetragen, dass sich die Vertreter des Rechtspositivismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg mit den naturrechtlichen Argumenten und Begründungen auseinandersetzen mussten. Dabei traten nicht nur die Gegensätze, sondern auch die Missverständnisse, Vorurteile und die Unkenntnis der antiken und mittelalterlichen Rechts- und Staatsphilosophie offen zutage. Zwar blieb der Rechtspositivismus auch in der Weimarer Epoche die vorherrschende Richtung, aber es meldeten sich zunehmend prominente Juristen zu Wort, die den „wertindifferenten Rechtspositivismus“ (Gerhard Leibholz) und Georg Jellineks „normative Kraft des Faktischen“ (Rudolf Smend) kritisch sahen und die Frage aufwarfen, ob „sittenwidrige Gesetze ungültig“ sind (Ernst von Hippel).5
II. „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ Eine Wende in der Rechtswissenschaft kündigte sich schon vor 1945 an, als Gustav Radbruch, der führende Vertreter des Rechtspositivismus, 1941 den Artikel „Über die Natur der Sache als juristische Form“ – allerdings in Italien – veröffentlichte.6 Nach dem Weltkrieg erschien 1946 der Beitrag: „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ mit dem berühmten Satz: „Der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“7 Zur Begründung heißt es: „Es darf nicht verkannt werden – gerade nach den Erlebnissen jener 12 Jahre –, welche furchtbaren Gefahren für die Rechtssicherheit der Begriff des ,gesetzlichen Unrechts‘, die Leugnung der Rechtsnatur positiver Gesetze mit sich bringen kann. Wir müssen hoffen, daß ein solches Unrecht eine einmalige Verirrung und Verwirrung des deutschen Volkes bleiben werde, aber für 5 Vgl. die reich dokumentierte Untersuchung von Albrecht Langner, Der Gedanke des Naturrechts seit Weimar und in der Rechtsprechung der Bundesrepublik, Bonn 1959, S. 37 ff. Langner behandelt im ersten Teil der Arbeit den Weimarer Positivismus und die Opposition dagegen: S. 10 – 57. 6 Gustav Radbruch, La natura della cosa come forma giuridica di pensiero, in: Rivista Internationale di Filosofia del Diritto, 21. Jg., Heft 2, 1941. – Radbruch hatte in seinem 1914 erschienenen Werk „Grundzüge der Rechtsphilosophie“ die These vertreten: Werturteile seien „nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig“; die Vernunft biete nur Formen an, um zu theoretischen Erkenntnissen und anwendungsreifen ethischen Normen zu gelangen, nicht aber inhaltlich bestimmte „Natur- oder Pflichtgesetze“. Jetzt – angesichts der Pervertierung des Rechts im nationalsozialistischen Deutschland – rückte Radbruch von dieser Position ab. Nach 1945 kreist sein Denken um die „Natur der Sache“, „um den von ihm selbst mitbegründeten Wertrelativismus zu überwinden und den schroffen Dualismus zwischen Sollen und Sein zu entspannen“. – So beurteilt Arthur Kaufmann die beiden Phasen im Werk Radbruchs: a. a. O., S. 6. 7 Gustav Radbruch, in: Süddeutsche Juristen Zeitung 1946, Sp. 107 (Wieder abgedruckt in: Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, hrsg. von Erik Wolf, 4. Aufl., Stuttgart 1950, S. 347).
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alle möglichen Fälle haben wir uns durch die grundsätzliche Überwindung des Positivismus, der jegliche Abwehrfähigkeit gegen den Mißbrauch nationalsozialistischer Gesetzgebung entkräftete, gegen die Wiederkehr eines solchen Unrechtsstaates zu wappnen.“8 Man kann die Wirkung dieser Abkehr vom Positivismus durch Gustav Radbruch im Jahre 1946 für die Entwicklung in der Rechtswissenschaft und in der Rechtsprechung nicht hoch genug einschätzen. Willi Geiger erinnert noch an zwei weitere Veröffentlichungen im Jahre 1947: an das Werk von Heinrich Rommen „Die ewige Wiederkehr des Naturrechts“ – die erste Auflage 1936 war ohne Echo geblieben – und an Helmut Coings Untersuchung „Die obersten Grundsätze des Rechts. Ein Versuch der Neubegründung des Naturrechts“.9 Diese Anstöße gingen nicht von Theologen oder Ethikern, auch nicht von Kirchenleuten aus, sondern von angesehenen Juristen. In den folgenden Jahren schlossen sich ihnen eine große Zahl von Rechtslehrern mit Publikationen zum Naturrecht an.10 Wie Geiger anmerkt, blieben die Anhänger des Rechtspositivismus zuerst sprachlos, soweit sie sich nicht darauf beschränkten, gegenüber dem Naturrecht Vorbehalte anzumelden oder vorgetragene Naturrechtsdarstellungen kritisch zu beleuchten. Man kann Geiger nur zustimmen, wenn er feststellt, dass ohne die vorausgegangene Wende in der juristischen Literatur das naturrechtliche Denken keine Chance gehabt hätte, innerhalb der deutschen Rechtsprechung der Nachkriegszeit wirksam zu werden.11
III. Das „überpositive Recht“ in der Rechtsprechung Einen starken Einfluss auf die deutsche Rechtsprechung übte der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess aus. Die alliierten Siegermächte hatten einen Internationalen Militärgerichtshof eingesetzt, der die Hauptschuldigen vor der Weltöffentlichkeit für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft ziehen sollte. Das Urteil wurde am 1. Oktober 1946 verkündet. Zur Begründung verwiesen die Richter auf das natürliche Gerechtigkeitsempfinden, das sich im Gewissen eines jeden Menschen bemerkbar mache und den Unrechtscharakter der begangenen Verbrechen zweifelsfrei bezeuge. Das bedeutete, dass sich niemand auf einen „Gesetzesgehorsam“ berufen konnte – weder vonseiten der verbrecherischen Führung noch vonseiten der Mitläufer des nationalsozialistischen Regimes. Zu Recht weist Eberhard Schockenhoff darauf hin, dass mit dem Nürnberger Prozess die Rechtsidee und die Rechtsordnung eine neue Qualität erreicht haben. Es sind die schweren Menschenrechtsverletzungen, deren Unrechtscharakter jedermann einleuchtet, und die der Forderung nach einem weltweit durchsetzbaren internationalen Strafrecht ihre Stringenz verleihen.12 Die richterliche Praxis an den deutschen Gerichten stand vor der Frage, wie das nationalsozialistische Unrecht überwunden werden kann. Die Schwierigkeiten für die RechtEbd. Vgl. Willi Geiger, Die Abkehr vom Rechtspositivismus in der Rechtsprechung der Nachkriegszeit 1945 – 1963, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Katholizismus, Rechtsethik und Demokratiediskussion 1945 – 1963, Paderborn u. a. 1981, S. 29 f. 10 Vgl. Albrecht Langner, a. a. O., S. 91 ff. (mit Literaturverzeichnis). 11 Willi Geiger, a. a. O., S. 30 und 32. 12 Eberhard Schockenhoff, Die ethischen Grundlagen des Rechts, Reihe „Kirche und Gesellschaft“, Nr. 349, Köln 2008, S. 4. 8 9
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sprechung und für das richterliche Prüfungsrecht – jedenfalls in der Zeit, in der es noch kein Grundgesetz gab – betrafen nicht so sehr die formelle Gültigkeit von Gesetzen, sondern ihre inhaltliche Gültigkeit. Es sind die materialen Wertentscheidungen, auf die es in der Rechtsprechung ankommt. Für den rechtanwendenden Richter genügt es nicht, dass die Unvereinbarkeit einer gesetzlichen Vorschrift mit einer Norm der Moral bzw. der Sittenordnung oder mit einem Postulat der Philosophie begründet wird. „Die Gültigkeit einer Rechtsnorm kann für den rechtanwendenden Richter nur durch eine Rechtsnorm höheren Ranges in Frage gestellt werden.“13 Moral kann das Recht nicht ersetzen, und Unrecht kann nur durch höherrangiges Recht überwunden werden. Was nun den Rekurs auf das überpositive Recht, auf das „Naturrecht“ angeht, so gibt es in den Jahren bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 nur wenige Urteile, die hier in Frage kommen. Eine Ausnahme ist ein höchst bemerkenswertes Urteil des Amtsgerichts Wiesbaden vom 13. November 1945. Darin heißt es: „Die Gesetze, die das Eigentum der Juden dem Staat für verfallen erklärten, stehen (daher) mit dem Naturrecht in Widerspruch und waren schon zur Zeit ihres Erlasses nichtig.“ „Nach naturrechtlicher Lehre gibt es Rechte des Menschen, die auch der Staat durch seine Gesetzgebung nicht aufheben kann. Es sind dies Rechte, die mit der Natur und dem Wesen des Menschen so im Innersten verbunden sind, daß mit ihrer Aufhebung die geistig sittliche Natur des Menschen zerstört würde. Zu diesen Rechten gehört das Recht des Menschen auf persönliches Eigentum . . .“14 In einigen oberlandesgerichtlichen Entscheidungen tauchen die Begriffe „Naturrecht“ oder „die ewigen Normen des natürlichen Sittengesetzes“ auf, ohne dass allerdings dafür eine Begründung angegeben wird. Mit der Annahme des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 änderte sich die Ausgangslage für die Rechtsprechung grundlegend. Nachdem der Bundesgerichtshof um die Jahreswende 1950 / 51 seine Tätigkeit aufgenommen hatte, finden sich in seinen Urteilsbegründungen häufig Begriffe wie „Naturrecht“, „natürliche Grundsätze“, „Grundprinzipien des Natur- und Sittengesetzes“, „naturrechtlicher Charakter“. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass der erste Präsident des Bundesgerichtshofs, Hermann Weinkauff, ein entschiedener Vertreter des Naturrechts war und die Verknüpfung des positiven Rechts mit dem ungeschriebenen überpositiven Recht deutlich zu machen verstand.15 Ebenso mehren sich die Hinweise auf das „Sittengesetz“, die „allgemeinen Sitten“, die „sittlichen Maßstäbe“. Am meisten dient der Begriff „Gerechtigkeit“ dazu, um die Orientierung am überpositiven Recht ins Bewusstsein zu heben.16 Die neue Rechtskultur, die sich abzeichnet, tritt auch in jenen Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs und des rheinland-pfälzischen Verfassungsge13 Willi Geiger, a. a. O., S. 31. – Auf ähnlicher Linie bewegen sich die Überlegungen von Eberhard Schockenhoff über das Verhältnis von Recht und Moral: ders., Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, Mainz 1996, S. 296 ff. 14 Auf das Urteil wird in der Süddeutschen Juristenzeitung (SJZ) Bezug genommen: abgedruckt bei Willi Geiger, a. a. O., S. 33. 15 Vgl. Willi Geiger, a. a. O., S. 41. – Hermann Weinkauff, der evangelischer Christ war, hat wesentlich dazu beigetragen, dass in der evangelischen Theologie die traditionelle Ablehnung des „katholischen Naturrechts“ damals zurücktrat und maßgebliche Theologen sich mit dem naturrechtlichen Denken auseinandersetzten. Vgl. auch Hermann Weinkauff, Das Naturrecht in evangelischer Sicht, in: Zeitwende, 23 (1951 / 52), S. 95 ff. 16 Albrecht Langner, a. a. O., S. 93 ff.
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richtshofs – sie wurden nach Inkrafttreten der jeweiligen Landesverfassung eingerichtet – hervor, in denen nachdrücklich die Einbindung des vom Staat gesetzten Rechts in ein dem Staat vorgegebenes, überpositives Recht betont wird. „Vor allem aber ist angesichts der ungeheuren Diskriminierungen und der vielfachen ungerechten und willkürlichen Gewaltlösungen, die der positive Gesetzgeber in der jüngsten Vergangenheit in das Gewand des Gesetzes gekleidet hat, der Gesetzespositivismus im allgemeinen Bewußtsein . . . erschüttert und die Erkenntnis, daß auch der positive Gesetzgeber nicht souveräner Herr seiner Entschlüsse, sondern an Recht und Gerechtigkeit gebunden und durch das gegenseitige Spiel der staatlichen Einrichtungen in diesen Schranken zu halten ist“ allgemein geworden.17 Hier sei noch auf ein Urteil des Oberlandesgerichts Kiel hingewiesen, in dem es heißt: „Eine Ausnahme von der Gültigkeit obrigkeitlicher Akte gilt für grobe Verstöße gegen die Idee der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, die den Rahmen einer Staatsgewalt überhaupt überschreiten“ (an dieser Stelle erfolgt der Hinweis auf: Coing, SJZ 1947, Sp. 61; Radbruch, SJZ 1946, Sp. 105 ff.). „Der etwaige Führerbefehl über die Vernichtung arbeitsunfähiger Menschen oder völkischer Gegner in den Konzentrationslagern kann wegen Verstoßes gegen die Menschlichkeit nie als rechtsgültig anerkannt werden. Derartige Maßnahmen sind zwar früher gewaltsam durchgesetzt worden, sie verletzen aber von Anfang an so schwer die Idee der Gerechtigkeit, daß sie als von vornherein nichtig behandelt werden müssen“.18 Die Urteile des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes und des Oberlandesgerichts in Kiel zeigen, dass die Berufung auf naturrechtliche Positionen nicht etwa auf religiöskulturelle Denktraditionen zurückgeführt werden kann, wie dies manche Gegner des Naturrechts wahrhaben möchten. Die Grundsätze des überpositiven Rechts haben etwas mit dem Wesen des Menschen und mit Recht und Gerechtigkeit zu tun; sie gelten deshalb in Bayern ebenso wie in Kiel. Nach der Annahme des Grundgesetzes und der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland hat auch das Bundesverfassungsgericht, das im Herbst 1951 seine Tätigkeit aufgenommen hatte, in seiner ersten großen Entscheidung zum Südweststaat-Streit Stellung bezogen und dabei festgehalten: „Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechts an und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen.“19 Eine verfassungsgebende Versammlung „ist nur gebunden an die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze“.20 Damit zog das Bundesverfassungsgericht einen Schlussstrich unter ein Rechtsdenken, das sich an keine anderen Schranken gebunden wusste als diejenigen, die der Gesetzgeber sich selbst gezogen hat.
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BayerVerfGH VerwRspr. 1, 265. – Abgedruckt bei Albrecht Langner, a. a. O., S. 154. OLG Kiel, Süddeutsche Juristen Zeitung 1947, Sp. 327 f. BVerfGE 1,18, Leitsatz 27. BVerfGE 1,17.
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IV. Die Verfassungsdiskussion und die Besinnung auf das Naturrecht Die Abkehr vom totalitären Unrechtsstaat, die Besinnung auf die geistig-kulturellen Wurzeln der christlich-humanistischen Tradition und die Entscheidung für eine staatliche Ordnung, deren Fundament und Mittelpunkt die Menschenwürde und die Menschenrechte sind, markieren die Wende in der deutschen Politik nach 1945. Sehr früh brachte Konrad Adenauer das neue Staatsverständnis und das gewandelte Menschenbild auf den Punkt. In einer Grundsatzrede am 24. März 1946 in der Kölner Universität sagte er: „Die menschliche Person hat eine einzigartige Würde, und der Wert jedes einzelnen Menschen ist unverletzlich. Aus diesem Satz ergibt sich eine Staats-, Wirtschafts- und Kulturauffassung, die neu ist gegenüber der in Deutschland seit langem üblichen . . . Der Staat besitzt kein schrankenloses Recht; seine Macht findet ihre Grenzen an der Würde und den unveräußerlichen Rechten der Person.“21 Adenauer war geprägt von der christlichen Auffassung des Menschen als Person, wie sie die Katholische Soziallehre und die christlich-soziale Bewegung vor und nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt hatten, sowie von den Erfahrungen des totalen Staates, der nicht mehr im Dienst am Gemeinwohl und damit im Dienst an den Menschen stand. Wenn seine Kursbestimmung auf breite Resonanz in der Bevölkerung stieß, dann deshalb, weil über alle parteipolitischen und weltanschaulich-religiösen Schranken hinweg die Besinnung auf die Menschenwürde und die Menschenrechte als die geeignete Grundlage für den Neuanfang empfunden wurde. Dass der Ursprung der Menschenwürde nicht im Staat zu suchen sei und dass sie schon gar nicht auf dem Willen des Staates beruhte, war weit über den christlich-demokratischen Politikbereich hinaus anerkannt.22 Die Verfassungsdiskussion setzte ein, als die Besatzungsmächte mit dem demokratischen Aufbau in ihren Zonen begannen und die Regierungen in den zum Teil neu gebildeten Ländern beauftragten, Verfassungen auszuarbeiten.23 Innerhalb von nur zwei Jahren (1946 / 47) wurden fünfzehn Verfassungen verabschiedet. Die Verfassungsdiskussionen waren durch eine Renaissance naturrechtlichen Denkens als Reaktion auf die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit bestimmt. An den Beratungen nahmen vielfach angesehene Juristen teil, die sich Gedanken machten über die geistig-sittlichen Grundlagen und die rechtsethischen Positionen, auf denen die Neuordnung aufbauen sollte.24 Aufschlussreich ist unter dieser Rücksicht die Präambel der Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946. Darin heißt es: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des Zweiten Weltkrieges geführt hat . . .“25 Die Verfassung enthält im Zweiten Hauptteil, der die Grundrechte und Konrad Adenauer, Reden 1917 – 1967, hrsg. von Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1975, S. 86 f. Theodor Maunz, Rechtsethische Positionen in den Nachkriegsverfassungen des Bundes und der Länder, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Katholizismus, a. a. O., S. 14. 23 Vgl. dazu Bengt Beutler, Die Stellung der Kirchen in den Länderverfassungen der Nachkriegszeit, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Kirche und Katholizismus 1945 – 1949, Paderborn 1977, S. 26 ff. 24 Vgl. Werner Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus? Darmstadt 1962 (mit ausführlicher Bibliographie). 25 Hierzu H. Nawiasky / U. Leusser, Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946 – Kommentar, München / Berlin 1946. 21 22
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Grundpflichten darlegt, den Artikel 100. Er lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Auch die Präambeln der Landesverfassungen von Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg sprechen von der Verantwortung vor Gott, wobei in der Verfassung von Rheinland-Pfalz hinzugefügt wird: „dem Urgrund des Rechts und Schöpfer der menschlichen Gemeinschaft“. Später heißt es in der Präambel des Grundgesetzes: „im Bewußsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Die Gegner einer Berufung auf Gott verweisen damals wie heute auf die weltanschaulich-pluralistische Gesellschaft. Verfassungen müssten für alle Bürger gelten, ob sie sich zu Gott bekennen oder nicht, auch unabhängig davon, welche Auffassung sie über Gott haben.26 Demgegenüber betonen die Befürworter der Berufung auf Gott, dass diese niemanden zu einem religiösen Bekenntnis zwinge, dass sie eine Absage an einen wie immer gearteten unbegrenzten Machtanspruch sei, den sich ein Diktator oder ein totalitäres System anmaße. Die Berufung auf Gott sichere die Freiheit und Verantwortung des Menschen, die nicht von Gott, sondern erfahrungsgemäß von innerweltlichen Mächten bedroht werden. Bemerkenswert ist auch die Menschenwürde-Judikatur des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, der in seiner Entscheidung vom 22. März 1948 ausführte, dass der Artikel 100 BayVerf „bindender Rechtssatz“ sei. Weiterhin heißt es: „Der Mensch als Person ist Träger höchster geistig-sittlicher Werte und verkörpert einen sittlichen Eigenwert, der unverlierbar und auch jedem Anspruch der Gemeinschaft, insbesondere allen rechtlichen und politischen Zugriffen des Staates und der Gesellschaft gegenüber eigenständig und unantastbar ist.“ Und: „Die Anerkennung des sittlichen Grundwertes der menschlichen Würde als ,Rechtswert‘ ist die Voraussetzung für die Anerkennung aller Freiheitsrechte“. Unter Bezugnahme auf die Lehre vom „überpositiven Charakter des Rechts“ wird an anderer Stelle festgehalten: „Es ist Auffassung des Verfassungsgesetzgebers selbst, daß er diese Rechte [dies bezieht sich auf die Grundrechte der Bayerischen Verfassung; der Verfasser] nicht geschaffen, sondern vorgefunden hat. Damit ist zugleich anerkannt, daß . . . die Achtung und der Schutz der Personwürde . . . die Souveränität des Verfassungsgebers und die Staatsgewalt begrenzen.“27 Das Menschenbild, das in den genannten Dokumenten in den Mittelpunkt rückt, ist bestimmt von der „unantastbaren Würde“ des Menschen als „Person“, die unveräußerliche Rechte hat. Die Begriffe sind nicht neu; aber die Sichtweise von Mensch und Gesellschaft ist eine andere geworden. Die menschenverachtenden Unrechtssysteme des Nationalsozialismus und des Kommunismus haben eine Besinnung auf das geistig-sittliche Menschenbild ausgelöst, wie es sich im Gefolge der Ausbreitung des Christentums und der Wirksamkeit der Kirche in Europa entwickelt hat. In den Verfassungen der Länder kam der politische Wille zum Ausdruck, dass das künftige Deutschland nicht mehr zentralistisch, sondern föderalistisch strukturiert sein sollte. Vor allem sollte die Kulturhoheit bei den Ländern liegen, was den regionalen Auf diese Schwierigkeit weist Theodor Maunz hin: a. a. O., S. 12 ff. BayVerfGH 4, 51 (58 f.) unter Hinweis auf Gustav Radbruch, Erich Kaufmann, Helmut Coing, Erik Wolf. – Bei Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Grundlagen von Staat und Verfassung, Heidelberg 1987, S. 826. 26 27
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Unterschieden und den historisch gewachsenen kulturellen und religiösen Verhältnissen Rechnung tragen würde. Die Kirchen haben sich von Anfang an in die Beratungen der Verfassungen in den Ländern eingeschaltet. Ihnen war bewusst, dass sie ihre Anliegen und Forderungen in den Bereichen von Schule und Bildung sowie von Kirche und Staat auf Länderebene zur Geltung bringen müssen.28 Dabei war die Ausgangsposition der Kirchen unterschiedlich, je nachdem die Mehrheit der Bevölkerung eines Landes katholisch oder evangelisch und die volkskirchlichen Traditionen noch lebendig waren.
V. Der Parlamentarische Rat Der Parlamentarische Rat, der eine Verfassung vorbereiten sollte, konstituierte sich am 1. September 1948 in Bonn. Ihm gehörten 65 Politiker an, die von den westdeutschen Ländern entsandt wurden, entsprechend der Stärke der politischen Parteien in den jeweiligen Landtagen. Schon die beschränkte Mitgliederzahl zwang die Parteien dazu, ihre erfahrensten und verfassungsrechtlich kompetenten Abgeordneten nach Bonn zu senden. Dazu gehörten einerseits die führenden Politiker der Parteien wie Konrad Adenauer – er wurde in der ersten Sitzung des Parlamentarischen Rates zum Vorsitzenden gewählt –, Theodor Heuss, Erich Ollenhauer und Carlo Schmid, andererseits herausragende Juristen ihrer Parteien wie Hermann Höpker-Aschoff, Wilhelm Laforet, Hermann von Mangoldt und Adolf Süsterhenn. Die Politiker wussten, worauf es in dieser Stunde des Neubeginns ankam; die Juristen wiederum waren mit den in Gang befindlichen Umbrüchen in der Jurisprudenz und in der Rechtsprechung, auch in den Verfassungsdiskussionen vertraut. Von Interesse ist die Bemerkung von Reinhard Mußgnug, dass die Kirchen, die Industrie, der Mittelstand, die Bauern und die Arbeiterschaft sowie die Heimatvertriebenen, eine 1948 besonders wichtige Gruppe, im Parlamentarischen Rat zwar ihre Fürsprecher, aber keine Vertreter hatten, die sich ihre Anliegen zu eigen gemacht und für sie mit besonderem Nachdruck gefochten hätten. Die Kirchen und Verbände mussten sich mit Eingaben bescheiden, in denen sie ihre Forderungen und Wünsche vortrugen. „Das schlug sich im Grundgesetz deutlich nieder. Es läßt erkennen, daß es nicht von einer Volksvertretung herrührt, sondern von einem nahezu ausschließlich mit ,elder statemen‘ besetzten Gremium konzipiert worden ist, in dem Interessenverbindungen nur eine geringe, politische Erfahrung und juristische Sachkunde dafür aber eine um so größere Rolle gespielt haben.“29 Die Kirchen waren wenig darauf vorbereitet, die Diskussion um die Wertorientierung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat zu begleiten. Sie hatten sich auf die neue föderale Situation eingerichtet. Auch der Herrenchiemseer Entwurf sah vor, dass in der Verfassung nur die individuellen Grund- und Freiheitsrechte verankert sein sollten, nicht aber die staatskirchenrechtlichen Belange. Man erinnerte sich noch, wie schwierig es nach dem Ersten Weltkrieg war, in der Weimarer Reichsverfassung die Beziehungen 28 Bengt Beutler, a. a. O., S. 30 ff. – Bischof Johannes Pohlschneider, Schule und Bildung im Spannungsfeld von Kirche und Staat, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Kirche und Staat in der Bundesrepublik 1949 – 1963, Paderborn 1979, S. 95 – 120. 29 Reinhard Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), a. a. O., S. 235 f.
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zwischen Staat und Kirche einigermaßen befriedigend zu gestalten. Hinzu kam, dass die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse im Parlamentarischen Rat für religiöse und kirchliche sowie für staatskirchenrechtliche Fragen nicht günstig waren (27 CDU / CSU, 2 Zentrum, 2 Deutsche Partei gegenüber 27 SPD, 5 FDP, 2 KPD).30 Auch wenn die Kirchen nicht Sitz und Stimme im Parlamentarischen Rat hatten, so konnte es ihnen natürlich nicht gleichgültig sein, ob die neu zu errichtende Grundordnung von Gesellschaft und Staat mit dem christlichen Menschen- und Gesellschaftsverständnis kompatibel ist oder nicht. Die Kirchen sind seit der Reformation getrennte Wege gegangen, dennoch waren sie sich der gemeinsamen Tradition und des christlichen Erbes bewusst geblieben, die die Verhältnisse in Deutschland nachhaltig geprägt haben. Zwar hatte sich seit der Französischen Revolution und seit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (1806) vieles verändert. Auch der Nationalsozialismus hatte die Kirchen unterschiedlich getroffen. Dennoch war nach dem Zusammenbruch die Bereitschaft, die Neuordnung auf christlicher Grundlage anzustreben, auf beiden Seiten so lebendig, dass es zur Bildung von überkonfessionellen christlichen Parteien (CDU und CSU) kam, wobei die Initiative nicht von den Kirchen, sondern von christlichen Politikern ausging. Die Umstände, unter denen der Parlamentarische Rat ans Werk ging, und die Notwendigkeit, tragfähige Fundamente zu errichten, ließen parteipolitische Gesichtspunkte eher zurücktreten und förderten die Offenheit für überzeugend begründete Positionen. Dabei konnten die Katholiken die Vorteile nutzen, dass sich seit den Tagen Leos XIII. die Katholische Soziallehre und parallel dazu eine breite katholische Sozialwissenschaft entwickelt hatten. Die Päpste erkannten zunehmend die Bedeutung des Naturrechts in einer pluralistischen Gesellschaft und im demokratischen Rechtsstaat. Der naturrechtliche Ansatz hatte es ihnen ermöglicht, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit dem Kommunismus und mit dem Faschismus offensiv zu führen und die ideologischen Irrtümer zu entlarven. Von großer Bedeutung war, dass Pius XII. (1939 – 1958) in seiner Sozialverkündigung das personale Fundament der Katholischen Soziallehre betonte und noch vor der Menschenrechtsdeklaration der UNO in der Weihnachtsansprache des Jahres 1942 die unantastbare Würde des Menschen, seine Personrechte und -pflichten ins öffentliche Bewusstsein rückte. Die Sozialverkündigung dieses Papstes, die mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine weite Ausstrahlungskraft erreichte, stärkte nicht nur das Ansehen der katholischen Kirche in der ganzen Welt, sondern gab auch den Katholiken bei der Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse einen verlässlichen Rückhalt.31 30 Vgl. Klaus Gotto, Die katholische Kirche und die Entstehung des Grundgesetzes, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Kirche und Katholizismus 1945 – 1949, Paderborn 1977, S. 88 ff., hier: S. 95 f. – Noch in einem Schreiben vom 30. September 1948 vertrat Süsterhenn die Ansicht, dass aller Voraussicht nach nicht geplant sei, einen umfangreichen Grundrechtskatalog in die Verfassung aufzunehmen. Man wolle den Bestrebungen, Grundrechte der Kultur-, Wirtschafts- und Sozialordnung einzubeziehen, nicht Vorschub leisten. – Theodor Heuss war der Ansicht, Religions- und Sozialphilosophien hätten in der Verfassung nichts zu suchen: Otto Volker, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1971, S. 63, S. 69, S. 76. – Neuerdings vgl. Tine Stein, Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt a. M. 2007, S. 298 ff.
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Das naturrechtliche Denken war nach 1945 nicht nur für die Katholiken im Wiederaufbau Deutschlands ein unentbehrlicher Orientierungspfeiler, sondern auch für jene, die sich auf der Suche nach einem verlässlichen Maßstab für Recht und Gerechtigkeit bei den philosophischen und weltanschaulichen Strömungen umsahen.32 Treffend spricht Josef Isensee davon, dass der Sinn für Gerechtigkeit dem Menschen angeboren ist. Er gehört zu seiner moralischen Grundausstattung. Er bildet gleichsam sein sozialethisches Navigationssystem.33 Was die Vertrautheit mit der Katholischen Soziallehre und mit dem Naturrecht betrifft, so nimmt Adolf Süsterhenn (CDU) eine Sonderstellung ein. Süsterhenn war im sozialen und politischen Katholizismus groß geworden und schloss sein juristisches Studium an der Universität Köln mit einer konkordatsrechtlichen Dissertation ab. Erst nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus konnte er politische Verantwortung übernehmen. Er wurde Justizminister in Rheinland-Pfalz; der Verfassungsentwurf trägt seine Handschrift.34 1948 gehörte er dem Herrenchiemseer Verfassungskonvent an. Er übernahm auch das Kultusministerium und wurde in den Parlamentarischen Rat entsandt. Zusammen mit Carlo Schmid (SPD) erstattete er den Bericht über die Vorarbeiten in Herrenchiemsee. Süsterhenn sah in der Rückbesinnung auf das Naturrecht eine breite „geistige Bewegung“, die auch die Verfassungsgeber ergriffen hatte. Sie sei die Antwort des Rechts auf das erlebte Unrecht des Nationalsozialismus gewesen. „Diese Wendung zum Naturrecht war nicht nur eine Angelegenheit der Juristen oder Philosophen, sondern entsprach auch dem ethischen Empfinden breitester Volksschichten, die in der nationalsozialistischen Ära immer wieder die Antinomie zwischen formaler Legalität und sittlicher Legitimität erlebt hatten und zur Einsicht gelangten, daß der staatliche Gesetzesbefehl sich nicht ohne weiteres mit wirklichem, d. h. ethisch fundiertem Recht deckt.“35 Süsterhenn war ein sachkundiger Gesprächspartner für Prälat Wilhelm Böhler in Fragen religiös-weltanschaulicher Natur, der die Interessen und Anliegen der katholischen 31 Die Berufung Pius’ XII. auf das Naturrecht hat dazu beigetragen, dass sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges deutsche Bischöfe von der Argumentation des Papstes inspirieren ließen. Auch fühlten sich die katholischen Sozialwissenschaftler, die schon vor 1933 die naturrechtliche Orientierung vertreten hatten, ermutigt, in Wort und Schrift eine neue Blüte des Naturrechtsdenkens zu inaugurieren. Zu ihnen gehörten die Jesuiten Gustav Gundlach, Oswald von Nell-Breuning, Johannes Hirschmann, die Dominikaner Arthur F. Utz und Eberhard Welty, ebenso Joseph Höffner und Johannes Messner, der im englischen Exil sein epochemachendes Werk „Das Naturrecht“ verfasste, der Präsident der Görres-Gesellschaft Hans Peters, Rudolf Henning und viele andere. 32 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass sich in den Nachkriegsjahren ein evangelisches Schrifttum zum Naturrecht entwickelte. Vgl. Heinz-Horst Schrey, Die Wiedergeburt des Naturrechts, in: Theologische Rundschau, 19 / 20 (1951 / 52), S. 21 ff., S. 154 ff., S. 193 ff. 33 Josef Isensee, Gerechtigkeit – die vorrechtliche Idee des richtigen Rechts. Streiflichter auf ein ewiges Thema, in: Ferdinand Kirchhof / Hans J. Papier / Heinz Schäffer (Hrsg.), Rechtsstaat und Grundrechte. Festschrift für Detlef Merten, Heidelberg 2007, S. 3. 34 Vgl. Adolf Süsterhenn / Hans Schäfer, Kommentar der Verfassung für Rheinland-Pfalz, Koblenz 1950. 35 Adolf Süsterhenn, Der Durchbruch des Naturrechts in der deutschen Verfassungsgesetzgebung nach 1945, in: Hermann Conrad / Heinrich Kipp (Hrsg.), Gegenwartsprobleme des Rechts. Beiträge zum Staats-, Völker- und Kirchenrecht sowie zur Rechtsphilosophie, Bd. 1 (Festschrift Godehard Josef Ebers), Paderborn 1950, S. 45. – Vgl. Paul Mikat, Verfassungsziele der Kirchen unter besonderer Berücksichtigung des Grundgesetzes, in: Rudolf Morsey / Konrad Repgen (Hrsg.), Christen und Grundgesetz, Paderborn u. a. 1989, S. 36 – 39.
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Kirche vertrat.36 Auch wenn für die Kirchen die sogenannten Kulturartikel im Vordergrund standen, so waren diese doch eingebettet in die allgemein-politischen Forderungen vorstaatlicher Menschenrechte. Der Parlamentarische Rat war „in seiner Gesamtheit der Meinung, daß die Grundrechte vorstaatliche Rechte seien und somit keinesfalls der Dispositionsfreiheit von Gesetzgeber und Gesellschaft unterlägen. Weiterhin bestand Konsens über eine Identität von Grundwerten und Grundrechten. Strittig war lediglich die Begründung dieser vorstaatlichen Rechte, ob sie sich nämlich rational-diesseitig aus der Menschheitsgeschichte oder theologisch-naturrechtlich herleiten“37. Als sich im Parlamentarischen Rat „besondere Schwierigkeiten bei Fragen des Schutzes des keimenden Lebens, des Schutzes von Ehe und Familie, des Elternrechts in seiner Auswirkung auf die Schule sowie der Regelung der Rechtsstellung der Kirchen, insbesondere hinsichtlich der Frage des Reichskonkordats und der Länderkonkordate“ zeigten,38 kam es auf Veranlassung der beiden Kirchen zu einer Aussprache zwischen Kirchenvertretern und führenden Politikern der im Parlamentarischen Rat vertretenen Parteien, ausgenommen die Kommunisten.39 Den Kirchen ist es damals nicht gelungen, einige mit besonderem Nachdruck vertretene Forderungen durchzusetzen. Auf der anderen Seite leitete diese Aussprache eine Wende ein, insofern Süsterhenn eine Überlegung von Theodor Heuss aufgriff und eine Kompromissformel für die Regelung der staatskirchenrechtlichen Beziehungen und der Frage der Konkordate entwickelte, die dann die Zustimmung der Mehrheit des Parlamentarischen Rates erreichte.40
VI. Die unantastbare Würde des Menschen Keine andere Aussage könnte den Neubeginn der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung präziser fassen als das Bekenntnis zur unantastbaren Würde des Menschen. Der Parlamentarische Rat hat sich die Formulierung des Artikels 100 der Bayerischen Verfassung zu eigen gemacht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Damit rückte ein Wort an die oberste Stelle der Rechtsbegriffe, das seiner Herkunft nach gar kein Rechtsbegriff ist und den man eher bei der Moral und der Ethik suchen würde. Für das Verständnis und die Auslegung dieses Artikels konnte man nicht auf eine verfassungsrechtliche Tradition oder Dogmengeschichte zurückgreifen. Wie ernst es dem Parlamentarischen Rat mit der Neuordnung der Verhältnisse war, geht daraus hervor, dass dieser Artikel an die Spitze des Grundgesetzes gestellt wurde, um sichtbar zu machen, dass das gesamte Zusammenleben in Gesellschaft und Staat sein Fundament in der Person des Menschen und ihrer unantastbaren Würde hat. 36 Vgl. Johannes Niemeyer, Institutionalisierte Kontakte zwischen Kirche und staatlich-politischen Instanzen, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Kirche und Staat in der Bundesrepublik 1949 – 1963, a. a. O., S. 69 – 93. 37 Klaus Gotto, a. a. O., S. 100. 38 Adolf Süsterhenn, Mitgestalter des Grundgesetzes, in: Bernhard Bergmann / Joseph Steinberg (Hrsg.), In memoriam Wilhelm Böhler. Erinnerungen und Begegnungen, Köln 1965, S. 77. 39 Vgl. Paul Mikat, Verfassungsziele der Kirchen unter besonderer Berücksichtigung des Grundgesetzes, in: Rudolf Morsey / Konrad Repgen (Hrsg.), a. a. O., S. 42 ff. 40 Vgl. Joseph Listl, Das Staatskirchenrecht in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 – 1963, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Kirche und Staat, a. a. O., S. 9 ff.
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Die Beratungen über das Grundgesetz waren im vollen Gange, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ verkündete. Sie sollte der künftigen Sicherung dieser Rechte dienen. In der Präambel Abs. 1 heißt es, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“. Diese denkwürdige Erklärung hat die Mitglieder des Parlamentarischen Rates bestärkt, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Die jedem Menschen „innewohnende Würde“ bringt die Sonderstellung des Menschen zum Ausdruck; damit im Zusammenhang stehen die „gleichen und unveräußerlichen Rechte“. Wo immer die Menschenrechte verkannt und missachtet werden, führt dies „zu Akten der Barbarei . . . , die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben“. Das Bekenntnis zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ in Art. 1 Abs. 2 GG knüpft an die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen an. Nach den Jahren der Unmenschlichkeit, der Menschenverachtung und der Menschenvernichtung sollte in Zukunft die Menschenwürde unantastbar sein und der staatlichen Verfügungsgewalt entzogen bleiben.41 Peter Häberle weist darauf hin, dass im Parlamentarischen Rat ein Denken vorherrschend war, „das Art. 1 GG als kodifiziertes Naturrecht, Menschenwürde als vorstaatlichen Wert interpretiert“.42 Am wirkungsvollsten ist die Kommentierung des Grundgesetzes durch Günter Dürig geworden. Sie ist 1958 erstmals erschienen. Die Menschenwürdegarantie, das „oberste Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts“, ist die Übernahme eines grundlegenden, in der europäischen Geistesgeschichte hervorgetretenen „sittlichen Werts“ in das positive Verfassungsrecht, das sich dadurch selbst auf ein vorpositives Fundament, eine Art „naturrechtlichen Anker“ bezieht.43 Artikel 1 Absatz 1 GG ist der verbindliche Maßstab für alles staatliche Handeln, der den Staatszweck und die Staatsaufgaben bestimmt und beschränkt und ebenso die Legitimität von Staat und Recht. Den Inhalt der Menschenwürde bestimmte Dürig in einer Weise, die das vorpositive Fundament – „damals communis opinio“ (E.-W. Böckenförde) – klar zum Ausdruck bringt: „Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten“.44 Dies macht das Wesen des Menschen aus, und zwar jedes Menschen, auch des Nasciturus: „Das Leben des Menschen beginnt mit der Zeugung. Im Augenblick der Zeugung ,entsteht der neue Wesens- und Persönlichkeitskern, der sich hinfort nicht mehr ändert. In ihm ist alles Wesentliche und Wesenhafte . . . dieses Menschen beschlossen. Er treibt zur EntVgl. hierzu Theodor Maunz, a. a. O., S. 14 – 17. Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), a. a. O., S. 835. 43 Hier und im Folgenden: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar. Abschied von den Verfassungsvätern: Die Neukommentierung von Artikel 1 des Grundgesetzes markiert einen Epochenbruch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. September 2003, S. 33 und 35. 44 Günter Dürig, Kommentierung der Artikel 1 und 2 Grundgesetz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz (Sonderdruck), München, S. 11. 41 42
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faltung dessen, was keimhaft in ihm liegt und bewirkt, daß der Mensch, mag er wachsen oder vergehen, stets er selber bleibt‘.“45 Der Nasciturus ist deshalb kraft seiner Menschenwürde Inhaber des Grundrechts auf Leben im Sinne des Artikels 2 Absatz 2 des Grundgesetzes, es gibt kein allgemeineres Recht der Menschheit als Recht auf Leben überhaupt. Für Dürig ist die Menschenwürde dann getroffen, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“. Deshalb verurteilte er die heterologe Insemination als Verletzung der Menschenwürde, und insbesondere die mit Hilfe eines anonymen Samenspenders: „Der Samenspender, dem es gleichgültig ist, wem das Sperma zur Verfügung gestellt und was aus den Kindern wird, kann überhaupt nur schaudernd gedacht werden. Der Ehemann wird zu einer ,vertretbaren Größe‘ degradiert. Von der Mutter wird vorausgesetzt, daß sie den Gatten als austauschbar hinnimmt . . . Das Kind wird systematisch in seinem Recht getroffen, seine blutsmäßige Abstammung zu erfahren.“ Den Staat treffe nicht nur die Pflicht zur Nichtlegalisierung, sondern eine echte Schutz- und Abwehrpflicht. Das Grundgesetz geht von der unantastbaren Würde des Menschen als Person und seiner unveräußerlichen Grundrechte aus. Ob diese Wertorientierung auch heute und morgen das Denken und Handeln der Bürger bestimmt und insbesondere derer, die in Wirtschaft und Gesellschaft, in Kultur und Wissenschaft, in Verwaltung und Politik Verantwortung tragen, dies hängt davon ab, ob die Menschen heute und die nachwachsende Generation die Entstehungsgeschichte und die Beweggründe für die klare Wertentscheidung unseres Grundgesetzes begreifen und nachvollziehen können. Die Besinnung auf das Wesen des Menschen und den sittlich-rechtlichen Wert der Menschenwürde ist gerade in einer Zeit, in der der Geist der Machbarkeit in alle Lebensbereiche einzudringen droht, notwendig. Wir müssen die Mahnung Gustav Radbruchs beherzigen und uns wappnen „gegen die Wiederkehr eines neuen Unrechtsstaates“.
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Ebd., S. 13.
Elftes Kapitel
Demokratie
Ethische Grundlagen und Formen der Demokratie Von Otfried Höffe I. Ein interkultureller Demokratiediskurs Die Gemeinwesen des Westens halten die Demokratie für die einzig legitime Staatsform, damit stillschweigend für universal gültig. Obwohl der Gedanke auch außerhalb des Westens mehr und mehr an Zustimmung gewinnt – freilich oft nur verbal –, tauchen in manchen nichtwestlichen Gemeinwesen grundsätzliche Einwände auf. Diese berufen sich gern auf abweichende politische Werte und auf eigene Vorstellungen von einem guten Gemeinwesen. Was der Westen für universal gültig erkläre, sei in Wahrheit nur partikular legitim, und indem er den partikularen Gedanken der ganzen Welt aufzwinge, mache er sich eines Kulturimperialismus, genauer eines Rechtskulturimperialismus schuldig. Einem derartigen Einwand tritt generell ein interkultureller Rechtsdiskurs entgegen, der bei der Frage nach der legitimen Staatsform zu einem interkulturellen Demokratiediskurs wird. Um in Zeiten globaler Koexistenz nicht einige Rechtskulturen zu privilegieren, die anderen dagegen zu diskriminieren, unterwerfe man sich dem Grundsatz jeder Rechtsanwendung, der Unparteilichkeit, und führe den streng nichtparteilichen Diskurs auf drei Ebenen durch. Auf der Ebene der Rechtstheorie, hier einer normativen Begründung der Demokratie, lasse man alle Besonderheiten beiseite und konzentriere sich auf Gemeinsamkeiten, in denen sich die verschiedensten Rechtskulturen wiederfinden können. Auf der Ebene der Rechtsgeschichte verbinde man historisches Bewusstsein mit sozialgeschichtlichen Kenntnissen. Und auf der Ebene der Rechtspraxis plädiere man für formale Grundsätze und deren behutsame Verwirklichung, auf dass die verschiedenen Kulturen ein möglichst hohes Maß an Eigenständigkeit behalten (vgl. Höffe 21998). Grundlegend neu sind interkulturelle Diskurse für die Philosophie nicht. Die im Prinzip schon immer gegebene Aufgabe erhält im Zeitalter der Globalisierung eine vorher unbekannte Aktualität. Auch die politische Philosophie stützt sich seit jeher lediglich auf die allgemeinmenschliche Vernunft, ergänzt sie um allgemeinmenschliche Erfahrungen und eignet sich daher zu einem Anwalt der Menschheit. Dabei bedeutet „Menschheit“ primär das Humane im Menschen, dessen Berücksichtigung kommt aber der Menschheit im zweiten Sinn der Gattung zugute. Der Ausdruck „Demokratie“ stammt, wie das meiste rechts- und staatstheoretische Vokabular, von den Griechen. Trotzdem ist die verbreitete Ansicht zu korrigieren, die Sache der Demokratie sei ein ausschließlich europäisches Erbe. Der Blick in die Geschichte und auf ferne Kulturen stößt nämlich auf eindrucksvolle Gegenbeispiele, etwa auf die herrschaftsarme, auf Absprache und Zustimmung der Betroffenen basierende
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Selbstorganisation der Jäger- und Sammlergesellschaften (vgl. Lee 2004). Ein anderes Beispiel bietet eine westafrikanische Versammlungsform mit jahrhundertealter Tradition, das Palaver. Darunter ist nämlich kein endloses Gerede zu verstehen, sondern eine Zusammenkunft der Stammesmitglieder, die so lange miteinander diskutieren, bis nicht, wie in modernen Demokratien verbreitet, nur eine kleine Mehrheit gefunden wird, vielmehr ein überwältigender Konsens (vgl. United Nations 1979). Ein weiteres Beispiel gibt das vorgeschichtliche Mesopotamien nach Jacobsen (1943) ab, das eine „primitive Demokratie“ kennt, in der die Regierung zwar in der Hand eines Ältestenrates lag, die letzte Souveränität aber bei der Versammlung aller freien Männer. Ähnliches ist von den Germanen, ihrem Thing oder Ding, bekannt. Und in der Erklärung des Bundes der Irokesen heißt es, dass alle Mitglieder persönlich frei sind, gleich in ihren Rechten und Privilegien und ohne eine Überlegenheit der Häuptlinge (siehe Morgan 1851).
II. Legitimation und Limitation 1. Voraussetzungen
Eine Begründung der Demokratie darf einiges voraussetzen, das eine umfassende Rechts- und Staatsphilosophie noch auszuweisen hat: Erstens ist der Mensch teils aus biologischen, teils ökonomischen und pragmatischen, sogar moralischen Gründen auf ein Zusammenleben mit seinesgleichen angewiesen. Zweitens ist die Art des Zusammenlebens nicht biologisch vorgegeben, die Menschen müssen sie vielmehr selbst gestalten und weil die Kerngrammatik in zwangsbefugten Regeln, dem Recht, besteht, erhält das Zusammenleben drittens einen Charakter von Herrschaft. Viertens rechtfertigt sich diese letztlich nur von einem Vorteil, der jedem einzelnen Betroffenen, dann auch ihrer Gesamtheit zugutekommt, also von einem sowohl distributiven als auch kollektiven Vorteil. Zu ihm gehört fünftens zweierlei: eine Ordnung des inneren und äußeren Friedens mit Rechten, die dem Menschen, bloß weil er Mensch ist, zugutekommt, und die öffentliche Verantwortung für Recht und Menschenrechte (vgl. Höffe 32002 und 2004). Unter diesen Voraussetzungen hat eine (normative) Begründung der Demokratie zu zeigen, inwiefern sie eine legitime, vielleicht sogar die legitime Staatsform ist. Dabei darf sich der Kern der Begründung nicht auf kulturspezifische, er muss sich auf interkulturell gültige Argumente berufen. Wegen der Mehrdeutigkeit seiner beiden Bestandteile demos (Volk) und krateia (Herrschaft) ist allerdings der Ausdruck „Demokratie“, dieses Schlüsselwort der modernen Staatstheorie, seinerseits mehrdeutig. Eine interkulturelle Begründung erfolgt daher nicht pauschal, sondern im Durchgang durch die Bedeutungsvielfalt, die übrigens mit der prominenten Entgegensetzung von „liberalem“ und „republikanischem“ Modell nur einen kleinen Teil abdeckt. Insgesamt lassen sich neun Elemente bzw. neun Begriffe von Demokratie, ihrerseits drei Dimensionen zugeordnet, unterscheiden. Die Besonderheit der neun Begriffe wird durch den Umstand bekräftigt, dass zu jedem von ihnen eine andersartige Alternative gehört. 2. Herrschaftslegitimierende Demokratie
Die beiden legitimatorisch elementarsten Begriffe laufen in der ersten Dimension, der herrschaftslegitimierenden Demokratie, zusammen:
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(1) Nach dem herrschaftsetablierenden Begriff geht die politische Herrschaft von der Gesamtheit der betroffenen Rechtsgenossen, dem Volk, aus („government of the people“). Mit dieser Legitimationsmacht verbindet sich eine grundlegende Gleichheit der Rechtsgenossen. Der Verzicht, seine Interessen und Rechte selber („privat“) durchzusetzen und stattdessen eine öffentliche Rechtsordnung einzusetzen, muss sich dem Grundsatz „volenti non fit iniuria“ unterwerfen: Jeder Einzelne muss dem Verzicht zustimmen können. Freilich auch nur hier am legitimatorischen Ursprung sind Herrscher und Beherrschte identisch. Der Gegenbegriff zu dieser formalen Selbstherrschaft liegt in entsprechender Fremdherrschaft, in der Despotie bzw. Tyrannis im formalen Sinn: in der Unterwerfung durch überlegene Macht. (2) Zustimmungswürdig ist die öffentliche Rechtsordnung nur bei einem distributivkollektiven Vorteil. Damit dieser eintritt, muss die Herrschaft etwa als Friedensordnung der Gesamtheit und über die Menschenrechte jedem Einzelnen zugutekommen. In diesem doppelten Sinn dient die Demokratie nach ihrem zweiten, intentionalen oder herrschaftsnormierenden Begriff dem Volk („government for the people“). Den Gegenbegriff dazu bildet die Despotie bzw. Tyrannis im substantiellen Sinn: die Unterdrückung der Bürger und ihre Ausbeutung. Die ersten zwei Stufen machen zusammen jene Fundamentaldemokratie aus, die den Entscheidungsspielraum aller staatlichen Gewalt, auch den einer demokratischen Mehrheit begrenzt. Vom Staat nicht gewährt, nur gewährleistet, erlauben die beiden Leitaufgaben, die Friedensordnung und die Menschenrechte, keine Mehrheitsentscheidungen, nur eine reflexive Vergewisserung und Zustimmung. Die in ihnen verbürgte Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen wird durch keine noch so große Mitbestimmung aufgewogen. Die (legitimatorische) Fundamentaldemokratie widerspricht daher jener (organisatorischen) Totaldemokratie, die sich nicht vorab den genannten Leitaufgaben unterwirft, sondern selbst für die Menschenrechte Mehrheitsentscheidungen zulässt. Auch dort, wo die Herrschaft nicht vom Volk selbst ausgeübt werden kann, muss sie zumindest in Treuhänderschaft, also „im Namen des Volkes“ und „zum Wohle des Volkes“, stattfinden. Ist beispielsweise der Gerechtigkeitssinn der Bürger extrem schwach entwickelt, so können selbst die Menschenrechte, etwa die religiöse Toleranz, gefährdet sein. Dann kann man von fehlender Demokratiemündigkeit sprechen und ihretwegen eine Herrschaft in Treuhänderschaft einrichten, die die Toleranz auch gegen eine weitgehend intolerante Bürgerschaft durchzusetzen hätte. In der Fundamentaldemokratie liegt jedenfalls eine unverzichtbare Minimaldemokratie: Deren Anerkennung darf man nie auf später verschieben. Das Demokratiegebot der Fundamentaldemokratie lautet: Jede Herrschaft ist sowohl im Namen des Volkes als auch zum Wohle des Volkes auszuüben. 3. Herrschaftsausübende Demokratie
(3) Dort, wo sich das Volk ausdrücklich selbst regiert, kommt es zur zweiten Dimension, der herrschaftsausübenden Demokratie („government by the people“). In deren erstem, organisatorischen Gesichtspunkt, der Demokratie als Gegensatz zu Monarchie und Aristokratie, liegt das gewöhnliche Verständnis: die demokratische Politik als Auseinandersetzung um Sachen und Personen, um innen- und außenpolitische Richtungen, um deren Umsetzung in Gesetze, um die periodische Wahl der Amtsinhaber und um den Wechsel von Regierung und Opposition. Deren Voraussetzung bilden die demokra-
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tischen Mitwirkungsrechte, insbesondere das aktive und passive Wahlrecht, aber auch das Abstimmungsrecht, ferner das Recht, vermittelnde Instanzen wie die Parteien und eine politische Öffentlichkeit zu bilden. Dass die Demokratie als Organisationsform nur die legitimatorisch zweite Dimension, die Herrschaftsausübung, betrifft, schmälert nicht ihre interkulturelle Gültigkeit. Keineswegs ist sie an Werte oder Lebensbedingungen der europäischen Neuzeit gebunden; ohnehin findet man sie schon lange vorher. Die Athener Volksversammlung beispielsweise erkennt die isêgoria, das Rede-, sogar Antragsrecht jedes Bürgers, an, auf dass alles nicht bloß vor dem Volk, sondern auch vom Volk frei ausgetragen werde (vgl. Bleicken 41995, S. 292 – 298; Hansen 1995, S. 73 – 86). Zugunsten der herrschaftsausübenden Demokratie spricht ein Argument der normativen Modernisierung: Weil die Demokratiemündigkeit, in der allgemeinmenschlichen Vernunft angelegt, allen Menschen aller Kulturen eine positive Chance bietet, dürfen Gemeinwesen, die die Chance ergreifen, als denen überlegen gelten, die sie verschenken. Das zweite universale Demokratiegebot, das der herrschaftsausübenden Demokratie, sagt: Zur Vollendung politischer Gerechtigkeit gehört, die Herrschaft in einer herrschaftsausübenden Demokratie vorzunehmen. Bei den Entscheidungsverfahren der herrschaftsausübenden Demokratie ist erneut die Gleichheit wichtig: Jedem Bürger gebührt eine und nur eine Stimme („one person, one vote“). Diese kaum verzichtbare Mehrheitsregel taucht aber erst hier, in der legitimatorisch sekundären, herrschaftsausübenden Demokratie auf. Ohne Beschlussregeln ist zwar kein Gemeinwesen funktionsfähig. Der Beschluss, die Mehrheitsregel als Beschlussregel einzuführen, lässt sich aber nicht seinerseits im Mehrheitsbeschluss rechtfertigen. Der logisch höherstufige Beschluss bedarf jener Einstimmigkeit, die nur bei der universalen Zustimmungswürdigkeit eines distributiven Vorteils zu erwarten ist. (4) Selbst die ersten drei Begriffe zusammen, die berühmte Demokratieformel aus Abraham Lincolns „Gettysburg Address“, das „government of the people, by the people, for the people“, erschöpft die normativen Chancen der Demokratie noch nicht. Es fehlt die rechtssichernde Bedeutung, die erneut interkulturell begründungsfähig ist. Nach Platons berühmtem Philosophenkönigssatz (Politeia, Buch VI, 473 c–d) soll man die Herrschaft moralisch und intellektuell überlegenen Personen überantworten. Mindestens vier Argumente mahnen zur Skepsis: Weil derart überlegene Personen nicht immer vorhanden und sie, wenn vorhanden, nicht leicht identifizierbar sind, weil sie drittens, wenn identifiziert, nicht immer zum Herrscheramt bereit und sie viertens, wenn bereit, durch die Macht des Herrscheramtes korrumpierbar sind, deshalb entkoppelt man die Herrschaft vom Charakter der Personen und verlasse sich auf Institutionen. Allerdings empfiehlt sich keine vollständige Entkoppelung. Denn selbst gute Institutionen bieten keine Garantie gegen Machtmissbrauch, weder dagegen dass das Recht gebeugt wird noch gegen eine offensichtlich ungerechte Gesetzgebung. Diesen Gefahren tritt auf Seiten der Amtsinhaber ein Amtsethos, etwa der Unparteilichkeit, und auf Seiten der Bürger ein bestimmtes Maß an Bürgertugend, etwa an Rechtssinn und an Gemeinsinn, entgegen (vgl. Höffe 2004, Kap. 6 und 8). Durch die Verbindung mit den ersten drei Dimensionen wird die rechtssichernde Demokratie zum Rechts- und Verfassungsstaat. Den Gegenbegriff bilden die das Recht beugende Herrschaftsformen: die Diktatur und der totalitäre Staat.
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(5) Mit der Rechenschaftspflicht von Amtsträgern und deren Überwachung durch andere Amtsträger beginnt der nächste, herrschaftsteilende Begriff der Demokratie. Den Gegenbegriff bildet eine ausschließlich direkte Demokratie, die als reine bzw. totale Demokratie selbst die Gerichtsbarkeit dem Volk vorbehält. In der Alternative übt das Volk in einer weiteren Selbstbeschränkung die Gewalten nur begrenzt unmittelbar aus. Insbesondere bei der Gerichtsbarkeit verbietet es sich jeden Eingriff. Weil es in ihr außer auf professionelle Kompetenz auch auf das allgemeinmenschliche Rechtsbewusstsein ankommt, lehnt es zwar (populistische) Volksgerichte oder gar parteihörige Volksgerichtshöfe ab, hält aber die Mitwirkung von Laienrichtern, Geschworenen, für richtig. Die gewaltenteilende Demokratie, schon der Antike bekannt und von Aristoteles als „politische Polis“, als Politeia bzw. Politie, für die beste Verfassung gehalten (Politik, Buch IV; 8 – 9), heißt im Anschluss an die lateinische Entsprechung „Republik“. Von ihr sagt Kant mit einem bei ihm seltenen Pathos: „[A]ußer der Republik ist kein Heil“ (Reflexionen, Nr. 8076; zur Geschichte des Begriffs Republik siehe Mager 1984). (6) Der heute so selbstverständliche gesetzgebende bzw. legislatorische Demokratiebegriff taucht rechtsgeschichtlich spät auf. Das anmaßende Wort „Ich werde die alten Gesetze aufheben und neue erlassen“ kommt bezeichnenderweise aus dem Mund des Antichristen (Tegernseer Ludus de Antichristo, V. 185 f.). Erst im Verlauf der Neuzeit ändert sich die Sachlage, und dann radikal. Nach Hobbes’ berühmter Formel „authoritas, non veritas facit legem“ (Leviathan, Kap. 26, dazu Höffe 1996) wird das positive, „gemachte“ Gesetz zum Maß auch demokratischer Legalität. In Widerspruch zu früher heißt die Metaregel jetzt: Das neue Gesetz bricht das alte. So wichtig der legislatorische Demokratiebegriff heute ist – er kann nicht als interkulturell gültig gelten. Er ist an die für die europäische Neuzeit charakteristische Dynamik der Gesellschaft gebunden, deren immer neue Regelungsaufgaben eine permanente Gesetzgebung erfordern. Der Gegensatz zur legislatorischen Demokratie besteht in einer vormodernen Demokratie, die das Gesetz als Vorgabe betrachtet und sich weitgehend der Gesetzgebung enthalten kann. Die legislatorische Demokratie hat eine Verrechtlichung in drei Dimensionen zur Folge: einen ständigen Funktionszuwachs, eine nicht endende Verdichtung und Verfeinerung der Gesetzgebung („synchrone Normenflut“) und eine stete Novellierung („diachrone Normenflut“). Die damit zusammenhängende Instabilität des Rechts untergräbt dessen Grundaufgabe, die Rechtssicherheit. Zusätzlich schränkt die Dichte der Gesetze und Verordnungen die Handlungsfreiheit in einem Maß ein, das der Freiheitsaufgabe des Rechts zuwiderläuft. Und vor allem hat die Normenflut die antidemokratische Konsequenz, dass der gewöhnliche Bürger sich immer weniger auf seine eigene Rechtskompetenz verlassen kann: auf ein „natürliches Rechtsbewusstsein“, ergänzt um wenige elementare Rechtskenntnisse.
4. Partizipatorische Demokratie
(7) Die herrschaftsausübende Demokratie vollendet sich in der partizipatorischen Demokratie (vgl. Höffe 2004, S. 94 f.). Wesentlich für sie ist die politische Öffentlichkeit, mit deren Hilfe das Volk nicht bloß temporäres Wahlvolk ist, sondern auch dort als
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Träger der Politik agiert, wo es nicht über alles direkt entscheidet. In den entsprechenden Medien – von der Wirtshausdebatte über Druck, Funk und Bild bis zu den einschlägigen Wissenschaften, Symposien und Akademien, nicht zuletzt Bürgerinitiativen – ist die partizipatorische Demokratie ein Forum, auf dem Interessen und Meinungen zu Wort kommen, und darüber hinaus auch eine Arena, in der um Einfluss und Macht gestritten wird. Sie ist weiterhin eine kritische Instanz, vor der sich die gesamte Politik, einschließlich der Gerichtsbarkeit, zu rechtfertigen hat. Nicht zuletzt trägt eine funktionierende Öffentlichkeit, da sie auch die Opposition zu Wort kommen lässt, zum inneren Frieden bei. Eine „radikal-partizipatorische“ Demokratie entspricht dem genannten Gegensatz zur Fundamentaldemokratie, einer „Totaldemokratie“. Sie wird gelegentlich missverständlich republikanisch genannt, einer liberalen (rechts- und verfassungsrechtlichen) Demokratie entgegengesetzt und als Vorrang der Volkssouveränität vor den Menschenrechten begriffen (vgl. Barber 1994). Auch der nicht so radikalen Variante von Habermas (1992, z. B. Teil III.III), der These einer Gleichursprünglichkeit von Menschenrechten und Volkssouveränität, ist mit dem Argument der Fundamentaldemokratie zu widersprechen: Weil keine Herrschaft ohne eine Friedensordnung und die Anerkennung der Menschenrechte legitim ist, muss auch die herrschaftsausübende Demokratie sich vorab auf diese Leitaufgaben verpflichten. Erst bei deren Feinbestimmung hat die legislatorische Demokratie das Recht, den konkreten Gehalt der Menschenrechte je neu zu bestimmen, auf dass sie im ständigen Wechsel der empirischen Randbedingungen ihre normative Gültigkeit bewahren. (8) Nach ihrem existentiellen Begriff ist die Demokratie auch eine Lebensform. Hier kommt es im Gegensatz zur bloß formalen Demokratie auf den realen Vollzug an: dass alle Bürger ihre politischen und sozialen Rechte wahrnehmen und an der Entscheidung über deren Ausbau teilhaben. Um die von Platon (Politeia, Buch VIII, 555b ff.) und Aristoteles (Politik, Buch III, 1279b) befürchtete Herrschaft der wirtschaftlich mittellosen und politisch nicht sonderlich kompetenten Menge, um eine zügellose Herrschaft der Armen und Unwissenden zu verhindern, muss man für bessere Voraussetzungen sorgen. Der dafür zuständige soziale Demokratiebegriff gibt den Sozialrechten eine funktionale Rechtfertigung: Möglichst alle Bürger sollen die empirischen Voraussetzungen von Demokratiemündigkeit erfüllen. Eine Hebung des Bildungsniveaus ist dafür wichtiger als wirtschaftliche Verbesserungen, denn diese können auch lediglich die Konsumfähigkeit steigern und zugleich das Interesse am Gemeinwohl schwächen. Politisch mündige Bürger brauchen jedenfalls materiell nicht viel. (9) Ein weiterer Gesichtspunkt der Demokratie betrifft ihre dritte, außenpolitische Dimension: dass die Demokratie nicht bloß dem inneren, sondern auch dem äußeren Frieden diene; die Demokratie hat auch eine friedensfördernde Bedeutung. Eine Bilanz kann beim Volk zwei Begriffe unterscheiden, (1) die normative, näherhin rechtsmoralische Idee eines vereinigten Willens von (2) dem Volk im empirischen Sinn. Die Idee des vereinigten Willens entspricht den legitimatorisch vorrangigen ersten zwei Gesichtspunkten der Demokratie. Als Inbegriff legitimierender Herrschaft machen sie die erste Dimension, die herrschaftslegitimierende Demokratie aus. Die folgenden sechs Begriffe, Gesichtspunkte der herrschaftsausübenden Demokratie, führen den Gedanken in die empirische Wirklichkeit ein und bringen ihn hier zu einer gewissen Vollendung.
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Gemeinwesen, die die Elemente der zweiten Dimension erst rudimentär anerkennen, sind „Entwicklungsländer qualifizierter Demokratie“, die sich bei fortgeschrittener Anerkennung zu „Schwellenländern qualifizierter Demokratie“ fortentwickeln.
5. Repräsentative oder direkte Demokratie?
Die repräsentative Demokratie erlaubt den Bürgern, in Wahlen die politische Entscheidungsvollmacht auf Repräsentanten, Abgeordnete, zu übertragen, die ihrerseits die Gesetze erlassen und die Regierung wählen. In einer direkten Demokratie dürfen sie dagegen in Volksabstimmungen (Volksinitiative, Volksbegehren oder Volksentscheid) auch über Sachgeschäfte entscheiden; sie dürfen nicht bloß wählen, sondern auch abstimmen. In der Reinform repräsentativer Demokratie liegt die Gesetzgebung beim Parlament. In der mit direkter Demokratie verknüpften Form, d. h. in der repräsentativplebiszitären Mischverfassung, liegt sie bei Volk und Parlament. Eine Wertschätzung der direkten Demokratie beläuft sich nicht auf eine Abschaffung der repräsentativen Demokratie. Sie behauptet nicht einmal eine rousseauistisch gefärbte normative Höherrangigkeit, die die repräsentative Demokratie zu einem bedauerlichen Ersatz herabwürdigt. Es genügt, beide Gestalten für je eigene Formen der Selbstregierung zu halten, wobei angesichts der verbreiteten Höherschätzung der repräsentativen Demokratie einmal die angeblichen Nachteile der direkten Demokratie und ihre tatsächlichen Vorteile zu würdigen sind. Ein erstes, historisch-strukturelles Gegenargument setzt die direkte Demokratie mit einer Versammlungsdemokratie gleich, hält sie daher nur in kleinräumigen, „kommunalen Staaten“ für vertretbar. Schon in der Schweiz finden Abstimmungen auf allen drei Ebenen statt: in den Kommunen, in den Kantonen und im ganzen Land, obwohl es mit gut 40.000 qkm und knapp sieben Millionen Einwohnern, gemessen an den antiken Stadtrepubliken, durchaus ein „moderner Flächenstaat“ ist. Und der US-Bundesstaat Kalifornien ist mit ca. 400.000 qkm etwa so groß wie Deutschland und hat immerhin mehr als 20 Millionen Einwohner. Ein zweites, lediglich historisches Gegenargument beruft sich auf die angeblich schlechten Erfahrungen in der Weimarer Republik; die historische Überprüfung bestätigt die schlechten Erfahrungen aber nicht (z. B. Schiffers, in: Heußner / Jung 1999). Nach einem dritten, erneut historischen Gegenargument sei die direkte Demokratie träge und tendenziell reformfeindlich. Die Statistiken zur Schweizer Politik geben dem deskriptiven Anteil zwar Recht, man kann aber schwerlich entscheiden, ob die direkte Demokratie dafür verantwortlich ist oder eher die Schweizer Mentalität. Im Übrigen kann man in einer Demokratie, von normativen Vorgaben wie den Menschen- und Grundrechten abgesehen, nicht gegen den Souverän, das Volk, entscheiden, was „besser“ ist. Einem vierten, wieder strukturellen Argument zufolge fehle den Bürgern die Sachkompetenz, die für die hochkomplexen Themen einer global vernetzten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft erforderlich sind. Die typische Parteikarriere von heute bringt aber auch nicht mit großer Wahrscheinlichkeit die beim schlichten Bürger vermisste Fachkompetenz zustande. Überdies gehen den Volksbegehren und Volksentscheiden in der Regel intensive Informations- und Diskussionsphasen voraus. In ihnen er-
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arbeitet sich das Volk eine weit höhere Sachkompetenz, als sie in der repräsentativen Demokratie vorherrscht (vgl. Schneider 2003). Fünftens – heißt es – gehe in der direkten Demokratie der große Vorteil des repräsentativen Systems verloren, die in regelmäßigen Wahlen eingeforderte Verantwortung der Mandatsträger. Die empirische Wirklichkeit setzt aber hinter die Effizienz der Verantwortung ein kräftiges Fragezeichen. Außerdem sind Verantwortung und Dialog nicht für die repräsentative Demokratie reserviert. Das, was Dahrendorf (2003) von mehr direkter Demokratie befürchtet, findet eher bei dem in Repräsentativsystemen verbreiteten täglichen „Schielen auf die Demoskopie“ statt: „so viel Stabilität wie die zehn meistverkauften Popsongs der vergangenen Woche“. Nach dem kritischen Blick auf die Gegenargumente genügt es, einige Pro-Argumente summarisch zu nennen: Wo die Betroffenen direkt entscheiden, wird die empirische, nicht bloß verfassungsrechtliche Wirklichkeit der Volkssouveränität gesteigert: Der Bürger wird zum virtuellen Amtsträger, und die „Zuschauerdemokratie“ wandelt sich zur „Mitwirkungsdemokratie“. Weiterhin wächst das Maß an Identifikation, an „WirGefühl“. Drittens wird bei beiden Faktoren, bei der Fachkompetenz und beim Engagement, ein höheres Niveau stimuliert, wodurch der politische Teil im Humankapital eines Gemeinwesens erhöht wird. Viertens wird die ausufernde Macht der „politischen Klasse“, insbesondere die Macht der Parteien und der Regierung, vielleicht auch die des Verfassungsgerichts, gebremst und mancherlei Entfremdung zwischen Politikern und Bürgern abgebaut. Fünftens wird die (nachschulische) Erziehung zur politischen Mündigkeit gefördert. Nicht zuletzt scheint das Partizipationsinteresse der Bürger in den letzten Jahren gewachsen zu sein, weshalb die vorgouvernementale Ausweitung der Bürgerbeteiligung, die in der Bürgergesellschaft stattfindet, durch eine stärkere gouvernementale Bürgerbeteiligung mittels direkter Demokratie abzurunden ist.
III. Eine subsidiäre und föderale Weltdemokratie Was innerhalb eines Gemeinwesens gilt, trifft sinngemäß auch auf das globale Zusammenleben zu. Wenn zwischen den Menschen der Friede und die Menschenrechte herrschen sollen und diese Herrschaft als Demokratie eingerichtet und ausgeübt werden soll, dann ist diese Forderung auch auf die inter- und supranationale Koexistenz auszuweiten. Infolgedessen braucht es eine demokratische Weltrechtsordnung; sie mag auch Weltdemokratie oder Weltrepublik heißen (vgl. Höffe 22002). Da sie von den vertrauten globalen Verhältnissen stark abweicht, legen sich Einwände nahe. In Auseinandersetzung mit ihnen gewinnt die Forderung nach einer Weltdemokratie an Plausibilität und Profil. Nach einem ersten Einwand spreche die Forderung zu Unrecht der Staatlichkeit ein Exklusivrecht zu und vernachlässige die Alternativen, den Markt und das Regieren ohne Staatlichkeit („governance without government“). Die Entgegnung verweist auf einen weiten, nicht auf den modernen Nationalstaat fixierten Staatsbegriff. Außerdem macht sie auf den Umstand aufmerksam, dass ein bemerkenswerter Anteil der neuen inter- und supranationalen Regelwerke und Organisationen staatsähnliche, in Ansätzen sowohl legislative und exekutive als auch judikative Funktionen übernimmt. Nach einem zweiten Einwand setze eine globale Rechtsordnung die Menschenrechte aufs Spiel, da deren Gewährleistung bisher nur Einzelstaaten gelungen sei. Dieser Ein-
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wand ist wahr, aber nur zu einem Drittel. Denn erstens gefährden die westlichen Staaten in ihrer Geschichte die Menschenrechte zunächst selbst. Zweitens gibt es dort, wo die Menschenrechte schon geschützt werden, teils innerstaatlich, teils durch Menschenrechtskonventionen nach dem europäischen Vorbild, jene erste vom römischen ius gentium bekannte Stufe von Weltrecht, das allen Kulturen der Welt gemeinsam ist. Der zweite Einspruch hat also nicht die Kraft eines absoluten, wohl aber die eines konstruktiven Vetos. Nach dem Grundsatz weltstaatlicher Subsidiarität ist eine föderale Weltrechtsordnung einzurichten. Ohnehin verfügen Staaten, die sich auf Menschenrechte und Volkssouveränität verpflichten, über eine Legitimität, an der es den meisten Konkurrenten, einschließlich der internationalen Nichtregierungsorganisationen, mangelt. Der dritte Einwand vertritt für den Schutz der Menschenrechte und Kulturen ein einfacheres Mittel: die Demokratisierung aller Staaten. Dagegen spricht aber zum einen, dass die Gemeinwesen und Kulturen selbst zu schützen bleiben: in ihrer territorialen Integrität und in ihrer politischen und kulturellen Selbstbestimmung. Zum anderen sind Demokratien nicht als solche friedensgeneigt. Infolgedessen hat auch der dritte Einwand nur die Kraft eines konstruktiven Vetos: Der Rechts- und Friedensschutz, den schon eine weltweite Demokratisierung zustande bringt, bleibt ihr überlassen. Wie schon die Individuen, so haben aber auch die Staaten einen Anspruch, dass Konflikte nicht durch Gewalt, sondern durch das Recht entschieden werden, weshalb es eine weltweite Rechtsordnung braucht. Dem vierten Einwand zufolge setzt die globale Rechtsordnung ein allen Menschen gemeinsames Rechtsempfinden, ein Weltrechtsbewusstsein, voraus, das in Wahrheit fehle. Die Entgegnung weist auf den reichen Strauß tatsächlich bestehender Gemeinsamkeiten hin: auf die Gebote der Gleichheit und der Unparteilichkeit zumindest in der Rechtsanwendung, auf Verfahrensregeln, auf die Unschuldsvermutung und schützenswerte Grund-Rechtsgüter wie Leib und Leben, Eigentum und Ehre; auch sind allerorten Brandstiftung, Maß-, Gewichts- und Urkundenfälschung strafbar. Das konstruktive Veto fällt deshalb fast banal aus: Das Weltrechtsbewusstsein braucht freilich noch Zeit, um sich zu entfalten. Die schon bestehenden Gemeinsamkeiten sind jedoch so groß, dass sie Weltgerichte möglich gemacht haben: den Internationalen Gerichtshof, das Internationale Seegericht und das Weltstrafgericht – auch wenn ein Anwalt der Menschenrechte, die USA, es boykottieren. Das Weltrecht, das wegen des universalen Rechts- und Demokratiegebotes rechtsmoralisch geboten ist, lässt sich also auf drei Ebenen einrichten: (1) als „nationales Weltrecht“ wie die Menschenrechte, (2) als „internationales Weltrecht“ durch zwischenstaatliche Vereinbarungen, durch ein Völkerrecht, und (3) als „globales Weltrecht“, als eine subsidiäre, komplementäre und föderale Weltrechtsordnung. Auf dieser dritten und letzten Ebene sind die Menschen Weltbürger, aber nicht im exklusiven, sondern komplementären Verständnis: Das entsprechende Weltbürgerrecht löst das nationale Bürgerrecht nicht ab, sondern tritt ergänzend hinzu. Überdies kann sie ein großregionales, zum Beispiel europäisches Bürgerrecht dazwischenschieben.
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Legitimationsprobleme der Massendemokratie Von Hans Vorländer I. Antike und moderne Demokratie Die Demokratie ist zum einen ein politisches Entscheidungssystem und zum anderen eine politische Lebensform. Das Unterscheidungsmerkmal zu anderen politischen Ordnungsformen besteht darin, dass Entscheidungssystem und Lebensform auf der Souveränität des Volkes beruhen. Entscheidungen müssen sich ausweisen als Entscheidungen des Volkes, und die Demokratie als Lebensform beruht darauf, dass das Volk an den politischen Entscheidungen beteiligt ist. Unabhängig davon, wie hoch die Beteiligung des Volkes im Einzelfall ausfällt, unabhängig auch von der Frage, ob die Entscheidungen in repräsentativer Weise, also durch Vertreter, Abgeordnete oder Delegierte oder direkt durch das Volk, in Abstimmungen oder Versammlungen, erfolgen, immer kann eine kollektiv verbindliche Entscheidung nur dann Legitimität für sich beanspruchen, wenn sie die Zustimmung durch das Volk oder der durch Wahlen bestimmten Repräsentanten des Volkes erhält. Legitimität kann im Sinne Max Webers als der Glaube, dass eine Herrschaftsordnung rechtens ist, verstanden werden. Dieser Legitimitätsglaube beruht in der Demokratie zum einen darauf, dass die Prozeduren demokratischer Entscheidungsbildung eingehalten worden sind. Alle Entscheidungen müssen sich in den Verfahren und Institutionen vollziehen, die für die Entscheidungsbildung – von der jeweiligen Verfassungsordnung – vorgesehen sind. Diese Form der Legitimität kann als prozedurale Legitimität, auch als Legalität, verstanden werden. Doch die Legitimität einer Demokratie beruht nicht allein auf der prozedural korrekten „legalen Satzung“ (Max Weber), sondern auf einem komplexen Geltungszusammenhang. Eine demokratische Ordnung kann nämlich nur dann als legitim bezeichnet werden, wenn die Bürger den Eindruck haben, am demokratischen Leben hinreichend beteiligt zu sein und gute, gerechte Entscheidungen der gesellschaftlichen Probleme getroffen werden. Entscheidungsakzeptanz und generelles Vertrauen in das politische System machen die Demokratie zu einer legitimen politischen Ordnung. Damit zergliedert sich das legitimatorische Zustimmungserfordernis der Demokratie analytisch in zwei miteinander verschränkten Hinsichten: zum einen in die Qualität der Entscheidungen, nämlich ob und wie Entscheidungen getroffen und akzeptiert werden, zum anderen in die Qualität der demokratischen Lebensform, nämlich wie, in welchen institutionellen und kommunikativen Formen, die Bürger am demokratischen Leben beteiligt sind und welche Impulse und Unterstützungsleistungen für das politische Entscheidungssystem erbracht werden. Diese Legitimationszusammenhänge gelten im Grundsatz für alle demokratischen Ordnungen, sie sind auch, im Verbund mit externen Faktoren, entscheidend für die Stabilität von Demokratien. Ihre konkreten Aus-
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formungen variieren indes mit der Struktur und den gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Demokratien stehen. Für moderne Massendemokratien stellen sich die Legitimationsprobleme anders dar als für die antike Demokratie Griechenlands. Die Demokratie Athens war eine direkte, auf Versammlung ihrer Bürger beruhende politische Ordnung, in der das Volk, der Demos, zugleich die gesetzgebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt innehatte. Zugleich beruhte sie auf einer sehr hohen, direkten Beteiligung ihrer Bürger, von den etwa 35.000 – männlichen – Vollbürgern nahmen in der Regel 6.000 an den regelmäßigen Volksversammlungen, der Ekklesia, teil, an den Gerichtsversammlungen beteiligten sich bis zu 1.000 Bürger, 500 Bürger waren Mitglieder des Rates, und 700 Bürger führten jedes Jahr ein Amt aus, in das sie durch Los bestimmt wurden. Die Athener waren von der politischen Urteilskraft eines jeden Bürgers überzeugt, der Bürger wurde für kompetent gehalten, in allen öffentlichen Angelegenheiten zu beraten, zu entscheiden und Ämter zu bekleiden. Erziehung, Kultvereine, das Gymnasium und auch die Tätigkeit in der Volksversammlung schufen einen gemeinsamen Kosmos an Vorstellungen über die politische Lebenswelt, in der die politische Tätigkeit als ein Wert an sich angesehen wurde. Zwischen dem demokratischen Entscheidungssystem und der Demokratie als politischer Lebensform bestand somit keine Differenz, die als ein Legitimationsproblem hätte verstanden werden können, weil alle Entscheidungen von den Bürgern selbst getroffen, verantwortet und kontrolliert wurden, ihnen also auch direkt zugerechnet werden konnten. Gleichwohl ließ die antike Demokratie Probleme erkennen, die auch für moderne Massendemokratien gelten sollten: Zum einen war die Volksversammlungsdemokratie nicht vor Demagogen gefeit, zum anderen zeigte die athenische Demokratie Tendenzen der Selbstgefährdung auf, die zur – kurzzeitigen – Abschaffung der demokratischen Ordnung und zu Herrschaftsformen der Tyrannis führten. Die moderne Massendemokratie entsteht in einem Zeitraum, der sich vom 18. bis in das 20. Jahrhundert, von der amerikanischen über die französische Revolution bis zur endgültigen Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für alle männlichen und weiblichen Bürger, erstreckt. Zugleich veränderte sich, nicht zuletzt auf Grund der historischen und sozialen Bedingungen, die Struktur der Demokratie entscheidend, weshalb man durchaus von einer zweiten Erfindung der Demokratie – nach ihrer ersten im antiken Griechenland – sprechen kann. Wo die antike Demokratie ein Gemeinwesen auf kleinem Raum, nämlich der Stadt (polis), mit einer kleinen Bürgerschaft gewesen ist, ist die moderne Massendemokratie eine politische Ordnung im großflächigen Territorial- und Nationalstaat, wie er sich in der frühen Neuzeit unter dem Einfluss absoluter Fürsten- und Königsherrschaft herausgebildet hatte. In großflächigen Territorialstaaten mit ihren im Vergleich zu Stadtstaaten hohen Einwohnerzahlen aber läuft das versammlungsdemokratische Beratungs- und Entscheidungssystem, wie es die antike Demokratie auszeichnete, leer. Die Antwort auf diese Entwicklungen war die repräsentative Demokratie, die die direkte Entscheidungsbeteiligung der Bürger in Versammlungen durch stellvertretende, durch Repräsentanten der Bürger erfolgende Beratung und Beschlussfassung in Repräsentativkörperschaften, den Parlamenten, ersetzte. Diese Transformation von der kleinräumigen Versammlungsdemokratie zur großflächigen Repräsentativdemokratie hat die Legitimitätsstrukturen nachhaltig verändert, weil politisches Entscheidungssystem und demokratische Lebenswelt der Bürger getrennt wurden.
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Diese Umstellung der Demokratie, die mit der amerikanischen Unabhängigkeit 1776 und der nachfolgenden Verfassungsgebungsphase anhob, wurde in der theoretisch-philosophischen Reflektion keineswegs einhellig positiv aufgenommen. Für Rousseau, der mit seiner Schrift Vom Gesellschaftsvertrag (1762) eine an die Polisdemokratie angelehnte, nun aber vertragstheoretisch begründete Lehre von der Volkssouveränität vorlegte, blieb es Aufgabe des Bürgers, selbst, und zwar direkt, die Gesetze zu beschließen, weshalb er protoparlamentarische Repräsentativversammlungen wie in England, wo König und Parlament Gesetze gemeinsam beschlossen, ablehnte. Dabei stand ihm nicht nur die Polisdemokratie Griechenlands vor Augen, sondern auch jene unmittelbare, direkte Demokratie, wie sie in den Kantonen der Schweiz praktiziert wurde. Die Ausführung des Volkswillens durch eine Repräsentativkörperschaft aber war für ihn eine trügerische Illusion: „Das englische Volk glaubt frei zu sein. Es täuscht sich gewaltig, es ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts. Bei dem Gebrauch, den es in den kurzen Augenblicken seiner Freiheit von ihr macht, geschieht es ihm Recht, dass es sie verliert.“ (Rousseau 2001, S. 103) Anders hingegen argumentierten die amerikanischen Federalists, die 1787 die bis heute gültige Verfassung formuliert und gegen ihre Kritiker, die sich teilweise Rousseau anschlossen, im Ratifikationsprozess durchgesetzt hatten. Für sie folgte gerade aus der Großflächigkeit des amerikanischen Bundesstaates die Notwendigkeit einer repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. Hinzu trat ein weiteres Argument, das die veränderten sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen reflektierte. Hatte Rousseau selber in seinem berühmten Demokratie-Kapitel von der Erforderlichkeit weitgehender sozioökonomischer Gleichheit, einer Gleichgerichtetheit der Meinungen und öffentlichen Ansichten sowie der Tugendhaftigkeit des Bürgers als den entscheidenden Voraussetzungen einer direkten und identitären Demokratie gesprochen, bestritten die Federalists das Vorhandensein dieser Annahmen, sahen hingegen Ungleichheit, Gruppenbildungen und eine Pluralität von Interessen als das Kennzeichen der modernen, kommerziellen Gesellschaft an und folgerten daraus den strukturellen Umbau des alten, antiken Systems „reiner Demokratie“. Thomas Paine, der aus England stammende Revolutionär in Nordamerika, brachte es in seiner viel gelesenen Schrift Rights of Man von 1791 / 92 auf einen einfachen Nenner: „Simple democracy was society governing itself without the aid of secondary means. By engrafting representation upon democracy, we arrive at a system of government capable of embracing and confederating all the various interests and every extent of territory and population.“ (Paine 1984, S. 180)
II. Willensbildung und Entscheidungsprozess in der Massendemokratie Die repräsentative Demokratie reagiert auf die maßgeblichen Veränderungen ihrer gesellschaftlichen Umwelt: das große Territorium, das Anwachsen ihrer Bürgerschaft und die zunehmende Heterogenität der gesellschaftlichen Interessen. Letztere ist sozioökonomischer Ausdruck der Entstehung der kommerziell-industriellen Gesellschaft und soziokultureller Ausdruck der durch die Aufklärung und Reformation forcierten Individualisierung von Interessen, Werten und Einstellungen. An die Stelle des zoon politikon der Antike und des animal sociale des Mittelalters tritt der seine Ziele und Mittel selbst bestimmende homo oeconomicus. Damit war auch der für die antike Demokratie wie
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die mittelalterlichen Stadtrepubliken geltende soziomoralische Hintergrundkonsens demokratischer Beratung und Entscheidung, die soziale und politische Einheit, problematisch geworden. Mit der Durchsetzung des allgemeinen gleichen Wahlrechts im 19. und 20. Jahrhundert entstanden so Massendemokratien, in denen die Vermittlung gesellschaftlicher Interessenlagen und demokratischer Entscheidungsnotwendigkeiten zu Strukturveränderungen führten und damit Legitimationsprobleme erzeugten, die auch die Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie gefährdeten. Zum einen hatte der Wandel zur Massendemokratie die politische und parlamentarische Auseinandersetzung zu einem Kampf unterschiedlicher politischer Interessen und sozialer Klassen werden lassen, der mittels Parteien, die in verschiedenen sozialen Milieus wurzelten, ausgetragen wurde. Diese Entwicklung hatte sich in den USA bereits in den 1830er-Jahren vollzogen. Dort vertraten zwei Parteien unterschiedliche soziokulturelle Interessen und konkurrierten um die Macht auf nationaler Ebene. Damit war die repräsentative Demokratie, wie auch in England in der Wende zum 20. Jahrhundert, zu einer Konkurrenzdemokratie geworden, in der die Machtfrage in einem Wettbewerb von Parteien mit der Erringung der Mehrheit bei Wahlen entschieden wurde. Der Volkswille war somit keineswegs homogen, wie das in der Tradition Rousseaus angenommen werden konnte. Indem Parteien zunehmend den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess organisierten, bedeutete die Massendemokratie letztlich permanenten Streit der Parteien in und außerhalb des Parlamentes. Die Transformation zur Massendemokratie bedeutete auch die Politisierung der sozialen Frage, denn Parteien bilden gesellschaftliche Konflikte auf der Ebene des politischen Systems ab. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die industrielle und ökonomische Entwicklung die Gesellschaft in soziale Klassen zu spalten drohte, organisierten sich Arbeiter in Gewerkschaften und in den politischen Parteien der Sozialisten und Sozialdemokraten. Die in Klein- und Großbürgertum zerfallenden mittleren Schichten gruppierten sich um (rechts)liberale und konservative Parteien. Der Kampf sozialer und ökonomischer Klassen und Gruppen wurde von der Straße in die Institutionen der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie getragen. Er konnte dort kanalisiert, entschärft und zum Ausgleich gebracht werden, wo sich alle beteiligten Gruppen und Parteien darauf einließen und den reformerischen Weg der Veränderung innerhalb des parlamentarischen Systems einschlugen. So geschah es vor allem in England und in den USA, wo dank der frühen Parlamentarisierung die Chance der Veränderung auf parlamentarischem Wege größer zu sein schien. In Deutschland hingegen, dem bis 1918 auf Reichsebene ein parlamentarisches Regierungssystem fehlte und wo die Partei der Sozialisten zeitweise (1878 bis 1890) verboten war, entlud sich ein Grundsatzkonflikt zwischen revolutionärem und reformerischem Weg, in dem Demokratie und Parlamentarismus auf der Strecke blieben und dem Totalitarismus der Weg bereitet wurde. Repräsentative Demokratie und Parlamentarismus wurden in der Weimarer Republik vom linken wie vom rechten Lager grundsätzlich in Frage gestellt und so zwischen den politischen Extremen zerrieben. Die intellektuelle Diskussion legte die Legitimationsprobleme der modernen Massendemokratie offen, sie verschärfte sie zudem in der Zwischenkriegszeit entscheidend. Von links wurde die repräsentative, parlamentarische und gewaltenteilige Demokratie als Ausdruck der Klassenherrschaft der Bourgeoisie einer Fundamentalkritik unterzogen. Karl Marx und Friedrich Engels hatten bereits im Kommunistischen Manifest
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von 1848 Demokratie einzig als proletarische Demokratie verstehen wollen, als eine Art Vehikel zur „Erhebung des Proletariats“. Marx beschrieb später die Herrschaftsform der sogenannten Pariser Kommune von 1871 als demokratisches Rätesystem, als direktdemokratische Herrschaft der Pariser Arbeiter und als ein System radikaler Eingriffe in die politische, gesellschaftliche und ökonomische Ordnung. Die historische Bedeutung des Rätesystems lag für Marx in der Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, das Rätesystem war die Keimzelle zukünftiger sozialistischer Ordnung, in der Exekutiv- und Legislativgewalt in den Händen der Arbeiter vereint waren. Von hier reichen Verbindungslinien zur Theorie und Praxis späterer marxistisch-leninistischer Partei- und Revolutionspolitik sowie zur Theorie und Praxis der sogenannten Volksdemokratie der sozialistischen Staaten in Ost- und Mitteleuropa bis 1989 / 1990. In der Volksdemokratie gingen Legislativ- und Exekutivgewalt eine enge Verbindung ein, der Judikative kam keine kontrollierende Funktion zu. Hier etablierte sich noch einmal eine ,identitäre‘ Volksdemokratie, wohinter sich aber faktisch die Herrschaft und das Monopol einer Partei verbargen, die die Vertretung der Arbeiter- und Bauernklasse für sich beanspruchte und Abweichung und Opposition nicht zuließ. Die Volksdemokratie war totalitär in ihrem Anspruch und diktatorisch in ihrem Vollzug, wobei sich ihre Vertreter der inszenierten Zustimmung des Volkes in Form von Massenorganisationen, Aufmärschen und Schein-Wahlen (ohne wirkliche Auswahl zwischen politischen Alternativen) zu versichern suchten. Von konservativer Seite gingen die Vorbehalte gegenüber der Demokratie bis auf die Französische Revolution zurück. Bis ins 20. Jahrhundert hinein galt die Demokratie in den Augen autoritärer und monarchistisch gesonnener Kritiker als schwach, ineffektiv, in sich gespalten, staatszersetzend und antinationalistisch. Hinzu trat an der Wende zum 20. Jahrhundert ein anderes Motiv. Danach gefährdete die Massendemokratie die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen, weil die Masse irrational handele und deshalb der Führung bedürfe. Nur die Herrschaft von Eliten könne eine politisch stabile Ordnung in der Massengesellschaft garantieren. Dies lief auf eine Kritik des Parlamentarismus und seiner Prinzipien von Beratung und Entscheidung hinaus. Einige Konservative in Deutschland – aber auch in anderen Ländern Europas, vor allem in Italien – spitzten nach dem Ersten Weltkrieg die Kritik noch weiter zu. Ihr Ideal wurde die „Führerdemokratie“, eine Form plebiszitärer, durch einen Führer geeinte und bestimmte Demokratie, die Parteien, Pluralismus und unterschiedliche Interessen zugunsten der Vorstellung einer Schicksalsgemeinschaft zwischen Volk und Führer aufhob. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs hatte in Deutschland eine Gruppe von „konservativen Revolutionären“ ihren antidemokratischen, antiparlamentarischen und antiliberalen Affekten freien Lauf gelassen. Als Lebensweise wie als Herrschaftsform wurde die Demokratie als schwächlich, der Parlamentarismus als dekadent denunziert. Den „konservativen Revolutionären“ und in der Folge dem Nationalsozialismus fiel es leicht, die liberale, parlamentarische und gewaltenteilige Demokratie für die sozialen, ökonomischen und politischen Krisen der 1920er- und 1930er-Jahre verantwortlich zu machen. Dem liberalen Demokratiegedanken wurde das Ideal eines totalitären Staates gegenübergestellt – ein Staat des von einem Führer in nationaler Gemeinschaft geeinten deutschen Volkes, eine Diktatur mit scheindemokratischem Anstrich. Als unüberbrückbar hatte sich in der Zwischenkriegszeit die Kluft zwischen antagonistischer Gesellschaftsstruktur und politischem Entscheidungssystem herausgestellt,
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die repräsentative Demokratie schien mit der sozialen Heterogenität in prozeduralparlamentarischer Weise nicht fertig zu werden. Die Rufe nach der Wiederherstellung – vermeintlicher – soziokultureller und soziostruktureller Homogenität, wie sie vielfach gefordert und theoretisch unter Rückgriff auf Rousseau begründet worden war, ließen sich nur über die politisch-symbolische Revitalisierung von Einheitsfiktionen (in der identitären Verschmelzung von Volk, Führer und Partei) formulieren. In der Konfrontation mit der komplexen Realität moderner Massendemokratien schienen die damit evident werdenden Akzeptanz- und Legitimationsprobleme nur durch eine Transformation der Demokratie zu einer Diktatur auf volksakklamatorischer Grundlage zu überwinden zu sein. Dass dieser Weg, den deutscher Nationalsozialismus und italienischer Faschismus auf der einen Seite, Sozialismus und Kommunismus auf der anderen Seite, einschlugen, nicht, auch nicht durch ökonomische Faktoren, zwangsläufig genommen werden musste, belegt die Stabilität der englischen und nordamerikanischen Massendemokratie auch in Zeiten der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Das Legitimationsproblem der modernen Massendemokratie scheint demnach vor allem in der Vermittlungsproblematik einer nicht mehr auf den Begriff der Homogenität zu bringenden Gesellschaft und eines auf Einheit orientierten politischen Entscheidungssystems zu bestehen. Pluralismustheoretische Ansätze beschreiben das Problem indes weniger dramatisch, insofern sie, wie übrigens schon Aristoteles in seiner Politik, von einer Vielheit der Bürger und einer Pluralität gesellschaftlicher Interessenlagen und Wertvorstellungen ausgehen. Damit verschwindet das Vermittlungsproblem zwischen gesellschaftlicher Heterogenität und politischer Einheit zwar nicht, es wird aber als ein prozessuales Problem der demokratischen Kompromissbildung in Gesellschaft und politischem System betrachtet. Massendemokratien erscheinen als komplexe Gebilde, die in verschiedenen Arenen politische Leistungen erbringen und Anerkennung und Akzeptanz der Demokratie in einem vielschichtigen Prozess erzeugen. Deshalb auch erschien es dem ersten Analytiker der modernen Massendemokratie, Alexis de Tocqueville, der 1831 / 32 die Vereinigten Staaten von Amerika bereist hatte, notwendig, die Demokratie als einen sozialen Prozess zu verstehen, der, basierend auf dem Prinzip der Gleichheit, die Einbeziehung der Bürger ,vor Ort‘, in der Gemeinde, in der Rechtsprechung (als Geschworene), auf allen Ebenen eines dezentral, föderal organisierten Staatsgebildes, sicherzustellen hat. Auf diese Weise konnte sich, so seine Überzeugung, Bürgersinn und eine lebendige Bürgergesellschaft, die die schottischen Moralphilosophen unter Rückgriff auf die republikanische Tradition bereits früher Zivilgesellschaft genannt hatten, ausbilden. Diese Bürgergesellschaft, die mit ihren vielfältigen Gemeinschaften und intermediären, zwischen Staat und Gesellschaft vermittelnden Vereinigungen wie Vereinen, Nachbarschaften, Parteien und Bürgerinitiativen eine demokratische politische Kultur ausbildet, stützt die Demokratie als Regierungsform bürgerschaftlicher Selbstregierung, trägt also unmittelbar zur Legitimität demokratischer Ordnungen bei. Das Scheitern der Weimarer Demokratie hat verdeutlicht, wie wichtig es ist, dass die Bürger die Demokratie anerkennen und ihren Institutionen vertrauen, die Verfahren demokratischer Konfliktlösung und politischer Kompromissfindung akzeptieren und die Entscheidungen respektieren können. Je mehr Unterstützung die Bürger zu geben bereit sind, desto ausgeprägter ist die Stabilität der Demokratie, kann sie auch temporäre Krisen der Institutionen oder auch wirtschaftliche Probleme ohne bleibenden Schaden überstehen. Problematisch wird es, wenn der Demokratie auf Dauer die Bewältigung von politischen, sozialen und ökonomischen Aufgaben nicht mehr zugetraut wird. Dann er-
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zeugen Effizienzprobleme auch Legitimitätseinbußen. Eine politische Kultur mit einer aktiven Bürgergesellschaft ist in der Lage, Effizienzprobleme aufzufangen, weil die Beteiligten nicht alleine auf staatliche Entscheidungsprozesse und staatliche Leistungen, sondern auch auf eigene Aktivität und ihren Beitrag als Bürger setzen.
III. Legitimationsprobleme im 21. Jahrhundert Die Zahl der modernen (Massen-)Demokratien hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Wellen der Demokratisierung, nicht zuletzt als Folge von Systemtransformationen und Revolutionen, signifikant erhöht. Hatten sich bis 1926 über die Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts 29 Demokratien etabliert, kann am Beginn des 21. Jahrhunderts von etwa 120 Demokratien gesprochen werden. Dabei unterscheiden sich diese Demokratien in ihrem demokratischen Gehalt deutlich voneinander. Formal beruhen sie auf dem Prinzip der Volksherrschaft, doch weisen sie nicht alle neben dem Erfordernis regulärer Wahlen auch die Garantie einer demokratischen Infrastruktur auf, die die Demokratie zu einer krisenresistenten und enttäuschungsfesten politischen Herrschaftsform werden lässt. Es fehlt vielfach an der Gewährleistung grundlegender Bürger- und Kommunikationsrechte, an einer strikten Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Justiz sowie der Ausbildung einer lebendigen Bürgergesellschaft. Vor allem das Fehlen einer demokratischen politischen Kultur macht diese ,neuen‘ Demokratien zu labilen Demokratien, die schnell in autoritäre politische Herrschaftsformen umschlagen können. Aber auch etablierte Demokratien stehen vor grundlegenden Herausforderungen und Funktionsproblemen, die in der Summe die Legitimität und Akzeptanz der Demokratie gefährden. Erstens stehen Massendemokratien in der Gefahr ihrer eigenen Überforderung, indem der demokratische Legitimationszusammenhang strukturell die demokratische Effizienz bei der Lösung politischer Probleme zu behindern vermag. Und dies in zwei Hinsichten: Zum einen überbieten sich Konkurrenten um die demokratische Macht bei Wahlen gegenseitig mit Versprechungen, um die Stimmen der Wahlbürger für sich zu maximieren. Einmal im Amt, gelingt es dann kaum noch – allenfalls um den Preis des Machtverlustes bei nachfolgenden Wahlen – die Erwartungen der Bürger nicht zu enttäuschen und die Versprechungen einzulösen. Zum anderen führt die gewaltenteilige und föderale Organisation des demokratischen Entscheidungssystems, die Kommunikationsmacht moderner Massenmedien sowie die Organisationsmacht von Interessengruppen zu einer komplexen und zeitintensiven Struktur von Willens- und Entscheidungsbildung, in der sogenannte „Vetospieler“ den Prozess der Aushandlung von Problemlösungen zu blockieren in der Lage sind. Demokratien erzeugen in beiden Hinsichten gewissermaßen ihre Probleme selbst. Das sind die Kosten der Demokratie. Zweitens führen die Veränderungen innerhalb der demokratischen Gesellschaft zu Legitimationsproblemen des politischen Systems. Moderne Gesellschaften haben sich in ihrem Inneren sehr stark pluralisiert, Einwanderergesellschaften bilden unterschiedliche Teilkulturen über sprachliche, kulturelle, religiöse, ethnische oder regionale Merkmale. Wenn diese Teilkulturen starke eigene Identitäten erzeugen, sich von anderen abgrenzen und auf Anerkennung ihrer Unterschiedlichkeit in den politischen Institutionen bestehen, können Demokratien in erhebliche Belastungsproben geraten. Denn eine Politik der Wahrung oder – umgekehrt auch – des Ignorierens partikularer Identitäten kolli-
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diert mit den Verhandlungs- und Kompromissnotwendigkeiten demokratischer Entscheidungsverfahren. Auswege können im Schutz von Minderheiten, in der Förderung der Integration sprachlich und kulturell verschiedener Bevölkerungsteile, aber auch in der Bereitstellung besonderer politischer Rechte auf Wahrung der eigenen Identität liegen. Föderale Ordnungen können eine Antwort auf die Forderung nach kultureller und politischer Selbstbestimmung sein, um auf diese Weise eine politische Desintegration entlang kultureller oder sprachlicher Grenzen zu verhindern. Ein Mittel politischer Integration kann aber auch darin bestehen, konsensuale Abstimmungsverfahren unter Einbeziehung der Repräsentanten von Minderheiten herbeizuführen, um auf diese Weise die Majorisierung von einzelnen Bevölkerungsteilen zu vermeiden. Indes besteht immer die Gefahr, dass die Einräumung besonderer Autonomie- und Sprachenrechte auch Fliehkräfte der (Ab-)Spaltung freisetzt, die im schlimmsten Fall zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen. Drittens ist das Verhältnis von Demokratie und ökonomischer Ordnung nicht ohne Auswirkung auf die Legitimationsproblematik. Der Zusammenhang zwischen einer demokratischen und einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist ambivalent. Zum einen verfügen viele ältere Demokratien über liberale, wenngleich nicht immer staatsfreie Wirtschaften. Zum anderen aber finden sich kapitalistische Marktwirtschaften auch in halbdemokratischen und autoritären Regimen. Und Staaten, die in den letzten Jahrzehnten den Übergang von der sozialistischen Plan- zur Marktwirtschaft vollzogen haben, haben dies zum Teil nur unter halbdemokratisch zu nennenden Vorzeichen getan. Einerseits schafft eine freie Wirtschaft Wohlstand und trägt deshalb zur Legitimation der Massendemokratie erheblich bei. Generell gilt: Je reicher ein Land ist, desto größere Chancen bestehen für eine stabile demokratische Ordnung. Eine fortdauernd prosperierende Marktwirtschaft erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein autokratisches oder halbdemokratisches Land zu einer vollen Demokratie entwickeln kann. Marktwirtschaften besitzen andererseits aber auch ein Gefährdungspotenzial für die Demokratie. Sie erzeugen, vor allem in der Entstehungsphase, aber auch in Perioden großer Dynamik, soziale und ökonomische Ungleichheiten, die auf die Demokratie und ihre Institutionen durchschlagen können. Die Folge sind soziale Konflikte, die nicht immer auf demokratischem parlamentarischem Wege zu schlichten sind. Auch können Machtzusammenballungen auf dem Markt in Form von Monopolen, Trusts und Kartellen die Politik unter Druck setzen. Technologische Entwicklungen tragen zu wirtschaftlicher Dynamik und Wohlstand bei, erzeugen aber auch strukturelle Krisen, beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt. Das Gleiche gilt für die Prozesse der Globalisierung von Finanz-, Warenund Arbeitsmärkten und der damit einhergehenden Verringerung demokratischer Einflussnahmen und nationalstaatlicher Regulierung. ,Alte‘ Demokratien haben gelernt, mit diesem Gefährdungspotenzial einer freien Marktwirtschaft umzugehen. Sie sind lernfähige Systeme, die es ermöglichen, soziale und ökonomische Probleme im politischen System hörbar und lösbar zu machen. So gelang es, den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts in eine marktwirtschaftliche Ordnung zu transformieren und die sozioökonomischen Folgewirkungen durch sozialpolitische Maßnahmen abzumildern. Wettbewerbs-, Kartellgesetzgebung, staatliche Rahmenordnungen und Regulierungen zur Einhaltung von Arbeits-, Gesundheits- und Umweltstandards gehörten ebenso dazu wie sozial- und wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen, von Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung bis zur Sozialhilfe. Gleichzeitig haben moderne Demokratien Institutionen zur Kontrolle der Geldströme und transnationaler Einrichtungen etabliert, die die Selbst-
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regulierung der Wirtschafts- und Finanzsysteme stärken und überwachen sollen. Demokratien versuchen sich folglich auch dadurch zu stabilisieren und der Legitimitätsgefährdung zu entziehen, dass sie ihren direkten Zugriff auf die Wirtschaft selbst beschränken. Viertens steht die Massendemokratie vor Legitimitätsgefährdungen, weil sich der öffentliche Raum der Meinungs- und Willensbildung unter der zunehmenden Bedeutung von Massenmedien und neuen Informationstechnologien so verändert hat, dass sich damit auch die Bedingungen politischer Kommunikation grundlegend gewandelt haben. Zum einen gewinnen Massenmedien an öffentlicher Deutungsmacht, bestimmen sie die politische Agenda, zum anderen bedient sich die Politik der Massenmedien, um Einfluss auf das (Wähler-)Publikum zu nehmen. Aus der partizipativen und deliberativen Demokratie droht so die „Zuschauerdemokratie“ zu werden. Zugleich verstärken sich durch die elektronischen Medien, vor allem das Internet, die Formen anonymer und medial vermittelter Kommunikation unter Abwesenden, die aber jenen ,verdichteten‘ Kommunikationszusammenhang kaum herzustellen vermögen, der für unmittelbare Bürgerbeteiligung und bürgernahe Entscheidungsverfahren notwendig ist. Die vielfach angeführte e-democracy – elektronische Demokratie – erhöht zwar die Beteiligungs- und Zugangschancen, indem sie interessierten Bürgern Informations- und Bildungsangebote, Kommunikations- und Organisationsmöglichkeiten in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß bereitstellt, doch schafft Online-Kommunikation nicht per se eine breitere oder gar bessere politische Öffentlichkeit. Fünftens steht die Demokratie vor der Herausforderung der politischen Globalisierung. Die ökonomischen, technologischen und kommunikativen Prozesse halten sich immer weniger an die mehr oder minder künstlichen Grenzen von (National-)Staaten. Und damit wachsen auch die Probleme und der politische Regelungsbedarf in den überstaatlichen Bereichen hinein. Global vernetzte Ökonomien eröffnen einen relativ eigenständigen transnationalen Raum, in dem Politik weitestgehend durch Kooperation zwischen Regierungen stattfindet. Diese Formen des Regierens jenseits des demokratischen Nationalstaates sind aber ohne eine direkte demokratische Legitimation. Deshalb bestehen Befürchtungen, dass die ursprünglich territorial gebundene und begründete parlamentarisch-repräsentative Demokratie an Substanz verliert, hingegen die Gestaltungsmacht transnationaler Politik ohne direkte demokratische Legitimation anwächst. Überlegungen, wie diese Prozesse wieder demokratisch eingefangen werden können, stellen zum einen auf den Ausbau der Vereinten Nationen als Kern einer demokratischen Weltordnung, zum anderen auf den wachsenden Einfluss transnationaler Bewegungen und Gruppierungen im Sinne einer globalen Zivilgesellschaft ab. Schließlich kann auch darauf verwiesen werden, dass die Globalisierung den Beziehungen zwischen Gesellschaften förderlich ist, weil die Zunahme weltweiter Interdependenzen zugleich eine Zunahme weltweiter Integration bedeuten kann und sich deshalb mit der Globalisierung eine Tendenz zur Weltgesellschaft verbinden lässt. Hieraus könnte sich eine zwischenstaatliche, transnationale Ordnung entwickeln, in der kodifizierten Regeln und den Menschen- und Bürgerrechten allgemeine Geltung verschafft wird. Denkbar ist indes auch, dass die Prozesse der Globalisierung in einer Gegenreaktion die Spannungen zwischen Regionen der Welt so verschärfen, dass Sicherheitsbedürfnisse der Staaten nicht zu Annäherung und weiterer Demokratisierung, sondern zu Abgrenzung und gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, in deren Folge sich die ,alten‘ Massendemokratien legitimitäts- und existenzgefährdenden Herausforderungen von außen und im Innern gegenübergestellt sehen.
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Transformation Von Marianne Kneuer I. Begrifflichkeit und Hintergrund Die heute als Transformationsforschung etablierte Subdisziplin der Politikwissenschaft wurde angeregt durch die „Dritte Welle“ der Demokratisierung.1 Diese Welle begann 1974 / 75 in Südeuropa, erfasste in der Folge Lateinamerika, aber auch Ostasien, kulminierte schließlich in der Implosion des kommunistischen Herrschaftsbereiches und schwappte dann auch auf Teile Afrikas. In den 1980er-Jahren bildete sich ein eigener politikwissenschaftlicher Zweig heraus, der sich mit den Transitionen, also Übergängen von Diktaturen zu Demokratien, in Südeuropa und Lateinamerika beschäftigte. Zwar war transition kein neuer Begriff,2 erlangte aber erst allgemeine Bedeutung und Verbreitung durch das heute klassische Werk „Transitions from Authoritarian Rule“3, das auf einem Forschungsprojekt des Woodrow Wilson Centers basierte. In der Folge sprach man daher überwiegend von Transitionsforschung. Transformation bezeichnet als übergreifender Terminus die unterschiedlichen Formen und Aspekte des Übergangs von einem Systemtypus zu einem anderen. In den Sozialwissenschaften allgemein als Begriff zur Beschreibung von Wandlungsprozessen bekannt, wird er insbesondere seit den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa 1989 in der Politikwissenschaft benutzt, um die in den post-sozialistischen Systemen ablaufenden Umbauprozesse zu beschreiben. Auf Grund der umfassenden Konnotation lassen sich unter Transformation die verschiedenen, parallel ablaufenden Umbauprozesse fassen: die politische Umwandlung zu einem demokratischen wie auch die wirtschaftliche Umwandlung zu einem marktwirtschaftlichen System, die Veränderungsprozesse in der Gesellschaft und nicht selten auch die Staatsbildungsprozesse (siehe Tschechien und Slowakei, das ehemalige Jugoslawien, die ehemalige UdSSR). Transformation eignet sich zudem als Oberbegriff für die inzwischen zahlreichen Bezeichnungen wie Transition, System- oder Regimewechsel, Konsolidierung, Demokratisierung. Während mit Transition der Übergang zur Demokratie gemeint ist und dies ein normatives Vorverständnis der Errichtung und Konsolidierung von Demokratien als „per se a desirable goal“4 voraussetzt, sind Systemwechsel oder Systemtransformation neutrale Begriffe. Der Begriff Systemwechsel wurde als Übersetzung von regime change seit Anfang der 1990er-Jahre geläufig und ist definiert als „das Intervall 1 Diesen Begriff prägte der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman / London 1991. 2 So etwa Dankwart Rustow, Transitions to Democracy. Toward a Dynamic Model, in: Comparative Politics, 3 / 1970, S. 337 – 363. 3 O’Donnell / Schmitter / Whitehead (1986). 4 Guillermo O’Donnell / Philippe C. Schmitter, Tentative Conclusions about Uncertain Democracies, in: O’Donnell / Schmitter / Whitehead (1986), Bd. IV, S. 3.
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zwischen einem alten und einem neuen politischen System“5. Damit können beide Richtungen des Systemwechsels gemeint sein – von der Demokratie zur Diktatur oder auch umgekehrt. II. Transformationstheorien Grob gesprochen haben sich in der Transformationsforschung spiegelbildlich zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung die maßgeblichen, widerstreitenden Ansätze – der Struktur- und der Akteursansatz – in ihrer Bedeutung abgewechselt. In den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren dominierten strukturalistische Theoreme. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Modernisierungstheorie. Ihr Protagonist, der amerikanische Sozialwissenschaftler Martin Seymour Lipset, stellte einen kausalen Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Entwicklung und der Wahrscheinlichkeit einer Einrichtung von Demokratie her: Je besser es einer Nation gehe, desto größer seien die Chancen, dass sie eine Demokratie stützen werde.6 Ein weiterer strukturalistischer Ansatz, der in die Transformationsforschung seinerzeit einfloss, war der des Amerikaners Barrington Moore, der die Entwicklungswege zu Demokratie oder Diktatur an Hand der sozialen Machtkonstellationen sowie Klassenstrukturen erklärte.7 So setze eine erfolgreiche Demokratisierung die Verschiebung der Machtstrukturen voraus, vor allem die Entstehung einer Bourgeoisie. Nach diesen Makrotheorien verlagerten sich die theoretischen Überlegungen seit den 1980er-Jahren auf die Mikroebene. Die einflussreichsten Akteurstheoretiker sind Philippe Schmitter, Guillermo O’Donnell, zwei der Herausgeber des Referenzwerks „Transitions from Authoritarian Rule“, sowie Adam Przeworski.8 Schmitters und O’Donnells Ansatz betont zum einen die Unbestimmtheit und Offenheit des Transitionsprozesses. Makrostruktuelle Faktoren wurden zwar nicht negiert, aber für unangemessen zur Analyse dieser oft unvorhersehbaren und dynamischen Abläufe gehalten.9 Ins Zentrum rückten die situationsgebundenen, strategischen Handlungsentscheidungen der Akteure, vor allem das Elitehandeln. Adam Przeworski betrachtet diese Mikroebene unter dem Vorzeichen des rational-choice-Ansatzes, der annimmt, dass die Akteure nach dem größten zu erwartenden Nutzen handeln und entscheiden. Nach Przeworski sind die Handlungen der Akteure nicht allein durch ihre Interessen und Strategien geleitet, sondern stehen im Kontext von Situationen, die wiederum durch die Konstellation bestimmter politischer Kräfte mit unterschiedlichen Interessen geprägt sind. Seit den späten 1980er-Jahren stehen die strukturalistischen und akteurszentrierten Paradigmen in „gleichgewichtiger Koexistenz“ nebeneinander. So habe sich gezeigt, dass ein einziger theoretischer Zugang allein den Wechsel und Wandel politischer Systeme nicht erklären kann und dass sie sich auch keineswegs ausschließen.10 Merkel (1999), S. 119. Seymour Martin Lipset, Some Social Requisites of Democracy, in: American Political Science Review, März 1959, S. 69 – 105. 7 Barrington Moore, Social Origins of Dictatorship and Democracy, Beacon 1966. 8 Vgl. Wolfgang Merkel, Gibt es einen Königsweg in der Transformationsforschung?, in: ders. u. a. (Hrsg.), Systemwechsel I. Theorien, Ansätze und Konzepte der Transitionsforschung, 2. Aufl., Opladen 1996, S. 303 – 333, hier: S. 315. 9 Vgl. O’Donnell / Schmitter, S. 3 ff. 10 Vgl. Merkel u. a. (Hrsg.) (1996), S. 303, 321. 5 6
Transformation
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III. Transformationsphasen Grundlage für die Betrachtung von Transformationsprozessen ist das Phasenmodell, das auf O’Donnell / Schmitter / Whitehead zurückgeht. Der Gesamtprozess wird dabei in drei Phasen untergliedert: Das Ende des autokratischen Regimes (breakdown), die Transition und die Konsolidierung. Dabei wird unterstellt, dass sowohl diese Phasen als auch die Liberalisierung während des autokratischen Systems sich durchaus überlappen können. In Bezug auf die erste Phase interessieren vor allem die Ursachen für das Ende des nicht-demokratischen Regimes und die Verlaufsform seiner Ablösung. Interne Ursachen beruhen meist auf Legitimitätskrisen, die von ökonomischer Ineffizienz (siehe z. B. Sowjetunion, Polen in den 1980er-Jahren) oder auch von ökonomischer Effizienz als nicht-intendierter Folge von Modernisierung (siehe Spanien seit den 1960er-Jahren) sowie von politischen Schlüsselereignissen herrühren (Tod eines Diktators, interne Protestbewegungen gegen Verfehlungen der Elite). Externe Ursachen für das Ende eines autokratischen Regimes können Kriegsniederlagen sein, denen die Installierung einer demokratischen Ordnung durch die Siegermächte folgt (Deutschland) bzw. Kriegsniederlagen, die zur internen Delegitimierung des alten Regimes führen (Griechenland 1974 durch sein Zypern-Abenteuer); Kriegsniederlagen eines Besatzerregimes können zudem in den besetzten Ländern eine Demokratisierung einleiten (z. B. Norwegen, Niederlande nach dem Zweiten Weltkrieg). Unter externen Ursachen werden seit dem dominoartigen Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftsbereiches auch Demonstrations- oder Ansteckungseffekte gezählt sowie die Bedeutung der Diffusion demokratischer Normen, im europäischen Raume etwa auch durch die EG / EU, mit einbezogen. Für den Verlauf der Ablösung autokratischer Systeme lassen sich sechs typische Formen feststellen11: (1) eine langandauernde Evolution (Großbritannien), (2) ein von den alten Regimeeliten gelenkter Systemwechsel (Brasilien, Thailand), (3) ein von unten erzwungener Systemwechsel (Portugal), (4) ein zwischen Regimeeliten und Regimeopposition ausgehandelter Systemwechsel (Spanien, Polen, Ungarn), (5) der Regime-Kollaps, der meist durch eine Kriegsniederlage herbeigeführt wird (Italien, Deutschland, Österreich), aber auch dann geschehen kann, wenn die alte Elite einen völligen Machtverlust erlebt, ohne dass vorher eine handlungsfähige Opposition herangewachsen war (in der Tschechoslowakei und ähnlich in der DDR), (6) die Neugrün-dung von Staaten nach dem Zerfall eines autoritären oder totalitären Imperiums (Habsburgerreich 1918, Sowjetunion 1990). Oft überschneiden oder mischen sich diese Ursachen des Regimeendes. Die zweite Phase wird Transition genannt, weil sie den Übergang bildet zu dem erstrebten, wenngleich nicht immer auch automatisch erreichten konsolidierten demokratischen Zustand. In dieser Phase werden die neuen demokratischen Institutionen etabliert, die alten Regeln, Strukturen und Verfahren der autokratischen Herrschaft werden durch neue demokratische ersetzt. Das Ende der Transition kann man mit der Verabschiedung der Verfassung ansetzen, denn damit ist einerseits das Institutionengefüge der neuen Demokratie verabschiedet, andererseits die stark akteursbezogene Phase der Verhandlungen und des settlements, das noch keine festen Regeln und eine erhebliche Bandbreite an Handlungsoptionen beinhaltet, beendet. Alle Akteure müssen sich ab diesem Zeitpunkt in den von der Verfassung gegebenen Korridoren bewegen, die politi11
Vgl. Merkel (1999), S. 129 ff.
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schen Verfahren unterliegen nun festgelegten Regeln. Die Erforschung dieser Phase richtet ihr Interesse auf die Frage, wie sich die Akteure und aus welchen Motiven für welche Institutionenordnung (parlamentarisch, semi-präsidentiell, präsidentiell oder Mehrheits- versus Konsensdemokratien) entscheiden und sie einsetzen. Die Studien zu den südeuropäischen Transitionen waren eher deskriptiv, teils begleitend, teils ex-postAnalysen und fokussierten die Rolle der Initiatoren und Träger des Transformationsprozesses. Die Studien zur Transformation in Mittel- und Osteuropa waren gezwungen, ihren Blickwinkel zu erweitern, wirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte (Zivilgesellschaft) und Staatlichkeitsfragen zu berücksichtigen; zudem wurde das constitutional oder institutional engineering zu einem Thema, das die Politikwissenschaft auch im operativen Sinne beschäftigte.12 Während sich diese beiden ersten Phasen relativ gut abgrenzen lassen, ist bei der dritten Phase, der Konsolidierung, vor allem Umfang und Ende schwer zu fassen. Konsolidierung meint den Prozess der Legitimierung der demokratischen Strukturen, der Verfestigung demokratischer Verfahren, des Einübens demokratischen Verhaltens und der Internalisierung demokratischer Normen und Prinzipien. Am Ende solch eines Prozesses sollte optimalerweise eine gefestigte Demokratie und eine in der breiten Bevölkerung verankerte und gelebte demokratische politische Kultur stehen. Man muss daher den Konsolidierungsprozess als komplexer, langwieriger und oft auch schwieriger annehmen. Die Phase der Konsolidierung ist mit einer gewissen Verzögerung in den Blick der Transformationsforschung gekommen.13 Inzwischen gibt es Studien, die die Komplexität des Prozesses aufgeschlüsselt haben in verschiedene Ebenen von Konsolidierung. Nach Linz / Stepan sind dies die konstitutionelle, die Verhaltens- und Einstellungsebene; Merkel spricht darauf aufbauend von konstitutioneller, repräsentativer, Verhaltens- und bürgergesellschaftlicher Ebene.14 Pridham unterscheidet in negative und positive Konsolidierung, wobei erstere die Reduktion bzw. der Wegfall ernsthafter Herausforderungen für die Demokratisierung meint und letztere die System stützenden Komponenten.15 Tatsächlich geht es in der Konsolidierungsphase nicht nur darum, eventuelle Gefahren für die Demokratien zu bannen, sondern um die Vertiefung und Sicherung der demokratischen Institutionen, Regeln und Normen, deren Legitimität bei den politischen Akteuren wie bei der Bevölkerung so stark verankert sein muss, dass das System auch durch eine schlechte politische Performanz nicht in Frage gestellt wird. Damit wäre eine Demokratie als konsolidiert zu bezeichnen.
12 So etwa Giovanni Sartori, Comparative Constitutional Engineering, Basingstoke 1994; Arend Lijphart / Carlos H. Waisman, Institutional Design in New Democracies: Eastern Europe and Latin America, Westview 1996; Jon Elster / Claus Offe / Ulrich K. Preuss u. a., Institutional Design in Post-Communist Societies. Rebuilding the Ship at Sea, Cambridge 1998. 13 Erste wichtige Arbeiten dazu waren u. a. Richard Gunther / P. Nikiforos Diamandouros / HansJürgen Puhle (Hrsg.), The Politics of Democratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore / London 1995; Linz / Stepan (1996). 14 Vgl. Linz / Stepan (1996), S. 5 ff.; Merkel (1999), S. 143 ff. 15 Geoffrey Pridham, The International Context of Democratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective, in: Gunther, Richard / Diamandouros, P. Nikiforos / Puhle, Hans-Jürgen (Hrsg.), The Politics of Democratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore / London 1995, S. 166 – 204, hier: S. 169.
Transformation
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IV. Die Dritte Demokratisierungswelle: Ergebnisse, neuere Forschungsansätze Aufgrund der post-sozialistischen Fälle, aber auch durch die Erfahrungen in Lateinamerika, Afrika und Asien hat sich herausgestellt, dass Transitionen und begonnene Konsolidierungen nicht linear und zwangsläufig auch zu persistenten, nachhaltig konsolidierten Demokratien führen müssen. Nach der ersten Euphorie über den Siegeszug der Demokratie zwischen 1988 und 1991 wurde Mitte der 1990er-Jahre deutlich, dass die Zahl der formalen Demokratien mit minimalen demokratischen Standards zwar zugenommen hatte, die Zahl liberaler Demokratien aber stagnierte. Der empirische Befund deutet darauf hin, dass begonnene Demokratisierungen sehr unterschiedliche Ergebnisse zeitigen können. In etlichen Ländern blieb der Konsolidierungsprozess stecken (so etwa in Russland, Ukraine, Weißrussland, Moldau); und es gibt nur wenige Fälle, in denen der Weg zur Demokratie nach solch einer Paralyse weiter fortgesetzt wurde (Slowakei nach 1998, Ukraine nach der „Orangenen Revolution“). Etliche Länder befinden sich dagegen in einem hybriden Zustand semi-demokratischen oder defekten Charakters.16 Ebenso gibt es Beispiele für Länder, deren Konsolidierung scheiterte und die sich zu einem autokratischen Regime zurückentwickelten (Russland seit 2005, Weißrussland). Das Ergebnis der Dritten Welle, gut dreißig Jahre nach ihrem Beginn, ist daher ambivalent: Es sind einige konsolidierte Demokratien hervorgegangen (Südeuropa, Ostmitteleuropa; Nordost- sowie Südosteuropa; vereinzelt auch außerhalb Europas), viele Transformationsländer aber haben sich in eine breite Grauzone zwischen Autokratie und Demokratie eingereiht. Die rezente Transformationsforschung beschäftigt sich daher vermehrt mit den Bedingungs- und Erfolgsfaktoren von Konsolidierungen, mit der Persistenz und der Qualität der neuen Demokratien.17 Des Weiteren zielen jüngere Studien auf die Analyse unkonsolidierter Demokratien und die Bewertung ihrer Perspektiven.18 Ein lange Zeit unbeachteter Aspekt war die externe Dimension von Transformationen. Im Kontext der südeuropäischen Demokratisierungen weitgehend negiert, führte die Art des politischen Umbruchs 1989 und insbesondere die Rolle der EG / EU bei den parallel ablaufenden Prozessen von Transformation und Integration zu einer Neubewertung externer Faktoren. Nachdem Transformationen seit den 1980er-Jahren als rein innere Prozesse angenommen worden waren, fordert der Blick auf die Interaktion der inneren und äußeren Dimension neue Konzepte, die sich für die empirische Analyse fruchtbar machen lassen.19 Die Frage des Potenzials und der Grenzen externer Förderung von Demokratie hat zunehmend Relevanz bekommen.
16 In der Forschung wurden dafür unterschiedliche Begriffe gebildet: delegative Demokratie (Guillermo O’Donnell), illiberale Demokratie (Fareed Zakaria), Pseudo-Demokratien (Larry Diamond), defekte Demokratie (Wolfgang Merkel). 17 So etwa Larry Diamond / Leonardo Morlino, Assessing the Quality of Democracy, Baltimore 2005. 18 So etwa Wolfgang Merkel / Hans-Jürgen Puhle / Aurel Croissant u. a., Defekte Demokratien, Bd. 1, Opladen 2003; Bd. 2, Wiesbaden 2006. 19 Siehe Kneuer (2007).
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Bürger- und Zivilgesellschaft Von Antonius Liedhegener I. Begriffe und Kontexte Der Begriff der „Bürgergesellschaft“ bzw. „Zivilgesellschaft“ hat in Politik und Wissenschaft seit geraumer Zeit Konjunktur. Da er im Zentrum der Auseinandersetzung mit zentralen Problemfeldern moderner Gesellschaften steht und je nach definitorischer Ausrichtung unterschiedliche Lösungsstrategien beinhaltet, dürfte diese Aktualität so schnell nicht verblassen.1 Mit zahlreichen anderen sozialwissenschaftlichen Grundbegriffen teilt „Bürgergesellschaft“ bzw. „Zivilgesellschaft“ – beide Wörter sind zunächst einmal Übersetzungen des angelsächsischen Ausdrucks „civil society“ – das Schicksal, nicht eindeutig definiert zu sein.2 Über eine Rekonstruktion seiner gesellschaftlichen und ideenpolitischen Verwendung lassen sich verschiedene analytische Dimensionen sichtbar machen und damit ein Begriffsfeld abstecken, innerhalb dessen sich die zahlreichen im Umlauf befindlichen Definitionen verorten lassen. Zeitgeschichtlich betrachtet hat das gegenwärtige Interesse an Konzepten der Bürgergesellschaft mehrere Wurzeln, die mit der gebotenen Vereinfachung skizziert werden sollen.3 Seit Mitte der 1970er-Jahre entwickelten in zahlreichen mittel- und osteuropäischen Ländern die Dissidenten und Bürgerrechtler die Vorstellung eines staatsfreien, von den Bürgern autonom, d. h. unabhängig von staatlichen und parteioffiziellen Vorgaben zu gestaltenden Raumes. Ziel war es, ausgehend von Familien- und Freundeskreisen größere netzwerkartige Strukturen zu entwickeln, die den totalitären Herrschaftsanspruch des Kommunismus unterlaufen, im Alltag neue Freiräume individueller Entfaltung eröffnen und langfristig die Überwindung der Diktatur der kommunistischen Partei und den Übergang zur Demokratie ermöglichen sollten. Dabei konnte sich die neu formierende Opposition auf die in der KSZE-Schlussakte von 1975 auch vom östlichen Bündnis unterschriebene Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte berufen. In den Gesellschaften des Westens spielten seit den 1980er-Jahren Überlegungen zur Rolle der Zivilgesellschaft innerhalb der neuen sozialen Bewegungen eine prominente Rolle. Vor dem Hintergrund einer zunehmend komplexeren und unübersichtlicheren Welt und einer wahrgenommenen bzw. behaupteten Entkopplung der überkommenen politischen Strukturen wie Parteien und Parlamenten von den Bedürfnissen der Bürger sollte die Rückbesinnung auf die Selbstorganisation der Betroffenen in lokalen Initiativen, Bürgerbewegungen und Netzwerken für den Einzelnen politische HandlungsspielSiehe etwa Braun; Große Kracht. Siehe Lembcke, S. 1041. – Ein aktueller, umfassender Forschungs- und Literaturbericht fehlt. 3 Siehe Klein; Adloff, S. 7 – 16. Zu den ideengeschichtlichen Grundlagen siehe ebd., S. 17 – 63; Lembcke, S. 1041 – 1042. 1 2
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räume zurückerobern. Damit verband sich ein Demokratieverständnis, das der aktiven Beteiligung aller Betroffenen und der Entscheidungsfindung durch öffentlichen Diskurs einen herausragenden Stellenwert zuwies. In der Kontrastierung mit den Realitäten moderner Massendemokratien und der dominierenden Rolle von Interessengruppen und Parteien schwang beim Rekurs auf die Vorzüge der Zivilgesellschaft nicht selten die Idee einer erst noch zu verwirklichenden Idealform von Demokratie und damit ein utopisches Element mit. In den 1990er-Jahren verschoben sich in den etablierten Demokratien die Debatten um den Sinn und die Bedeutung der Bürgergesellschaft in eine andere Richtung. Der anhaltende Individualisierungsprozess und seine zum Teil negativen Folgen für die Gesellschaft, die zunehmenden Schwierigkeiten der politischen Steuerung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen sowie die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sich international verstärkende Migration lenkten die Aufmerksamkeit auf die Frage, welche Kräfte moderne demokratische Gesellschaften zusammenhalten und wie diese Kräfte politisch zu fördern seien. Auch im Blick auf die sich abzeichnenden gravierenden Funktionsdefizite und finanziellen Engpässe überkommener sozialstaatlicher Arrangements schien diese Frage für die Stabilität und Zukunftsfähigkeit demokratischer Staaten wichtig zu sein. In diesem Problemkontext wurden altbekannte Ressourcen jeder funktionierenden Demokratie gleichsam wieder entdeckt. Die Besinnung auf die Freiheit und Eigenverantwortlichkeit des einzelnen Bürgers und dessen ehrenamtliches Engagement korrespondiert mit einem Verständnis von Bürgergesellschaft als jenem spezifischen Bereich moderner demokratischer Gesellschaften, in dem die Bürgerinnen und Bürger als Freie und Gleiche freiwillig kooperieren. Dieser bürger- oder zivilgesellschaftliche Raum gehört – das macht ihn für den Zusammenhalt der Gesellschaft so interessant und wichtig – weder zur Sphäre des letztlich auf dem Zwangs- und Gewaltmonopol gründenden Handeln des Staates noch zu der des Marktes, in der Waren und Dienstleistungen gegen Geld nach dem Prinzip der weithin anonymen Preisbildung durch Angebot und Nachfrage getauscht werden. Das Prinzip der Sphäre der Bürgergesellschaft ist das der Assoziation, also allgemein des freiwilligen Zusammenwirkens der Gesellschaftsmitglieder und näherhin der Bildung von institutionell und organisatorisch relativ dauerhaften, freiwilligen Zusammenschlüssen in sozialen Bewegungen, Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen, Vereinen, Verbänden oder Parteien. In gewisser Hinsicht zählen hierzu auch die Religionsgemeinschaften und Kirchen. Anders gesagt: Die Bürgergesellschaft baut auf die Solidaritätspotentiale der Gesellschaftsmitglieder. Gleichzeitig erneuert sie diese Potentiale unter ihnen, insofern erfolgreiche freiwillige Kooperation die Solidaritätspotentiale beim Einzelnen wiederum bestärkt und fördert. Bürgerschaftliches Engagement schafft so „soziales Kapital“, auf das (demokratische) Gesellschaften für ihr Funktionieren und ihren Zusammenhalt angewiesen sind. Obschon der Bezug auf die „Bürgergesellschaft“ im Zusammenhang dieses Diskussionsstrangs somit in aller Regel positiv konnotiert, ist nicht jede Form der freiwilligen Kooperation von Bürgern per se demokratie- oder gemeinwohlförderlich. Weder Verbrecherbanden noch extremistischen politischen Vereinigungen wird man diese Eigenschaft zuschreiben wollen. In einer politischen Praxis, die eine „gute Bürgergesellschaft“ zu fördern versucht, erzwingt diese Tatsache eine Unterscheidung, das heißt Wert- und Vorzugsentscheidungen gegenüber den in der Realität vorfindlichen kollektiven Akteuren. Im Rahmen einer demokratischen Ordnung ist von den Bürgern und ihren Zusammenschlüssen rechtlich die Bewahrung der (verfas-
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sungs-)rechtlichen Ordnung und alltagspraktisch ein ziviler, friedlicher Umgang miteinander zu erwarten. Diese normativen Anforderungen verbinden den Begriff mit der älteren sozialphilosophischen Debatte um die Qualitäten und Kriterien einer „guten Ordnung“ der Gesellschaft. Den bislang vorgestellten drei Strängen der praktischen Begriffsverwendung ist gemeinsam, dass sie, sei es explizit oder implizit, den souveränen (National-)Staat als Referenzrahmen für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik voraussetzen. Vor allem in jüngster Zeit wird der Begriff der Zivilgesellschaft von diesem Referenzrahmen zumindest partiell losgelöst. Angesichts der Erfahrung der Relativierung nationalstaatlicher Kompetenzen und Lösungsmöglichkeiten im Zuge der europäischen Integration sowie der zahlreichen unbewältigten Herausforderungen einer bislang vor allem technisch und wirtschaftlich dominierten Globalisierung wird eine wichtige Gegenkraft in der Kooperation (trans-)nationaler zivilgesellschaftlicher Akteure gesehen. Schaut man zusammenfassend auf die vier vorgestellten Diskussionsstränge, dann zeigt sich, dass in die mögliche Definition von „Bürgergesellschaft / Zivilgesellschaft“ sowohl normative wie empirische Vorstellungen einfließen bzw. alternativ zur Grundlage erklärt werden können. So verweisen Elemente wie die Forderung nach einer partizipatorischen Demokratie oder die Bedeutung der Zivilität des Handelns der Bürger, also des Tugend- und Moralhaushaltes des Einzelnen, auf ältere Fragen der in der Antike einsetzenden Sozialphilosophie und der neuzeitlichen Demokratietheorie. Im angelsächsischen Raum gehören hierhin vor allem die Debatten zwischen Kommunitaristen und Vertretern einer liberalen oder republikanischen Gesellschaftstheorie. Im deutschen Sprachraum spielt für diese normative Dimension neben der angelsächsischen Debatte die anhaltende Auseinandersetzung zwischen Vertretern einer diskurstheoretischen Begründung demokratischer Herrschaft und liberalen bzw. pluralismustheoretischen Demokratietheorien eine zentrale Rolle. Dort, wo die Bürgergesellschaft primär als eine eigenständige, von Staat und Wirtschaft getrennte Sphäre moderner Gesellschaften bzw. Demokratien aufgefasst wird, liegt meist die gesellschaftstheoretische Vorstellung einer notwendigen funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften und einer damit einhergehenden Individualisierung der Biographien ihrer Mitglieder zugrunde. In diesem Kontext kommt der Bürgergesellschaft insbesondere die Aufgabe zu, Formen der Vergemeinschaftung sowie Möglichkeiten der politischen Willensbildung und damit Öffentlichkeit zu schaffen, wobei Öffentlichkeit als ein wiederum vielfältig differenzierter Raum mit mehr oder weniger unterschiedlichen Zutrittschancen für Individuen und Gruppen gedacht werden muss. Als wissenschaftliches Konzept entbehrt dieses nüchterne, wenig utopische Verständnis von Bürgergesellschaft keineswegs einer normativen Rückbindung an die Grundprinzipien repräsentativer Demokratien und verfassungsstaatlicher Ordnungen; es lenkt das Hauptaugenmerk der Diskussion gleichwohl auf die empirischen Fragen nach dem Zustand, der Entwicklungsrichtung, der Leistungsfähigkeit und den Förderungsmöglichkeiten zivilgesellschaftlicher Strukturen in einer gegebenen Gesellschaft. Eine häufig zitierte Definition versteht unter Bürgergesellschaft daher einen „spezifischen Typus sozialen Handelns“, der im Gegensatz zu Tausch (Markt), Herrschaft (Staat) und Intimität (Familie) durch das öffentliche Handeln selbständiger, zu freiwilliger Selbstorganisation befähigter und verbundener Individuen unter prinzipieller Anerkennung von Pluralismus und Interessenkonflikten in gewaltfreier und mindestens ansatzweise,
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d. h. zumindest der Intention der Handelnden nach gemeinwohlorientierter Form, charakterisiert ist. Ganz überwiegend findet sich dieser Typ sozialen Handelns „in einem sozialen Bereich oder Raum, der in modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften ,zwischen‘ Staat, Wirtschaft und Privatsphäre zu lokalisieren ist, in dem Raum der Vereine, Assoziationen, sozialen Bewegungen und Non-Governmental Organizations (NGOs), einem Raum, für den ein hohes Maß gesellschaftlicher Selbstorganisation kennzeichnend ist.“4 Hierzu sind nach ihrer Entstehung und Funktion auch die Interessengruppen und politischen Parteien zu zählen. Anzumerken ist an dieser Stelle allerdings, dass bei ähnlichen Definitionen in der Literatur die Abgrenzung des Raumes der Bürgergesellschaft unterschiedlich gesehen wird. Strittig ist, ob es einer Abgrenzung der Bürgergesellschaft zur Familie bzw. Privatsphäre bedarf – was hier wegen des öffentlichen Handelns zivilgesellschaftlicher Akteure bejaht wird – und ob der Markt selbst als Teil der Bürgergesellschaft aufzufassen ist – was hier verneint wird, weil es zum Verständnis von Bürgergesellschaft wesentlich auf ihre vom Markt verschiedene Funktionslogik ankommt. Schließlich wollen einige Autoren die Begriffe „Bürgergesellschaft“ und „Zivilgesellschaft“ deutlich voneinander getrennt wissen. Diese Differenzierung wird vor allem dann relevant, wenn mit dem Begriff „Bürgergesellschaft“ nicht auf den Modus bzw. die Qualität einer bestimmten sozialen Handlung abgestellt wird, sondern auf die Rolle des Einzelnen als Staatsbürger und die damit einhergehenden besonderen Rechte und Pflichten. Für einzelne Fragen wie der sozialen Integration von zugewanderten Mitbürgern ist dieser Unterschied von erheblicher Bedeutung. Im Allgemeinen ist es im Interesse einer sparsamen Theoriebildung angemessener, beide Ausdrücke – wie es hier bisher geschehen ist – synonym zu gebrauchen. II. Struktur und Wandel der Bürgergesellschaft im internationalen Vergleich Das neu erwachte Interesse am Zustand und an der Rolle der Bürgergesellschaft hat in der sozialwissenschaftlichen Forschung zu erheblichen Anstrengungen geführt, die Struktur und den Wandel von Bürgergesellschaften empirisch zu analysieren. Die wichtigsten Impulse und Ergebnisse lieferten zunächst die Transformationsforschung, die sich mit den zahlreichen politischen Systemwechseln der dritten und vierten Welle der Demokratisierung insbesondere in Mittel- und Osteuropa beschäftigt, sowie die Debatte um den vermeintlichen Niedergang der Civil Society in den Vereinigten Staaten. In der Transformationsforschung zeigte sich, dass das Ringen der Dissidenten und oppositionellen Gruppen um eine von Staat und kommunistischer Partei unabhängige Zivilgesellschaft ein wesentlicher Faktor für die Liberalisierung kommunistischer Systeme und den anschließenden Systemwechsel war. Obschon in den meisten Ländern der Aufbau einer demokratischen Institutionenordnung rasch gelang, erwiesen sich im weiteren Verlauf die zivilgesellschaftlichen Strukturen – neben zahlreichen anderen Hindernissen – vielfach noch als zu schwach, um einen kontinuierlichen und strukturierten politischen Willensbildungsprozess in der Gesellschaft und damit eine Konsolidierung demokrati4 Kocka, S. 32 (Hervorhebungen im Original). Kocka nennt als dritte Begriffsdimension seine utopischen Gehalte, die hier in die stärker normativ ausgerichtete Begriffstradition eingeordnet worden sind.
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scher Systeme zu ermöglichen.5 Ihren Niederschlag fand diese Tatsache vor allem in notorisch instabilen Parteien und Parteiensystemen. In den USA hatten sich Vertreter des Kommunitarismus seit Mitte der 1970er-Jahre für eine neue Diskussion bzw. Verbesserungen der zivilgesellschaftlichen Grundlagen der amerikanischen Demokratie eingesetzt. Auf die Tagesordnung der amerikanischen Öffentlichkeit und dann auf die Agenda der Drittmittelforschung gelangte das Thema allerdings erst mit einem Aufsehen erregenden Aufsatz Robert Putnams, in dem er nichts weniger als den seit den 1970er-Jahren anhaltenden Niedergang der amerikanischen Zivilgesellschaft diagnostizierte.6 Für zahlreiche Aktivitäten und Segmente der Bürgergesellschaft lieferte er immer mehr Daten, die auf einen Rückgang der seit dem klassischen Werk von Alexis de Tocqueville so angesehenen Civil Society der USA hindeuteten. Die Auflösung der Formen freiwilliger Kooperation wie die Mitgliedschaft in Vereinen oder der Teilnahme am politischen Leben interpretierte Putnam als Verlust des Sozialkapitals der amerikanischen Gesellschaft. Unter Sozialkapital versteht er Eigenschaften sozialer Organisation wie Netzwerke, Normen und soziales Vertrauen, die die Koordination und Zusammenarbeit zu gegenseitigem Nutzen fördern7 und die primär in Situationen bürgerschaftlicher Selbstorganisation im Nahbereich entstehen. Der Niedergang der Netzwerke und Normen des bürgerschaftlichen Engagements beschädige nicht nur die Bürgergesellschaft selbst, sondern zeige gravierende Konsequenzen für Wirtschaft und Demokratie in den USA. Putnam forderte von Politik und Gesellschaft, den gefährlichen Trend umzukehren. Tatsächlich haben die amerikanische Öffentlichkeit und die amerikanische Politik unter der Administration Clinton wie Bush jr. das Thema bearbeitet. Neuere empirische Studien zeigen, dass auf zahlreichen Feldern des freiwilligen Engagements tatsächlich eine Trendwende eingetreten ist. Allerdings ist in ihnen auch deutlich geworden, dass die Chancen, „soziales Kapital“ zu erwerben, in der US-Gesellschaft sehr ungleich verteilt sind: Je höher die Bildung und je besser die Einbindung und der Status im Berufsleben, desto besser sind die sozialen Kompetenzen, die Engagementbereitschaft und die Netzwerke des Einzelnen.8 Vor allem die theoretischen Konzepte „Sozialkapital“ und „soziales Vertrauen“, mit denen Putnam seine empirischen Befunde in Zusammenhang mit dem Wandel von Gesellschaft und Politik allgemein brachte, haben in der international vergleichenden Forschung große Beachtung gefunden.9 Tatsächlich fällt der Umfang des „Sozialkapitals“ unterschiedlicher Staaten – gemessen anhand von Umfragedaten zu Organisationsmitgliedschaft, Vertrauen, demokratischen Wertorientierungen und Normen – im internationalen Vergleich sehr unterschiedlich aus.10 Überraschend ist, dass erstens für den Zeitraum von 1980 bis Mitte der 1990er-Jahre keine gleichgerichteten Entwicklungstendenzen und somit auch kein allgemeiner Niedergang festgestellt wurden, und dass zweitens die unterschiedlich hohe Ausstattung der untersuchten Demokratien mit Sozialkapital im Ländervergleich keine einheitlichen und für manche Dimensionen der „Demokratie-Qualität“ überhaupt keine Zusammenhänge liefert. Somit geht die einSiehe Merkel, S. 525. Putnam (1995), bes. S. 69. Daten in Putnam (2000), S. 31 – 180. 7 Siehe Putnam (1995), S. 66. 8 Wuthnow, S. 693 – 700 und S. 731 – 732. 9 Siehe OECD; Gabriel / Kunz. 10 Siehe ebd., S. 254 – 255. 5 6
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fache Gleichung „Mehr Sozialkapital bedeutet mehr staatsbürgerschaftliche Tugenden . . . und eine bessere Qualität der Demokratie“11 nicht auf. Allerdings zeigt sich auch, dass es in Demokratien so etwas wie eine Mindestausstattung mit Sozialkapital geben muss, wenn Bürger sich aktiv und überzeugt am politischen Prozess beteiligen sollen.12
III. Bürgergesellschaft und bürgerschaftliches Engagement in der Bundesrepublik Deutschland Etwas zeitversetzt zu den USA setzten in der Bundesrepublik Deutschland neue Forschungsbemühungen ein. Auch hier kamen entscheidende Impulse aus der Drittmittelförderung, etwa der Bertelsmann-Stiftung, und aus der Politik. Insbesondere die vom 14. Deutschen Bundestag eingesetzte Enquête-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ hat die empirische Forschung zu Bürgergesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement auf eine neue Grundlage gestellt. Neben dem umfangreichen Abschlussbericht der Kommission13 hat vor allem der 1999 erstmals durchgeführte Freiwilligensurvey wichtige neue Erkenntnisse geliefert. Diese Umfrage wurde bereits 2004 wiederholt. Beide Male sind rund 15 000 deutschsprachige Einwohner zu ihrem bürgerschaftlichen Engagement befragt worden.14 Um die Engagierten von den „nur“ teilnehmenden Vereinsmitgliedern einerseits und den gänzlich inaktiven Befragten andererseits unterscheiden zu können, wurde ein zweistufiges Verfahren angewandt. Zuerst wurde nach Mitgliedschaften gefragt. Unter ehrenamtlichem Engagement wurden dann jene Aktivitäten verstanden und erfragt, mit denen „Bürger – außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit und außerhalb des rein privaten, familiären [oder nachbarschaftlichen] Bereichs – Verantwortung im Rahmen von Gruppierungen, Initiativen, Organisationen oder Institutionen“15 übernommen haben. Diese Definition, die mit der oben eingeführten Definition von Bürgergesellschaft korrespondiert, verlangt einerseits die Übernahme einer Aufgabe oder Verantwortung etwa im Sinne eines Ehrenamtes, ist andererseits aber weit gesteckt und reicht von Selbsthilfegruppen bis zu parteipolitischen Ehrenämtern. Der Freiwilligensurvey 1999 zeigte eine relativ gleichmäßige Verteilung der Befragten auf die drei Grundkategorien: 34 % waren in keiner Weise aktiv, weitere 32 % waren als einfache Mitglieder ohne Funktion in organisierter Form in die Bürgergesellschaft involviert. Die übrigen 34 % stellten die freiwillig bzw. ehrenamtlich Engagierten dar, die Aufgaben und Verantwortung übernommen hatten. Der Survey von 2004 zeigt im Vergleich zu 1999 moderate, aber im Sinne einer aktiven Bürgergesellschaft positive Verschiebungen. Der Anteil der Inaktiven ging um 4 % auf 30 % zurück, der der „Nur“Mitglieder stieg auf 34 % und der der Engagierten auf nunmehr 36 %. Eine wichtige Ursache für diese Zunahme ist das verstärkte Engagement der Gruppe der über 60-Jährigen. Die tragende Gruppe des bürgerschaftlichen Engagements sind aber weiterhin die Ebd., S. 264. Siehe ebd., S. 259 und S. 261. 13 Siehe Deutscher Bundestag (Hrsg.), Bürgerschaftliches Engagement. Begleitend zur EnquêteKommission erschienen zwölf Sammelbände. 14 Siehe Rosenbladt; Gensike / Picot / Geiss. 15 Rosenbladt, S. 33. 11 12
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40- bis 59-Jährigen. Unterschiede bestehen nach wie vor zwischen den alten und den jungen Bundesländern, bei allerdings geringer werdendem Abstand. Ganz erhebliche Unterschiede im bürgerschaftlichen Engagement zeigen sich nach Bildung und beruflicher Position. Genau wie im amerikanischen Fall steigt das individuell verfügbare bzw. eingesetzte „Sozialkapital“ mit der Höhe des Bildungsabschlusses und dem erreichten beruflichen Status. Positiv auf das Engagement wirken sich außerdem die Nähe zu einer der Kirchen, die Haushaltsgröße und die Größe des Freundeskreises aus. Bezogen auf unterschiedliche Bereiche ist das Segment „Sport und Bewegung“ (11 % aller Befragten) mit Abstand das größte. Es folgen „Schule / Kindergarten“ (7 %), „Kirche und Religion“ (6 %), „Kultur und Musik“ (5,5 %), „Sozialer Bereich“ (5,5 %) und Freizeit und Geselligkeit (5 %). „Politik und Interessenvertretung“ (2,5 %) und lokales Bürgerengagement (2 %) sind deutlich geringer frequentiert. Im Vergleich zu 1999 am stärksten gewachsen ist der Bereich „Soziales“ (von 4 % auf 5,5 %). Außerdem hat auf niedrigerem Niveau das kinder- und jugendbezogene Engagement erkennbar zugenommen. Für beide Bereiche gilt, dass Frauen hier das Rückgrat der ehrenamtlich Engagierten darstellen. Denkbar ist, dass sich in diesen Daten nicht nur die gesteigerte Wertschätzung des Ehrenamtes allgemein, sondern auch die Verlagerung ehemals (sozial-)staatlich organisierter Tätigkeiten in den Verantwortungsbereich von Organisationen der Bürgergesellschaft spiegelt. Mit unterschiedlichen Akzenten treten die meisten deutschen Parteien seit Mitte der 1990er-Jahre für eine stärkere Mobilisierung freiwilligen Engagements im Rahmen der sozialen Leistungserbringung ein. Insbesondere die rot-grüne Bundesregierung sah in der „zivilen Bürgergesellschaft“ (G. Schröder) ein wichtiges Korrelat zum „aktivierenden Staat“. Neben Chancen beinhaltet diese Entwicklung allerdings auch erhebliche Gefahren einer Überforderung und Fremdbestimmung der Bürgergesellschaft. Im Kontext einer Governance-Theorie, die zivilgesellschaftliche Akteure zu staatlich anzuleitenden Governance-Akteuren erklärt, um die Überforderung und Steuerungsschwäche des modernen Interventions- und Sozialstaats zu beheben, wird die Bürgergesellschaft „als quasi-staatliche Institution“16 eingestuft. Das mag de facto für gewisse Teile des sogenannten „Dritten Sektors“ – der als der Bereich der nicht-gewinnorientierten und nicht unmittelbar staatlichen Leistungserbringung per Definition große Überschneidungen mit der Bürgergesellschaft aufweist, aber auf keinen Fall mit ihr gleichzusetzen ist – gelten.17 Als politisches Zukunftsprojekt einer staatlichen Inanspruchnahme der Zivilgesellschaft als Steuerungsinstrument geht das Konzept am normativen Kern einer Bürgergesellschaft als einem autonomen öffentlichen Raum vorbei.18 Eine ähnliche Überforderung bzw. Verzweckung droht ihr auch dort, wo sämtliche Aktivitäten der Zivilgesellschaft auf ihre Demokratieförderlichkeit abgeprüft werden. Insgesamt ist also davor zu „warnen, das Konzept der Bürgergesellschaft mit zu hohen Erwartungen zu überlasten.“19 Schuppert, S. 247. In Deutschland ist hier etwa an die Bedeutung gemeinnütziger Einrichtungen im Gesundheitsund Fürsorgewesen zu denken. Siehe dazu Priller / Zimmer. 18 Siehe Braun, bes. S. 103 – 104. 19 Münkler, S. 15. 16 17
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IV. Religion und Kirchen in der Bürgergesellschaft In der Bedeutung, die Religion und Kirchen in der Bürgergesellschaft beigemessen wird, besteht zwischen der amerikanischen und deutschen Debatte ein wichtiger Unterschied. Vor dem Hintergrund der bis zur Gründung der USA zurückreichenden friedlichen und strikten (aber keineswegs durchweg konfliktfreien) Trennung von Religion und Staat hatten die äußerst zahlreichen christlichen Denominationen und andere religiöse Gruppierungen seit langem den Status von freiwilligen Zusammenschlüssen der Bürgergesellschaft. Unbeschadet eigener Wahrheitsansprüche gibt es eine breite Tradition der Religionsgemeinschaften, diesen Status nicht nur hinzunehmen, sondern auch als Bedingung eigener Glaubensfreiheit zu begrüßen. Dies galt, wie bereits Tocqueville betonte, auch für die katholische Kirche in den USA. Zugleich sind die sehr stark lokal orientierten Kirchengemeinden ein wesentlicher Ankerpunkt und Motor des bürgerschaftlichen Engagements in den USA.20 Diese zivilgesellschaftliche Bedeutung von Religion hat im Zuge der Abkehr des Staates von Sozialprogrammen seit Ronald Reagan noch zugenommen. In der Bundesrepublik Deutschland wie mit Variationen auch in anderen Staaten Europas steht die lange Geschichte des Gegenübers von Staat und katholischer Kirche bzw. der weitgehenden Einfügung vieler evangelischer Kirchen als Staatskirchen in die Strukturen des modernen Territorialstaates einer umstandslosen Einordnung von Religionsgemeinschaften als Akteuren der Bürgergesellschaft entgegen. Dies schlägt sich darin nieder, dass Kirchen lange Zeit eher als öffentliche Anstalten oder Körperschaften denn als freiwillige Zusammenschlüsse von Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen bzw. behandelt wurden und dass in den Kirchen der EKD wie in der katholischen Kirche in Deutschland der Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Position in der Bürgergesellschaft unabgeschlossen ist.21 Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive sind die Kirchen, die zahlreichen aus ihnen hervorgehenden freiwilligen Organisationen und andere Religionsgemeinschaften am besten als kollektive Akteure der Zivilgesellschaft zu verstehen und zu analysieren. In der Tat stellt das freiwillige Engagement im Rahmen religiöser Gemeinschaften bzw. Organisationen nach dem jüngsten Freiwilligensurvey auch in Deutschland, das im internationalen Vergleich als relativ säkular eingestuft wird, ein wesentliches Segment der Bürgergesellschaft dar. 6 % aller Befragten engagieren sich für Kirche und Religion. Im Gegensatz zur amerikanischen Forschung ist bislang allerdings so gut wie nichts über die Einzelheiten dieses Engagements bekannt.22 Darüber hinaus dürfte das Engagement von Menschen, die mit ihrer Kirche verbunden sind, auch in anderen Bereichen gesamtgesellschaftlich wichtig sein. Beim sozial-caritativen Engagement wie beim die nationalen Grenzen überschreitenden Engagement für Frieden und Entwicklung sind evangelische wie katholische Organisationen wichtige Akteure auf der jeweiligen Bühne der Bürgergesellschaft. Dies hat nachweislich unmittelbare Wirkungen auf politische Entscheidungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland. Dort, wo sich Kirchen und Religionsgemeinschaften zu Freiheit und Demokratie bekennen und in die öffentliche Debatte um die Zukunft ihres Gemeinwesens argumentativ einbringen, liegt es nahe, 20 21 22
Siehe Liedhegener / Kremp. Siehe Bedford-Strohm, S. 103 – 108; Evangelischer Pressedienst; Strachwitz u. a. Siehe Fischer, S. 165 – 206.
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dass sie sich wie andere Organisationen und Gruppierungen der Bürgergesellschaft aktiv an der politischen Willensbildung beteiligen und legitimerweise versuchen, politische Entscheidungen zu beeinflussen. In welchem Umfang und bei welchen Themen dies geschieht, hängt von verschiedenen Faktoren und nicht zuletzt von einer auf die jeweiligen zeithistorischen Umstände durch Klugheitsüberlegungen eingehenden Theologie des Politischen ab.23 V. Bürgergesellschaft und Katholische Soziallehre Die jüngsten öffentlichen Debatten und Forschungen zum Zustand und zur Entwicklung der Bürgergesellschaft sind in hohem Maße anschlussfähig für die Grundaussagen und Intentionen der Soziallehre der katholischen Kirche. Die Katholische Soziallehre zielt auf Prinzipien und Klugheitsurteile für den „rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft“ (Gaudium et spes, Nr. 3). Aus der festen, letztlich schöpfungstheologisch begründeten Überzeugung der vorstaatlichen Natur und Rechte der Person wie auch aus institutionellem Eigeninteresse ist die katholische Kirche in der Moderne theologisch bzw. lehramtlich für die Begrenzung staatlicher Herrschaftsansprüche eingetreten und hat diese Begrenzung in vielen Ländern praktisch durch den Aufbau einer in sich vielfältig differenzierten Teil- oder Sondergesellschaft, eines spezifisch katholischen Milieus gefördert, das stets mehr war als ein bloßer Rückzug in ein katholisches Ghetto. Eine das moderne Freiheits- und Menschenrechtsethos aufgreifende Ausformulierung der Soziallehre findet sich allerdings erst in den Lehraussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils und den Sozialenzykliken und Stellungnahmen der Päpste seit Johannes XXIII.24 Die jüngere Katholische Soziallehre weist, verglichen mit ihrer Fassung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, eine größere Binnenpluralität auf, die sich in unterschiedlichen, mit ihr korrespondierenden Konzepten christlicher Sozialethik niederschlägt. Sie bleibt aber im Kern ein Ordnungsdenken, das vom Personsein und der Würde des Menschen als einem immer schon sozialen Individuum ausgeht und die individuelle Freiheit der einzelnen Menschen und die gesellschaftliche und staatliche Ordnung als ein stets neu auszutarierendes Verhältnis bestimmt, das den Menschen in ihrer Eigenschaft als Person, Familienmitglied, Mitglied vielfältiger freiwilliger Assoziationen und Staatsbürger dienen soll. Im Blick auf die Bürgergesellschaft, deren Existenz (auch) in der katholischen Sozial- und Staatslehre ein gedanklich und praktisch unbedingt notwendiger Bestandteil verfassungsstaatlicher Demokratien ist,25 kann die Trias der Sozialprinzipien Personalität, Subsidiarität und Solidarität als ein Analyseraster für die in vielen Demokratien gegenwärtig anstehende bzw. laufende Neujustierung der Zuordnung von staatlichem Handeln und bürgerschaftlichem Engagement aufgefasst werden. Dieses Raster bietet zwar keine Lösungen im Einzelfall, liefert aber hilfreiche Kriterien für gemeinwohlförderliche Vorzugs- und Klugheitsurteile zur Aufgabenverteilung zwischen Bürgergesellschaft und Staat. Die doppelte Verpflichtungsstruktur des Subsidiaritätsprinzips gebietet einerseits danach zu fragen, wo staatliches Handeln Kompetenzen an sich gezogen hat, die heute (wieder) besser durch das Engagement der Bürger und ihrer Siehe Liedhegener, S. 24 – 39 und S. 442 – 446. Siehe Bundesverband der KAB; Kompendium; Sutor, S. 135 – 185. 25 Siehe Kompendium, S. 151 – 152, S. 260 – 261 und S. 297 – 302; Wissenschaftliche Arbeitsgruppe. 23 24
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freiwilligen Zusammenschlüsse ausgeübt werden sollten. Andererseits entlässt das Subsidiaritätsprinzip den Staat immer dann nicht aus seiner Pflicht, gerade die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft zu schützen und zu fördern, wenn kleinere soziale Einheiten mit der Aufgabe überfordert werden. So widersprechen etwa Überlegungen zur Auflösung von staatlichen Verantwortlichkeiten in diffuse Governance-Strukturen ohne zurechenbare Verantwortlichkeiten und Ausfallbürgschaften des Staates dem Subsidiaritätsprinzip. Um gesellschaftlich wirksam zu werden, bedarf die Katholische Soziallehre in der Bürgergesellschaft genau wie jede andere soziale Idee allerdings engagierter Personen und kollektiver Akteure. Eine besondere Verantwortung kommt im Blick auf die Zukunft der Bürgergesellschaft dabei der Betonung des inneren Zusammenhangs zwischen der Institutionenordnung einer demokratischen Gesellschaft und einem Mindestmaß von im Kern menschenrechtlich motiviertem Gemeinsinn unter ihren Mitgliedern zu. Denn wenn in einer Gesellschaft nicht mehr gewusst wird, worin für alle ihre Mitglieder die „Würde der menschlichen Person besteht, dann ist auch der Status der Person als unverfügbar-selbstzweckhaftes Menschenrechtssubjekt nicht mehr plausibel.“26
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Politische Tugenden Von Bernhard Sutor I. Begriffe und Konzept: Kardinaltugenden Tugendethik ist keine Alternative zur Normenethik, sondern deren notwendige Ergänzung. Sie begründet Leitbilder sittlichen Verhaltens. Tugend ist mehr als gute Gesinnung. Sie ist erworbene, handlungswirksame Disposition zum Guten. Mit politischen Tugenden meinen wir sittliche Qualitäten, die erforderlich sind, um dem Handlungsmodus moralisch genügen zu können, den wir Politik nennen. Die ethisch normativen Ansprüche an Politik werden also vorausgesetzt. Es geht um Begründung und Beschreibung von Richtbildern guten politischen Handelns. Unsere Frage setzt voraus, dass Tugenden nicht nur individual-, sondern auch sozialethisch bedeutsam sind. Diese Einsicht war der vormodernen Tugendethik selbstverständlich. Der neuzeitliche Individualismus und die Trennung von Privat und Öffentlich, von Moral und Recht im bürgerlich-liberalen Denken führten zu einer Verengung des Tugendbegriffs auf den Bereich persönlicher Moral und damit zu einer Entpolitisierung und zur Reduzierung auf sogenannte Sekundärtugenden wie Ordnungssinn, Fleiß, Sparsamkeit usw. In Reaktion darauf hat man später gemeint, spezifisch „öffentliche Tugenden“ im Unterschied zu den privaten benennen zu müssen. Als Modelle eines gelebten Ethos sind Tugenden immer auch auf soziale Kontexte und auf gesellschaftliche Verhältnisse bezogen. So gab es Tugendkataloge für spezifische Trägergruppen: Herrschertugenden, Rittertugenden, Tugenden des Bürgers als Citoyen. Diese Zeit- und Gesellschaftsbedingtheit von Tugendmodellen wirft die Frage auf, ob man nicht für das Leben unter den Bedingungen moderner Gesellschaft „neue Tugenden“ entwickeln müsse. Aber solche Versuche sind ihrerseits sehr zeitbedingt und kommen nicht ohne erhebliche Anleihen bei der traditionellen Lehre von den Kardinaltugenden aus. Die folgende Entfaltung politischer Tugenden orientiert sich am Modell der Kardinaltugenden. Dieses scheint uns am ehesten geeignet, eine allzu starke Zeitbedingtheit zu vermeiden. Die Kardinaltugenden sind an keine Gesellschaftsordnung gebunden und drücken kein Standesethos aus. Sie sind formal so weit gefasst, dass sie Verallgemeinerbares unserer sittlichen Erfahrungen auf den Begriff bringen. Sie sind anthropologisch bezogen auf die Potenzen der menschlichen Seele und beschreiben deren Integration in eine gute Lebensführung. Die Klugheit bezieht sich auf die Vernunft, die Gerechtigkeit auf den Willen, die Tapferkeit auf das Gemüt, die Mäßigung auf das Begehren. Diese Zuordnung hat eine hohe Praxisrelevanz unabhängig von anderen analytischen Differenzierungen in der modernen Psychologie. Ihren Ursprung hat das Modell der Kardinaltugenden in der griechischen Philosophie (Platon, Aristoteles). Aber erst die altchrist-
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liche Theologie spricht von Kardinaltugenden (Ambrosius) und setzt sie als natürliche Tugenden in Bezug zu den christlich-theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe (Augustinus). Deshalb werden wir am Ende unserer Darstellung auch auf diese Frage eingehen. Das Allgemeine der Kardinaltugenden macht sie besonders geeignet zum Bezug auf Politik. Das Politische ist nämlich seinerseits etwas Allgemeines. Es geht in der Politik nicht um sachlich-fachlich Spezifisches, das in erster Linie die Qualitäten von Fachleuten fordern würde. Politik ist keine Technik; kein Machen (facere), sondern ein Handeln (agere) im sozialen Mit- und Gegeneinander; und zwar ein Handeln, das es besonders mit der Konkurrenz- und Konfliktseite des Sozialen zu tun hat. Politik soll erträgliches Miteinander gerade angesichts unvermeidbarer Konflikthaftigkeit menschlicher Gesellschaft ermöglichen. Sie soll möglicher Gewalt wehren, Frieden und Recht sichern. Diese Art des Handelns geht im Prinzip alle Mitglieder einer Gesellschaft an, betrifft alle in ihren Interessen, Meinungen und Überzeugungen. Zumal in der Demokratie ist sie nicht mehr Sache eines Standes oder einer Elite, sondern im Prinzip Sache aller. Insofern ist Demokratie die Ordnungsform, die der Allgemeinheit des Politischen am ehesten entspricht. Eben deshalb ist unsere Frage nach den sittlichen Qualitäten, die Politik braucht, nicht nur die Frage nach Tugenden professioneller politischer Akteure, sondern auch die nach den Tugenden des Bürgers in der Demokratie. Es gibt eine Form politischer Institutionenethik, die meint, Rechtsregeln und Institutionen machten Tugenden überflüssig; es genüge, den allgemeinen Spielregeln zu folgen, zumal im freiheitlichen Rechtsstaat, der seine Bürger nicht moralisch in die Pflicht nehmen dürfe. Aber schon die damit vorausgesetzte Bereitschaft der Handelnden, sich an die Regeln zu halten, ist ein Anfang von Tugend. Ferner sind die Handlungssituationen nicht als Schnittpunkte von Regeln bestimmbar, vielmehr gibt es breite Ermessensspielräume. In diesen das Rechte zu finden und zu tun, bedarf eines gewissen Maßes sittlicher Qualität. Dasselbe gilt für das Handeln in Institutionen als normativen Sinngebilden. Ihr Sinn soll von den Handelnden erfüllt werden, aber das kann in sehr unterschiedlicher Form und Qualität erfolgen. Andererseits muss politische Ethik vor einem überhöhten Tugendbegriff warnen. Das Normen- und Institutionensystem einer freiheitlichen Ordnung ist auf den moralisch durchschnittlichen Menschen zugeschnitten. Es soll Interessenwahrnehmung in einer gemeinsamen Ordnung ermöglichen und rechnet dabei auch mit Fehlverhalten und Versagen der Menschen. Politische Tugend besteht im Regelfall darin, Interessen vernünftig, mit Rücksicht auf die Interessen anderer, mit Augenmaß für Möglichkeiten, Grenzen und Folgen wahrzunehmen. Ein höherer Grad von Tugend kann erforderlich werden, wenn Interessenkonflikte sich zu Konflikten zwischen moralischen Werten und Prinzipien zuspitzen und sich die Neigung breit macht, höherrangige Werte partikularen Interessen zu opfern. Ein heroischer Grad an Tugend schließlich ist in der Widerstandssituation gefordert. Der Tugendbegriff soll also hier nicht dazu dienen, Politik in besonderer Weise moralisch aufzuladen. Vielmehr geht es um die Beschreibung der sittlichen Dispositionen, die eine freiheitliche Ordnung bei ihren Bürgern und Politikern voraussetzt, wenn sie ihren Sinn erfüllen soll. Es geht um die Gestalt des politisch denkenden und handelnden Bürgers. In diesem Sinn befragen wir hier die Kardinaltugenden danach, welche spezifische Ausformung sie als politische Tugenden annehmen müssen.
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II. Die Kardinaltugenden als politische Tugenden 1. Klugheit – politische Urteilskraft
Die Klugheit (prudentia) verbindet in der traditionellen Ethik Erkennen und Wollen, Denken und Handeln. Sie ist die Brücke zwischen den Verstandes- und den sittlichen Tugenden. Ihre Bedeutung für politische Ethik kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Wirklichkeit, in der wir uns handelnd bewegen, so schon Thomas von Aquin, ist von fast unendlicher Vielfalt; die Wege zu den Zielen sind viele, sie müssen gesucht werden. In der Politik müssen komplexe Sachverhalte erkannt, vor allem aber konflikthafte soziale Beziehungen erfasst und verantwortlich bewältigt werden. Die Situationen sind von vielen Faktoren bedingt und ständig in Bewegung. Klugheit besteht darin, im klaren Blick auf die prinzipiell vorgegebenen Ziele (Friede, Freiheit, Gerechtigkeit) solche Situationen zu meistern. Sie wird deshalb auch Situationsgewissen genannt. Der kluge Politiker orientiert sich an unabdingbaren Prinzipien, er wird aber nicht zum Prinzipienreiter. Er analysiert komplexe Sachverhalte, vernachlässigt aber nicht unter Berufung auf „Sachzwänge“ die menschlich-soziale Bedingtheit der Situationen. Er versucht, schwierige Situationen zu beherrschen, wird aber nicht zum Opportunisten. Der Dreischritt der klugen Handlung, Überlegung, Urteil, Beschluss, lautet politisch: Situationsanalyse, Abschätzung von Möglichkeiten, Entscheidung. Die Situationsanalyse ist nicht theoretisch beendbar, weil nie alle Faktoren voll erfassbar sind. Die Gewissheit der praktischen Vernunft ist eine moralische, keine mathematische. Die Abschätzung von Möglichkeiten vermeidet zwei Extreme: das unter den gegebenen Umständen Unmögliche durchsetzen zu wollen, aber auch das resignative Sich-Abfinden mit dem Gegebenen, die Kapitulation vor Schwierigkeiten. Kluge Politik als Kunst des Möglichen versucht auch, als notwendig Erkanntes möglich zu machen. Entscheidung erfordert Entschlusskraft und Durchsetzungswillen, vermeidet langes Zaudern ebenso wie einen irrationalen Voluntarismus. Politische Entscheidungen bedürfen kluger Überlegung, öffentlicher Begründung, Diskussion und Verantwortung. In diesem Dreischritt klugen politischen Handelns müssen Teilelemente politischer Urteilskraft wirksam werden. Zur Klugheit gehört Belehrbarkeit. Der Kluge überprüft seine Vorurteile, ist bereit, neue Informationen aufzunehmen, neue Gesichtspunkte einzubeziehen. Er bedenkt, schon im eigenen Interesse, erst recht im Blick auf das Gemeinwohl, auch die Argumente des politischen Gegners. Klugheit braucht Erinnerung. Ihr Urteil fußt auf verarbeiteten Erfahrungen. Für Politik gilt das in besonders hohem Maß. In ihr ist die Geschichte als Deutung der Vergangenheit von Großgruppen, Völkern und Staaten immer wirksam gegenwärtig. Deshalb bemüht sich politische Urteilkraft gegen falsche Legenden und Geschichtslügen um eine angemessene Deutung der Geschichte. Zu politischer Urteilskraft gehört Geschicklichkeit im Umgang mit dem Unvermuteten. Sie bewahrt kühlen Kopf, behält die Übersicht, wenn neue Faktoren auf den Plan treten. Sie muss sich auch bewähren durch Anpassung an neue Umstände, braucht taktische Beweglichkeit, Bereitschaft zu Zugeständnissen, auch zur Inkaufnahme unvermeidlicher Nachteile. Es ist nicht leicht, die hier gemeinten taktischen Fähigkeiten vom prinzipienlosen Opportunismus oder von Verschlagenheit abzugrenzen. Klugheit rechtfertigt nicht Charakterlosigkeit, aber sie erfordert Wendigkeit im Anstreben der guten Ziele.
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Schließlich gehört zur Klugheit unabdingbar Voraussicht. Politische Urteilskraft bewährt sich in der Frage nach dem möglichen weiteren Gang der Dinge, nach den Folgen von Entscheidungen, einschließlich ungewollter Nebenfolgen, und nach ihrer Verantwortbarkeit. Sie ist bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Klugheitsethik war Verantwortungsethik, lange bevor dieser Begriff für das Politische geprägt wurde. Damit soll nicht bestritten werden, dass diese Seite politischer Klugheit heute, angesichts ganz neuer Dimensionen möglicher Folgen von Taten und Unterlassungen in unserer modernen Welt, eine neue Qualität erreichen muss. Die Menschheit kann heute ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören. Die Staatenwelt ist zu einer Schicksalsgemeinschaft geworden. Sie muss deshalb auch rechtlich-politisch zu einer Verantwortungsgemeinschaft werden – ein Gebot politischer Klugheit.
2. Gerechtigkeit – politische Haupttugend
Gerechtigkeit (iustitia) ist die zentrale Tugend für das Zusammenleben der Menschen. Deshalb gibt es keine politische Ethik, die nicht von Gerechtigkeit spricht. In der Tradition wird sie definiert als der feste und beständige Wille, einem jeden sein Recht zukommen zu lassen. Die Bestimmung des Rechten ist Sache der Rechtsordnung. Deshalb hat die Tugend der Gerechtigkeit notwendig einen Bezug zur äußeren Ordnung; ihre nähere Entfaltung enthält daher auch Kriterien zur Beurteilung von Ordnungen. Dennoch muss man Gerechtigkeit als Tugend von der heute im Vordergrund des öffentlichen Interesses stehenden sozialen Gerechtigkeit unterscheiden. Letztere bleibt ständige politische Aufgabe des Ausgleichs zwischen legitimen und zugleich einander widerstreitenden Ansprüchen, und ein Mindestmaß an Gerechtigkeit der äußeren Zustände ist gewiss auch Voraussetzung für den Gerechtigkeitswillen der Menschen. Aber umgekehrt gilt auch, dass ohne diesen Willen, also ohne die Tugend der Gerechtigkeit, auch soziale Gerechtigkeit unerreichbar bleibt. Wo Menschen nicht gerecht sein wollen, kann es keine einigermaßen gerechten Zustände geben. Gerade deshalb muss auch die politische Bedeutung der Tugend der Gerechtigkeit betont werden. Gerechtigkeit bezieht sich auf verbindliche Pflichten der Menschen gegeneinander, die in der Regel gesetzlich festgelegt sind. Ihr Kern ist aber die Anerkennung der anderen in ihren Rechten als mir gleiche Personen, also ein Element personaler Kommunikation. Die traditionelle Lehre beschreibt Gerechtigkeit in drei Dimensionen, bezogen auf drei für eine Gesellschaft unentbehrliche Grundverhältnisse: Als Tausch- und Vertragsgerechtigkeit der Personen und Gruppen untereinander; als gesetzliche Gerechtigkeit der Einzelnen gegenüber der Gesamtheit; als Teilhabegerechtigkeit der Gesamtheit bzw. ihrer Repräsentanten gegenüber allen Einzelnen. Schon diese Dreidimensionalität an sich ist auch von institutioneller Bedeutung. Sie drückt aus, dass Gesellschaft insgesamt weder liberalistisch allein durch Tauschgerechtigkeit (Markt) noch kollektivistisch allein durch Verteilungsgerechtigkeit geordnet werden kann. Darüber hinaus soll im Folgenden die politische Bedeutung der drei Formen von Gerechtigkeit skizziert werden. Die Tausch- oder Vertragsgerechtigkeit (iustitia commutativa) ist die Tugend von Rechtsgenossen. Ihre Grundforderung lautet, das gegenseitig rechtlich Geschuldete zu leisten, Verträge einzuhalten. Sie realisiert das Prinzip der Gegenseitigkeit und damit etwas von der Goldenen Regel in den vielfältigen sozialen Beziehungen. Deshalb ist sie in einer pluralistischen Gesellschaft unentbehrlich. Sie bedeutet Verträglichkeit und
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Fairness gerade dort, wo nicht „Gemeinschaft“, sondern Fremdheit, auch Konkurrenz und Gegnerschaft bestimmend sind. Das Verhältnis konkurrierender Großgruppen (Verbände, Parteien, Staaten) kann weithin nur durch Regeln der Gegenseitigkeit von Gewalt freigehalten werden. Das Prinzip pacta sunt servanda ist innergesellschaftlich wie zwischenstaatlich Grundbedingung des Friedens. Im Sinn der Goldenen Regel ausgelegt impliziert es auch eine gewisse Mäßigung im Gebrauch von Macht, die das Verhalten von Akteuren berechenbar und gegenseitig zumutbar macht. Das gilt für Tarifparteien ebenso wie für Parteien im politischen Kampf und für die politisch Verantwortlichen in internationalen Konflikten. Die gesetzliche Gerechtigkeit (iustitia legalis) meint politisch die Bereitschaft der Bürger, ihre Rechtspflichten gegenüber dem Gemeinwohl der Gesamtheit zu erfüllen. Man kann der Meinung sein, dazu genüge die äußere Befolgung des Gesetzes; mit Tugend habe das nichts zu tun, denn der Staat werde das Gesetz schon durchsetzen. Darin liegt aber eine erhebliche Überschätzung der Möglichkeiten, das Recht mit Zwangsgewalt durchzusetzen. Recht muss zwar äußerstenfalls erzwingbar sein, aber ein gut geordnetes Gemeinwesen basiert im Wesentlichen nicht auf Zwangsgewalt, sondern auf der Loyalität seiner Bürger. Je mehr „Trittbrettfahrerei“ praktiziert wird in dem egoistischen Kalkül, die anderen würden ihre Steuern schon zahlen, die Versicherung nicht betrügen, Umweltauflagen einhalten, umso mehr laufen die Gesetze ins Leere. Man kann nicht neben jeden Bürger einen Polizisten, neben jeden Polizisten einen Oberpolizisten stellen. Soll der Rechtsstaat freiheitlich bleiben, setzt er ein Minimum an Gemeinsinn seiner Bürger, erst recht freilich seiner politischen Repräsentanten voraus. Solcher Gemeinsinn, das heißt Einsicht in die Erfordernisse des Gemeinwohls über die Gruppeninteressen hinaus, ist der sittliche Kern der Gesetzesgerechtigkeit. Diese fordert keineswegs blinden Gesetzesgehorsam. Zum Gemeinsinn gehören selbstverständlich Kritik und Oppositionsrechte. Aber die in den letzten Jahrzehnten nicht selten bedenkenlos propagierten Formen „begrenzter Regelverletzung“ und „bürgerlichen Ungehorsams“ müssen an der Frage ihrer Verallgemeinerbarkeit gemessen und gewissenhaft den anerkannten Kriterien des Widerstandsrechts unterworfen werden. Die Teilhabegerechtigkeit (iustitia distributiva) meint die Tugend der Regierenden, „Gerechtigkeit gegen jedermann“ zu üben, wie es im Amtseid der Minister heißt. Der geläufigere Begriff der Verteilungsgerechtigkeit ist nicht falsch, aber missverständlich, weil man dabei im modernen Sozialstaat vor allem an die Verteilung materieller Güter denkt. Nun muss selbstverständlich der Sozialstaat Verteilungsgerechtigkeit üben, das heißt Gleiche gleich, Ungleiche unterschiedlich je nach Bedürftigkeit behandeln. Das stellt ihn vor die unbeendbare Aufgabe eines ständigen Ausgleichs zwischen einander widerstreitenden Ansprüchen, etwa zwischen Besitzstands-, Leistungs-, Bedürfnis-, Chancen- und Generationen-Gerechtigkeit. Das ist hier nicht unser Thema. Der ursprüngliche Sinn der iustitia distributiva ist ein anderer, tieferer, nämlich die Bereitschaft der Regierenden, alle Bürger und Gruppen an den Gütern des Gemeinwohls, an Recht und Frieden teilhaben zu lassen, das Verbot der Ausgrenzung. Gerade unter den modernen sozialstaatlichen Bedingungen scheint uns deshalb der Begriff der Teilhabegerechtigkeit angemessen. Er drückt aus, dass der Staat nicht in erster Linie materielle Wohltaten austeilt, sondern die allgemeinen Regeln und die Institutionen so gestalten soll, dass alle Bürger möglichst große Chancen haben, am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben gemäß ihren Kräften teilzunehmen. Das ist die Bedingung der Möglichkeit auch sozialen Ausgleichs.
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In der Verbände- und Parteiendemokratie ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass Parlamentsmandate und politische Ämter solche der Gesamtheit sind. Unsere Abgeordneten sind „Vertreter des ganzen Volkes“ (Art. 38 GG), also nicht nur ihrer Partei, nicht nur ihrer Wähler. Das schließt die Vertretung spezifischer Interessen nicht aus, weil Gruppeninteressen und Gemeinwohl einander nicht ausschließen. Aber Politiker müssen sie miteinander vereinbaren, das heißt gerecht sein wollen. Schließlich gehört zur Gerechtigkeit der Regierenden gegenüber den Regierten auch ihre Wahrhaftigkeit. Die Bürger haben ein Recht auf zuverlässige Informationen. Die Politiker sind der Wahrheit verpflichtet. Das heißt nicht, sie müssten zu jeder Zeit alles offen legen, was Gegenstand von internen Überlegungen und Verhandlungen ist. Aber was sie sagen, muss wahr sein. Freilich muss gegen unpolitisch puristische Forderungen darauf hingewiesen werden, dass die politische Sprache, der „Natur“ des Politischen entsprechend, in der Regel vieles in der Schwebe halten, sich vor vorschnellen Festlegungen hüten muss. Es ist eine, wenn auch verständliche, Unsitte von Journalisten, Politiker „festnageln“ zu wollen, wenn bestimmte Dinge noch nicht entscheidungsreif sind. Im Mittelalter waren politische Philosophen der Überzeugung, es gebe kaum ein schlimmeres Übel in der Welt als ungerechte Herrschaft; Gerechtigkeit gegenüber dem tyrannisch gewordenen Herrscher sei nur durchsetzbar um den Preis von Bürgerkrieg und Chaos. Im Lauf der Jahrhunderte haben die Menschen gelernt, Regeln und Institutionen zu entwickeln, die dazu beitragen, dass nicht alles von der Tugend der Herrschenden abhängt. Aber auch gegen den heutigen Souverän, nämlich das Volk, wäre Gerechtigkeit nicht erzwingbar. Wenn das Volk in seiner großen Mehrheit nicht gewillt wäre, sich an Regeln und Institutionen zu binden mit dem Willen, deren Sinn zu respektieren, wäre eine gerechte Ordnung nicht möglich. 3. Tapferkeit – Zivilcourage
Tapferkeit (fortitudo) heißt die Bereitschaft, Nachteile in Kauf zu nehmen um höherer Güter willen. Ihre Voraussetzung lautet: Das Gute setzt sich nicht von selbst durch, sondern bedarf der Anstrengung, und dabei sind wir verwundbar. Tapferkeit ist Absage an jede Form von Spießbürgerlichkeit. Sie bewährt sich in streitbarer Verwirklichung des Guten, ist also in besonderer Weise in der Politik gefordert. In der überlieferten Tugendlehre wird Tapferkeit in zwei Dimensionen entfaltet, aktiv und passiv. Politische Formen aktiver Tapferkeit sind vor allem Zivilcourage, Konflikt- und Durchsetzungsfähigkeit. Die Möglichkeiten zu politischer Aktivität sind uns im freiheitlichen Rechtsstaat zwar rechtlich verbürgt. Dennoch ist der Mut des Bürgers durchweg nötig; der Mut zum freien Wort, zu Kritik, zum Beharren auf Recht zumal gegenüber Mächtigeren, Vorgesetzten, Amtspersonen; Mut auch gegen Meinungsdruck und Gruppenzwang, gegen herrschende Trends. Das alles kann unangenehm werden. Deshalb gehört die Bereitschaft, einen Konflikt zu riskieren, unabdingbar zur politischen Tapferkeit. Wir sollen nicht Streit suchen, aber es ist unpolitisch, jeden Streit vermeiden zu wollen. Politisch sein heißt, geregelt streiten können. Die politischen Institutionen sind dazu da, Konflikte nach Regeln auszutragen, nicht sie zu vermeiden. Das Gemeinwohl ist nicht vorgegeben; es ist auch nicht das bequeme Resultat eines Parallelogramms der Kräfte. Es muss streitig, in der Konkurrenz der Meinungen, Interessen und Überzeugungen gefunden und durchgesetzt werden.
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Deshalb gehört zum guten Politiker der Mut, Unangenehmes anzupacken, voranzugehen, eine Richtung zu weisen, Initiativen zu ergreifen; der Wille, sich auch gegen Widerstände durchzusetzen; Mut zur Unpopularität statt des ständigen ängstlichen Schielens auf Umfragewerte; der Einsatz für Recht und Gerechtigkeit auch gegen erhebliche Widerstände. Damit kommt die passive Seite politischer Tapferkeit ins Spiel. Sie erweist sich als Zähigkeit, Ausdauer, Geduld. Die menschlichen Verhältnisse sind widerständig, der Kampf um das Bessere kommt an kein Ende, Erfolge und Rückschläge mischen sich. Es gibt die Ausnahmesituation, in der der große Wurf, der kühne Zugriff gefragt ist. Der politische Alltag ist eher gekennzeichnet durch die Mühen der kleinen Schritte, durch beharrliche Überzeugungsarbeit in nicht enden wollenden Gesprächen und Versammlungen; durch Sicherung des Erreichten, durch Ertragen von Kritik. Insofern braucht Politik den Machtmenschen mit dem „dicken Fell“, der nach Max Weber bereit ist, „dicke Bretter“ zu bohren, mit Leidenschaft, aber auch mit Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein. Politik ist kein Machen, sondern immer nur ein Ermöglichen in schwierigen Beziehungen zwischen Großgruppen. Die höchste Beanspruchung politischer Tapferkeit liegt in der Situation des Widerstandes. Darauf sei aber nur hingewiesen, weil es zu weit führen würde, hier die Ethik des Widerstandes zu erörtern.
4. Maß – Mäßigung der Leidenschaften und Ansprüche
Die Tugend des Maßes (temperantia) gilt als die letzte der Kardinaltugenden, weil sie fast nur Individualtugend zu sein scheint; nämlich die Fähigkeit der Person, ihre einander widerstreitenden körperlichen, seelischen, geistigen Antriebe zu ordnen. Aber Maßlosigkeit nimmt durchaus auch soziale Formen an und kann politisch verheerend wirken. Deshalb soll hier auf vier politisch bedeutsame Aspekte der Tugend des Maßes hingewiesen werden. Die Mäßigung im Machtgebrauch wurde oben schon als Forderung kluger Gegenseitigkeit gekennzeichnet. Macht jeder Art enthält für Menschen offenbar die Versuchung, sie fortwährend und bis zum Übermaß zu steigern, sei es aus Eigensucht oder aus Misstrauen und Sicherheitsstreben. Je mehr dieser Versuchung nachgegeben wird, umso mehr wird aber Gegenseitigkeit verhindert, Misstrauen gesteigert, Friede gefährdet. In Klugheit das rechte Maß im Machtgebrauch zu finden, Macht und Gegenmacht durch vertragliche Regelungen in Balance zu halten, ist eine der schwierigsten, aber zugleich wichtigsten politischen Aufgaben. Eine zweite Form politischer Mäßigung ist der maßvolle Umgang mit unseren rechtlich-politischen Institutionen. Bürger, Gruppen, politische Akteure können gegebene Möglichkeiten bis zum Exzess ausreizen; mit Massenklagen die Justiz, mit Streiks zentrale Stellen des öffentlichen Lebens oder notwendige Versorgungseinrichtungen lahm legen; mit exzessiver Nutzung von Geschäftsordnungen Beschlüsse verhindern, die parlamentarische Debatte zum reinen „Schlagabtausch“ verkommen lassen. Man kann den sinnvollen Gebrauch unserer Rechte und Institutionen nicht allein durch Vorschriften sichern. Er muss auch gewollt werden und sich in einem entsprechenden politischen Stil bewähren.
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Den dritten Aspekt liefert uns eine allgemeine Erfahrung. Wo Politik ins Spiel kommt, treten unsere Affekte stärker als sonst hervor. Der Grund liegt darin, dass es in der Politik nicht um reine Sachfragen geht, sondern um uns selbst, um unsere Meinungen, Interessen, Wertungen. Ohne Betroffenheitserfahrung kann man nicht Politik machen. Deshalb ist es aber umso wichtiger, die Leidenschaften auch zu zügeln, statt sie zusätzlich zu mobilisieren. Es gibt zwar den „gerechten Zorn“, aber seine Berechtigung muss aus Klugheit beurteilt werden. Öffentlich gemachte Leidenschaften, massenwirksame Stimmungen können zu einer gewaltigen politischen Macht werden. Es unterscheidet den Staatsmann vom Demagogen, dass er sie nicht mobilisiert, sondern mäßigt und an politische Urteilskraft appelliert. Dasselbe gilt für die Unterscheidung des guten Journalisten vom Agitator. Unsere „Stimmungsdemokratie“ ist in Gefahr, nicht mehr vom urteilsfähigen Bürger, sondern vom desinteressierten, aber affekthaft aufbegehrenden Spießbürger bestimmt zu werden. Schließlich wird angesichts der unüberwindbaren Knappheit unserer Ressourcen und natürlicher Grenzen die Mäßigung unserer Ansprüche im Ge- und Verbrauch materieller Güter heute ein Gebot des Überlebens in freiheitlicher Ordnung. Gewiss darf sich Politik nicht auf den moralischen Appell an die Bürger beschränken, wenn die sozialen Sicherungssysteme oder unsere natürlichen Lebensgrundlagen gefährdet sind. Sie muss vielmehr die gesetzlichen Regeln und Institutionen so gestalten, dass sie uns zum Einhalten von Grenzen nötigen. Aber es gibt nicht die lückenlose Verhinderung von Missbrauch, und die Politik kann nur die Regelungen durchsetzen, die die Menschen zu akzeptieren bereit sind. Deshalb ist Mäßigung unserer Ansprüche heute eine Überlebensfrage. III. Die politische Bedeutung der theologischen Tugenden Die theologischen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe sind nicht, wie eine schlecht politisierende Theologie manchmal meint, die Alternative zu den Kardinaltugenden, sondern ihre christliche Ergänzung und Überhöhung, allerdings auch in kritischer Funktion. Der Glaube sagt dem Christen, dass Gott jeden Menschen als Person mit unverlierbarer Würde geschaffen hat; dass unsere Welt im Argen liegt und nicht mit unseren Kräften allein gut werden kann; dass uns aber in Christus das endgültige Heil zugesagt ist. Politik ist nicht Heilshandeln, nicht die Herstellung einer endgültig guten Ordnung. Vielmehr geht es darum, erträgliche und möglichst gerechte Bedingungen unseres Miteinanders zu gestalten, gerade in unserer Vorläufigkeit. Deshalb bewahrt christlicher Glaube politische Klugheit vor ideologischer Perversion ebenso wie vor falscher Schlauheit und Verschlagenheit. Die christliche Hoffnung bedeutet, dass nicht alles, besonders nicht der letzte Sinn unseres Lebens, von uns abhängt. Im politischen Handeln kann sie die notwendige Tapferkeit zu christlicher Gelassenheit überformen. Sie befähigt uns, alle Kräfte für bessere Verhältnisse einzusetzen, aber auch im Misserfolg und sogar im Scheitern nicht zu verzagen. Die christliche Liebe soll alles politische Denken und Handeln durchdringen und beseelen als Zuwendung zu den Mitmenschen, besonders zu den Schwächeren, gerade auch dort, wo die härteren Notwendigkeiten des Rechtes und seiner Erzwingbarkeit
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durch staatliche Gewalt nicht übersprungen, wo auf das Ausbalancieren von Machtpotenzialen nicht verzichtet werden kann. Christliche Liebe kann sich nicht weltlos verwirklichen; sie kann die strukturellen Bedingungen der geschaffenen und sündig gewordenen Welt nicht aufheben, Gerechtigkeit nicht ersetzen. Aber indem sie sich in diesen Bedingungen bewährt, macht sie diese zugleich erträglicher, menschlicher. Die Liebe ist das Grundmotiv des Kampfes um Gerechtigkeit und übersteigt zugleich die oft unvermeidbare Härte des menschlichen Gesetzes. Es ist eine hohe Kunst und zugleich eine große sittliche Leistung, in christlich motivierter Politik die Motive und Kräfte der christlichen Tugenden in die unabdingbaren Erfordernisse politischen Streitens und Gestaltens wirksam einzuzeichnen. Dazu sind die Kardinaltugenden als Voraussetzungen unentbehrlich.
Literaturverzeichnis Jüsten, Karl: Ethik und Ethos der Demokratie, Paderborn 1999. Mieth, Dietmar: Die neuen Tugenden, Düsseldorf 1984. Pieper, Josef: Das Viergespann, Freiburg i. Br. 1970. Sutor, Bernhard: Politische Ethik, 2. Aufl., Paderborn 1992.
Die Mediengesellschaft und ihre ethischen Herausforderungen Von Wolfgang Bergsdorf
In seiner Botschaft zum 40. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel erinnert Papst Benedikt XVI. an das Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils über die sozialen Kommunikationsmittel „Inter mirifica“, das die Macht der Medien anerkennt, die gesamte menschliche Gesellschaft zu beeinflussen.1 Heute sei es notwendig, „jene Macht im Interesse der gesamten Menschheit zu zügeln“, indem die Medien als ein „Netzwerk begriffen und entwickelt werden müssen, das Kommunikation, Gemeinschaft und Kooperation ermöglicht“2. Die technologischen Fortschritte der Medien hätten Zeit und Raum erobert und Kommunikation zwischen Menschen auch im Falle größerer Entfernungen, zum selben Zeitpunkt und ohne Zeitversetzung unmittelbar möglich gemacht. „Diese Entwicklung“, so sagt Benedikt XVI., „stellt ein enormes Potenzial für den Dienst am Gemeinwohl dar“. „Gleichwohl werden wir täglich daran erinnert, dass die Unmittelbarkeit der Kommunikation nicht notwendig Entwicklung der Zusammenarbeit und Gemeinschaft in der Gesellschaft heißt“3. Er fordert die Medienschaffenden auf, „nicht unter dem Gewicht der Informationsfülle müde zu werden und sich auch nicht mit partiellen oder provisorischen Wahrheiten zufriedenzugeben. Im Gegenteil, es ist notwendig, sich um letzte Begründung und Bedeutung menschlicher, persönlicher und sozialer Existenz zu bemühen und dies zu verbreiten“.4 Er ruft die Medien auf, „Vorkämpfer der Wahrheit und Förderer des Friedens, der daraus folgt, zu sein“ und erinnert an seinen Vorgänger, Johannes Paul II., der für den Dienst der Medien am Gemeinwohl drei Schritte gefordert hatte: Erziehung, Teilhabe und Dialog. „Erziehung zum verantwortungsvollen und kritischen Gebrauch der Medien hilft den Menschen, diese intelligent und angemessen zu benutzen. Die tiefe Wirkung auf den Sinn neuer Worte und Bilder, die besonders die elektronischen Medien so leicht in die Gesellschaft einführen, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Eben weil die zeitgenössischen Medien die Kultur der Menschen prägen, müssen sie ihrerseits jeder Versuchung zur Manipulation, vor allem der Jugend, widerstehen und stattdessen dem Anliegen folgen, zu erziehen und zu dienen. [ . . . ] Teilhabe an den Medien entsteht aus ihrer Natur als ein Gut, das für alle Menschen bestimmt ist, als eine öffentliche Dienstleistung erfordert soziale Kommunikation einen Geist der 1 Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel „Inter mirifica“ in: Peter Hünermann (Hrsg.), Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, Freiburg i. Br. 2004, S. 57 ff. 2 Papst Benedikt XVI., Die Medien – ein Netzwerk für Kommunikation, Gemeinschaft und Kooperation, in: Communicatio Socialis, Heft 2, 39. Jg., 2006, S. 193 ff. 3 A. a. O. 4 A. a. O.
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Zusammenarbeit und Mitverantwortung zusammen mit strenger Verantwortlichkeit im Gebrauch öffentlicher Ressourcen und der Wahrnehmung einer öffentlichen Treuhänderrolle. [ . . . ] Drittens, schließlich, bieten die Förderung des Dialogs durch den Austausch im Lernen, der Ausdruck von Solidarität und der Einsatz für den Frieden eine große Gelegenheit für die Massenmedien, die erkannt und wahrgenommen werden muss. Auf diese Weise werden sie einflussreiche und geschätzte Ressourcen zur Entwicklung der Zivilisation der Liebe, wonach sich alle Völker sehnen.“5
I. Politisches System Die liberale Demokratie Deutschlands ist ein kompliziertes System von Machtbeziehungen zwischen Bürgern, Verbänden, Parteien, Parlament und Regierung. Das parlamentarische Regierungssystem kann nur dann die angeforderte Ordnungsleistung erbringen, wenn es transparent ist. Die Durchsichtigkeit der Machtbeziehungen, der Willens- und Entscheidungsprozesse wird zum immer erneuerungsbedürftigen Legitimationsbeweis des Systems gegenüber den Bürgern. Die Komplementarität von Effizienz und Transparenz ist Voraussetzung seines politischen Erfolgs und seiner Stabilität. Heinrich Oberreuter hat schon vor vielen Jahren pointiert die Gesamtaufgabe des Parlaments als „Legitimation durch Kommunikation“ charakterisiert, denn die Struktur der politischen Willensbildung im parlamentarischen Regierungssystem sei als kommunikativ vermittelte Repräsentation zu verstehen.6 Durch sie werde die parlamentarische und vorparlamentarische Willensbildung verstärkt. Die Kommunikation über politische Inhalte, das Bereitstellen und der Austausch von Informationen über politische Meinungen und Absichten, Ereignisse und Zusammenhänge werden so zu entscheidenden Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit des politischen Systems. Weil das Parlament in der liberalen Demokratie nicht allein die Hauptlast der politischen Integration zu leisten hat, weil den Bürgern und den gesellschaftlichen Organisationen eine Beteiligungschance eingeräumt werden muss, ist die prinzipielle Offenheit politischer Kommunikation Voraussetzung für Integration, für Stabilität wie auch für Legitimität dieses Regierungssystems. Dem im vorletzten Jahr verstorbenen Doyen der deutschen Kommunikationswissenschaftler Otto B. Roegele ist zuzustimmen, wenn er feststellt, das vom Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland postulierte Jedermanns-Recht auf ungehinderten Zutritt zu den Quellen der Information über öffentliche Dinge stelle nichts anderes dar als die konsequente und systemgerechte Anwendung des Selbstbestimmungsprinzips in der Kommunikation.7 Die zunehmende Komplexität des politischen Prozesses (wie Spezialisierung, Arbeitsteilung, wachsende Staatstätigkeit, Bürokratisierung, schwächer werdende Mehrheiten, Globalisierung, terroristische Herausforderungen) stellt an die politische Kommunikationsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems wachsende Ansprüche. A. a. O., S. 195. Heinrich Oberreuter, Kann der Parlamentarismus überleben? Zürich / Osnabrück 1978. 7 Otto B. Roegele, Massenmedien und Regierbarkeit, in: Wilhelm Hennis u. a. (Hrsg.), Regierbarkeit, Band 12, Stuttgart 1979. 5 6
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In der dreifachen Herausforderung durch Sachverstand und Sachzwang, durch organisierte Interessen und durch die militanten Partizipationsforderungen fluider Gruppen kann dieses Regierungssystem seine Legitimation nicht nur formal begründen. Ebenso kann es sich nicht nur durch Beweise seiner gelegentlich auch bezweifelbaren Effizienz darstellen. Es muss seine Legitimation auch kommunikativ ständig unter Beweis stellen, wenn sie nicht ebenso ständig bestritten werden soll. Dies ist nur von einem Massenkommunikationssystem zu leisten, das – spiegelbildlich zur Gesellschaft – pluralistisch organisiert und so offen ist für das politische Gespräch der Gesellschaft über sich und mit sich selbst. Die Medien müssen sich ihrer Funktion für das politische System bewusst werden und dürfen sich nicht als autonomes Zentrum verstehen, das mit dem politischen System konkurriert.8 Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf das Fernsehen: Trotz des neuen Massenmediums Internet ist das Fernsehen das wichtigste Massenkommunikationsmittel, gemessen an seiner Reichweite und an seiner Nutzung. Der Visualisierungszwang des Fernsehens oder – wie Ulrich Hommes ihn genannt hat – der „Zeigezwang“ führt zu einer bevorzugten Darstellung von Ereignissen, auf welche die Kamera gerichtet werden kann. Gefilmt werden können immer nur konkrete Dinge, Ereignisse und Personen. Doch deren jeweilige Bedeutung wird nur verständlich in ihrer Beziehung zu meist abstrakten, unsichtbaren und deshalb nicht zeigbaren Zusammenhängen. Hinzu kommt, dass das Fernsehen bei den zeigbaren Ereignissen deren Oberflächenstruktur bevorzugt. So wird die Politik verkürzt auf das Vorzeigbare, zentriert sich die Information auf die politischen Persönlichkeiten. Claudia Mast hat nachgewiesen, dass es immer nur wenige Politiker sind, die im Fernsehen zu Wort kommen, entweder weil sie hohe Funktionen bekleiden oder weil sie Positionen vertreten, die von der Politik ihrer Parteien abweichen.9 Hinzu kommt: Die Situationen, in denen politische Persönlichkeiten auf dem Bildschirm gezeigt werden, sind nicht beliebig zu erweitern. Deshalb wird das Handeln der politischen Prominenz in wenigen, immer wiederkehrenden Situationstypen wie Staatsbesuchen, Pressekonferenzen, Sitzungsbeginn, Diskussionsrunden gezeigt. Mit dieser Ritualisierung der politischen Situationen und mit der Personalisierung der Politik hat das Fernsehen einen Weg eingeschlagen, der die wirklichen, nicht visualisierbaren Willensbildungs- und vor allem Entscheidungsprozesse ausblendet. Die zunehmende Komplexität und Abstraktion politischer Probleme ist in ihrer Mehrdimensionalität fast nur noch in Ausschüssen und Expertendiskussionen in Parlament und Regierung erkennbar. Für das Fernsehen wird sie unvermittelbar. Ritualisierung und Personalisierung der Politik durch den Visualisierungszwang des Fernsehens gehen Hand in Hand mit den Auswahlkriterien „Verknappung“ und „Aktualität“. Diese Kriterien gelten für alle Massenmedien. Aber das Fernsehen komprimiert sie zu einem engen Filter, den nur solche Informationen passieren, die fähig sind, sich in knappster Verdichtung als neu gegenüber dem Vorhandenen auszuweisen. Nachrichtenfähig sind vor allem Mitteilungen, die eine Veränderung anzeigen. Die Annahme, dass sich die Präferenz des Fernsehens für das Neue allein auf die Nachrich8 9
Heinrich Oberreuter, Übermacht der Medien, Zürich / Osnabrück 1982. Claudia Mast, Politiker im Fernsehen, in: Publizistik, Heft 1, 1977.
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tensendungen im engeren Sinne bezieht, ist unzutreffend; sie gilt für nahezu alle Programmangebote mit Ausnahme der Unterhaltung. Die Dominanz der Aktualität setzt das Vorhandene unter einen Rechtfertigungsdruck; sie bewirkt eine größere Präsentationschance für Krisenporträts wie generell für Signale der Veränderung. Vor allem wirkt das Fernsehen mobilisierend für neue Ideen, Entwicklungen, Produkte und Technologien, die ihrerseits einen hohen Erwartungshorizont entfalten. Aber das Gebot der Aktualität hindert das Fernsehen daran, sich der ebenso wichtigen Demobilisierung zu stellen: nämlich die Grenzen, Kosten, die unerwarteten und langfristigen Folgen von Modernisierungsprozessen aufzuzeigen oder aber die positiven Entwicklungen zunächst negativ bewerteter Ereignisse darzustellen. So beschränken Visualisierungszwang und Präferenz für Neues und Negatives als die spezifischen Produktionsbedingungen des Fernsehens dessen Fähigkeit, Entwicklungen und Zusammenhänge darzustellen. Sie machen die Frage dringlicher, ob die vom Fernsehen geleistete „Reduktion der Komplexität“ – um ein Stichwort von Niklas Luhmann aufzugreifen – zu einer Veränderung der Kommunikationsbedingungen geführt hat, unter denen die politischen Gruppierungen in der liberalen Demokratie um Zustimmungsbereitschaft kämpfen. In das Zentrum der Fragestellung rückt so die politische Urteilsfähigkeit des Bürgers, an die die liberale Demokratie höhere Anforderungen stellen muss als jede andere politische Ordnung. Staatsbürgerliche Erziehung und politische Bildung können bestenfalls Grundlagen schaffen. Die politische Urteilskraft des Bürgers muss sich jedoch schärfen durch die Kommunikation über die laufenden Ereignisse der Politik. Gut informiert zu sein als Voraussetzung politischer Urteilsfähigkeit verlangt nicht nur die Kenntnis politischer Tagesereignisse, sondern vor allem Wissen um politische Zusammenhänge und Entwicklungen. Die Medien überfluten den „Orientierungswaisen“ (Hermann Lübbe) mit einer nicht endenden Fülle von Informationen und Teilinformationen, die bei mangelnder Verarbeitungs- und Einordnungskapazität einen desinformierenden Charakter erhalten können. Der Einzelne wird erdrückt vom Zwang, Stellung zu nehmen, und seiner Unfähigkeit, die Informationsflut zu verarbeiten, um so eine Grundlage für die Stellungnahme zu schaffen. Weil sein Vertrauen in Institutionen geschwächt ist, verliert er die Unterscheidungskraft, Unwesentliches vom Wesentlichen zu trennen, Zufälliges vom Regelmäßigen, Behauptetes vom Tatsächlichen, Meinungen über die Wirklichkeit von der Wirklichkeit selbst. Je mehr der Bürger das Fernsehen als Hauptquelle politischer Informationen benutzt, desto abhängiger wird sein Welt- und Wirklichkeitsverständnis von der durch das Fernsehen vorgeprägten Realität. Gefährdet wird seine Fähigkeit, sich mit der Komplexität des Politischen auseinanderzusetzen, weil das Medium Fernsehen – anders als zum Beispiel die Tageszeitung – Schwierigkeiten hat, komplexe Zusammenhänge darzustellen. II. Mediensystem Für das deutsche Mediensystem ist die Vielzahl der regionalen und lokalen Tageszeitungen kennzeichnend, die überwiegend selbstständig sind und nur teilweise zu Zeitungskonzernen gehören und eine sehr geringe Zahl von überregionalen und national verbreiteten Zeitungen, die nur in zwei Fällen aus Berlin kommen (Die Welt, TAZ),
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ansonsten aus Frankfurt (FAZ), München (SZ), Düsseldorf (Handelsblatt) oder Hamburg (Financial Times Deutschland). Die höchste Auflage erzielt mit 4 Millionen täglich ein Massentabloid, die BILD-Zeitung (Hamburg) mit regionalen Ausgaben in allen Teilen des Landes. Die Gesamtauflage der Tagespresse beträgt 22 Millionen Exemplare (2004).10 Wochenzeitungen wie Die Zeit (Hamburg), Rheinischer Merkur (Bonn) und Wochenmagazine wie Spiegel (Hamburg) und Focus (München) neben einer weiter explodierenden Zahl von Illustrierten und Special Interest Zeitschriften runden das Angebot an Printmedien ab. Das Angebot an Hör- und Fernsehprogrammen ist seit Anfang der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts durch das duale System gekennzeichnet: den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten stehen private Fernsehveranstalter gegenüber. Die Landesrundfunkanstalten haben sich zur Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten in Deutschland (ARD) zusammengeschlossen, die außer ihren Regionalprogrammen ein gemeinsames, national verbreitetes Programm anbieten (Erstes Programm), das seit den 1960er-Jahren durch das Zweite Deutsche Fernsehprogramm (ZDF) ergänzt wird. Daneben gibt es von ARD und ZDF gemeinsam betriebene Programme wie den Kinderkanal (KiKa, Erfurt), den Ereignis- und Dokumentationskanal Phoenix (Bonn), den Kulturkanal 3sat sowie der deutsch-französische Kultursender arte (Straßburg), den ARD und ZDF personell und finanziell zur Hälfte betreiben. Ein Sonderfall ist der Auslandsrundfunk Deutsche Welle (Bonn), der auch ein Fernsehprogramm ausstrahlt. Er wird nicht aus den Rundfunkgebührenaufkommen von insgesamt 7 Milliarden Euro (2004) finanziert, sondern direkt aus dem Bundeshaushalt. Ein Sonderfall ist auch der einzige nationale Hörfunksender DeutschlandRadio mit seinen beiden, bundesweit verbreiteten Programmen Deutschlandfunk (Köln) und DeutschlandRadio Kultur (Berlin). Er partizipiert an den Rundfunkgebühren, ist aber im Gegensatz zu ARD- und ZDF-Programmen völlig werbefrei. Die Werbeeinschaltungen von ARD und ZDF vergrößern den Finanzrahmen der öffentlich-rechtlichen Anstalten um fast 300 Millionen Euro (2004). Gegenüber den öffentlich-rechtlich organisierten und durch Gebühren finanzierten Rundfunkanstalten gibt es etwa ein Dutzend privater Fernsehanbieter, die sich zu großem Teil zu Senderfamilien (RTL, RTL II, SuperRTL, VOX und ProSieben, Sat1) zusammengeschlossen haben. Daneben gibt es Nachrichten-, Sport-, Verkaufssender. Die privaten Fernsehveranstalter erzielen Werbeeinnahmen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro (2004). Dazu kommen hunderte privater Regional- und Hörfunksender. Die privaten und öffentlichen Medienanbieter machen Deutschland zur reichhaltigsten Medienlandschaft in Europa. Das deutsche Mediensystem ist stark public service (Roger Blum) orientiert, weil die Qualitätszeitungen und öffentlich-rechtlichen Hörfunk- und Fernsehprogramme in ihrem programmatischen Selbstverständnis ihre Dienstleistungsfunktion für die Öffentlichkeit in den Vordergrund rücken und nicht private Nützlichkeitserwägungen. Das unterscheidet sie grundsätzlich von jenen Medien, die von zu maximierenden Auflagenhöhen und Einschaltquoten leben. Im internationalen Vergleich genießen Zeitungen in Deutschland einen hohen Stellenwert. Sie gehören oft Verlegerfamilien, die Traditionen fortführen wollen. Der Journalis10 Vgl. für diese und die folgenden Zahlen: Mediaperspektiven – Basisdaten, Daten zur Mediensituation in Deutschland, Frankfurt a. M. 2004.
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mus ist stark professionalisiert, Organe der Selbstkontrolle spielen eine wichtige Rolle. Dem Medienjournalismus, also die intermediale Kritik der Medien an Medien (Stephan Ruß-Mohl), kommt eine wachsende Bedeutung zu.
III. Medienkonsum Während 1970 72 % aller Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland über Fernsehgeräte verfügten, ist die Reichweite bis 2005 auf 89 % im wiedervereinigten Deutschland angestiegen. Ähnliches gilt für den Hörfunk. Auch er erreichte im Jahr 2005 84 % der Haushalte. Klarer Verlierer dieser Entwicklung ist die Tageszeitung. 1970 erreichte sie 70 % aller Haushalte, Höhepunkt der Reichweite von Tageszeitungen war das Jahr 1980 mit 76 %. Danach sank die Reichweite beschleunigt ab und lag 2005 nur noch bei 51 %, während, im gleichen Jahr erstmalig erhoben, das Internet bei 10 % startete. Die Mediennutzung insgesamt lag 2005 bei 600 Minuten pro Tag und Konsument in Deutschland. 1980 waren es 346 Minuten. Mit 221 Minuten wenden die Mediennutzer den größten Teil ihres Mediennutzungsbudgets für den Hörfunk auf, jenem Medium, dessen Nutzung noch andere Aktivitäten zulässt. An zweiter Stelle rangiert das Fernsehen mit 220 Minuten; auch hier werden – wenngleich auch eingeschränkter – noch andere Tätigkeiten gleichzeitig ausgeübt. Die Lektüre der Tageszeitung ist bundesweit auf 28 Minuten gesunken. 1980 waren es noch 38 Minuten. Auf die Lektüre von Zeitschriften und Büchern wurden 2005 zwölf beziehungsweise 25 Minuten verwandt. CDs, Schallplatten, Kassetten, Videos kommen auf 50 Minuten, während die Nutzung des Internet auf 44 Minuten pro Tag und Konsument kommt. Nach diesen Zahlen ist es kein Wunder, dass die Rezipienten die „Entspannung“ an die Spitze aller Nutzungsmotive stellen und das Fernsehen hiervon mit 88 % (gegenüber dem Hörfunk mit 77 %) am stärksten profitiert. Es folgt das „Spaßmotiv“ mit 85 % ebenfalls zugunsten des Fernsehens, beim Hörfunk sind es immerhin noch 72 %. Die Wünsche, „nicht allein zu sein“ und „den Alltag vergessen zu können“, erreichen ebenfalls hohe Werte, jeweils 86 % beim Fernsehen und 75 % beim Hörfunk. Die Zeitungen schneiden bei diesen Nutzungsbedingungen insgesamt deutlich schlechter ab, nur bei den Nutzungsmotiven „Information“, „Denkanstöße erhalten“ und „mitreden können“ nähern sie sich den entsprechenden Daten für die elektronischen Medien. Wenn man in Rechnung stellt, dass das werktägliche Freizeitbudget von 1970 bis 2000 von 375 auf 470 Minuten gewachsen ist, während die Erwerbsarbeit im gleichen Zeitraum von 424 auf 329 Minuten im Durchschnitt gesunken ist, dann kann man ermessen, welche quantitative Bedeutung dem Medienkonsum in unserer Gesellschaft zukommt.
IV. Journalisten Journalisten sind die Verwalter unserer Neugier. Sie wollen und sollen uns über das unterrichten, was Tag für Tag geschieht, in der Politik, mit Relevanz für unser Leben und für unsere Orientierung, in Wirtschaft und Gesellschaft, in Kultur und Wissenschaft und in der regionalen und lokalen Nachbarschaft. Ihren Entscheidungen vertrauen wir die knappste unserer Ressourcen an, unsere Aufmerksamkeit.
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In Deutschland arbeiten 60.000 Journalisten, davon sind 43.000 fest angestellt. Der Beruf des Journalisten ist offen, er ist rechtlich ungeschützt. Artikel 5 GG erlaubt es jedermann, sich als Journalisten zu bezeichnen. Historische Gründe wie das NS-Schriftleiter-Gesetz von 1933 und ähnliche Regelungen in der DDR deuten auf den Mangel an Rechtsschutz für die Bezeichnung Journalist.11 Journalisten sind in der Regel abhängig beschäftigt. Deshalb stellen die jeweiligen Zielvorgaben ihres Arbeitgebers einen wichtigen Einflussfaktor auf ihre Arbeit dar. Dabei lassen sich grob inhaltliche (redaktionelle Tendenzen) und kommerzielle Zielvorgaben unterscheiden. Es kommt im deutschen Journalismus relativ selten zu direkten Einflussnahmen der Geschäftsleitung auf die redaktionellen Inhalte. Die vor allem bei Tageszeitungen zum Teil deutlich ausgeprägten redaktionellen Linien dürften aber dazu führen, dass bereits bei der Personalrekrutierung auf beiden Seiten auch politisch-ideologische Erwägungen eine Rolle spielen und später entsprechende Sozialisationsprozesse stattfinden. Auf einer Sieben-Punkte-Skala sieht nur jeder dritte deutsche Journalist eine Distanz von mehr als einem Skalenpunkt zwischen der eigenen Links-rechts-Einordnung und der seines Mediums. Dies erklärt, warum das sogenannte politisch-publizistische Spektrum, also die Verteilung der wichtigsten Nachrichtenmedien auf einem Links-rechts-Spektrum in Deutschland über Jahre hinweg relativ stabil geblieben ist. Offensichtlich haben die einzelnen Redaktionen inhaltlich relativ viel Freiheit, über ihre Ausrichtung bei konkreten Themen zu entscheiden. Ein zweiter Einflussfaktor auf der Seite der Medieninstitutionen sind deren kommerzielle Interessen. Durch den verschärften Wettbewerb im Mediensektor hat die Bedeutung des wirtschaftlichen Erfolgs als Leitlinie für die journalistische Arbeit zugenommen. Im internationalen Vergleich mit britischen und amerikanischen Journalisten haben zwar die deutschen Journalisten immer noch deutlich geringere Beschränkungen ihrer Arbeit durch wirtschaftliche Erwägungen zu erdulden. Aber auch bei ihnen geraten zwei ökonomische Ziele zunehmend in Konkurrenz zu publizistischen: die Erhöhung der Reichweite durch Bedienung des Publikumsgeschmacks und die Erhöhung des Werbeumsatzes durch Bedienen der Interessen von Anzeigenkunden. Die Ablösung eher inhaltlich-publizistischer Verlegerpersönlichkeiten durch anonyme, rein nach ökonomischen Kriterien geführte Konzerne trägt zu dieser Entwicklung bei. Von den Medien wird einerseits die Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgabe und damit die Auswahl ihrer Inhalte auch nach demokratietheoretischen Erwägungen darüber erwartet, was die Staatsbürger wissen sollten, um sich kompetent eine Meinung zu bilden. Andererseits handelt es sich bei ihnen um überwiegend privatwirtschaftliche Unternehmen, deren Gewinne in der Regel umso größer sind, je mehr Publikum sie erreichen. Damit wird der Publikumsgeschmack zu einem natürlichen Entscheidungskriterium für die Inhalte. Eine Folge dieser Entwicklung ist die zu beobachtende zunehmende „Boulevardisierung“ der Zeitungen, das heißt zum Beispiel die Angleichung von inhaltlichen und formalen Merkmalen der sogenannten „seriösen“ Presse an die Straßenverkaufszeitungen. Ähnliches gilt auch für die öffentlich-rechtlichen Sender, die sich in manchen Programmen den Formaten der privaten Veranstalter annähern. Vor allem bei den Nachrichten haben Journalisten die schwierige Aufgabe, in einem fort Auswahlentscheidungen treffen zu müssen, für die es kaum objektivierbare Kriterien gibt. Bei der Faktenbewertung sind es Wahrheitsentscheidungen, bei der Bedeu11 Wolfgang Donsbach, Artikel „Journalist“, in: Fischer Lexikon Publizistik und Massenkommunikation, Frankfurt a. M. 2003.
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tungszumessung von Fakten sind es Wertentscheidungen und bei Werturteilen Bewertungsentscheidungen. Dies alles geschieht unter Wettbewerb und damit unter Zeitdruck und im Bewusstsein, dass diese Entscheidungen öffentlich sind, also für jedermann erkennbar. Bei ihren Entscheidungen orientieren sie sich an ihren Berufskollegen. Das ist der Grund, weshalb bei Journalisten die Orientierung an der eigenen Berufsgruppe stärker ist als bei anderen Berufsgruppen. Deshalb gehören Journalisten zu den eifrigsten Konsumenten von Medien. Journalistische Leitmedien sind die Magazine Spiegel, Stern, Focus und die überregionalen Tageszeitungen Süddeutsche Zeitung und FAZ. Am häufigsten in anderen Medien werden zitiert Spiegel, Bild, FAZ und Focus. Dies führt dazu, dass die Medien für die Politik zentrale Themen wie die Überdehnung der Sozialsysteme infolge der demographischen Entwicklung jahrzehntelang der öffentlichen Aufmerksamkeit entziehen konnten, obwohl Fachleute schon in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts darauf aufmerksam gemacht haben. Das Rollenverständnis von Journalisten ist auch im internationalen Vergleich ausreichend erforscht, so dass sich belastbare Aussagen treffen lassen. Die Ergebnisse zeigen im Vergleich vor allem mit angelsächsischen Journalisten, dass ihre deutschen Berufskollegen ihr eigenes Rollenverständnis stärker praktisch-partizipativ und advokatorisch definieren. Dies gilt noch einmal stärker für die Journalisten in den neuen Bundesländern, die ihren Beruf als politische Rolle verstehen, hinter die eine um Neutralität bemühte Vermittlerrolle zurückzutreten hat. Wenn auch zu vermuten ist, dass dieser „missionarische Journalismus“ (Renate Köcher) durch die gewachsene Kommerzialisierung der Medien in Deutschland nicht eingedämmt wird, so fallen die Unterschiede doch sehr deutlich aus. So gaben bei einer international vergleichenden Umfrage 21 % der amerikanischen Nachrichten-Journalisten, aber 70 % ihrer deutschen Kollegen an, es sei ihnen an ihrem Beruf sehr oder ziemlich wichtig, sich für bestimmte Werte und Ideen einzusetzen. Aus der gleichen Untersuchung geht hervor, dass sich 70 % der deutschen Journalisten und 87 % der amerikanischen Kollegen dem Neutralitätsmodell verpflichtet fühlen. Hingegen hängen 3 % der amerikanischen, aber 18 % der deutschen Kollegen einem anwaltschaftlichen Berufsethos an.12
V. Ethische Herausforderungen Die Ubiquität und Omnipräsenz der Medien ist der Grund dafür, dass Medien in der heraufkommenden Wissensgesellschaft mehr noch als zuvor als ihr zentrales Nervensystem Geltung beanspruchen können. Die explosionsartige Vervielfältigung der technisch erreichbaren Informationsmöglichkeiten verlangt vom Mediennutzer ein viel größeres Maß an souveräner Entscheidungskompetenz. Aufklärung heute kann deshalb verstanden werden als eine Befreiung von den Fesseln fremdbestimmter Kommunikation. Die Transparenz des Mediensystems und seine Inpflichtnahme durch ethische Mindestnormen sind deshalb die erste Forderung der Rezipienten an die Medienproduzenten. Die technologische Modernisierung der Medien und ihre Globalisierung verschärfen das Spannungsfeld zwischen journalistischer Praxis und den Anforderungen der Medienethik. Jedem, der sich als Konsument oder gar Produzent mit Medieninhalten beschäftigt, drängt sich die Frage auf, ob künftig allein der Markt die Moral definiert, ob allein die 12
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Botschaft, die beim Publikum ankommt – gemessen an Einschaltquote oder Auflagenhöhe – die moralischen Standards der Wissensgesellschaft bestimmen soll. Es geht um die Möglichkeiten und Begrenzungen der Verantwortung der Produzenten von Medienangeboten ebenso wie um den verantwortlichen Umgang mit Medieninhalten bei den Konsumenten. Diese Fragen sind auch deshalb von einer zwingenden Aktualität, weil unsere mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnte langen Erfahrungen mit dem dualen System der Rundfunkordnung in Deutschland Zweifel haben entstehen lassen, ob Markt und Qualität deckungsgleiche Größen sein können. Die explosionsartige Vervielfältigung und die globale Verfügbarkeit des Informations- und Unterhaltungsangebotes und die daraus erwachsene Selektionsnotwendigkeit verschärfen die Frage nach den Entstehungsbedingungen der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Hinter dieser nur scheinbar akademischen Frage verbirgt sich eine ganze Reihe von Problemen, unter denen der Zusammenhang von Gewaltdarstellungen im Fernsehen und Kriminalitätserwartungen des Publikums nur eines ist. Welche konkrete politische Bedeutung diese Frage hat, haben die amerikanischen Kommunikationsforscher George Gerbner und Larry Gross schon vor vielen Jahren in einer interessanten Untersuchung aufgezeigt. In ihrer Studie über Gewaltdarstellungen im Fernsehen und Gewaltvorstellungen des Publikums haben die Forscher herausgefunden, dass Personen, die viel fernsehen (heavy viewers) – täglich mehr als drei Stunden –, etwa zehnmal häufiger Furcht hatten, selbst ein Opfer von Gewalt zu werden, als Zuschauer, die wenig oder gar nicht fernsehen.13 Der Politikwissenschaftler Robert D. Putnam hat diese These von der wirklichkeitsverzerrenden Wirkung eines hohen Fernsehkonsums kürzlich bestätigt gefunden. Mit zunehmender Dauer des Fernsehkonsums nimmt die Bereitschaft zum überindividuellen Engagement, zum Vertrauen in die Institutionen oder Mitmenschen und auch zur Teilnahme an Wahlen ab. Robert D. Putnam behauptet: Je mehr man fernsieht, desto weniger Vertrauen hat man zu Institutionen und Personen. Je mehr man Zeitung liest, desto größer ist das Vertrauen generell.14 Die Medienwirkungsforschung ist eines der umstrittensten Felder der Kommunikationsforschung. Die klassischen Theorien der Medienwirkungsforschung können im Blick auf ihre Kernaussagen so zusammengefasst werden: – Katharsis-Theorie (Seymour Feshbach): Dargestellte Aggressionen leiten stellvertretend die Aggressionen des Zuschauers ab und vermindern deshalb reale Gewalt. – Frustrations-Aggressions-Theorie (Leonard Berkowitz): Ein aggressives Programm kann nur dann aggressives Verhalten auslösen, wenn es auf vorher vorhandene Frustrationen des Zuschauers trifft. – Inhibitionsebene (Seymour Feshbach): Aggressive Darstellungen lösen aggressive Impulse aus, die jedoch durch anerzogene Angst vor Bestrafung zurückgedrängt werden mit der Folge geringerer Gewaltbereitschaft. 13 George Gerbner / Larry Gross u. a., The Mainstreaming of America, Violence Profile, in: Journal of Communication 30 (1980), S. 10 ff. 14 Robert D. Putnam (Hrsg.), Gemeinschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
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– Habitualisierungsthese (Rowell Huesmann, Leonard Eron): Aggressive Darstellungen führen über längere Zeiträume zu größerer tendenzieller Gewaltbereitschaft durch Gewöhnungs- und „Abstumpfungseffekte“. – Lerntheorie (Albert Bandura): Aggressive Fernsehinhalte werden nach dem Muster des Reiz-Reaktions-Schemas ins eigene Verhaltensrepertoire übernommen. Nach weiter entwickelten Ansätzen übernehmen Vielseher bestimmte Verhaltensmuster, die später umgesetzt werden können. – Theorie der „Allgemeinen Erregung“ (Percy H. Tannenbaum, Dolf Zillmann): Ein durch vorangegangene Frustrationen ausgelöster Erregungszustand des Zuschauers wird durch Fernsehkonsum verstärkt oder zumindest aufrechterhalten, dann in Aggressionen uminterpretiert. – Theorie der „Ängstlichen Weltbilder“ (George Gerbner, Jo Groebel): Kumulierte Fernsehgewalt kann zur Verstärkung oder Entwicklung ängstlicher Weltbilder führen, so dass reale Gefahren im Leben vom Zuschauer überschätzt werden. – These der Wirkungslosigkeit (William McGuire): Mediengewalt zieht auf der individuellen Wirkungsebene – außer in pathologischen Einzelfällen – keine reale Gewalt nach sich. Makrowirkungen der Massenmedien werden nicht verneint.
Die Neophilie, die Neugier also, ist – darauf machte Otto B. Roegele15 immer wieder aufmerksam – als anthropologische Grundkonstante das mächtigste Motiv menschlicher Kommunikation. Unter den Lebewesen ist es allein der Mensch, der sich seiner geschichtlichen Herkunft bewusst sein kann und seine Zukunft zu gestalten vermag. Deshalb ist er auf Signale der Stabilität wie der Veränderung seiner Lebenswirklichkeit angewiesen. In den modernen Großgesellschaften fällt den Medien die Aufgabe zu, die Bürger über das zu unterrichten, was für ihre Meinungsbildung von Belang sein könnte. Journalismus ist in allererster Linie Vermittlertätigkeit, und seine Aufgabe ist insofern eine öffentliche Aufgabe. Seine professionellen Privilegien wie zum Beispiel Quellenschutz, Auskunftsrechte sind treuhänderisch wahrgenommene Vorrechte. Journalisten haben deswegen eine größere Verantwortung für die Inhalte ihrer Botschaften als die Partner der persönlichen Kommunikation, weil sie im Netzwerk des Massenkommunikationssystems Schlüsselpositionen innehaben. Der journalistische Beruf ist auf die Vermittlungsleistung spezialisiert. Er muss seinen Ehrgeiz darin sehen, Information, Orientierung und öffentliche Debatte im Vorfeld der Entscheidung ebenso wie danach zustande zu bringen. Je komplexer die Wirklichkeit, desto stärker ist der Konsument von Medienbotschaften darauf angewiesen, dass die Verwaltung seiner Neugier durch die Medien in den Bereichen funktioniert, die sich seiner unmittelbaren Beurteilungsfähigkeit entziehen. Das ist der Grund dafür, dass die Wähler in der Kommunalpolitik häufiger und schneller für Überraschungen sorgen, indem sie auf Fehlleistungen der Verwaltungen reagieren. Die wichtigste Verpflichtung des Journalisten muss daher sein Bemühen um Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Mitteilungen sein. Weil die Lebenszeit des Menschen begrenzt ist, ergibt sich als zwingende Verpflichtung des Journalisten die Trennung von Belangvollem und Belanglosem, gegen die gerade in unserer postmodernen Zeit der Beliebigkeit so häufig verstoßen wird. 15 Otto B. Roegele, Verantwortung des Journalisten, in: Peter Schiwy / Walter J. Schütz (Hrsg.), Medienrecht, Neuwied 1990, S. 337.
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In seinen Reflektionen über journalistische Kardinaltugenden schreibt Wolf Schneider, langjähriger Leiter der Hamburger Journalistenschule und zuvor Leitender Redakteur der Illustrierten Stern, seinen Schülern und Kollegen ins Stammbuch: „Es sind vor allem diese hauptberuflichen Skandaljäger, die sich gern zur vierten Gewalt stilisieren; sie sitzen zumal beim Spiegel, beim Stern, bei der TAZ und bei den politischen Fernsehmagazinen. Dem Bürger das Optimum an Information zu liefern, betrachten sie eben nicht als ihre zentrale Aufgabe. Sie sind es, die das nicht wollen, was die meisten ihrer Kollegen nicht können: sauber informieren. Worin zeigt sich solches Unvermögen zur klaren Information? Was fehlt der Mehrzahl der Journalisten – denen also, die sich nicht als vierte Gewalt, nicht als Skandaljäger oder Weltverbesserer verstehen und insofern den Dienst am Bürger doch leisten können sollten? Es fehlt ihnen vor allem an fünferlei: Sachkenntnis, Weltkenntnis, Mißtrauen, Rückgrat – und an der Liebe zu ihren Lesern oder Hörern.“16 Die ersten vier Stichworte erklären sich von selbst, denn sie sind die auf den Journalismus bezogenen Adaptionen der christlichen Kardinaltugenden Klugheit, Mäßigkeit, Tapferkeit und Gerechtigkeit. Nur die fünfte der Schneiderschen journalistischen Kardinaltugenden, die Liebe zum Leser, Hörer und Zuschauer bedarf einiger Worte der Kommentierung. Sie wendet sich gegen die Gleichgültigkeit der Journalisten gegenüber dem begrenzten Aufnahmevermögen des Publikums. In Missachtung des Rezipienten durch Journalisten, die Schneider vor allem an einer unverständlichen oder komplizierten Sprache festmacht, erkennt er die journalistische Ursünde des Hochmuts genauso wie in der angemaßten Missionarsrolle sowie im eifrigen Kommentieren ohne Sachkenntnis. Er verlangt für journalistische Texte schlichteste verfügbare Wörter in durchsichtig gebauten Sätzen. Er meint: „Ein Journalist, der gelesen werden und auch insoweit seine Informationspflicht erfüllen will, sollte entweder schreiben wie Luther oder Brecht, das heißt einfach und prall oder wie Lessing, Lichtenberg oder Büchner, das heißt brillant und transparent zugleich.“17 Natürlich weiß auch Wolf Schneider, dass diese Ziele im journalistischen Alltag nicht zu erreichen sind, aber das Streben danach, jedenfalls das Bemühen um Klarheit und Transparenz sollte dem Journalismus nicht abhanden kommen. Die christlichen Kardinaltugenden oder auch ihre auf den Journalismus bezogenen Adaptionen bieten Instrumente, um die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist, und diese Sicht auch kommunikativ durchzusetzen. Wahrheit schwebt ja nicht irgendwo, Wahrheit ist das Sich-Zeigen und Erkennen von Wirklichkeit. Josef Pieper lehrt „[ . . . ] aus der so ergriffenen Wahrheit leben und wirken – darin liegt das Gute des Menschen, darin besteht sinnvolles menschliches Leben. Jeder, der als Mensch zu leben begehrt, ist auf Nahrung der Wahrheit angewiesen. Auch die Gesellschaft lebt – und das geht ja unmittelbar Publizisten an – von der öffentlich präsent gemachten und präsent gehaltenen Wahrheit.“18 Die Präsenz der Wahrheit wird nur durch die Ordnung der Sprache (Josef Pieper) ermöglicht. Mit Ordnung der Sprache ist nicht primär ihre formale Perfektion gemeint. 16 Wolf Schneider, Über journalistische Kardinaltugenden, in: Bertelsmann Briefe, Juni 1995, S. 50 ff. 17 Ebd., S. 53. 18 Josef Pieper, Berufsethos des christlichen Publizisten, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Münster 1995, S. 19.
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Vielmehr soll diese Formulierung die Notwendigkeit hervorheben, so zu sprechen und zu schreiben, dass die Wirklichkeit möglichst unentstellt und möglichst unverkürzt zu Wort kommt. Wir benötigen keine neue Ethik für die Mediengesellschaft, sondern eine Rückbesinnung auf die ins Journalistische gewendeten Kardinaltugenden, die nichts anderes darstellen als lebenspraktisch bewährte Grundforderungen für einen zivilen Umgang der Menschen auch im 21. Jahrhundert.
Literaturverzeichnis Altendorfer, Otto: Das Mediensystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2001. Bergsdorf, Wolfgang: Die Vierte Gewalt. Einführung in die politische Massenkommunikation, 2. Auflage, Mainz 1982. – Medienmacht in der Demokratie (Kirche und Gesellschaft, Heft 324), Köln 2005. – Herausforderungen der Wissensgesellschaft, München 2006. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Medien in der Bundesrepublik Deutschland, BTDrucksache 13 / 10650 (18. 05. 1998). Böckelmann, Frank unter Mitarbeit von Mahle, Walther A. und Macher, Gerd: Hörfunk in Deutschland: Rahmenbedingungen und Wettbewerbssituation – Bestandsaufnahme 2006, München 2006. Eichhorn, Wolfgang / Pauler, Karl (Hrsg.): Medien, Politik, Kommunikation. Festschrift für HeinzWerner Stuiber und Heinz Pürer, München 2006. Hüffel, Clemens: Die Medienlandschaft in Deutschland und Österreich: Zahlen, Daten, Fakten, Wien 2001. Mai, Manfred: Medienpolitik in der Informationsgesellschaft, Wiesbaden 2005. Meyn, Hermann unter Mitarbeit von Chill, Hanni: Massenmedien in Deutschland, hrsg. von der Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit Berlin, Konstanz 2004. Weischenberg, Siegfried u. a.: Die Souffleure der Mediengesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland, Konstanz 2006. Wilke, Jürgen: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte: Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln 2000.
Totalitarismus, Extremismus, Radikalismus Von Manfred Funke
Die Sinnverwandtschaft der drei Begriffe erfordert jeweils besondere definitorische Sorgfalt. Denn in ihren Gehaltsanalysen verbinden sich unabdingbar Sachverhalt und Wertungslogik. Das Urteil enthält ebenso den Zeitkern der Betrachtung wie deren empirische und erkenntnistheoretische Prämissen. Oft sagt die Aggregation von Zielen, Rechtfertigung und Instrumenten wenig aus über die spezifische Intensität der Herrschaftsgestaltung politischer Religion. Sie markiert die Trennlinie zwischen Demokratie und Diktatur. Alle drei Begriffe sind deshalb unverzichtbar als Abbild der Gefährdungs- und Selbstgefährdungspotentiale freiheitlicher Demokratie. Die „totalitäre Erfahrung“ (Karl Dietrich Bracher) im 20. Jahrhundert als dem „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) ist dafür ebenso Beleg wie der „neue Totalitarismus im fanatischen Islamismus“ (Bassam Tibi) neben den nach Zweckmäßigkeit elastischen Regimen der Intoleranz (China, Nordkorea) und der Clan-Despotien in der Dritten Welt. Das Verbot eines kommunikativen Pluralismus und der Herrschaftskontrolle durch freie Wahlen infolge aufgehobener Gewaltenteilung sind die verbindenden Kennzeichen für Macht monopolisierende Staatsdoktrinen. Aus der Perspektive des bedrohten Liberalismus bilden sie untereinander verwandte Gegner.
I. Totalitarismus Ideengeschichtlich begegnet uns in der Totalitarismusforschung ein Verfahren zur Ermittlung gemeinsamer Herrschaftsmerkmale von Sowjet-Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Als vorrangig europäisch bestimmter Begriff markiert Totalitarismus den Wandel von Kabinetts- und Volkskriegen zum blutigsten Kampf der Weltanschauungen nach 1917 unter Zerstörung tradierter zivilisatorischer Maßstäbe, humanitärer Standards und christlicher Lebenskultur. Diese Vernichtungsdynamik resultierte aus den tiefen geistigen und materiellen Krisen Europas nach Ende des Ersten Weltkriegs. Die Pariser Friedensverträge ohne Friedens-Räson, der mit den neuen Staaten aufwuchernde Nationalismus, Weltwirtschaftskrise und Inflationen entwurzelten die Wertegewissheit Europas. Die Zerrüttung der sozialen Schichtungen, die Entsicherung des öffentlichen Lebens, die Heraufkunft des Zeitalters der Massen machten misstrauisch gegenüber Vernunft, Maß und Kompromiss als Konfliktregulative. Nationale Interessendurchsetzung kraft eigener Macht statt propagierter Vertragskultur und die neue Faszination der Gewalt als des offenbar letzten Vertrauensgrundes für die eigene Sache machten empfänglich für die neuen Ideologien der großen Vereinfachung in der Sinngebung des Lebens. Aus den Schlagwörtern Bolschewismus, Faschismus, Nationalsozialismus erwuchsen Machtansprüche mit universalistischer Strahlung. Im Europa der
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dreißiger Jahre standen die Demokratien in der Defensive.1 Besonders Sowjetsystem und Faschismus wurden zum Teleskopbegriff mit weitgefächertem Streuwinkel für internationalen Klassenkampf und nationalistische Kontraktionen in autoritären Diktaturen.2 1. Sowjetsystem
Wie sehr „totalitär“ die Deckungslücken von Theorie und Praxis an der geometrischen Figur des totalen Staats verdeutlicht, offenbarten von Anbeginn die Handlungsfelder der sowjetischen Herrschaft. Die Revolution von 1917 als „Geburt aus dem Krieg“ (Lenin) wurde zum säkularen Experiment für die von Lenin und Stalin willkürlich adaptierte Lehre vom Klassenkampf als Schaffensprozess für einen Neuen Menschen in einer befriedeten Welt. Diese Selbstermächtigung, zur Abschaffung der Gewalt durch Gewalt über Leichen gehen zu dürfen, blieb autonomes Privileg während der gesamten sozialistischen Epoche. „Das vollkommene Gemeinwohl der Zukunftsgesellschaft liefert dem sozialistischen Staat die Rechtfertigung, das nur unvollkommen realisierbare Gemeinwohl der lebenden Gesellschaft schlechthin auszublenden und parteilich für die Interessen der progressiven Klasse wider jene des Klassenfeindes zu optieren.“3 „Unser großes Ziel“, erinnert sich Lew Kopelew, „war der Sieg des Weltkommunismus; um seinetwillen kann und muss man lügen, rauben, Hunderttausende, ja Millionen von Menschen vernichten.“4 André Glucksmann, einst Anhänger Maos und Kultfigur der proletarischen Linken in Frankreich, bedauerte später: „Ich hatte mich mit dem Mörder von Millionen Menschen verbündet.“5 Das Missionsziel hatte Marx vorgegeben. Für ihn war der Mensch „die Totalität, die ideale Totalität, das subjektive Dasein der gedachten und empfundenen Gesellschaft für sich . . .“6 Die Radikalität der Vision veranschaulichte Trotzki, indem er einen höheren biologischen Typus verhieß, „so dass der Durchschnitt der Menschheit sich zu dem Niveau eines Aristoteles, Goethe oder Marx erheben werde.“7 Die Zugriffsgewalt auf den Einzelnen war absolut. Walter Benjamin notierte 1926 in Moskau: „Kommunist in einem Staate zu sein, wo das Proletariat herrscht, bedeutet die völlige Preisgabe der privaten Unabhängigkeit. Man tritt die Aufgabe, das eigene Leben zu organisieren, sozusagen an die Partei ab.“8 Das Scheitern der Planwirtschaft, Hungersnöte, BürokratenWillkür, Schauprozesse, Säuberungen aufgrund von Feindvermutung kostete Abermillionen Menschen das Leben.9 Wenngleich sich der Bolschewismus in Moskau als 1 Vgl. Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000; Gerhard Besier, Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006. 2 Vgl. Arnd Bauernkämper, Der Faschismus in Europa 1918 – 1945, Stuttgart 2006. 3 Josef Isensee, Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 3. Aufl. Heidelberg 2006, S. 76. 4 Lew Kopelew, Aufbewahren für alle Zeit, Hamburg 1976, S. 49f. und S. 477. 5 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. September 2006. 6 Karl Marx, Privateigentum und Kommunismus, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Schriften bis 1844. Ergänzungsband 1. Teil, Berlin 1968, S. 539. 7 Zit. nach Ernst Nolte, Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert, 2. Aufl., Berlin 1992, S. 206. 8 Zit. nach Hartmut Scheible, Rot und Schön ist das gleiche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Oktober 2006, S. 41. 9 Siehe die Belege bei Stéphane Courtois oder Tomasz Kizny (vgl. Literaturverzeichnis).
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Befehlszentrum des universalistischen Klassenkampfes organisierte, misslang dessen siegreicher Export nach Westen. Die rote Revolution wurde letztlich in den Demokratien amalgamiert oder traf auf die faschistische Gegenfront. Ideologie-Expansion setzte größere Macht voraus, die ab 1923 im Ausbau des Sozialismus in einem Land erreicht werden sollte. Die Widerstände zwangen zur taktischen Koexistenz; bis hin zum HitlerStalin-Pakt 1939. Eine Vernebelung des totalitären Stalinismus während der Kriegsallianz gegen Deutschland wurde zunächst über den 8. Mai 1945 fortgesetzt. Man schien Stalin „ein Demokratiezeugnis“ auszustellen, „so als ob der Antifaschismus, eine rein negative Bestimmung, als Garant für die Freiheit genügen würde.“10 Erst im Kalten Krieg wurde der Bolschewismus in die Totalitarismuslehre einbezogen (Hannah Arendt, Zbigniew Brzezinski, Carl J. Friedrich). Sie wurde besonders von der Führung der DDR als klerikalfaschistische Abendland-Ideologie bekämpft. Die Ostblock-Dogmatik erhielt eine höhere Dignität zugesprochen. Erst nach Auflösung der DDR wurde die Totalitarismus-Theorie als Sonde für die Komplexität des Überwachungsstaates und der Wahrnehmung der Bundesrepublik Deutschland als Klassenfeind restituiert.11 Die Massenverbrechen wurden besonders von nicht wenigen westlichen Intellektuellen als Notmaßnahmen einer aufgezwungenen befristeten Despotie sozialistischer Vernunft relativiert, bzw. in der Phase der Entspannung des Ost-West-Konflikts zuweilen tabuisiert, während die faschistischen Verbrechen um so stärker angeprangert wurden. Unzulässig war, was Waldemar Gurian bereits 1931 in seinem Werk ,Der Bolschewismus. Einführung in Geschichte und Lehre‘ konstatiert hatte: „Der faschistische Staat ist lange nicht so total wie der bolschewistische“ (S. VII). Aus dem Vergleich der „antagonistischen Großtotalitarismen“ fällt nach Eckhard Jesse sogar der Italo-Faschismus heraus, obgleich er der Ursprungsort des Begriffs „totalitärer Staat“ ist.12 2. Faschismus
Der Faschismus stieg als Alternative zum Liberalismus und Kommunismus nach dem Kulturbruch 1917 / 18 empor. „Der Faschismus ist aus einer antikommunistischen Reaktion entstanden. Der Kommunismus verdankt seine verlängerte Lebensdauer dem Antifaschismus.“13 Eric Hobsbawm ergänzt: „Der Aufstieg der radikalen Rechten nach dem Ersten Weltkrieg war zweifellos eine Antwort auf die Gefahr – und in der Tat auch auf die Realität – einer mächtigen sozialen Revolution und einer starken Arbeiterklasse und besonders auf die Oktoberrevolution und den Leninismus. Ohne diese hätte es keinen Faschismus gegeben.“14 Später erwies sich diese neue Ideologie als ein simultan verwendbarer Kampfbegriff gegen westlichen „Kapitalismus, Imperialismus, Bourgeoisie“. 10 François Furet, in: Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917 – 1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, 5. Aufl., München 1997, S. 549. 11 Vgl. Michael Roik, Die DKP und die demokratischen Parteien 1968 – 1984, Paderborn 2006. Vgl. zum Gesamtkomplex Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, 18 Teilbände, Baden-Baden 1995. 12 In: Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998. 13 François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1995, S. 39. 14 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München 1994, S. 162.
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Zunächst etablierte sich der Faschismus in Italien. Er leitet sich begrifflich her vom italienischen Fascio (das Rutenbündel als Autoritätszeichen des altrömischen Magistrates), die Nation als geschlossene Kampfgruppe heroisierend. Den Begriff verbreiteten die 1919 gegründeten fasci di combattimento, die unter mächtigen Regionalführern vor allem in Oberitalien Revolten linker Arbeiter- und Bauernbewegungen niederschlugen und sich den bedrängten alten Eliten als neue Ordnungsmacht empfahlen. Unter Führung Benito Mussolinis schlossen sich 1923 Nationalisten und Faschisten im Partito Nazionale Fascista zusammen. Mit der Androhung eines Bürgerkrieges (Marsch auf Rom im Oktober 1922) hatte Mussolini dem König das Amt des Regierungschefs abgetrotzt. Die Eroberung der Straße durch Gewalt, der Sturm auf die Rathäuser, die brutale Verfolgung der Linken formierten sich zum faschistischen Syndikat aus Antikommunismus, Antiliberalismus, Antikapitalismus, aus Verachtung bürgerlicher Friedsamkeit. Die Propaganda der Tat, altrömischer Mythos, modernste Technik und Verschmelzung der Klassen zum Leistungsadel für die soldatisch gedrillte Nation bildeten weitere Kernkomponenten. Dieses Regime bezeichnete der Mussolini-Gegner Giovanni Amendola als ganz neuartiges „sistema totalitario“ (Il Mondo, 12. Mai 1923). Der Duce usurpierte den Begriff seines Kritikers offiziell für die Faschismus-Doktrin von 1932: „Für den Faschismus befindet sich alles innerhalb des Staates, und nichts Politisches oder Geistiges existiert – oder besitzt irgendeinen Wert – außerhalb des Staates. In diesem Sinne ist der Faschismus totalitär.“ Sieben Jahre zuvor war der Duce auf dem Höhepunkt der Matteotti-Krise zum Gegenangriff angetreten: „Jawohl, wir sind totalitär! Wir wollen es sein vom Morgen bis zum Abend, ohne abweichenden Gedanken. . . Wir wollen tyrannisch sein.“15 Als Stufe zwischen autoritärer und totaler Herrschaft blieb der totalitäre Faschismus an der Macht eher eine Diktatur revolutionärer Traditionalität. Dies zumindest beim Vergleich mit Adolf Hitlers Despotie. Im Faschismus sollte die Wiedererstehung des imperium romanum erreicht werden durch Militarisierung des zivilen Geistes („Glauben, Gehorchen, Kämpfen“) sowie durch Erringung einer kolonialen Vormachtstellung im Mittelmeerraum (Mare nostro, Eroberung Abessiniens 1935 / 36). Trotz vielfacher Kopien in autoritären Systemen, trotz mancher Parallelen zum NS-System blieb der Faschismus als Herrschaftspraxis an den „sacro egoismo“ gebunden. Dies galt selbst für die im November 1936 proklamierte „Achse“ Berlin-Rom. Man ging gemeinsam getrennte Wege, wie sich zuletzt im Austritt Italiens 1943 aus der Kriegsallianz und der Verhaftung des „Duce“ zuvor bewies. Nach Befreiung durch eine deutsche Spezialeinheit kehrte Mussolini als Chef eines norditalienischen Rumpfstaates (Repubblica Sociale Italiana) zu sozialistischen Prinzipien des frühen Faschismus (Verstaatlichung der Großindustrie, Konsenspolitik mit der Arbeiterschaft) zurück. Mit dem Sieg der Alliierten, der Resistenza und der deutschen Kapitulation endete das Regime des Duce im April 1945. 3. Nationalsozialismus
Eine ideologische Achse zwischen Faschismus und Nationalsozialismus bestand primär in der Feindschaft zum Kommunismus, für dessen Herrschaftsinstrumente und finalen Rigorismus Ernst Nolte eine „feindliche Nähe“ feststellt: „Faschismus ist Anti15 Zu beiden Zitaten vgl. Jens Petersen, Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in Italien, in: Manfred Funke (Hrsg.), Totalitarismus. Ein Studien-Reader zur Herrschaftsanalyse moderner Diktaturen, Düsseldorf 1978, S. 105 ff., bes. S. 109.
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marxismus, der den Gegner durch die Ausbildung einer radikal entgegengesetzten und doch benachbarten Ideologie und die Anwendung von nahezu identischen und doch charakteristisch umgeprägten Methoden zu vernichten trachtet, stets aber im undurchbrechbaren Rahmen nationaler Selbstbehauptung und Autonomie.“16 Deren unterschiedliche Erscheinungsbilder in den Ideologemen von Rassismus und Expansionismus, von Weltmacht- und Großmachtstreben erlauben keine kollektionierende Faschismusdoktrin als Oberbegriff für den Nationalsozialismus als deutschen Faschismus aus dem Geist des „Antikapitalismus“, wie er mit dem Feindbild der bürgerlichen Lebenswelt seit Ende der sechziger Jahre vom „Antifaschismus“ stigmatisiert wurde. Die beliebig probate Umwertung des historischen Faschismus in politischen Tageskampf beachtet dessen „begriffliche und inhaltliche Bestimmung in keiner Weise.“17 Ohne randscharfe Deckung von Theorie und Praxis kristallisiert der dreigliedrige Totalitarismus gleichwohl das Anspruchsmonopol, Staat, Gesellschaft, Individuen als gleichrangige, rechtsschutzwürdige Konkurrenzverhältnisse aufzuheben und mit allen Mitteln einem absoluten Dogma zu unterstellen. Die Komplexität ihrer Herrschaftspraktiken und Endziele reduzierend, bleibt totalitäre Herrschaft substantiell bestimmbar durch kompromisslos erstrebte Fusion öffentlicher und privater Existenz. Normen- und Maßnahmestaat beanspruchen identische Autorität. Der Wohlverhaltens- und Konformitätsdruck kassieren jedes Recht auf Distanz zum System. Das Gewissen ist öffentlich. Christentum und Aufklärung sind als geistige Reservate verboten bzw. aus taktischen Gründen bis auf weiteres geduldet. Politische Führung ist nicht justiziabel. Richter sind Delegierte der einzig zugelassenen Massenpartei und deren Führer. Parlamente und Parteitage bleiben von oben installierte Akklamationsorgane. Die Dauererregung der Massen wird durch gewaltige Demonstrationen ritualisierter Allmacht, durch Masse und Mensch verschmelzende Kundgebungen zur permanenten Kampfstimmung manipuliert. Zwang, Gehorsam, Folgsamkeit gründen auf einen absolut gesetzten Feind ebenso wie auf den Mythos innerster Geschlossenheit. „Alles ist obligatorisch, was nicht verboten ist“ (Curzio Malaparte). Gehorsam und Einwilligung stiften Utopismus, Massenspektakel und Feindbedürfnis. „Es ist unmöglich, ein totalitäres Regime ohne Verfolgung aufrechtzuerhalten.“ 18 Totalitäre Herrschaftstechniken bilden Terror, Propaganda, Geheimpolizei, Medienund Waffenmonopol. Druck und Verfolgung von Kritikern werden gerechtfertigt durch die Doktrin vom Neuen Menschen, für den aufgrund des noch allgemein unzulänglichen revolutionären Bewusstseins eine Revolutionselite vormundschaftlich agitiert. Sie formiert die zeitlich unterminierte Erziehungsdiktatur. Über deren Dauer, Qualität und Modifikation bestimmt die oberste Hierarchie (Führer, Nomenklatura) des Kommandostaates. Sie steht im Dienst einer national-imperialistischen (rassistischen) bzw. universalistischen Herrschaftsidee. Auf sie werden revolutionäre Bewusstseinsbildung und organisierte Wirtschaftsabläufe zentriert, wenngleich mit unterschiedlichen Tiefen des Kulturbruchs. Gab es mit der russischen Oktoberrevolution einen radikalen Elitentausch, transformierte sich dieser Klassenkampf im Faschismus und in der NS-Diktatur Ernst Nolte, Der kausale Nexus, München 2002, S. 219. Karl Dietrich Bracher, Der Faschismus, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 8, Mannheim 1973. 18 Arnold Brecht, Die Grundlagen politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Tübingen 1976, S. 535. 16 17
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als regimepflichtiger Leistungswettbewerb der Funktionseliten in Partei, Staat und Wirtschaft (sektorale Polykratie). Nach rassenpolitischer Filterung und Aussonderung „national unzuverlässiger Elemente“ kooptierte das NS-Regime vielfach bis 1938 / 39 und großenteils darüber hinaus die vorhandenen Strukturen (Beamtentum, Militär, Diplomatie) unter flexibler Einflechtung des Wirtschaftsgefüges. Sowjetsystem, Mussolini-Faschismus und Hitler-Diktatur errichteten ein ökonomisches Korporationsgefüge, doch zeigt gerade ein Vergleich der Wirtschaft den Spreizcharakter des Totalitären. Die parteikontrollierte Planwirtschaft der UdSSR wich von der durchstaatlichten Privatwirtschaft Deutschlands erheblich ab. Solange letztere Hitlers Forderung nach Sicherstellung der Ernährung und Rüstungsvorgaben („Vierjahresplan“, 1936) erfüllte, blieben die Produzenten zumeist Firmeneigner, wenngleich parteikontrolliert durch die Abhängigkeit von Rohstoff- und Devisenzuteilung und unter Konkurrenzdruck der neuen Staatsbetriebe. Während die religiösen Traditionen von der „neuen Kirche“ (Lenin) des Sowjetsystems zermalmt wurden, erlaubte Hitler die Fortexistenz des Christentums, wenn sich ihre Vertreter nicht öffentlich kritisch äußerten. Um die für seine Expansionsziele notwendige innere Geschlossenheit nicht zu gefährden, bediente sich Hitler sogar religiöser Sprache zur Stärkung der Einheitsmystik. Bei seiner Nürnberger Rede am 11. September 1936 benutzte Hitler über fünfzig eindeutig religiöse Vokabeln. Hitler entlehnte dem Christentum Liturgie, Ritus, Inbrunst, ohne den Gott der Liebe, Erlösung und Barmherzigkeit zu bekennen. Laut den GoebbelsTagebüchern stand die große Abrechnung mit den Kirchen nach dem siegreichen Kriegsende bevor. Bis dahin sollten taktische Arrangements das Neuheidentum vernebeln. Die Rassenfront hingegen wurde zielstrebig über die Phasen der Auswanderung und Aussiedlung zur Ausrottung ausgebaut. Dieser Prozess zeigte sich komplementär zur Expansionspolitik. Schon in „Mein Kampf“ unterstellte Hitler das Reich der Maxime „Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein“. „Unser Hauptziel“, so Hitler in seinem Herrschaftsentwurf weiter, „bleibt die Umgestaltung der Ostgrenze. Es kommt nur eine totale Lösung in Frage.“ . . . „Und das Ende der Judenherrschaft in Russland wird auch das Ende Russlands als Staat sein.“ Bei der Offensive gegen Polen äußerte Hitler gegenüber Göring, stets sein Leben lang „va banque“ gespielt zu haben. Nur konsequent war deshalb Hitlers Bemerkung am 27. Januar 1942: „Wenn das deutsche Volk nicht bereit ist, für seine Selbsterhaltung sich einzusetzen, ganz gut: Dann soll es verschwinden.“19 Hinter solcher diabolischen Konsequenz bleibt indes die Frage, warum erst nach der Katastrophe von Stalingrad die Ressourcen für den „totalen Krieg“ (Goebbels am 18. Januar 1943 im Berliner Sportpalast) mobilisiert wurden. „Im Reich hatte sich das zivile Leben bis dahin weitgehend normal gestaltet – vom Luftkrieg und vorsichtiger Rationierung abgesehen.“20 Anders verhielt es sich im Italo-Faschismus. Nach den Lateranverträgen (1929) mit dem Vatikan erklärte Mussolini die katholische Kirche zum zweiten Standbein des Faschismus. Besonders Italiens Eroberungskrieg gegen Abessinien (Oktober 1935 bis Mai 1936) wurde von der Geistlichkeit unterstützt. Die für die afrikanische Kolonie verfügte Apartheid-Doktrin mündete 1938 in Rassegesetzen mit einer neuen antijüdischen Stoßrichtung. Die Drangsalierung der etwa 45.000 jüdischen Italiener bewirkte 19 Vgl. zum Gesamtkomplex Manfred Funke, Großmachtpolitik und Weltmachtstreben, in: Ploetz, Das Dritte Reich, Freiburg / Würzburg 1983, Neuauflage München 2007. 20 Imanuel Geiss, Geschichte griffbereit, Bd. 4, Gütersloh 2002, S. 1011.
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eine starke Emigration, darunter die Nobelpreisträger Enrico Fermi (1938) und Emilio Ségré (1959). Diese biologische Volkstumspflege war nicht identisch mit dem rassistischen Vernichtungskampf Hitlers. Nach Forschungen Mario Toscanos soll bis Juli 1943 kein Jude in Italien getötet worden sein.21 Der Nationalsozialismus als Sammelbecken von völkisch-rassistischen Mythen, Antikommunismus, Antisemitismus, Antiliberalismus stellte die Nation als Schicksalsgemeinschaft blutlicher Auslese unter den Imperativ: „Krieg ist das unabänderliche Gesetz des ganzen Lebens.“ Dieses Prinzip Hitlers, der sich 1921 als Führer der NSDAP durchgesetzt hatte, bedeutete Kampf gegen die Weimarer Republik und den sogenannten Versailler Schandvertrag. Als die Republik sich 1930 / 33 im Parteienegoismus, Massenelend und rechts- wie linksextremer Agitation auflöste, berief der greise Reichspräsident von Hindenburg Hitler als Führer der größten Massenpartei NSDAP (vor SPD und KPD) zum Reichskanzler. Dieser nutzte das Machtvakuum zur Überrumpelung aller Institutionen mit der Begründung des Staatsnotstands. Obgleich nur auf vier Jahre zum Regierungschef berufen, usurpierte Hitler mit dem Tod Hindenburgs am 2. August 1934 die Spitze des Reiches. Während Hitlers Herrschaft absolut war, blieb die Mussolinis im Grunde prekär. Die Spitze des Staates hatten der König und der Duce gemeinsam inne. Dieses Duopol wurde ergänzt durch den Faschistischen Großrat, der im Juli 1943 Mussolini per Mehrheitsbeschluss zwang, den Oberbefehl an den König zurückzugeben, worauf die Verhaftung des Duce erfolgte. Verführung und Gewalt, Maßnahme- und Normenstaat, Zwang und Zustimmung hielten im Deutschen Reich die Massen im permanenten Ausnahmezustand, begünstigt durch Abbau der Massenarbeitslosigkeit und außenpolitische Erfolge. Dazu schuf die Gleichschaltung von Rundfunk und Presse das Klima für eine Erziehungsdiktatur unter Feier der Jugend, des Volks- und Persönlichkeitswertes des arischen Menschen im Massenkult inszenierter Einheitsmystik. Das Verwendungsziel war klar: „Wir leben im Zeitalter wirtschaftlicher Imperien, in welchen der Trieb zur Kolonialisierung sich wieder dem Urzustand nähere.“ . . . „Wir werden nicht in einen Krieg hineingezwungen werden, aber um ihn herum kommen wir nicht.“ Im Krieg sollte die „rassische Besserung“ zum „Höchstwert“ führen, „den es zur Zeit überhaupt auf dieser Erde gibt“ (Hitler). Am 10. November 1938 legte Hitler im ausgesuchten Journalisten-Kreis offen: „Die Umstände haben mich gezwungen, jahrzehntelang fast nur vom Frieden zu reden. . . . Irgendwie glaube ich, hat sich diese Platte, die pazifistische Platte bei uns abgespielt.“22 Bis zum „Anschluss“ Österreichs und der Sudeten, sowie der Einnahme Prags zeigte sich Hitlers Risikopolitik kalkülverpflichtet. Nach gewaltigen Erfolgen 1939 / 40 scheiterte Hitlers Blitzkriegsstrategie am sowjetischen Widerstand. Am 19. November 1941 gestand der Diktator, dass die beiden Feindgruppen einander nicht vernichten können. Mit der Kriegserklärung an die USA (11. Dezember 1941) führte Hitler Deutschland endgültig in den Zirkel der Selbstvernichtung. Auch rassenpolitisch blieb Hitler konsequent. In seinem Testament vom 29. April 1945 forderte er „unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum.“23 21 22 23
Ungedrucktes Typoskript im Besitz des Verfassers M. F. Vgl. Anm. 19. Vgl. Anm. 19.
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Ohne Identität von Theorie und Praxis verbleiben Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus unter dem Dachbegriff des Totalitarismus. Er kristallisiert das Anspruchsmonopol, den Staat, die Gesellschaft und Individuen als gleichrangige, rechtsschutzwürdige Konkurrenzverhältnisse aufzuheben und mit allen Mitteln einer einzig zugelassenen Weltanschauung zu unterwerfen. Dieses Feindschaftsprinzip gegenüber einer offenen Gesellschaft in seiner Bedingungslosigkeit hat Hannah Arendt präzisiert: „Denn was in einem Vernichtungskrieg vernichtet wird, ist erheblich mehr als die Welt des besiegten Gegners; es ist vor allem der Zwischenraum zwischen den Kriegspartnern und zwischen den Völkern, der in seiner Gesamtheit die Welt auf der Erde abbildet.“24
II. Extremismus Immer wieder verleiteten die Schwingungsbögen der Totalitarismus-Theorie dazu, aus ihr die Qualitätsbezeichnung „totalitär“ abzuleiten, um die rigorose Umsetzung einer Auffassung kenntlich zu machen. „Aufklärung ist totalitär“ lesen wir bei Horkheimer / Adorno.25 Die modische Polemik gegen eine Rechte überhaupt, kommentiert Ernst Nolte: „Das sind doch totalitäre Gedanken, die der Idee einer pluralistischen Idee, die man sonst so hoch hält, direkt widersprechen.“26 Wer Argumente will mit Verweis aufs Grundgesetz, wird oft mit der „Faschismuskeule“ bedroht. Auch Extremismus ist stets von polemischer Ambivalenz umstellt. Er verdichtet den Streitpunkt, ob jemand mit seiner kämpferischen Überzeugung noch innerhalb des Verfassungsbogens steht, d. h. dessen Möglichkeiten aus- oder erschöpfen will. Diese Grenzfrage verdeutlicht die Begriffsgeschichte. Extremistisch stand und steht für die zentrifugale Distanzierung zu einer NormenAggregation (Staatsverfassung, Zivilkultur). Lateinisch bedeutete extremitas mundi das Ende der Welt, d. h. die größte geographische Distanz zu Rom als Maß- und Mittelpunkt des römischen Imperiums. Im französischen extrême orient (Ferner Osten) hat sich diese Bedeutung erhalten. Höchste Marginalität zeigt sich übertragen in Begriffen wie italienisch estremo supplizio (Todesstrafe), englisch extreme unction (Letzte Ölung) oder „in extremis“, d. h. medizinisch „in den letzten Zügen liegend“. Analog dazu kennzeichnet Extremismus in Deutschland den gespanntesten Gegensatz zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Aus dieser Gravitation von Wertbezügen bewegt sich nach Maßgabe des Inhabers der Definitionsherrschaft jeder heraus, der sich nach Verweigerung jeglicher Identifikation mit dem Verfassungsgefüge letztlich gegen dasselbe aktiv wendet mit der Selbstermächtigung zu dessen Ersetzung durch eine als einzig richtig erkannte Gegenideologie, die dem Rechts-Links-Repertoire zuzuordnen ist. Nach Maßgabe der Art. 1,1; 9,2; 18; 21,2; 79,3 GG ergibt sich folgende Zuordnung: Den Rechtsextremismus in Deutschland kennzeichnet eine Patchwork-Ideologie aus Nationalismus, Rassismus, Volksgemeinschaft und autoritärem Staatsaufbau. 24 Hannah Arendt, Was ist Politik? Aus dem Nachlass herausgegeben von Ursula Ludz, München 1993, S. 122. 25 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1986 (1944), S. 12. 26 Vgl. Siegfried Gerlich, Im Gespräch mit Ernst Nolte. Einblick in ein Gesamtwerk, Schnellroda 2005, S. 121.
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Das Gleichheitsprinzip (Art. 3 GG) wird abgelehnt. Völkischer Sozialismus ist als Köderbegriff besonders in Krisenregionen Ostdeutschlands attraktiv. Die „Besetzung der Straße“ als Erbtaktik der Nazis verbindet sich neuerdings (zumal via Internet) mit der Suche nach Einflussnahme im „Kampf um die Köpfe“, im „Kampf um die Parlamente“. Ein Antisemitismus der Andeutungen verstärkt sich. Ende 2005 existierten in Deutschland 183 Organisationen mit 39.000 Mitgliedern, die der Verfassungsschutz dem Rechtsextremismus zurechnet. Als Führungsparteien gelten NPD, DVU und REP. Eine höchstrichterliche Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit erscheint nach dem Scheitern der Verbotsklage gegen die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht als nicht aktuell. Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund werden im Verfassungsschutzbericht des Bundes 2005 auf 15.361 beziffert. Dem Linksextremismus werden 140 Gruppierungen mit ca. 31.000 Mitgliedern zugerechnet. Die politisch motivierte Gewaltkriminalität von links wurde 2005 mit 2.305 Vorfällen angegeben. Ebenso wie Rechts- ist auch Linksextremismus ein Synthesebegriff. Er konstituiert sich aus mehr oder minder militantem „Antifaschismus“, aus einer Einheitsfront gegen Rechts und dem Eintreten für eine sozialistische Lebenswelt. Konkrete Kampfthemen sind Sozialabbau, Globalisierung, Kernenergie, Monopolkapitalismus, Integration. 1. Ausländerextremismus
Gerade wegen der auffälligen Dezentralisierung seiner Netzwerkstrukturen erfordert der Ausländer-Extremismus erhöhte Wachsamkeit. Vielfach die Fehden in ihren Herkunftsstaaten nach Deutschland verlagernd, stehen 25.300 Personen für eine Fülle rechts- / linksextremistischer Bestrebungen. Auffällig ist der Anstieg islamistischer Gewaltbereitschaft und terroristischer Aktivitäten. Dieses Potential verteilte sich 2005 auf 24 Gruppen mit 32.100 Anhängern. In der liberalen Bundesrepublik fungierten bislang Studenten- und Moscheenmilieus als Stützpunkt für die Vorbereitung des Anschlags vom Elften September 2001 in den USA auf World Trade Center und Pentagon. In Deutschland als Partner Amerikas und Israels ist das Gefährdungspotential gestiegen. Was dem militanten Islamismus zur Umwandlung der Welt in einen einzigen Gottesstaat nach den Gesetzen Allahs antreibt, sind zwei Motivkreise: „Zum einen ist der Glaube an die eigene Suprematie religiös fundiert. Zum andern kollidiert er mit der unübersehbar eigenen Schwäche. Das führt zu einer narzistischen Kränkung, die nach Kompensation verlangt. Schuldzuweisungen, Verschwörungstheorien und Projektionen aller Art gehören deshalb zum kollektiven Gefühlshaushalt. Ihnen zufolge hat die feindliche Außenwelt nichts anderes im Sinn, als die arabischen Muslime zu demütigen.“27 Die ideologische Teilung der Welt in Gläubige und Ungläubige („Andersgläubige“ werden nicht wahrgenommen) armiert sich inzwischen mit modernster Kommunikations- und Waffentechnik. Der wachsende suizidale Rigorismus in den Krisenregionen des Mittleren Ostens könnte sich als Propaganda der Tat nach Europa ausweiten.
27 Hans Magnus Enzensberger, Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer, Frankfurt a. M. 2006, S. 41.
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Manfred Funke 2. Radikalismus
Gemeinhin werden neben Rechts- und Linksextremismus Rechts- und Linksradikalismus zur Kennzeichnung von Angriffen auf die streitbare Demokratie der Bundesrepublik benutzt. Solch begriffliche Dehnbarkeit ergibt sich daraus, dass beide konkurrierenden Ideologien keine ortsfesten Distanzkoordinaten haben und ihren Wesensgehalt vom Inhaber der Definitionsherrschaft zugewiesen bekommen. Mit künstlich gesteigerter Eindeutigkeit könnte Extremismus als horizontale, Radikalismus (lat. radix = die Wurzel) als vertikale Kampfachse benannt werden, um die sich die Feindpotentiale gegen den liberalen Rechtsstaat gruppieren. Ursprünglich bezeichnete Radikalismus das agitatorische Streben nach einer Sozialutopie und deren rücksichtslosen Durchsetzung. Für Karl Marx bedeutete die Kommunistische Revolution „das radikale Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen“. Die Forderungen nach Emanzipation im 19. Jahrhundert geißelte Heinrich von Treitschke als Ambition eines „radikalen Geschlechts“. Darin illustrierte sich die Ausbreitung des Radikalismus für probate Polemik der Restauration seit der französischen Julirevolution 1830. Als „radikal-demokratische Partei“ bezeichnete sich der äußerste linke Flügel im Paulskirchen-Parlament (1848 / 49). Zwischen 1870 – 1890 strebten in Frankreich die „radicaux“ ein gouvernement direct an bei völliger Unterordnung der Exekutive unter die Abgeordnetenkammer. Sie sollte sich verstehen als Vollstrecker unmittelbarer Volkssouveränität zwecks Fundamentalpolitisierung der gesamten Nation. In Deutschland galten im Maßstab obrigkeitsstaatlicher Leitvorstellungen die Socialdemokraten als Radikale. Sie bildeten 1912 die stärkste Fraktion im Deutschen Reichstag mit wachsender Neigung zur Reform- statt Revolutionspolitik. Deutlichsten Niederschlag fand dies in der Sicherung der Verfassung der Weimarer Republik gegen die Revolutionsbestrebungen der Unabhängigen Sozialisten / Kommunisten (1918 / 1919, 1922 / 1923). Eine namentliche radikale Partei entstand in Deutschland nicht. Der Radikalismusbegriff verlagerte sich vielmehr auf die Anhänger des Marxismus, Leninismus, Anarchismus und erweiterte sich aufgrund der ähnlich brutalen Techniken der Machteroberung und des intoleranten Fanatismus bis hin zu den rechtsradikalen Feinden der Weimarer Republik. Später in den sechziger Jahren reaktivierte sich Radikalismus in der Protestbewegung der Neuen Linken bis hin zum Terrorismus. Nach 1974 wurden in den Jahresberichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz antidemokratische Bestrebungen von Rechts und Links nicht mehr als „radikal“ sondern einheitlich als „extremistisch“ deklariert. Im Gegensatz zum Extremisten, mit dessen Bild sich verbal-aktionistisches Rabaukentum assoziiert, prägt den Radikalen eher ein Überzeugungskontinuum im Kampf um Übereinstimmung von Theorie und Praxis mit leidenschaftlich dialektischem Argumentationsaufwand. Den Radikalen scheint bei seiner Kritik der manifesten und strukturellen Gewalt des bekämpften Systems irgendwie zu beschämen, letztlich für die Überwindung der kritisierten Gewaltverhältnisse selber Gewalt einsetzen zu müssen. Die Theorielastigkeit des Radikalismus, der intellektuelle Jargon seiner Protagonisten lassen gegenwärtig in der Bundesrepublik ihren Dogmatismus als sektiererisch erscheinen. Dagegen markiert Rechts-Extremismus ein Sammelbecken für Ausländerfeindlichkeit, Rassenhierarchien, Revision der EU, Heimatverklärung, Protestwut über drohenden sozialen Statusverlust und für Rache an den Regierenden. Extremismus und Radikalismus sind Reaktion auf überscharf wahrgenommene soziale Asymmetrien und auf die kolportierte Anonymität ihrer Verursacher. Aus Angst vor Depravation und Marginalisierung
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wächst das Misstrauen gegen die Verteilungsgerechtigkeit eines Parteienstaates, der tendenziell Gewinne zu privatisieren und Verluste zu sozialisieren scheint. Nicht die Attraktivität einer alternativen völkischen Sozialutopie, sondern die Angst, Treibholz zu werden, kann Aufwind für Extremismus bringen. Die Ergebnisse der bisherigen Bundes- und Landtagswahlen bieten keine Anzeichen für eine Bestandsgefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Diese hat für die Bürger ihren Verteidigungswert in der Sicherung der Freiheit, der Unversehrtheit des Eigentums und der sozialen Würde durch Arbeit. Nie darf sich wie 1932 / 1933 bestätigen, dass in der modernen Welt „das materielle Wohlergehen nun einmal die Grundlage von allem ist“28, will man die Verfassungsmoral nicht substantiell gefährden. Wir sollten nicht leichtfertig negieren, im Erbgang einer Epoche zu stehen, die bei aller unterschiedlichen Dauer der totalitären Diktaturen deren historische Strahlkraft nicht gänzlich eingebüßt hat. Unsere gesamtgesellschaftliche politische Disposition erinnert an den Satz von Balbino Giuliano, der bereits 1942 meinte: „Die Geschichte unserer modernen Zeit war nicht die Entfaltung eines Glaubens, sondern vielmehr die Entfaltung einer Loslösung von jedem Glauben.“29
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Eberhard Jäckel, Das deutsche Jahrhundert. Eine historische Bilanz, Stuttgart 1996, S. 177. In: Auswärtige Politik, 9. Jg., Heft 7.
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Zwölftes Kapitel
Kirche und Staat
Kirche – Staat – Gesellschaft Von Otto Depenheuer I. Grundlagen 1. Die Ordnungsaufgabe
„Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom“.1 Das in dieser Aussage zum Ausdruck kommende Selbstverständnis der katholischen Kirche zum Verhältnis von Staat und Kirche ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Die autoritative Feststellung des Zweiten Vatikanischen Konzils lässt kaum mehr die Brisanz erkennen, die in der Sache hinter der Feststellung liegt. Denn die rechte Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche bildet für beide Seiten die größte Herausforderung bei dem Bemühen, die soziale Gemeinschaft politisch zu ordnen. Die konziliare Anerkennung der Selbständigkeit von Staat und Kirche auf je ihrem besonderen Gebiet ist in historischer Perspektive Ergebnis wie Konsequenz zweier Entwicklungslinien: des neuzeitlichen Prozesses der Ausdifferenzierung von Staat und Religion einerseits und des schwierigen Weges der Kirche, theologisch ein positives Verhältnis zu dieser Entwicklung zu finden. Die Herausbildung des modernen säkularen Staates mit seiner ihm wesenseigenen Trennung von Staat und Kirche, der durch das Gewaltmonopol unterlegte Souveränitätsanspruch des Staates, der Selbststand von Recht und Politik sowie die Trennung von Recht und Moral verstand die Kirche als Herausforderung ihres auf göttlicher Offenbarung gründenden und kirchlich verwalteten religiösen Wahrheitsanspruchs. Der lang anhaltende und grundsätzliche Widerstand der katholischen Kirche gegenüber diesem Prozess der Säkularisierung wich nur langsam zunächst einer faktischen Duldung, die allmählich über eine Respektierung schließlich zu einer positiven Anerkennung der Eigengesetzlichkeit des Politischen führte. Allerdings musste die Kirche zugleich einer spezifischen Zuständigkeit und unmittelbaren Verantwortung für die politische Struktur der Gemeinschaft entsagen. Derart hat sich unter großen Anstrengungen und vielfältigen Konflikten in Europa in der Folge der Reformation ein Verhältnis beider Systeme – Staat und Religion – herausgebildet, das – bei allen Verschiedenheiten in der konkreten Ausformung – einen im Großen und Ganzen verlässlichen Rahmen der beiderseitigen Beziehungen auf der Basis säkularer und religiös-neutraler Staatlichkeit einerseits, der Gewährung von individueller Religionsfreiheit und institutioneller Kirchenfreiheit andererseits darstellt. Mit der Fundamentalaussage zum Verhältnis von Staat und Kirche hat die katholische Kirche an diese Entwicklung endgültig Anschluss gefunden. 1 Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (Nr. 76: AAS 58, S. 1099); vgl. auch Katechismus der Katholischen Kirche, 1993, Nr. 2245.
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Die Kirche hat damit zugleich zurückgefunden zu dem Selbstverständnis, mit dem sie einst in die antike Welt eintrat.2 Diese war gekennzeichnet durch die Einheit von religiöser und politischer Ordnung, die dieses Zeitalter charakterisierte und die im Römischen Reich in einem politisch-religiösen Herrscherkult gipfelte. Dieser gegenüber verstand sich die frühe Kirche als religiös exklusive, letztlich nur Gott unterstellte eschatologische Größe, die sich notwendig in Distanz zum Staat sah. Auch wenn sich diese Distanz alsbald in Nähe verwandelte und späterhin gar zu zeitweiliger Identifikation von Staat und Kirche führte, hat sich die Kirche jedoch ihrem Wesen nach letztlich stets in einem Gegenüber zur politischen Herrschaft gesehen. Dieses durch das Zweite Vatikanische Konzil in Erinnerung gerufene Selbstverständnis anerkennt wieder den prinzipiellen Unterschied religiöser und politischer Macht. Das moderne Arrangement von staatlichem Souveränitätsanspruch und kirchlicher Freiheit bei wechselseitiger Respektierung spezifischer Eigengesetzlichkeit beider Systeme ist historisch kontingent und kein über die Zeiten hinweg prästabiler Ordnungsrahmen. Denn die hinter Staat und Kirche, Gesellschaft und Religion liegenden Bestimmungsgrößen sind zu fundamental und ihren eigenen, spezifischen Logiken verpflichtet. Sie bergen latent ein zu großes Machtpotential, um ein für alle Mal befriedet zu sein. Subkutan oder offen können die historischen, überwunden geglaubten Konflikte im Verhältnis von Staat und Kirche jederzeit wieder auftreten. Daher bedarf es steter Rückbesinnung auf die hinter ihr liegenden Kraftquellen, um dieses Verhältnis auf Dauer stabilisieren, neuere Entwicklungen aufnehmen und adäquat bewältigen zu können. 2. Die Ordnungsproblematik
Die rechte Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche zählt zu den größten Herausforderungen der politischen Ordnung des Gemeinwesens. Staat und Kirche formierten in historischer Retrospektive stets ein heikles Verhältnis: Wechselseitig einander ergänzend wie störend, usurpierend wie negierend ist in der Geschichte dieses spannungsgeladenen Verhältnisses wohl keine Konstellation ihres Zusammen- wie Gegeneinanderwirkens nicht erstrebt und realisiert worden. Die Ursache dafür liegt in wechselseitigen Suprematie- bzw. Souveränitätsansprüchen: Staat und Kirche beanspruchen – aus je unterschiedlichen Gründen – höchste und letzte Entscheidungskompetenz. a) Souveränitätsanspruch der Kirche Über viele Jahrhunderte hinweg hat die katholische Kirche Souveränitätsansprüche für die politische Ordnung angemeldet, erstrebt und zeitweise auch ausgeübt: Als Trägerin und Verkünderin einer göttlich geoffenbarten Wahrheit geht es ihr um die Vermittlung des diese Welt übersteigenden Heils. Da das Reich der Religion „nicht von dieser Welt“ ist, verblassen aus dieser Perspektive alle irdischen Güter, werden relativ, im Grenzfall sind sie ohne Wert. Daher steht die Loyalität des Christen gegenüber der Obrigkeit – „Jedermann sei untertan den obrigkeitlichen Gewalten, denn es gibt keine Gewalt außer von Gott“ (Röm 13,1) – stets unter dem Vorbehalt: „Man muß Gott mehr 2 Paul Mikat, Kirche und Staat, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 3, 1987, Sp. 468 ff.; Ulrich Haltern, Was bedeutet Souveränität, 2007, S. 25 ff.
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gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29). Der Staat kann zwar Gewalt ausüben und das physische Leben beenden, die Religion aber kann die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gläubigen beenden, exkommunizieren und damit die künftige Teilhabe am ewigen Heil in der subjektiven Sicht des Betroffenen gefährden („extra ecclesiam nulla salus“). Wahrheit und Integrität des Glaubens gehen aus religiöser Perspektive allem Weltlichen vor: Lieber nimmt ein Gläubiger den Tod in Kauf, als das Heil zu riskieren – darin sind sich die Gläubigen aller Konfessionen einig, seien sie im Übrigen auch noch so verschieden und einander feindlich gesinnt.3 In einer religiös homogenen Welt ist die Maßgeblichkeit der religiösen Wahrheit für den Staat nicht überbietbar: Er muss sich ihr fügen.4 b) Souveränitätsanspruch des Staates Aber auch der moderne souveräne und säkulare Staat beansprucht für sein Territorium und gegenüber seinen Bürgern oberste Entscheidungsgewalt. Tatsächlich vermag der Staat seinen Souveränitätsanspruch5 auf der Grundlage der Innehabung des Monopols legitimer physischer Gewaltsamkeit6 auch gegen – religiös motivierten und durch Wahrheit legitimierten – Widerstand effektiv durchsetzen. Zwar wird er schon aus Gründen politischer Klugheit Rücksicht nehmen auf den religiösen Glauben seiner Bürger und die kultischen Interessen der Religionsgemeinschaften respektieren; letztlich aber bestimmt er aufgrund seiner Souveränität über Autonomie und Umfang religiöser Freiheitsbetätigungen. Aufgrund seines Gewaltmonopols kann er seinen Willen auch gegen Widerstand durchsetzen und Religion gewaltsam unterdrücken. c) Der Konflikt Die gegenläufige Logik politischen und religiösen Denkens bergen einen politisch brisanten Kompetenzkonflikt: Denn beide Potenzen – weltlicher Staat und transzendent legitimierte Religion – richten sich in umfassender Weise an die gleichen Menschen und suchen deren Gemeinwohl zu bestimmen. Mehr noch: Sie erheben Souveränitätsansprüche über ihre Mitglieder mit tendenziellem Ausschließlichkeitsanspruch. Zwar leiten sich diese Souveränitätsansprüche aus grundverschiedenen Selbstverständnissen und Zielen ab und verfügen zu ihrer Durchsetzung über unterschiedliche Mittel: Der Staat beansprucht das „Monopol physischer Gewaltsamkeit“ zur Wahrung des innerstaatlichen Friedens. Die Kirche hingegen wahrt und tradiert die Wahrheit der göttlichen 3 Ein exemplarisches Dokument dieses Selbstverständnisses findet sich im Gelöbnis Ferdinand II. von Österreich bei seinem Regierungsantritt in der Steiermark: „Lieber über eine Wüste herrschen, lieber Wasser und Brot genießen, mit Weib und Kind betteln gehen, seinen Leib in Stücke hauen lassen, als ein Unrecht gegen die Kirche, als die Ketzerei zu dulden.“ Zit. nach Otto Depenheuer, Wahrheit oder Frieden. Die fundamentalistische Herausforderung des modernen Staates, in: Essener Gespräche 33 (1999), S. 5 ff. 4 Beeindruckendes Beispiel für die Wirkmächtigkeit religiöser Überzeugungen ist der Bittgang Heinrich IV. nach Canossa. Zur Bedeutung des Ereignisses für das Verhältnis von Staat und Kirche: Hellmut Kämpf (Hrsg.), Canossa als Wende, 1963; Hans Maier, Mythos und Symbol Canossa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. April 2006, S. 39. 5 Theoretische Grundlagen: Jean Bodin, Les six livres de la Republique [1583]; Thomas Hobbes, Leviathan [1651]. Begriffsanalyse: Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970. 6 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [1922], 5. Aufl., 1980, S. 29 f., S. 821 ff.
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Offenbarung, befriedigt die spirituellen Bedürfnisse ihrer Gläubigen und steht ihnen bei der Sorge um das Heil ihrer Seelen bei. Erstreckt eine Religion ihren Wahrheitsanspruch auch auf staatliche Agenden, stellt sie ihren transzendent legitimierten Souveränitätsanspruch dem staatlichen direkt entgegen. Tatsächlich behält sich eine auf transzendente Offenbarungswahrheit gründende Religion gegenüber einer autonom-staatlichen Bestimmungskompetenz, sofern sie den Gedanken einer weltlichen Autonomie nicht a priori ablehnt, jedenfalls eine Prüfungs- und Bestätigungskompetenz vor. Religion stellt insofern für jeden Staat und seinen Souveränitätsanspruch eine existentielle Herausforderung und latente Infragestellung seines Machtanspruchs dar. Der Konflikt beider Potenzen kann zur politischen Machtfrage werden, zumal staatliche und religiöse Souveränitätsansprüche in ihrer gegenläufigen Logik theoretisch nicht vermittelbar sind: Souveränität ist begrifflich unteilbar und Wahrheit nicht kompromissfähig. Staatsraison und Märtyrertum speisen sich denn auch aus der gleichen Logik der Souveränität. Diese spannungsgeladene Grundkonstellation markiert die zeitlose staatstheoretische wie verfassungsrechtliche, kirchenpolitische wie theologische Herausforderung der Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche. Das Thema „Religion“ bildet für jeden Staat eine zentrale Herausforderung und fundamentale Ordnungsaufgabe; und umgekehrt bildet die Existenz des Staates für die Kirche von Anbeginn an eine theologische Herausforderung, ob und wie Macht und Wahrheit zusammengedacht werden können.7 Die Geschichte bietet denn auch zahlreiche Beispiele von den immer erneuten Versuchen beider Potenzen, praktisch-politisch Vorherrschaft zu erringen und zu bewahren.8 Typologisch lassen sich monistische und dualistische Lösungsmodelle unterscheiden: 3. Überwundene monistische Lösungsmodelle
Souveränitätsansprüche müssen sich durchzusetzen suchen oder sie sind nicht. Die wechselseitigen Souveränitätsansprüche von Staat und Religion führen daher immer wieder zum Ringen beider Potenzen um Vorherrschaft. Staat und Kirche unterliegen der steten Versuchung des Ausgreifens in das Terrain der anderen: Religiöse Wahrheit will in der Welt Wirklichkeit werden und kann daher staatliche Grenzen ihres Handelns nicht oder nur schwer akzeptieren. Staatliche Souveränität kann umgekehrt religiöse Machtansprüche in politicis nicht dulden. Historisch hat dieser Konflikt zwei monistische Lösungsmodelle hervorgebracht, die mit jeweils unterschiedlichen Vorzeichen den Vorrang der Religion vor dem Staat oder des Politischen über die Religion postulierten. a) Staat unter religiösem Souveränitätsanspruch Historisch die älteste Ordnung des Verhältnisses von Staat und Religion findet sich in der Form eines maßgeblichen Einflusses der Religion auf die politischen Verhältnisse und die Ordnung des politischen Gemeinwesens.9 Die Religion, inspiriert und getragen von ihrer göttlichen Wahrheit, erhebt politischen Machtanspruch in der Welt – direkt in der Form der Theokratie, indirekt als geistliche Legitimationsquelle der politischen 7 Mikat (FN 2), S. 468. Frühe und wirkmächtige Antwort bei Augustinus, De civitate Dei [413 – 426], insbesondere 19. Buch, Kapitel 17. 8 Historischer Überblick: Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen [1868], 1969. 9 Burckhardt (FN 8), S. 106 ff.
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Führung. So legitimierte die Idee des Gottesgnadentums die politischen Institutionen des Heiligen Römischen Reiches, die sich im Gegenzug dem prekären geistlichen Wächteramt der römischen Kirche unterwerfen mussten.10 In einem solchen System muss die existentielle Bedeutung des Religiösen zur umfassenden und ausnahmslosen Maßgeblichkeit des religiösen Anspruchs auch in politischen Angelegenheiten führen. Indem die religiöse Wahrheit die ewige, unverrückbare göttliche Ordnung spiegelt, muss diese auch für und in der Welt bestimmend sein: Was religiös wahr ist, kann weltlich nicht falsch sein, und was religiös unwahr ist, kann nicht in der Welt richtig sein. In der Welt – gedacht als Abbild der göttlichen Ordnung – hat alles seinen religiös bestimmten Platz, seine Funktion und sein Recht. Gott und seine Offenbarung bilden den ultimativen und umfassenden Bezugspunkt für geistliches wie für weltliches Denken. Einen Widerspruch der weltlichen zur göttlichen Ordnung kann es daher theoretisch nicht geben; praktische Widersprüche werden als Sünde interpretiert und entsprechend geahndet. Theologisch wurde der kirchliche Suprematieanspruch biblisch begründet, im Mittelalter zur Lehre von der potestas directa in temporalibus ausgebildet und blieb in ihren Kernpunkten maßgeblich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Ausgehend von der Magna Charta des religiösen Vorbehalts gegen den Staat („Man muß Gott mehr gehorchen wie den Menschen“, Apg 5,29) beanspruchte etwa Papst Gregor VII. (1073 – 1085) in Reaktion auf den Investiturstreit in seinem „Dictatus Papae“ von 1075 einen rechtlichen Suprematieanspruch über den Kaiser bis hin zum Recht auf dessen Absetzung.11 Diese Lehre von der potestas ecclesia directa in temporalibus gipfelte 1302 in der von Papst Urban VIII. (1294 – 1303) gegen den französischen König erlassenen Bulle „Unam sanctam“. Diese Lehre beruhte zentral auf der These, dass aus der allumfassenden Königsherrschaft Gottes eine allumfassende, d. h. unbegrenzte Potestas der Kirche in dieser Welt folge.12 Daher könne und dürfe der Papst „ratione peccati“ rechtlich bindend in die weltliche Gewalt eingreifen. Wenn ein staatliches Handeln das Seelenheil gefährde, müsse ihm die Kirche in den Arm fallen. Praktisch konnte dies jeden rechtlichen und politischen Eingriff der Kirche in staatliche Angelegenheiten rechtfertigen. Dies musste zu schweren Konflikten zwischen beiden Potenzen führen, die auch in der abgeschwächten Form der potestas directa von Leo XIII. nicht prinzipiell überwunden wurde, denn diese bot keine Antwort auf die Frage nach Status, Verfahren und Mitteln des geltend gemachten Direktivanspruchs in weltlichen Angelegenheiten. Erst unter dem Eindruck der sich entfaltenden demokratischen Staaten, die Religionsfreiheit verhießen und auf Säkularität und Neutralität basierten, erfuhr die Lehre der potestas directa auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil entscheidende Korrekturen, ohne freilich ausdrücklich aufgegeben zu werden. Die ungeschiedene Einheit von Staat und Religion hat historisch größte politische Wirkungen und kulturelle Leistungen hervorgebracht: „Die Völker des heiligen Rechts 10 Vgl. Quaritsch (FN 5), S. 51 ff. Zur Bedeutung der „Heiligkeit“ des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation: Hans Hattenhauer, Über die Heiligkeit des Heiligen Römischen Reiches, in: W. Brauneder (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich und moderne Staatlichkeit, 1993, S. 125 ff. 11 Horst Fuhrmann, „Quod catholicus non habeatur, qui non concordat Romanae ecclesiae“. Randnotizen zum Dictatus Papae, in: K.-U. Jäschke / R. Wenskus (Hrsg.), Festschrift für Helmut Beumann, 1977, S. 263. 12 Quaritsch (FN 5), S. 51 ff.
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sind wirklich für etwas dagewesen und haben eine mächtige Spur zurückgelassen.“13 Andererseits können sich in einer religiös bestimmten politischen Ordnung Subjektivismus, Individualismus, Demokratie und liberale Freiheitsrechte nicht entwickeln. Da alles Handeln als Erfüllung einer objektiven Ordnung gedacht wird, wird nicht nur jede Form freier subjektiver Selbstentfaltung prinzipiell ausgeschlossen, sondern auch jede Änderung und Anpassung der politischen und ökonomischen Ordnung an sich wandelnde Herausforderungen. Da jeder Bruch mit dem Bestehenden als ein Sakrilegium dargestellt werden kann, ist Entwicklung bei dieser „heiligen Versteinerung“ nur schwer möglich. b) Religion unter staatlichem Souveränitätsanspruch Auch der Staat hat sich immer wieder Souveränität über die Religion anzumaßen versucht. Allerdings stellt sich hier der grundsätzliche Ausgangspunkt verschieden dar. Der „Staat unter religiösem Souveränitätsanspruch“ setzt eine bestehende oder auch nur vorgestellte Einheit von Staat und Religion voraus: Der Staat kann als eigenständige Potenz mit eigener Handlungslogik nicht gedacht werden. Hingegen kann die Staatsgewalt gegenüber der Religion den Anspruch auf Souveränität nur unter der Voraussetzung erheben, dass sie sich der eigenständigen Handlungslogik säkularer Politik bewusst geworden ist und sich durch die Religion darin beschränkt sieht. Dieser staatliche Souveränitätsanspruch zielt nicht nur auf die Abwehr religiöser Implikationen bei der Wahrnehmung staatlicher Angelegenheiten: Da die Staatsgewalt als solche, d. h. als innerweltliche Institution, keinen transzendenten Wahrheitsanspruch erheben kann, sucht sie das religiöse Potential politisch zu neutralisieren oder für ihre säkularen Zwecke zu instrumentalisieren. Die Unterscheidung von Staat und Religion lässt die politische Macht ihre Grenzen erkennen: Sie kann nur die äußere Seite der Menschen beherrschen, nicht aber ihre Seelen. Daher muss sie in der Religion den Konkurrenten um die Macht über die Menschen sehen. Der staatliche Suprematieanspruch hat sich historisch in mannigfacher Weise manifestiert: in Form repressiver Unterdrückung aller religiösen Lebensäußerungen14 oder durch Instrumentalisierung der Religion für staatliche Zwecke.15 Der Kampf des Staates gegen Religion ist freilich von Anbeginn zum Scheitern verurteilt. Gerade weil Religion ihre Macht „nicht von dieser Welt“ herleitet, kann der Staat sie nicht besiegen. Er steht einem Gegner gegenüber, den er nicht versteht, er kämpft mit Mitteln, die mit der religiösen Sphäre inkompatibel sind, und er kämpft gegen eine Wirklichkeit, die jenseits seiner Mächtigkeit liegt: das jenseitige Heil. Sowohl der Versuch der Bekämpfung wie der Instrumentalisierung der Religion kann allenfalls die Außenseite der Menschen, nie aber deren inneren Überzeugungen erfassen. Die staatliche Zurückdrängung der Religionen kann und hat im historischen Rückblick befreiende, innovationsstärkende und emanzipatorische Wirkungen gezeitigt. Burckhardt (FN 8), S. 107. Exemplarisch etwa die Dechristianisierungskampagne im Kontext der Französischen Revolution oder der historische Materialismus in der kommunistischen Welt. 15 Historisches Anschauungsmaterial bieten der Josephinismus in Österreich (vgl. dazu Ferdinand Maaß, Der Josephinismus, 2 Bde, 1951 – 1953), die Versuche der Instrumentalisierung der Kirchen im Dritten Reich („Glaubensbewegung deutscher Christen“) sowie gegenwärtig der Versuch einer Etablierung einer katholischen Nationalkirche in der Volksrepublik China. 13 14
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Die Trennung von Staat und Kirche hat diese von gegenseitiger Bevormundung und die Bürger von Gewissens- und Meinungsdruck entlastet. Die metaphysische Entzauberung der neuzeitlichen Welt entband derart durch religiöse Ingerenzen nicht in Frage gestellte Rationalisierungs- und Entwicklungspotentiale. Der Siegeszug der Geistes- und Naturwissenschaften nach Renaissance und Reformation in der westlichen Welt wäre ohne die Befreiung des säkularen Denkens von religiöser Bevormundung nicht denkbar gewesen. Umgekehrt erklärt sich die signifikante Rückständigkeit weiter Teile der islamischen Welt im Bereich der Geistes- und Naturwissenschaften aus der alles beherrschenden religiösen Durchwirkung des Islam: Es gibt keine nach eigener Sachrationalität operierenden Systeme der Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft. Alles unterliegt religiöser Genehmigung.
4. Dualistische Gewaltenteilung zweier souveräner Potenzen
Der moderne Grundtypus des Verhältnisses von Staat und Kirchen wird geprägt von einer Teilung der konkurrierenden Souveränitätsansprüche: Staat und Religion erheben weiterhin für ihren Bereich – den weltlichen und den geistlichen – Souveränität. Sie beschränken aber ihre Souveränitätsansprüche auf den je eigenen Bereich, entsagen einem Ausgreifen auf das Terrain des Gegenspielers und akzeptieren wechselseitig ihre jeweilige Teilsouveränität. So enthält sich der Staat Vorgaben für den religiösen Bereich und jeder metaphysischen Sinndeutung des Lebens; umgekehrt erheben die Religionen keinen politischen Machtanspruch jenseits der verfassungsrechtlichen Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen wie demokratischen Willensbildungsprozess. Diese gewaltenteilige Ordnung umschreibt den Kern säkularer Staatlichkeit. Der Staat legitimiert sich autonom nach innerweltlichen Rationalitätskriterien und entlässt die Religionen in autonome, grundrechtlich legitimierte Freiheit. Religionen legitimieren sich aus ihrem religiösen Wahrheitsanspruch und tragen auf der Grundlage der Religionsfreiheit für ihre Gläubigen Sorge. Jedes System ist freilich nur relativ autonom, unterliegt es doch weiterhin dem wechselseitigen Souveränitätsvorbehalt des anderen. So gewährt der Staat Religionsfreiheit, behält sich aber ein durch das Gewaltmonopol gestütztes Letztentscheidungsrecht vor.16 So entlässt die Kirche die Politik in relative Autonomie, behält sich aber eine potestas indirecta gegenüber der Staatsgewalt und eine potestas directa gegenüber ihren Gläubigen vor. Der Übergang von monistischer Verhältnisbestimmung zu einer Form der Trennung und Koordination wird von staatlicher wie von religiöser Seite von unterschiedlichen, im Ergebnis aber konvergierenden Grundpositionen aus legitimatorisch verarbeitet: Der politische Souveränitätsanspruch des Staates gegenüber den Religionen legitimiert sich formal aus seiner Säkularität und Neutralität und material aus der Funktion des Staates als Friedensgarant. Der auch vor diesem Hintergrund fortbestehende geistliche Souveränitätsanspruch der Kirche, den sie nunmehr auch in positiver Anerkennung des freiheitlich-demokratischen Staates verfolgt, liegt in ihren metaphysischen Wurzeln.
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Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997.
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II. Säkularität und Neutralität des Staates 1. Säkularer Staat – Selbstorganisation des Politischen
Säkularität des Staates und Positivität des Rechts sind Folge des Auseinanderbrechens der Glaubenseinheit im christlichen Abendland am Beginn der Neuzeit.17 Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hatte sich noch als eine heilige, alle Lebensbereiche umfassende Ordnung verstanden, in der Kaiser und Papst nur Inhaber verschiedener Ämter der einen res publica christiana sind. Diese Einheitsvorstellung wurde von der sich zur Wissenschaft bildenden Theologie allmählich theoretisch zersetzt und in der Folge der Reformation politisch aufgehoben. Die religiös-konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts waren weder theologisch noch militärisch lösbar. Um diesen Krieg um die religiöse Wahrheit zu beenden und die religiösen Mächte zu depotenzieren, musste ein absolut sicherer Punkt jenseits der hermeneutischen Disputationen über den Wahrheitsgehalt von Offenbarungstexten gefunden werden – eine Wahrheit, die alle Menschen einsehen und der sie kraft apriorischer Überzeugungen zustimmen können müssen, gleichgültig, welcher Kultur, Religion, Nation oder welchem Volk sie angehören. Inhalt dieser „säkularen Wahrheit“ ist der innerstaatliche Frieden, ihr Sachwalter der absolutistische Staat und sein Modus das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit. Der moderne Staat kann sich deswegen ebenso wie das positive Recht nicht mehr religiös legitimieren.18 Der Staat wird zur neutralen und über den streitenden Religionsparteien stehenden Instanz19 – freilich um den Preis der Einheit und Orientierung stiftenden religiösen Wahrheit: An ihre Stelle traten Säkularismus, Relativismus, Positivismus.20 Als theoretisches Konzept hat Thomas Hobbes das Ordnungsmodell des säkularen Staates in Ansehung der Religionskriege der beginnenden Neuzeit entwickelt, politisch hat es sich unter den historisch kontingenten Bedingungen Europas in einem sich über 300 Jahre hinziehenden Prozess der Säkularisierung herausgebildet. Das gewaltenteilig ausdifferenzierte Verhältnis von Staat und Religion speist sich staatstheoretisch aus zwei Legitimationsquellen: Historisch aus der Legitimation des Staates als Friedensstifter konkurrierender Religionsgemeinschaften, systemtheoretisch aus der Einsicht in die Begrenztheit politischer Handlungslogik. Der moderne Staat ist säkularer Staat und das moderne Recht positives, d. h. jederzeit änderbares Recht. Der Staat ist nicht religiös legitimiert, das Recht erhebt keinen Richtigkeits-, sondern nur einen Verbindlichkeitsanspruch: „auctoritas non veritas facit legem“ (Thomas Hobbes). Kollektiv verbindliche Entscheidungen werden nach Maßgabe demokratischer Mehrheit getroffen und sind jederzeit änderbar. Eine – religiös fundierte – Richtigkeitsgewähr staatlicher Entscheidungen gibt es nicht mehr. Die raison 17 Vgl. zum Folgenden: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 ff.; Otto Depenheuer, Religion als ethische Reserve der säkularen Gesellschaft? Zur staatstheoretischen Bedeutung der Kirche in nachchristlicher Zeit, in: ders. u. a. (Hrsg.), Nomos und Ethos. Hommage an Josef Isensee, 2002, S. 3 ff. 18 Zur Entchristlichung des Staatsbegriffs: Quaritsch (FN 5), S. 293 ff. 19 Näher Depenheuer (FN 17), S. 21 ff. 20 Vgl. Paul Mikat, Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht, in: Politischer Liberalismus und evangelische Kirche, Festschrift Hermann Kunst, 1967, S. 119.
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d’être des modernen Staates ist mithin inhaltlicher Relativismus. Die Verfassungsbindung aller Staatsgewalt in Deutschland nach Art. 20 Abs. 3 GG ändert an diesem Relativitätstheorem nichts. Zum einen unterliegt auch das Verfassungsgesetz der Logik des positiven Rechts, d. h. es ist prinzipiell jederzeit änderbar. Zum anderen repräsentiert die Verfassung zwar einen materialen – wenn auch im konkreten Fall regelmäßig umstrittenen21 – Minimalwertkonsens der pluralistischen Gesellschaft. In erster Linie aber organisiert und sichert sie nur das offene Verfahren der demokratischen Mehrheitsentscheidung und entlässt die Bürger im Übrigen in grundrechtliche Freiheit. Staatliche Indifferenz und rechtlicher Relativismus gegenüber absoluten Wahrheitsansprüchen stehen indes ihrerseits im Dienst eines ganz und gar nicht relativistischen Ziels: der unverbrüchlichen Wahrung des innerstaatlichen Friedens und der Freiheit seiner Bürger.22 Die Modernität des Konzeptes säkularer Staatlichkeit ist gerade heute unverkennbar: es erlaubt Friedlichkeit der Verhältnisse auch unter den Bedingungen religiöser Vielfalt. Die historischen Grundmuster des Verhältnisses von Staat und Religion – „Staat unter religiöser Souveränität“ und „Religion unter staatlicher Souveränität“ – gehen von einer spezifischen Voraussetzung aus: von relativ geschlossenen und homogenen Gemeinschaften, von einer Kongruenz politischer Organisation und religiösen Bekenntnisses: cuius regio, eius religio. Fällt diese Voraussetzung fort – durch Glaubensspaltung wie im nachreformatorischen Zeitalter, durch Migration fremder Religionen –, kann sich die Politik in ihrer Verbindlichkeit für alle Bürger nicht mehr auf eine religiöse Wahrheit stützen. Um sich als Staat und Schutzmacht für alle Bürger zu behaupten, darf er sich überhaupt nicht mehr durch Religion rechtfertigen; er muss säkularer Staat sein, um als solcher Heimstatt aller Bürger – gleich welchen Bekenntnisses – bleiben zu können. Die Säkularität des Staates ist das unverhandelbare Apriori des modernen Staates und steht mithin nicht zur Disposition; insbesondere ist sie nicht im Sinne verhältnismäßiger Zuordnung zu religiösen Wahrheitsansprüchen abzuwägen. Dies ist insbesondere in der Konfrontation zwischen säkularer Staatlichkeit und religiösem Integralismus jeglicher Provenienz zu betonen, wie er derzeit insbesondere in islamischer Gewandung in Europa auftritt. 2. Neutralität des Staates
Die Säkularität des Staates bedingt seine Neutralität gegenüber den religiösen Bekenntnissen seiner Bürger. Die Verfassungen aller modernen, freiheitlichen Staaten garantieren daher – in den Grenzen des für alle geltenden Gesetzes – die Religionsfreiheit.23 Damit ist für vom Staat ausgehende religiöse Unduldsamkeit und Glaubens21 Im Zentrum der aktuellen Diskussion steht der Begriff der Menschenwürde, ausgelöst durch die Neukommentierung des Art. 1 GG im Kommentar Maunz / Dürig: einerseits die naturrechtliche Deutung durch Günter Dürig aus dem Jahre 1958, andererseits die Abschichtung zwischen einem „Würdekern“ und einem „peripheren abwägungsoffenen Schutzbereich“ von Matthias Herdegen im Jahre 2005. Vgl. dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar. Abschied von den Verfassungsvätern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. September 2003, S. 33 und S. 35; Josef Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, in: AöR 131 (2006), S. 173 ff. 22 Vgl. eingehend Depenheuer (FN 3), S. 5 ff. 23 Gerhard Robbers, Staat und Kirche in der Europäischen Union, 2. Aufl., 2005; Winfried Brugger, Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche, AöR 132 (2007), S. 4 ff.; Felix Hammer,
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zwang kein Platz mehr. Religionsfreiheit verbietet dem Staat, das individuelle religiöse Gewissen zu vergewaltigen und selbst zu missionieren. In der Konsequenz der Religionsfreiheit steht der säkulare Staat allen Religionen neutral gegenüber: „Das Grundgesetz legt durch Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse.“24 Staatliche Neutralität ist Konsequenz seiner Säkularität, aber weder Erziehungsprogramm noch Vorbild für den Bürger: Der Staat, nicht der Bürger, soll religiös neutral sein. Der Mensch bedarf im Allgemeinen fundamentaler, in der Regel religiöser Orientierungshilfen, um sein Leben als sinnvoll zu verstehen und kohärent zu bewältigen. Religiosität bildet daher schon ein „Gebot praktischer Vernunft“ (Immanuel Kant). Die praktische Ausfüllung dieses Gebots ist von der Glaubensfreiheit des Art. 4 GG garantiert, zugleich eine Verfassungserwartung an Bürger und Religionsgemeinschaften und derart Quellgrund gelebter Werte in der säkularen Gesellschaft. An dieser Schnittstelle des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft und Kirche liegt die Legitimation für das verfassungsrechtlich unterfangene Wirken der Kirche in der Gesellschaft, ihren Öffentlichkeitsauftrag und ihre gesellschaftliche Präsenz. Das Bedürfnis seiner Bürger nach Sinn zu befriedigen, liegt jenseits der staatlichen Aufgaben, sondern ist den verschiedenen Religionsgemeinschaften überantwortet. Diese können und müssen ihren Wahrheitsanspruch unverkürzt vertreten, aber unter der gegebenenfalls vom Staat erzwungenen Bedingung der Gewaltlosigkeit. Den unbedingten Wahrheitsanspruch unter gleichzeitigem prinzipiellen Gewaltverzicht zu akzeptieren, darin liegt für jede Offenbarungsreligion eine schwierige und anspruchsvolle Aufgabe: Sie muss den eigenen Wahrheitsanspruch mit der Toleranz und Anerkennung widersprechender religiöser Wahrheitsüberzeugungen vermitteln.25 Die Neutralität des Staates zwingt diesen entgegen verbreiteter Auffassung nicht dazu, zu allen religiösen Bekenntnissen und Weltanschauungen gleiche Distanz zu halten.26 Die Neutralitätspflicht betrifft nur die Abwehrseite der Religionsfreiheit, nicht indes ihre Schutz- und Förderdimension. Wollte man auch insoweit den Staat zu Neutralität im Sinne strikter Gleichbehandlung verpflichten, so dürfte der Staat allen religiösen Bekenntnissen und Weltanschauungen nur das gleiche Interesse bzw. Interessenlosigkeit entgegenbringen. Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten müssten dann verpflichtet sein, das christliche „Wort zum Sonntag“ um ein muslimisches „Wort zum Freitag“ und ein jüdisches zum Sabbat zu ergänzen, um gleiche mediale Öffentlichkeit für alle Religionen herzustellen.27 Differenzierungen nach den tatsächlichen VerschieDas Verhältnis von Staat und Kirchen in Europa zwischen staatskirchlichen Privilegien und weltanschaulich neutraler Distanz, DÖV 2006, S. 542 ff. 24 So BVerfGE 19, 206, 216; 24, 236, 246; 32, 98, 106; 33, 23, 28; 93, 1, 16 f.; 105, 279, 294; 108, 282, 299. 25 Dazu jüngst Franz Kamphaus, Wie werden Religionen friedensfähig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Dezember 2007, S. 7. Grundsätzlich in historischer Perspektive: Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, 2007. 26 Vgl. dazu und zum Folgenden Christian Hillgruber, Staat und Religion, 2007, S. 67 ff.; ErnstWolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 2006, S. 32 ff.
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denheiten der einzelnen Religionsgesellschaften, insbesondere ihren unterschiedlichen Größen, hat das Bundesverfassungsgericht zwar für zulässig gehalten,28 sind aber in der Sache fragwürdig: Stärke und Gewicht von Grundrechtspositionen sind weder von der Anzahl der Mitglieder einer Religionsgemeinschaft noch von deren sozialen Relevanz abhängig.29 Ungeachtet seiner Neutralitätsverpflichtung darf der Staat aber den säkularen Mehrwert einer Religion, ihren Nutzen für das Gemeinwohl, der von ihrer religiösen Aktivität ausgeht, zur Grundlage differenzierter gesetzlicher Regelungen machen. Dieser ist von Religion zu Religion, von Glaubensrichtung zu Glaubensrichtung unterschiedlich, und diesem Unterschied Rechnung zu tragen, liegt im wohlverstandenen Eigeninteresse und Selbsterhaltungsinteresse des freiheitlichen, säkularen Verfassungsstaates.30 Da der Staat angesichts der Unmöglichkeit, alle zu „privilegieren“, nur die Alternative hat, alle sich selbst zu überlassen, ohne einigen von ihnen seinen besonderen Schutz und seine besondere Förderung zukommen zu lassen, kann positive Religionspflege des Staates nur selektiv sein oder sie ist nicht. Differenzierte Religionsförderung aber kann von den Glaubensinhalten nicht, jedenfalls nicht vollständig, absehen mit der Konsequenz: Seine ethischen Voraussetzungen kann der Staat zwar nicht mit Hoheitsgewalt herbeizwingen, wohl aber kann und sollte er sie fördern.31 Die staatliche Förderoption zur Entfaltung freiheitsnotwendiger Verfassungsvoraussetzungen betrifft insbesondere Schule, Religionsunterricht, den Korporationsstatus sowie den Sonn- und Feiertagsschutz.32
3. Wesensverschiedenheit von Kirche und Staat nach kirchlichem Selbstverständnis
Die positive Anerkennung säkularer und neutraler Staatlichkeit seitens der Kirche hat erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ihre endgültige Form erfahren.33 Dabei war die Unterscheidung und Gegenüberstellung „beider Reiche“ in den christlichen Offenbarungsschriften angelegt und in der Geschichte der Kirche jedenfalls latent stets präsent.34 Sie wurde von Augustinus zur Unterscheidung der „civitas terrena“ und der „civitas dei“ weiterentwickelt, von Thomas von Aquin in die scholastische Philosophie integriert,35 von Martin Luther zur „Zwei-Reiche-Lehre“ ausgebaut, und von Leo XIII. 27 In der Konsequenz dieser Logik müssten auch für Atheisten, Nihilisten und Agnostiker als nach Art. 4 Abs. 1 GG gleichgestellten Weltanschauungen vergleichbare Sendeformate zur Selbstdarstellung und Eigenwerbung vorgehalten werden. 28 BVerfGE 19, 1 (8, 10). 29 BVerfGE 32, 98 (106); 33, 23 (28); 93, 1 (17). 30 Karl-Heinz Ladeur / Ino Augsberg, Der Mythos vom neutralen Staat, JZ 2007, S. 12 – 18; dies., Toleranz – Religion – Recht, 2007, S. 55 ff., S. 59 ff. 31 Paul Kirchhof, Braucht das Staats- und Europarecht eine Regelung zu den Religionen?, in: H. G. Klippenberg / G. F. Schuppert (Hrsg.), Die verrechtlichte Religion, 2005, S. 128, 187 – 205, 196 f. 32 Näher Hillgruber (FN 26), S. 73 ff. 33 Vgl. Arnd Uhle, Codex und Konkordat, in: Stefan Mückl (Hrsg.), Das Recht der Staatskirchenverträge, 2007, S. 35 ff. 34 Mikat (FN 2), S. 470; ders., in: FS Kunst (FN 20), S. 111 ff. – Übersicht: Ulrich Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, 1970.
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letztmals philosophisch-naturrechtlich fundiert. Der moderne demokratische Verfassungsstaat mit seiner für ihn typischen Ausdifferenzierung von säkularer Staatlichkeit und Religionsfreiheit des Bürgers hat schließlich im Zweiten Vatikanischen Konzil in zahlreichen Aussagen36 seine theologische Legitimierung und kirchliche Anerkennung erfahren. Ungeachtet immer wieder auftretender kirchlicher Suprematieansprüche über die Welt tendierte das Christentum aus der Logik seiner Lehre heraus insgesamt dazu, den religiösen Souveränitätsanspruch über die weltlichen Dinge nach und nach abzulegen, die Welt sich nach ihren autonomen Gesetzen entwickeln zu lassen, und der „Welt zu geben, was der Welt ist, und Gott, was Gottes ist“ (vgl. Mk 12,17). Leo XIII. fasste in seinen großen Staatsrundschreiben die traditionelle Lehre zusammen. Staat und Kirche erscheinen als die beiden großen autonomen Gesellschaften mit eigenem, voneinander unabhängigem Recht, denen auf ihrem Gebiet höchste Souveränität zukomme. Beide dürften aber nicht beziehungslos nebeneinander existieren, sondern müssten im abgestimmten Zusammenwirken ihre Aufgaben wahrnehmen.37 Aber diese Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche ist im Kontext einer freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung zu abstrakt-institutionell. Die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils setzen demgegenüber bei der Andersartigkeit der Kirche an, rückten deren primäre Aufgabe der Heilsvermittlung in den Mittelpunkt und stellten systematisch die Religionsfreiheit des Einzelnen in den Schnittpunkt zwischen weltlichem und kirchlichem Freiheitsverständnis.38 In der Konsequenz können sie im Verhältnis von Staat und Kirche dem jeweiligen Selbstverständnis beider Potenzen Rechnung tragen. Weil alle Menschen Gerechtigkeit und Menschlichkeit erfahren sollen,39 wird dem Staat die Pflicht zum Ausgleich konkurrierender religiöser Interessen zugewiesen: „Da die bürgerliche Gesellschaft außerdem das Recht hat, sich gegen Mißbräuche zu schützen, die unter dem Vorwand der Religionsfreiheit vorkommen können, so steht besonders der Staatsgewalt zu, diesen Schutz zu gewähren; dies darf indessen [ . . . ] nur nach rechtlichen Normen, die der objektiven sittlichen Ordnung entsprechen und wie sie für den wirksamen Rechtsschutz im Interesse aller Bürger und ihrer friedvollen Eintracht erforderlich sind, auch für die hinreichende Sorge um jenen ehrenhaften öffentlichen Frieden, der in einem geordneten Zusammenleben in wahrer Gerechtigkeit besteht [ . . . ]. Dies alles gehört zum grundlegenden Wesensbestand des Gemeinwohls und fällt unter den Begriff der öffentlichen Ordnung. Im übrigen soll in der Gesellschaft eine ungeschmälerte Freiheit walten, wonach dem Menschen ein mög35 Thomas von Aquin lehrte in seinem Sentenzenkommentar zu Petrus Lombardus die Autonomie des weltlichen und geistlichen Regiments: „Beide Gewalten, die geistliche und die weltliche, stammen von Gott. Daher steht die weltliche Obrigkeit insoweit unter der geistlichen, als sie von Gott ihr untergeordnet ist, nämlich in den Dingen, die das Heil der Seele betreffen, weshalb man in diesen Dingen mehr der geistlichen als der weltlichen Gewalt gehorchen muß. In denjenigen Dingen aber, die die bürgerliche Wohlfahrt betreffen, muß man mehr der weltlichen als der geistlichen Gewalt gehorchen.“ 36 Zu nennen sind insbesondere die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (Nr. 42, 2: AAS 58, S. 1025), ferner die dogmatische Konstitution „Lumen Gentium“ sowie die Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ (Nr. 2 – 4, 7: AAS 58, S. 929). 37 Vgl. Enzyklika „Diuturnum illud“ [1881], Immortale Dei [1885], Libertas praestantissimum [1888], Sapientiae christianae [1890]. Näher P. Tischleder, Die Staatslehre Leo XIII., 1925. 38 Vgl. Mikat, in: FS Kunst (FN 20), S. 115 f.; Böckenförde (FN 26), S. 20 ff. 39 „Gaudium et spes“, Nr. 73 – 76.
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lichst weiter Freiheitsraum zuerkannt werden muß, und sie darf nur eingeschränkt werden, wenn und soweit es notwendig ist.“40 Indem sich die Kirche damit selbst in die Pflicht gegenüber dem irdischen Gemeinwesen nimmt, wird ihr ein positives Verhältnis zum modernen, religiös neutralen Staat möglich.41 Das damit verbundene institutionelle und legitimatorische Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft in der freiheitlichen Demokratie wird von der Kirche nunmehr als Angebot und Herausforderung zugleich begriffen. Sie kann in der pluralen Gesellschaft die Aufgabe übernehmen, die Erfordernisse des gemeinen Wohls zu formulieren und zu akzentuieren, gleichsam das öffentliche Gewissen des Verfassungsstaates zu sein. Daneben wird sie in der pluralistischen Gesellschaft und nach deren Logik ihre Rechte ungehindert wahrnehmen und eine gerechte Berücksichtigung ihres Interesses an ungehinderter Entfaltung der Glaubensüberzeugung ihrer Angehörigen erstreben. Derart vermag die nachkonziliare Kirche die diesseitigen Bindungen von Staat und Kirche als gottgewollt anzuerkennen, ohne zugleich ihre unverlierbare Gotteskindschaft und heilsgeschichtliche Einordnung zu leugnen. Derart unterscheidet die Kirche zwischen dem, was die Christen als Einzelne im eigenen Namen als Bürger, die von ihrem christlichen Gewissen geleitet werden, und dem, was sie im Namen der Kirche zusammen mit ihren Oberhirten tun.42 Die Verantwortung des Christen als Staatsbürger, in der er kraft persönlicher Entscheidung aus dem Glauben heraus frei handelt, wird von seinem Handeln als Glied der Kirche unter der kirchlichen Autorität unterschieden. Damit wird eine Gleichsetzung von kirchlichen und staatlichen Aufgaben ausgeschlossen: Die Kirche ist in ihren Aufgaben und Zuständigkeiten in keiner Weise mehr mit der bürgerlichen Gesellschaft zu verwechseln. Kirche und Staat sind gegenseitig unabhängig und selbständig. Damit eignet dem Christentum insgesamt aus sich heraus eine Kompatibilität mit Idee und Gestalt des säkularen Staates. In diesem Punkt unterscheiden sich Christentum und Islam grundsätzlich. Das Christentum konnte im Zuge seiner Ausbreitung nach Rom das römische Rechtssystem und die Institutionen des Römischen Reiches übernehmen. Demgegenüber beinhaltet der Koran nach überwiegender Auffassung der Muslime rechtlich verbindliche Vorschriften für alle Lebensbereiche der Menschen mit der Folge, dass Gebote nicht nur rechtlich verbindlich, sondern auch religiös verpflichtend sind. Die Unterscheidung von Staat und Religion, d. h. säkulare Staatlichkeit, kann daher nach muslimischen Verständnis bereits im Ansatz theoretisch nicht gedacht, geschweige denn praktisch realisiert werden, sondern allenfalls taktisch solange geduldet werden, wie man in der Minderheit ist. Insoweit repräsentiert der Islam bis heute den religiösen Souveränitätsanspruch über die Welt – mit den entsprechenden kulturellen und zivilisatorischen Folgen. Ob ein Reflexiv-Werden des Islam durch eine historisch-kritische Interpretation des Koran, eine Relativierung durch Geltungsbeschränkung auf die religiösen Dimensionen des Lebens und eine Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht eine realistische Perspektive ist, kann nur erhofft werden – jedenfalls aber gilt es, sich insoweit auf einen längerfristigen Inkulturationsprozess einstellen zu müssen.
Dignitatis humanae, Nr. 7. Vgl. Mikat, in: FS Kunst (FN 20), S. 121. 42 Gaudium et spes, Nr. 76, 1. Näher: Otto Depenheuer, Politik aus christlicher Verantwortung, in: FS Bernhard Vogel, 2007, S. 27, 36 ff. 40 41
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Otto Depenheuer 4. Säkularität des Staates und die Herausforderung des Fundamentalismus
Die moderne gewaltenteilige Ordnung von freiheitlich-demokratischem Staat und Kirche markiert weder den Endpunkt der Geschichte noch folgt sie historisch einer notwendigen Entwicklung. Zwar ist sie zivilisatorische Kulturleistung, staatsrechtlich und sozialethisch derzeit unbestritten, gleichwohl aber historisch kontingent, stets labil und gefährdet, nur funktional, nicht aber rational zwingend begründbar. Dieses moderne und historisch erfolgreiche Friedens- und Ordnungsmodell des politischen Gemeinwesens sieht sich theoretisch fundamentalen Infragestellungen und politisch latenten Gefährdungen gegenüber. Nur funktional aus der Friedensaufgabe des Staates legitimierte Säkularität sieht sich durch den weiter bestehenden Wahrheitsanspruch der Religionen latent und grundsätzlich stets in Frage gestellt. Gegenüber der transzendenten Wahrheit hat der weltimmanente Frieden notwendig nur untergeordnete Bedeutung: den Tod muss nicht fürchten, wer sich zum Himmel bestimmt weiß. Und umgekehrt kann und will das Argument innerweltlichen Friedens einem transzendent begründeten Wahrheitsanspruch nicht Rechnung tragen. Jakob Burckhardt hat in seinen berühmten „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ Staat, Religion und Kultur als die drei die Geschichte bewegenden Potenzen ausgemacht.43 Alle drei Potenzen folgten spezifischen Bewegungsgesetzen, wirkten aufeinander ein und prägten in ihrem kontingenten Verhältnis die Geschichte der Völker und Staaten. In Europa scheint sich eine von den drei Potenzen, nämlich die religiöse, als bewegende Kraft der Weltgeschichte verabschiedet zu haben. Der Prozess der Säkularisierung, in Europa durch Renaissance und Reformation in Gang gesetzt und durch die Gewährleistung der Religionsfreiheit verfassungsrechtlich unterfüttert, hat seit dem 19. Jahrhundert zu einem fortschreitenden Glaubenszweifel und Transzendenzverlust geführt, der im beginnenden 21. Jahrhundert zu einer signifikanten Entchristlichung der „christlich-abendländischen Kultur“ führt. Die Säkularisierung als welthistorischer Prozess schien vor ihrer vermeintlich logischen Konsequenz zu stehen: von der Neutralisierung der religiösen Wahrheit über die Selbstsäkularisierung der Kirchen zur Aushöhlung des Glaubens und zur Verabschiedung der Transzendenz. Doch die These eines linearen Prozesses der Säkularisierung der Gesellschaft sieht sich seit wenigen Jahrzehnten auch mit gegenläufigen Entwicklungen konfrontiert: Die Blüte der Sektenkultur signalisiert ebenso Transzendenzbedarf wie die Renaissance des Islam – durch die Einwanderung aus islamischen Ländern nach Deutschland und Europa signifikant vor Augen stehend und in Gestalt des militanten islamischen Fundamentalismus den müden und wohlstandsgesättigten „Westen“ aus seinen hedonistischen Träumen reißend – ein Beispiel schon fast vergessener archaischer religiöser Vitalität abgibt. Die fundamentalen Voraussetzungen für das konkrete Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland – die Säkularität des Staates, seine religiöse Neutralität und die grundsätzliche Parität der Religionsparteien – sind in der Gegenwart in signifikanter Weise Wandlungsprozessen unterworfen. Das überkommene System wird von zwei Entwicklungen vor eine Bewährungsprobe gestellt: Marginalisierung des Christlichen einerseits und die zunehmende Präsenz eines selbstbewusst auftretenden Islam andererseits, der – aufs Ganze gesehen – die Aufgabe der Anverwandlung der Säkularitätsidee noch vor 43
Burckhardt (FN 8), S. 27 ff.
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sich hat. Das macht eine Vergewisserung von staatlicher wie kirchlicher Seite über das aktuelle und überschaubare künftige Verhältnis beider Potenzen umso dringlicher. Die in und durch die historische Entwicklung in der christlich-abendländischen Welt beantwortet geglaubten Grundfragen müssen neu beantwortet werden, weil die überkommenen Antworten den neuen Realitäten und Mentalitäten kaum mehr Rechung tragen können. Dazu zählt insbesondere die Erkenntnis, dass die Säkularität des Staates die unverhandelbare Grundlage einer freiheitlichen Ordnung in Frieden ist. Säkularität und Neutralität des Staates setzen deren Anerkennung durch die Religionsgemeinschaften zwingend voraus. Eine staatliche Säkularität und religiösen Fundamentalismus überwölbende „Super-Neutralität“ kann es nicht geben: Die Fundamentalalternative „Frieden oder Wahrheit“ wird erneut zur Gretchenfrage für Staat und Religion. Insgesamt sieht sich die Kirche in ihrem Verhältnis zum säkularen Staat also in mehrfacher Hinsicht herausgefordert: Die Pluralität und Relativität des demokratischen Staates, um sich greifende religiöse Gleichgültigkeit einerseits, Aufkommen fundamentalistischer Sekten und Religionen, die die mühsam erworbenen Errungenschaften der letzten 500 Jahre ablehnen und bekämpfen, andererseits. Aber die Kirche wird sich diesen Herausforderungen stellen müssen und können. Schon 1868 hat Jacob Burckhardt die künftige Rolle der Kirche wie folgt umschrieben: „Die Kirchen aber werden mit der Zeit das Verhältnis zum Staat so gerne aufgeben als dieser das Verhältnis zu ihnen. Gleichen sie jetzt dem Schiff, welches einst auf den Wogen ging, aber seit langer Zeit zu sehr ans Vorankerliegen gewohnt ist, so werden sie wieder schwimmen lernen, sobald sie einmal im Wasser sind [ . . . ]. Dann werden sie wieder Elemente und Belege der Freiheit sein“.44 Ähnlich formuliert über 100 Jahre später die Pastoralkonstitution: „Doch setzt sie [sc. die Kirche] ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Sie wird sogar auf die Inanspruchnahme legitim erworbener Rechte immer dann verzichten, wenn feststeht, daß sonst die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist.“45
III. Kirche in freiheitlich-demokratischer Gesellschaft 1. Kirche und funktionsdifferenzierte Gesellschaft
Säkularität des Staates bedeutet nicht das Ende von Religion, sondern ermöglicht ihre Wirksamkeit in der Welt.46 Sie ist für die Kirche Angebot wie Verpflichtung gleichermaßen. Die Kirche betrachtet daher Säkularität nicht als unvermeidliches Übel, sondern als positive Errungenschaft.47 Sie kann ihr umfassendes Engagement in der Welt leben, für das sie seit ihren Anfängen bekannt ist und das sie aufgrund der ihr eigenen sozialen Dynamik zum bedeutendsten Kulturfaktor des Abendlandes hat werden lassen. Ihre Gemeinwohlsorge führt über Seelsorge für die ihr anvertrauten Gläubigen hinaus und zielt auf soziale Wirksamkeit in der säkularen Gesellschaft.48 44 45 46 47 48
Burckhardt (FN 8), S. 119 f. Gaudium et spes, Nr. 76, 5. Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 286. Dignitatis humanae, Nr. 7. Vgl. dazu Reinhard Marx, Ist Kirche anders?, 1990; Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004.
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Religiöse, transzendent begründete Einheit vermag sich gegenwärtig indes nur unter den Funktionsbedingungen der modernen Gesellschaft zu entfalten und zum Wohle des Ganzen auszuwirken. Bedingung kirchlicher Gemeinwohlsorge ist daher die Respektierung von Funktionsweise und Logik der modernen Gesellschaft, deren charakterisierendes Merkmal das der Ausdifferenzierung ist.49 Sie hat die Einheit der res publica christiana in die komplexe Vielfalt der modernen Gesellschaft überführt. In der Immanenz dieser Welt ist Religion und Kirche wie alle anderen Systeme der Gesellschaft nur ein Teilsystem und insoweit sektorales System. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass sie sich selbst – wie alle anderen Systeme auch – als absolutes, d. h. das Ganze der Welt reflektierendes und erklärendes System versteht und verstehen muss. Aber das reflexive Bewusstsein ihrer sektoralen Begrenztheit in dieser Welt ermöglicht der Kirche, sich auch mit den Augen der säkularen Welt zu sehen und derart ihre Handlungsoptionen realistisch einzuschätzen. Darauf gründet die Kirche ihre Strategie für ihren Sendungsauftrag „für das Ganze von Mensch und moderner Welt“. Kirche und Religionsgemeinschaften erfüllen aus dieser Perspektive funktional spezifische Aufgaben in Hinsicht auf die ihnen anvertraute transzendente Wahrheit und die Vermittlung des ewigen Heils ihrer Mitglieder: Die Immanenz der Welt ist ihr Wirkungsfeld, die Transzendenz aber bildet den Bezugspunkt.50 Insoweit verfügen die Kirchen über ein Monopol, hier können die Kirchen ihre spezifischen Leistungen und überragenden Kompetenzen in die säkulare Gesellschaft einbringen: unverwechselbar, identifikationsfähig, identitätsbildend. 51 Die Konzentration der Kirche auf Heilssorge ist weniger Beschränkung ihres Wirkungskreises denn Bedingung, in säkularer Umwelt ihren universalistischen Wahrheitsanspruchs unverkürzt und absolut aufrecht zu erhalten. Mehr noch: Die Besinnung auf ihre spezifischen Aufgaben immunisiert vor den Gefahren der Selbstsäkularisierung. Die Kirche kann, darf und muss die ihr anvertraute Wahrheit unverkürzt verkünden, die Kraft zum Widerspruch und moralischen Ärgernis in der Welt entwickeln. In der Welt aber muss sie für ihre Wahrheit mit demokratischen Mitteln um Mehrheiten kämpfen, Niederlagen gegebenenfalls akzeptieren, d. h. das staatliche Letztentscheidungsrecht in temporalibus anerkennen.52 Die Absage an die potestas directa in temporalibus bewahrt die Kirche vor den latenten Versuchungen zu Grenzüberschreitungen (2.). Wohl aber verfügt die Kirche über eine potestas directa in spiritualibus gegenüber ihren Gläubigen (3.). Ihnen obliegt es denn auch zuvörderst, christliche Ethik mit säkularen Sachzwängen zu vermitteln. Derart verweist säkulare Staatlichkeit die Kirche auf eine potestas indirecta in temporalibus (4.). In dieser Form vermögen Staat und Kirche gemeinsam ein freiheitliches Gemeinwesen zu stabilisieren und auf Dauer zu stellen (5.).
49 Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 595 ff.; Gerd Roellecke, Religion – Recht – Kultur, 2007, insbesondere S. 22 ff. 50 Vgl. Mikat, in: FS Kunst (FN 20), S. 114 f. 51 Vgl. Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 2000. 52 Vgl. dazu zuletzt: Muckel (FN 16).
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2. Keine Potestas directa in temporalibus
Die Kirche nimmt ihrem religiösen Selbstverständnis folgend seit ihren Anfängen eine gesamtgesellschaftliche Integrationsfunktion für sich in Anspruch: Sorge für das Gemeinwohl im weitesten Sinne53 sowie die sittlichen Grundlagen des Gemeinwesens.54 Die Kirche hat „das Ganze von Mensch und Welt im Auge“ und muss daher in die Öffentlichkeit und den politischen Prozess einwirken.55 Die Kirche begnügt sich nicht mit einer Nischenexistenz, sondern sucht das Gemeinwesen prägend mitzugestalten, „den Herrschaftsanspruch Christi auch für den weltlichen Bereich“ zu verkünden.56 Im Kontext säkularer und freiheitlicher Demokratie kann die Kirche diesen legitimen Anspruch selbst nur in Grenzen erfüllen.57 Sie verfügt über ihre Freiheitsrechte, nimmt diese zum Dienst an den Menschen in Anspruch und erfüllt im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen die Idee von Caritas und Diakonie mit Leben.58 In diesen Bereichen – den res mixta – wirken Staat und Kirche in Deutschland traditionell zusammen und prägen das Bild des harmonischen Zusammenwirkens von Staat und Kirche.59 Darüber hinaus kann die Kirche in der freiheitlichen Demokratie indes nur nach Maßgabe von deren Willensbildungs- und Entscheidungsverfahren inhaltlichen Einfluss auf die kollektiv verbindlichen Entscheidungen gewinnen: Sie muss politische Mehrheiten organisieren und mittels öffentlicher Verlautbarungen auf den politischen Entscheidungsprozess Einfluss nehmen. Im Übrigen muss sie darauf vertrauen, dass ihre Gläubigen die kirchliche Lehre im politischen und gesellschaftlichen Alltag im Auge behalten und mit den Erfordernissen des Tages vermitteln.60 Eines vermag sie rechtlich, ihrem Selbstverständnis und ihrem Anspruch nach indes nicht mehr: die Aufgabe der Gemeinwohlsorge mit dem Anspruch auf verbindliche Festsetzung dessen zu verbinden, was dem Gemeinwesen ansteht. Damit würde sie unversehens in den Bereich der überwundenen Lehre von der potestas directa in temporalibus gelangen. Stärkung der religiösen Vitalität und theologischen Kompetenz der Kirche bei gleichzeitiger Anerkennung der Selbstgesetzlichkeit der ausdifferenzierten säkularen Gesellschaft im Übrigen bilden die Pole, zwischen denen die Kirche heute agiert.61 In diesem Sinne bekennt die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“: „Die ihr eigene Sendung, die Christus der Kirche übertragen hat, bezieht sich zwar nicht auf den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich: das Ziel, das Christus ihr gesetzt hat, gehört ja der religiösen Ordnung an.“ Der umfas53 „Gaudium et spes“ Nr. 76 und passim. Vgl. auch Hans Maier, Dienste der Kirche am Staat, in: Essener Gespräche 25 (1991), S. 5 ff. 54 Verfassungsrechtlich leitet die Kirche ihr gesellschaftspolitisches Engagement aus dem „Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen“ ab, deren Kern ein religiös-sittliches Mandat sei; vgl. Alexander Hollerbach, HdbStR VI, § 138 Rn. 97; Götz Klostermann, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen – Rechtsgrundlagen im kirchlichen und staatlichen Recht, 2000. 55 Hollerbach (FN 54), Rn. 80. 56 Klostermann (FN 54), S. 147 mit weiteren Nachweisen. 57 Zum Verhältnis von Kirche und Demokratie vgl. Mikat, in: FS Kunst (FN 20), S. 118 ff.; Rudolf Uertz, Katholizismus und Demokratie, in: APuZG B 7 (2005), S. 15; ders., Theologisches Sprechen über Demokratie, in: FS Karl Graf Ballestrem, 2005, S. 33 ff. 58 Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. 2, 2. Aufl., 1995, §§ 59 ff. 59 Überblick ebd. §§ 44 ff. 60 Böckenförde (FN 17), S. 42 ff. 61 Vgl. Depenheuer (FN 17), S. 18.
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sende Ordnungsanspruch der Kirche klingt indes wieder durch, wenn es im unmittelbaren Anschluss daran weiter heißt: „Doch fließen aus eben dieser religiösen Sendung Auftrag, Licht und Kraft, um der menschlichen Gemeinschaft zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein.“62 „Es ist ihr [sc. der Soziallehre der Kirche] Recht, den sozialen Bereich zu evangelisieren, das heißt, dem befreienden Wort des Evangeliums in der vielschichtigen Welt der Produktion, der Arbeit, des Unternehmertums, der Finanzen, des Handels, der Politik, der Rechtsprechung, der Kultur und der sozialen Kommunikation, in der der Mensch lebt, Gehör zu verschaffen.“63 Allerdings überträgt die Kirche ihre religiöse Botschaft nicht unvermittelt auf die politische Ordnung des Gemeinwesens. Sie äußert sich mit ihrer Soziallehre nicht zu technischen Fragen und stellt keine Systeme oder Modelle der sozialen Organisation auf oder schlägt solche vor.64 „Die Kirche achtet die berechtigte Autonomie der demokratischen Ordnung. Es steht ihr nicht zu, sich zu Gunsten der einen oder anderen institutionellen oder verfassungsmäßigen Lösung zu äußern“.65 Sie beschränkt sich auf die Wahrung des fundamentalen, ethisch unaufgebbaren Kerns der moralischen Ordnung:66 Die Kirche kommt „ihrer Verantwortung für das Leben in der Gesellschaft nicht unter jedem beliebigen Blickwinkel nach, sondern mit der ihr eigenen Kompetenz der Verkündigung Christi“.67 Als „moralisches Gewissen der Politik“ nimmt sie ein Wächteramt in und gegenüber der säkularen Gesellschaft in einer Weise wahr, die ihre Autorität nicht in einem permanenten Verlautbarungsmarathon verbraucht, sondern die relative Autonomie der politischen Ordnung nur im moralischen Grenzfall unter religiösen Gehorsamsvorbehalt stellt.68 Dann – aber auch nur dann – nämlich gilt: „Du sollst Gott mehr gehorchen, als dem Staat“.69 Christentum und Demokratie können daher auch nicht identifiziert werden und das Demokratische „in einem besonders hohen Grade als von Gottes Gnaden“ angesehen werden.70 Vielmehr muss im säkularen Staat das Spannungsverhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt, die Unterscheidung von geistlichen und weltlichen Dingen immer wieder neu ausgehalten werden. Christentum und christlicher Glaube können in keiner weltlichen Ordnungsform ganz aufgehen, auch nicht in der verfassungsstaatlichen Demokratie. Zurückhaltung auf eine Macht „in temporalibus“ und die Konzentration auf ihre spezifisch religiösen Herausforderungen bewahrt die Kirche vor der Gefahr der Selbstsäku62 Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (Nr. 42: AAS 58), in: Karl Rahner / Herbert Vorgrimler (Hrsg.), Kleines Konzilskompendium, 1966, S. 449 ff.; Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, 2006, Nr. 68. 63 Kompendium (FN 62), Nr. 70. 64 Vgl. Kompendium (FN 62), Nr. 68. 65 Johannes Paul II., Enzyklika „Centesimus annus“, Nr. 47: AAS 83 (1991), S. 852. 66 So zutreffend die „Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhältnis der Katholiken im politischen Leben“ der Kongregation für die Glaubenslehre (vom 24. November 2002), hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, S. 12. 67 Katechismus (FN 1), Nr. 2420. 68 Vgl. Klaus Schlaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: Listl / Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. 1, 2. Aufl., 1995, S. 157 f. 69 Apg 5,29. 70 Kritisch mit Recht Manfred Spieker, Die Demokratiediskussion unter den deutschen Katholiken 1949 – 1963, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Katholizismus, Rechtsethik und Demokratiediskussion 1945 – 1963, 1981, S. 77, 84 f.
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larisierung.71 Macht und Einfluss auf politischem Feld gehen nämlich unvermeidlich auf Kosten des Verkündungsauftrags und der Glaubwürdigkeit:72 „Jede Berührung mit dem Irdischen wirkt stark auf die Religion zurück; mit der äußeren Machtgestaltung ist unfehlbar eine innere Zersetzung verbunden, schon weil ganz andere Leute an die Spitze kamen als in der ecclesia pressa.“ Ein Übergreifen der Kirche in die spezifische Kompetenz anderer Funktionssysteme führt zudem zur Gefahr der Verwechselbarkeit und der Austauschbarkeit mit tendenziell fehlender Sachkompetenz.73 Als bloße „Sozialagenturen“ geriete die Kirche notwendig unter das Gesetz des Politischen, in die Gefahr der Identifikation von kirchlichem Auftrag und politischer Aufklärung74 sowie in unmittelbare Konkurrenz zu genuin säkularen Institutionen und damit in einen unerbittlichen Leistungsvergleich zu diesen. Die Kirche darf aber als Kirche nicht scheitern, wenn sie politisch versagt haben sollte.75 3. Potestas directa in spiritualibus
Die Kirche hat die Aufgabe, den Menschen das Heil zu verkünden und derart die Welt mitzugestalten. 76 Indem die Säkularisation die Kirche zu sich selbst befreit, kann sie sich darauf konzentrieren, der Welt den Weg des eschatologischen Heils zu weisen. Diese bedarf in ihrer Widersprüchlichkeit, Unübersichtlichkeit und Ziellosigkeit einer theologischen Verkündigung, die die Erkenntnisse der modernen Philosophie und Humanwissenschaften kritisch zu durchdringen und dadurch die Einheit von Spiritualität und rationalem Denken herzustellen vermag.77 Derart vermittelt die Kirche ihren Gläubigen Orientierungssicherheit in der Komplexität der modernen Welt. Gegenüber der Lehre seiner Kirche verfügt der Christ über keine Freiheit.78 Religiöse und kirchlich 71 Zum Problem vgl. Josef Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Gerfried W. Hunold / Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen. Ethische Herausforderungen im Anspruch der Zukunft, 1986, S. 164 ff.; ders., Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Wilhelm Rees / Wolfgang Rüfner (Hrsg.), Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl, 1999, S. 88 ff.; Depenheuer (FN 17), S. 18 ff. – Zur Gefahr, dass derart Religion die Ersatzreligion ihrer selbst wird, vgl. Arnold Gehlen, Religion und Umweltstabilisierung, in: Oskar Schatz (Hrsg.), Hat die Religion Zukunft?, 1971, S. 83, 91, 97. 72 So Burckhardt (FN 8), S. 106. Ähnlich: Mikat (FN 2), Sp. 469. 73 Eingehend dazu: Depenheuer (FN 17), S. 10 und 16 ff. 74 Vgl. dazu: Josef Isensee, Die katholische Kirche und das verfassungsstaatliche Erbe der Aufklärung, in: FS für Herbert Schambeck, 1994, S. 213, S. 244 ff. 75 Warnende Beispiele bei Martin Heckel, Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis, in: HStKirchR I, § 5, S. 157 ff. 76 Vgl. Depenheuer (FN 17), S. 21 ff. Schon früher wurde die Säkularisierung als Chance begriffen, weil dadurch das Christentum als geistliche Botschaft und Macht erst zu sich selbst finden kann; vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Gegenwärtige Herausforderungen der Kirchen durch die Säkularisierung, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 38 (2004), S. 103 ff. 77 In diesem Sinne das eindrucksvolle Bemühen von Papst Benedikt XVI., Religion und Vernunft wieder zusammenzuführen; vgl. zusammenfassend Helmut Hoping, Diesseits und jenseits des Staates. Zur Theologie des Politischen bei Joseph Ratzinger / Benedikt XVI, in: Politische Studien 1 / 2006, S. 15 ff. – Kritik an der theologischen Verödung in Deutschland und Plädoyer für eine substantielle und konsequente Theologie: Klaus Berger, Fatale Gutmütigkeiten. Die Kirche wird gedankenlos modernisiert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Juli 2003, S. 31. 78 Vgl. zum Folgenden: Depenheuer (FN 42), S. 31 ff.
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vermittelte Wahrheit bilden die Grundlagen des Handelns eines jeden Christen in der Welt; ihr gegenüber kann es nur Gehorsam, aber keine Freiheit zur Selbstbestimmung geben. Gegenüber seiner religiösen Wahrheit ist kein Gläubiger frei, kann und darf es eine „Freiheit für den Irrtum“ nicht geben. Kein gläubiger Christ kann sich gegenüber den Geboten seines Glaubens frei wähnen. Die katholische Kirche nimmt denn auch selbstverständlich für sich das Recht in Anspruch, über den Inhalt der christlichen Offenbarungswahrheit verbindlich zu befinden und ihre Gläubigen zu Gehorsam zu verpflichten. So haben die Gläubigen „die Lehren und Weisungen, die ihnen die Hirten in verschiedenen Formen geben, willig“ anzunehmen.79 Diese potestas directa in spiritualibus ist Kernelement kirchlicher Glaubensverkündigung in all ihren Facetten. Auf diese Weise bietet die Kirche den Menschen und der Welt ihre Wahrheit und ihre Werte an, verkündet sie und lebt sie vorbildhaft vor. Aber sie kann der säkularen Gesellschaft gegenüber nicht die Gewähr für den Erfolg religiöser Wertebildung übernehmen und sollte deshalb auch nicht ihre Legitimation daraus abzuleiten versuchen.80 So richtig es ist, dass Werte im Unbedingten Wurzeln fassen können, darin gründen und die Kirche dieses Unbedingte im Glauben verwaltet, so ist doch Wertebildung des Einzelnen nicht Inhalt und Funktion kirchlicher Gemeinwohlsorge, sondern Folge kirchlicher Verkündigung, nicht Ziel, sondern Wirkung religiöser Glaubensüberzeugung. Andernfalls könnte die Kirche für den gesellschaftlichen Werteverfall in politische Haftung genommen werden. 4. Potestas indirecta in temporalibus
Mit Erfüllung der Aufgabe der Glaubensverkündigung wirkt die Kirche in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft über ihre Mitglieder mittelbar auf diese ein. Zwar verfügt die Kirche nicht mehr über unmittelbare politische Ordnungsmacht, wohl aber über eine Orientierungs- und Sinnstiftungsfunktion für die Menschen sowie Weisungsbefugnis gegenüber ihren Gläubigen. Nur der Einzelne, nicht aber die Gesellschaft als Ganzes kann sich in der heutigen Zeit an der einen, von der Kirche bewahrten universalen Wahrheit orientieren. Das Individuum spielt in der heutigen ausdifferenzierten Gesellschaft unvermeidlich die zentrale Rolle:81 Über ihre Gläubigen kann die Kirche indirekt gesamtgesellschaftlichen Einfluss gewinnen und bewahren. In der Bewältigung der Spannung zwischen kirchlichem Glauben und weltlichen Zwängen besteht die Herausforderung des modernen Christen: Er muss Glauben und moderne Welt synthetisieren und sich gegen die Versuchungen des Fundamentalismus und Relativismus behaupten. Seinen Glauben fundamentalistisch durchzusetzen und für Dritte verbindlich zu erklären, wäre das Ende von Religionsfreiheit. Seinen Glauben umgekehrt gesamtgesellschaftlich aufzulösen, wäre Verrat am Glauben. Beide Phänomene resultieren aus der Unfähigkeit, sich als Gläubigen mit den Augen anderer zu 79 Vgl. Katechismus (FN 1), Nr. 87 sowie Nr. 2032 ff., wobei der Grad der Verbindlichkeit verschieden ist (vgl. Can. 750, 752 CIC). – Die „Lehrmäßige Note“ (FN 66) konkretisiert dieses Weisungsrecht näher. 80 Zum Problem: Heinz Theo Hofmann, Das funktionale Argument. Konzepte und Kritik funktionslogischer Religionsbegründung, 1997. Weiterführend: Reinhard Marx (FN 48), insbes. S. 68 ff., S. 377 ff. 81 Vgl. näher: Otto Depenheuer, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 55 (1996), S. 92 ff.
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sehen. Nur der einzelne Gläubige kann seine kirchlich vermittelte Glaubenswahrheit mit der Autonomie des von ihm verantworteten Sachbereichs in ein stimmiges Verhalten setzen. Nur so kann und muss er die Welt, von der er ein Teil ist, mit seiner christlichen Überzeugung und Hoffnung zusammenbringen. In dem Maße, wie ihm dies gelingt, kann die Kirche mittelbar über ihre Mitglieder fruchtbare christliche Prägungen in der Welt hinterlassen. 5. Korrespondierende staatliche Erwartungen
Aus dem Glauben der Menschen bezieht der Staat eine seiner tragenden Ressourcen: aus unbedingten, in der Transzendenz wurzelnden Werten speist sich der Ethos der modernen Gesellschaft.82 Diese Werteprägung der Gesellschaft durch Religion ist nur eine mittelbare Wirkung von Religion, kann nicht unmittelbares Anliegen der Kirche sein. Der Christ handelt nicht wertegebunden und verantwortungsbewusst, weil er dem Gemeinwesen dienen will, sondern weil er in den Himmel kommen will. Der „gute Staatsbürger“ ist aus christlicher Perspektive nicht Ziel, sondern Folge des Glaubens: „positive Externalität“. In der Praxis der Seelsorge leistet die Kirche ihren bestmöglichen Beitrag zur Gemeinwohlsorge. Daher gilt und bestätigt sich der Satz: Die Kirche dient der modernen Gesellschaft am besten dadurch, dass sie sich auf die ihr eigenen Kompetenzen besinnt. Der Staat begrüßt und fördert das kirchliche Gemeinwohlengagement. Auch kirchliche Stellungnahmen zu allem Möglichen, Initiativen und Aktivitäten werden von Staats wegen gerne affirmativ zur Kenntnis genommen, gegebenenfalls sogar initiiert und gefördert, wenn sie mit dem staatlichen Interesse in Einklang stehen. Insbesondere die Aufgabe, die Grundwerte der Gesellschaft zu bewahren und zu tradieren, gilt von Staats wegen als Aufgabe der Religionen.83 Aber die staatliche Erwartungshaltung ist nicht frei von politischen Nützlichkeitserwägungen: Der Politik geht es in erster Linie um Mehrheits- oder Legitimationsbeschaffung, nicht um Ethik, sondern um politische Entscheidungsdurchsetzung, d. h. um die Instrumentalisierung religiöser Moral zur Durchsetzung und Akzeptanzsicherung politischer Entscheidungen. Umgekehrt wird die Kirche der Versuchung widerstehen, den Staat zur Durchsetzung ihrer religiösen Werte zu instrumentalisieren. Kirchliche Morallehre wird nicht dadurch glaubwürdiger, dass der Staat sich ihrer bedient. Vor allem könnte der Staat als Hüter christlicher Werte im Gegenzug erwarten, dass die Kirchen die anstößigen Inhalte ihrer Sittenlehre nicht allzu laut vortragen.84
82 Darauf hat Böckenförde immer wieder aufmerksam gemacht (FN 17), S. 61. Vgl. auch Josef Isensee, Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 11 (1977), S. 92 ff.; ders., Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 25 (1991), S. 105 ff. – Alle säkularen formalen wie prozeduralen Verfahren der Wertesetzung haben sich hingegen als unfruchtbar erwiesen; vgl. Robert Spaemann, Glück und Wohlwollen, 1989, S. 157 ff., S. 172 ff. 83 Vgl. die einschlägigen Verfassungsbestimmungen in mehreren Landesverfassungen, z. B. Art. 12 Abs. 2 Bad-WürttVerf.; Art. 133 BayVerf.; Art. 17 NWVerf.; Art. 26 Abs. 2 SaarVerf; Art. 109 Abs. 1 SächsVerf. Vgl. auch Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche (FN 82), S. 108 ff., S. 128, S. 136. 84 Josef Isensee, Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts (FN 71), S. 67.
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Literatur Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976. – Der säkularisierte Staat, 2006. Depenheuer, Otto: Politik aus christlicher Verantwortung. Staatsphilosophische Überlegungen, in: Dieter Althaus (Hrsg.), Mut, Hoffnung, Zuversicht. Festschrift für Bernhard Vogel, 2007, S. 27 – 38. – Religion als ethische Reserve der säkularen Gesellschaft? Zur staatstheoretischen Bedeutung der Kirche in nachchristlicher Zeit, in: ders. u. a. (Hrsg.), Nomos und Ethos. Hommage an Josef Isensee, 2002, S. 3 – 23. – Wahrheit oder Frieden. Die fundamentalistische Herausforderung des modernen Staates, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 33 (1999), S. 5 – 35. Hillgruber, Christian: Staat und Religion, 2007. Isensee, Josef: Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung LXXIII, 1987, S. 296 ff. – Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 25 (1991), S. 105 ff. – Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Gerfried W. Hunold / Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen. Ethische Herausforderungen im Anspruch der Zukunft, 1986, S. 164 – 178. Kaufmann, Franz-Xaver: Gegenwärtige Herausforderungen der Kirchen durch die Säkularisierung, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 38 (2004), S. 103 ff. Ladeur, Karl-Heinz / Augsberg, Ino: Toleranz – Religion – Recht, 2007. Mikat, Paul: Kirche und Staat, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 3, 1987, Sp. 468 ff. (Lit.) – Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht, in: Festschrift für Hermann Kunst, 1967, S. 105 ff. Roellecke, Gerd: Religion – Recht – Kultur und die Eigenwilligkeit der Systeme, 2007.
Religionsfreiheit und ihre Grenzen Von Christian Waldhoff I. Einleitung Das Grundrecht der Religionsfreiheit wird im Grundgesetz durch eine Vielzahl von Gewährleistungen garantiert. Neben dem zentralen Grundrecht auf Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, der „Magna Charta“ der Religionsfreiheit1, wird an mehreren Stellen die Gleichheitsdimension des Grundrechts hervorgehoben, so etwa in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG oder in Art. 33 Abs. 3 GG hinsichtlich des Genusses staatsbürgerlicher Rechte und des Zugangs zu öffentlichen Ämtern.2 Daneben steht das über Art. 140 GG inkorporierte institutionell ausgerichtete Weimarer Staatskirchenrecht (Art. 136 bis 139; 141 WRV) als vollgültiges Verfassungsrecht.3 Dieses Nebeneinander von staatskirchenrechtlichen und grundrechtlichen Normierungen erklärt sich für Deutschland aus der Tatsache, dass das Grundrecht der Glaubensfreiheit aus der Auseinandersetzung der beiden großen christlichen Kirchen mit dem Staat und untereinander entwickelt wurde4 und insofern neben dem menschenrechtlichen Aspekt der individuellen Freiheit auch das Verhältnis von Staat und Kirche in engem Zusammenhang mit der Grundrechtsgarantie geregelt wurde.5 Beides steht in einem Verhältnis der Wechselbezüglichkeit unter dem methodologischen Topos von der Einheit der Verfassung zueinander.6 Den Weimarer Kirchenartikeln kommt bei dieser Forderung einer einheitlichen Auslegung die Funktion der Ermöglichung der Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit zu.7 Damit ist Art. 4 GG so1 Erwin Stein, Die Religionsfreiheit im Grundgesetz, in: Gedächtnisschrift für Ingeborg Röbbelen, 1972, S. 237 ff. (239); Joseph Listl, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: ders. / Dietrich Pirson (Hrsg.), Bd. 1, § 14, S. 439 ff. (446); zu den außerjuristischen Hintergründen der Religionsfreiheit und ihren Wechselwirkungen mit den entsprechenden verfassungsrechtlichen Verbürgungen vgl. im Überblick Martin Heckel / Walter Kasper u. a., Art. „Religionsfreiheit“, in: Staatslexikon, Bd. 4, 7. Aufl. 1988, Sp. 820 ff.; Rüdiger Schloz, Art. „Religionsfreiheit“, in: Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, 3. Aufl. 1987, Sp. 2966; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt, 1990. 2 BVerfGE 24, S. 236 ff. (246) – „Aktion Rumpelkammer“; Borowski, S. 679 ff. 3 Axel v. Campenhausen, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck, Grundgesetz, Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 140 Rdnr. 8. 4 Muckel, S. 284. 5 Christian Starck, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck, Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 6. 6 BVerfGE 53, S. 366 ff. (401); Ulrich Scheuner, Die Religionsfreiheit im Grundgesetz, in: DÖV 1967, S. 585 ff. (587); Jeand’Heur / Korioth, Rdnr. 73; Martin Morlok, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rdnr. 51. 7 BVerfGE 102, S. 370 ff. (386 f.) – „Zeugen Jehovas“.
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wohl klassisches Freiheitsgrundrecht8 als auch essentieller Bestandteil des deutschen Staatskirchenrechts.9 Der Ausgangspunkt dieses Beitrags könnte mit einer polemisch zugespitzten Frage umschrieben werden: Handelt es sich bei Art. 4 des Grundgesetzes um ein im Gewährleistungsumfang entgleistes Grundrecht? Oder seriöser formuliert: Die Interpretation der Religionsfreiheit ist auf Grund der Eigenschaften von Religionen und Religiosität als Kulturfaktoren stets kontextabhängig. Die extensive, Weimarer Vorbilder und damit die Ausgangslage im Jahre 1949 weit hinter sich lassende10 Auslegung durch die Verfassungsrechtsprechung und die Literatur waren lange geprägt von einer weitgehenden religiös-weltanschaulichen Homogenität der deutschen Nachkriegsgesellschaft.11 Bei allen Differenzen, aus denen sich die Gewährleistungen der individuellen und kollektiven Religionsfreiheit entwickelt haben mögen, setzt das schließlich gefundene System des Grundgesetzes, wie Rudolf Smend bemerkt, eine gewisse Problemlosigkeit des Verhältnisses von Staat und Kirche voraus.12 Diese religiös-kulturelle Homogenität hat sich mittlerweile gelockert, wenn nicht verabschiedet:13 Andere Weltreligionen wie insbesondere der Islam gewinnen nicht nur nach der Zahl ihrer Anhänger Relevanz; daneben treten Sekten und sogenannte Jugendreligionen14. Die Homogenität weicht einer Pluralität, gelegentlich Diffusität.15 Nicht ein Verlust des Religiösen, sondern sein 8 Zu dem verfassungshistorischen Streit um die These Georg Jellineks von der Religionsfreiheit als „Ur-“ oder „Muttergrundrecht“ vgl. die Dokumentation der einschlägigen Texte bei Roman Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964; Borowski, S. 64 ff. 9 Vgl. dazu Peter Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, 1989, S. 24 f.; Stefan Muckel, in: Karl-Heinrich Friauf / Wolfram Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung, Stand: 17. Lfg. August 2006, Art. 4 Rdnr. 1; Martin Morlok, FN 6, Art. 4 Rdnr. 51; Joseph Listl, FN 1, § 14, S. 439 ff. (444 f.): „wesensnotwendige[r] Zusammenhang“. 10 Vgl. Joseph Listl, FN 1, § 14, S. 439 ff. (440). 11 Vgl. auch Norbert Janz / Sonja Rademacher, Islam und Religionsfreiheit. Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates auf dem Prüfstand, in: NVwZ 1999, S. 706 ff.; Martin Morlok, FN 6, Art. 4 Rdnr. 47; Friedrich Schoch, Die Grundrechtsdogmatik vor den Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft, in: Festschrift für Alexander Hollerbach, 2001, S. 149 ff. (155 und passim). 12 Rudolf Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz, in: ZevKR 1 (1951), S. 4 ff. (5); auch Peter Lerche, Christentum und Staatsrecht, in: Theodor Tomandl (Hrsg.), Der Einfluß des katholischen Denkens auf das positive Recht, 1970, S. 85 ff. (98). 13 Vgl. Muckel; Wolfgang Bock, Die Religionsfreiheit zwischen Skylla und Charybdis, AöR 123 (1998), S. 444 ff.; Christian Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, in: JZ 1999, S. 538 ff.; Stefan Mückl, Religionsfreiheit und Sonderstatusverhältnisse – Kopftuchverbot für Lehrerinnen, in: Der Staat 40 (2001), S. 96 ff. (102); Friedrich Schoch, FN 11, S. 149 ff.; Hans Michael Heinig / Martin Morlok, Von Schafen und Kopftüchern. Das Grundrecht auf Religionsfreiheit in Deutschland vor den Herausforderungen religiöser Pluralisierung, in: JZ 2003, S. 777 ff.; primär auf das institutionelle Staatskirchenrecht bezogen Dirk Ehlers, Der Bedeutungswandel im Staatskirchenrecht, in: Bodo Pieroth (Hrsg.), Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, 2000, S. 85 ff. 14 Vgl. Reinhart Hummel, Die sogenannten Jugendreligionen als religiöse und gesellschaftliche Phänomene, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 19 (1985), S. 64 ff.; Jörg MüllerVolbehr, Die sogenannten Jugendreligionen und die Grenzen der Religionsfreiheit, in: ebd., S. 111 ff.; Peter Badura, FN 9, S. 58 ff. 15 Dies sucht inzwischen auch das Bundesverfassungsgericht zu berücksichtigen, vgl. BVerfGE 108, S. 282 ff. (309 f.) – „Kopftuch“.
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Strukturwandel stellt in der Gegenwartsgesellschaft der Bundesrepublik das tatsächliche Umfeld des in Rede stehenden Grundrechts dar.16 Der intrakulturelle ist durch den interkulturellen Konflikt abgelöst worden.17 Vor diesem Hintergrund stellt sich heute die Frage der Grenzen der Religionsfreiheit in Deutschland. Stellten die Konfessionen nach der Glaubensspaltung letztlich nur ,Spielarten‘ religiösen Bekenntnisses auf einheitlichem kulturellen Fundament dar, so erweist sich das Verhältnis zwischen den christlichen Konfessionen und anderen Weltreligionen oftmals zugleich als kulturelle Differenz. Die zentrale Frage, die sich an diesen Befund abnehmender integrativer Kraft überkommener Religionen bei steigendem religiösen Konfliktpotential anschließt, lautet:18 Muss sich die Interpretation von Art. 4 GG auf diesen neuen Kontext einstellen, indem Verhaltensweisen mit eher entferntem religiösen Bezug nur noch tatbestandlich erfasst werden, wenn sie ,sozial‘ oder ,kulturkompatibel‘ sind, um ihre normative Kraft im neuen Umfeld zu erhalten, oder lässt sich die weite Ausdehnung der religiösen Imprägnierung menschlichen Verhaltens und die großzügige Berücksichtigung religiösen Selbstverständnisses auch weiterhin durchhalten?19 Auch die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates bedarf vielleicht einer Relativierung: Wäre es nicht möglich und sinnvoll, bei der staatlichen Behandlung der Religionen deren Verfassungskompatibilität mitzuberücksichtigen? Es geht mithin unter Einbeziehung eines modischen Schlagworts um die „Religionsfreiheit in der multikulturellen Gesellschaft“.20
II. Das Modell des religiös-weltanschaulich neutralen Staats Die grundrechtlichen und staatskirchenrechtlichen Artikel des Grundgesetzes verpflichten den Staat zu weltanschaulich-religiöser Neutralität.21 Das Gebot der staatlichen Neutralität verlangt, „dass der Staat auf eine Bewertung des Guten grundsätzlich verzichtet und sich darauf beschränkt, eine Ordnung für das friedliche und gerechte Zusammenleben der unterschiedlichen Überzeugungen und Lebensformen zu gewährleisten“.22 Martin Morlok, FN 6, Art. 4 Rdnrn. 47 ff. Dieter Grimm, Multikulturalität und Grundrechte, in: Rainer Wahl / Joachim Wieland (Hrsg.), Das Recht des Menschen in der Welt. Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstags von Ernst-Wolfgang Böckenförde, 2002, S. 135 ff. (140). 18 Vgl. Uwe Volkmann, Risse in der Rechtsordnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. März 2004, S. 8 f.; Bodo Pieroth / Bernhard Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 23. Aufl. 2007, Rdnr. 507 a. 19 Vgl. Karl-Hermann Kästner, Hypertrophie des Grundrechts auf Religionsfreiheit?, in: JZ 1998, S. 974 ff.; Martin Morlok, FN 6, Art. 4 Rdnr. 49. 20 Hartmut Maurer, in: Festschrift für Winfried Brohm, 2002, S. 455 ff.; Dieter Grimm, FN 17, S. 135 ff.; vgl. zuvor bereits Johannes Hellermann, Multikulturalität und Grundrechte – Das Beispiel der Religionsfreiheit, in: Christoph Grabenwarter u. a. (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, 1994, S. 129 ff. In der Sache vollkommen zutreffend, in der Terminologie jedoch weniger glücklich, da „Konfessionen“ ausschließlich verschiedene christliche Glaubensrichtungen meint, diese Differenz jedoch nicht das hier angesprochene Problem trifft, vgl. Friedrich Schoch, FN 11, S. 149 ff. 21 BVerfGE 24, S. 236 ff. (246) – „Aktion Rumpelkammer“. 22 Huster, S. 12; Axel v. Campenhausen, Der heutige Verfassungsstaat und die Religion, in: Listl / Pirson (Hrsg.), Bd. 1, § 2, S. 47 ff. (77). 16 17
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Welcher Maßstab zur Erreichung dieses Zwecks an die staatskirchenrechtliche Ordnung zu legen ist, ist damit freilich nicht gesagt. Der Begriff der Neutralität, der immer auch den Ausgleich verschiedener Interessen fordert,23 bietet einen historisch unbelasteten Kompromiss an, indem er den Religionsgemeinschaften ihre Selbständigkeit belässt, von diesen aber gleichzeitig die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols und ihre Unterordnung unter dasselbe verlangt.24 Neutralität hat auch die Funktion, die staatliche Einheit und Souveränität gegen desintegrierende Kräfte zur Geltung zu bringen.25 Anders als im Laizismus begegnet der Staat den Religionen dabei nicht völlig indifferent oder gar ablehnend: Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staats „ist nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen“.26 Die Offenheit des Grundgesetzes gegenüber einer Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen ist gegründet auf ein Menschenbild, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung geprägt ist.27 Dieses Menschenbild und folglich auch das Grundgesetz sind – maßgeblich – von christlich-jüdischen Traditionen durchdrungen:28 Der Mensch als „imago dei“29 hat „die Würde, Person zu sein . . . Er ist imstande, . . . sich in Freiheit hinzugeben . . . , und er ist aus Gnade zu einem Bund mit seinem Schöpfer berufen, um diesem eine Antwort des Glaubens und der Liebe zu geben, die niemand anderer an seiner Stelle geben kann.“30 Es liegt auf der Hand, dass es daher zu Asymmetrien und Abstufungen in der Gleichbehandlung kommen kann, insbesondere wenn eine Religionsgemeinschaft dieses Menschenbild nicht teilt.31
Classen, Rdnr. 109. Ähnlich die Darstellung der „staatskirchenrechtlichen Ambivalenzformeln“ bei Schlaich, S. 131 ff. 25 Ebd., S. 135. 26 BVerfGE 108, S. 282 ff. (300) – „Kopftuch“. 27 BVerfGE 108, S. 282 ff. (299) – „Kopftuch“. Gegen die Bindung allerdings der Menschen-, nicht der Grundrechte an ein bestimmtes Menschenbild Otfried Höffe, Transzendentaler Tausch – eine Legitimationsfigur für Menschenrechte?, in: Stefan Gosepath / Georg Lohmann (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, 1998, S. 29 ff. (31 f.). 28 Vgl. Peter Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, 2003, S. 244 f.; vgl. dazu auch den Beitrag von Karl Kardinal Lehmann zur jüngsten Debatte um Passagen aus der Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI., abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. September 2006, S. 1; Classen, Rdnrn. 78, 132, 136; ausführlich dazu Borowski, S. 70 ff.; Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, 1968, S. 13 f.; Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 2. Aufl. 2000, § 115 Rdnrn. 38 ff.; Hartmut Kreß, Religionsfreiheit und Toleranz als Leitbild, in: ders. (Hrsg.), Religionsfreiheit als Leitbild, 2004, S. 21 ff. (25 ff.). 29 Genesis 1,27. Theodor Mayer-Maly, Christentum und Privatrechtsentwicklung, in: Theodor Tomandl (Hrsg.), Der Einfluß des katholischen Denkens auf das positive Recht, 1970, S. 39 ff. (45). 30 Katechismus der Katholischen Kirche, 1993, Nr. 357; Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2006, Nr. 135 ff. 31 Vgl. Wolf D. Ahmed Aries, Säkulare Rechtssetzung und religiöser Status, in: Schneiders / Kaddor (Hrsg.), S. 25 ff. (25). 23 24
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III. Die Grundrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG 1. Geschützte Verhaltensweisen
Nach dem Wortlaut der Absätze 1 und 2 des Art. 4 GG sind der Glaube und das religiöse sowie weltanschauliche Bekenntnis gewährleistet; außerdem ist die Freiheit der Religionsausübung geschützt. Die Gewissensfreiheit bleibt im Folgenden außer Betracht.32 Historisch gesehen wurden diese Einzelverbürgungen nacheinander und stufenweise verwirklicht.33 Das Bundesverfassungsgericht interpretiert die verschiedenen Gewährleistungen als Ausprägungen eines einheitlichen Grundrechts der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, 34 so dass eine präzise Abgrenzung letztlich nicht erforderlich ist und ein Kontinuum von der inneren Überzeugung über deren Äußerung bis zum Handeln auf Grund dieses Glaubens erfasst wird. Damit ist letztlich ein „Grundrecht der allgemeinen Religionsfreiheit“ geschaffen worden.35 Es werden mithin Kernelemente der Persönlichkeit unter dem Leitgedanken der Sinnorientierung geschützt:36 Die sinnhafte Orientierung an Selbst- und Weltvorstellungen, die sinnhafte Selbstidentifikation, die „Sinnform Religion“37 als interner Komplex von Werten, Wünschen und Erwartungen und damit als Kernelemente der Persönlichkeit bilden das Schutzgut der hier darzustellenden Freiheitsgarantie. Es versteht sich von selbst, dass diese höchst individualbezogenen Verbürgungen zugleich eine (Verfassungs-)Voraussetzung des politischen und verfassungsrechtlichen Systems schützen: Das „Selbstverständnis“ des Einzelnen bildet in seiner Summe eine Voraussetzung freiheitlicher Demokratie38 und tritt zugleich in Spannung zur allgemeinen Normativität der Rechtsordnung.39 Was umfassen die einzelnen Gewährleistungen, die in Rezeption klassischer Verfassungssätze Eingang in das Grundgesetz fanden,40 nun konkret? 32 Zur engen Verbundenheit zwischen Bekenntnis- und Gewissensfreiheit siehe Peter Lerche, FN 12, S. 85 ff. (94 f.); Friedhelm Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 2007, § 22 Rdnr. 4. 33 Vgl. Gerhard Anschütz, Die Religionsfreiheit, in: ders. / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 1932, § 106, S. 675 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken. Zur Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 42 (2003), S. 165 ff. (182). 34 Zustimmend Axel v. Campenhausen, FN 3, Art. 140 Rdnr. 36; Peter Badura, FN 9, S. 24; Jeand’Heur / Korioth, Rdnr. 74; kritisch etwa Roman Herzog, in: Theodor Maunz / Günter Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Loseblattsammlung, Stand: 47. Lfg. Juni 2006, Art. 4 Rdnrn. 63 ff.; Muckel, S. 125 ff.; ders., FN 9, Art. 4 Rdnr. 3; problembewusst Bodo Pieroth / Bernhard Schlink, FN 18, Rdnrn. 506 ff. 35 Friedrich Schoch, FN 11, S. 153 ff. (154 f.); Ernst-Wolfgang Böckenförde, FN 33, S. 165 ff. (183): „allgemeine Handlungsfreiheit aus religiöser (oder weltanschaulicher) Überzeugung“. 36 Martin Morlok, FN 6, Art. 4 Rdnr. 41 f. 37 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 2000, S. 7 ff. 38 Vgl. den viel zitierten Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, S. 112; ders., Stellung und Bedeutung der Religion in der „Civil Society“, in: ders., Staat, Nation, Europa; ferner Joseph Listl, FN 1, § 14, S. 439 ff. (S. 446 m. w. N.). 39 Zu dem grundsätzlichen Problem vgl. die Monographien von Matthias Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 1989, einerseits und Morlok, Selbstverständnis, andererseits; ferner Axel v. Campenhausen, FN 3, Art. 140 Rdnrn. 58 ff.; Friedrich Schoch, FN 11, S. 149 ff. (152 f.). 40 Vgl. Joseph Listl, FN 1, § 14, S. 439 ff. (454) mit dem Hinweis auf amerikanische Verbürgungen.
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a) Freiheit des Glaubens meint die Freiheit der inneren Überzeugung, innerer religiöser Einstellungen, d. h. das sogenannte forum internum, das sich unbeeinflusst von staatlichen Einwirkungen ausbilden können muss.41 Während der „Glaube“ ein System von Anschauungen religiöser Prägung mit Gottesvorstellung und Jenseitsbezug umfasst, grenzt sich die gleichfalls geschützte Weltanschauung davon durch den nichtreligiösen Bezug als soziales Sinnsystem ab. War die frühe Auslegung von Art. 4 GG dadurch gekennzeichnet, dass sich die Begriffsbestimmung des „Glaubens“ an die christlich-jüdische Überlieferung anlehnte, wenn etwa das Bundesverfassungsgericht noch 1960 ausführte, geschützt seien nur solche Glaubensrichtungen, „die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet“ hätten,42 wird heute ganz überwiegend keine voreilige Einschränkung der Begriffsbestimmung auf Ebene des Schutzbereichs vertreten, sondern betont, dass alle Formen von Religion erfasst seien.43 Auf diese sogenannte Kulturadäquanzformel wird noch zurückzukommen sein. b) In Abgrenzung zum „Glauben“ sind mit den „weltanschaulichen Überzeugungen“ „solche Gedankensysteme“ gemeint, „die sich mit einer Gesamtsicht der Welt oder doch mit einer Gesamthaltung zur Welt bzw. zur Stellung in der Welt“ und daraus zu folgernden Werturteilen befassen.44 Die Gemeinsamkeit zwischen Religion / Glauben auf der einen, Weltanschauung auf der anderen Seite ist die Gewissheit, über das Weltganze, über das Ziel menschlichen Lebens Aussagen treffen zu können; der Unterschied liegt darin, dass sich die Weltanschauung auf innerweltliche Bezüge stützt, während Religion und Glauben stets ein transzendentes Element innewohnt.45 c) Bekenntnisfreiheit ist im Gegensatz zur Glaubensfreiheit nach außen gerichtet: Gemeint ist die Befugnis, religiöse sowie religiös motivierte Überzeugungen in der Öffentlichkeit zu vertreten.46 Mit anderen Worten: Das forum internum wird verlassen, das forum externum betreten, wenn grundrechtlich geschützt wird, zu „sagen“ – unabhängig von der Form der Verlautbarung – oder zu verschweigen, was man glaubt oder nicht glaubt, einschließlich religiöser Mission.47 Von besonderer Bedeutung ist in der öffentlichen Diskussion hier das Tragen religiös motivierter Kleidung und Symbole (Ordenstracht; Halskreuz; Kippa; Kopftuch). d) Die Religionsausübungsfreiheit als Kultusfreiheit nach Art. 4 Abs. 2 GG hängt damit eng zusammen. Sie schützt das Äußern oder Manifestieren spezifischer Glaubensinhalte durch Gebet, Gottesdienst, religiöse Symbole, Prozessionen, Empfang der Sakramente, kirchliche Kollekten, Zeigen kirchlicher Fahnen, sakrales Glockengeläut, muslimischen Gebetsruf des Muezzin und andere öffentlich wahrnehmbare Verlaut41 Reinhold Zippelius, in: Rudolf Dolzer / Klaus Vogel / Karin Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 32; Jeand’Heur / Korioth, Rdnr. 75; Martin Morlok, FN 6, Art. 4 Rdnrn. 67 ff. 42 BVerfGE 12, S. 1 ff. (4) – „Tabakfall“. 43 Martin Morlok, FN 6, Art. 4 Rdnr. 67; Helmut Goerlich, Art. „Religionsfreiheit (J)“, in: Werner Heun / Martin Honecker / Martin Morlok / Joachim Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 2004. 44 BVerwGE 89, 368 (370 f.). 45 Vgl. etwa BVerfGE 32, S. 98 ff. (107) – „Gesundbeter“; Jeand’Heur / Korioth, Rdnr. 76. 46 Axel v. Campenhausen, FN 3, Art. 140 Rdnr. 52. 47 Jeand’Heur / Korioth, Rdnr. 77.
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barungen religiöser Überzeugungen. Die Religions- oder Glaubensfreiheit reicht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch erheblich weiter, indem praktisch alle religiös motivierten, objektiv jedoch neutralen Verhaltensweisen darunter subsumiert werden; demgegenüber betrifft die Religionsausübungsfreiheit letztlich nur objektiv religiös-konnotierte Handlungen. Der entscheidende Schritt in der Grundrechtsanwendung durch das Bundesverfassungsgericht48 war diese Ausdehnung des einheitlich verstandenen Schutzbereichs über rein kultische Handlungen hinaus. In der sogenannten Lumpensammler-Entscheidung vom 16. Oktober 196849 erfolgte gleich eine doppelte Extension: Nicht nur den Kirchen und Religionsgesellschaften, „sondern auch Vereinigungen, die sich nicht die allseitige, sondern nur die partielle Pflege des religiösen und weltanschaulichen Lebens ihrer Mitglieder zum Ziel gesetzt haben“, können sich als Korporationen auf das Grundrecht berufen50; dies erweist sich als Zugeständnis an das kirchliche Verbandswesen in Deutschland, wie es sich etwa auf katholischer Seite im Gefolge des Kulturkampfs seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Entscheidend ist dann, dass eine aus mittelbar kirchlichen Motiven, in Konkurrenz zu privatwirtschaftlich agierenden Wettbewerbern durchgeführte, per Kanzelankündigung bekannt gemachte Altkleidersammlung, deren finanzieller Erlös verbandlichen – und damit mittelbar auch kirchlichen – Zwecken zugute kommen sollte, als von der Religionsausübung mitumfasst eingestuft wurde. Dies konnte nur durch die weitgehende Berücksichtigung kirchlichen Selbstverständnisses erfolgen: „Nach dem Selbstverständnis der Katholischen und Evangelischen Kirche umfasst die Religionsausübung nicht nur den Bereich des Glaubens und des Gottesdienstes, sondern auch die Freiheit zur Entfaltung und Wirksamkeit in der Welt, wie es ihrer religiösen und diakonischen Aufgabe entspricht. Die tätige Nächstenliebe ist nach dem Neuen Testament eine wesentliche Aufgabe für den Christen und wird von der Katholischen wie von der Evangelischen Kirche als kirchliche Grundfunktion verstanden . . .“51 Damit fallen in einem weiten Umfang religiös motivierte Handlungen, die als solche gar nicht kirchlich oder religiös erscheinen (also äußerlich religionsneutral sind) bei entsprechender religiöser Motivation in den Schutzbereich der Religionsfreiheit.52 Dem religiösen Selbstverständnis wird damit eine entscheidende Bedeutung zugemessen; in letzter Konsequenz kann eine solche Auslegung dazu führen, „die Kompetenz-Kompetenz für die Rechtsgebote vom Staat auf die einzelnen und religiös-weltanschaulichen Gruppen zu verlagern“.53 Die Berücksichtigung des religiösen Selbstverständnisses wird indes nicht nur den Religionsgesellschaften als solchen zugestanden, sondern in begrenztem Maße auch dem Einzelnen: 54 Geschützt ist auch dessen Recht, sein gesamtes Verhalten an der eige48 Vgl. die Wertung bei Karl-Hermann Kästner, FN 19, S. 974 ff. (975): „Schlüsselrolle“ der „Lumpensammlerentscheidung“; Stefan Mückl, FN 13, S. 96 ff. (101 ff.). 49 BVerfGE 24, S. 236 ff. – „Aktion Rumpelkammer“. Den zweiten „leading case“ stellt der „Gesundbeterfall“, BVerfGE 32, S. 98 ff., dar; vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, FN 33, S. 165 ff. (181). 50 BVerfGE 24, S. 236 ff. (246 f.) – „Aktion Rumpelkammer“. 51 Ebd., S. 236 ff. (248). 52 Ute Mager, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 4 Rdnr. 17: religiös oder weltanschaulich motivierte Lebensführung. 53 Ernst-Wolfgang Böckenförde, FN 33, S. 165 ff. (181); Stefan Muckel, FN 9, Art. 4 Rdnr. 4. 54 Anderer Ansicht Classen, Rdnrn. 85, 164; Axel Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, 1994, S. 317.
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nen religiösen Überzeugung auszurichten, ohne dass es sich um „imperative Glaubenssätze“ handeln müsste.55 Das Selbstverständnis der Religionsgesellschaft, welcher sich der Einzelne zuordnet, dürfe zwar nicht außer Betracht bleiben, nach einer äußerst weiten Formulierung des Bundesverfassungsgerichts genüge es jedoch, wenn sich die in Anspruch genommene Glaubensregel „dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hinreichend plausibel zuordnen lässt“.56 Die Religionsfreiheit mutiert damit zu einem „Innerlichkeitsvorbehalt“ und begibt sich so in die Gefahr einer gewissen Konturenlosigkeit angesichts des nun drohenden „Grundrechtssubjektivismus“.57 Die Lösung von Konfliktfällen wird auf die Rechtfertigungsebene und d. h. auf die nur bedingt rationalisierbare Abwägung abgewälzt.58 Vorhersehbarkeit, Klarheit und Rechtssicherheit einer stringenten Grundrechtsdogmatik könnten so verfehlt werden.59
2. Bedeutung des Selbstverständnisses der Grundrechtsträger
Diese für eine Rechtsordnung extreme Berücksichtigung des Selbstverständnisses der Grundrechtsträger und die daraus resultierenden Probleme verdienen besondere Aufmerksamkeit: Die Frage der Definitionsmacht über Religion und über Religiöses und die damit verbundenen Antinomien sind angesprochen.60 a) In Art. 4 GG wird die Religion, der Glaube zur Rechtskategorie erhoben61 und muss demzufolge eine – wenn auch weite – Definition erfahren, ohne die ein Schutz nicht denkbar ist. Was jedoch bedeutet „Religion“, wer legt dies fest? Gerade eine staatliche Definition stößt hier auf zweierlei Probleme: Zum einen „weiß“ der Staat nichts oder wenig von Religion, ihm fehlen also die Maßstäbe für eine Begriffsbestimmung.62 Zum anderen ist Glaube „Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht, dem Grund unseres Seins und Sinns“.63 Eine Definition, die zwangsläufig ausgrenzt, würde also den Einzelnen unmittelbar in seiner unantastbaren Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und im Kernbereich seines Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1; 1 Abs. 1 GG) berühren.64 Das macht eine Begriffsbestimmung, die nicht bereits in diese Rechtsgüter 55 Vgl. auch BVerfGE 32, S. 98 ff. (106) – „Gesundbeter“; 33, S. 23 ff. (28) – „Eid“; 78, S. 391 ff. (395) – „Dienstflucht eines Zeugen Jehovas“; 108, S. 282 ff. (298 f.) – „Kopftuch“; Reinhold Zippelius, FN 41, Art. 4 Rdnr. 50; Jeand’Heur / Korioth, Rdnr. 86. 56 BVerfGE 108, S. 282 ff. (298 f.) – „Kopftuch“. 57 Wolfram Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 24; Karl-Hermann Kästner, FN 19, S. 974 ff. (975); Ansgar Hense, Glockenläuten und Uhrenschlag, 1998, S. 202 ff.; Stefan Muckel, FN 9, Art. 4 Rdnr. 4. 58 Josef Isensee, Diskussionsbemerkung, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 19 (1985), S. 142 f.; Stefan Mückl, FN 13, S. 96 ff. (104 f.); Friedrich Schoch, FN 11, S. 149 ff. (156); demgegenüber gegen eine engere Konturierung des Schutzbereichs Jörg Müller-Volbehr, Das Grundrecht der Religionsfreiheit und seine Schranken, in: JZ 1995, S. 301 ff., zusammenfassend S. 310. 59 Grundsätzlich, nicht auf die Religionsfreiheit beschränkt, Ernst-Wolfgang Böckenförde, FN 33, S. 165 ff. 60 Wolfgang Bock, FN 13, S. 444 ff. (452 ff.); Jörg Müller-Volbehr, FN 58, S. 301 ff. (302). 61 BVerfGE 33, S. 23 ff. (35 – Sondervotum v. Schlabrendorff –) – „Eid“. 62 Axel Isak, FN 54, S. 219 f. 63 Paul Tillich, Der absolute Glaube und der Mut zum Sein, in: ders., Gesammelte Werke Bd. XI: Sein und Sinn, Stuttgart 1969, Kapitel VI: Mut und Transzendenz, S. 117 ff. (128).
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eingreifende Züge tragen soll, schwierig. Eine Festlegung des Schutzbereichs des Grundrechts der Religionsfreiheit steht vor der Aufgabe, diese Spannung zwischen Religion als bestimmungserfordernder Rechtskategorie und als sich einer Definition letztlich entziehenden Kernelements der Persönlichkeitsentfaltung zu lösen.65 Eine Möglichkeit bietet dabei die Einbeziehung des religiösen Selbstverständnisses der jeweiligen Gemeinschaft.66 Dabei bleiben allerdings gewisse Objektivierungen desselben unerlässlich. Wie bei allen Grundrechten auch, ähnlich gelagert vielleicht insbesondere dem der Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG (beide Grundrechte teilen die Forderung der Neutralität an den Staat67), kann Freiheit nicht gewährt werden, wo der Adressat und der Gehalt dieser Freiheit nicht definiert werden können. Ein Minimum an organisatorischer, aber auch inhaltlicher Verfasstheit ist deshalb notwendig, um die Religionsfreiheit nicht ad absurdum zu führen. Aber auch dabei ist der Staat bereits an Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebunden. Er ist deshalb auf die Selbstbestimmung und die Kundgabe des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft angewiesen und, gleichsam in einem Wechselspiel, gleichzeitig gehalten, auch dieses wieder anhand einer minimalen Objektivierung des Begriffs der Religion zu behandeln, freilich ohne es zu bewerten. Die Definitionen der einzelnen Tatbestandselemente sind an möglichst formalen Merkmalen, als „Rahmen“68, auszurichten.69 Axel Frhr. v. Campenhausen und Heinrich de Wall nennen als solche minimalen Elemente, die der Staat verlangen darf und muss, um der Religionsfreiheit zur Wirkung zu verhelfen, ein hinreichend geschlossenes Gedankengebäude über die Welt als Ganzes als Gegenstand des Bekenntnisses – inhaltliche Verfasstheit –, ein Minimum an personellem Zusammenhang durch Organisation – organisatorische Verfasstheit – sowie einen Mindestkonsens.70 Bei den Weltreligionen, zumindest im Juden- und Christentum, ist in unterschiedlichem Ausmaß eine solche Objektivierung geschehen: Geschichte, soziale Relevanz und praktische Bedeutsamkeit tragen in mehr oder minder verdichteten Glaubenssätzen die Objektivierung institutionell in sich. b) Einen Sonderfall bildet die Weltreligion des Islam. Das Zusammentreffen mit der westlichen, christlich-jüdisch geprägten Welt als Folge der Migration stellt zumindest in seinem heutigen Umfang ein geschichtliches Novum der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Dabei scheinen zwei Probleme auf, die sich nur schwer voneinander trennen lassen: Neben einer im abendländischen Bereich neuen Religion, dem Islam, begeg64 Vgl. BVerfGE 81, S. 58 ff. (66) – „Jeziden“: „Das religiöse Existenzminimum gehört zu dem unentziehbaren Kern der Privatsphäre, den der religiöse Mensch zu seinem Leben- und Bestehenkönnen als sittliche Person benötigt.“ 65 Vgl. auch Classen, Rdnr. 43 ff. 66 Muckel, S. 195 f.; gegen eine am Selbstverständnis orientierte Auslegung Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 41 ff.; ders., Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtausübung, in: ders. / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 2. Aufl. 2000, § 115 Rdnrn. 119 f.; ausführlich zu den Gegenargumenten Borowski, S. 273 ff., freilich ohne ihnen zu folgen; Morlok, S. 78 ff., S. 393. 67 Vgl. dazu Huster, S. 436 ff.; Borowski, S. 252. 68 Axel Isak, FN 54, S. 220. 69 Classen, Rdnr. 44. 70 v. Campenhausen / de Wall, S. 56.
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nen uns auch fremde Kulturen.71 Die Schwierigkeit, beides voneinander zu trennen und von den Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe selbst eine klare Äußerung darüber zu erhalten, ob etwa der „Heilige Krieg“, das Tragen von Kopftüchern oder sogenannte „Ehrenmorde“ Sätze der islamischen Religion an sich oder Ausprägungen der fremden Kultur darstellen, verdeutlicht hiesiges Problem. Zudem erkennt der Islam „keine religiöse Autorität an, keine Priesterschaft oder Synode. Die Glaubenslehre entfaltet sich in praktizierter Tradition ohne organisatorische Lenkung.“72 Durch das Herausdrängen der Religion aus dem Alltäglichen in der westlichen Welt sahen sich die Kirchen vor die Herausforderung gestellt, Anhänger durch überzeugende Darstellung ihrer Lehre zu gewinnen und die Attraktivität der Religion unter Beweis zu stellen. Aus der fehlenden verlässlichen Bestimmung von Glaubensinhalten im Islam sowie der fehlenden Organisation folgt ein etwaigen Kompatibilitätsproblemen vorgeschaltetes Kommunikationsproblem. Der Islam stellt in den meisten islamischen Ländern eine Gegebenheit ähnlich der Staatsbürgerschaft dar, die nicht zu hinterfragen oder gar zu ändern ist. Es steht das Konzept des individuellen und autonomen Begehrens der Taufe im Christentum73 gegen das Konzept des Hineingeborenwerdens in einen Glauben mit strengen Konversions- und Apostasieverboten im Islam.74 Das orthodoxe muslimische Verständnis von der allumfassenden deontologischen Ethik des Islam und damit das „Fehlen des für alle christlich geprägten abendländischen Staaten typischen Nebeneinanders von Staat und religiöser Institution hat beim Islam u. a. die Folge gehabt, dass die Religion nicht mitgliedschaftsrechtlich organisiert ist. Staat und Religion bilden im Gegenteil eine untrennbare Gesamtheit.“75 Im Gegensatz zu Jesus wird Mohammed sowohl als Religionsstifter als auch als Staatsmann betrachtet.76 Hier muss es Aufgabe der Religionsgemeinschaft selbst sein, ihren Umgang mit Säkularität und Religionsfreiheit darzutun und sich dazu zu bekennen, um selbst weiterhin in ihren Genuss kommen zu können. Das Grundrecht der Religionsfreiheit lebt von einer gegenseitigen Akzeptanz durch den Staat und die jeweilige Religionsgemeinschaft.77 Das kann insofern zu Schwierigkeiten führen, als nach islamischem Recht ein 71 Vgl. zu der kulturellen Pluralität der in Deutschland wohnenden Muslime Andreas Abu Bakr Rieger, Der Staatsbürger islamischen Glaubens, in: Schneiders / Kaddor (Hrsg.), S. 109 ff. (115). 72 v. Campenhausen / de Wall, S. 88; auch Classen, Rdnr. 32. 73 Auch Kindstaufen sind letztlich nur Ausdruck der individuellen Entscheidung der Eltern. 74 Vgl. Art. 10 der Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam, abgedruckt in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Menschenrechte, Dokumente und Deklarationen, 4. Aufl. 2004, S. 562 ff. (565): „Der Islam ist die Religion der unverdorbenen Natur. Es ist verboten, auf einen Menschen in irgendeiner Weise Druck auszuüben oder die Armut oder Unwissenheit eines Menschen auszunutzen, um ihn zu einer anderen Religion oder zum Atheismus zu bekehren.“ Vgl. auch v. Campenhausen / de Wall, S. 84 f.; Thorsten Gerald Schneiders / Lamya Kaddor, Einleitung: Europäische Muslime zwischen Glaube und Verfassungstreue, in: Schneiders / Kaddor (Hrsg.), S. 7 ff. (9); Janbernd Oebbecke, Der Islam und die Zukunft, in: Schneiders / Kaddor (Hrsg.), S. 131 ff. (133 f.). 75 v. Campenhausen / de Wall, S. 86; Wolf D. Ahmed Aries, FN 31, S. 25 ff. (27). Vgl. für die christliche Lehre das Wort Jesu Christi in Matthäus 22,21: „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ 76 Thorsten Gerald Schneiders / Lamya Kaddor, FN 74, S. 7 ff. (10). 77 Vgl. das Bekenntnis der katholischen Kirche zur Religionsfreiheit, in: Kompendium der Soziallehre der Kirche, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2006, Nr. 200, Nr. 421 ff., freilich mit dem Hinweis auf die mögliche Privilegierung bestimmter Religionsgemein-
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Muslim in einem nichtmuslimischen Staat zwar grundsätzlich die fremde Rechtsordnung zu akzeptieren hat, dies jedoch nur solange, wie er nicht gegen muslimisches Recht verstoßen muss.78 Damit sind das muslimische Recht und die unter Umständen die Religionsfreiheit verneinende Lehrmeinung der jeweiligen Glaubensrichtung auch im säkularen Staat über das staatliche Recht gestellt. Jedoch erscheint auch von islamischer Seite eine Vereinbarung der islamischen Regeln mit dem westlichen Wertekanon, insbesondere den Menschenrechten, nicht undenkbar. So wird auf die innere Pluralität des Islam und die sich letztlich daraus ergebende Notwendigkeit, auch die Religionsfreiheit zu respektieren, verwiesen:79 „Das Grundgesetz könnte auch die Verfassung eines Staates mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit sein.“80 Im Gegensatz dazu stehen andere Stimmen von muslimischer Seite, die gerade aus der – gottgewollten – Vielfalt an Religionen den Schluss ziehen, dass ein dogmatischer Disput letztlich fruchtlos sei.81 Hier sind Kommunikationsbarrieren indiziert. Wenn das Modell des religiös-weltanschaulich neutralen Staats ein Minimum an Verfasstheit der jeweiligen Religionsgemeinschaft fordert, liegt darin die Aufforderung an dieselben, ihr Selbstverständnis darzutun, um bestehende Kommunikationsprobleme auszuräumen. Entsprechend dem Auftrag des Staats, andererseits die Religionsfreiheit aufgrund ihrer Bedeutung möglichst weit auszulegen82 und dem Grundrecht zur Geltung zu verhelfen,83 ist es gleichzeitig Aufgabe desselben, die Eigentümlichkeiten des Islam dabei weitestgehend zu berücksichtigen84 und nicht mehr als ein Minimum an Verfasstheit zu verlangen. c) Vor völlig anders gelagerte Probleme wird das Konzept des religiös-weltanschaulich neutralen Staats durch die in den westlichen Industriestaaten in den letzten Jahrzehnten ausgebildeten vielfältigen Sekten und Jugendreligionen gestellt. Diese vermitteln oftmals „geistige“ oder „geistliche Techniken“ und damit letztlich „Lebenshilfe“, deren Transzendenzbezug häufig unklar bleibt.85 Entsprechendes gilt für die Ernsthaftigkeit des Bekenntnisses. Anders als im Verhältnis zum Islam besteht hier kein kulturelles Problem, sondern dasjenige des Missbrauchs des Grundrechts der Religionsfreiheit. Objektivierungen des Selbstverständnisses sind daher auch hier unerlässlich. schaften: „Aufgrund ihrer historischen und kulturellen Beziehungen zu einer Nation kann eine Religionsgemeinschaft von Seiten des Staates eine besondere Anerkennung erfahren: Eine solche Anerkennung darf auf keinen Fall in ziviler oder sozialer Hinsicht zur Diskriminierung anderer religiöser Gruppen führen.“ (Nr. 423). Speziell zur Freiheit religiöser Minderheiten Kompendium, Nr. 387. Für eine solche „positive Neutralität“ statt „absoluter ideologischer Indifferenz“ auch Peter Lerche, FN 12, S. 5 ff. (99 ff.); Janbernd Oebbecke, FN 74, S. 31 ff. (132, 140 ff.). 78 Muhammad Kalisch, Muslime als religiöse Minderheit – ein Beitrag zur Notwendigkeit eines neuen igtihad [d. h. Rechtsableitung, Anm. d. Verf.], in: Schneiders / Kaddor (Hrsg.), S. 7 ff. (49, 60 f.). 79 Ebd., S. 7 ff. (55 ff.). 80 Ebd., S. 7 ff. (65). 81 Murad Wilfried Hofmann, Religionsfreiheit aus islamischer Perspektive, in: Schneiders / Kaddor (Hrsg.), S. 45 ff. (147). 82 Borowski, S. 284. 83 BVerfGE 93, S. 1 ff. (16) – „Kruzifix“. 84 Classen, Rdnr. 82. 85 Statt anderer Peter Badura, FN 9, S. 58 ff.
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Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangt diese daher zu Recht, wobei die Darlegungslast bei demjenigen liegt, der sich auf die grundrechtliche Verbürgung beruft: Die Vereinigung, die sich als Religionsgemeinschaft sieht, muss nachweisen, dass es sich „auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion und Religionsgemeinschaft“ handelt.86 Dies wird vorrangig dann relevant, wenn wirtschaftliche Interessen den religiösen Zweck zu überlagern drohen:87 Nicht nur bei Jugendreligionen, sondern auch bei der sogenannten Scientology Church stehen derartige Zwecksetzungen bei objektiver Betrachtungsweise im Vordergrund;88 hier muss es dem Staat – zuvörderst den staatlichen Gerichten89 – möglich sein, die vorgegebenen subjektiven Zwecksetzungen als Vorwand zu entlarven.90 Entscheidend ist die „Substanz“91, der „Schwerpunkt“92 der Tätigkeit der Vereinigung. Die Abgrenzung von „Religion“ und „Nichtreligion“ im Sinne eines auf äußere Merkmale bezogenen „säkularen Mantelbegriffs“ ist letztlich keine Verletzung einer inhaltlich gedeuteten religiösen Neutralität des Staates, sondern die Bestimmung von Verfassungsrechtsbegriffen.93 Hierbei kann der souveräne Staat nicht darauf verzichten, mit Verbindlichkeit Regeln zu setzen und anhand von diesen Konflikte letztverbindlich zu entscheiden.94 Solche Rechtsanwendung aber besteht zu einem Gutteil daraus, Unterscheidungen zu treffen. Für Art. 4 GG folgt daraus nicht nur kein Definitionsverbot, sondern umgekehrt ein objektiv zu handhabendes Definitionsgebot für den Staat.95 Dies muss auch für das Grundrecht der Religionsfreiheit gelten, um es davor zu bewahren, zu einem Grundrecht der „Narrenfreiheit“96 zu werden.
3. Dimensionen des Schutzes durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
Geschützt sind durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zwei Freiheitsdimensionen: Die positive und die negative Religionsfreiheit; die Freiheit, Glauben, Religion und Bekenntnis (positiv) zu haben und auszuüben ebenso wie die (negative) Freiheit, solche Überzeugungen nicht zu haben oder zumindest nicht offenbaren zu müssen.97 Zu Konflikten zwischen diesen beiden Schutzrichtungen kam es in Situationen, in denen unterschiedliche religiöse Überzeugungen in einem staatlich geprägten Raum wie etwa der Schule 86 BVerfGE 83, S. 341 ff. (353) – „Bahá’í“; zustimmend etwa Jörg Müller-Volbehr, FN 58, S. 301 ff. (302); Axel Isak, FN 54, S. 274 f. 87 Vgl. auch Jörg Müller-Volbehr, FN 58, S. 301 ff. (303). 88 Zur „Scientology Church“ nicht einheitlich BVerwGE 89, S. 368 ff. (382); JZ 1995, S. 949 ff.; BAG, in: JZ 1995, S. 951 ff. 89 BVerfGE 83, S. 341 ff. (341 – Leitsatz 1 –, 353) – „Bahá’í“; Andreas Abu Bakr Rieger, FN 71, S. 109 ff. (114); anderer Ansicht Axel Isak, FN 54, S. 275. 90 Peter Badura, FN 9, S. 72 ff.; Jeand’Heur / Korioth, Rdnr. 92. 91 Peter Badura, FN 9, S. 55 ff. 92 Axel v. Campenhausen, FN 3, Art. 140 Rdnr. 73. 93 Jörg Müller-Volbehr, FN 58, S. 301 ff. (302); Axel v. Campenhausen, FN 3, Art. 140 Rdnr. 42; kritischer Wolfgang Bock, FN 13, S. 444 ff. (452 ff.). 94 Classen, Rdnr. 108; Axel Isak, FN 54, S. 227 f.; ausführlich Muckel, S. 90 ff., S. 115, S. 121. 95 Ansgar Hense, FN 57, S. 202 ff. (205 ff.); Muckel, S. 75 ff., S. 121 f.; ders., FN 9, Art. 4 Rdnr. 6. 96 BVerfGE 33, S. 23 ff. (36 – Sondervotum v. Schlabrendorff –) – „Eid“. 97 Vgl. etwa Joseph Listl, FN 1, § 14, S. 439 ff. (441 f.); Martin Morlok, FN 6, Art. 4 Rdnr. 64.
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aufeinandertrafen. Während allgemein anerkannt ist, dass es keinen rechtlichen Anspruch auf das Verschontbleiben von religiösen Symbolen im öffentlichen Raum gibt (Wegkreuze; Kreuze auf Kirchtürmen; religiöse Inschriften u. ä.), dass Art. 4 GG mithin kein Abwehrrecht gegen die Religionsausübung anderer gewährt,98 stellt sich die verfassungsrechtliche Situation anders dar, wenn ein morgendliches Schulgebet Schüler mit unterschiedlichem religiösen Hintergrund betrifft, wenn sich gläubige und nichtgläubige Schüler einem Kreuz im Klassenzimmer99 bzw. Angeklagte in einem Gerichtssaal100 ausgesetzt sehen oder wenn Schüler von einer kopftuchtragenden Lehrerin101 unterrichtet werden. Jenseits dem Grundgesetz fremder laizistischer Vorstellungen ist das verfassungsrechtliche Toleranzgebot und das Gebot staatlicher Nichtidentifikation mit einer Religion oder Weltanschauung hier der Ansatz zum Ausgleich zwischen kollidierenden Erscheinungsformen positiver und negativer Religionsfreiheit. Dabei kann nicht ein grundsätzlicher Vorrang der einen vor der anderen Form dieser Freiheitsverbürgung postuliert werden.102
4. Adressaten des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
Sowohl das Individuum, als auch Religionsgesellschaften oder Kirchen als Vereinigungen natürlicher Personen können sich auf das Grundrecht berufen (sogenannte korporative oder kollektive Seite der Religionsfreiheit). Art. 4 GG bietet zunächst ein Individualgrundrecht; hier liegt die historische Wurzel der dort getroffenen Verbürgungen. Der oben bereits dargestellte Konnex zu den institutionellen Bestimmungen des Staatskirchenrechts sowie ganz allgemein die Dogmatik von Art. 19 Abs. 3 GG legen es nahe, dass auch Religionsgesellschaften als solche geschützt sind.103 Es ist dann eine in ihren praktischen Auswirkungen sekundäre Frage, ob Art. 4 GG als „Doppelgrundrecht“ an sich schon eine korporative Seite eigen ist104 oder ob – verfassungstextnäher – Art. 19 Abs. 3 GG hinzuzuzitieren ist.105 Von der kollektiven Religionsfreiheit ist die Freiheit zum Zusammenschluss religiöser und weltanschaulicher Vereinigungen zu unterscheiden,106 die zudem in Art. 137 Abs. 2 WRV i.V. m. Art. 140 GG noch eine spezielle Verankerung gefunden hat.107
BVerfGE 108, S. 282 ff. (302) – „Kopftuch“; Hufen, FN 32, Rdnr. 15 ff. Vgl. BVerfGE 93, S. 1 ff. – „Kruzifix“. 100 BVerfGE 35, S. 366 ff. – „Kreuz im Gerichtssaal“. 101 BVerfGE 108, S. 282 ff. – „Kopftuch“. 102 Joseph Listl, FN 1, § 14, S. 439 ff. (442); Axel v. Campenhausen, FN 3, Art. 140 Rdnr. 98. 103 Nicht geschützt sind hingegen bloße „religiöse Versammlungen“, die keine hinreichend stabilen organisatorischen Strukturen aufweisen, vgl. näher Martin Morlok, FN 6, Art. 4 Rdnr. 95. 104 Joseph Listl, FN 1, § 14, S. 439 ff. (461); Martin Morlok, FN 6, Art. 4 Rdnr. 100. 105 Axel v. Campenhausen, FN 3, Art. 140 Rdnr. 78; Bodo Pieroth / Bernhard Schlink, FN 18, Rdnr. 517 unter Bezugnahme auf BVerfGE 46, S. 73 ff. (83); 53, S. 366 ff. (386); 70, S. 138 ff. (160). 106 BVerfGE 105, S. 279 ff. (293 f.) – „Osho“; vgl. auch bereits BVerfGE 83, S. 341 ff. (354 f.) – „Bahá’í“; Martin Morlok, FN 6, Art. 4 Rdnr. 96. 107 Dazu etwa Axel v. Campenhausen, FN 3, Art. 140 Rdnr. 74 f. 98 99
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Christian Waldhoff 5. Religionsmündigkeit und elterliches Erziehungsrecht
Beim Individualgrundrecht ist schließlich noch die Frage der Religionsmündigkeit anzusprechen, die in Abgrenzung zu dem durch Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 2 GG geschützten elterlichen Erziehungsrecht zu entwickeln ist.108 Das Gesetz über die religiöse Kindererziehung vom 15. Juli 1921 mit seinen abgestuften Altersfestlegungen konkretisiert nach allgemeiner Auffassung den von Verfassung wegen gegebenen Spielraum in zulässiger Weise.109
IV. Zur Dogmatik des vorbehaltlos gewährleisteten Art. 4 GG – Die Rechtfertigung von Eingriffen Das Grundrecht der Religionsfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist – wie die Formulierung: „ist unverletzlich“ anzeigt – vorbehaltlos gewährleistet, unterliegt keinem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt. Der Konflikt mit den anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern ist nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren.110 In jüngerer Zeit wird wieder vermehrt einer Übertragung der Schranken aus Art. 136 Abs. 1 WRV (i.V. m. Art. 140 GG) das Wort geredet.111 Dies wird von der herrschenden Meinung, insbesondere von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit zwei Argumenten zurückgewiesen: Der in Art. 136 Abs. 1 WRV zum Ausdruck kommende Schrankenvorbehalt sei durch den insofern ,neueren‘ Art. 4 GG verdrängt („überlagert“)112; zudem sei der ursprüngliche Bezugspunkt dieser Weimarer Bestimmung, die in der WRV garantierte Religionsfreiheit des Art. 135, gerade nicht rezipiert und Tragweite und Wirkkraft des Grundrechts seien dadurch bewusst gestärkt worden.113 Für unsere Fragestellung bleibt eine allgemeine grundrechtsdogmatische Wahrheit entscheidend:114 Ein uferloser Schutzbereich provoziert den Ruf nach gesetzlicher EinEbd., Art. 140 Rdnr. 77. BGHZ 21, 340 (351 ff.); BVerwGE 15, S. 134 (138 f.); Ute Mager, FN 52, Art. 4 Rdnr. 20; Rolf Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 7 Rdnr. 88; kritisch: Thomas Würtenberger, Religionsmündigkeit, in: Festschrift für Klaus Obermayer, 1986, S. 113 ff. 110 BVerfGE 93, S. 1 ff. (21) – „Kruzifix“; Muckel, S. 10. 111 Mit Unterschieden im Einzelnen: Muckel, S. 224 ff.; Wolfgang Bock, FN 13, S. 444 ff. (462 ff.); Ute Mager, FN 52, Art. 4 Rdnr. 48; Christian Starck, FN 5, Art. 4 Rdnrn. 75 ff.; Christian Hillgruber, FN 13, S. 538 ff. (543); Karl-Hermann Kästner, FN 19, S. 974 ff. (982); Friedrich Schoch, FN 11, S. 149 ff. (163 ff.). 112 BVerfGE 19, S. 206 ff. (219 f.) – „badische Kirchenbausteuer“; 24, S. 236 ff. (246) – „Aktion Rumpelkammer“; 33, S. 23 ff. (31) – „Eid“; 93, S. 1 ff. (21) – „Kruzifix“; Martin Morlok, FN 6, Art. 4 Rdnr. 90. 113 Hans Michael Heinig / Martin Morlok, FN 13, S. 777 ff. (780); Ernst-Wolfgang Böckenförde, FN 33, S. 165 ff. (181); Borowski, S. 500. Ausführlich zur eher diffusen Entstehungsgeschichte der (fehlenden) Schrankenregelung von Art. 4 GG Wolfgang Bock, FN 13, S. 444 ff. (462 ff.). 114 Vgl. jetzt auch die allgemeine grundrechtsdogmatische Kontroverse zwischen Wolfgang Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt. Kritik einer neuen Richtung der deutschen Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 43 (2004), S. 167 ff., und Wolfgang Hoffmann-Riem, 108 109
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schränkbarkeit des Grundrechts; ein von vornherein begrenzter Schutzbereich ermöglicht die Durchhaltung einer Dogmatik vorbehaltsloser Gewährleistung.115 Da die Unterschiede zwischen der Einschränkbarkeit vorbehaltlos gewährleisteter und unter Gesetzesvorbehalt stehender Grundrechte in der Praxis jedoch nicht überschätzt werden dürfen, spricht die dogmatische Klarheit für ein Ansetzen am Schutzbereich.116
V. Ausblick Damit ist zu den Ausgangsfragestellungen zurückzukehren: Ist der in der Frühzeit der Geschichte der Bundesrepublik sehr weit gezogene, ,entgrenzte‘ Schutzbereich des Grundrechts der Religionsfreiheit wieder enger zu fassen angesichts eines veränderten tatsächlichen Umfelds? Diese Frage wird – wie kaum anders zu erwarten – unterschiedlich beantwortet. Dieter Grimm etwa wehrt sich unter Berufung auf die weltanschaulichreligiöse Neutralität des Staates vehement gegen Korrekturen: „Es gibt daher keinen Grund, angesichts des Problems der Multikulturalität von der weiten Fassung des Schutzbereichs abzurücken und ihn für interkulturelle Konflikte anders zu bestimmen als für intrakulturelle Konflikte, denen das Grundrecht seine Existenz verdankt.“117 Diese Argumentation richtet den Blick auf eine auch aus der religiösen Pluralität resultierende kulturelle Divergenz. Damit wird übersehen, dass zahlreiche, dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Religionen zugeschriebene Konflikte der multikulturellen Gesellschaft aus einer unabhängig von der Glaubensrichtung bestehenden kulturellen Differenz entstehen. Wie gezeigt, beruhen Probleme, etwa von Migranten aus islamisch geprägten Ländern, häufig nicht unbedingt auf dem abweichenden religiösen Bekenntnis, sondern auf einer – allerdings schwer davon zu trennenden – unterschiedlichen Kultur. Insofern ist fraglich, ob eine derart deutliche Bezugnahme auf den interkulturellen Konflikt den Streit um die Grenzen der Religionsfreiheit bestimmen sollte. Freilich ist hier die Religionsgemeinschaft selbst aufgefordert, die notwendige Abgrenzung vorzunehmen. Zudem wird nicht hinreichend beachtet, dass durch eine generell wieder engere Fassung des Schutzbereichs nicht notwendig die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates verletzt sein muss.118 Die grundrechtliche Nichtberücksichtigung (innerlich) religiös angeleiteter, im Übrigen aber weltlicher (also äußerlich religionsneutraler) Handlungsweisen mag zwar Mitglieder der einen Religionsgemeinschaft härter treffen als diejenigen anderer Glaubensrichtungen; wenn staatlicherseits hier keine diskriminierende Ungleichbehandlung stattfindet, ist es dem Gesetzgeber jedoch nicht verwehrt, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch. Eine Erwiderung auf Kahls Kritik an neueren Ansätzen, in: ebd., S. 203 ff. 115 Wolfgang Bock, FN 13, S. 444 ff. (475); Stefan Mückl, FN 13, S. 96 ff. (104 f.); Ernst-Wolfgang Böckenförde, FN 33, S. 165 ff. (183): bei entsprechender Schutzbereichskorrektur werde „das leidige Schrankenproblem . . . zwar nicht aufgehoben, aber wesentlich entspannt“. 116 Grundsätzlich zum „Vorrang“ des Schutzbereichs Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rdnr. 310; auf Art. 4 GG bezogen eindringlich Stefan Mückl, FN 13, S. 96 ff. (105). 117 Dieter Grimm, FN 17, S. 135 ff. (140); auch Hans Michael Heinig / Martin Morlok, FN 13, S. 777 ff. (780). 118 Peter Badura, FN 9, S. 83 f.
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den Bereich des Religiösen insgesamt im Hinblick auf den grundrechtlichen Freiheitsschutz enger zu fassen. Die Formung eines handhabbaren Schutzbereichs, die Eingrenzung der Berücksichtigung des Selbstverständnisses bedeuten nicht zwingend die staatliche Identifikation mit konkreten religiösen oder weltanschaulichen Inhalten. Solche Bemühungen sind auch dadurch gerechtfertigt, dass es im Hinblick auf das Grundrecht der Religionsfreiheit stärker als in anderen Bereichen zugleich die Normativität der Rechtsordnung, das Generell-Abstrakte und damit die normative Kraft des Gesetzes zu bewahren gilt. Das bedeutet nicht notwendig eine Begrenzung des Schutzbereichs von Art. 4 GG auf eine eingeführte, überkommene, gar nur auf die christliche Religion119; eine solche Einschränkung würde in der Tat der Entstehungsgeschichte dieses Grundrechtskomplexes widersprechen. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates erscheint in der aktuellen verfassungsrechtlichen Diskussion als das zentrale Argument, um staatliche Intervention in den weltanschaulich-religiösen Bereich insgesamt zu unterbinden. Diese vielbeschworene Formel büßt ihre friedensstiftende Wirkung jedoch zusehends ein, wenn sie zu einem Abbau der generellen Normativität der Rechtsordnung führt, sofern glaubensgeleitetes Verhalten von dieser nicht mehr gesteuert werden könnte.120 So kann das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staats in einer pluralistischen Gesellschaft und gegenüber Religionsgemeinschaften, die nicht bereit sind, dieselbe zu akzeptieren, gerade das Gegenteil ihrer Intention der Friedenserhaltung bewirken. Dabei sollte nicht verkannt werden, dass es sich bei der Neutralität des Staates zwar in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts um eine verfassungsdogmatische Konstruktion handelt, die durch eine Zusammenschau einschlägiger Grundrechtsgehalte gewonnen wird,121 der jedoch – zumindest für den deutschen Bereich – die historische Realität nur bedingt entspricht: Nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen der konfessionellen Bürgerkriege entsteht in den deutschen Territorien geradezu gegenteilig der konfessionelle Staat. Allenfalls auf der zentralen Ebene des Alten Reiches entwickeln sich Parität und in einem vormodernen Sinne vielleicht auch ,Neutralität‘, während die Prozesse der Staatsbildung in Deutschland grundsätzlich auf der Ebene der Territorien voranschritten.122 Es liegt der Verdacht nahe, dass aus der Wirkmächtigkeit dieser Konstruktion gelegentlich eine gewisse Überbetonung der staatlichen Neutralität resultiert, dass das Prinzip verfassungsrechtsdogmatisch absolut gesetzt wird.123 Demgegenüber ist in der Literatur zu Recht darauf hingewiesen worden, dass Neutralität nicht mit schePeter Lerche, FN 12, S. 85 ff. (101). Uwe Volkmann, FN 18, S. 8 f. (8). 121 Vgl. besonders deutlich BVerfGE 19, S. 206 ff. (216) – „Badische Kirchenbausteuer“: „Das Grundgesetz legt durch Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV i.V. m. Art. 140 GG dem Staat . . . weltanschaulich-religiöse Neutralität auf.“ Grundsätzlich dazu Schlaich; Huster, vor allem S. 47 ff. zum konstruktiven Charakter dieses idealtypischen strategischen Modells. 122 Vgl. zur Kritik Horst Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, in: JZ 2002, S. 1 (6 ff.); Huster, S. 49 ff. 123 Man könnte insbesondere Äußerungen von Ernst-Wolfgang Böckenförde im Gefolge des sogenannten Kopftuchstreits so lesen, vgl. statt vieler nur: „Süddeutsche Zeitung-Interview mit ehemaligem Verfassungsrichter Böckenförde: ,Das Kopftuchverbot trifft auch Kreuz und Kippa‘. Verfassungsrechtler pocht auf das vom Grundgesetz verlangte Gebot strikter Gleichbehandlung der Glaubensgemeinschaften“, in: Süddeutsche Zeitung vom 13. Oktober 2004. 119 120
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matischer Gleichbehandlung identifiziert werden kann.124 So lässt sich auch der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts im Kopftuchurteil verstehen: „Dies schließt ein, dass die einzelnen Länder zu verschiedenen Regelungen kommen können, weil bei dem zu findenden Mittelweg auch Schultraditionen, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung berücksichtigt werden dürfen . . .“125 Der Rekurs auf Art. 137 Abs. 3 WRV kann hier weiterhelfen, da durch diese Norm zum einen eine gewisse Objektivierung des berücksichtigungsfähigen Selbstverständnisses insofern ermöglicht wird, als schon der dort verwandte Begriff der Religionsgesellschaft darauf hinweist, dass ein Zusammenschluss auf dem Boden der staatlichen Rechtsordnung gemeint ist und nicht nur eine rein geistliche Kultgemeinschaft.126 Zum anderen kann über die Schranke des „für alle geltenden Gesetzes“ die notwendige Kompatibilität mit der Gesamtrechtsordnung besser gesichert werden. Spätestens an dieser Stelle wird auch zu berücksichtigen sein, ob Glaubens- oder Religionsinhalte mit Grundwertungen unserer Verfassungsrechtsordnung übereinstimmen. Die alte „Kulturadäquanzformel“ kann hier reformuliert wiederaufleben: Es kommt nicht darauf an, ob das berücksichtigungsfähige religiöse Selbstverständnis eine konkrete Tradition in Deutschland oder unter den „heutigen Kulturvölkern“ besitzt, sondern ob es mit Grundwertungen der Verfassungsordnung im Einklang steht.127 Vergleichskriterium ist somit nicht die nationale Religions- und Frömmigkeitsgeschichte, sondern die Übereinstimmung mit Grundwertungen von Rechtsnormen: „Kulturadäquanz“ durch „Verfassungskompatibilität“. Da freilich Grundlagen unserer (Verfassungs-)Rechtsordnung kulturell und damit auch in einem überkommenen Sinn religiös geprägt und fundiert sind,128 führt eine solche Vorgehensweise in der Tat dazu, dass wesentliche Bestandteile, etwa der Glaubensüberzeugungen der christlichen Kirchen, insofern kompatibel sind. Durch den Rekurs auf objektiv-verbindliche Rechtsnormen kann gleichwohl nicht von einer unzulässigen Diskriminierung anderer Religionen gesprochen werden. Die Entwicklung genauerer, anwendbarer Kriterien bildet allerdings auch hier weiterhin ein Desiderat. Literaturverzeichnis Borowski, Martin: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübingen 2006. von Campenhausen, Axel / de Wall, Heinrich: Staatskirchenrecht, 4. Aufl. München 2006. Classen, Claus Dieter: Religionsrecht, Tübingen 2006. Huster, Stefan: Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2002. Jeand’Heur, Bernd / Korioth, Stefan: Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart u. a. 2000. Jellinek, Georg: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Wiederabdruck in: R. Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964, S. 1 ff. Vgl. Peter Badura, FN 9, S. 82 f. BVerfGE 108, S. 282 ff. (303) – „Kopftuch“; vgl. auch Friedhelm Hufen, Der Regelungsspielraum des Landesgesetzgebers im „Kopftuchstreit“, in: NVwZ 2004, S. 575 ff., insbes. 578. 126 BVerfGE 83, S. 341 ff. (355) – „Bahá’í“. 127 Friedhelm Hufen, FN 125, S. 575 ff. (578). Zu den Gefahren kritisch-differenziert Wolfgang Bock, FN 13, S. 444 ff. (447 ff.); Jeand’Heur / Korioth, Rdnr. 96 f. 128 In etwas anderem Zusammenhang Christian Waldhoff, Kirchliche Selbstbestimmung und Europarecht, in: JZ 2003, S. 978 ff. (985); kritisch Huster, S. 214 ff. 124 125
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Listl, Joseph / Pirson, Dietrich (Hrsg.): Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 1994, Bd. 2. 2. Aufl. Berlin 1995. Morlok, Martin: Selbstverständnis als Rechtskriterium, Tübingen 1993. Muckel, Stefan: Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, Berlin 1997. Schlaich, Klaus: Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen 1972. Schneiders, Thorsten G. / Kaddor, Lamya (Hrsg.): Muslime im Rechtsstaat, Münster 2005. Waldhoff, Christian: Die Zukunft des Staatskirchenrechts, in: Kämper / Thönnes (Hrsg.), Die Verfassungsordnung für Religion und Kirche in Anfechtung und Bewährung, Münster 2008, S. 55 ff.
Das System des Staatskirchenrechts in Deutschland Von Stefan Mückl I. Grundlagen „Staatskirchenrecht“ ist die herkömmliche Bezeichnung1 für das rechtliche Beziehungsgefüge zwischen dem Staat und den Kirchen (allgemeiner gesprochen: den Religionsgemeinschaften). Im Gegensatz zum (inneren) Kirchenrecht handelt es sich dabei um staatliches Recht, das sich aus den beiden Quellen2 des vom Staat einseitig gesetzten Rechts sowie des mit den Kirchen vertraglich vereinbarten Rechts speist. Staatskirchenrecht ist institutionelles Recht3: Es regelt die rechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirchen unabhängig von grundrechtlichen Gewährleistungen (kollektive Religionsfreiheit); teilweise geht es über diese hinaus. Jedoch stehen beide – staatskirchenrechtliche und grundrechtliche – Ebenen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind miteinander verwoben:4 Das Staatskirchenrecht steht auf der grundrechtlichen Basis der Religionsfreiheit, umgekehrt wirkt das Beziehungsgefüge von Staat und Kirchen auf den Gehalt der grundrechtlichen Gewährleistungen ein.5 Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Ebenen liegt indes darin, dass die Regelungen des Staatskirchenrechts im Ordnungsgefüge des (nationalen) Staates zur Entfaltung gelangen, wohingegen sich die Gewährleistung der Religionsfreiheit als Ausdruck einer allgemeinen menschenrechtlichen Idee darstellt. Kurz: Das Staatskirchenrecht ist national geprägt, das Grundrecht der Religionsfreiheit universalistisch.6 Ein hervorstechendes Charakteristikum des deutschen Staatskirchenrechts ist seine Historizität7: Es ist nicht nur historisch gewachsenes und daher vielfach nur vor den geschichtlichen Hintergründen verständliches Recht; auch steht die normative Basis des geltenden Staatskirchenrechts durch die beiden Verfassungskompromisse von Weimar8 1 Schon seit längerem unterbreitete terminologische Alternativvorschläge wie „Religionsrecht“ (Paul Mikat) oder „Religionsverfassungsrecht“ (erstmals Peter Häberle) haben sich nicht durchgesetzt. Die besseren Gründe sprechen für die weitere Verwendung des (recht verstandenen) Begriffs „Staatskirchenrecht“, näher Mückl, S. 52 ff. – Gegenentwurf: Christian Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, 2006. 2 Hollerbach, in: HStR VI, § 138 Rn. 18. 3 Statt aller Frhr. von Campenhausen, in: HdbStKirchR I, S. 47. 4 Anders aber neuere Bestrebungen einer allgemeinen grundrechtlichen Uminterpretation des Staatskirchenrechts („Vergrundrechtlichung“); dazu Walter (FN 1). 5 Näher Hollerbach, in: HStR VI, § 138 Rn. 2; Mückl, Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, 2002, S. 32. 6 Mückl, S. 36. 7 Statt aller Isensee, in: FS Listl, S. 67 (70 ff.). 8 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 871 ff., 1200 f.; Bd. VI, 1981, S. 864 ff.
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und Bonn im neunten Jahrzehnt ihrer Rechtswirksamkeit. So sehr dies die Fähigkeit der Rechtsmaterie dokumentiert, in ihrem langen Geltungszeitraum unterschiedlichste Problemlagen zu bewältigen, bleibt doch bei aller Elastizität die stete Aufgabe, die historisch gewachsenen und bewährten Regelungen immer neu zu legitimieren und mit Leben zu erfüllen.9
II. Rechtsquellen des Staatskirchenrechts Bei beiden Rechtsquellen des deutschen Staatskirchenrechts ist die föderative Ordnung der Bundesrepublik Deutschland in Rechnung zu stellen: Sowohl das staatliche Recht wie das sogenannte Staatskirchenvertragsrecht ist in Teilen Bundes-, in Teilen Landesrecht. Zwar steht dem Bund kein spezieller Gesetzgebungstitel für das Staatskirchenrecht zu (anders noch Art. 10 Nr. 1 WRV). Doch hat er durch eine weitgehende Inanspruchnahme seiner (sonstigen) Gesetzgebungskompetenzen den rechtlichen Rahmen staatskirchenrechtlich relevanter Fragestellungen in erheblichem Maße abgesteckt.10 Die landesrechtlich relevanten Bereiche des Staatskirchenrechts11 betreffen im Wesentlichen die dem Sammelbegriff „Kulturhoheit der Länder“ unterfallenden Sachgebiete, namentlich das Schul-, Hochschul-, Medien- und Denkmalschutzrecht sowie das Kirchensteuerrecht. 1. Einseitig vom Staat gesetztes Recht
In diesem Bereich dominieren die verfassungsrechtlichen Bestimmungen, während die einfache Gesetzgebung zugunsten einvernehmlicher Regelungen zwischen dem Staat und (vor allem) den Kirchen zurückgetreten ist.12 Das deutsche Verfassungsrecht stellt das Staatskirchenrecht auf zwei Säulen: Einerseits garantiert Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die individuelle, kollektive und korporative Religionsfreiheit als grundrechtliche Rechtsposition.13 Zum anderen enthält Art. 140 GG mit der Inkorporation der maßgeblichen Vorschriften der WRV bedeutende institutionelle Gewährleistungen zugunsten der „Religionsgesellschaften“. 14 Die dergestalt „inkorporierten“ Bestimmungen stellen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „vollgültiges Verfassungsrecht“ dar, welche gegenüber den anderen Artikeln des GG nicht auf der Stufe minderen Ranges stehen.15 9 Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche 25 (1991), S. 104 ff.; Otto Depenheuer, Religion als ethische Reserve der säkularen Gesellschaft, in: ders. / Markus Heintzen / Matthias Jestaedt / Peter Axer (Hrsg.), Nomos und Ethos, 2002, S. 1 ff. 10 Näher Jörg Müller-Volbehr, Staatskirchenrecht als Gegenstand einfacher Gesetzgebung in Bund und Ländern, in: HdbStKirchR I, 2. Aufl. 1994, S. 289 (304 ff.). 11 Überblick bei dems., ebd., S. 289 (310 ff.). 12 Frhr. von Campenhausen / de Wall, S. 50. 13 Paul Kirchhof, Menschenwürde und Freiheit, sowie Christian Waldhoff, Religionsfreiheit und ihre Grenzen, in diesem Handbuch. 14 Statt dieses von der Aufklärung geprägten und von der WRV nicht ohne polemische Note übernommenen Terminus verwenden GG wie die meisten Landesverfassungen den Begriff „Religionsgemeinschaften“ oder „Kirchen“. 15 BVerfGE 19, 206 (219); 53, 366 (400).
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Das grundgesetzliche Staatskirchenrecht zeigt eine sorgsam abgewogene, jegliche Extreme vermeidende Konzeption: Mit dem Verbot der Staatskirche16 versteht sich der Staat als ausschließlich säkular, woran auch die nominatio Dei in der Präambel nichts ändert.17 Damit sind die Kirchen aber nicht vollständig und konsequent in den privaten Raum verwiesen: Ihr Rechtsstatus als Körperschaft des Öffentlichen Rechts bleibt aufrechterhalten, 18 woraus sich als unmittelbare Folgerung das kirchliche Besteuerungsrecht ergibt.19 Trotz ihres öffentlich-rechtlichen Status’ rechnen die Kirchen jedoch nicht zum Staat; hinsichtlich ihrer Angelegenheiten ist ihnen das Recht eigenständigen Ordnens und Verwaltens gewährleistet.20 Gemeinsame Bezugsfelder öffnen sich, wenn das GG durch die Institute des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen21 und der Anstaltsseelsorge22 kirchliches Tätigwerden auch im staatlichen Bereich ermöglicht; nach Maßgabe des Landesverfassungsrechts treten noch die theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten hinzu.23 Ein Finanzierungsverbot für kirchliche Zwecke besteht nicht.
2. Zwischen Staat und Kirche vertraglich vereinbartes Recht
Ein Charakteristikum des deutschen Staatskirchenrechts ist das dichte Geflecht von vertraglichen Vereinbarungen zwischen Staat und Kirchen zur Regelung ihres Beziehungsgefüges.24 Unter den Oberbegriff „Staatskirchenverträge“ werden die mit der katholischen Kirche abgeschlossenen Konkordate und Verträge ebenso gefasst wie die evangelischen Kirchenverträge sowie die mit kleineren Religionsgemeinschaften abgeschlossenen Verträge.25 Regelungsgegenstand können dabei sowohl (zumeist in kodifikatorischer Form) die grundlegenden Fragen des wechselseitigen Verhältnisses als auch konkrete Einzelfragen sein. Letztere sind vor allem für die kleineren Religionsgemeinschaften relevant. Seine wesentliche Prägung und Bedeutung hat das Staatskirchenvertragsrecht indes durch die zwischen dem Staat und den großen christlichen Kirchen abgeschlossenen Vereinbarungen erfahren. Hier bilden die von den Ländern abgeschlossenen Staatskirchenverträge den Schwerpunkt.26 Art. 137 Abs. 1 WRV. Hierzu Otto Depenheuer, Kirche – Staat – Gesellschaft, in diesem Handbuch. 18 Art. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV. 19 Art. 137 Abs. 6 WRV. 20 Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV. 21 Art. 7 Abs. 3 GG. 22 Art. 141 WRV. 23 Alexander Hollerbach, Theologische Fakultäten und staatliche Pädagogische Hochschulen, in: HdbStKirchR II, 2. Aufl. 1995, S. 549 ff. 24 Aktuelle Bestandsaufnahme: Mückl, S. 223 ff. – Dokumentation bei Joseph Listl (Hrsg.), Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde. 1987. 25 Grundlegend Alexander Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, 1965; speziell zur Terminologie S. 68 ff. 26 Wichtige Ausnahmen sind zwei vom Bund abgeschlossene Verträge: 1957 der Militärseelsorgevertrag mit der EKD (Text: Listl [FN 24], S. 96) sowie 2003 ein (im Wesentlichen die Erbringung von Staatsleistungen regelnder) Vertrag mit dem Zentralrat der Juden (BGBl. 2003 I S. 1597). 16 17
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Auch in diesem Kontext offenbart sich die Historizität des Staatskirchenrechts: Das Gros der geltenden Verträge stammt noch aus der Weimarer Zeit (Konkordate / Kirchenverträge mit Bayern 1924, Preußen 1929 / 31 und Baden 1932) oder geht in seinen Vorarbeiten auf diese Epoche zurück (Reichskonkordat 1933). Zwei weitere Vertragsperioden folgten nach 1949 bzw. nach 1990. Besondere Hervorhebung verdient die Renaissance des Staatskirchenvertragsrechts seit den 1990er-Jahren, zunächst in den „neuen“ Bundesländern, in den letzten Jahren zusätzlich in Bremen, Hamburg, Berlin und Baden-Württemberg. „Vertragsfreie Räume“ bestehen alleine hinsichtlich der katholischen Kirche in Berlin und Schleswig-Holstein. Vereinbarungen mit kleineren Religionsgemeinschaften betreffen in zwölf Bundesländern die jüdischen Kultusgemeinden27, in Bayern die altkatholische und RussischOrthodoxe Kirche; in Niedersachsen einige evangelische Freikirchen sowie in NordrheinWestfalen die Griechisch-Orthodoxe Kirche. Keine Abmachungen wurden bisher mit muslimischen Gemeinschaften getroffen, wobei das zentrale Problem für die staatliche Seite darin liegt, überhaupt geeignete und repräsentative Ansprechpartner zu finden.28
III. Zentrale Bereiche des Zusammenwirkens von Staat und Kirche Bringt man das staatskirchenrechtliche System in Deutschland auf einen begrifflichen Nenner, ist es ein solches der Kooperation:29 Einerseits besteht eine prinzipielle Trennung von Staat und Kirche, auf der anderen Seite geht das GG von einem Zusammenwirken beider Größen in zahlreichen Sachbereichen aus. Somit lässt sich auch weiterhin mit Ulrich Stutz von einer „hinkenden Trennung“ sprechen.
1. Rechtlicher Status der Kirchen (Religionsgemeinschaften)
Die deutsche Rechtsordnung ermöglicht den Kirchen als solchen, einen Rechtsstatus nach staatlichem Recht zu erlangen, indem sie an die außerhalb ihres Geltungsanspruchs begründete Existenz der Kirche anknüpft. Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 WRV eröffnet dabei zwei Modalitäten ihrer Zuordnung zum staatlichen Rechtskreis: Nach Abs. 4 können Religionsgemeinschaften „die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechtes“ erwerben. Abs. 5 handelt vom Status als Körperschaft des Öffentlichen Rechts,30 der den Kirchen und Religionsgemeinschaften31 diesen Status belässt (Satz 1) und anderen Religionsgemeinschaften (sofern die genannten Voraussetzungen vorliegen) einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf desNachw. bei Mückl, S. 226, (FN 41). Problemskizze bei Ansgar Hense, Staatsverträge mit Muslimen – eine juristische Unmöglichkeit?, in: Stefan Mückl (Hrsg.), Das Recht der Staatskirchenverträge, 2007, S. 115 ff. 29 Zu den staatskirchenrechtlichen Systemen insgesamt Stefan Mückl, Staat-Kirche-Beziehungen in Europa, in diesem Handbuch. 30 Aus neuerer Zeit etwa Hans Michael Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003. 31 Katholische Kirche: (Erz-)Diözesen, Pfarreien und weitere Untereinheiten wie Domkapitel etc.; auf evangelischer Seite: Landeskirchen und Kirchengemeinden; außerdem: jüdische Kultusgemeinden. 27 28
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sen Verleihung einräumt (Satz 2). Beide Möglichkeiten verbürgen den Kirchen in ihrem religiösen Kernstatus gleiche Rechte.32 Unterschiede bestehen nicht im Grundsätzlichen, sondern nur in einzelnen aus dem Rechtsstatus fließenden Befugnissen. a) Privatrechtlicher Status Das GG gewährt einen Anspruch auf die Inanspruchnahme der allgemeinen privatrechtlichen Organisationsformen, nicht aber auf eine bestimmte Rechtsform. In der Praxis spielt diejenige des eingetragenen Vereins (§ 21 BGB) eine überragende Rolle. Allerdings finden nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Vorschriften des BGB nicht ohne weiteres Anwendung; vielmehr ist bei ihrer Auslegung und Anwendung das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft besonders zu berücksichtigen.33 Der im GG nicht ausdrücklich geregelte Verlust der Rechtsfähigkeit richtet sich zum einen ebenfalls nach bürgerlichem Recht (Entzug der Rechtsfähigkeit gem. § 43 Abs. 2 BGB bei satzungswidriger Verfolgung eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs34). Zum anderen besteht seit der Streichung des „Religionsprivilegs“ im Vereinsgesetz im Jahre 2001 die Möglichkeit eines öffentlich-rechtlichen Vereinsverbots nach § 3 VereinsG.35 Aktuell sind in Deutschland etwa die Griechisch-Katholische Kirche, die Serbische Orthodoxe Kirche, die Buddhisten sowie (jedenfalls bislang) die Muslime privatrechtlich organisiert. b) Körperschaftsstatus Dieser Status hebt die Kirchen (Religionsgemeinschaften) aus der Sphäre der Privatheit in diejenige der Öffentlichkeit, ohne sie aber in die Ebene der Staatlichkeit einzugliedern.36 An besonderen Rechtspositionen37 kommen ihnen neben dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Besteuerungsrecht die sogenannten Korporationsrechte (Dienstherrnfähigkeit, Organisationshoheit, Rechtsetzungsbefugnis, Parochialrecht, vermögensrechtliche Widmungsbefugnis) zu, zudem eine Vielzahl einfachgesetzlicher Vergünstigungen. Voraussetzung für den Status ist, dass die betreffende Religionsgemeinschaft einen Antrag stellt und sie „durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer“ bietet. Letzteres nimmt die Verwaltungspraxis bei einem Bestand von wenigstens 30 Jahren an. „Verfassung“ meint nicht nur das Organisationsstatut einer Gemeinschaft, sondern weitergehend ihre „Verfasstheit“ als rechtlich greifbaren Gesamtzustand: Erforderlich sind fassbare Strukturen und Organe, die im Inneren authentisch über Lehre und Ordnung entscheiden und im Außenverhältnis repräsentativ für die Gemeinschaft handeln können, so dass eine dauerhafte Zusammenarbeit mit dem Staat Frhr. von Campenhausen / de Wall, S. 119 ff. BVerfGE 83, 341 (356). 34 Problematisch etwa bzgl. der „Church of Scientology“, siehe BVerwGE 105, 313. 35 So z. B. BVerwG, NVwZ 2003, S. 986 – Kalifatstaat. 36 BVerfGE 102, 370 (387 f.); Hollerbach, in: HStR VI, § 138 Rn. 132. 37 Paul Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: HdbStKirchR I, 2. Aufl. 1994, S. 651 (670 ff.). 32 33
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möglich ist.38 Für das Kriterium der Mitgliederzahl gilt in der Praxis ein Richtwert von einem Promille der Einwohnerzahl des Landes. Zusätzlich muss nach allgemeiner Ansicht die Religionsgemeinschaft rechtstreu sein, einer zusätzlichen Loyalität zum Staat soll es dem Bundesverfasungsgericht zufolge aber nicht bedürfen.39 Das Verleihungsverfahren im Einzelnen richtet sich nach Landesrecht.40 Bis Ende der 1980er-Jahre war der Körperschaftsstatus wenig kontrovers. Seitdem werden vermehrt – auch spektakuläre – gerichtliche Auseinandersetzungen geführt, nicht zuletzt, weil bisherige „Außenseiter“ (wie die „Zeugen Jehovas“) ihn erstreben.41 Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage hinsichtlich muslimischer Gemeinschaften.42 2. Kirchliches Selbstverwaltungsrecht
Nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV ordnet und verwaltet jede Religionsgemeinschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Dieses Recht gilt unabhängig von der Rechtsform für jede Religionsgemeinschaft und erweist sich als Konsequenz der Strukturprinzipien der Säkularität und der Neutralität: Wenn das GG Staat und Kirche prinzipiell trennt und dem Staat ein Interventionsverbot in die internen Angelegenheiten der Kirchen auferlegt, so können diese nur der kirchlichen Regelungskompetenz unterfallen. Damit offenbart die Bestimmung einen doppelten Aspekt: Zum einen wird die Eigenständigkeit der Kirchen und ihrer Sendung gegenüber dem Staat gewährleistet. Zudem erkennt damit das GG die Relevanz der verfassten Kirchen für das Gemeinwesen an.43 Träger des Selbstverwaltungsrechts sind nicht nur die Kirchen als solche, sondern auch alle ihnen zugeordneten Einrichtungen, wenn sie nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück Auftrag der Kirche in der Welt wahrzunehmen,44 also etwa Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten. Geschützte Tätigkeitsformen sind das „Ordnen“ (Freiheit der eigenen Rechtsetzung) wie das „Verwalten“ (Freiheit, die selbst gesetzten Normen konkret anzuwenden sowie – mittels kirchlicher Gerichte – durchzusetzen). Beides vermögen die Kirchen „selbständig“ zu tun, also frei von jeglicher Mitwirkung des Staates. Bezugspunkt des Selbstverwaltungsrechts sind die eigenen („ihre“) Angelegenheiten der Kirchen. Was dazu rechnet, bemisst sich nach ganz überwiegender Auffassung45 entsprechend dem kirchlichen Selbstverständnis. Unstreitig fallen darunter: GlaubensBVerwGE 105, 117 (121); Hollerbach, in: HStR VI, § 138 Rn. 135. BVerfGE 102, 370 (389 f.; 395 f.); anders zuvor BVerwGE 105, 313 (124 ff.). 40 Art. 140 GG in Verbindung mit Artikel 137 Abs. 8 WRV. 41 Nachw. FN 36. – Endgültige Zuerkennung des Status: BVerwG, NJW 2006, S. 3156. 42 Janbernd Oebbecke (Hrsg.), Muslimische Gemeinschaften im deutschen Recht, 2003; Problemskizze: Mückl, S. 251 ff. 43 BVerfGE 42, 312 (330 ff.); Konrad Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR I, 2. Aufl. 1994, S. 521 (531 f.); Bernd Grzeszick, Staatlicher Rechtsschutz und kirchliches Selbstbestimmungsrecht, AöR 129 (2004), S. 168 (186). 44 BVerfGE 70, 138 (163); Hollerbach, in: HStR VI, § 138 Rn. 120; Hesse, in: HdbStKirchR I, S. 521 (534 f.). 45 Frhr. von Campenhausen / de Wall, S. 102 ff.; Hollerbach, in: HStR VI, § 138 Rn. 116; Hesse, in: HdbStKirchR I, S. 521 (541 ff.); BVerfGE 46, 73 (85); 53, 366 (392); 70, 138 (165). 38 39
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lehre und Kultusordnung, Verfassung und Verwaltung der Kirchen und ihrer Unterverbände, Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder, Rechtsverhältnisse der Geistlichen und anderer Amtsträger sowie das kirchliche Finanzwesen einschließlich der Vermögensverwaltung. Nach herrschender (aber nicht unbestrittener) Ansicht gilt Gleiches für die karitative und wirtschaftliche Tätigkeit der Kirchen wie für die Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse mit ihren Mitarbeitern. Seine Schranken findet das Selbstverwaltungsrecht im „für alle geltenden Gesetz“. Die Formel verbietet zum einen jedes Sondergesetz gegen die Kirchen und gebietet eine Abwägung zwischen Kirchenfreiheit und dem jeweiligen widerstreitenden Interesse. Das Selbstverwaltungsrecht setzt sich damit keineswegs automatisch durch, noch bewegen sich die Kirchen gar außerhalb der Rechtsordnung. Ein praktisch bedeutsamer Anwendungsfall ist das kirchliche Arbeitsrecht:46 Nur die Kirchen können darüber entscheiden, welche Dienste und Einrichtungen ihre Sendung fordert. Infolge dieser Tendenzprägung („Dienstgemeinschaft“) dürfen die Kirchen bei der Begründung von Arbeitsverhältnissen sowohl Anforderungen an die persönlichen Eigenschaften ihrer Mitarbeiter stellen (etwa: Konfessionszugehörigkeit) als auch Loyalitätsobliegenheiten festsetzen.47 Verstöße hiergegen können arbeitsrechtlich sanktioniert werden, in gravierenden Fällen (Kirchenaustritt, erhebliche Verstöße gegen die Ehe- und Morallehre, schwere Loyalitätsbrüche) bis hin zur Kündigung.48 Auch im kollektiven Arbeitsrecht bestehen Besonderheiten, insbesondere werden die Arbeitsbedingungen nicht im Wege des Tarifvertrags (ggf. mit Streik und Aussperrung), sondern einvernehmlich durch paritätisch von Dienstgeber und Mitarbeitern besetzte Kommissionen geregelt („Dritter Weg“).
3. Kirchliche Präsenz in staatlichen Einrichtungen
Der deutsche Staat öffnet kraft Verfassungs- wie Vertragsrechts in erheblichem Umfang seine Einrichtungen für Möglichkeiten kirchlicher Präsenz: Religionsunterricht in öffentlichen Schulen, theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten, Seelsorge in Krankenhäusern, Strafanstalten und Streitkräften. Staat und Kirchen kooperieren hier institutionell, wobei es nicht (mehr) um die kondominale Verbindung von weltlicher und geistlicher Gewalt geht. Vielmehr sind Aufgaben betroffen, die zwar in die primäre Kompetenz des Staates fallen, zugleich aber die verfassungsrechtlich abgesicherte Interessensphäre der Kirchen betreffen: Staat und Kirchen agieren auf den gleichen Gebieten und haben die gleichen Menschen zu Gliedern. Ihnen kommt das Grundrecht der Religionsfreiheit auch dann zu, wenn sie in staatliche Einrichtungen eingegliedert sind. Hier agieren die Kirchen als Sachwalter der religiösen Bedürfnisse der Bürger; wobei die Verfassung vermutet, dass ihr Wirken willkommen ist.49 Umfassend Gregor Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, 2006. Katholische Kirche: Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse vom 22. September 1993, Abdruck: NJW 1994, S. 1394. 48 Zentral BVerfGE 70, 138. – Daran wird sich prinzipiell auch durch die EG-Anti-Diskriminierungsrichtlinien und das darauf basierende AGG nichts ändern; siehe näher § 9 AGG (Schutzklausel zugunsten der Kirchen). 49 Frhr. von Campenhausen / de Wall, S. 227. 46 47
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a) Schule und Hochschule Die nach der Kompetenzordnung des GG für diese Materien zuständigen Länder haben unterschiedliche Ausgestaltungen vorgenommen: Etliche Länder haben die öffentliche Schule in der Regelform der christlichen Gemeinschaftsschule organisiert50 und im Kanon der Erziehungsziele religiöse Elemente verankert („Ehrfurcht vor Gott“). Einzige, aber bedeutsame Vorgabe des GG für die Länder im schulischen Bereich ist die Verankerung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach (Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG):51 In ihm werden „in konfessioneller Positivität und Gebundenheit“52 die kirchlichen Glaubenswahrheiten gelehrt, was in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften geschehen muss (Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG). Das Prinzip der staatlichen Neutralität ist hier also zurückgenommen, umgekehrt ist für die Schüler die Teilnahme und für den Lehrer die Erteilung freiwillig (Art. 7 Abs. 2, Abs. 3 Satz 3 GG). In der Praxis besteht flächendeckend katholischer und evangelischer, teilweise auch jüdischer Religionsunterricht. Ein Pendant auf muslimischer Seite ist bislang nicht eingerichtet; zahlreiche praktische Einzelfragen harren weiterhin der Klärung.53 Kraft Landesverfassungs- und Vertragsrechts bestehen an den staatlichen Universitäten aktuell 32 theologische Fakultäten.54 Wiederum bündeln sich staatliche und kirchliche Aufgaben: Der Staat erweist sich als Kulturstaat, welcher die europäische Wissenschaftstradition fortführt wie den interdisziplinären Diskurs unterschiedlichen Prämissen verpflichteter Wissenschaften ermöglicht. Für die Kirchen stellen diese Fakultäten Ausbildungsstätten ihrer künftigen Geistlichen, Religionslehrer und sonstigen Mitarbeiter dar, überdies Pflegestätten wissenschaftlicher Theologie (die im Idealfall auch auf andere Disziplinen ausstrahlt und so im Dienst der kirchlichen Sendung insgesamt steht). Infolge dieser Zusammenhänge muss das Lehrpersonal persönlich wie inhaltlich den Anforderungen des jeweiligen kirchlichen Bekenntnisses genügen.55 b) Anstaltsseelsorge56 Nach Art. 140 GG in Verbindung mit Artikel 141 WRV sind die Religionsgemeinschaften zur Vornahme religiöser Handlungen in öffentlichen Anstalten (beispielhaft genannt: Heer, Krankenhäuser und Strafanstalten) zuzulassen, soweit das Bedürfnis nach Gottesdiensten und Seelsorge besteht. Zweck der Norm ist, die erschwerte Möglichkeit der Religionsausübung in diesen Anstalten dadurch zu kompensieren, dass die indivi50 Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland sowie Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen (in diesen beiden Ländern ist auch noch die Form der Bekenntnisschule möglich). 51 Martin Heckel, Der Rechtsstatus des Religionsunterrichts im pluralistischen Verfassungssystem, 2002. 52 BVerfGE 74, 244 (252) in Anlehnung an Gerhard Anschütz. 53 Etwa: Ausbildungsniveau des Lehrpersonals und hinreichende Verfasstheit der muslimischen Gemeinschaften (dazu zuletzt BVerwGE 123, 49). Siehe Wolfgang Bock, Islamischer Religionsunterricht?, 2006. 54 13 katholische (davon zwei „ruhende“: Bamberg und Passau) und 19 evangelische. 55 Näher (auch zu den Unterschieden zwischen katholischem und evangelischem Regime) Mückl, S. 284 f. 56 Näher Susanne Eick-Wildgans, Anstaltsseelsorge, in: HdbStKirchR II, 2. Aufl. 1995, S. 995 ff.
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duelle Rechtsposition der Anstaltsunterworfenen durch einen Zulassungsanspruch der Kirchen ergänzt wird. Das als Voraussetzung dieses Anspruchs benannte Bedürfnis wird vermutet, solange sich Angehörige der betreffenden Religionsgemeinschaft in der Anstalt befinden und nicht ausdrücklich ihre Ablehnung bekundet haben (wodurch dem Prinzip der Freiwilligkeit Rechnung getragen ist). Hinsichtlich der Strafanstalten und Krankenhäuser sind (abgesehen von grundsätzlichen Aussagen zur Strafgefangenenseelsorge im StVollzG) die näheren Modalitäten vertraglich zwischen den Ländern und Kirchen geregelt; weder im Grundsätzlichen noch in der Praxis bestehen hier Schwierigkeiten. Umfassend normiert ist die Militärseelsorge57, evangelischerseits im Militärseelsorgevertrag (1957),58 katholischerseits in den vom Papst erlassenen „Statuten für den Jurisdiktionsbereich des Katholischen Militärbischofs für die Deutsche Bundeswehr“ (1989).59 Der Staat sorgt für den organisatorischen Aufbau und trägt die Kosten, wohingegen die Kirche für die inhaltliche Ausgestaltung und die Aufsicht verantwortlich ist. Leiter der Militärseelsorge ist ein Militärbischof, der nach Konsultation des Staates vom Papst aus dem Kreis der deutschen Diözesanbischöfe bzw. vom Rat der EKD ernannt wird. Die (auf seinen Vorschlag berufenen) Militärgeistlichen sind Bundesbeamte auf Zeit (maximal zwölf Jahre), ihr Rechtsstatus ist ausschließlich zivil (kein militärischer Rang). In struktureller Hinsicht ist die Militärseelsorge personal konzipiert, d. h. ihr unterstehen die Soldaten und zivilen Mitarbeiter des betreffenden Bekenntnisses sowie ihre Familienangehörigen. 4. Finanzierung kirchlichen Wirkens aus öffentlichen Mitteln
Art. 140 GG enthält mit der Garantie der Kirchensteuer60 und dem Ablösungsgebot der Staatsleistungen61 zwei Vorgaben für das finanzielle Beziehungsgefüge, welche deutlich machen, dass eine strikte Trennung in finanzieller Hinsicht, etwa in Gestalt eines Finanzierungsverbots, nicht besteht. Typisch ist vielmehr ein Bündel vielfältiger Mechanismen der Kooperation, direkter wie indirekter Art, basierend auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen und motiviert aus verschiedenen Erwägungen:62 a) Direkte Finanzierung Eine direkte öffentliche Förderung der Kirchen erbringt der Staat durch Staatsleistungen und Subventionen. Erstere63 beruhen auf in der Vergangenheit liegenden RechtsJörg Ennuschat, Militärseelsorge, 1996. Nachw. FN 26. 59 AAS 81 (1989), S. 1284 ff. 60 In Verbindung mit Art. 137 Abs. 6 WRV. 61 In Verbindung mit Art. 138 Abs. 1 WRV. 62 Heiner Marré, Die Kirchenfinanzierung in Kirche und Staat der Gegenwart, 4. Aufl. 2006, S. 45 ff., im Überblick Josef Isensee, Die Finanzquellen der Kirchen im deutschen Staatskirchenrecht, JuS 1980, S. 94 ff. 63 Josef Isensee, Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR I, 2. Aufl. 1994, S. 1009 ff. 57 58
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grundlagen und dienen der Kompensation staatlichen Unrechts (zumeist: vermögensrechtlicher Säkularisationsfolgen). Sie sind zwar durch die Landesgesetzgebung abzulösen (entschädigungspflichtig aufzuheben)64; da aber das erforderliche Grundsatzgesetz bis heute nicht erlassen ist, sind die bestehenden rechtlichen Verpflichtungen weiter zu erfüllen. Subventionen hingegen rechtfertigen sich aus einem in die Zukunft gerichteten öffentlichen Interesse an der gemeinwohlrelevanten kirchlichen Tätigkeit (karitative und erzieherische Einrichtungen).
b) Kirchensteuer Art. 140 GG in Verbindung mit Artikel 137 Abs. 6 WRV berechtigt die öffentlichrechtlich verfassten Kirchen zur Erhebung von Steuern aufgrund der bürgerlichen Steuerlisten. Steuerpflichtig sind allein die Mitglieder der betreffenden Kirche. Die Kirchen vermögen die Steuerpflicht mit Hilfe des Staates (notfalls einseitig) durchzusetzen, da dieser ihnen Verwaltungs- und Vollstreckungshilfe leistet. Bei allem ist das deutsche Kirchensteuersystem weniger Ausfluss einer (zu) engen Bindung der Kirche an den Staat als vielmehr das Bemühen um Gewinnung kirchlicher Autonomie vom Staat wie von einzelnen privaten Großspendern. Die Kirchensteuer wird als Zuschlagsteuer zur Lohn- bzw. Einkommensteuer erhoben; der Steuersatz beträgt aktuell (je nach Land) acht oder neun Prozent. c) Indirekte Finanzierung Mechanismen indirekter Finanzierung der Kirchen bilden Ausnahme-, Befreiungsund Begünstigungstatbestände des Steuer- und Abgabenrechts, die sowohl bei den Kirchen selbst ansetzen, als auch Dritten Anreize für deren Förderungsverhalten schaffen:65 So unterfallen die öffentlich-rechtlich verfassten Kirchen von vornherein nicht der Steuerpflicht für nichtgewerbliche Einnahmen, Religionsgemeinschaften privaten Rechts können nach Maßgabe des Gemeinnützigkeitsrechts davon befreit werden. Privatpersonen wie Unternehmen können bis zu 5 % ihrer Einkünfte (bzw. 2 ‰ ihrer Umsätze) als Spenden absetzen (Sonderausgaben); gleiches gilt für die entrichtete Kirchensteuer. Diese Förderungsmechanismen honorieren zum einen das bürgerschaftliche Engagement Einzelner. Zudem dienen sie mit der mittelbaren Förderung der Kirchen und Religionsgemeinschaften auch der Aufrechterhaltung der von diesen wahrgenommenen Gemeinwohlaufgaben, die ansonsten – gerade im karitativen und sozialen Bereich – von öffentlichen Trägern übernommen werden müssten.
Literaturverzeichnis von Campenhausen, Axel Frhr.: Der heutige Verfassungsstaat und die Religion, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland (HdbStKirchR), Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 47 ff. von Campenhausen, Axel Frhr. / de Wall, Heinrich: Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006. 64 65
FN 61. Mückl, S. 309 ff.
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Hollerbach, Alexander: Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI: Freiheitsrechte, 2. Aufl. 2001, § 138. Isensee, Josef: Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts, in: ders. / Wilhelm Rees / Wolfgang Rüfner (Hrsg.), Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist. FS für Joseph Listl zum 70. Geburtstag, 1999, S. 67 ff. Mückl, Stefan: Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005.
Staat-Kirche-Beziehungen in Europa Von Stefan Mückl I. Grundformen staatskirchenrechtlicher Systeme in Europa Verhältnis und Zuordnung von organisierter politischer Herrschaft und religiösen Überzeugungen der dieser Herrschaft Unterworfenen ist eine alle historischen Epochen durchziehende Grundfrage des Rechts.1 In ihr bündeln sich staatliches Selbstverständnis einerseits und religiöse Transzendenz andererseits: Der Staat beansprucht gegenüber dem Einzelnen Souveränität und Rechtsgehorsam. Umgekehrt erfährt derselbe Einzelne, sofern er religiös gebunden ist, die von seinem Glauben geleiteten Überzeugungen als ihn absolut – auch gegenüber dem Staat – bindende Gewissensbefehle.2 Auf den civis et christianus (sowie im Zeitalter religiöser Pluralisierung generell: vel fidelis) treffen staatlich-politischer Machtanspruch wie religiöser Verpflichtungsanspruch. Diese potentiell widerstreitenden Ansprüche in Ausgleich zu bringen, ist nicht nur eine Frage zwischen Staat und Individuum, sondern tiefer gehend auch eine Frage des Verhältnisses zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, zwischen imperium und sacerdotium, zwischen Staat und Kirche: Ebenso wie der Staat die organisierte Einheit der Einzelnen darstellt, findet sich auch der geistlich-religiöse Bereich als Gemeinschaft der Gläubigen repräsentiert und – nicht selten in Form einer rechtlich verfassten Ordnung – institutionalisiert. Aus diesem Grund muss sich die staatliche Ordnung nicht nur zur Frage verhalten, ob und inwieweit sie dem Einzelnen religiöse Freiheit ihr gegenüber einräumt, sondern darüber hinausgehend, in welchem Verhältnis von der Warte des Staates aus weltliche und geistliche Gewalt stehen sollen: Die Bestimmung dieses Verhältnisses ist eine „staatsrechtliche Aufgabe ersten Ranges“.3 Schon ein flüchtiger Blick in die Geschichte lässt deutlich werden: Das Verhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt ist eine Abfolge von enger Bindung und strikter Trennung, von gedeihlichem Miteinander und erbittertem Gegeneinander, von Respektierung des jeweils anderen Bereichs und spiegelbildlich von wechselseitigen Übergriffen. Welche Haltung zu einer bestimmten geschichtlichen Epoche vorherrscht, bemisst sich nach den jeweiligen geistesgeschichtlichen Vorstellungen ebenso wie nach den auf ihrer Basis errichteten realen, namentlich rechtlichen Gegebenheiten. So lassen sich zwei Grundmodelle der denkbaren Zuordnung von Staat und Kirche vorstellen: Ein Modell der Einheit, welches weltliche und geistliche Gewalt vereint (unter wessen 1 2 3
Abriss bei Christian Hillgruber, Staat und Religion, DVBl. 1999, S. 1155 ff. Siehe nur Apg 5,29 („Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“). Hillgruber, DVBl. 1999, S. 1155.
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Dominanz bleibt dabei zunächst offen4) und eines der Trennung, welche die beiden Gewalten als prinzipiell zu scheidende Ordnungen begreift. Indes weist vor allem das Modell der Trennung ein derart weites Spektrum denkbarer Lösungen auf, dass eine weitere Unterscheidung im Hinblick auf die Frage geboten ist, ob der Grundsatz der Trennung schlechterdings jede Verbindung zwischen Staat und Kirche ausschließt oder nicht. Daraus schließlich ergeben sich die drei typischen Grundformen denkbarer Lösungsmodelle des Staat-Kirche-Verhältnisses:5 Ein System der Staatskirche, ein System der Trennung (im eigentlichen Sinn) sowie ein System der Kooperation.6 II. Europäische Rechtsordnungen und staatskirchenrechtliche Grundformen Versteht man zunächst „Europa“ im politischen Sinne als „Europäische Union“, so offenbart sich (auch staatskirchenrechtliche) Vielfalt:7 Jeder ihrer Mitgliedstaaten kann einem der genannten drei Systeme zugeordnet werden.8 Das System der Staatskirche findet sich in Großbritannien (präziser: in England und Schottland9), in den skandinavischen Ländern Dänemark, Finnland und Schweden sowie, der Sache nach, in Griechenland10 verwirklicht. Dem entgegengesetzten System der Trennung folgen Frankreich, die Niederlande und Portugal, ebenso Estland, Slowenien und die Tschechische Republik. Das zwischen diesen beiden „Extrem-“Positionen liegende „mittlere“ System der Kooperation ist in der Mehrheit der Mitgliedstaaten geltendes Recht: in Deutschland, Österreich, Belgien, Irland, Italien, Luxemburg und Spanien, desgleichen in Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakei, Ungarn und Zypern. 4 Historisch lassen sich für beide Optionen Beispiele anführen: Eine Dominanz der weltlichen Gewalt findet sich im oströmischen Cäsaropapismus („Byzantinismus“), eine solche der geistlichen Gewalt im Konzept einer päpstlichen Universalmonarchie des Hochmittelalters. 5 Joseph Listl / Alexander Hollerbach, Grundmodelle einer möglichen Zuordnung von Staat und Kirche, in: Joseph Listl / Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 2. Aufl. 1999, S. 1256 ff.; Frhr. von Campenhausen / de Wall, S. 338 ff.; Mückl, S. 59 ff., 75 ff., 143 ff., 220 ff. 6 Jedenfalls innerhalb der ersten beiden Systeme lassen sich verschiedene Spielarten ausmachen (die im Weiteren nicht vertieft werden können): Das Modell „Staatskirche“ kann im wörtlichen Sinn (dann: protestantischer Provenienz) oder als (katholische) Staatsreligion bestehen, das Modell „Trennung“ kann „freundschaftlich“ (so in den USA, Leitbild: „Befreiung der Kirche vom Staat“) oder „feindlich“ (wie in Frankreich, Leitbild: „Befreiung des Staates von der Kirche“) akzentuiert sein. 7 „Vielfalt“ soll auch weiterhin die EU prägen: Der (inzwischen gescheiterte) „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ sah für die Union ein „Motto“ vor – „In Vielfalt geeint“. 8 Gute erste Orientierung in den Länderberichten bei Robbers (Hrsg.); speziell für die ostmitteleuropäischen Staaten Balázs Schanda, Staatskirchenrecht in den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: Wilhelm Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat. Joseph Listl zum 75. Geburtstag, Berlin 2004, S. 797 ff. 9 Staatskirchen sind die (anglikanische) Kirche von England (Church of England) und die (calvinistische) Kirche von Schottland (Kirk of Scotland); die anglikanischen Kirchen von Wales, Nordirland und Schottland sind entstaatlicht. Einzelheiten: Norman Doe / Joanna Nicholson, Das Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Kirche in Großbritannien, in: Kämper / Schlagheck (Hrsg.), S. 59 (62 ff.). 10 Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der griechischen Verfassung: „Vorherrschende Religion in Griechenland ist die der Östlich-Orthodoxen Kirche Christi“ – der Sache nach mehr dem Modell der Staatsreligion als dem der Staatskirche folgend.
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Mit diesen Zuordnungen ist freilich nur eine erste Orientierung in dem (historisch wie juristisch) komplexen Stoff gewonnen. Alleine aus typologischen Gesichtspunkten sind verwertbare sachliche Aussagen nicht zu gewinnen. Im Gegenteil vermag nahezu jede Rechtsordnung Detailbestimmungen vorzuweisen, die auf den ersten Blick überraschend, weil „systemfremd“ oder aber im Rechtsvergleich inkonsistent wirken.11 Mehr noch treten Erschwernisse der Erfassung bereits dadurch auf, dass keineswegs immer die Zuordnung ohne Schwierigkeiten zu leisten ist. Mitunter finden sich in ein- und demselben Staat mehrere Spielarten des gleichen Systems (Finnland12) oder sogar mehrere, verschiedene Systeme (Frankreich13, ebenso die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied14).
III. Grundzüge und Ausprägungen der staatskirchenrechtlichen Grundformen Rechtliche Gestalt gewinnen die genannten Modelle erst, wenn sie hinsichtlich konkreter Rechtsordnungen dargestellt werden. Einen ersten Baustein für eine umfassende Analyse bildet der Weg exemplarischer Beschreibung, welche für jedes der Modelle eine repräsentative Rechtsordnung untersucht.
1. Staatskirchliches Modell
Prototypisch dafür steht England:15 Dort existiert die älteste Staatskirche Europas, welche beträchtliche Ausstrahlung im affirmativen (Skandinavien16) wie im ablehnenden Sinn (USA) entfaltet hat. Den Beginn der Entwicklung markiert 1534 der Act of Supremacy, welcher für den Monarchen die Rolle als Oberhaupt der Anglikanischen Kirche („the only supreme head in earth of the Church of Christ of England, called 11 Beispiel Kirchenfinanzierung: Obwohl Staatskirche, erhält die Church of England nur marginale Zuwendungen vom Staat. Innerhalb des Kooperationsmodells finden sich sowohl Rechtsordnungen mit einem den Staat treffenden Finanzierungsverbot (Irland) wie mit einem Finanzierungsgebot (Belgien, Luxemburg). 12 Staatskirchen sind die evangelisch-lutherische sowie in Karelien die russisch-orthodoxe Kirche. 13 Selbst in diesem „Mutterland“ des Trennungssystems gilt in den östlichen Landesteilen ein Kooperationsmodell: Historischer Hintergrund ist der Umstand, dass in den heutigen Departements Haut-Rhin, Bas-Rhin und Moselle die Regelungen des Napoleonischen Konkordats von 1801 fortgelten. Frankreich hatte im Zuge der Einführung des Trennungssystems 1905 das Konkordat gekündigt; für die betreffenden Gebiete, damals als Reichsland Elsass-Lothringen unter deutscher Herrschaft, entfaltete die Kündigung keine Wirkung. Vertiefend Axel Frhr. von Campenhausen, Staat und Kirche in Frankreich, 1962, S. 60 ff. 14 Die Regelung der Materie obliegt im Wesentlichen den Kantonen, diese haben erheblich divergierende Modelle entwickelt; dazu Louis Carlen, Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Schweiz, in: Listl / Schmitz (Hrsg.) (FN 5), S. 1308 (1312 ff.); Frhr. von Campenhausen / de Wall, S. 340 ff. 15 Eingehend Hill; Grundriss bei Mückl, S. 75 ff. 16 Die Staatskirche wurde in Dänemark 1536 sowie in Schweden und Finnland (damals zu Schweden gehörend) 1536 / 44 eingeführt. Historische Hintergründe bei Matthias Asche / Anton Schilling (Hrsg.), Dänemark, Norwegen und Schweden im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, 2003.
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Anglicana Ecclesia“) reklamiert.17 An diesen Anspruch hat sich bis heute nichts geändert, der Monarch muss unverändert der anglikanischen Kirche angehören; gleiches gilt – hinsichtlich des lutherischen Bekenntnisses – für die Könige von Schweden, Dänemark und Norwegen. In allen Rechtsordnungen ist das staatskirchliche Prinzip im Laufe der (teilweise: erst jüngsten) Zeit durch weitere Grundsätze ergänzt und damit modifiziert worden: Parität, Neutralität und insbesondere Religionsfreiheit. In England kommt der Church of England unverändert eine rechtliche Sonderstellung zu: Ihr internes Recht ist Bestandteil des (staatlichen) Öffentlichen Rechts, was daran deutlich wird, dass gegen Entscheidungen der (erst in den 1960er-Jahren gebildeten) Kirchengerichte staatliche Gerichte angerufen werden können. Demgegenüber haben die anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften lediglich privatrechtlichen Status. Im Rechtsverkehr handlungsfähige Subjekte sind indes in allen Fällen (also auch für die Staatskirche) von der jeweiligen Gemeinschaft abhängige Rechtsträger privaten Rechts, zumeist Treuhandvereine (trusts). Besonders ausgeprägt ist die Verflochtenheit von Staat und Kirche im Bereich der Staatsorganisation:18 Das Parlament sanktioniert die von kirchlichen Instanzen beschlossenen Kirchengesetze, denen dann – wie den Staatsgesetzen – allgemeine (also nicht nur auf Kirchenmitglieder beschränkte) Geltung zukommt. Die Regierung verfügt über wesentliche Mitwirkungsrechte bei der Nomination der anglikanischen (Erz-)Bischöfe und bei der Ernennung des höheren Klerus. Umgekehrt gehören beide Erzbischöfe (Canterbury, York) und 24 weitere Bischöfe als Spiritual Lords kraft (geistlichen) Amtes dem Oberhaus an und wirken so an der gesamten weltlichen Gesetzgebung mit. Jenseits dieser Sphäre bestehen zwischen der anglikanischen Staatskirche und den übrigen Kirchen und Religionsgemeinschaften rechtlich keine Unterschiede. Hinsichtlich ihres geistlich-religiösen Auftrags genießen sie das Recht eigenständiger Wahrnehmung ihrer Angelegenheiten (church autonomy), das ihnen namentlich im Arbeitsrecht ermöglicht, den spezifischen Charakter ihrer Einrichtungen durch eine entsprechende Personalauswahl und die Aufstellung von Verhaltensregeln abzusichern. Der Verwirklichung der Religionsfreiheit in staatlichen Einrichtungen (Strafanstalten, Krankenhäuser, Streitkräfte) dient eine prinzipiell allen Kirchen und Religionsgemeinschaften offenstehende Anstaltsseelsorge. Überraschend spärlich ausgeprägt sind religiöse Bezüge in den staatlichen Bildungseinrichtungen. Zwar bestehen Religionsunterricht und Schulandacht sowie theologische Fakultäten, doch weisen erstere keinerlei konfessionelle Prägung auf (sie müssen nur einen „weitgehend christlichen Charakter“ haben), und bei letzteren besitzen kirchliche Instanzen keine Einwirkungsmöglichkeiten. Kompensation dafür bietet das Institut der Privatschulfreiheit, das zudem Raum für eine staatliche Co-Finanzierung lässt. Im Übrigen sind sowohl die Staatskirche wie alle übrigen Gemeinschaften auf die Erschließung eigener Finanzquellen angewiesen, weder existiert eine Kirchensteuer noch gewährt der Staat Zuschüsse für kirchliche Tätigkeitsfelder (marginale Ausnahme: Zwecke des Denkmalschutzes).
17 Näher Paul Anthony Diaper, Law and Religion in England between 1532 – 1994, Rome 2000, S. 64 ff., 110 ff. 18 Vergleichbares gilt in Schweden, dazu Frhr. von Campenhausen / de Wall, S. 342 ff.; Kjell Å. Modéer, Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in den skandinavischen Ländern, ZevKR 47 (2002), S. 339 ff.
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2. Trennungsmodell
Historisch wie aktuell verkörpert die Rechtsordnung Frankreichs jenes Konzept.19 Wurde es erstmals (und in überaus radikaler Form) in den Revolutionsjahren nach 1789 verwirklicht,20 hat – nach gegenläufigen Tendenzen im 19. Jahrhundert – das Trennungsgesetz von 1905 (loi de la séparation) das auch heute noch maßgebliche normative Fundament gelegt.21 Es enthält in seinem ersten Titel die beiden grundlegenden Pfeiler des Systems: Auf der einen Seite werden die Freiheit des Gewissens und der freien Ausübung des Kultus garantiert, auf der anderen Seite wird die Anerkennung einer Kirche oder Religionsgemeinschaft verboten. Dieses Verbot wird in finanzieller Hinsicht abgesichert, weder Gehaltszahlungen noch Subventionen dürfen geleistet werden. Regelungsadressaten sind nach dem Trennungsgesetz nicht die Kirchen oder Religionsgemeinschaften als solche, sondern die zum Zwecke der Religionsausübung und des Unterhalts der Geistlichen zu bildenden Kultvereine (associations cultuelles). Die beiden im Trennungsgesetz genannten Systempfeiler konstituieren den Schlüsselbegriff des französischen Staatskirchenrechts – die laïcité.22 Im Gesetzestext selbst kommt er freilich nicht vor, in das Verfassungsrecht fand er erst 1946 Eingang (und wird dort weniger definiert denn vorausgesetzt). Der Begriff ist genuin französisch und in anderen Sprachen kaum adäquat wiederzugeben, doch selbst in Frankreich changiert der Bedeutungsgehalt: Laïcité kann sowohl in einem allgemein-philosophischen Sinn wie im juristischen Sinn verstanden werden, als weltanschaulicher Kampfbegriff wie als Rechtsbegriff. Bildete der erstgenannte Kontext die zeitgenössische politische und gesellschaftliche Motivation des Trennungsgesetzes (aufklärerische „Befreiung des Staates von der Kirche“, anticlericalisme), steht heute sein Charakter als rechtlicher Terminus außer Streit.23 Als solcher umfasst er Freiheit wie Trennung als gegensätzliche Prinzipien, denen die spätere Rechtsentwicklung durch Gesetzgeber wie Gerichte noch diejenigen der Neutralität und der Parität hinzugefügt haben. Charakteristisch für das französische Staatskirchenrecht ist die konsequente Verweisung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den privaten Raum: Ihr Rechtsstatus ist der des privaten Vereins, zudem abgestuft nach bereichsspezifischen Ausschnitten ihres Tätigkeitsfeldes. Der vor allem steuerrechtlich vorteilhafteste von ihnen – der Kultverein – steht nur für die „ausschließliche Kultausübung“ zur Verfügung, was durch eine restriktive Verwaltungs- und Gerichtspraxis24 sichergestellt wird. „Kampfstätte“ der laïcité schlechthin war bis in die jüngere Vergangenheit die Schule. Historisch gingen dem Trennungsgesetz die Schulgesetze der 1880er-Jahre voraus. Deren Grundaxiome prägen bis heute25 das öffentliche Grundschulwesen: Entfernung reli19 Umfassend Messner / Prélot / Woehrling (Hrsg.); Überblicksdarstellungen: Mückl, S. 143 ff.; Volker Wick, Die Trennung von Staat und Kirche, 2007; Walter, S. 69 ff., 162 ff. 20 Historischer Abriss: Hans Maier, Revolution und Kirche, 1959, S. 92 ff. 21 Abdruck des Gesetzes: Zaccaria Giacometti, Quellen zur Geschichte der Trennung von Staat und Kirche, 1926, S. 272; prägnante Inhaltsangabe: Frhr. von Campenhausen (FN 13), S. 3 ff. 22 Mückl, S. 151 ff. 23 Mitunter wird dies terminologisch durch die Unterscheidung von laïcisme und laïcité erfasst. 24 Sie betrifft vor allem muslimische Vereinigungen wie „neue“ Religionsgemeinschaften („Sekten“); beiden tritt der Staat mit spürbarer etatistischer Reserve gegenüber. 25 Die Regelungen wurden im Jahr 2000 vom Gesetzgeber erneut bestätigt.
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giöser Inhalte im Allgemeinen und des Religionsunterrichts im Besonderen aus dem Unterrichtskanon sowie Ausschluss von Priestern und Ordensleuten von jeder Unterrichtstätigkeit. Freilich vermochte das seit jeher bedeutsame, praktisch überwiegend konfessionelle, Privatschulwesen ein starkes Gegengewicht zu bilden; seit dem Privatschulgesetz von 1959 (loi Debré) erfolgt eine staatliche Förderung. Überhaupt hat die Praxis das ehedem strikte Finanzierungsverbot des Trennungsgesetzes erheblich modifiziert: Zwar erhalten die Kirchen für ihr geistliches Wirken keine staatlichen Hilfen, wohl aber für dasjenige in Kultur und Erziehung sowie für die in staatlichen Einrichtungen bestehende Anstaltsseelsorge.
3. Kooperationsmodell
Als „klassisches“ Land dieses Typus kann Deutschland gelten, dessen System schon eingehend dargestellt wurde.26 Aufgrund der Erfahrungen religiöser Bürgerkriege seit dem Zeitalter der Glaubensspaltung stellte sich im konfessionell zutiefst gespaltenen Reich die Verständigung zwischen weltlicher Macht und den „Religionsparteien“ (sowie dieser untereinander) als Überlebensfrage dar. Zum typischen Instrument friedensstiftender Koexistenz – aus der später Kooperation werden sollte – entwickelte sich der Vertrag, heute noch eines der Charakteristika im deutschen Staatskirchenrecht (wie allgemein des Kooperationsmodells). Noch eine zweite, heute in allen staatskirchenrechtlichen Systemen unbestrittene, Grundlegung entstammt jener Epoche: Das Verständnis des Staates als säkulare Friedenseinheit. Das deutsche Reichsverfassungsrecht hatte (jedenfalls auf Ebene des Reiches) für die Praxis die religiöse Wahrheitsfrage suspendiert, woraus später die Prinzipien der Säkularität und Neutralität des Staates erwuchsen. Das Kooperationsmodell des deutschen Staatskirchenrechts hat in den vergangenen Jahrzehnten beträchtliche Resonanz und Nachahmung in anderen europäischen Rechtsordnungen gefunden, so in Spanien nach dem Übergang zur Demokratie nach 197527 wie in den ostmitteleuropäischen Staaten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
IV. Grenzen der Systembildung So eingängig die Trias der staatskirchenrechtlichen Systeme auch ist und so sehr sie erste Orientierungen vermittelt, ist ihre Aussagekraft doch beschränkt: Gerade beim staatskirchlichen wie beim Trennungsmodell offenbaren sich deutliche Divergenzen zwischen normativem Anspruch und dessen Einlösung in der Rechtspraxis. Grundsätzlicher ist eine andere Beobachtung: Jene Trias nimmt, der staatstheoretischen Perspektive des 19. Jahrhunderts entsprechend, die Frage nach der Trennung von Staat und Kirche zur Grundlage wie zur Voraussetzung.28 Doch die schlichte Alternative zwischen Trennung oder Nicht-Trennung wird im 21. Jahrhundert weder den rechtlichen Beziehungen der Kirchen noch der ihnen angehörigen Gläubigen zum Staat wirklich gerecht: Sollen konkrete Bereiche menschlichen Lebens und Wirkens, die den Einzelnen als civis 26 27 28
Stefan Mückl, Das System des Staatskirchenrechts in Deutschland, in diesem Band. Eingehend Mückl, S. 314 ff. Vgl. dazu Weiler, S. 34 ff., der in ähnlichem Kontext von einem „subtilen Trick“ spricht.
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et christianus ansprechen (und im freiheitlichen Verfassungsstaat den Staat ebenso betreffen wie die Kirchen), sachlich zugeordnet werden, verbieten sich jedenfalls schematische Extremlösungen: Weder eine staatliche cura religionis noch die strikte Trennung sind hier angemessene Lösungen. Hinzu tritt oftmals der tatsächliche Befund, dass die religionssoziologischen Verhältnisse die Rechtswirklichkeit stärker (oder anders) prägen, als es die Rechtsordnung vermuten ließe: In manchem „Trennungsland“ übertrifft die Stellung der von der großen Bevölkerungsmehrheit getragenen Kirche deutlich ihre Rechtsposition (Portugal). Umgekehrt garantiert auch der Status als Staatskirche dieser keine dementsprechende religiöse oder gesellschaftliche Bedeutung (England). Allen Systemen sind heute aber wesentliche Strukturprinzipien gemeinsam: Die Grundsätze der Säkularität, der Neutralität und der Parität, weiterhin die Bedeutung des Grundrechts der Religionsfreiheit und in der Konsequenz dessen eine grundsätzliche positive Einstellung aller Rechtsordnungen zu den Kirchen wie eine prinzipielle Offenheit für alle Religionsgemeinschaften. In diesem breiten Rahmen behalten die Unterschiede und nationalen Besonderheiten aber unverändert ihren (gewichtigen) Rang; eine „Konvergenz“ der Systeme lässt sich allgemein nicht ausmachen.29
V. Nationales Staatskirchenrecht und europäisches Recht Das Staatskirchenrecht steht – entgegen seiner Bezeichnung – heute nicht mehr allein im Regelungskontext des Staates.30 In nahezu allen Rechtsmaterien ist die „Europäisierung“ ein inzwischen allgemein anerkanntes Phänomen. Diese Entwicklung liegt in der logischen Konsequenz des vom EuGH bereits 1964 ausgesprochenen Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht.31 Nach dem Kompetenzsystem der Gemeinschaft32 verfügt diese über keine unmittelbare Kompetenz für das Staatskirchenrecht. Gemäß dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung33 bedarf die Gemeinschaft einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung aus dem EGV. Eine solche enthält dieser, der sich (immer noch) im Schwerpunkt der Materien des Wirtschaftslebens annimmt, gerade nicht. Damit ist allerdings nur die Erkenntnis gewonnen, dass das Gemeinschaftsrecht nicht das Staatskirchenrecht als solches in den Blick nimmt. Das verwehrt ihm zwar das zielgerichtete Tätigwerden in diesem Bereich, nicht aber das Handeln in den der Gemeinschaft zugewiesenen Materien, welche sich (auch) auf das mitgliedstaatliche Staatskirchenrecht allgemein, auf Religion und Kirche, auswirken. Dahinter steht eine Systemlogik, welche das Gemeinschaftsrecht primär funktional ausgestaltet. Anders als im mitgliedstaatlichen Recht, stellt es nicht auf die betroffenen Subjekte, sondern auf die von ihnen ausgeübte Tätig29 So aber Gerhard Robbers, Das Verhältnis von Staat und Kirche in Europa, ZevKR 42 (1997), S. 122 (126). 30 Erste Befassung: Alexander Hollerbach, Europa und das Staatskirchenrecht, ZevKR 35 (1990), S. 250 ff. 31 EuGH, NJW 1964, S. 2371; aus der deutschen Rechtsprechung BVerfGE 73, 339 (375); 75, 223 (244). 32 Für die hiesige Thematik können die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Union“ synonym gebraucht werden. 33 Art. 5 Abs. 1 EGV.
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keit ab. Konsequenz dessen ist es, dass die von den Gemeinschaftsorganen erlassenen Rechtsakte wenigstens mittelbar auf staatskirchenrechtliche Sachverhalte einwirken können. Dieser Zusammenhang hat in der Vergangenheit wiederholt zu „Schieflagen“ geführt: Das Gemeinschaftsrecht ist, wie dargelegt, immer noch erheblich auf wirtschaftsbezogene Sachverhalte hin orientiert. Auch das Wirken der Kirchen kann (tatsächlich oder vermeintlich) wirtschaftliche Gesichtspunkte aufweisen. Daher haben das Gemeinschaftsrecht wie die Rechtsprechung des EuGH die Kirchen (wenn überhaupt) als Akteure des Wirtschaftslebens wahrgenommen und behandelt.34 In Reaktion darauf wurde dem Gemeinschaftsrecht verbreitet „Kirchenblindheit“ attestiert, Paul Kirchhof hat ihm mehr noch den „logischen Fehler“ vorgehalten, „Kirchen- und Religionsangelegenheiten nicht als wirtschaftserhebliches Kirchenrecht, sondern als kirchenerhebliches Wirtschaftsrecht“ zu verstehen.35 Demnach kann die Gemeinschaft zwar mittelbar auf Materien zugreifen, welche auch von staatskirchenrechtlicher Relevanz sind. Diese „mittelbare“ Kompetenz unterliegt aber zahlreichen Beschränkungen: Zum einen ist die Union nach Art. 6 Abs. 3 EUV verpflichtet, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten, worunter auch die tragenden Grundpfeiler des (jeweiligen) nationalen Staatskirchenrechts fallen.36 In den genuin innerkirchlichen Bereich (Kultus und Sakramentenverwaltung, religiöse Lehre und Verkündigung, Ämterstruktur und Ämterrecht) einzugreifen, steht ihr von vornherein nicht zu; unter der Prämisse moderner, säkularer und freiheitlicher Herrschaftsausübung ist die weltliche Gewalt für den geistlich-religiösen Bereich schlechthin inkompetent.37 Schließlich enthält auch das Gemeinschaftsrecht Grundrechte,38 nicht zuletzt dasjenige der Religionsfreiheit, welches die Kompetenzausübung der Gemeinschaftsorgane zu begrenzen vermag. Von erheblicher Bedeutung für das Staatskirchenrecht ist ferner die 1997 dem Amsterdamer Vertrag angeschlossene „Kirchenerklärung“:39 „Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise.“ Gegenwärtig ist sie im strikten Sinne nicht rechtsverbindlich (wurde in der Pra34 Skurriles Beispiel: In einer Entscheidung von 1986 hat der EuGH das Amt des Priesters unter den Selbständigen-Begriff nach Art. 1 der „Wanderarbeitnehmer-Verordnung“ subsumiert (Slg. 1986, 3097, Tz. 21 ff.). 35 Paul Kirchhof, Der unverzichtbare Kern des deutschen Staatskirchenrechts und seine Perspektive im EU-Gemeinschaftsrecht, in: Axel Frhr. von Campenhausen (Hrsg.), Deutsches Staatskirchenrecht, S. 147 (155). 36 Christian Waldhoff, Einwirkungen des Völker- und Europarechts, in: Hans Michael Heinig / Christian Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, 2006, S. 251 (275 ff.); Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 485 f. 37 Mückl, S. 417; Christian Waldhoff, Kirchliche Selbstbestimmung und Europarecht, JZ 2003, S. 978 (986). 38 Zwar ist die „EU-Grundrechte-Charta“ von 2000 unverändert nicht rechtsverbindlich, jedoch achtet die Union nach Art. 6 Abs. 2 EUV die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind, so die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9). 39 Bernd Grzeszick, Die Kirchenerklärung zur Schlussakte des Vertrags von Amsterdam, ZevKR 48 (2003), S. 284 ff.
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xis aber wiederholt so behandelt), dies zu ändern war in den (bisher gescheiterten) Reformverträgen („Verfassungsvertrag“, Lissaboner Vertrag) vorgesehen. Dieses knapp skizzierte rechtliche Instrumentarium steht zur Verfügung, um den Kirchen auch auf europäischer Ebene die Freiheit ihrer Sendung und ihres Wirkens zu gewährleisten. Schon in der Vergangenheit hat das Gemeinschaftsrecht in der Praxis vielfach zugunsten der Kirchen Ausnahmeklauseln vorgesehen: – Mehrwertsteuerrichtlinien (1977 / 1985): Befreiungstatbestände für bestimmte gemeinwohlorientierte kirchliche Tätigkeitsfelder. – Tierschutzrichtlinie (1993): Ausnahmemöglichkeit zugunsten religiöser Riten vom grundsätzlichen Verbot des betäubungslosen Schlachtens von Tieren („Schächten“). – Datenschutzrichtlinie (1995): Zulässigkeit nationaler Ausnahmebestimmungen zugunsten religiöser Organisationen vom Verbot der Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen religiöse Überzeugungen der Bürger hervorgehen.40 – Gleichbehandlungsrichtlinie (2000): Zulässigkeit nationaler Ausnahmevorschriften zugunsten der Kirchen und Religionsgemeinschaften (für ihre Arbeitsverhältnisse entgegen der Regel doch nach Religion und Weltanschauung differenzieren zu dürfen).
Zwar hat sich hier noch nicht eine durchgängig konsistente Regelungssystematik herausgebildet, doch gelangt in den wesentlichen Punkten sachlicher Berührung das Gemeinschaftsrecht zu vergleichbaren Wertungen wie das nationale Recht. Verwunderlich ist das nicht, schließlich fügen sich die grundlegenden Strukturvorgaben, die sich der Gemeinschaftsrechtsordnung für das Beziehungsgefüge zwischen Staat und Kirchen entnehmen lassen, in den gemeinsamen Stand der staatskirchenrechtlichen Systeme ein: Der Grundsatz der Parität, die Option zur Berücksichtigung der spezifischen Belange der Kirchen, die Anerkennung ihres Selbstverwaltungsrechts wie die (spiegelbildliche) Befugnis, auch sie grundsätzlich dem Regime des für alle geltenden Rechts zu unterstellen. Das führt für die Staat-Kirche-Beziehungen in Europa zu einer doppelten Integrationswirkung: Die Spannungslage zwischen europäischer „Harmonisierung“ und nationalem „Eigengut“ wird ebenso ausbalanciert wie diejenige zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt. Literaturverzeichnis von Campenhausen, Axel Frhr. (Hrsg.): Deutsches Staatskirchenrecht zwischen Grundgesetz und EU-Gemeinschaftsrecht. Symposion im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland am 25. und 26. April 2002 in Hannover, 2003. von Campenhausen, Axel Frhr. / de Wall, Heinrich: Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006. Hill, Mark: Ecclesiastical Law, 2. Aufl. 2001. Kämper, Burkhard / Schlagheck, Michael (Hrsg.): Zwischen nationaler Identität und europäischer Harmonisierung. Zur Grundspannung des zukünftigen Verhältnisses von Gesellschaft, Staat und Kirche in Europa, 2002. 40 Ohne die Ausnahmeklausel war in Deutschland die Infragestellung des geltenden Systems des Kirchensteuereinzugs befürchtet worden; siehe Christian Starck, Das deutsche Kirchensteuerrecht und die Europäische Integration, in: Ole Due / Marcus Lutter / Jürgen Schwarze (Hrsg.), FS für Ulrich Everling, Band II, Baden-Baden 1995, S. 1427 ff.
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Messner, Francis / Prélot, Pierre-Henri / Woehrling, Jean-Marie (Hrsg.): Traité de droit français des religions, 2003. Mückl, Stefan: Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005. Robbers, Gerhard (Hrsg.): Staat und Kirche in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005. Walter, Christian: Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, 2006. Weiler, Joseph: Ein christliches Europa, 2004.
Dreizehntes Kapitel
Internationale Ordnung
Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte Von Ludger Kühnhardt I. Der katholische Maßstab Zu den bemerkenswerten Entwicklungen hinsichtlich der modernen Einflüsse des christlichen Glaubens auf die Welt gehören die Rolle und Bedeutung des katholischen Standpunktes bei der Frage nach Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte. Die Genese des Menschenrechtsbegriffs im Kontext der europäischen und euro-atlantischen Geistesgeschichte ist nicht zu trennen von dem konkreten politischen Ringen um Freiheit und Autorität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einerseits, Willkürherrschaft und schrankenlose Machtausübung andererseits. Der geistesgeschichtlich wirkungsvollste Durchbruch der Idee der Menschenrechte ist eng verbunden mit den rationalistisch-aufklärungsphilosophischen Vorstellungen zum Naturrecht als einem Ausdruck der Stimme der Vernunft. Der politisch wirkungsmächtigste Durchbruch der Idee der Menschenrechte ist eng verbunden mit dem Ringen um Verfassungsstaatlichkeit und dem Schutz des Einzelnen unter einer Ordnung von Herrschaft, die erst gerade dadurch Legitimität erfährt. Vom katholischen Standpunkt war die moderne Entwicklung des politischen Liberalismus und des pluralistischen Rechts- und Verfassungsstaates zunächst nicht unproblematisch.1 Die säkularen Staatstheorien und Gesellschaftsauffassungen des Aufklärungszeitalters wurden in der katholischen Kirche als Kampfansage an den christlichen Ordnungsbegriff empfunden. Trotz der Entfaltung eines liberalen politischen Katholizismus, namentlich in Frankreich, leisteten die Päpste des 19. Jahrhunderts im Prinzip vor allem Widerstand gegen die Ausbreitung der politischen Ideen, die im Gefolge der Französischen Revolution um sich gegriffen hatten. Die Enzykliken Mirari vos von Papst Gregor XVI. aus dem Jahre 1832, Quanta cura von Papst Pius IX. aus dem Jahre 1864 und Libertas praestantissimum von Papst Leo XIII. aus dem Jahre 1888 markierten die theologischen Grenzziehungen der katholischen Kirche gegenüber dem politischen Liberalismus. Vor allem sein Menschenrechtsverständnis wurde als Angriff auf die Religionsfreiheit verstanden. Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit in liberaler Deutung wurden von den Päpsten des 19. Jahrhunderts nicht als kirchliches Schutzrecht, sondern als antikirchliche Angriffe empfunden. Sie sahen darin einen Anschlag auf die sittlichen und geistigen Grundlagen einer katholischen Staats- und Gesellschaftsordnung: Keine Freiheit für die Freiheit gegen die Religion, so lautete die Maxime. 1 Aus der neueren Literatur: Marianne Heimbach-Steins, Menschenrechte in Gesellschaft und Kirche. Lernprozesse, Konfliktfelder, Zukunftschancen, Mainz 2001; Alexander Saberschinsky, Die Begründung universeller Menschenrechte. Zum Ansatz der Katholischen Soziallehre, Paderborn 2002.
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Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wandelte sich die katholische Position gegenüber den Grundanliegen des politischen Liberalismus entscheidend. Zwei Voraussetzungen waren dafür verantwortlich. Zum einen löste sich der politische Liberalismus von seinem weltanschaulich engen Blick auf die Religion und auf die katholische Kirche. Zum anderen tauchten die Schrecken und Grausamkeiten der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts die positiven Seiten des politischen Liberalismus, von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in ein völlig neues Licht. Die Katholische Soziallehre, in ihrem Ansatz im späten 19. Jahrhundert eher korporatistisch angelegt, öffnete sich zusehends dem Denken, das vom christlichen Personalismus geprägt war. Schon unter Papst Pius XI. und Papst Pius XII. begannen das katholische Denken und die moderne Deutung der Menschenrechte als Schutzrechte des Einzelnen zu konvergieren. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO, verkündet am 10. Dezember 1948, wurde ein markanter Ausdruck der nun immer deutlicher möglichen Aussöhnung zwischen den liberal-rechtsstaatlichen Menschenrechtsvorstellungen und den Ordnungsprinzipien der katholischen Gesellschaftslehre. Papst Johannes XXIII. bezeichnete die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als ein Dokument von höchster Bedeutung. In seiner Enzyklika Pacem in terris vom 11. April 1963 unterstrich der Papst, dass die Sicherung des Friedens von der Einhaltung jener Ordnung unter den Menschen abhänge, die von Gott gesetzt sei und in der Achtung der Menschenwürde ihren Ausdruck finde. Das menschliche Gewissen und seine Anerkennung seien Leitbild einer humanen Ordnung des Zusammenlebens. Eine gute Ordnung setze die Anerkennung des Prinzips voraus, „dass jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist“.2 Mit der Enzyklika Pacem in terris legte Papst Johannes XXIII. die erste große Menschenrechtserklärung der katholischen Kirche vor, konkretisiert in einem expliziten Menschenrechtskatalog, der dem Standard der UNO in keinem Punkt nachstand. Die grundlegendsten Menschenrechte werden zum integralen Bestandteil des katholischen Staats- und Ordnungsdenkens erklärt: das Recht auf Leben, auf die Unversehrtheit des Leibes und auf die geeigneten Mittel zu einer angemessenen Lebensführung. Vor allem akzentuiert der Papst das Recht auf Meinungsfreiheit und namentlich auf die Freiheit zur Religionsausübung. Von nun an wird unzweifelhaft klar: Die Freiheit der Religion ist Kern der Menschenrechte und niemand wird fortan ihr entschiedenerer Anwalt sein als die katholische Kirche. Mit besonderer innerer Anteilnahme hat Papst Johannes Paul II. das Anliegen seiner Vorgänger weiterentwickelt. Geprägt von den Erfahrungen des Lebens unter totalitärer Diktatur und den Erschütterungen des Zweiten Weltkrieges einschließlich der Besatzung seiner Heimat durch Deutsche hat Johannes Paul II. sein ganzes Pontifikat unter den Einsatz für die Menschenwürde als Kern der Idee der Menschenrechte gestellt. Im Evangelium verankerte der Papst die Menschenwürde und mithin die Grundrechte des Menschen. Nun wurde explizit zum Kern der katholischen Menschenrechtsethik: Ohne Gottesrechte kann es keine Menschenrechte geben. Seine Enzyklika Redemptor hominis vom 4. März 1979 interpretierte in kraftvollen Zügen das Glaubensgeheimnis der Erlösung des Menschen durch die Menschwerdung Gottes und skizzierte aus dieser Perspektive die Stellung des in Gott erlösten Menschen in der Schöpfung: Die Würde des Menschen gründet darin, dass er als Ebenbild Gottes dessen Geschöpf ist und darin 2 Johannes XXIII., Pacem in terris, Nr. 5, in: Bundesverband der Katholischen ArbeitnehmerBewegung (KAB) (Hrsg.), Texte zur Katholischen Soziallehre, Kevelaer 1976, S. 272.
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seine tiefste innere Freiheit findet. Der durch Gott befreite und in Gott freie Mensch wird zur Mitte des Einsatzes für die Menschenrechte, ihre Sicherung und Verbreitung. Papst Johannes Paul II. führte in der Enzyklika Redemptor hominis die verschiedenen Stränge seiner Sozialethik zusammen: Frieden, Entwicklung, Menschenrechte. „Letztlich“, so schrieb der Papst, „führt sich der Frieden zurück auf die Achtung der unveräußerlichen Menschenrechte – opus iustitiae pax –, während der Krieg aus der Verletzung entsteht und noch größere derartige Verletzungen nach sich zieht.“3 Menschenrechte sind für den Papst und die katholische Kirche undenkbar ohne soziale Gerechtigkeit im weltweiten Maßstab. Immer wieder während seines langen Pontifikats legte der Papst ein Plädoyer für die Religionsfreiheit als Kern der Achtung der menschlichen Würde und der menschlichen Gewissensfreiheit ab. Papst Benedikt XVI. zog diese Linie des menschenrechtlichen Denkens aus dem Kerngehalt der katholischen Theologie und Ethik weiter. „Menschliche Freiheit“, so formulierte er, „kann immer nur Freiheit des rechten Miteinander, Freiheit in der Gerechtigkeit sein, anderenfalls wird sie zur Lüge und führt zur Sklaverei.“4 Freiheit sei „die Freigabe der Vernunft zu sich selbst“.5 Die Menschenrechte sind für den seit 2005 amtierenden Papst zentraler Inhalt des heutigen Freiheitsbegriffs: „Freiheit bedarf eines Inhalts. Wir können ihn definieren als die Sicherung der Menschenrechte. Wir können ihn aber auch weitläufiger beschreiben als Gewährleistung der Wohlfahrt des Ganzen wie des Guten des Einzelnen.“6 In der Theologie der Liebe, die bereits in der ersten Enzyklika von Papst Benedikt XVI. Deus caritas est vom 25. Dezember 2005 beeindruckenden Ausdruck fand, spiegeln sich der Grund und Auftrag der Idee von den Menschenrechten: Mit dem christlichen Glauben wird der Begriff des „Nächsten“, so Papst Benedikt XVI., „universalisiert und bleibt doch konkret. . . Gottes- und Nächstenliebe sind untrennbar: Es ist nur ein Gebot.“7 Im Glaubensbekenntnis der Kirche findet die katholische Sicht auf die Menschenrechte ihren eigentlichen und tragenden Grund.8
II. Die traditionellen Linien des Konfliktes um die Menschenrechte Wo von Menschenrechten die Rede ist, ist von Notlagen der Freiheit die Rede. Als 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen erarbeitet wurde – sie beginnt in ihren Artikeln 1 und Artikel 2 damit, den Zusammenhang 3 Johannes Paul II., Redemptor hominis, Enzyklika vom 4. März 1979, herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1979, S. 38; siehe auch Johannes Christian Vurglics, Weltkirche. Die katholische Weltkirche im internationalen Leben und ihr Beitrag zum Frieden in der internationalen Gemeinschaft, Wien 2004. 4 Joseph Kardinal Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderung der Zukunft bestehen, Freiburg i. Br. 2005, S. 24. 5 Ebd., S. 24. 6 Ebd., S. 50. 7 Benedikt XVI., Deus Caritas Est, Vatikanstadt 2006, S. 33 (Nr. 15) und S. 39 (Nr. 18). 8 Vgl. Konrad Hilpert, Menschenrechte und Theologie. Forschungsbeiträge zur ethischen Dimension der Menschenrechte, Fribourg 2001; Marianne Heimbach-Steins, Universalitätsanspruch und prophetischer Anspruch – kritische Korrektive christlicher Ethik. Eine katholisch-theologische Perspektive, in: Andreas Lob-Hüdepohl (Hrsg.), Ethik im Konflikt der Überzeugungen, Freiburg i. Br. 2004, S. 95 – 118.
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von Menschenwürde und Menschenrechten zu erläutern – waren Vertreter unterschiedlicher Religionen und Kulturkreise in die Reflexionen über die Reichweite der Idee der Universalität der Menschenrechte einbezogen gewesen. Unterschiedlich waren schon in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die historischen Erfahrungen mit politischer Macht und gesellschaftlichen Entwicklungen in allen Teilen der Welt. Gleichwohl konnte die Idee der Unteilbarkeit der Menschenwürde als übereinstimmende Denkkategorie aller religiösen und geistigen Traditionen der Menschheit identifiziert werden. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO konnte deshalb einen Universalitätsanspruch der Menschenrechte postulieren, auch wenn die historischen Erfahrungen der politischen und gesellschaftlichen Systeme in aller Welt extrem unterschiedlich waren und bis heute geblieben sind. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, aber auch – beispielsweise – die menschenrechtlichen Bestimmungen des deutschen Grundgesetzes von 1949 und der Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 wurden überlagert durch die menschenrechtliche Hauptkontroverse, die im Zeitalter des Kalten Krieges und der Systemunterschiede zwischen westlich-liberalen Demokratien und kommunistischen Volksdemokratien konstitutiv war: Die Rechts- und Verfassungsstaaten in den westlichen Demokratien akzentuierten die individuellen politischen Rechte, die von kommunistischen Einheitsparteien beherrschten totalitären Regime der Welt hingegen die sozialen und wirtschaftlichen Rechte. Das Scheitern der kommunistischen Diktaturen und Ordnungskonzepte für Staat und Gesellschaft in den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat auch die Irrlehren eines sozialistischen Menschenrechtsverständnisses beendet. Im weltweiten Maßstab nahm die Klarheit über den individuellen Ansatz des Menschenrechtsbegriffs seit den siebziger Jahren vermehrt ab, als im Kontext der Vereinten Nationen – nicht zuletzt infolge der Dekolonialisierung und des Aufstiegs der Dritten Welt und neuer innerwestlicher Strömungen des politischen Denkens (Friedens- und Umweltbewegung) – eine neue Kategorie von „Solidarrechten“ postuliert wurde. Im Anschluss an die liberalen Freiheitsrechte und die sozialistischen Teilhaberechte und mit dem Anspruch, ihre jeweilige Engführung zu überwinden, wurden vor allem ein „Recht auf Frieden“, ein „Recht auf Entwicklung“ und ein „Recht auf gesunde Umwelt“ als „Menschenrechte der dritten Generation“ bezeichnet. In der Sprache der Ökonomen handelt es sich bei diesen Sachverhalten jeweils um öffentliche Güter und nicht um individuelle beziehungsweise individualisierbare Rechtskategorien. Sie sind weder individuell realisierbar noch zuordnungsfähig. Zeitgleich mit der Diskussion um „Solidarrechte“ griff die kritische Diskussion über den Zusammenhang von universellen Menschenrechten und kulturell geprägten Lebensformen um sich. Debatten um das Verhältnis von Universalität und Relativismus brachen aus, zunächst bezogen auf politische Ordnungsvorstellungen, später ausgeweitet auf gesellschaftliche und persönliche, sogar biologisch-psychologische Dimensionen. Menschenrechte wurden zu Identitätsrechten umzudeuten gesucht; von den partikularen Rechten ethnischer, sexueller oder kultureller Gruppen war die Rede. Diese Diskussionen wurden in ihrem intellektuellen, zuweilen auch ideologischen Gehalt vornehmlich in westlich verfassten Staaten geführt, in denen die liberalen Freiheitsrechte und soziale Schutzrechte weithin verwirklicht waren und Raum eröffneten für Anliegen jenseits traditioneller Fragen nach der politischen Existenz des Menschen.
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III. Neue Konfliktlinien um die Menschenrechte 1. Biopolitische Entwicklungen und Ideologieanfälligkeiten
Nach der Überwindung totalitärer politischer Herrschaftsformen und einem weithin erfolgreichen Triumphzug der modernen Demokratie mit ihren Prämissen von Repräsentanz, Machtkontrolle und Teilhabe haben sich neue Anfragen an das universelle Freiheits- und Menschenrechtsverständnis aufgetan, die ihren Ursprung in neuen Notlagen der Freiheit haben. Zum einen geht es in kulturkritischer Hinsicht – vor allem innerhalb der westlichen Konsumgesellschaften – um Zustände eines reellen Nihilismus in Zeiten der Selbstverständlichkeit im Zugang zu Freiheit und Selbstverwirklichung. Zum anderen geht es – im Kontext der unterschiedlichen Kulturkreise – um die Folgen demographischer und technischer Entwicklungen für die Deutung und mögliche Umdeutung des klassischen Verständnisses von Menschenwürde und Menschenrechten. Zwei Beispiele zeigen an, welche Folgen in Europa die zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus auch in anderen Regionen der Erde vorhandenen Widersprüche und Gegensätze über die Bestimmung des menschlichen Selbstverständnisses haben. Der Europarat verkündete am 4. November 1996 ein „Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin“ (kurz Bioethik-Konvention genannt), das seither zur Ratifizierung durch die Mitglieder des Europarates ausliegt.9 Umstritten geblieben ist in diesem Übereinkommen aller Regierungen des Kontinents und in der seitherigen Kommentierung die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens.10 Die Europäische Union verkündete am 10. Dezember 2000 die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“.11 Bereits in Artikel 1 statuiert diese Charta die Unantastbarkeit der Menschenwürde („Sie ist zu achten und zu schützen“) und bekräftigt mit Artikel 2 („Jede Person hat das Recht auf Leben“) den klassischen deutschen Verfassungslehre-Standpunkt des unaufhebbaren Zusammenhangs von Artikel 1 und Artikel 2 im deutschen Grundgesetz: Dort wird ebenfalls das Recht auf Leben aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde abgeleitet. Gleichwohl mangelt es der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ an einer expliziten Aussage über das Menschenbild, das ihren Postulaten – die überdies derzeit noch keine Rechtsverbindlichkeit beanspruchen können – zugrunde liegt. Darüber hinausgehend wird zuweilen von innovationsfreudigen Juristen und Politikern an der moralischen Bombe der Idee eines abgestuften Konzeptes der Menschenwürde gebastelt, wobei deutsche Juristen meinen, sich dabei auf Interpretationsfreiräume der deutschen wie der europäischen Verfassungslage berufen zu dürfen. Die Verteidiger des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte halten demgegenüber auch in der biopolitischen Debatte an der unbedingten Menschenwürde aller Menschen fest, gleichgültig welche partikularen Eigenheiten sie aufweisen oder wie sie leben möchten oder leben müssen. Als sittliches Subjekt war der Mensch für alle Menschenrechtstheoretiker seit John Locke oder Immanuel Kant immer nur als substanzielle 9 Der Text findet sich in: L. Honnefelder / C. Streffer (Hrsg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Band 2, Berlin 1997, S. 285 ff. 10 Vgl. Walter Schweidler, Bioethische Konflikte und ihre politische Regelung in Europa. Stand und Bewertung, ZEI Discussion Paper C13 / 1998, Bonn 1998; Albin Eser (Hrsg.), Biomedizin und Menschenrechte, Frankfurt a. M. 1999. 11 Der Text findet sich in Frank Ronge (Hrsg.), In welcher Verfassung ist Europa. Welche Verfassung für Europa?, Baden-Baden 2001, S. 343 ff.
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Einheit denkbar, unabhängig von Lebensphasen, Lebensumständen oder Lebensdispositionen des Einzelnen. An diesem unbedingten Ausgangspunkt der Menschenwürde wird jedes universalistische Menschenrechtsverständnis auch in den Debatten um die heute mögliche biopolitische Wende des menschlichen Selbstverständnisses festhalten. Das Universalitätsproblem der Menschenrechte ist mit den Kontroversen um Biomedizin und Menschenwürde in den Westen zurückgekehrt. Es ist zu einer Notlage in der Freiheit und zu einer Auseinandersetzung um ihre Grenzen geworden.12 Die Diskussionen über Folgen des biotechnologischen „Fortschritts“ in der Medizin, über die Implikationen neuer Methoden in der Reproduktionsmedizin, aber gleichermaßen über die Umstände und Zusammenhänge der Definition des Todes und der Ermöglichung aktiver Sterbehilfe haben im Verlauf der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts an Intensität und Breitenwirkung zugenommen. Der Bruch in den Positionen geht quer zu vielen bekannten Linien des Denkens und der organisierten Interessen. Dies kann nicht überraschen, denn die Einzeldiskussionen – mit jeweils vielfältigen Aspekten und Zusammenhängen – gründen im Kern in einer ihnen gemeinsamen Grundfrage: jener nach dem menschlichen Selbstverständnis. Es ist auch nicht zu übersehen, dass alle Kulturkreise und Religionen mit den Implikationen der Fragen konfrontiert sind, die sich aus der Selbstverfügung des Menschen über die Festlegung des Beginns und des Endes seines eigenen Lebens und das seiner Artgenossen ergeben. 2. Weltanschauliche Kontroversen mit dem totalitären Islamismus
In den vergangenen Jahren hat ein lebhafter Disput über die Frage nach der kulturellen Bedingung der Menschenrechtsidee stattgefunden. Relativistische Ansätze verhüllten sich zumeist im Mantel des Respekts vor der angeblichen oder tatsächlichen Differenz der Identitäten und leiteten daraus die Inkompatibilität unterschiedlicher Menschenrechtsbegriffe ab. Angesichts des weltweiten Schocks über Selbstmordattentate im Namen der islamischen Religion und die dadurch bewirkte Zerstörung unschuldigen menschlichen Lebens wurde evident: Es gibt keine kulturspezifischen und damit relativistischen Gefühle und Erfahrungen, wenn es um Leid, Not und Unrecht geht. Es sind nicht nur viele Muslime am 11. September 2001 im New Yorker World Trade Center und bei vielen anderen Terroranschlägen, die danach die Welt erschüttert haben, ums Leben gekommen, sondern vielerorts ging ein Aufschrei des Entsetzens und des Mitgefühls auch durch die islamische Welt, der vereinzelten Beifallsäußerungen gegenüber der Terrortat mindestens die Waage hielt. Der islamistische Terrorismus ist kein unausweichlicher Ausdruck eines Kulturkonflikts zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“. Er ist zunächst einmal Ausdruck eines Kulturkonflikts innerhalb der islamischen Welt, ihrer Interpretation des Verhältnisses von Religion und säkularer Gesellschaft, von Pluralismus und Wahrheit, von Tradition und modernem Leben unter den Bedingungen von Migration und Globalisierung. Jene, die für den Terror im Namen islamistischer Ideologien die Verantwortung tragen, standen und stehen auch im weltanschaulichen Konflikt mit den auf Kooperation mit dem Westen ausgerichteten Muslimen, und sie greifen ihre moderaten Glaubensbrüder nicht weniger an als die westliche Werteordnung und Lebensform. 12 Weiterführend Robert Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001; Konrad Hilpert / Dietmar Mieth (Hrsg.), Kriterien biomedizinischer Ethik. Theologische Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs, Freiburg i. Br. 2006.
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Mit der Herausforderung des islamistischen Totalitarismus sind zwei Fragen aufgeworfen, die für das katholische Menschenrechtsverständnis eine fundamentale Aufgabe formulieren. Zum einen geht es um die Frage nach dem Menschenrechtsverständnis: Wie lassen sich Schnittmengen eines universellen Menschenrechtsbegriffs definieren, wenn eine Richtung der Interpretation alleinige und absolute Wahrheit beansprucht, bis hin zur Rechtfertigung des Tötens im Namen der eigenen Weltanschauung? Wie kann die gemeinsame Grundlage einer religiösen Sicht der Welt und des Menschen, die Christen, Juden und Muslimen eigen ist, sich gleichwohl öffnen zur gemeinsamen Anerkennung von Pluralismus und Religionsfreiheit? Wie kann die katholische Welt dazu beitragen, in der islamischen Welt die Doppelbedeutung der Religionsfreiheit zu fördern, das heißt sowohl die Freiheit zur Religion als auch die Freiheit vom Religionszwang, einschließlich dem Recht auf den Religionswechsel? Zum zweiten geht es um die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des interreligiösen und interkulturellen Dialoges: Kann die idealistische Vorstellung vom versöhnenden Dialog der Kulturen und Religionen überhaupt – und wenn ja: wie? – jene erreichen, die ihn unterbinden wollen oder die ihn a priori ablehnen? Wie kann verhindert werden, dass nur diejenigen den Dialog der Kulturen führen, die auf Grund der gleichen aufgeklärten Offenheit das Gespräch miteinander suchen, damit aber an jenen vorbeireden, die dialogfeindlich sind? Welche Sprache muss gesprochen werden, um tatsächlich zu kommunizieren, gerade mit jenen, die vor dem Dialog mit Andersdenkenden Angst haben oder Ablehnung zeigen? Welche Ziele sollen mit welchen Mitteln erreicht werden, damit der Dialog nicht eine abstrakte Veranstaltung rasch verpuffender Worte bleibt?13 Aus katholischer Sicht gehört es zu den zwingenden Forderungen gegenüber allen islamischen Mehrheitsgesellschaften, das Reziprozitätsprinzip in der Anerkennung und Ausübung der Religionsfreiheit einzufordern. Der Freiheit zur Ausübung der islamischen Religion in Ländern mit islamischen Minderheiten – heute eine Selbstverständlichkeit in allen rechtstaatlich verfassten pluralistischen Demokratien nicht nur „des Westens“, sondern beispielsweise auch Indiens oder Südafrikas – muss die Freiheit zur Ausübung der christlichen Religion in den islamischen Mehrheitsgesellschaften entsprechen. In der Diskussion um die Frage einer möglichen Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union ist dies aus katholischer Sicht die zentrale Anfrage und Forderung. Sie findet ihre unzweifelhafte Begründung und Rechtfertigung im Grundsatz der Universalität der Menschenrechte, wie er allen relevanten Dokumenten der Völkergemeinschaft im 21. Jahrhundert zugrunde liegt. Die weltanschauliche Kontroverse um den islamistischen Totalitarismus darf die Frage nach den konkreten politischen Reformerfordernissen in allen islamischen Ländern nicht verdrängen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarische Repräsentation, Gleichheit der Geschlechter, Anerkennung der Reziprozität des Prinzips der Religionsfreiheit, liberalisierende Reformen in der Wirtschaft und breit angelegte Erziehungsreformen stehen heute auf der Tagesordnung vieler islamischer Länder. Zu Beginn 13 Bassam Tibi, Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte, Düsseldorf 2002; Anna Würth, Dialog mit dem Islam als Konfliktprävention? Zur Menschenrechtspolitik gegenüber islamisch geprägten Staaten, Berlin 2003; Mashhood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, Oxford 2003; Maimul Ahsan Khan, Human Rights in the Muslim World. Fundamentalism, Constitutionalism and International Politics, Durham N. C. 2003.
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des 21. Jahrhunderts haben die von arabischen Sozialwissenschaftlern im Auftrag des UNO-Entwicklungsprogramms verfassten „Arab Human Development Reports“ das Ausmaß der Reformerfordernisse, aber auch die Chancen der Selbstkritik und einer im Innern der arabisch-islamischen Welt akzeptierten Reformorientierung deutlich werden lassen. Damit ist erst der Beginn eines Weges beschritten, der stets zum Ausgangspunkt zurückkehrt: dem Freiheitsverständnis und der Frage nach den Menschenrechten.
3. Good governance und global governance für die Menschenrechte
Auch im 21. Jahrhundert bleiben die klassischen Notlagen der Freiheit virulent: Verletzungen der Menschenrechte durch Staatsordnungen und Regime, die ihre machtpolitischen oder weltanschaulichen Vorstellungen über den Respekt vor der individuellen Menschenwürde stellen. Die Bedeutung der Menschenrechte als Schutz- und Abwehrrechte gegenüber staatlichen Ansprüchen bleibt aktuelle Notlage der Freiheit in vielen Staaten der Erde. Oftmals handelt es sich dabei um schwache oder sogar um gescheiterte Staaten. Aber immer wieder treten auch starke Staaten mit autoritären Regimen auf, die den Menschenrechten den Boden entziehen und sich selber als Letztinstanz politischer Legitimität überhöhen möchten. Neben diesen empirischen Befunden steht das fortgesetzte Ringen um die bessere Anerkennung und stärkere Sicherung der Menschenrechte. Dabei sind die Menschenrechte nicht eine isolierte Kategorie des politischen Denkens oder des politischen Handelns. Menschenrechte sind Rechte im Kontext. Sie können nur gelingen, wo auch andere Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen beachtet werden, die mittelbar oder unmittelbar mit der Einhaltung der Menschenrechte verbunden sind. Dazu gehören vor allem die volle Anerkennung der Rechtsstaatlichkeit, die Bejahung des gesellschaftlichen Pluralismus – vor allem im Blick auf Religions-, Gewissens-, Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit – und die Beachtung von Transparenz und Repräsentanz, Rechenschaftspflichtigkeit und Gewaltenteilung in den Ordnungen des Staates. Die staatlichen Ordnungen in allen Regionen der Welt gründen auf dem Anspruch der Souveränität. Diese anerkennt die Freiheit zur staatlichen Vereinigung und Unabhängigkeit, wie sie sich weltweit mit der Überwindung des Kolonialzeitalters ausgebreitet hat. Der Grundsatz der staatlichen Souveränität als Ausdruck nationaler Freiheit und Selbstverfügung ist nicht länger zweifelhaft. Mit wenigen Ausnahmen (Palästinenser) ist er weltweit eingelöst. Umstritten ist indessen weiterhin die zweite Dimension des Souveränitätsverständnisses, wie es in der politischen Staatsphilosophie gründet: die Respektierung der Volkssouveränität im Sinne der Freiheit des Volkes gegenüber seiner Staatsführung. An vielen Orten der Welt ist weiterhin die Volkssouveränität eingeschränkt und mit ihr die Menschenrechte. Zuweilen geschieht dies unter fadenscheiniger Gegenüberstellung von Staatssouveränität und Volkssouveränität: Freiheit und Menschenrechte werden von autokratisch oder diktatorisch Regierenden gerne als Bedrohung der staatlichen Unabhängigkeit und der Interessen des Staates umgedeutet. In Wirklichkeit weisen alle Erfahrungen in die gegenteilige Richtung: Wo immer Freiheit und Menschenrechte geachtet werden – die als Ausfluss der menschlichen Vernunft und der Natur des Menschen, in seiner Würde gründend, jeder staatlichen Ordnung vorgelagert sind – erfährt auch die staatliche Ordnung eine höhere Legitimität und Absicherung ihrer Existenzberechtigung.
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Diese Kriterien werden aus Sicht der Katholischen Soziallehre immer das Leitbild der Staats- und Gesellschaftsordnung konstituieren. Im Zeitalter der Globalisierung haben die Sicherung und das Eintreten für die Menschenrechte längst nicht mehr nur eine innerstaatliche Komponente. Gerade aus Perspektive der Katholischen Soziallehre muss an die Folgen der Globalisierung die Frage gerichtet werden, ob und inwieweit der Schutz der Menschenrechte gesichert ist. Dies gilt beispielsweise im Zusammenhang mit Migrations- und Flüchtlingsfragen, es gilt für Fragen der Arbeitsbedingungen und für die Folgen der „Migration“ von Kapital und damit von Arbeitsplätzen unter den Bedingungen eines weltweit zusammenwachsenden Marktes, dem doch weithin ein politischer Ordnungsrahmen bis heute fehlt. Menschenrechtsfragen werden vor diesem Hintergrund immer stärker auch Gegenstand des interkulturellen Dialogs und des Gesprächs zwischen den Regionen der Erde.14 Die Menschenrechtsthematik nimmt eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der Weltordnung ein, da sie sich mit fast allen anderen Aspekten der öffentlichen Ordnung im nationalen wie im internationalen Rahmen berührt. Sie wirkt ein in die Friedensthematik, hat Sicherheitsimplikationen, verweist auf die Aufgabe des „good governance“, ist nicht zu erfassen ohne Bezug zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und sie fordert letztlich weitere und mutige Beiträge ein, um die Bedingungen und Möglichkeiten eines „global governance“ zu stärken. Insofern wird aus Perspektive der Katholischen Soziallehre die stärkere Betonung der Rolle der Menschenrechte im Kontext der Arbeit der Vereinten Nationen sehr begrüßt.15 Die Vollversammlung der Vereinten Nationen beschloss am 15. März 2006 die Einsetzung eines UNO-Menschenrechtsrates mit 170 JaStimmen bei 4 Nein-Stimmen (USA, Israel, Palau, Föderierte Staaten von Mikronesien) und drei Enthaltungen (Venezuela, Iran, Weißrussland). Die Analogie bei der Namenswahl des neuen Gremiums zum UNO-Sicherheitsrat ist nicht zufällig, wenngleich das neue, mit Menschenrechtsfragen befasste Gremium gewiss über weniger Einfluss verfügt und sich seine natürliche Autorität erst noch zu erarbeiten hat. Der UNO-Menschenrechtsrat ist eine untergeordnete Einrichtung der UNO-Vollversammlung. Die Mitgliedschaft ist auf zwei konsekutive Amtszeiten begrenzt. Die 47 Mitglieder des UNOMenschenrechtsrates werden in geheimer Wahl von der UNO-Vollversammlung gewählt (13 für Afrika, 13 für Asien, 6 für Osteuropa, 8 für Lateinamerika und die Karibik, 7 für Westeuropa und „andere Gruppen“). Um gewählt zu werden, muss ein Land mindestens 96 Stimmen der 191 UNO-Mitgliedsländer erhalten. Länder, die dem UNO-Menschenrechtsrat angehören und sich eklatanter Menschenrechtsverletzungen schuldig machen, können mit dem Votum der UNO-Generalversammlung wieder aus dem Menschenrechtsrat ausgeschlossen werden. Es bleibt der Staatengemeinschaft des 21. Jahrhunderts zu beweisen, dass der UNOMenschenrechtsrat bedeutende und nachhaltige Wirkung als Forum des Menschenrechtsschutzes und der Durchsetzung der Menschenrechte entfalten kann.16 Die Chance, 14 Zum Beispiel Bertrand Fort (Hrsg.), International Migrants and Human Rights. Proceedings of the 6th Informal ASEM Seminar on Human Rights, Singapur 2005. 15 Julie A. Mertus, United Nations and Human Rights. A Guide for a New Era, New York 2005; Andrea Liese, Staaten am Pranger. Zur Wirkung internationaler Regime auf innerstaatliche Menschenrechtspolitik, Wiesbaden 2006. 16 Zur aktuellen Lage der Menschenrechte siehe Freedom House (Hrsg.), Freedom in the World 2005: The Annual Survey of Political Rights and Civil Liberties, Lanham 2006. Nach den Unter-
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dass dies gelingen kann, steht und fällt mit den Maßstäben, denen der UNO-Menschenrechtsrat in seiner Arbeit folgt. Die Universalitätsidee wird für den Schutz der Menschenrechte immer relevanter: Es bedarf der Konsistenz der Maßstäbe, um Glaubwürdigkeit in den Zielen und Kohärenz in den Instrumenten des Menschenrechtsschutzes zu entwickeln. Aus Sicht der Katholischen Soziallehre ist dabei vor jedem politischen Willen und vor jeder unter Umständen kontroversen Einzelfrage das Menschenbild, dem der weltweite Einsatz für die Menschenrechte verpflichtet ist, alles entscheidend Diese Überzeugung liegt auch dem Grundverständnis der katholischen Kirche hinsichtlich des Schutzes der Religionsfreiheit in China zugrunde. Die im Jahr 2005 ausgebrochenen Kontroversen um Bischofsernennungen zwischen dem Heiligen Stuhl als Völkerrechtssubjekt und der Regierung der Volksrepublik China gehen weit über die Frage nach dem Selbstverständnis der katholischen Kirche in Bezug auf ihre innere Ordnung hinaus. Im Interesse des Schutzes von Minderheiten findet das Recht auf „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ eines Staates seine durch das Menschenrechtsinstrumentarium der Vereinten Nationen gesicherte Grundlage und Begründung. Religions- und Gewissensfreiheit sind international anerkanntes Menschenrecht, das in der katholischen Kirche ihren vornehmsten Verteidiger und Verbündeten gefunden hat. Nur in diesem Geiste lassen sich die Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Volksrepublik China gedeihlich entwickeln.
IV. Ausblick Über alle Zeiten und Anforderungen hinweg bleibt das Ringen um die Menschenrechte ein Ausfluss der Notlagen, in denen sich die Freiheit des Menschen befindet. Diese Notlagen wandeln sich mit den Hervorbringungen des Menschen in geistiger und materieller Hinsicht. Unveränderbar aber bleibt die Würde des Menschen in und über den Zeiten, Umständen, Herausforderungen. Menschenrechtsthemen können sich mithin ändern, Grundrechtskataloge sind geradezu geschichtsnotwendig immer wieder Wandlungen unterworfen. Der Maßstab aber ist nicht wandelbar. Denn die Würde des Menschen ist wesensimmanent und unterliegt keinen Transformationen, gleichgültig in welcher Absicht. Nur wenn an dieser Position in allen Stürmen und Zweifeln unserer Zeit festgehalten wird, bleibt das Ringen um die konkreten Menschenrechte Ausdruck des Ringens um das höchste Ethos des Politischen. Menschenrechte verweisen auf die unverwechselbare, unveräußerliche und vorpolitische Menschenwürde. Sie steht nicht zur Disposition, auch demjenigen nicht, der Menschenrechte missachtet. Die Würde des Menschen kann verletzt werden, doch sie kann niemals verloren gehen. „Der Begriff ist allen Begrenzungen und Bedingungen enthoben: In seiner unantastbaren Würde hat der Mensch Anteil am Absoluten, wie ihm erst die Vergewisserung des Absoluten ein Verständnis seiner Würde ermöglicht.“17 In diesem Bild vom Menschen findet das katholische Verständnis von den Menschenrechten seinen Grund und sein Ziel. suchungen von Freedom House hat sich die Lage der Freiheit in der Welt wie folgt entwickelt: a) freie Länder: 1975: 40 (25 %), 1985: 56 (34 %), 1995: 76 (40%), 2005: 89 (46 %); b) halbfreie Länder: 1975: 53 (34%), 1985: 56 (34 %), 1995: 62 (32 %), 2005: 58 (30 %); c) unfreie Länder: 1975: 65 (41 %), 1985: 55 (33 %), 1995: 53 (28 %), 2005: 45 (24 %). 17 Christoph Böhr, Europäisch denken. Christliche Prägung und universaler Anspruch, in: Die Neue Ordnung, 60. Jg. 2006, S. 15.
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Es bleibt der Völkergemeinschaft aufgegeben, sich am Maßstab des Schutzes der Menschenrechte in ihrem politischen Handeln messen zu lassen. Politisches Handeln gewinnt Legitimität und Ethos nur dadurch, dass es die unveräußerlichen und unaufgebbaren Menschenrechte schützt und die Menschenwürde als erstes Kriterium ihres Handlungsanspruchs einhält. Nicht ein instrumenteller Erfolg oder Misserfolg entscheidet letztlich über die Legitimität politischen Handelns. Die obersten Entscheidungskriterien sind die Würde des Menschen und die aus ihr abgeleiteten, dem Menschen wesensmäßigen Menschen- und Grundrechte. Für diese Sicht der Dinge wird der katholische Standpunkt in der Menschenrechtsdiskussion und in jeder Diskussion über Legitimität und Ethos des Politischen stets eintreten.
Entwicklung einer Weltfriedensordnung Von Stefan Fröhlich I. Einleitung Die Idee einer Weltfriedensordnung, die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben der Völker gehört ebenso zum Wesen der Menschheit wie ihr Aggressions- und Zerstörungstrieb. Die Geschichte ist reich an Ansätzen und Vorschlägen, den Weltfrieden zu fördern und schlussendlich zu verwirklichen. Galt der Friedensgedanke ursprünglich lediglich der Lebensgestaltung des Einzelnen, dem Wunsch nach menschlichem Glück und der Sehnsucht nach „Frieden untereinander und freundschaftlicher Gesinnung“ (Plato) – auch die Friedensworte der Heiligen Schrift sind im Sinne eines den Gläubigen verheißenden inneren Friedens zu verstehen, die weder den Krieg explizit verwerfen, noch den Frieden zwischen den Völkern als den von Gott gewollten Zustand bezeichnen –, so bot der Beginn der Neuzeit dank der Entfaltung des Welthandels und des allmählichen Vordringens von Kapitalismus und Industrie die ersten Skizzen einer umfassenden Friedensordnung, in der die Völker enger zusammenrückten. Der Staatstheoretiker Jean Bodin sah in seinen 1577 erschienenen „Six livres de la République“ eben diese Entwicklungen als Vorboten einer Friedensordnung, in der die Völker innerhalb einer „Weltrepublik“ einträchtig zusammenlebten. Und Émeric Crucé entwarf 1623 unter dem Eindruck der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges seinen Plan für eine „Weltfriedensorganisation“, die alle Staaten – auch die nicht-christlichen – mit dem Ziel zusammenführte, künftig zwischenstaatliche Konflikte über den Weg von Mehrheitsbeschlüssen friedlich beizulegen. Ergänzt wurden solche Entwürfe von den Überlegungen Hugo Grotius’, eine internationale Rechtsordnung für Kriegs- und Friedenszeiten zu entwerfen, wenn denn schon der Gedanke an eine umfassende Friedensordnung als wenig realistisch erschien. In seinem für die Entwicklung des Völkerrechts grundlegenden Werk „De jure belli ac pacis libri tres“ (1625) argumentierte er nicht nur für eine klare Trennung zwischen gerechten und ungerechten Kriegen auf der Basis eines festen Regelwerks, sondern entwickelte auch die Idee einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit durch Unparteiische, wie sie schließlich im Internationalen Gerichtshof in Den Haag, dem judiziellen Organ der Vereinten Nationen, verwirklicht wurde. Auch Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) fußt schließlich auf der Vorstellung, dass der Freihandel auf die Dauer zu einer friedlicheren Weltordnung führe. Seine Idee, dass nur republikanisch verfasste Staaten, in denen Menschenrechte und die Menschenwürde garantiert sind, auch den Frieden garantieren würden, bedeutete die bis dato stärkste Annäherung an das Ideal vom ewigen Frieden. Von ihr übernahm die Welt des 19. Jahrhunderts, da das Gleichgewicht der Großmächte in Europa die Friedensordnung garantieren sollte, zumindest noch die Überzeugung, dass der Frieden gestiftet bzw. organisiert werden musste, bevor die Ideologien des Nationalismus und Totalitaris-
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mus diese Entwicklung jäh blockierten und in zwei verheerende Weltkriege führten. Aus ihnen erhob sich die Staatenwelt einmal mehr mit der Idee einer auf das Recht gegründeten internationalen Friedensordnung als Ansatzpunkt für die friedliche Beilegung von Konflikten zwischen den Staaten. Woodrow Wilsons Idee des 1919 gegründeten Völkerbunds war der erste Versuch, eine Weltfriedensorganisation zu schaffen, konnte aber den Zweiten Weltkrieg nicht verhindern. Die Vereinten Nationen, der zweite Versuch, hatten ihrem gescheiterten Vorläufer zwar einiges voraus, stießen aber trotz ihres unbestrittenen Nutzens gleichsam in dem Maße an ihre Grenzen, wie die fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats weiterhin ihrer eigenen Staatsräson verhaftet blieben. Es war im Wesentlichen der nukleare Patt, der der Welt in der Phase des Kalten Krieges, da die Vereinten Nationen durch den Ost-West-Gegensatz blockiert waren, einen weiteren großen Krieg ersparte.1 Insofern trog die Erwartung einer Entwicklung, die den Krieg zum Verschwinden brächte. Nur ein Jahr nach dem Golfkrieg von 1990 / 91, in dem eine amerikanisch geführte Militärkoalition mit UN-Mandat das durch den Irak annektierte Kuwait befreite und für die US-Administration die Rechtfertigung für die Proklamierung einer neuen, partnerschaftlichen Weltordnung lieferte, erreichte das Kriegsgeschehen mit weltweit 55 Kriegen seinen vorläufigen Höhepunkt.2 Zwar ist die Zahl der zwischenstaatlichen Kriege seither wieder rückläufig, dafür aber nahm die Zahl der registrierten bewaffneten innerstaatlichen Konflikte erheblich zu. Der Krieg änderte seine Erscheinungsform; militär-technologische Revolutionen veränderten die Kriegsführung und führten zu einer erhöhten Interventionspolitik vor allem der USA, die als einzige Macht im globalen Rahmen noch kriegführungsfähig sind.3 Die ethnisch bedingten jugoslawischen Zerfallskriege sowie die Kriege in Somalia und Ruanda wurden zu einem Exzess der Gewaltanwendung vor allem gegen die Zivilbevölkerung und erschütterten nachhaltig das Vertrauen der Europäer in ihre friedenspolitischen Fortschritte und die Möglichkeiten, Gewalt durch diplomatische Verhandlungen und finanzielle Anreize aus der Welt zu schaffen. Hinzu traten nicht-militärische Konfliktursachen wie Armut, Massenelend und daraus resultierende Migrationsströme, Umweltzerstörung und Ressourcenknappheit, religiös motivierte Gewalt, Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, Banken-, Währungs- und Finanzkrisen mit globalen Auswirkungen, die die Welt zusätzlich bedrohen und die dazu führten, dass die internationale Staatenwelt ihrer Sicherheitspolitik inzwischen einen erweiterten Sicherheitsbegriff zugrunde legt. Die Konsequenzen dieser Entwicklungen sind unterschiedlicher Natur: – Erstens zeigen sie die Grenzen nationalstaatlichen Handelns und zwingen die Staaten verstärkt zur Kooperation in internationalen Institutionen im Sinne von „Global Governance“.4 Gemeint ist damit eine Sicherheitspolitik, die auf der Kooperation der Staatengemeinschaft und anderer nicht-staatlicher Akteure bei der Prävention und Deeskalation sowie dem nachträglichen Konfliktmanagement beruht – eine Konzeption, wie sie in der „Agenda für den Frieden“ (1992) vom damaligen UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali formuliert wurde – und zudem multidimensional an1 2 3 4
Mearsheimer (1990), S. 35. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung Universität Hamburg (2005), S. 4. Münkler (2002); Kaldor (2000). Zangl / Zürn (2004), S. 13.
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gelegt ist, sprich sowohl militärische wie auch diplomatische, polizeiliche und ökonomische Elemente enthält. Aus diesem Konzept leiten viele Beobachter die Hoffnung auf eine Stärkung der Weltgemeinschaft, gut funktionierende internationale Institutionen und eine normengestützte Weltordnung ab. – Zweitens ist das herkömmliche Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges von einer Invasionsgefahr durch den Gegner ausging, überholt. Militäreinsätze zur Verteidigung des nationalen Territoriums sind heute unwahrscheinlich, vielmehr erfordern Deeskalationseinsätze wie Friedensmissionen und humanitäre Interventionen im multinationalen Verbund vom Umfang her kleinere Streitkräfte. Bedrohungsanalysen richten sich auf die o. g. Risiken, bei denen sich höchst ungleich gerüstete Gegner gegenüberstehen („asymmetrische“ Kriegsführung). Gemeint sind damit marodierende Banden, Söldner, Minderheiten oder Terrorgruppen mit diffusen politischen Zielen und Zugang zu modernsten Waffensystemen, die sich gerade in vom Staatszerfall bedrohten Staaten (failing states) gegen das staatliche Gewaltmonopol erheben und zu einem erheblichen Risiko für die zivilen Gesellschaften geworden sind, deren mit konventionellen Elementen kombinierte GuerillaKriegsführung auch mit der militärtechnologischen Überlegenheit der USA nur schwer beizukommen ist. Diese für den Weltfrieden unheilvolle Entwicklungstendenz erhöht die Gefahr einer Zunahme wie auch Verstetigung solcher oftmals jahrelang schwelender Konflikte, da zumeist weder eine militärische noch politische Lösung in Sicht ist. – Drittens bedingen die verschiedenen Konfliktszenarien zwangsläufig sehr unterschiedliche Bedrohungswahrnehmungen nicht zuletzt auch innerhalb der OECD-Welt und erschweren damit zusätzlich deren Lösung. Im Zuge der Strukturveränderungen in der internationalen Politik scheinen nicht-militärische Instrumente zur Bewältigung der neuen Herausforderungen, wie sie insbesondere der Sicherheitsstrategie der Europäischen Union (ESS) entsprechen, heute vielfach geeigneter als die Anwendung militärischer Gewalt.5 Andererseits bedeutet dies keinesfalls einen Bedeutungsverlust militärischer Macht; allenfalls hat sich die Mischung beider Erscheinungsformen von Macht, das heißt ihr jeweiliger Anteil an staatlicher Sicherheitspolitik verschoben. – Viertens resultieren aus diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen geradezu zwangsläufig unterschiedliche Reaktionsmuster der verschiedenen Akteure. Je nach geostrategischer Lage und Ausrichtung empfinden Staaten bestimmte Konfliktszenarien mehr oder weniger als reale Bedrohung oder Gefahr für die eigene Sicherheit und variieren in ihrer präventiven Konflikt-Diplomatie. Für zahlreiche Beobachter der internationalen Politik wird dabei der auf „kollektive Kooperationsinstrumentarien“ setzende Ansatz der Europäer durch „Entrechtlichungsprozesse“ wie beim unilateralen Vorgehen der USA im Falle des Irakkriegs konterkariert und leistet nicht nur der Erosion kollektiver Sicherheitsmechanismen (allen voran der Vereinten Nationen) Vorschub, sondern gefährdet durch die damit verbundene Erhöhung des Konfliktpotenzials zudem den Weltfrieden.6
Ganz abgesehen davon, dass für die Mehrzahl der neuen Herausforderungen die Erkenntnis wächst, dass ihnen eine multilateral, das heißt im Blick auf eine ganze Region 5 6
Europäischer Rat (2003). Schorlemer (2004), S. 77.
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oder sogar die Welt hin angelegte Definition von Sicherheit zugrunde gelegt werden sollte, entscheidet sich der künftige Weltfrieden, oder besser die Konflikthaftigkeit der Welt, demnach unverändert vor allem an diesem politischen Schisma.
II. Abkehr von der souveränitätsbezogenen Sicherheitskonzeption? Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs im UN-System hat nicht nur dazu geführt, dass heute schwere Menschenrechtsverletzungen und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen als Bedrohung für den Weltfrieden (Art. 39 der UN-Charta) wahrgenommen werden. Ebenso ist eine zunehmende Verrechtlichung, ja Konstitutionalisierung der internationalen Sicherheitsbeziehungen erkennbar. Wiederholt wurde der Sicherheitsrat in der Vergangenheit zu einer Art „völkerrechtlicher Ersatzgeber“, so etwa, als er in dem amerikanischen Wunsch nach einer Einschränkung der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag für die Teilnahme von US-Staatsangehörigen an weltweiten friedenssichernden Einsätzen eine mögliche „Bedrohung“ des Weltfriedens sah und damit eine Abänderung des Römischen Statuts des Internationalen Gerichtshofs erreichte (Sicherheitsratsresolution 1422, 2002), die grundsätzlich eine vertragliche Einigung der Vertragsparteien erfordert hätte.7 Ein anderes Beispiel bietet die Zunahme ordentlicher Rechtsprechungsverfahren, mit denen der Sicherheitsrat gleichsam Neuland betreten hat. Die Einsetzung der Straftribunale in Jugoslawien und Ruanda unter Kap. VII und nicht auf dem bis dato üblichen Weg eines multilateralen Vertragsschlusses laufen nicht nur auf eine Neuinterpretation „staatlicher Souveränität“ bzw. „Individualisierung“ völkerstrafrechtlicher Verantwortung hinaus,8 sondern bedeuten auch eine grundlegend neue justizielle Situation insofern, als sich die Aktivitäten des Sicherheitsrates damit zunehmend auch auf innerstaatliche Konfliktsituationen erstrecken, für welche die Charta bislang keine Regelungsmechanismen vorsieht. Gleichwohl hält die überwältigende Mehrzahl der Staaten an der Idee einer zwar unvollkommenen, im Zweifel aber reformierbaren Institution wie der UNO fest. Grundsätzlich wird der Sicherheitsrat als die unabhängige Sanktionsinstanz gesehen, der bei einem Bruch oder einer Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit Zwangsmaßnahmen vorbehalten sind und die wahlweise Staaten oder regionale Organisationen zur Durchführung selbiger ermächtigen kann. Ebenso grundsätzlich unbestritten ist die Unabhängigkeit seiner Entscheidungen von gerichtlichen Überprüfungen, wodurch dem Sicherheitsrat ein beträchtlicher Ermessensspielraum bei der Feststellung einer Bedrohung bzw. der Wahl der Mittel zur Sicherung des Weltfriedens eingeräumt wird. Parallel zu diesen Entwicklungen gibt es jedoch Tendenzen, die nicht nur an der Vorstellung souveräner Regierungen bei Sicherheitsentscheidungen bis heute festhalten, sondern darüber hinaus auch auf eine zunehmende Geringschätzung des Multilateralismus und des Völkerrechts hindeuten. Zweifellos bietet das unilaterale Handeln der USA, zuletzt dokumentiert im Präventivkrieg gegen den Irak, in diesem Kontext das prominenteste Beispiel. Ernsthafte Zweifel an der Relevanz und Effektivität der vorgegebenen Weltfriedensordnung sind angebracht, wenn Staaten mehr und mehr dazu übergehen, ihre eigenen Sicherheitsinteressen außerhalb dieser Ordnung zu verfolgen. 7 8
Zimmermann / Scheel (2002), S. 141. Dicke (2004), S. 44.
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Ähnliches gilt mit Blick auf die Geschichte des Internationalen Strafgerichtshofs. Letztlich bleibt dieser so lange Illusion, wie die machtpolitischen Realitäten eine allein einer weltweiten Rechtsordnung verpflichtete Instanz verhindern. Viel entscheidender aber wird künftig sein, die USA wieder vom Mehrwert einer weitgehend funktionierenden Weltfriedensordnung für die eigenen Sicherheitsinteressen zu überzeugen. Die Chancen dafür mögen augenblicklich nicht schlecht sein, da die einzig verbliebene Supermacht im Irak vor einer schier aussichtslosen Situation steht und den Krieg im Sinne einer politischen Lösung wohl nicht gewinnen kann. Dennoch sollte ein neuerliches Zugehen auf die UN nicht als dauerhaft gewertet werden, so lange die Schwächen der aktuellen Friedensordnung nicht nur aus dem überragenden Machtpotenzial und Führungsanspruch der USA resultieren (worüber Beobachter der Internationalen Beziehungen geteilter Meinung sind),9 sondern auch das Ergebnis der mangelnden Handlungsfähigkeit und schwachen Legitimation des UN-Sicherheitsrats sind, der nicht zuletzt in seiner Zusammensetzung nicht die Gegenwart abbildet und zudem bislang weder materiell noch personell in der Lage ist, bei der Friedenssicherung eine eigenständige und effektive Rolle zu spielen.
III. Das politische Schisma – Amerikanische versus UN-Autorität Wer immer das unilaterale Vorgehen der USA im Irak-Krieg kritisiert und umgekehrt an das Potenzial der Weltorganisation zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens glaubt, der sollte dreierlei berücksichtigen: Die UN können erstens ihrer Aufgabe nur dann gerecht werden, wenn die Europäer aufhören, sich hinter fruchtlosen Debatten zwischen Antiamerikanismus und politischer Konzeptionslosigkeit zu verschanzen und statt dessen konstruktive Vorschläge zur Lösung von Konflikten bieten; die EU und die sie tragenden Mitgliedstaaten haben dem mit der Entwicklung der europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik (ESVP) und der aktiven Beteiligung an weltweiten Friedenseinsätzen durchaus entsprochen und so Washington gezwungen, sich überhaupt erst auf solche Debatten einzulassen und eventuell auch einbinden zu lassen. Zweitens sind die Vereinten Nationen von den militärischen Fähigkeiten und Mitteln der USA abhängig; will der Sicherheitsrat seine Beschlüsse durchsetzen, so ist die Beteiligung Washingtons eine conditio sine qua non. Fast alle großen Friedensoperationen der 90er-Jahre (Somalia, Haiti, Bosnien oder Kosovo) erfolgten unter der militärischen Führung der USA. Drittens schließlich kennt das Völkerrecht bislang lediglich ein sehr restriktives zwischenstaatliches Gewaltverbot, das Ausnahmen nur bei entsprechenden Beschlüssen des Sicherheitsrates oder für ein eng ausgelegtes Selbstverteidigungsrecht gegen „unmittelbare Angriffe“ von anderen Staaten zulässt; die Konsequenz daraus ist, dass militärische Präventivschläge gegen staatliche wie nicht-staatliche Akteure (als eine Form der neuen Bedrohungen) nach der UN-Charta ausgeschlossen sind. Es geht also zunächst um die Frage, unter welchen Bedingungen der Sicherheitsrat den Einsatz amerikanischer Macht unterstützt und umgekehrt Washington davon zu überzeugen ist, dass multilaterales Handeln mittel- bis langfristig auch im amerikanischen Interesse liegt. Dabei sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass sich ein absoluter Einklang der Interessen je herstellen lässt und Washington sein traditionell 9
Fröhlich (2006), S. 53 – 78.
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auch instrumentelles Verhältnis zur Weltorganisation aufgibt.10 Eine Verschmelzung von Recht und Moral als Erwartung an die Politik ist nicht nur im amerikanischen Fall utopisch. Ebenso ist die moralische Integrität der von den UN repräsentierten Politik zu hinterfragen, die in der Vergangenheit immer wieder die Augen vor Verstößen gegen die eigene Charta verschlossen hat. Srebrenica war bis zu dem Massaker an 8000 Bosniern ein von niederländischen Blauhelm-Soldaten nicht geschützter Schauplatz für Greueltaten der serbischen Soldateska. Abgesehen von solchen Legitimationsproblemen der UN bleibt aber vor allem das eklatante Problem der Handlungsunfähigkeit in Krisensituationen, die den glaubhaften Einsatz von militärischen Mitteln erfordern. Seit Anfang der 1990er-Jahre prüfen die UN ohne Erfolg Möglichkeiten zur Aufstellung einer stehenden UN-Truppe nach Art. 43 der Charta. Der Grund hierfür ist einfach: Der Irak-Krieg hat gezeigt, dass es selbst im „alten Europa“ zwei konkurrierende und miteinander unvereinbare Auffassungen von Politik gibt, über die jedoch nicht einmal in den UN offen debattiert wird: Die von der herkömmlichen Politik, die den Krieg aus Machtgründen als Mittel der Politik betrachtet, einerseits, und die von der Verbindung von Diplomatie und humanitärem Anspruch auf der anderen Seite, die den Krieg allenfalls als humanitäre Aktion oder kollektive Strafaktion der Völkergemeinschaft toleriert. Dieser politische Gegensatz kann auch nicht gänzlich dadurch aufgehoben werden, dass mit dem Instrument der „humanitären Intervention“ im Balkan-Krieg (Kosovo) mittlerweile die UN die Verstrickung von kollektiver Friedens-(sicherungs-) und Machtpolitik akzeptiert hat, wenn auch – und hier liegt der entscheidende Unterschied zum Irak-Krieg – in der Form der Vermeidung eines machtpolitischen Vorgehens im Sinne eines Präventivschlages. Denn die NATO wurde erst aktiv, als es im Grunde bereits zu spät war. So aber konnte man ruhigen Gewissens einen Krieg für eine gerechte Sache führen ohne ein politisches Interesse. Die grausame Logik dieses Vorgehens aber ist kaum humaner als die Realitäten der Machtpolitik. Als humanitär konnte der Westen sein Handeln nur deshalb einstufen, weil er sich die zivilen Opfer der Aktion nicht zurechnete. Ähnlich wogen die Argumente im Irak: Abgesehen von den USA und Großbritannien sprach im Vorfeld des Krieges niemand von der Zahl der Opfer des zwei Jahrzehnte währenden Regimeterrors, geschweige denn von den Opfern der UN-Embargomaßnahmen, deren Zahl im Irak in die Hunderttausende gegangen sein soll. Das Handeln der UN vollzog sich vielmehr nach den inneren Gesetzen der Machtpolitik, wonach der Zweck die Mittel heiligt. Über Jahre tolerierte man die Schwächung des Regimes über wirtschaftliche Mittel, als der Ernstfall aber nahte, schwang man sich zum Verteidiger der staatlichen Souveränität auf. Trotz der Annäherung beider Auffassungen bleibt also eine Asymmetrie bestehen, die sich zunächst aus dem moralischen Überlegenheitsanspruch beider Seiten heraus speist und weniger aus ihrem tatsächlichen Handeln. Ob sich die Kluft zwischen Moralund Machtpolitik daher durch eine Reform der UN verringern lässt, ist zweifelhaft. Die UN sind offensichtlich nicht der Platz für eine neutrale Debatte um diesen Grunddissens. Gibt es somit überhaupt Optionen für eine weitere sinnvolle Anpassung beider Positionen?
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Foot / MacFarlane / Mastanduno (2003).
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IV. Optionen für eine Neuanpassung des Völkerrechts Die UN haben sich in der vergangenen Dekade bei allen Grenzen hinsichtlich der Anpassung an die globalen Herausforderungen als entwicklungsfähige und flexible Organisation präsentiert. Das zunächst als Improvisationsverfahren entwickelte Peacekeeping ist heute eines der wichtigsten Instrumente der UN-Sicherheitspolitik. Fest steht, dass der Sicherheitsrat auf Grund der Zunahme innerstaatlicher Konflikte in Krisenregionen wie Zentralafrika, dem Nahen Osten, Südosteuropa und Zentralasien ein verändertes Verständnis von Sicherheitspolitik entwickelt hat.11 Das Problem ist aber, dass die neuen Aufgaben nicht in der Charta geregelt sind und UN-Operationen somit in einer völkerrechtlichen Grauzone durchgeführt werden, die die USA – natürlich nach ihren Vorstellungen, d. h. unter Einschluss der Möglichkeit von Präventivschlägen – durchaus zu schließen bereit sind; jedenfalls bietet die „National Security Strategy“ (NSS) implizit eine Weiterentwicklung des „robusten“ Peacekeeping in diesem Sinne an. So betrachten die UN massive Menschenrechtsverletzungen in einem Staat heute zwar als Bedrohung für den internationalen Frieden. Die Frage jedoch, wann zur Verhinderung von Völkermord und ähnlichen Tatbeständen Gewalt angewendet werden darf, wird von der Charta nicht beantwortet. Dabei hätte eine „Legalisierung“ entsprechender Operationen den Vorteil, dass die Einsatzbereiche der UN-Truppen wie die Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten zur Unterstützung der Mission durch verbindliche Richtlinien und Kriterien genauer definiert wären und somit rascheres und flexibleres Krisenmanagement ermöglicht würde. Eine entsprechende Änderung der Charta setzte allerdings von Seiten der Mitglieder auch eine Anerkennung der unbedingt in die Charta aufzunehmenden, im Völkergewohnheitsrecht längst anerkannten Prinzipien vom „Notstand“ und der „Verhältnismäßigkeit / Angemessenheit“ im Falle der Ausübung antizipierter Selbstverteidigung voraus; für Washington bedeutete dies eine Änderung der NSS. Die Alternative wäre, dass sich die Völkergemeinschaft darauf verständigt, dass Massenvernichtungswaffen und Terrorismus eine neue Art der „asymmetrischen“ Bedrohung für die Welt darstellen, auf die nur mit einer weiteren Lockerung des Gewaltverbots unter Ausweitung des Selbstverteidigungsrechts reagiert werden kann. Diese Option entspräche wiederum der Auffassung der Bush-Administration, birgt allerdings die Gefahr, dass damit der Proliferation von Präzedenzfällen wie im Irak durch andere Staaten Vorschub geleistet würde. Einschränkend ist hinzuzufügen, dass diese Gefahr bewusst dramatisiert wird, da den meisten potentiellen Störenfrieden schlichtweg die politischen, ökonomischen wie vor allem militärischen Mittel dafür fehlen. Begünstigt werden könnte diese Entwicklung durch eine Aufweichung des Vetorechts im Sicherheitsrat, indem die Ständigen Mitglieder sich freiwillig einer Selbstbeschränkung unterwerfen und von ihrem Veto nur in solchen Fällen Gebrauch machen, in denen die Umsetzung von Beschlüssen den Einsatz von militärischen Mitteln nach Art. VII der Charta vorsieht.12 Im Falle humanitärer und auch präventiver Einsätze aber sollten die Mitgliedstaaten dort auf ihr Vetorecht verzichten, wo ihre nationalen Interessen nicht unmittelbar tangiert sind. Dies bedeutete zwar die Aufgabe eines immanenten Ver11 12
Millenium Report (2000). Russett / O’Neill / Sutterlin (1996), S. 77.
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tragsrechts durch die Staaten und alternativ die Bildung von politischen Koalitionen außerhalb des Sicherheitsrates zur moralischen Legitimierung von Einsätzen. Die Kosovo-Kommission aber hat deutlich gemacht, dass dies künftig vielleicht der einzig gangbare Weg ist, um den heutigen Bedrohungen für die Staatenwelt angemessen zu begegnen, indem sie den NATO-Einsatz im Kosovo zwar für „illegitim“, politisch aber für „gerechtfertigt“ hielt.13 Bleibt eine dritte Option, wie sie die Staatenwelt in der politischen Praxis im Grunde längst hingenommen hat: die Aufhebung der Verbindlichkeit und politischen Kontrollfunktion der UN-Charta. Dies wäre so gesehen der konsequenteste Schritt vor dem Hintergrund der Staatenpraxis, wird aber von der überwältigenden Mehrheit der Staatenwelt nicht gewünscht und würde das Ende des Multilateralismus bedeuten – mit der womöglich ernsthaften Konsequenz des Endes der atlantischen Allianz. Was also kann die Staatengemeinschaft tun? Obwohl die UN-Charta ganz offensichtlich nicht adäquat das derzeitige Völkerrecht in Bezug auf die Anwendung militärischer Gewalt beschreibt, sollten sich die Staaten, allen voran die USA, doch auf deren Revision in wenigstens drei Punkten verständigen: Erstens sollte militärische Gewalt in präventiver Selbstverteidigung unilateral nur dann angewendet werden, wenn bestimmte materielle Kriterien für vorbeugende Militäreinsätze erfüllt sind. Das UN-Gremium („High Level Panel“) zur Reform der Vereinten Nationen hat in diesem Zusammenhang fünf Kriterien vorgeschlagen, die stabilisierend wirken und die Rückkehr zu einem stärker regelbewährten Rechtsregime befördern könnten: „Ernst der Bedrohung“, „Redlichkeit der Motive“, „Anwendung militärischer Gewalt als letztes Mittel“, „Verhältnismäßigkeit der Mittel“, „Angemessenheit der Folgen“.14 Zweitens sollte die internationale Staatenwelt den Einsatz präventiver Gewalt für den Fall, dass eine unmittelbare Bedrohung nicht nachzuweisen ist, ausschließlich mit Billigung des Sicherheitsrates vorsehen. Eine solche Politik würde die multilaterale Unterstützung durch die Staatenwelt garantieren und zudem Präventiveinsätzen durch andere Staaten vorbeugen. Drittens wäre eine generelle Akzeptanz der Staaten wünschenswert, dass das bestehende Völkerrecht bezüglich des universellen Gewaltverbots höchst problematisch ist und deswegen durch den Sicherheitsrat in Richtung eines verbindlich anerkannten Rechts- und Kontrollregimes weiterentwickelt werden sollte. Den USA mag dies als überflüssiger Akt erscheinen, als einzige Weltordnungsmacht im internationalen System fällt ihnen aber wohl die Führungsaufgabe zu, nicht nur auf die Schwächen des bestehenden Systems, sondern auch auf dessen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung hinzuweisen. Für Europäer wiederum erfordert eine solche Weiterentwicklung wohl die endgültige Erkenntnis, dass es letztlich auch im Irak nicht um die Wünschbarkeit, sondern um die Möglichkeit des Friedens und seiner Bedingungen ging. Der Friede unterliegt nun mal einer widersprüchlichen Logik. Er ist nicht gottgegeben, sondern muss erkämpft und behütet werden. Dazu ist Moralpolitik allein nicht immer ein ausreichendes Mittel. Es braucht gegebenenfalls auch den Einsatz militärischer Mittel oder, vorzugsweise, die glaubhafte Drohung damit. Kants Wort, wonach der Friede gestiftet werden muss, gilt unabänderlich. Die UN allein sind dazu nicht in der Lage.
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Kosovo Report (2000), S. 4. U.N. High-level Panel Report (2004).
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Bellum iustum und gerechter Friede Von Wolfgang Ockenfels I. Begriff und Wesen des Friedens Kaum ein Wort bezeichnet tiefste menschliche Sehnsucht und Hoffnung besser als das Wort „Frieden“. Es gilt als Inbegriff menschlichen Glücks und gelungener Lebenserfüllung, und zwar in individueller und gesellschaftlicher Dimension. Begrifflich ist der Friede allerdings schwer zu fassen. Die Begriffsinhalte unterscheiden sich je nach politischem, ideologischem und religiösem Standort. Darum ist dieser Begriff oft der Manipulation und Demagogie ausgesetzt und lässt sich sehr gut für eine politische Propaganda verwenden, die zum Unfrieden führt und den Krieg legitimiert. Geschichtliche Beispiele dafür bieten im Europa des 20. Jahrhunderts vor allem die Ideologien des deutschen Nationalsozialismus und des sowjetischen Kommunismus. Hier haben totalitäre und weltrevolutionäre Systeme versucht, ihre eigenen Vorstellungen einer angeblichen Friedensordnung anderen mit Gewalt aufzuzwingen. Es scheinen sich die paradoxen Aussagen des hl. Augustinus zu bestätigen, wonach sich Staaten wie Räuberbanden aufführen, wie auch Räuberbanden sich in Staaten verwandeln können, die Kriege um des „Friedens“ willen führen. Und dies zuweilen sogar im Namen Gottes. Aber welche Friedenswerte stehen hier auf dem Spiel, die es gewaltsam zu verteidigen und durchzusetzen gilt? Kann der friedliche Zweck alle Mittel der Gewalt heiligen – oder diskreditieren gerade diese Mittel das angestrebte Ziel? Die Frage nach den inhaltlichen Werten des Friedens gewinnt nach dem Ende des „Kalten Krieges“, vor allem nach 1989, besonders aber mit der Ausweitung des islamistischen Terrors, also seit dem 11. September 2001, eine neue politische und religiöse Bedeutung. Die Antwort auf die Wertfrage des Friedens bestimmt auch die Verfahrensweise der praktischen Friedenspolitik, die sich nicht allein auf formaljuristische, institutionelle, polizeiliche und militärische Aspekte beschränken kann. Der Friedensdiskurs kann sich nicht auf Fragen des ökonomischen Interesses und der politischen Macht beschränken – oder die inhaltlichen Wert-Bestimmungen ausklammern. Freilich fällt es einer pluralistischen Gesellschaft schwer, sich auf fundamentale Friedenswerte zu einigen oder zu besinnen. In den postmodernen Gesellschaften Europas setzt man sich schnell dem Verdacht des „Fundamentalismus“ aus, wenn man inhaltliche Werte postuliert, die dem Frieden vorauszusetzen sind. An diesem Werte-Defizit krankt die Friedensforschung, der es kaum gelingt, den Grundwert Frieden inhaltlich eindeutig zu definieren. Darunter leidet auch das westliche Verteidigungskonzept: Wenn man nicht mehr darstellen kann, welcher Frieden eigentlich als verteidigungswert anzusehen sei, gerät die Verteidigungsbereitschaft in eine Krise. Bloß materielle Werte unter Einsatz des Lebens verteidigen zu sollen, reicht wohl nicht aus.
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Von den christlichen Kirchen darf man erwarten, dass sie grundsätzlich zur Klärung und Abgrenzung von Friedenswerten beitragen können. Vor allem hat die katholische Kirche zur Friedensproblematik oftmals Stellung genommen. Die Botschaft der Kirche war und ist eine Friedensbotschaft, weil das Reich Gottes, das sie verkündet, als ein Reich des Friedens vorgestellt wird. Nur lässt sich über diese Friedensherrschaft Gottes nicht menschlich verfügen: Der endzeitliche „ewige Frieden“ lässt sich durch Politik und Ökonomie weder herstellen noch verhindern. Erst recht entzieht er sich politischideologischer Verwertung durch revolutionäre Programme. Versuche, diesen „eschatologischen Vorbehalt“ zu negieren und das Reich Gottes für politisch oder ökonomisch machbar zu halten, hat es in der Geschichte immer wieder gegeben; sie haben nach Karl R. Popper stets die Hölle hervorgebracht. Mit der christlichen Tradition unvereinbar ist auch ein konsequenter Pazifismus, der sich auf die Bergpredigt beruft, mit der aber – wie Bismarck im Einklang mit der katholischen Tradition meinte – „keine Politik zu machen“ ist. Vom absoluten ewigen Frieden zu unterscheiden, aber doch nicht ganz zu trennen, ist der Friede „auf Erden“. Wenn das Reich des Friedens als ein Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit, der Liebe und der Freiheit verheißen ist, so werden diese Verheißungen zwar erst in der ganz anderen neuen Welt erfüllt. Sie gelten aber, wie Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Pacem in terris (1963) hervorhebt, bereits hier und jetzt als ethische Wertansprüche für die Friedenspraxis. Dabei ist vorausgesetzt, dass der Mensch die vollkommene Wahrheit, die umfassende Gerechtigkeit, die absolute Liebe und die totale Freiheit weder erkennen noch realisieren kann. Aus dieser Einsicht in die Schwäche der Menschennatur resultiert die Duldung pluraler Auffassungen über die Friedensinhalte und das ernsthafte Ringen um die richtige Friedenspolitik. Wie schwer ein friedliches Verhalten bereits im überschaubaren Bereich personaler Beziehungen ist, zeigt der Unfriede, in dem viele Menschen mit sich selber, mit ihrer Familie und den Nachbarn leben. Die Unfähigkeit zum interpersonalen Frieden wirkt sich aus und setzt sich fort in den gesellschaftlichen Bereichen von Politik und Wirtschaft, wo das Machtinteresse und das Gewinnstreben als stärkste Handlungsmotive gelten. In den gegenwärtigen Friedensdiskussionen werden meist auch jene Gefahren verkannt, die dem innerstaatlichen „sozialen Frieden“ drohen, wenn etwa die Zahl der Arbeitslosen weiter ansteigt und der Wohlfahrtsstaat keine soziale Sicherheit mehr garantieren kann. Wohin sozialer Unfriede zu führen vermag, hat in Deutschland das Jahr 1933 gezeigt: nämlich zur Legitimationskrise der Demokratie, zur rassistischen Konstruktion von Sündenböcken und zur Ableitung innerstaatlicher Aggressionen nach außen. Dass innenpolitische Schwierigkeiten sich außenpolitisch entladen können, lässt sich anhand vieler Beispiele aus der Geschichte darlegen. Dieser von Pacem in terris betonte innere Zusammenhang zwischen den verschiedenen Friedensebenen, also dem personalen, sozialen und internationalen Frieden, wird auch in der gegenwärtigen Debatte viel zu wenig ins Auge gefasst. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die internationale Friedensebene im Verhältnis „westlich“ orientierter Staaten zu jenen Staaten und weltweit agierenden Gruppierungen aus der islamischen Welt, die zu gewaltsamen Ausgriffen und terroristischen Aktionen neigen. Diese neue Form der Bedrohung hat in Deutschland bisher lediglich einige diplomatische, polizeiliche und auch militärische Aktivitäten ausgelöst, letztere besonders im Rahmen der Vereinten Nationen und in Form von „Friedensmissionen“.
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Im Mittelpunkt einer christlich verstandenen „Friedensmission“ hätte freilich zunächst die Erkenntnis und die Beseitigung der Ursachen von Terror und Krieg zu stehen. Frieden ist ja mehr als das Fehlen von Krieg, Friedenspolitik mehr als nur die Eindämmung von ungerechter, brutaler Gewalt durch Gegengewalt, wenngleich diese Form militärischer Verteidigung unter den Bedingungen der bellum iustum-Lehre auch christlich legitimiert erscheint. Augustinus hatte freilich nicht nur einen negativen, sondern vor allem einen positiven Friedensbegriff im Sinn, als er den Frieden definierte als „Ruhe (in) der Ordnung“. Diese Definition kann keineswegs mit der Ruhe und Ordnung eines Polizeistaates oder mit einer Politik des „law and order“ gleichgesetzt werden. Ruhe ist keine Friedhofsruhe und Ordnung keine statische Zwangsordnung, die den status quo konserviert. Der Frieden ist vielmehr eine dynamische Ordnung, eine geordnete Entwicklung in Richtung auf mehr Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe (bzw. Solidarität) und Freiheit. Diese Prinzipien einer positiven Friedensordnung werden seit „Pacem in terris“ fast immer genannt, wenn sich die Kirche zu Fragen des Friedens äußert. Paul VI. sah im Frieden vor allem eine Frucht der Gerechtigkeit, und die gerechte weltweite Entwicklung war für ihn ein Synonym und ein Programm für den Frieden. Eine ähnliche Sichtweise findet sich auch bei Johannes Paul II., der in seiner Enzyklika Sollicitudo rei socialis (1987) das Prinzip der Solidarität vor allem hinsichtlich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit akzentuiert, die in der Zeit nach 1989, also im Zeitalter der „Globalisierung“, gewiss einen noch höheren Grad der Aktualität erreicht hat. Und Benedikt XVI. hat in seiner ersten Enzyklika Deus Caritas est (2005) die Liebe ins Zentrum seines dem Frieden gewidmeten Pontifikats gestellt.
II. Positive Friedenswerte und Dialog In der Missachtung der genannten positiven Grundwerte liegt die eigentliche Ursache des Unfriedens. Terror und Krieg sind aus dieser Sicht nur die Folgen und Symptome dieser Verkennung. Kriege, gewaltsame Revolutionen und Terror stehen überdies im Gegensatz zu einer geordneten Entwicklung, kommen also als Mittel zur Erreichung des „positiven“ Friedens nicht in Betracht. Wenn es auch nicht leicht möglich ist, die genannten Grundwerte konkret zu definieren und zu entscheiden, welche politischen Maßnahmen den besagten Maßstäben entsprechen, so ist der allgemeinen Erfahrung doch zugänglich, welche Handlungen dem Frieden widersprechen. Was die Wahrheit – oder bescheidener: die Wahrhaftigkeit – angeht, lässt sich feststellen, dass durch wirklichkeitsverzerrende Ideologien, Täuschungen, gebrochene Verträge und nicht eingehaltene Versprechungen der Friede gefährdet wird. Dem Frieden abträglich ist auch die Hinterziehung der Gerechtigkeit, wenn einem Volk grundlegende Rechte (wie etwa das Recht auf Selbsterhaltung und Selbstbestimmung) vorenthalten werden. Als friedensgefährdend erweist sich immer der Mangel an Solidarität, wie z. B. die Kultivierung von Klassenkampf, Rassismus und Religionsdiskriminierung. Und letztlich ist ein Friede ohne Freiheit kein wirklicher Friede, sondern eine Zwangsherrschaft, in der die Menschen und Völker in ihrer sittlichen Entfaltung gehindert werden. Freiheitsmindernde totalitäre Ideologien wie Kommunismus, Nationalismus und Imperialismus, aber auch die theokratischen Formen des Islams, sind daher als strukturell friedensgefährdend einzustufen.
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Im Wertepluralismus der westlichen Gesellschaften werden die genannten Grundwerte, besonders die Freiheit, immer noch von einem breiten Konsens getragen, wenn auch die konkreten, speziell christlichen Ausformungen häufig umstritten sind und in Europa immer mehr verblassen. Die Frage ist nun, ob eine Verständigung über die Grundwerte des Friedens zwischen den „westlichen“, christlich geprägten Kulturen und jenen, die etwa islamisch dominiert sind, überhaupt möglich ist. Denn der Friede zwischen den beiden „Systemen“ scheint auch von der Möglichkeit einer gegenseitigen Annäherung, einer schrittweisen Einigung auf einen gemeinsamen Grundwertbestand abzuhängen. Solange der politische Islamismus zur Legitimierung der herrschenden Eliten, zur Stabilisierung der Verhältnisse und zur Rechtfertigung weltweiter Expansion für die entsprechenden Staaten und Gruppen von Nutzen ist, wird es „dem Westen“ kaum möglich sein, mit den totalitären Ansprüchen eines geschlossenen Systems zu einem Konsens zu gelangen. In diesen Staaten sind die Grundwerte nicht Gegenstand freier gesellschaftlicher Kommunikation, sie werden vielmehr von der politisch-religiösen Führungsschicht kontrolliert. Mit einem Regime, das durch Offenheit, Freizügigkeit und Toleranz so gefährdet ist, dass es, um zu überleben, einen freien Dialog im Innern verbieten muss, lässt sich kaum über Freiheit verhandeln. Den Zusammenhang von Glauben und Vernunft grundsätzlich zu klären, ist das Leitmotiv des Pontifikats von Papst Benedikt XVI. Sein Aufgreifen des Friedens- und Gewaltproblems ist von der Sache her geboten und durch bestimmte Geschichtserfahrungen auch nahe liegend: Wenn der Glaube nicht durch Vernunft vermittelt wird, drängt die Gewalt ins Spiel und diskreditiert den Glauben. Das bezeugt auch die Geschichte der katholischen Kirche. Mit dieser Frage wird das Hauptthema und auch das Hauptdilemma des christlichislamischen Dialogs aufgeworfen. „Dialog“ bedeutet (nach dem Historischen Wörterbuch der Philosophie) „ein Gespräch, das durch wechselseitige Mitteilung jeder Art zu einem interpersonalen ,Zwischen‘, d. h. zu einem den Partnern gemeinsamen Sinnbestand führt“. Auf der Suche nach diesem gemeinsamen Sinnbestand – in Sachen Frieden und Gewaltlosigkeit – kann es freilich passieren, dass die Vernunft ausfällt und an ihre Stelle Drohungen, Einschüchterungen und Terror treten. Die allgemeine Geschäftsgrundlage für einen rationalen Dialog entfällt auch dann, wenn bei „wechselseitigen Mitteilungen jeder Art“ geschichtliche Erfahrungen und entsprechende Zitate ausgeschlossen werden sollen. Fast unmöglich wird der Dialog, wenn ein Dialogpartner nicht klar als repräsentativ identifizierbar ist und seine wahren Absichten nicht erkennen lässt. Das Dilemma eines globalen Dialogs in Sachen „Grundwerte des Friedens“ ist gegenwärtig kaum auflösbar. Schon der Beginn eines Dialogs setzt ja die Anerkennung bestimmter Grundregeln voraus, die nicht erst die Folgen einer intersubjektiven Kommunikation sind. Man kann sich zum Beispiel nicht mit anderen über den Grundwert der Wahrhaftigkeit verständigen, wenn man nicht schon während der kommunikativen Verständigung Wahrhaftigkeit praktiziert. Ähnliches gilt auch für die Grundwerte der Freiheit und Gerechtigkeit. Eine Verständigung über sie ist nur in einer freien und gerechten Kommunikation möglich, in der sich alle Beteiligten frei äußern können und damit zu ihrem Recht kommen. Der zurzeit vorherrschende Weltfriede ist prekär und „negativ“, weil er sich lediglich durch das Fehlen von größeren Kriegen auszeichnet. Nicht, dass dieser Zustand nur negativ zu bewerten wäre. Der relative Waffenstillstand ist jedoch nicht sicher genug,
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denn er hält nur an, solange das Prinzip von Angst und Abschreckung gewahrt bleibt. Die Sicherung des „negativen“ Friedens ist aber unter den gegebenen Umständen eine notwendige Bedingung für den Aufbau eines positiven Friedens, der dem Krieg und dem Terror die Grundlage entzieht. Die Verwirklichung positiver Friedenswerte ereignet sich durch konkrete Entwicklungszusammenarbeit und durch Dialog. Damit könnten aber einschneidende Systemreformen in den beteiligten Ländern verbunden sein. Darum konzentrieren sich die Dialoge einstweilen auf die Sicherung des „negativen“ Friedens, auf eine Ebene also, auf der sich beide Seiten entgegenkommen können, weil sie den gleichen Überlebenswillen haben. Diese dialogische Logik gilt allerdings nicht für Terroristen, die den Selbstmord taktisch und strategisch einkalkulieren, weshalb mit ihnen kein Dialog möglich erscheint. Gerade hier zeigt sich die Fragilität eines Friedens, dem ein positives Fundament fehlt. III. Legitimierung oder Eindämmung des Kriegs? Besonders im Atomzeitalter zeigte sich, dass der Krieg kein Mittel der Politik zur Herstellung des Friedens sein kann, weshalb er als „kalter“ und nicht als nuklearer Krieg geführt wurde. Aber auch die vielen kleinen „konventionellen“ Kriege vor und nach 1989 können nicht verharmlosend als die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ angesehen werden, in Anlehnung an den preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz. Vielmehr sind Kriege immer ein großes Übel, auch wenn sie noch größere Übel abwenden. Um untragbares Unrecht abzuwenden, kann jedoch ein Staat gerechtfertigt sein, einen Krieg zu führen. In der Tradition der Kirche hat seit Augustinus die Lehre vom „gerechten Krieg“ eine Bändigung des Krieges versucht. Diese vom Wortlaut her missverständliche Lehre wurde von christlichen Theologen gerade zum Zweck der Verhinderung und Eindämmung militärischer Gewalt entworfen. Sie unterliegt seit Franz von Vitoria (1483 – 1546) der Rationalität von universalisierbaren und reziprok geltenden Kriterien, die nicht erst den Glauben voraussetzen. Wenn auch Vitoria noch am Recht auf Zutritt zu den Missionsgebieten festhielt, so galten aber offensive „Heilige“ oder Glaubenskriege als prinzipiell auszuschließen. Das Christentum muss sich mit seiner eigenen, nicht selten von Gewalt geprägten Geschichte auseinandersetzen, denn gerade heute werden ihm die mittelalterlichen Kreuzzüge, auch Conquista und Inquisition vorgeworfen. Diese Praxis gilt heute hinreichend als unmoralisch und als dem christlichen Glauben widersprechend. Dabei setzen wir aber die Existenz von zeit- und kulturübergreifend gültigen Maßstäben der Moral und des Rechts voraus, an deren naturrechtlich-vernunftgemäßer Begründung gerade die mittelalterliche Theologie hervorragend beteiligt war. Rein glaubensbegründete Moralnormen unterliegen hingegen viel leichter einer zeitgebundenen Interpretation, so dass besonders die biblischen Texte „zeitgemäß“ oft so zurechtgebogen wurden, dass sie in den jeweiligen Denkhorizont hineinpassten. Das zeigte sich besonders in der mit Bibelsprüchen legitimierten spanischen Conquista, die sich auf das lukanische „Compelle intrare“ stützte: „Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige die Leute einzutreten, auf daß mein Haus voll werde“ (Lk 14, 23) – das moralische „Nötigen“ wurde als rechtlicher Bekehrungszwang gedeutet.
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Ein tragisches Beispiel für diese Methode ist auch der Satz Cyprians „Extra Ecclesiam nulla salus“. Das Dogma von der Heilsnotwendigkeit der Kirche wurde bis ins späte 19. Jahrhundert so verstanden, dass die Angehörigen anderer Religionen und Konfessionen nicht das Heil erlangen könnten. Aus dieser Sicht musste die Ablehnung der Religionsfreiheit und die Inanspruchnahme des Staates für kirchliche Missionszwecke als plausibel erscheinen. Die spanischen Kolonialethiker haben nicht immer konsequent genug zwischen Glaubensoffenbarung und Naturrecht, zwischen Glaubensmoral und Vernunftmoral, zwischen ethischer und positiv-rechtlicher Ebene zu unterscheiden und zu vermitteln gewusst, ein Problem übrigens, das die christliche Theologie immer noch und bleibend beschäftigt. Das Festhalten an einem für alle Menschen und Völker analog gültigen, also geschichts- und kulturübergreifenden Naturgesetz der göttlichen Schöpfungsordnung bewahrte die Scholastiker immerhin davor, sich einer Herren- und Kolonialvolk-Ideologie anzuschließen, die im 19. Jahrhundert ihren Gipfel erreichte. Die spanische Conquista des 16. Jahrhunderts wurde von kirchlichen Theologen wie Bartolomé de Las Casas und Francisco de Vitoria naturrechtlich kritisiert. Beide Theologen gelten – nach Joseph Höffner – als Avantgardisten der Naturrechtsidee im Sinne der Menschenwürde, der Menschenrechte und des Völkerrechts. Ohne die Annahme eines vorpositiven Naturrechts ist es unmöglich, ein Widerstandsrecht gegen die Tyrannei zu begründen und gerechte von ungerechten Kriegshandlungen zu unterscheiden. IV. Die „bellum iustum“-Lehre vor neuen Problemen Es wurden nicht nur Regeln und Bedingungen des Krieges (ius ad bellum) aufgestellt, nach denen z. B. Eroberungskriege verboten werden, Verteidigungskriege aber unter Umständen erlaubt sind. Es sind auch ethische und rechtliche Normen zum Verhalten im Kriege (ius in bello) entwickelt worden. So hat die Kirche im II. Vaticanum ein Verbot der Anwendung von Massenvernichtungswaffen ausgesprochen. Mit dem Ende des Kommunismus scheint die Gefahr der Anwendung dieser Waffen noch nicht gebannt zu sein, wenn man sieht, wie technisch aufgerüstet heute Terroristen sind. Andererseits entzünden sich vielerorts (Balkan, Nahost, Afrika etc.) neue inner- und zwischenstaatliche Konflikte um die Rechte ethnischer, religiöser oder kultureller Minderheiten. Zunehmend werden völkerrechtliche Souveränitätsansprüche durch menschenrechtlich begründete „humanitäre Interventionen“ relativiert. Dies wirft erneut Fragen nach einer „bellum iustum“-Lehre auf. Diese Lehre wird in ihrer Intention, Gewalt zu minimieren, neu zu formulieren und zu aktualisieren sein. Dies vor allem hinsichtlich „asymmetrischer“ Konflikte und terroristischer Herausforderungen. Wie soll man heute mit einem international vernetzten Terrorismus verfahren, der zwischen globalem Bürgerkrieg, Kamikaze-Aktion und Partisanenkampf angesiedelt ist? Auf diese Frage gibt es noch keine schlüssige Antwort des kirchlichen Lehramtes. Die Legitimität militärischer Gewalt hängt von folgenden Kriterien ab, die jeweils eine Reihe von Fragen aufwerfen, die besonders für die Entwicklung und Interpretation des Völkerrechts von Belang sind:
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(1) Was gilt als gerechter Grund für militärische Verteidigung? Wie groß muss die Gefahr, wie drohend ein (möglicher, wahrscheinlicher?) Angriff, wie schwerwiegend eine Rechtsverletzung sein? Wann erfüllen auch präventive militärische Maßnahmen den Begriff des Verteidigungskrieges? Was berechtigt zu „humanitären Interventionen“? (2) Welche Rechtsinstanz entscheidet über den Einsatz militärischer Gewalt? Hat sich das Entscheidungs- und Gewaltmonopol der einzelnen Nationalstaaten endgültig auf die supranationale Ebene der Vereinten Nationen verlagert? Ist der UN-Sicherheitsrat noch repräsentativ für die globalen Machtverhältnisse? Ist er seiner Aufgabe recht- und machtmäßig gewachsen? Und führt das Vetorecht einiger Mitglieder zur Selbstblockade? (3) Krieg als ultima ratio, als „letztes“ Mittel, setzt zunächst die Anwendung anderer Machtmittel voraus, politischer wie ökonomischer. Aber wie wirksam sind heute noch Wirtschaftssanktionen? Treffen sie das verantwortliche Regime oder eher die notleidende Bevölkerung, die als Geisel gehalten wird? Gibt es nicht auch die Pflicht, dieses „letzte Mittel“ rechtzeitig anzuwenden, damit das Übel nicht weiter um sich greift und das Recht verdrängt? (4) Welches Ziel einer wertgebundenen Friedensordnung soll und kann erreicht werden? Als mögliche Ziele werden oft genannt: Wiederherstellung des ursprünglichen Rechtszustandes bei ungerechten Angriffen; Entschädigung für erlittenes Unrecht; Entwaffnung eines aggressiven Regimes; Befreiung einer unterdrückten Bevölkerung; Einführung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Legitimität dieser Ziele vorausgesetzt: Werden sie durch die angewandten Mittel diskreditiert? Bleibt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt? Lässt die mögliche oder wahrscheinliche Folge militärischer Gewaltanwendung ein geringeres Übel erwarten als deren Unterlassung? Und setzt diese Folgenabschätzung nicht einen Blick in die Zukunft mit ihren Unwägbarkeiten voraus – und eröffnet damit ein weites Feld für Spekulationen und Propaganda? (5) Die Erlaubtheit der Mittel innerhalb eines Krieges (ius in bello) nimmt ihr Maß vor allem am Schutz der Zivilbevölkerung. Von daher verbietet sich die Anwendung von Massenvernichtungswaffen. Aber können nicht auch konventionelle Präzisionswaffen (unbeabsichtigt) verheerende Wirkungen („Kollateralschäden“) entfalten? Und wie lässt sich die Verbreitung von ABC-Waffen verhindern, wenn sich diese bereits in den Händen von „Schurkenstaaten“ und von global vernetzt operierenden Terrorgruppen befinden? Die hier geforderten Güter- und Übelabwägungen können heute einen Staat in ein unauflösbares Dilemma versetzen, weil eine vorausschauende, klare Wertentscheidung in komplexen Situationen kaum noch möglich erscheint. Auch die Kirchen wären überfordert, mit einem idealtypischen Entscheidungsmodell einen Ausweg aus diesem Dilemma zu weisen. Sie können den Politikern die Gewissensentscheidung nicht abnehmen, aber zur Bildung und Schärfung des Gewissens beitragen. Eine wirksame Friedenshaltung muss sich als realistischer „Verantwortungspazifismus“ zu erkennen geben, der die wahrscheinlichen Folgen politischen Handelns und Unterlassens abwägt, und der die Grundwerte des Friedens nicht unvermittelt und ohne Rücksicht auf Verluste durchsetzt. Diese Haltung unterscheidet sich von einem uto-
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pischen „Gesinnungspazifismus“, der glaubt, man müsse auf dem Weg zum positiven Frieden die Waffen ablegen, und der sich der Hoffnung hingibt, dass diese Haltung auch entwaffnend auf den Gegner wirkt. Wie ein nationaler Staat als Institution des inneren Friedens den Bürgerkrieg verhindert, so könnte der internationale Friede zwischen den Staaten durch die Institution eines Weltstaates garantiert werden. Diese alte und immer neu faszinierende Vorstellung ist gewiss utopisch und – nach Hans Maier – nicht einmal wünschenswert, denn aus einem Weltstaat wäre, sollte er sich als totalitär erweisen, eine Emigration nicht mehr möglich – und die Immigration könnte höchstens auf einem anderen Planeten erfolgen. Aber die Kodifizierung einer internationalen Rechtsordnung, abgestützt auf angemessene Macht, die der Durchsetzung des Rechts Nachdruck verleiht, könnte doch einen wichtigen Schritt in Richtung Frieden bedeuten. Von einer weltweit institutionalisierten Friedensordnung sind heute erst schwache Ansätze sichtbar. Die weitgehend machtlosen und zuweilen auch wertblinden Vereinten Nationen beweisen ja gerade, wie schwierig, aber auch wie notwendig die Vereinigung der Nationen in einer positiven Friedensordnung ist. V. UN und Kirche als Friedensinstanzen Bei der inhaltlichen Beantwortung der genannten Fragen beginnen freilich erst die praktisch-politischen Schwierigkeiten, so dass auch die Kirche oft überfordert ist, zu einer klaren und verbindlichen Entscheidung zu kommen. Ihr Ermessensurteil setzt die genaue Kenntnis der Umstände und Hintergründe einer Konfliktsituation voraus, die oft erst nach einem Waffengang klar erkennbar sind. Die Befürchtung, dass ein Krieg zwischen den USA und dem Irak als ein Glaubenskrieg zwischen Christentum und Islam erscheinen und sich zu einem Welt-Religionskrieg entwickeln könnte, veranlasste Papst Johannes Paul II. dazu, dringend vor ihm zu warnen. Am 21. 2. 2003 sagte er gegenüber indonesischen Religionsführern: „Mit der realen Möglichkeit eines Krieges vor Augen dürfen wir nicht der Politik erlauben, eine Quelle weiterer Teilungen unter den Weltreligionen zu werden. In der Tat, weder ein drohender Krieg noch der Krieg selbst darf Christen, Muslime, Buddhisten, Hindus und Angehörige anderer Religionen einander entfremden. Als Religionsführer, die dem Frieden verpflichtet sind, sollten wir stets daran arbeiten, gegenseitiges Verstehen, Zusammenarbeit und Solidarität zu verstärken.“ Er wiederholte: „Krieg ist immer eine Niederlage für die Menschheit“ – und fügte hinzu: „aber er ist auch eine Tragödie für die Religion“. Die politische Wirksamkeit kirchlicher Warnungen und vatikanischer Diplomatie hat sich als sehr begrenzt erwiesen. Aber der Papst, der sein grundsätzliches Nein zum Krieg bekräftigt, schließt nicht die Möglichkeit eines „legitimierten Krieges“ aus. Der Krieg als Gesamtphänomen ist immer ein Übel, an dem aber oft mehrere Parteien sehr unterschiedlich beteiligt sind. Unter Umständen, die eine rechtmäßige Instanz festzulegen hat, kann aber militärische Gewaltanwendung für eine Partei erlaubt sein, um größere Übel abzuwenden. Das Vertrauen, das gerade kirchliche Kreise auf die Vereinten Nationen setzen, speist sich aus der endzeitlichen Hoffnung auf einen „ewigen Frieden“, der aber nicht institutionalisierbar ist. Der UN-Sicherheitsrat ist moralisch und rechtlich nicht viel besser als
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die Summe, die Mehrheit oder auch nur eine einzige Vetostimme seiner Mitglieder. Dennoch gilt er als „letzte Instanz“ des Völkerrechts, das gerade deshalb in ständiger Entwicklung begriffen ist und kaum dauerhafte Rechtssicherheit gewährt. Alle rechtlichen Maßstäbe scheinen sich zu verschieben und werden auch noch unterschiedlich ausgelegt. Wie kann man da noch klare und eindeutige Entscheidungen erwarten? Und wer setzte sie wirkungsvoll durch? Die Kirche verfügt nicht über äußere Machtmittel, gilt aber als bedeutsame moralische Friedensinstanz, ohne darauf einen dogmatischen Anspruch zu erheben. Ihre Friedenslehre lässt unterschiedliche Abwägungs- und Ermessensurteile zu und viele Fragen offen. Die Hauptfrage ist, wie sich die Chancen für ein globales interreligiöses Friedensgespräch verbessern und institutionell festigen lassen. Dass besonders die katholische Kirche als Weltkirche diesem substantiellen Dialog vorangeht, darf man für wünschenswert und notwendig halten. Literaturverzeichnis Beestermöller, Gerhard: Thomas von Aquin und der gerechte Krieg. Friedensethik im theologischen Kontext der Summa Theologiae, Paderborn 1990. Gerechter Friede. Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom 27. 9. 2000, Bonn 2000. Höffner, Joseph: Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1947; 2. verbesserte Aufl. 1969 unter dem Titel „Kolonialismus und Evangelium“. Justenhoven, Heinz-Gerhard / Schumacher, Rolf (Hrsg.): „Gerechter Friede“ – Weltgemeinschaft in der Verantwortung. Zur Debatte um die Friedensschrift der deutschen Bischöfe, Paderborn 2003. Justenhoven, Heinz-Gerhard / Stüben, Joachim (Hrsg.): Kann Krieg erlaubt sein? Eine Quellensammlung zur politischen Ethik der Spanischen Spätscholastik, Stuttgart 2006. Maier, Hans: Politische Religionen – ein Begriff und seine Grenzen, in: Die Neue Ordnung (55. Jg.), 2001, S. 164 – 175. Müller, Anselm Winfried: Gerechter Krieg? Traditionelle Lehre und aktuelle Kritik, in: Die Neue Ordnung (Jg. 50), 1996, S. 15 – 29. Nagel, Ernst Josef: Die Friedenslehre der katholischen Kirche. Eine Konkordanz kirchenamtlicher Dokumente, Paderborn 1997. Ockenfels, Wolfgang: Die Dynamik des Friedens, in: H. B. Streithofen / W. Ockenfels: Diskussion um den Frieden, Stuttgart 1974, S. 33 – 115. Raddatz, Hans-Peter: Von Allah zum Terror?, München 2002. Spieker, Manfred: Zur Aktualität der Lehre vom „gerechten Krieg“. Von nuklearer Abschreckung zur humanitären Intervention, in: Die Neue Ordnung, (Jg. 54), 2000, S. 4 – 18. Utz, Arthur Fridolin: Der gerechte Krieg. Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden, in: ders., Ethik des Gemeinwohls, hrsg. von W. Ockenfels, Paderborn 1998, S. 591 – 593. Walzer, Michael: Gibt es den gerechten Krieg?, Stuttgart 1982. Weissenberg, Timo J.: Die Friedenslehre des Augustinus. Theologische Grundlagen und ethische Entfaltung, Paderborn 2005. Zsifkovits, Valentin: Der Frieden als Wert, München 1973.
Nation, Nationalismus, Patriotismus Von Jürgen Schwarz I. Ursprünge Die drei Begriffe aus den politischen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen beschäftigt die Menschen, seitdem überhaupt über politische und soziale, d. h. öffentliche Organisation und Ordnung menschlicher Gemeinschaft nachgedacht wird. Seit etwa 10.000 Jahren also, als mit dem Stadtstaat Jericho und den vielen nachfolgenden in der Region von Euphrat und Tigris zum ersten Mal Zusammenhalt, Lebensinteressen und Schutz von menschlichen Gemeinschaften und ihre Beziehungen zu anderen festen Siedlungen im Zweistromland organisiert wurden. Und sich mit differenzierenden kulturellen Leistungen (Sprache, Schrift, Rechtskodifikationen, Religion, Sitten und Bräuche, historischen Aufzeichnungen) auch jeweils ein gemeinschaftliches Selbstverständnis und Selbstbewusstsein (Eigentümlichkeit, Wir-Gefühl) gegenüber dem Anderen und Fremden entwickelte. Aber vorher schon und bis in die Gegenwart hinein gab und gibt es auf allen Kontinenten das Phänomen der Stammes- und Volkszugehörigkeit, vor allem auch bei den wandernden oder nur sporadisch siedelnden Hirten- und Jägervölkern. Von dorther wurden zusätzliche und besonders umstrittene Merkmale der Abstammung, der Volks- und Rassenzugehörigkeit für die Definition einer Gemeinschaft übermittelt. Während letztere in Asien, Afrika, den Amerikas durchaus noch wirkungsmächtig sind, haben sie in den modernen Staaten an Bedeutung verloren, weil eine entsprechende Differenzierung durch das Zusammenleben der unterschiedlichsten Völkerschaften längst unmöglich und deshalb obsolet geworden ist. Es könnte also im Hinblick auch auf die Entwicklungen und Diskurse der Gegenwart auf einen außerordentlichen historischen und empirischen Fundus an grundlegender und praktischer Erfahrung und Normensetzung zurückgegriffen werden. Tatsächlich aber ist das nicht der Fall. Wenngleich dabei vor allem deutlich würde, dass dieser gemeinschaftliche Zusammenhalt (später „Nation“ genannt) nur noch bei einer Minderzahl von Völkerschaften eine prägend natürliche, in der Mehrzahl hingegen eine sich wandelnde politisch-historische Erscheinung darstellt, deren konkrete Ausprägung zweifellos von Führungsschichten nach einem Nutzenkalkül, zugleich aber doch auch in beträchtlichem Maße von den Sichtweisen und Einstellungen aller Angehöriger der Gemeinschaft bestimmt wird. Typisch erscheint daher, dass im jeweiligen, sich ändernden politisch-sozialen und historischen Kontext bis in die Gegenwart hinein immer wieder neu eine angemessene Interpretation der Begriffe gesucht wird. Dabei können die Begrifflichkeiten in den einzelnen Staaten und weltweit beträchtlich auseinandergehen. In den einen (Deutschland) sind sie – zumeist aufgrund historischer Erfahrung – außerordentlich umstritten, während sie in anderen (USA, Frankreich, Großbritannien) mit großer Selbstverständlichkeit und Kontinuität und in kaum streitiger Interpretation gebraucht
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werden. In den Ländern Asiens wiederum finden sich scharfe nationale Abgrenzungen (national resilience), während in Afrika nach wie vor um Grenzziehungen und staatliche Zuordnung der Völkerschaften gerungen wird. Je nach politischer und gesellschaftlicher Situation stehen mal die einen, mal die anderen Begrifflichkeiten und ihre jeweiligen Kriterien im Vordergrund und bestimmen in kaum präzise zu bestimmender Weise das politische und soziale Handeln. Die Diskussion über die Begriffe Nation, Nationalismus, Patriotismus kann nicht mehr, wie es bis in die Gegenwart hinein der Fall ist, vornehmlich in der Perspektive Europas und in Abfolge der europäischen Entwicklungen geführt werden. Die Begrifflichkeiten sind – was es im Grundsatz immer war, aber vor allem auch in Europa unzulänglich wahrgenommen wurde – ein globales, internationales und jeweils indigenes Phänomen, so sehr auch die Europäisierung der Welt auf die jeweiligen Interpretationen eingewirkt und diese bis heute überlagert und determiniert haben mag. Tatsächlich sind wesentliche Merkmale und Wirkungen der drei Begriffe aus dem Erfahrungshorizont Europas heraus erklärt worden und außereuropäischen Völkern als Organisations- und Handlungskonzepte vorgeführt, von diesen übernommen oder auch aus der politischen Praxis heraus offeriert und oktroyiert worden. Vielfach aber sind diese Begriffe auch aus dem Handeln und Denken der Völker selbst erwachsen, wie neuere Untersuchungen nachweisen. In Europa haben Entwicklungen der Begrifflichkeiten mit einer gewissen Kontinuität seit dem Altertum stattgefunden, auch wenn sie erst sehr viel später mit lateinischen Namen belegt wurden.
II. Die Begriffe 1. Nation
Die Nation [frz., von lat. natio, nationis ,das Geborenwerden‘, ,Geschlecht‘, ,Volk(sstamm)‘] bezeichnete demnach seit der Antike größere Gruppen von Personen, die durch Verwandtschaft, Abstammung, lang andauernde Lebensgemeinschaft (Stamm, Volk), als Angehörige derselben Bevölkerung eines Staates oder Territoriums miteinander verbunden waren. Zwei wesentliche Denkströmungen bestimmen seitdem die Entwicklung der „nationalen Frage“; zum einen die hellenistische Staatenordnung und die Ausprägung der nationalen Strukturen (Aristoteles); zum andern die Idee einer übergeordneten Reichseinheit, getragen vom Gedanken der „Einheit von Menschen und Welt“ (Pax Romana, Weltfriede des Augustus, Heiliges Römisches Reich), in der „hinter der Verschiedenheit der Kulturgestalten. . . die Einheit des Wesens ,Mensch‘“ steht (Joseph Ratzinger). Im Mittelalter findet sich das Wort nationes als Bezeichnung sowohl von Stämmen als auch der großen Völker. Zum Prinzip einer institutionellen Einrichtung wurde natio im Mittelalter als an einigen Universitäten (Paris, Bologna, Prag) die Studenten gemäß ihrer Herkunft aus verschiedenen Völkerschaften (Franken, Alemannen) in nationes eingeteilt wurden. Auf den allgemeinen Konzilien im 15. Jahrhundert (Konstanz, Basel) wurde nicht nach der Zahl der Köpfe, sondern nach vier bzw. fünf nationes abgestimmt. Im Mittelalter hat sich der dem Lateinischen entlehnte Begriff in verschiedenen Sprachen westlicher Länder eingebürgert. Dabei blieb die ursprüngliche generelle Bedeutung erhalten. Für die Nationalentwicklung im Mittelalter blieb die Einbindung in das „lateinisch-christliche Daseinsverständnis und der von ihm her begrün-
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deten Daseinsordnung“ (Arnold Bergstraesser) zunächst maßgeblich. Aus dieser universal-christlichen Ordnung des Imperiums aber begannen sich im 13. Jahrhundert (Friedrich II.) – nach Entwicklung der Stadtstaaten – auch territoriale Nationalverbände herauszubilden. Zahlreiche Landesherren treten hervor. Sie vermögen es, durch Vereinheitlichung der Verwaltung auf ihrem Territorium, durch eine eigene Wirtschafts- und Kulturpolitik die lockere Lehensstruktur, die noch keine Nationalitäten kannte, durch straffe Staatsführung zu ersetzen und damit auch ihre Untertanen zum Bewusstsein einer eigenen nationalen Einheit (nationale Identität) zu bringen. Vor allem im 17. Jahrhundert (Westfälischer Friede), später bei Auflösung des Heiligen Römischen Reiches 1806 nahmen die Nationalstaaten auch in der Mitte Europas Form (Souveränität) an. Die seit Jahrhunderten verfolgte Reichsidee der Universalität (Supranationalität) ging damit zu Ende und wurde – nach zahlreichen Entwürfen – erst mit den konkreten Planungen für eine Europäische Einigung der Nationalstaaten im 20. Jahrhundert wieder aufgegriffen. Hinsichtlich einer genaueren Definition der Nation entwickelte sich der Begriff – wenngleich oftmals außerordentlich virulent (Spanien, Belgien, Italien u. a.) – in zwei Hauptrichtungen: Nation zum einen im Sinn von Staat oder Staatsvolk (Staatsnation), zum andern als eine Großgruppe, die Träger einer bestimmten Kultur (Sprache u. a.) ist (Kulturnation). Im Sinne der ersten Bedeutung wird das Wort vornehmlich im Angelsächsischen (Amerikanische Revolution 1776) und Französischen (Französische Revolution 1789) gebraucht; inzwischen hat sich dieser Begriff weltweit durchgesetzt. So bereits im Genfer Völkerbund von 1920 (League of nations bzw. Société des nations) und in der Weltorganisation der Staaten von 1945 (United Nations Organization, UNO). Staat und Nation werden oftmals nebeneinander im gleichen Sinne (synonym) gebraucht, Staat und Nation können begrifflich identisch sein. Die Nation wird dann wesentlich als Bürger-Gemeinschaft in den Grenzen eines nach innen und außen souveränen Staates verstanden, der legitimiert und verfasst ist. Letzteres aber ist – mit Blick auf die Vereinten Nationen – keineswegs unerlässliches Kriterium (conditio sine qua non). Das Royal Institute of International Affairs in London versuchte 1939 eine systematische Zusammenfassung maßgeblicher Kriterien zum Begriff der Nation, die 1963 von B. C. Shafer weiterentwickelt wurden: (1) das Vorhandensein einer begrenzten territorialen Einheit; (2) gemeinsame kulturelle Merkmale (Sprache, Sitten und Bräuche, Religion, Literatur u. a.); (3) gemeinsame soziale und wirtschaftliche Institutionen; (4) eine gemeinsame (nach innen und außen) souveräne Regierung oder das Verlangen danach; (5) eine gemeinsame Geschichte (oder der Glaube daran) und eine gemeinsame Abstammung; (6) eine gewisse Wertschätzung zwischen den Angehörigen der Nation; (7) die Hingabe an das Ganze der Nation (Nationalgefühl); (8) ein gemeinsamer Stolz auf die Erfolge (Nationalstolz) und gemeinsame Trauer über die Misserfolge der Nation; (9) Geringschätzung oder Feindseligkeit gegenüber anderen nationalen Gemeinschaften; (10) Hoffnung auf eine positive Fortentwicklung der eigenen Gemeinschaft. Naheliegend müssen nicht alle genannten Kriterien in gleicher Weise vorliegen, um einen Personenverband als Nation bezeichnen zu können. Von Staatsnation aber kann nur dort die Rede sein, wo der territorial eindeutig begrenzte, durch souveräne Regierungsorgane geführte und durch eine Verfassung legitimierte Staat von einer ethnisch, sprachlich, kulturell begründeten und sich zu Verfassung und Staat bekennenden Nation bestimmt wird. Dieser Begriff ist im genannten Sinne weltweit übernommen und in andere Sprachen eingefügt worden.
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Inzwischen dominiert der Begriff der Staatsnation auch in Deutschland und Mittelund Osteuropa, wo lange Zeit (seit dem 18. Jahrhundert) zwischen Staat und Nation unterschieden und unter Nation vor allem der Träger einer Kulturgemeinschaft, der man sich aufgrund bestimmter Kriterien (Sprache, Abstammung, historisches Bewusstsein u. a.) zugehörig fühlte, verstanden wurde. Die staatlichen Grenzen waren in dieser Bedeutung prinzipiell nicht die Grenzen der Kulturnation; diese reichte vielmehr über die staatlichen Grenzen hinaus und fasste etwa die Völkerschaften „deutscher Zunge“ auch in verschiedenen Staaten zusammen. So wie umgekehrt vom „Heiligen Römischen Reich“ mit dem Zusatz „deutscher Nation“ nur dann gesprochen wurde, wenn man den nach deutschem Recht organisierten Teil des sehr viel größeren Gesamtreiches meinte. Im Mittelpunkt dieses nationalen Denkens stand und steht nicht der Staat, sondern das Volk, das sich seiner historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten bewusst ist (völkisches und nationales Erwachen) und von dorther ebenfalls nach Erlangung der nationalen Souveränität sucht. In manchen Fällen kann die Kulturgemeinschaft (in ihren wesentlichen Teilen) mit dem staatlichen Territorium übereinstimmen; Staatsnation und Kulturnation sind dann identisch. Mit kulturellen Minderheiten außerhalb der Grenzen des Staatsgebietes dürften dann kaum Probleme auftauchen. Bleiben aber wesentliche Teile einer ihrer Eigenarten bewussten Kulturgemeinschaft außerhalb der staatlichen Grenzen oder bilden innerhalb des Staates sich ihrer Kultur (eigene Sprache, Tradition, Sitten und Bräuche, Abstammung u. a.) gewisse Minderheiten, so spricht man von Nationalitäten. Das kann innerhalb des Staates im Hinblick auf Integration und Minderheitenrechte zu zentrifugalen Bewegungen und außerhalb des Staates durch IrredentaSituationen oder dem Streben nach dem Staatlichwerden der gesamten Kulturgemeinschaft (z. B. Kurdenproblematik) zu Nationalitätenproblemen und insgesamt zur Ausbildung von Nationalismen und gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Während der Begriff der Kulturnation in Europa und in der westlichen Welt nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, ist er etwa bei den durch Grenzziehung geteilten Völkern Afrikas nach wie vor auch von großer politischer Bedeutung. Die auf der „nationalen Identität“ aufbauende Staatlichkeit (Nationalstaat) und ihre internationale Funktion haben sich in der Geschichte der internationalen Organisation in Wellenbewegungen entwickelt. Die „nationale Identität“ war keineswegs immer primärer Grund für die Begründung souveräner Staaten (nation building). Lange Zeit und immer wieder standen oder stehen wirtschaftliche und ausgesprochen machtpolitische Interessen im Vordergrund. Bis dann der Rückgriff und die Rückbesinnung auf die „nationale Identität“ (national resilience) wieder opportun wurde und sich als dem Staatsinteresse dienlich zeigte.
2. Nationalismus
Unter Nationalismus wird heute in der Regel eine übersteigerte, ideologische Form des Nationalbewusstseins, zumeist verbunden mit einer entsprechend starken oder militanten und radikalen Vertretung nationaler politischer und sozialer Interessen, verstanden. Durch die Geschehnisse im 20. Jahrhundert wurde der Begriff in Europa aufs schwerste belastet und nur noch negativ zur Bezeichnung einer inakzeptablen nationalen Einstellung verwandt. Bis zum Zweiten Weltkrieg in Europa und nach wie vor in Asien, Afrika und Lateinamerika wurde und wird der Begriff jedoch auch positiv verstanden, vor allem als Selbstbezeichnung nationaler Unabhängigkeitsbewegungen und als zentraler Bestandteil von Staatsideologien und (revolutionären) Staatsinteressen.
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In beiden Versionen hängt der Nationalismus ab von einem bestimmten Begriff der Nation. Wird die Nation als eine Lebensgemeinschaft gesehen, die mit einem stabilen, rechtsstaatlich verfassten Staat identisch ist, deren gravierende politische und gesellschaftliche Interessen z. B. der innerstaatlichen Integration, der Sicherheit nach innen und außen, der territorialen Einheit, der kulturellen Einigkeit, der Anerkennung im internationalen Bereich, des friedlichen Nebeneinanders mit Nachbarstaaten, der wirtschaftlichen Existenzsicherung und der Ressourcensicherung gelöst sind oder die mit anderen als den Mitteln eines manipulierten oder spontan entstehenden, emotionalisierten Nationalismus gelöst werden können, wird sie in aller Regel auf nationalistische Methoden verzichten bzw. der Staat wird versuchen, spontan entstehenden Nationalismus, dessen negative Folgen unabsehbar und dessen revolutionäre Kräfte kaum zu kontrollieren sind, zu verhindern. Damit sind bereits wichtige Interessen benannt, die im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts vielfach ungeklärt waren und einen durch die Staatsführungen geförderten und manipulierten (Identifikation, Gleichschaltung, Propaganda, Organisation) sowie von den Staatsbürgern mit Zustimmung und Begeisterung getragenen Nationalismus hervorbrachten. Auch von den Eliten wurde dieser häufig positiv als Nationalgeist, als starke Kraft und Zustimmung des Volkes betrachtet, die für die Führung der Außenpolitik unerlässlich waren. Der Nationalismus sieht in der eigenen Nation den höchsten Wert. Für den Einzelnen bedeutet er deshalb Hingabe an die Gemeinschaft, in mäßigen Formen Vaterlandsliebe, Patriotismus, Heroismus und Volksverbundenheit, in exzessiven Formen aber auch Fanatismus, Auslöschung der eigenen Persönlichkeit bei Unterordnung unter das nationale Ganze, Missachtung der sittlichen Normen und Selbstaufopferung im Dienste der Nation. Ursache für den kollektiven Nationalismus sind immer wieder Gefühle und Erkenntnisse der Bedrohung, der Unterbewertung, der mangelnden Respektierung, der Ausbeutung, ein Minderwertigkeitskomplex, der kompensiert oder überkompensiert wird, militärische Niederlagen unter unehrenhaften Bedingungen oder verbunden mit Auflagen, die nicht geleistet werden können oder dem Nationalstolz widersprechen (Frankreich 1871; Deutschland 1918). Das Bewusstsein eines Anders- oder Besondersseins verbindet sich im Nationalismus oft mit einem starken Sendungsbewusstsein und einem besonderen Missionsauftrag. Alle genannten Kriterien treffen auch auf kulturelle Minderheiten (Nationalitäten) zu, die unterschiedliche Formen von Nationalismus entwickeln können. So wie umgekehrt häufig nationale Minderheiten unter der Verachtung und Geringschätzung der nationalistischen Volksmehrheit im Staate zu leiden haben. Wie in Europa im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert wird der Nationalismus in Asien, Afrika und Lateinamerika vor allem im Hinblick auf die dort noch ungelösten Probleme des nation building und der Unterentwicklung häufig als positive Kraft zur Durchsetzung politischer und gesellschaftlicher Interessen beurteilt. Von L. Snyder wurden dazu 1968 sieben Merkmale festgehalten, die einen ersten Anstoß für die Erkenntnis typischer Probleme vermitteln können, aber nur geringe Aussagekraft besitzen, wenn man nicht zugleich den komplexen Kontext mitdenkt. In Europa könnte man von einem „diversifizierenden“, in Afrika von einem „schwarzen“, in Asien von einem „antikolonialistischen“, im Nahen Osten von einem „politisch-religiösen“, in Lateinamerika von einem „populistischen“, in der UdSSR von einem „messianischen“ und schließlich noch von einem Schmelztiegel-Nationalismus in den USA sprechen. Weiterführend sind Formen, die sich an dominierenden Sachverhalten orientieren, wie sie von J. Domes 1995 vorgeschlagen wurden. Sie werden im Sinne von Max Weber als
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Idealtypen verstanden, bei denen die in der Realität auftretenden Misch- und Übergangsformen unberücksichtigt bleiben müssen: (1) Emanzipations-Nationalismus: Loslösung (Befreiung, Unabhängigkeit) eines Verbandes (Stamm, Region, Volk, Staat) von fremder Herrschaft und Sicherung eines unabhängigen Staates. Beispiele sind: die antikolonialen Bewegungen in Asien und Afrika, die Beseitigung wirtschaftlicher Dominanz europäischer und amerikanischer Interessen in Lateinamerika, die anti-napoleonische Freiheitsbewegung in Europa (1808 – 1815), die anti-sowjetischen Freiheitsbewegungen in Osteuropa nach 1945. (2) Integrations-Nationalismus: Bildung eines Nationalstaates (nation building) auf der Grundlage eines mit allen entsprechenden Kriterien ausgestatteten Herrschaftsverbandes und / oder die staatliche Konsolidierung einer emanzipations-nationalistischen Bewegung (z. B. Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert in Griechenland, Italien, Ungarn und Deutschland). Aber auch als innerstaatliche Rechtfertigung oder Herrschaftsmaßnahme gegenüber emanzipationswilligen oder revolutionären Bewegungen (Russland, VR China u. a.). (3) Konfrontations-Nationalismus: In Verbindung mit dem Integrations-Nationalismus richtet er sich häufig gegen Nachbarstaaten oder gegen konkurrierende Kulturkreise und fremde Mächte, die als Feinde gekennzeichnet werden. Die eigene Nation wird dabei allen anderen Nationen gegenüber als historisch, kulturell, moralisch und politisch einzigartig und überlegen verstanden. (4) Hegemonial-Nationalismus: Häufig auch als Imperialismus bezeichnet. Der Konfrontations-Nationalismus, die Überzeugung vom höheren Wert der eigenen Nation wird hierbei auf politische Strategien und ein Machtstreben in kontinentaler oder globaler Dimension übertragen. Häufig werden dabei Herrschaftsansprüche mit einer der überlegenen Nation aufgegebenen „historischen Mission“ erklärt (z. B. kontinentale Vorherrschaftspläne des napoleonischen Frankreichs und des nationalsozialistischen Deutschlands; europäische und britische Missions-Ideologien im Zeitalter des Imperialismus, kontinentaler Hegemonial-Nationalismus Chinas). In diese Kategorie gehört auch die Suche nach Einfluss und Weltgeltung, nach Rohstoffquellen und Absatzmärkten; der Nationalismus wird dann zur Triebfeder für Kolonialismus und Imperialismus.
3. Patriotismus
Unter Patriotismus (von gr. patriotes, lt. pater) wird herkömmlich „Vaterlandsliebe“ oder „vaterländische Gesinnung“ verstanden. Gemeint ist die Bereitschaft zu Dienst und Opfer für den Staat und die Staatsgemeinschaft, Arbeit am Gemeinwohl, zugleich die gefühlsmäßige Hingabe an das übergeordnete staatliche Ganze und die Solidarität mit ihm; nicht nur als Anerkennung der mit dem Staat gegebenen rechtlichen und politischen Ordnung, sondern auch in der Erwartung, dass der Einzelne von diesem Staat und der Staatsgemeinschaft getragen und geschützt wird. Er kann auch auf regionale oder lokale Teile (Lokalpatriotismus) des Staates gerichtet sein, vor allem dann, wenn in diesen Bereichen die historisch-kulturellen und traditionsmäßigen Wurzeln für patriotische Gefühle liegen. In dieser Betrachtung erscheint er als eine unverzichtbare Voraussetzung von Demokratie, aber auch eines jeden werdenden Staates (nation building). Nur durch einen auch die Emotionen der Staatsbürger ansprechenden Patriotismus kann eine Demokratie in umfassender Weise lebendig erhalten werden. Schon im 18. Jahrhundert galt der aufgeklärt und „tugendhaft“ handelnde Staatsbürger, der sein privates und öffentliches Wirken dem Wohl des Vaterlandes widmete, sich über diese Haltung aber zugleich mit den ähnlich denkenden und handelnden Bürgern in allen anderen zivilisierten
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Ländern der Welt verbunden wusste, als „Patriot“. Die Wertschätzung von Symbolen (Fahnen, Hymnen), von für den Staat wichtigen historischen Ereignissen (Revolution, Freiheitskriege), von Personen (Monarchie; Revolutionsführer) oder Institutionen (Verfassung, Parlament), das freiheitlich-demokratisch verfasste Staatswesen insgesamt in seinen politisch-kulturellen Traditionen und Werten sieht er im Vordergrund, schließt deshalb aber eine weltoffene und tolerante Haltung gegenüber ähnlichen Werthaltungen in anderen Ländern nicht aus. Diese Haltung wird im Unterschied gesehen zum Nationalismus, der ursprünglich vornehmlich auf die Interessen des Volkes und einer Nation ausgerichtet ist, sich allerdings auch auf den gesamten Staat (Nationalstaat) erstrecken kann. Der Übergang vom Patriotismus, der ebenfalls gefühlsmäßige Übersteigerungen und herablassende oder feindliche Verhaltensweisen gegenüber anderen Staaten kennt, zum Nationalismus ist oftmals fließend. Gleichwohl wird der Patriotismus im Unterschied zum Nationalismus eher als angemessene gesellschaftliche und politische Verhaltensweise beurteilt, weil er in seinem Bezug zum Staat die im Nationalismus besonders umstrittenen Kriterien wie Abstammung und völkische Zugehörigkeit (Bluts- und Volksgemeinschaft, Rasse) nicht umfasst oder reflektiert. Vor allem im gegenwärtigen Europa (Deutschland), wo man den Patriotismus nach 1945 – offenbar wegen seiner vermuteten Nähe zum Nationalismus – ebenfalls wenig beachtete, ist der PatriotismusBegriff („neuer Patriotismus“, V. Kronenberg: „freiheitlicher Patriotismus“) in die politische und gesellschaftliche Diskussion zurückgekehrt. Es wird versucht, an die Interpretationen und Einstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts (deutsche Nationalbewegung: Freiheit und Einheit im deutschen Nationalstaat als Verfassungsstaat) anzuknüpfen. Eine Begründung für diese Rekonstruktion liegt auch darin, dass versucht wird, Probleme kultureller, gesellschaftlicher und politischer Integration im (westlichen) Staat durch einen Patriotismus zu lösen, der ähnlich dem im republikanischen Frankreich in „aufgeklärter Weise“ am Staat, seinen Institutionen und an seiner freiheitlich-demokratischen Verfassung orientiert ist. Man spricht dabei auch vom „Verfassungspatriotismus“ (J. Habermas, D. Oberndörfer) und versucht damit, die gefühlsmäßigen Aspekte („Nationalgefühl“) in den Hintergrund treten zu lassen und die Solidarität mit dem funktionierenden Staat als Rechtskonstrukt (z. B. Bekenntnis zu Verfassung und Staat) im Anschluss an das „aufgeklärte Denken“ im 18. Jahrhundert in den Vordergrund zu rücken. Auch in den Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas wird versucht, zu einem balancierten Patriotismus zu kommen; dabei sind aber die Übergänge, zumal in (noch) nicht demokratisch verfassten Staaten, zu nationalistischen Bewegungen unverkennbar. Ob ein Verfassungspatriotismus ohne Ansprache patriotischer Gefühle, Symbole und kultureller Traditionen und Bezüge zum Staatsganzen aber überhaupt möglich ist, steht in Frage. Für die Identifikation des Bürgers mit seinem Staat (Nationalstaat) scheinen patriotische Gefühle und emotionale Bindungen neben der intellektuellen Leistung unerlässlich.
III. Entwicklungen und Probleme In Politik und Gesellschaft haben die drei Begriffe viel diskutierte und höchst unterschiedliche Auswirkungen. Der Begriff „Nation“ ist zumeist aus seinem engen Verständnis als langandauernde völkische Lebensgemeinschaft – u. a. mit einheitlicher Abstammung und rassischer Einheit – herausgetreten; wenngleich der Begriff nach wie vor
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auch auf ethnische Völkerschaften und Stämme (z. B. Navajo Nation in den USA) angewandt wird. Tatsächlich entwickeln aber auch moderne Nationen, die auf einem Territorium (Staat, autonome Region u. a.) zusammenleben, – abgesehen von völkischen Kriterien wie Abstammung und Rasse – große Ähnlichkeit oder Gleichartigkeit in der Lebensweise, in Sitten und Bräuchen, in Sprache (Dialekt) und Bildung, im Denken, Werteempfinden und Urteilen bei Bewältigung der politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen (Menschenrechte, Menschenwürde). Auf der einen Seite lässt diese „nationale Identität“ den Wunsch nach der Bildung eines eigenen Staates verständlich werden; auf der anderen Seite kann eine Vielfalt von „nationalen Identitäten“ (Nationalitäten, Minderheiten) in einem Staat (Südafrika, Namibia u. a., aber auch Europa) ein gravierendes Problem für den Zusammenhalt eines Staates darstellen. Der Begriff des „Nationalstaates“ leitet sich von der Vorstellung ab, dass die Grenzen des Staates eine Gemeinschaft nationaler Identität umfassen sollte, auch wenn das in der politischen Realität nur selten der Fall ist. Nahezu alle Nationalstaaten haben ihre Schwierigkeiten bei Stabilisierung ihres nationalen Zusammenhaltes (Minderheiten, Separation). Gleichwohl gelingt es den Staaten meist, die staatliche Integrität ohne Zwangsmaßnahmen, ohne nationalistische Ideologie, sondern mit einer adäquaten Nationalitätenpolitik zu bewahren. Unterschiedliche Sprachen und Lebensweisen müssen dabei kein Hindernis sein (Schweiz). So wie sich umgekehrt aus einem gleichsprachigen Volk (Nation) mit gemeinsamen Traditionen in unterschiedlichen Lebensräumen unterschiedliche Nationen entwickeln können (Großbritannien, USA, Kanada). Die Frage, ob der Nationalstaat eine jeweils maßgebende und präziser zu umschreibende Leitkultur (Kulturgestalt) aufweist oder besitzen sollte, um die Einbürgerung von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft integrieren zu können, steht in Europa (Deutschland), aber auch in Asien, Afrika und Lateinamerika zur Diskussion. Sicher ist, dass das von F. L. Jahn als „Volkstum“ und von Hegel als „Volksgeister“ bezeichnete kulturelle Ganze der Nation heute sehr viel nüchterner gesehen wird. So wie man auch die von F. Meinecke oder R. Kjellén u. a. gebrauchten Begriffe „Makroanthropos“, „Persönlichkeit“ oder „Genius“ nicht mehr auf die Nation anwenden kann. Wie beim Nationalismus sind mit diesen Begriffen eine Neigung zur Selbstüberschätzung, zu radikaler Selbstbehauptung und damit zu einer sich abschließenden oder aggressiven Einstellung nach außen verbunden. Gleichwohl erscheint für die Einbürgerung von Immigranten ein Mindestmaß an Anforderungen legitim (Sprachkenntnisse, Bekenntnis zu Verfassung und Staat u. a.); ein neuer weltoffener Patriotismus soll auch die Einbürgerung angemessen unterstützen. Der Nationalstaat bleibt – entgegen manch anderer Behauptung – der wesentliche Akteur im internationalen System. In ihm bündelt sich nach wie vor Entscheidungskompetenz in umfassenden und komplexen Sachzusammenhängen, mit der auch global operierende multilaterale Konzerne oder Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) nur in Grenzen konkurrieren können. Allenfalls internationale Regierungsorganisationen (IGO), deren Träger aber wiederum Nationalstaaten sind, können als weitere Akteure mit vergleichbaren Kompetenzen gesehen werden. Zum souveränen Nationalstaat als Hauptakteur in der internationalen Politik gibt es keine alternative Ordnungsform. Gleichwohl geht es dabei um ein neues Verständnis des Nationalstaates. Es hieße die Katastrophen des 20. Jahrhunderts und die damit verbundenen tiefgreifenden Veränderungen des Weltsystems ignorieren, wenn mit der Souveränität des Nationalstaates seine internationale Isolierung und Impermeabilität, die Rückkehr zum machtpoliti-
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schen Egoismus und die chauvinistische Übersteigerung des eigenen Staates im Sinne eines obsoleten Nationalismus betrieben würde. Gleichwohl gibt es diese Einstellung von Regierungen immer noch. In Anbetracht aber der – aus wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen, wissenschaftlichen und politischen Gründen – zunehmenden Interdependenz des globalen Systems wäre und ist ein solches Rollenverständnis des souveränen Nationalstaates dysfunktional und anachronistisch und den Staatsinteressen entgegenstehend. Nur der „moderne Nationalstaat“ wird den globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts entsprechen können. Neben den international anerkannten klassischen Kriterien von Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt und der sich wesentlich darauf beziehenden internationalen Anerkennung als souveräner Nationalstaat muss der moderne Staat künftig vermehrt den folgenden Prinzipien entsprechen: (1) Grundlagen eines „freiheitlich demokratischen Verfassungssystems“, orientiert an den Prinzipien von Rechts- und Sozialstaat und freier (sozialer) Marktwirtschaft. An diese Voraussetzungen werden künftig in stärkerem Maße als bisher schon Mitgliedschaften in internationalen Organisationen geknüpft werden. Sie sind bereits conditio sine qua non für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. (2) Vom modernen Nationalstaat wird künftig „Offenheit“ (im Sinne von Durchlässigkeit und Transparenz) gegenüber den politischen Werte- und Normenentwicklungen im internationalen System verlangt, soweit dies mit dem demokratischen Verfassungs-, Rechts- und Gesellschaftssystem des Staates zu vereinbaren ist. Auf diese Weise soll ein überstaatlicher und interkultureller Verhaltenskodex (Völkerrecht, Menschenrechte, internationale Ethik, Friedensgebot) entwickelt werden, der Stetigkeit und Glaubwürdigkeit der Außenpolitik vermitteln und größere Sicherheit für das internationale System bringen könnte. (3) Vom modernen Staat wird internationale „Kooperationsbereitschaft“ und „Kooperationsfähigkeit“ verlangt, was Mitgliedschaften in internationalen Organisationen, die Beteiligung an internationalen Projekten, den Abschluss internationaler Verträge, die Hinnahme der Einbindung in internationale Regelwerke, Verfahren und Verpflichtungen einschließt. Mit der Kooperationsbereitschaft korrespondiert eine angemessene Kooperationsfähigkeit des Staates, die er durch entsprechende ideelle und materielle, gesetzliche und organisatorische Leistungen glaubwürdig macht. Die genannten Kriterien lassen den befürchteten „Nationalismus“ gänzlich obsolet, den beschriebenen „neuen Patriotismus“ hingegen als konstitutiv für den modernen Nationalstaat erscheinen. Die Mitgliedschaft in Internationalen Organisationen (IGO) ist eine weitere moderne Entwicklung, die den Nationalstaat, der damit in erster Linie zweifellos seinen politischen und wirtschaftlichen Interessen dienen will, in die größere Verantwortung einer Staatengemeinschaft einzubinden vermag. Das heißt für den einzelnen Staat nämlich zugleich auch Verlagerung eines Teils seiner Souveränität auf die Staatenorganisation, Einordnung in eine internationale Staatengemeinschaft und Hinnahme einer gewissen Kontrolle durch das größere Ganze. Nationalistische Alleingänge werden damit kaum noch möglich sein. In der Europäischen Union sind charakteristischer Weise die verbleibenden nationalen Handlungsspielräume mit den politischen und wirtschaftlichen Vorteilen einer Mitgliedschaft abzuwägen. Dabei wird es auch längerfristig bei einem „Verbund der Nationalstaaten“ bleiben, die eine Balance zwischen den nationalen Interessen, der „nationalen Identität“ (Souveränität) auf der einen mit der Gemeinschaftsleistung auf der anderen Seite zulässt. Beim Nordatlantischen Bündnis (NATO) behalten die Mitgliedstaaten in noch größerem Maße ihre nationale Souveränität (einstimmige Entscheidungen im Konsens), was die Effizienz gemeinsamen Handelns letztlich nicht ein-
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schränkt. Die Vereinten Nationen (UNO) wiederum wollen als IGO nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker den Weltfrieden zwischen den Nationen fördern (Art. 1 UNCh). Die Organisation der UN beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder (Art. 2, Abs. 1 UNCh). Diese geben sich mit der „Charta der Vereinten Nationen“ (24. Okt. 1945) eine „Verfassung“, die weit über die Organisation der UNO hinaus für die Weltordnung grundlegende politische und völkerrechtliche Bedeutung gewonnen hat. Für die Einstellungen der Katholischen Kirche in diesen Fragen ist über die Lehre der Päpste Leo XIII. und Pius XII. hinaus vor allem die Enzyklika Pacem in terris (1963) von Johannes XXIII. grundlegend geworden. Die „nationale Frage“ wird hier in einem breiten Spektrum aller wesentlichen Grundelemente internationaler Ordnung von der unantastbaren „Personwürde des Menschen“ über das „freie Staatswesen“ und die „Gemeinschaft seiner Ethnie“ (Nationalstaat), über die „völkische Minderheit“ (Nationalität), die internationale „tätige Solidarität“ (universelles Gemeinwohl) bis hin zur Organisation „universaler Autorität“ (Übereinkunft aller Völker, Vereinte Nationen) behandelt. Literaturverzeichnis Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation, Frankfurt a. M. 1988 [1983]. Conze, Walter: Die deutsche Nation. Ergebnis der Geschichte, Göttingen 1965. Decker, Günter: Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Göttingen 1955. Deutsch, Karl W.: Nationenbildung – Nationalstaat – Integration, Düsseldorf 1972. Deutsch, Karl W. u. a. (Hrsg.): Nation-building, New York 1971. Ehlers, Joachim: Die Entstehung der Nationen und das mittelalterliche Reich, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 5 (1992), S. 264 – 274. Ermacora, Felix: Nationalitätenkonflikt und Volksgruppenrecht, München 1978. Hättich, Manfred: Nationalbewusstsein und Staatsbewusstsein in der pluralistischen Gesellschaft, Mainz 1966. Hippler, Jochen (Hrsg.): Nation-Building, Bonn 2004. Hugelmann, Karl Gottfried: Nationalstaat und Nationalitätenrecht im deutschen Mittelalter, Stuttgart 1955. Kimminich, Otto: Rechtsprobleme der polyethnischen Staatsorganisation, Mainz 1985. – Deutschland und Europa. Historische Grundlagen, Berlin 1992. Kohn, Hans: Die Idee des Nationalismus, Heidelberg 1950. Kronenberg, Volker: Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation, Wiesbaden 2005. Langner, Albrecht (Hrsg.): Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn 1985. Leibholz, Gerhard: Volk, Nation und Staat im 20. Jahrhundert, Weener / Ems 1958. Lemberg, Eugen: Geschichte des Nationalismus in Europa, Stuttgart 1950. Meinecke, Friedrich: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, München 1908.
Nation, Nationalismus, Patriotismus
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Michels, Robert: Der Patriotismus, München 1929. Mommsen, Wolfgang J.: Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage, München 1990. Ratzinger, Joseph: Die Einheit der Nationen. Eine Vision der Kirchenväter, Salzburg 1971. Rothfels, Hans: Die Nationsidee in westlicher und östlicher Sicht, Köln 1956. Schieder, Theodor: Der Nationalstaat in Europa als historisches Phänomen, Köln 1964. – Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaats in Europa, in: Historische Zeitschrift 202, 1966, S. 58 – 89. – Staatsgründungen und Nationalitätenprinzip, München 1974. Schwarz, Jürgen: Die nationale Frage in der internationalen Politik und einige Sichtweisen der Katholischen Kirche, in: Norbert Glatzel / Eugen Kleindienst (Hrsg.), Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens. Festschrift für Anton Rauscher, Berlin 1993, S. 603 – 629. Seton-Watson, Hugh: Nations and states. An enquiry into the origins and the politics of nationalism, Boulder / Col. 1977. Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Die Identität der Deutschen, München 1983. Winkler, H. A. (Hrsg.): Nationalismus, Königstein 1978.
Die europäische Integration Von Dietmar Herz
Die Sicherung eines dauerhaften Friedens in Europa nach den beiden verheerenden Weltkriegen war das Hauptziel des europäischen Einigungsprojekts. Deutschland versprach sich, nach dem von den Nationalsozialisten entfesselten Zweiten Weltkrieg, von dieser Einbindung die Wiederaufnahme in die internationale Völkergemeinschaft. Frankreich sah in der wirtschaftlichen Kooperation mit dem großen Nachbarn eine Möglichkeit, diesen besser „kontrollieren“ zu können. Eigenmächtiges nationalstaatliches Handeln und Kriege zwischen den Partnerländern sollten durch Verflechtung unmöglich gemacht werden. Die USA unterstützen die europäische Einigung nachdrücklich. Durch einen europäischen „Block“ sollte auf dem Kontinent ein politisches Gegengewicht zur UdSSR geschaffen werden. Am Anfang der Europäischen Integration stand eine Initiative des französischen Außenministers Robert Schuman, der am 9. Mai 1950 dem deutschen Kanzler Konrad Adenauer den Vorschlag einer engen Zusammenarbeit in den Bereichen der Kohle- und Stahlindustrie machte. Dem Schuman-Plan, der im Wesentlichen vom französischen Spitzenbeamten Jean Monnet konzipiert worden war, lag die Vorstellung zugrunde, dass Zusammenarbeit in einem spezifischen Bereich zu Zusammenarbeit auch in anderen Bereich führen und die wachsende wirtschaftliche Verflechtung in einer unaufhaltsamen europäischen Integration resultieren würde. Die religiöse Vorstellung von der Einheit des Christentums war eine wichtige Basis der frühen europäischen Integration. Schuman, Adenauer und die meisten anderen „Gründerväter“ des gemeinsamen europäischen Hauses waren im Katholizismus fest verwurzelt. Das Christentum bot sich aber auch deshalb als Bezugspunkt an, weil es einen Gegenpol zum antichristlichen Nationalsozialismus bildete und durch seine universalistische Natur nationalistischem Ideengut von jeher ablehnend gegenüberstand. Christlich motivierte Politiker gründeten in den katholisch geprägten Staaten christdemokratische Parteien, die mit einer auf sozialen Ausgleich gerichteten Politik eine Alternative zu sozialistischen Vorstellungen vertraten. Die Katholische Soziallehre wurde so zu einer geistigen Grundlage einer pragmatischen westeuropäischen Wirtschaftspolitik. Am 18. April 1951 wurde von Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden durch den Vertrag von Paris die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet, die am 23. Juli 1952 in Kraft trat. Diese als „Montanunion“ bezeichnete Gemeinschaft schuf zwischen den Mitgliedsländern einen gemeinsamen zollfreien Markt für Kohle und Stahl und unterstellte die Ausgestaltung dieses Marktes der Aufsicht supranationaler Institutionen. Für Deutschland bedeutete dies, dass das Ruhrgebiet, von der Kontrolle und den Sanktionen der Alliierten befreit, zum Motor des deutschen Wiederaufbaus werden konnte.
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Ambitionen, in Europa schnell zur Schaffung einer föderalen politischen Ordnung voranzuschreiten, scheiterten 1954 an der ablehnenden Haltung der Französischen Nationalversammlung zum Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die eine Zusammenarbeit in militärischen Fragen bringen sollte. Die Suezkrise und der Ungarnaufstand zeigten den Mitgliedern der Montanunion allerdings die Notwendigkeit einer noch umfassenderen europäischen Kooperation. Die Integration vollzog sich in kleinen Schritten, wie Jean Monnet dies vorgesehen hatte. Durch die am 25. März 1957 unterzeichneten Römischen Verträge wurden die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG beziehungsweise Euratom) gegründet. Während Euratom die Zusammenarbeit in der zivilen Nukleartechnik regelte, galt der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft der Steigerung des wirtschaftlichen Wohlstandes: durch die Abschaffung von Zollschranken und mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen, die Einführung eines freien Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs, eine gemeinsame Handelspolitik gegenüber Drittländern und die Schaffung europäischer Institutionen. Dabei war Frankreich vordringlich an Regelungen für den Agrarsektor und den Nuklearbereich interessiert, wohingegen Deutschland primär an der Öffnung des französischen Marktes für deutsche Industriegüter gelegen war. Der Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der drei Europäischen Gemeinschaften („Fusionsvertrag“) wurde am 8. April 1965 in Brüssel unterzeichnet und trat am 1. Juli 1967 in Kraft. Der Fusionsvertrag vereinte die Institutionen von EGKS, EWG und Euratom, die jedoch rechtlich selbständig blieben. Man sprach nun von den Europäischen Gemeinschaften oder schlicht von der Europäischen Gemeinschaft, der EG. Prozesse der Vertiefung des Europäischen Einigungswerks wechselten ab mit der Erweiterung der Gemeinschaft: 1973 traten in der „Norderweiterung“ Dänemark, das Vereinigte Königreich und Irland der EG bei. Während das Vereinigte Königreich bei der Gründung der Montanunion noch kein Interesse an einem Beitritt hatte, war mit der Desintegration des Empire im Zuge der Dekolonisierung die Überzeugung gereift, dass die Zukunft des Landes in Europa liege. Ein bereits 1963 gestellter Beitrittsantrag war jedoch von de Gaulle abgelehnt worden, da er die britische Konkurrenz in der EG fürchtete und das Vereinigte Königreich als trojanisches Pferd der USA betrachtete. Die zweite, „Süderweiterung“ genannte Erweiterung brachte den Beitritt Griechenlands (1981) und die Aufnahme Portugals und Spaniens (1986). Die Aufnahme Griechenlands war umstritten, da das Land arm war und ein gespanntes Verhältnis zum NATO-Mitglied Türkei hatte. Die Aufnahme Portugals und Spaniens bedeutete für beide Länder die Überwindung der außenpolitischen Isolation, die trotz des Sturzes des portugiesischen Diktators Caetano in der Nelkenrevolution 1974 und auch nach dem Tod des spanischen Diktators Franco 1975 fortbestanden hatte. Die EG-Mitgliedschaft brachte den neuen südlichen EG-Mitgliedern wirtschaftliches Wachstum und eine Festigung der demokratischen Ordnungen. Bezüglich der Vertiefung der europäischen Einigung gelten die 1970er- und die frühen 1980er-Jahre gemeinhin als Phase der Stagnation. Schon 1965 / 1966 blockierte die französische Regierung aus Protest gegen die geplante Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips im Ministerrat mit der „Politik des leeren Stuhls“ die Sitzungen des Rates und lähmte somit den politischen Entscheidungsprozess. Mit dem „Luxemburger
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Kompromiss“ wurde de facto am Einstimmigkeitsprinzip festgehalten. Weiterreichende Initiativen unterblieben fortan. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft stagnierte, da die Mitgliedsstaaten wieder verstärkt nach ihren nationalen Interessen handelten und nicht bereit waren, Kompetenzen an die EG abzugeben. Neue Ein- und Ausfuhrvorschriften schränkten den freien Warenverkehr ein und schwache Wirtschaftssektoren (insbesondere die Landwirtschaft) wurden von den eigenen Regierungen subventioniert, was das gemeinsame Ziel eines verbesserten Wettbewerbs untergrub. Diese Phase der Stagnation wurde als „Eurosklerose“ bekannt. Das Stocken der europäischen Einigung wurde mit der am 17. Februar 1986 unterzeichneten, vom deutschen Kanzler Helmut Kohl und dem französischen Präsidenten François Mitterand nachdrücklich unterstützten Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) überwunden. Es wurde die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes beschlossen, dessen Ziel die freie Bewegung von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital war. Der Binnenmarkt wurde am 1. Januar 1993 Wirklichkeit. Die deutsche Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990 führte mit dem Beitritt der neuen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zu einer „kleinen“ Ausdehnung der EG. Die Wiedervereinigung warf jedoch die grundsätzliche Frage auf, wie das größere Deutschland in Europa eingebunden werden konnte. Der am 7. Februar 1992 unterzeichnete Vertrag über die Europäische Union („Vertrag von Maastricht“) wurde so zu einem Meilenstein auf dem Wege der Europäischen Integration: Er enthielt neben Änderungen der Römischen Verträge auch den Gründungsakt der Europäischen Union, die nunmehr aus drei Säulen bestand. Die erste Säule bildet die Europäische Gemeinschaft, die zweite die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die dritte umfasst die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit (PJZS). Kern der Änderungen des EG-Vertrages sind Bestimmungen zur Schaffung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion in drei Stufen. Laut Vertrag sollte frühestens zum 1. Januar 1997, spätestens zum 1. Januar 1999 in der EU eine gemeinsame Währung (Euro) eingeführt werden. Um Mitglied in dieser Währungsunion zu werden, muss ein Land bestimmte wirtschaftliche Kriterien erfüllen, die die Stabilität der gemeinsamen Währung garantieren sollen. Diese Konvergenzkriterien bestehen aus finanzpolitischen Kriterien (Defizitquote unter 3 % und Schuldenstandsquote unter 60 % des BIP), einem Inflationskriterium und Zins- und Wechselkurskriterien. Die Erfüllung dieser Kriterien bedeutete automatisch den Beitritt zur gemeinsamen Währung – Großbritannien und Dänemark jedoch behielten sich vor, der Währungsunion nicht beizutreten. Noch vor Einführung der Währungsunion traten 1997 weitere Länder der EU bei: Österreich, Schweden und Finnland. In Schweden und Finnland hatten erfolgreiche Volksentscheide die Unterstützung der Bevölkerung für den Beitritt gezeigt. In Norwegen, dessen Antrag von der EU ebenfalls positiv beschieden worden war, lehnte die Bevölkerung jedoch wie schon 1973 das Ansinnen der eigenen Regierung ab. Eine grundsätzlichere Herausforderung für die Europäische Union war allerdings die Aufnahme der Staaten Mittel- und Osteuropas in die Europäische Union, die nach der Auflösung des kommunistischen Blocks in das Europäische Haus drängten. Letztlich wurde die anfängliche Zögerlichkeit überwunden und Zweifel an der Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union hintangestellt. Es setzte sich die Überlegung durch, dass die Förderung der politischen und wirtschaftlichen Stabilität in Mittel- und Osteuropa etwaige finanzielle und politische Bedenken aufwog. Die „Osterweiterung“ (so genannt
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trotz der beiden „südlichen“ Neumitglieder aus der Mittelmeerregion) wurde nach einem langwierigen Verhandlungs- und Beitrittsprozess am 1. Mai 2004 vollzogen. Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern wurden Mitglieder der Europäischen Union. Zwei „Nachzügler“ wurden in einer fünften Erweiterungsrunde aufgenommen: Am 1. Januar 2007 traten Bulgarien und Rumänien der EU bei. Diese Erweiterungen veränderten nicht nur die Zusammensetzungen der Europäischen Union grundlegend, sie warfen stets die Frage auf, wie das ursprünglich für sechs Mitglieder geschaffene Institutionensystem der Europäischen Union einer Zahl von 27 Mitgliedern gerecht werden sollte. Die Reformbilanz der EU gilt in diesem Bereich nicht als gut. Der Vertrag von Amsterdam von 1997, der am 1. Mai 1999 in Kraft trat, sollte insbesondere die außenpolitische Handlungsfähigkeit der erweiterten Europäischen Union stärken. Zwar wurden im Bereich der Zusammenarbeit in der Migrationsund Integrationspolitik weitgehende Fortschritte erzielt, doch wurden die außenpolitischen Ziele verfehlt. So wurde am 11. Dezember 2000 der Vertrag von Nizza unterzeichnet, der am 1. Februar 2003 in Kraft trat. Die wichtigsten Änderungen bestanden darin, dass das Abstimmungsverfahren der qualifizierten Mehrheit in vielen Fällen den Modus der Einstimmigkeit ersetzt. Die institutionellen Änderungen durch den Vertrag von Nizza gelten jedoch gemeinhin als noch immer völlig unzureichend. Eine wirkliche Vertiefung der Europäischen Integration sollte daher ein europäischer Verfassungsvertrag bringen. Die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten beriefen im Dezember 2001 einen Europäischen Konvent unter Leitung des ehemaligen französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing ein. Der Verfassungsvertrag wurde am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet und sollte am 1. November 2006 in Kraft treten. Dieser Vertrag, der den EG- und den EU-Vertrag ablösen würde, ist darauf ausgelegt, der EU, die auf den unübersichtlichen Konvoluten der verschiedenen Verträge aufbaut, eine einheitliche Struktur und Rechtspersönlichkeit zu geben. Kompetenzen sollten klarer abgesteckt und die Entscheidungsstrukturen – zum Beispiel durch Einschränkung von Einstimmigkeitsentscheidungen – effizienter und demokratischer gestaltet werden. Volksabstimmungen in den Mitgliedsstaaten brachten das Projekt einer europäischen Verfassung in gravierende Schwierigkeiten. Am 29. Mai 2005 lehnten 54,8 % der Franzosen den Verfassungsvertrag ab. In den Niederlanden scheiterte die Ratifizierung der Verfassung ebenfalls. Daraufhin verschoben Großbritannien und andere Mitgliedsstaaten die Ratifizierung auf unbestimmte Zeit. Der als Zwischenlösung konzipierte „Vertrag von Lissabon“, der viele Reformen des Verfassungsvertrages übernahm, wurde im Frühjahr 2008 ebenfalls in einem Referendum in Irland abgelehnt. Die europäischen Regierungen bemühen sich seither, die Essenz des Vertrages zu erhalten.
Die Organe der Europäischen Union Der Europäische Rat ist das wichtigste Gremium der Europäischen Union, formal jedoch keines ihrer Organe. Er setzt sich zusammen aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer, deren Außenministern sowie dem Präsidenten der Europäischen Kommission, wobei der Kommissionspräsident und die Außenminister, die die Treffen vorbereiten, nur beratende Funktion haben. Der Europäische Rat hat innerhalb
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des politischen Systems der EU die Richtlinienkompetenz, das heißt, er legt die Leitlinien und Ziele der EU-Politik fest. Der Vorsitz im Europäischen Rat wechselt halbjährlich zwischen den EU-Mitgliedsländern; den Vorsitz im Europäischen Rat hat dabei das Land, das auch den Vorsitz im Rat der Europäischen Union innehat. Den Europäischen Rat gibt es seit 1974. Er tagte ursprünglich zweimal pro Jahr („EU-Gipfel“), heute hingegen in der Regel viermal jährlich. Entscheidungen werden im Konsens getroffen. Die Europäische Kommission ist ein von den Mitgliedsstaaten unabhängiges und supranationales Organ der Europäischen Gemeinschaften. Die 27 Kommissare dienen ihrem Auftrag nach der Union als Ganzes, nicht ihren jeweiligen Herkunftsstaaten. Die Kommission wird von einem Präsidenten geleitet, der vom Europäischen Rat vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament durch einfache Mehrheit bestätigt werden muss. Dieser wählt dann die anderen Kommissare aus den Vorschlagslisten der Mitgliedsländer. Jedes Mitgliedsland stellt faktisch einen Kommissar, obwohl es diesbezüglich keine Vorschriften gibt. Im institutionellen Gefüge der Europäischen Union hat die Kommission exekutive und legislative Funktionen. Als Exekutivorgan ist die Kommission die „Hüterin der Verträge“ und sorgt gemeinsam mit dem Europäischen Gerichtshof für die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts. Die Kommission vertritt die EU auf internationaler Ebene bei Verhandlungen. Bezüglich der Legislative besitzt die Kommission allein das Initiativrecht in der EU-Gesetzgebung und kann Rechtsakte (Richtlinien, Verordnungen, Entscheidungen) vorschlagen, die sie dem Europäischen Parlament und dem Rat der EU unterbreitet. Die Kommission tagt in Brüssel und Straßburg. Sie versteht sich als dynamische Verwaltung und hat in vielen Fällen die Rolle eines Integrationsmotors übernommen. Der Rat der Europäischen Union wird auch als „Ministerrat“ bezeichnet, weil er sich – je nach zu beratendem Politikfeld – aus den entsprechenden Fachministern der Mitgliedsstaaten zusammensetzt. Es gibt neun verschiedene Zusammensetzungen des Rates; so bilden die Wirtschafts- und Finanzminister beispielsweise den Rat „Wirtschaft und Finanzen“. Dennoch handelt es sich bei allen neun Zusammensetzungen um nur ein Organ. Je nach Politikfeld werden Entscheidungen einstimmig oder durch qualifizierte Mehrheit getroffen. Den Vorsitz hat der Präsident des Rats der Europäischen Union. Der Ministerrat fungiert zusammen mit dem Europäischen Parlament als Legislative der EU, die in ihrer Zusammensetzung einem Zweikammersystem entspricht. Obwohl der Ministerrat formal der Gemeinschaft als solcher verpflichtet ist, repräsentieren die Minister natürlich die Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten. Da der Ministerrat internationale Verträge abschließt, ist er auch Teil der Exekutive. Der Generalsekretär des Rats ist zugleich Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und fungiert gewissermaßen als „Außenminister“ der EU (der Verfassungsentwurf sah die formale Ausstattung dieser Position mit den entsprechenden Befugnissen vor). Das Europäische Parlament ist der zweite Teil der Legislative der Europäischen Union. Es wird seit 1979 alle fünf Jahre direkt von den Bürgern der Mitgliedsstaaten gewählt und repräsentiert innerhalb der Legislative die Bevölkerung der EU (von 1952 bis 1979 wurden die Abgeordneten von den Parlamenten der Mitgliedsstaaten bestimmt). Zusammen mit dem Rat fungiert das Parlament auch als Haushaltsbehörde der EU und kontrolliert die Kommission insofern, als es der Ernennung der Kommissare mit 2 / 3-Mehrheit zustimmen muss und durch ein Misstrauensvotum den Rücktritt der gesamten Kommission erzwingen kann. Das Europäische Parlament hat derzeit 782
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Mitglieder. Die Abgeordnetenzahl der einzelnen Mitgliedsländer richtet sich nach deren Bevölkerungsgröße, wobei kleinere Länder jedoch überproportional vertreten sind. Der Sitz des Europäischen Parlaments ist Straßburg, getagt wird zudem aber auch in Brüssel. Das Generalsekretariat des Parlaments, das für Dienste wie Übersetzungen und die Klärung juristischer Fragen zuständig ist, hat seinen Sitz in Luxemburg. Das EU-Parlament ist eine der treibenden Kräfte der europäischen Integration. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist das oberste Gericht, also das rechtsprechende Organ der EU. 1989 wurde zudem das Europäische Gericht erster Instanz eingerichtet, das dem EuGH vorgeschaltet ist und diesen von der Flut der anhängigen Verfahren entlasten sollte. Beide Gerichtshöfe bestehen aus je einem Richter pro Mitgliedsstaat; im Dreijahresturnus werden die Richterämter durch die Regierungen der Mitgliedsstaaten teilweise neu besetzt. Der EuGH wird von neun Generalanwälten unterstützt, die auf sechs Jahre ernannt werden. Der Europäische Rechnungshof (EuRH) wurde 1975 geschaffen und zeichnet verantwortlich für die Rechnungsprüfung sämtlicher Einnahmen und Ausgaben der Europäischen Union. Seine 27 Mitglieder – eines aus jedem Mitgliedstaat – werden vom Rat der Europäischen Union für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt. Die ca. 760 Mitarbeiter des EuRH führen (unangekündigte) Prüfbesuche durch bei anderen EU-Organen, in den Mitgliedsstaaten sowie in Drittländern, die EU-Hilfen erhalten. Jedoch kann der EuRH Verstöße nicht selbst rechtlich sanktionieren, sondern nur über diese informieren. Die Europäische Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt am Main wurde 1998 im Rahmen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion geschaffen, als deren Währungsbehörde sie fungiert. Zusammen mit den nationalen Zentralbanken bildet sie das Europäische System der Zentralbanken. Ihre wichtigste Aufgabe ist die Wahrung der Preisstabilität. Im Rahmen des Europäischen Systems der Zentralbanken legt sie die Leitzinsen fest, sie ist für die Durchführung von Devisengeschäften verantwortlich, verwaltet die Währungsreserven und ist insbesondere auch mit der ausreichenden Versorgung der Wirtschaft mit Geld beauftragt, um den reibungslosen Ablauf des Zahlungsverkehrs zu sichern. Der Ausschuss der Regionen (AdR), der 1994 durch den Vertrag von Maastricht geschaffen wurde, ist ein beratendes Organ der EU, das die drei Gemeinschaftsorgane Kommission, Rat und Parlament ergänzt und den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Mitgliedsstaaten fördern soll. Der Ausschuss soll garantieren, dass die Regionen im Rahmen der EU mit ihren Bedenken und spezifischen Interessen Gehör finden. Er vertritt die regionalen und kommunalen Gebietskörperschaften Europas und besteht derzeit aus 344 Mitgliedern; diese werden von den Regierungen der Mitgliedsstaaten vorgeschlagen, aus denen sie sich entsprechend der Bevölkerungsgröße ungefähr proportional rekrutieren. Literaturverzeichnis Hartmann, Jürgen: Das politische System der Europäischen Union. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2001. Herz, Dietmar: Die Europäische Union. Politik, Recht und Wirtschaft, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2000. Herz, Dietmar / Jetzlsperger, Christian: Die Europäische Union, 2. Aufl. München 2008.
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Migration Von Klaus J. Bade Migration (von lat. „migratio“, d. h. Aus- / Abwanderung) meint als Oberbegriff in der Regel die längerfristige, räumlich größere Verlagerung von Lebensschwerpunkten von Individuen, Gruppen oder Bevölkerungen. Migration ist ein Konstituens der conditio humana wie Geburt, Vermehrung, Krankheit und Tod. Die Geschichte der Wanderungen ist so alt wie die Menschheitsgeschichte; denn der Homo sapiens hat sich als Homo migrans über die Welt ausgebreitet. Wanderungen sind Teil der allgemeinen Geschichte und nur vor ihrem Hintergrund zu verstehen; denn Migrationen als gesellschaftliche Erscheinungen waren und sind, in Geschichte und Gegenwart, Antworten auf mehr oder minder komplexe ökonomische und umweltbedingte, soziale und kulturelle, aber auch religiöse, konfessionelle, weltanschauliche, ethnische und politische Existenz- und Rahmenbedingungen. Das zeigt als Beispiel ein knapper Überblick über verschiedene und unterschiedlich bedingte Wanderungen über die deutschen Grenzen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart.1 I. Migration als historische Erfahrung – das Beispiel Deutschland Einwanderer als Entwicklungshelfer: Frühe Einwanderer waren z. B. die Niederländer, Hugenotten, Waldenser und Salzburger, die im Alten Reich als Glaubensflüchtlinge aufgenommen wurden. Sie waren oft so begehrt, dass geradezu von einer Art konfessionsbedingtem Technologietransfer gesprochen werden könnte. Die Eingliederung der Fremden wurde, trotz vieler Reibungen im Alltag, entschieden erleichtert durch das eigene Interesse am Neuen von außen. Kontinentale Auswanderung: Frühe kontinentale Auswanderer aus dem deutschsprachigen Raum waren z. B. die Vorfahren jener Siebenbürger Sachsen im heutigen Rumänien, deren Ansiedlung im damaligen Königreich Ungarn zurückreicht bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts. „Sachsen“ wurden sie von ihren ungarischen Nachbarn genannt. Sie kamen aber vorwiegend von Rhein und Mosel. Seit dem 18. Jahrhundert rückten aus dem deutschsprachigen Raum andere Siedlergruppen nach: aus dem südwestdeutschen, aber auch aus dem mitteldeutschen Raum die „Banater Schwaben“, aus dem Oberschwäbischen und dem Badischen die „Sathmarer Schwaben“. Aber auch andernorts in Südost-, Ostmittel- und Osteuropa hatten die Deutschen lange mit besonderen Privilegien ausgestattete Siedlungsgebiete. Viele Spuren erloschen erst im Jahrhundert der Weltkriege: durch Zwangsumsiedlung, durch kulturelle Repression und zuletzt durch die Ausreise derer, die heute als „Aussiedler“ nach der Heimat der Vorfahren suchen, um hier als „Deutsche unter Deutschen“ zu leben. 1
Zum Folgenden: Bade, Deutsche im Ausland; Bade u. a., Enzyklopädie Migration.
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Überseeische Auswanderung: Der kontinentale Oststrom trat in den 1830er-Jahren zurück hinter den säkularen Weststrom der überseeischen Massenauswanderung: Von den Hungerjahren 1816 / 17 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 brachte der transatlantische Exodus rund 5,5 Millionen Deutsche allein in die Vereinigten Staaten. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Auswanderung den Bevölkerungsdruck in Deutschland um rund fünf Millionen Menschen verringert. Die Spannung zwischen Bevölkerungswachstum und Erwerbsangebot wurde aufgefangen durch das rapide Wirtschaftswachstum im hochindustriellen Kaiserreich. Anfang der 1890er-Jahre ging die überseeische Auswanderung scharf zurück. Deutschland als Transitland: Nachgerade umgekehrt proportional zum Steilabsturz der deutschen Massenauswanderung stieg Anfang der 1890er-Jahre die ost- und südosteuropäische Amerika-Auswanderung zur Massenbewegung auf. Bis zum Ersten Weltkrieg passierten mehr als fünf Millionen Auswanderer aus Russland (besonders Polen und Juden) und aus Österreich-Ungarn das Reich auf dem Weg zu den Seehäfen. Die meisten schifften sich in Hamburg und Bremen bzw. Bremerhaven in die Vereinigten Staaten ein. Vom Auswanderungsland zum „Arbeitseinfuhrland“: Im kaiserlichen Deutschland, das weltwirtschaftlich an die Spitze drängte, kehrte sich die Angebot-Nachfrage-Spannung auf dem Arbeitsmarkt im späten 19. Jahrhundert geradewegs um: „Leutenot“ in der Landwirtschaft, „Arbeiternot“ in Industrie, Straßen- und Kanalbau steigerten seit den 1890erJahren die Saisonwanderungen „ausländischer Wanderarbeiter“ nach Deutschland zur Massenbewegung. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs gab es nach amtlichen Schätzungen rund 1,2 Millionen „ausländische Wanderarbeiter“ im Reich. Die wichtigsten Gruppen stellten Polen (Zentralpolen / Galizien) und Italiener. Die meisten arbeiteten in Preußen. Von „Wanderarbeitern“ zu „Fremdarbeitern“ als Arbeitssklaven: In der Weimarer Republik lief die Ausländerbeschäftigung auf niedrigerem Niveau fort und endete fast ganz zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Sie nahm auch im nationalsozialistischen Deutschland 1933 – 1938 zunächst nur verhalten zu. Seit 1939 hingegen mündete sie in die bald millionenfache Sklaverei von deportierten „Fremdarbeitern“ und Kriegsgefangenen im „Ausländer-Einsatz“ der NS-Kriegswirtschaft. Die überlebenden Opfer stellten nach Kriegsende das Gros der zehn bis zwölf Millionen „Displaced Persons“ (DPs). Flucht- und Zwangswanderungen: Das Land, das in seiner Geschichte oft fremden Flüchtlingen Aufnahme bot, zwang selber viele zur Erfahrung der Fremde durch Fluchtund Zwangswanderungen. Das galt im 19. Jahrhundert z. B. für die „Demagogenverfolgungen“ nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 und für die Flucht verfolgter Revolutionäre von 1848 / 49, die man in den USA, aber auch in Australien „Forty-Eighters“ nannte. Das alles geriet nach 1933 in den historischen Schatten der politisch, weltanschaulich und rassenideologisch bedingten Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland, die weltweit in mehr als 80 Emigrationsländer führte, unter denen schließlich die Vereinigten Staaten am wichtigsten wurden. Im Zweiten Weltkrieg folgten Fluchtwanderungen und Zwangsumsiedlungen aus den im Hitler-Stalin-Pakt 1939 den jeweiligen Interessensphären zugeschlagenen Gebieten, Zwangsumsiedlungen, Vertreibungen und Deportationen im von Deutschland besetzten Europa während des Zweiten Weltkriegs (z. B. „Warthegau“), aber auch auf der sowjetischen Seite (z. B. „Wolgarepublik“). Am Ende standen Lagerhaft, Zwangsarbeit und Wiedereingliederung der
Migration
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deutschen Kriegsgefangenen und, noch in den 1950er-Jahren, der „Spätheimkehrer“ aus der Sowjetunion, vor allem aber die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. „Übersiedlung“ und Flucht aus SBZ und DDR: In der DDR dominierten nicht Zuwanderung und Eingliederung, sondern Abwanderung und Ausgliederung durch Übersiedlung oder Flucht in den Westen. Die Zuwanderung aus SBZ und DDR wurde im Kalten Krieg vom Westen begrüßt; denn „Flucht aus dem kommunistischen Machtbereich“ war Abstimmung mit den Füßen in der Konkurrenz der Systeme und wünschenswerter Arbeitskräftezufluss zugleich. In der DDR hingegen war der illegale Weg in den Westen als „Republikflucht“ ein Straftatbestand und wurde amtlich sowie in der öffentlichen Diskussion nach Möglichkeit ebenso tabuisiert wie die mit Rücksicht auf die östlichen Nachbarn als „Umsiedlerproblematik“ verharmloste Vertriebenenintegration. „Gastarbeiter“ und Einwanderer: Der deutsch-italienische Vertrag von 1955 gab den Auftakt zur amtlich organisierten Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte ins Land des „Wirtschaftswunders“. Nach dem Mauerbau und dem damit verbundenen Ende des Zustroms aus der DDR 1961 wurde die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte umso mehr forciert. Bis zum „Ölpreisschock“ von 1973 und dem dadurch ausgelösten „Anwerbestopp“ dauerte die Anwerbung im Westen. Rund 14 Millionen kamen in dieser Zeit, etwa elf Millionen davon kehrten zurück. Der Rest blieb, zog die Familien nach und lebte zum Großteil schon in den späten 1970er-Jahren in einem gesellschaftlichen Paradox – einer Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland. Auch in der DDR gab es, in geringem Umfang, Ausländerbeschäftigung auf der Grundlage von Regierungsabkommen. Die Ausländer stammten hier zuletzt vorwiegend aus Vietnam und Mosambik. Sie schufteten, wie die „Gastarbeiter“ im Westen, meist in den am wenigsten geschätzten Beschäftigungsfeldern mit den härtesten Arbeitsbedingungen, z. B. zu drei Vierteln im Schichtdienst. Asylsuchende und andere Flüchtlinge: Die Antwort der Nachkriegsdeutschen im Westen auf die Aufnahme – aber auch Nichtaufnahme – deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933 – 45 war die berühmte Botschaft der vier Worte in Artikel 16 GG: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Das weltweit offenste Asylrecht sollte allen, die glaubten, Anspruch darauf anmelden zu können, bis zur Entscheidung über ihren Antrag sicheren Aufenthalt geben. Mit zunehmender Inanspruchnahme dieses Rechts durch Flüchtlinge aus aller Welt wuchs die Tendenz zunächst zu seiner Einschränkung in der Praxis und schließlich 1993 zur Einschränkung des Grundrechts selbst. Seit der Grundrechtsänderung von 1993 hat in aller Regel keine Chance mehr auf Asyl, wer aus „verfolgungsfreien“ Ländern stammt oder über sogenannte „sichere Drittstaaten“ einreist, mit denen sich Deutschland lückenlos umgeben hat. Aussiedler – deutsche Einwanderer aus Osteuropa: Im Westen überdauerte die Zuwanderung von „Aussiedlern“ aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa das Ende der Vertreibungen: Fast 1,6 Millionen passierten 1951 – 88 die Grenzdurchgangslager, bis heute zugewandert sind insgesamt ca. 4,5 Millionen Aussiedler bzw. Spätaussiedler, wie sie seit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 genannt werden. Die Aussiedlerzuwanderung ist eine Art „Rückwanderung“ über Generationen hinweg. Die Vorfahren sind teils vor Generationen, teils schon vor Jahrhunderten oder, wie im Falle der „Siebenbürger Sachsen“, sogar schon im Spätmittelalter ausgewandert – in Zeiten mithin, in
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denen es ein „Deutschland“ noch gar nicht gab. Anerkannte „Aussiedler“ haben im Sinne des Kriegsfolgenrechts zwar Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit mit allen Rechten und Pflichten. Sie sind aber kulturell, mental und sozial zugleich auch echte Einwanderer. Juden aus Osteuropa – Inklusion und Akzeptanz: Relativ jung erst ist die Zuwanderung von Juden aus Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion ins Land des Holocaust. Die Zuwanderung von Juden hatte in der Zeit der Agonie der DDR zwischen dem Untergang des SED-Regimes Anfang November 1989 und der Vereinigung mit der BRD im Oktober 1990 begonnen. Die ersten 8 500 jüdischen Einwanderer, die schließlich im vereinigten Deutschland 1991 als Kontingentflüchtlinge anerkannt wurden, mit einem Status also, der annähernd demjenigen der Asylberechtigten entspricht, waren seit April 1990 in die noch existierende DDR eingereist. Von der Öffnung des Eisernen Vorhangs bis Ende 2004 sind insgesamt rund 220 000 Juden aus der Sowjetunion bzw. der GUS in Deutschland eingetroffen. 2003 bis 2005 hat Deutschland jährlich mehr Juden aufgenommen als der Staat Israel. Roma aus Osteuropa – Exklusion und Deportation: Dass in der Bundesrepublik Schuldgefühle wegen nationalsozialistischer Massenverbrechen nicht bei der Behandlung aller davon betroffenen Minderheiten wirken, zeigte das Schicksal der zugewanderten Roma. Die Erinnerung, dass Sinti und Roma vom Holocaust nach den Juden zahlenmäßig am stärksten betroffen waren, bot hier keine Brücke nach Deutschland: Nach amtlichen Schätzungen gab es von Anfang 1990 bis zum Inkrafttreten des neuen Asylrechts am 1. Juli 1993 ca. 250 000 Romaflüchtlinge in Deutschland, vor allem aus Rumänien, aber auch aus Jugoslawien und Bulgarien. Ihre Behandlung zeigte ein strenges Gegenbild zu derjenigen von Aussiedlern und Juden aus Osteuropa: Exklusion, Zwangsrepatriierung bzw. amtlich geschönte Deportation zurück in Länder, in denen sie, wie z. B. in Rumänien, mindestens ebenso ausgekreist waren wie Juden in der GUS. Illegale Zuwanderungen bzw. Inlandsaufenthalte: Abwehrmaßnahmen gegen Asylsuchende haben nicht nur die Asylbewerberzahlen gesenkt und den Transitverkehr von Asylsuchenden durch Deutschland in andere europäische Länder verstärkt. Sie haben auch die Zahl der illegalen bzw. irregulären Inlandsaufenthalte erhöht, die in Deutschland nach phantasievollen Schätzungen auf 500 000 bis 1 000 000 veranschlagt werden. Die wichtigsten Formen sind Überschreiten der Aufenthaltsgenehmigung nach legaler Einreise, illegaler Grenzübertritt und Abtauchen nach dem Eintreffen von Ausreiseaufforderung oder Abschiebungsandrohung. Illegalität ist eine manifeste Herausforderung im internationalen Migrationsgeschehen geworden. Die „Lösung“ liegt nicht im Bereich nationaler, internationaler und supranationaler Sicherheitspolitik, sondern im Spannungs- und Aufgabenfeld von Migration und Entwicklung. Die Beispiele zeigen, wie vielgestaltig die Erfahrungen mit Migration, Integration, aber auch mit Desintegration, mit Eingliederung und Ausgrenzung in Geschichte und Gegenwart in einem einzigen Raum in der Neuzeit sein konnten.
II. Migration als Forschungsaufgabe Weil Migration in Geschichte und Gegenwart nachgerade alle Lebensbereiche durchdringt, braucht Migrationsforschung inter- und transdisziplinäre Forschungsansätze. Sie
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reichen in fast alle Humanwissenschaften hinein und zum Teil auch darüber hinaus. Das gilt für die gegenwartsbezogene empirische Migrationsforschung2 ebenso wie für die historische Migrationsforschung.3 Migrationsforscher sind mit einem außerordentlich komplexen Spektrum gesellschaftlicher Wirklichkeit konfrontiert: Zum einen bewegen sich nicht nur Menschen über Grenzen, sondern auch Grenzen über Menschen.4 Zum anderen ist jede bloße „Ordnung“ von Migrationsprozessen schon in hohem Grade stilisierende Abstraktion, weil viele Formen und Muster des Wanderungsgeschehens, aber auch des Wanderungsverhaltens fließende Grenzen haben bzw. in Wechselbeziehungen zu anderen stehen. Das Beobachtungsfeld der Migrationsforschung hat deshalb eine große Spannweite: Bei der Frage nach Bestimmungskräften bzw. wanderungsbestimmenden Motivationen kann man, neben anderen Formen und Motivationen, z. B. wirtschaftlich und beruflichsozial motivierte Migrationen eingrenzen und innerhalb dieses Feldes wiederum Erwerbsmigrationen als Existenznotwendigkeit (subsistence migration) oder als Verbesserungschance (betterment migration) von Migrationen zu Qualifikations- bzw. Ausbildungszwecken oder innerhalb von Firmenfilialen (career migration) unterscheiden.5 Von Verlust bzw. Zerstörung der wirtschaftlichen Existenzgrundlagen – mithin letztlich ebenfalls wirtschaftlich bedingt – sind aber z. B. auch jene Überlebenswanderungen gekennzeichnet, für die das späte 20. Jahrhundert den Sammelbegriff „Umweltflucht“ geprägt hat. Von so motivierten Migrationen kann man wiederum religiös, konfessionell, weltanschaulich, politisch, ethno-nationalistisch oder rassistisch bedingte Fluchtund Zwangswanderungen abgrenzen. Dazu zählen auch die Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen des 20. Jahrhunderts, bei denen die Bewegung von Menschen über Grenzen häufig die Folge der Bewegung von Grenzen über Menschen war. Von entscheidender Bedeutung nicht nur für die kritische Beurteilung von Wanderungsbewegungen, sondern auch für die Einsicht in das oft weniger angestrebte als verordnete Schicksal vieler Migranten und ganzer Migrationsbewegungen ist das Wissen um die Tatsache, dass Begriffe und Zuordnungen wie „Auswanderer“ bzw. „Einwanderer“, „Arbeitswanderer“ und „Wirtschaftswanderer“ oder „Flüchtlinge“ und „Asylsuchende“ in der Geschichte wie in der Gegenwart durch staatliche Verwaltungs- bzw. Steuerungsinteressen oder – ebenfalls auf distinktive Ordnungskriterien angewiesene – wissenschaftliche Erkenntnisinteressen geleitete Zuschreibungen von Migranteneigenschaften sind, die mit den in der Regel „multiplen Migrantenidentitäten“ 6 oft wenig zu tun haben. Auf der Zeitachse reicht das Feld der Migrationsforschung von Längsschnittdarstellungen bzw. Langzeitstudien zu einzelnen Wanderungsbewegungen bis hin zu Querschnittanalysen mittlerer Reichweite durch das gesamte zeitgleiche Wanderungsgeschehen in einem Raum bzw. über seine Grenzen. Unterschiedliche disziplinäre Zugänge und verschiedene Gewichtungen bei interdisziplinären Zugängen eröffnen ein unterschiedliches Verständnis von Migrationsbewegungen. Aus sozial- und kulturwissenEinführungen u. a.: Hoffmann-Nowotny, Migrationssoziologie; Treibel, Migration. Einführungen und Gesamtdarstellungen u. a.: Lucassen / Lucassen, Migration; Bade, Europa in Bewegung; ders., Sozialhistorische Migrationsforschung; Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert. 4 Hierzu: Bade, Grenzerfahrungen. 5 Tilly, Migration in Modern European History. 6 Castles / Miller, The Age of Migration, S. 297. 2 3
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schaftlicher Sicht wird Migration zunehmend als ein ganzheitlicher Entwicklungs- und Erfahrungszusammenhang verstanden. Er lässt sich z. B. nicht etwa im Sinne von Wanderungsstatistik oder Reisegeschichte auf die punktuellen Ereignisse von Abwanderung (Abmeldung / Abreise) bzw. Zuwanderung (Ankunft / Anmeldung) und auf die dazwischen liegende räumliche Bewegung bzw. Reisezeit reduzieren. Auch „Einwanderung“ wird in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive, im Gegensatz z. B. zu rechtswissenschaftlichen Beschreibungen, nicht als ein punktuelles Ereignis bzw. als Rechtsakt, nämlich als Erwerb der Staatsangehörigkeit einschließlich des Absolvierens der dazu nötigen Vorleistungen im Einwanderungsland, verstanden, sondern als ein langfristiger, von Akkulturation / Integration gegebenenfalls bis hin zu Assimilation reichender Sozial- und Kulturprozess. Neben die „klassischen“ Ansätze der an der Bewegung in geographischen Räumen orientierten Migrationsforschung und in Überschneidung mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen sind in den 1990er-Jahren neuere Ansätze getreten, in deren Zentrum die Frage nach der Bewegung und Positionierung von Migranten in sozialen Räumen steht. Am wichtigsten sind hier die Konzepte, die unter dem „Schirmbegriff“ („umbrella term“) „Transnationalismus“ zusammengefasst werden. Den Hintergrund bildet die seit dem späten 20. Jahrhundert und besonders im Zeichen der Globalisierung beschleunigte Herausbildung transnationaler Strukturen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.7 Methodisch und methodologisch nützliche Perspektiven hat schließlich auch die – gelegentlich etwas modisch überreizte und im Licht der Forschungsgeschichte ebenfalls nicht ganz so neu wirkende – Diaspora-Forschung beigetragen.8 Migrationsforschung hat vor allem drei grundlegende Aufgaben: Die erste Aufgabe ist es, das Wanderungsgeschehen zu untersuchen im Blick auf Volumen, Verlaufsformen und Strukturen. Die zweite Aufgabe der Migrationsforschung ist es, das Wanderungsverhalten zu untersuchen und nach Möglichkeit zu differenzieren. Die dritte Aufgabe der Migrationsforschung ist es, Wanderungsgeschehen und Wanderungsverhalten einzubetten in die Entwicklung von Bevölkerung und Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie von geographischen und sozialen Ausgangs- und Aufnahmeräumen. Dabei geht es besonders: 1. um die Bestimmungsfaktoren und Entwicklungsbedingungen des Wanderungsgeschehens auf beiden Seiten; 2. um die daraus resultierende Spannung zwischen beiden Seiten9 und deren Rückwirkungen auf Wanderungsverhalten und Wanderungsgeschehen; 3. um die Folgen des Wanderungsgeschehens für beide Seiten, d. h. für die durch Einwanderung mehr oder minder spürbar veränderten Aufnahmegesellschaften und für die im Auswanderungsraum zurückgebliebenen, aber durch die Auswanderung ebenfalls mehr oder minder spürbar veränderten Herkunftsgesellschaften. Solche weitreichenden Zielvorgaben im Aufgabenfeld der Migrationsforschung sind nicht als jeweils konkret einlösbares Forschungsprogramm zu verstehen. Sie geben nur heuristische Fluchtpunkte in einem weitgespannten Orientierungsnetz. Es soll dazu beitragen, bei der in aller Regel nötigen Konzentration auf Einzelaspekte die Vielschichtigkeit der Ereignis- und Problemzusammenhänge transparent zu halten und perspektivischer Verkürzung und tendenziell monokausaler Interpretation zu wehren. 7 8 9
Kritische Auseinandersetzung mit den Transnationalismus-Ansätzen: Bommes, Mythos. Cohen, Global Diasporas. Zuerst hierzu: Hoffmann-Nowotny, Migration.
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Trotz solch umfassender Aufgabenstellungen und trotz der Tatsache, dass die Bewegung der Bevölkerung in einem Raum und über seine Grenzen in der Tat zu den „bewegendsten“ Momenten der Geschichte zählt, ist Migrationsforschung keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin, sondern eine in einem neuen Wissenschaftsverständnis teils interdisziplinäre, teils transdisziplinäre Forschungsrichtung: Interdisziplinär ist Migrationsforschung dort, wo verschiedene mit dem Thema befasste Disziplinen und Forschungsrichtungen der Humanwissenschaften unterschiedliche – oft ihrerseits mehr oder minder interdisziplinär vorgeprägte – Teilaspekte und Fragestellungen beitragen. Transdisziplinär ist sie dort, wo es um nicht nur Fächergrenzen überschreitende, sondern quer zu den Disziplinen liegende Problemstellungen geht. Migrationsforschung kann und muss hier als „boundary object“ einer hochkomplexen Gemengelage fundiert und betrieben werden, damit die Komplexität der von ihr fokussierten Problemlagen nicht durch die Problemverwaltung in Gefäßen etablierter disziplinärer Traditionen wissenschaftsorganisatorisch reduziert bzw. deformiert wird. Im internationalen Vergleich gibt es in der Migrationsforschung starke Unterschiede in Bedeutung, Intensität und Schwerpunktsetzungen. Das hat mit dem unterschiedlichen kulturellen Erinnerungs- bzw. Erfahrungsgewicht des Phänomens und Problems Migration in den einzelnen Forschungslandschaften zu tun und damit, ob und inwieweit historische Migrationserfahrungen im kollektiven Gedächtnis oder sogar in den Gründungsmythen erhalten geblieben sind und welche Inhalte in diesen kollektiven Erinnerungen dominieren. Hinzu kommt die Bedeutung aktueller Problemperzeptionen im Migrationsgeschehen. In den „klassischen“ Einwanderungsländern hat das Thema „Einwanderung“ in der Regel eine nachhaltige Erinnerungstradition, die durch die aktuelle Erfahrung der Einwanderung neu stabilisiert wird, trotz aller „Umwertungen“ historischer Erinnerungen in der Konfrontation mit aktuellen Erfahrungen. Diese Erinnerungstradition zum Thema „Einwanderung“ ist hier bedeutend stärker und kontinuierlicher als diejenige zum Thema „Auswanderung“ in den früheren europäischen Auswanderungsländern, in denen die Auswanderung zwar bis heute nicht an ihr Ende gekommen, aber eben doch kaum mehr alltägliche Erfahrungsdimension oder gar „Mainstream-Thema“ ist, von der grenzüberschreitenden Elitenwanderung einmal abgesehen. Aktuelle Herausforderungen durch den Wandel Europas vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent haben im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts das Interesse an Migrationsforschung neu forciert. Zuweilen ging es dabei auch darum, anhand von „abgeschlossenen“ – und damit immer „historischen“ – Migrationsprozessen Dauer und Probleme aktueller Migrationsprozesse besser einschätzen zu lernen. Dabei ergab sich, über alle damit verbundenen inter- und transdisziplinären, insbesondere theoretischen, aber auch semantischen Verständigungsprobleme hinweg, eine stets enger werdende Kommunikation zwischen empirisch-gegenwartsorientierten und sozial- und / oder kulturhistorischen Richtungen der Migrationsforschung. Es gab aber auch den umgekehrten Weg, nämlich die Einbeziehung von ehemals empirisch-soziologischen Forschungsergebnissen durch die sozial- und kulturhistorische Migrationsforschung im Sinne einer Art retrospektiven Interdisziplinarität, die in der Entstehungszeit der entsprechenden Forschungsergebnisse kaum möglich gewesen wäre.
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III. Migration als politische Herausforderung Im langen, im Spiegel der Wanderungssalden erst in den 1960er-Jahren endgültig vollzogenen Wandel vom Aus- zum Einwanderungskontinent Europa trat im späten 20. Jahrhundert an die Stelle der im 19. Jahrhundert verbreiteten ökonomistischen bzw. kulturalistischen Klagen über „Wanderungsverluste“ durch – vorwiegend überseeische – Auswanderungen die Angst vor wachsendem „Wanderungsdruck“ durch interkontinentale Süd-Nord- und kontinentale Ost-West-Wanderungen.10 Die weltweiten Wanderungen, die sich im Zeitalter der Globalisierung und der globalen Vernetzung von Medien und anderen Informationssystemen verstärkten, blieben zumeist in den Ausgangsregionen und erreichten Europa auch am Ende des 20. Jahrhunderts nur zu ca. fünf Prozent. Dennoch bestimmten in Europa Horrorvisionen von auf den Kontinent zielenden globalen Massenwanderungen das Bild von den weltweiten Wanderungen und ein Verständnis von Migrationspolitik als Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Geister scheiden sich im Streit um die Einschätzung des „Migrationsdrucks“ aus dem Süden und dem Osten. In Migration, Migrationsdiskussion und Migrationspolitik hat sich bei der einschlägigen Problemverwaltung seit dem späten 20. Jahrhundert die erwähnte Spannung zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen verschärft: zwischen dem Selbstverständnis von Migranten und den ihnen durch Migrationspolitik zugeschriebenen Identitäten. Diesen zugeschriebenen Identitäten aber müssen Migranten zu entsprechen suchen, wenn sie eine Chance auf Zugang haben wollen. Bei Mangel an „Haupteingängen“ für reguläre und als solche deklarierte Einwanderung und der deshalb zunehmenden Bedeutung der „Nebeneingänge“ im Bereich von Flucht und Asyl haben sich mit der Zuschreibung von „Flüchtlingseigenschaften“ staatliche Systeme der Schicksalsverwaltung entfaltet. Sie machen Entscheidungen über den „echten“ Flüchtling abhängig von der Erfüllung dieser einseitig festgelegten Kriterien. Dabei geht es für asylsuchende Flüchtlinge heute oft weniger um die Frage, was ihnen im Herkunftsland widerfahren ist oder drohte, als darum, ob ihre Geschichte in den Katalog der verfügbaren Zuschreibungen und damit in die Spielregeln des Aufnahmelandes passt. Die Grenzen zwischen rechtlichen Gruppenbildungen wie „Arbeit“, „Asyl“, „Flucht“ oder „Minderheiten“ sind mithin in den multiplen Identitäten von Migranten noch fließender geworden als sie es ohnehin schon waren.11 Literaturverzeichnis Alba, Richard: How Relevant is Assimilation?, in: IMIS-Beiträge, 1996, Heft 4, S. 41 – 71. Bade, Klaus J. (Hrsg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992. – Ausländer – Aussiedler – Asyl: Eine Bestandsaufnahme, München 1994. – Grenzerfahrungen – die multikulturelle Herausforderung, in: ders. (Hrsg.), Menschen über Grenzen – Grenzen über Menschen. Die multikulturelle Herausforderung, Herne 1995, S. 8 – 19 (2. Ausgabe München 1996, S. 10 – 26). 10 Opitz (Hrsg.), Der globale Marsch; Nuscheler, Internationale Migration; Fassmann / Münz (Hrsg.), Ost-West-Wanderung. 11 Am Beispiel von Asylrecht und Asylpolitik in Deutschland: Bade, Ausländer – Aussiedler – Asyl, S. 91 – 146; für Europa zuletzt: ders., Europa in Bewegung, S. 439 – 452.
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– Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. – Sozialhistorische Migrationsforschung. Gesammelte Beiträge, in: Bommes, Michael / Oltmer, Jochen (Hrsg.), Göttingen 2004. Bade, Klaus J. / Emmer, Pieter C. / Lucassen, Leo / Oltmer, Jochen (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn u. a. 2007. Bommes, Michael: Der Mythos des transnationalen Raumes. Oder: Worin besteht die Herausforderung des Transnationalismus für die Migrationsforschung?, in: Thränhardt, Dietrich / Hunger, Uwe (Hrsg.), Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat, Wiesbaden 2003, S. 90 – 116. Castles, Stephen / Miller, Mark J.: The Age of Migration. International Population Movements in the Modern World, 2. Ausgabe London 1998. Cohen, Robin: Global Diasporas. An Introduction, London 1997. Fassmann, Heinz / Münz, Rainer (Hrsg.): Ost-West-Wanderung in Europa, Wien 2000. Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim: Migration. Ein Beitrag zu einer soziologischen Erklärung, Stuttgart 1970. – Migrationssoziologie, in: Kerber, Harald / Schmieder, Arnold (Hrsg.), Spezielle Soziologien, Reinbek 1994, S. 388 – 406. Lucassen, Jan / Lucassen, Leo (Hrsg.): Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives, Bern 1997. Lucassen, Leo: The Gulf between Long-Term and Short-Term Approaches in Immigration Studies. A Reassessment of the Chicago School’s Assimilation Concept, in: IMIS-Beiträge, 1997, Heft 5, S. 5 – 24. Nuscheler, Franz: Internationale Migration, Flucht und Asyl, Opladen 1995. Oltmer, Jochen: Migration im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte), München 2008. Opitz, Peter J. (Hrsg.): Der globale Marsch. Flucht und Migration als Weltproblem, München 1997. Santel, Bernhard: Migration in und nach Europa. Erfahrungen – Strukturen – Politik, Opladen 1995. Tilly, Charles: Migration in Modern European History, in: McNeill, William H. / Adams, Ruth S. (Hrsg.), Human Migration. Patterns and Policies, London 1978, S. 48 – 72. Treibel, Annette: Migration in modernen Gesellschaften, 2. Ausgabe Weinheim u. a. 1999.
Die Herausforderung des Terrorismus Von Peter Waldmann I. Begriffsklärung Bislang konnte weder unter Wissenschaftlern noch in der Politik Einigkeit darüber erzielt werden, was unter Terrorismus genau zu verstehen ist. „One man’s terrorist is another man’s freedom fighter“, heißt es oft, und in der Tat sind die negativen Assoziationen, die der Begriff weckt, wiederholt für politische Zwecke im einen oder anderen Sinn missbraucht worden. Um dieser mehr die Tagespolitik widerspiegelnden Diskussion aus dem Wege zu gehen, wird hier eine Definition vorgeschlagen, die in erster Linie auf die strukturellen und strategischen Merkmale dieser Form politischer Gewalt abstellt. Terrorismus soll heißen: planmäßig vorbereitete, schockierende Anschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund. Die Anschläge werden verübt, um Unsicherheit und Schrecken zu verbreiten, sollen bei manchen Gruppen aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft wecken.1 Terrorismus ist die Extremform dessen, was als asymmetrischer Gewaltkonflikt bezeichnet wird, d. h. ein Konflikt zwischen sehr ungleichen Gegnern. Terroristen sind nach ihrer Zahl und Kampfstärke zu schwach, um ein Stück Territorium zu besetzen. Deshalb versuchen sie sich vor dem Zugriff der Sicherheitsbehörden durch das Operieren im Untergrund zu schützen. Andererseits, und das macht sie so gefährlich, zeichnen sich terroristische Gruppen durch eine hohe Organisationsfähigkeit aus. Die gemessen an ihrer geringen Stärke überproportionale Bedeutung, die ihnen in den westlichen Demokratien zuwächst, erklärt sich vor allem daraus, dass Gewaltanschläge mit Todesopfern in einem gewaltarmen sozialen Umfeld (anders die Situation in den sogenannten Entwicklungsländern) fast automatisch zu einem Medienereignis werden. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich letztlich um eine aus einer relativen Schwäche heraus geborene Strategie handelt, bei der die Gewaltakteure den Mangel an militärischen Kampfressourcen durch einen möglichst spektakulären Effekt ihrer Anschläge auszugleichen suchen. Es geht den Terroristen weniger um die Zerstörungswirkung ihrer Anschläge, vielmehr sind diese Mittel, um Zeichen zu setzen, als „Botschaften“ an ein breiteres Publikum zu versenden. Der gewaltsamen Natur dieser Botschaften entsprechend ist deren primäres Ziel die Verbreitung von Furcht und Schrecken. Doch bei bestimmten Bevölkerungsgruppen sollen die Anschläge Sympathiewerbung bewirken; sie sollen Schadenfreude wecken, die Menschen dazu ermuntern, sich den Terroristen anzuschließen. Die Anarchisten des 19. Jahrhunderts, die diese Form symbolbesetzter Gewalt erfunden haben, tauften sie „Propaganda der Tat“, etwas neutraler könnte man Terrorismus als eine kommunikationsorientierte Gewaltstrategie bezeichnen. 1 Hierzu und zum Folgenden Waldmann, Terrorismus, S. 12 ff.; Herfried Münkler, Guerillakrieg und Terrorismus, in: Neue Politische Literatur, 3 (1980), S. 299 – 326; Schmid, Teil I.
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Dabei kann es einfach darum gehen, dass das verunsicherte Publikum sein Verhalten ändert: beliebte Urlaubsziele meidet, sich von einer Partei abwendet. Doch häufig ist mehr beabsichtigt: Der in seinem Gewaltmonopol getroffene Staat soll aus der Reserve gelockt und zu einer Überreaktion verleitet werden. Die baskische ETA nannte diesen Provokationsmechanismus die „Aktions-Repressionsspirale“: Von den repressiven Maßnahmen der Regierung, die auch unbeteiligte Dritte treffen, erhoffen sich die Terroristen jene breite Welle der Empörung und Mobilisierung, die aus eigenen Kräften zu erzeugen sie nicht in der Lage sind. Als letzte, freilich meist illusorische Stufe in dem Eskalationskalkül ist eine Revolution, ein Herrschaftswechsel oder die definitive Befreiung eines besetzten Territoriums vorgesehen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die „positiven“ Bezugsgruppen der Terroristen, um deren Sympathie und Beistand sie sich bemühen.2 Beim ethnisch-nationalistischen Terrorismus lässt sich diese Anhängerschaft meist räumlich-territorial sowie durch die Bezugnahme auf eine gemeinsame Sprache bzw. Kultur festmachen. Doch kann es sich auch um eine von den Terroristen erfundene Sympathisantengruppe handeln, die tatsächlich den Zielen und vor allem den von den Gewaltaktivisten eingesetzten brutalen Mitteln reserviert gegenübersteht. In jedem Fall verleiht erst das Verhältnis zu angeblichen oder tatsächlichen Unterstützergruppen dem Terrorismus eine politische Dimension, bewirkt, dass die Aktionen politische Signale werden. Von der Rückbindung der Terroristen an eine bestimmte soziale Gruppe bzw. Schicht geht zugleich ein gewisser Kontrolleffekt auf die Aktionen aus, die vertretbar gegenüber der eigenen Klientel bleiben müssen. Dieser Kontrolleffekt entfällt bei den sogenannten Netzwerken des transnationalen Terrorismus, die jegliche Bodenhaftung verloren haben und sich nur noch der Gemeinschaft Gleichgesinnter verantwortlich fühlen. Hier könnte eine mögliche Erklärung für die Steigerung der Opferzahlen in jüngerer Zeit liegen. In der hier vorgeschlagenen Definition wird aufständischer Terrorismus begrifflich klar von staatlichem Terror abgehoben.3 Wenngleich aufständischer Terrorismus und ein vom Staat ausgeübtes Terrorregime einige Merkmale teilen, so unterscheiden sie sich doch gleichzeitig so erheblich voneinander, dass man sie nicht unter derselben Kategorie führen sollte. Nur zwei Unterschiede seien genannt: die Zahl der Opfer und die jeweilige Kommunikationsstrategie. Es ist sicher nicht übertrieben, zu behaupten, dass Staaten ein Vielfaches (schätzungsweise die zehn- oder zwanzigfache Zahl) an Terroropfern zu verantworten haben, die auf das Konto aufständischer terroristischer Verbände gehen. Dabei muss es sich nicht einmal um totalitäre Staaten oder autoritäre Militärregime handeln, für die diese Relation auf der Hand liegt. Auch formell demokratische Staaten schneiden nicht unbedingt besser ab – man denke etwa an das Wüten Indiens in Kaschmir (in 15 Jahren 80.000 Tote). Staatlicher Terror funktioniert sozusagen geschäftsmäßig, vermeidet es, großes Aufsehen zu erregen. Dabei kommt den Sicherheitskräften der Legitimitätsbonus zugute, den sie als Vertreter legaler Herrschaftsinstanzen gegenüber den aufständischen Terroristen haben. Diese müssen es dagegen, wollen sie aus ihrer Unbekanntheit heraustre2 Stefan Malthaner, Terroristische Bewegungen und ihre Bezugsgruppen. Anvisierte Sympathisanten und tatsächliche Unterstützer, in: Waldmann (Hrsg.), Determinanten, S. 85 – 138. 3 Waldmann, Terrorismus, S. 17 f.
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ten und als Herausforderer der Staatsmacht ernstgenommen werden, darauf anlegen, mit ihren Anschlägen die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und insbesondere das Interesse der Medien zu wecken.4 Es ist kein Zufall, dass der moderne Terrorismus zeitgleich mit der Erfindung des Dynamits und dem Aufkommen der Massenpresse etwa Mitte des 19. Jahrhunderts entstand. Seitdem gibt es eine enge symbiotische Verbindung zwischen Terrorismus und Massenmedien, von der sich das geräuschlose Funktionieren der Maschinerie des Staatsterrors auffällig abhebt.
II. Hauptformen des Terrorismus Als Differenzierungsmerkmal für die Hauptformen des Terrorismus könnte man u. a. die Größe der terroristischen Verbände heranziehen, die von einem Dutzend Personen bis hin zu mehreren hundert Mitgliedern reichen kann, ferner die Methoden der Geldbeschaffung und ihr Finanzgebaren, auch ihren Wirkungsspielraum, ob sie etwa auf der nationalen oder der internationalen Ebene operieren. Keines dieser Kriterien kommt indes an Bedeutung den Leitideen der Terroristen und dem damit verbundenen motivationalen Hintergrund ihres radikalen Engagements gleich. Denn letztlich sind es vor allem die mit blindem Fanatismus verfochtenen Überzeugungen, die in bestimmten Individuen die Vorstellung aufkommen lassen, sie könnten durch Aufsehen erregende Gewaltaktionen weitgehende Strukturveränderungen bewirken. Von daher führt, will man zu einer Typologie gelangen, kein Weg an den Zielvorstellungen der Terroristen, ihrer „Ideologie“ vorbei. Grosso modo lassen sich drei ideologische Hauptstränge unterscheiden, zwischen denen es allerdings teils fließende Übergänge und Überlappungen gibt: der sozialrevolutionäre Terrorismus, der auf eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Strukturen im Sinne der Ideen von Marx abzielt; der ethno-nationalistische Terrorismus, Ausdruck des Strebens von Minderheiten oder unterdrückten Völkern nach Eigenstaatlichkeit, zumindest vermehrter politischer Autonomie; und der in jüngster Zeit mächtig aufkommende religiöse Terrorismus. Eine vierte Teilkategorie bildet der rechtsradikale Terrorismus. Dabei handelt es sich allerdings nicht um reinen Terrorismus im anfänglich definierten Sinn, sondern um eine Hybridform. Denn rechtsradikale Gruppen stellen die bestehende politische Ordnung nicht grundsätzlich in Frage, sondern wollen sie im Gegenteil verteidigen, wenngleich mit illegalen Mitteln. Ihre Angriffe richten sich im Regelfall nicht gegen den Staat, sondern gegen bestimmte, meist randständige gesellschaftliche Gruppen, die sie für den angeblichen nationalen Niedergang verantwortlich machen. Außerdem operieren sie meist nicht im Geheimen, sondern treten ganz offen auf. Im Folgenden wird diese dem staatlichen bzw. parastaatlichen Terror verwandte Gewaltform ausgeklammert.5 Was die anderen drei Formen betrifft, so treten sie nicht gleichzeitig, sondern wechselweise, in sukzessiven Schüben und Wellen auf. Relativ am besten von ihnen sind der sozialrevolutionäre und der ethnisch-nationalistische Terrorismus erforscht. Es zeigte sich, dass sich die Unterschiede zwischen ihnen nicht in den Leitzielen erschöpfen, sonPaletz / Schmid; Picard. Bjørgo; siehe auch Helmut Willems, Fremdenfeindliche Gewalt. Eine Analyse von Täterstrukturen und Eskalationsprozessen. Forschungsbericht für die DFG, Juni 1993. 4 5
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dern auch struktureller Natur sind.6 Die marxistischen Gewaltgruppen der 60er-Jahre entstanden regelmäßig als „Ausfallprodukt“ der studentischen Protestbewegungen (Beispiele: die deutsche RAF, die „Roten Brigaden“ in Italien) in deren Niedergangsphase. Einige Aktivisten wollten das Scheitern ihres Revolutionsprojektes nicht hinnehmen und beschlossen, in den Untergrund zu gehen. Sie stammten, wie das Gros der Mitglieder der Studentenbewegung, aus der mittleren bis gehobenen Mittelschicht, darunter waren etliche Frauen. Mit dem Abtauchen in die Illegalität, dem alsbald Gewaltanschläge folgten, koppelten sie sich nicht nur von ihrem Herkunftsmilieu ab, sondern gerieten auch gegenüber der übrigen systemkritischen Linken, die diesen Schritt nicht billigte, in die Isolierung. Fortan befanden sich diese Gruppen auf der ebenso verzweifelten wie aussichtslosen Suche nach einer breiten Unterstützungsbasis, einem „revolutionären Subjekt“, das ihren Befreiungskampf unterstützen würde. Die aus dieser Dilemmasituation heraus entstandenen Pamphlete, komplizierte theoretische Rechtfertigungsversuche ihrer Vorwärtsstrategie, verstärkten noch den Eindruck des Publikums, es handle sich um eine Gruppe fanatischer Intellektueller, die sich in eine abseitige Oppositionshaltung hineingesteigert hatte. Deutlich anders stellte sich die Situation der ethno-nationalistischen Rebellen dar, wie wir sie vor allem aus Studien über die baskische ETA und die nordirische IRA kennen. Hier ging es nicht um die Verwirklichung eines utopischen Zukunftsprojekts, sondern primär um Widerstand gegen die Bedrängung durch den Zentralstaat und um die Reklamation verloren gegangener Rechte. Diese Ziele waren dem politisch bewussten Teil der autochthonen Bevölkerung unmittelbar einsichtig, sie bedurften keiner langatmigen Begründung. Indem einige Aktivisten in den Untergrund gingen und sich als bewaffnete Avantgarde der Unabhängigkeitsbewegung konstituierten, brachen sie die Verbindung zu einem Großteil der ethnischen Gruppe nicht ab, sondern wurden von dieser unterstützt und bewundert. Auch die soziale Herkunft der Mitglieder ethno-nationalistischer Gewaltgruppen war eine andere als beim sozialrevolutionären Terrorismus; es überwog die untere Mittelschicht und Unterschicht, Frauen bildeten die Ausnahme. Der Rückhalt, den die Terroristen in Teilen der Ethnie genossen, bröckelte erst ab, als sie von der ursprünglichen Verteidigungs- zur Offensivgewalt übergingen und sich herausstellte, dass sie die betreffenden Regionen in einen Endloskonflikt verwickelt hatten, der diese in der Entwicklung hemmte und zurückwarf. Zeigt sich bei der Gegenüberstellung von sozialrevolutionärem und ethnisch-nationalistischem Terrorismus, wie vorsichtig man mit Verallgemeinerungen sein muss, so bestätigt sich dies bei der dritten Teilkategorie, dem sogenannten religiösen Terrorismus. Vorab gilt es vor der Vorstellung zu warnen, bestimmte Religionsgemeinschaften, etwa der Islam, seien eo ipso gewalttätiger als andere. Abgesehen davon, dass es schwer fallen dürfte, eine derartige Behauptung empirisch zu belegen, widerspricht sie allem, was wir über die grundlegende Ambivalenz von Religionen7 wissen. Diese können sich zum Anwalt von Frieden und Versöhnung machen, jedoch auch die Quelle von Zwietracht und Gewalt sein. Die Frage ist nicht, welche der großen, insbesondere der monotheistischen Religionsgemeinschaften letztlich friedfertiger oder für mehr Massaker verantwortlich ist, sondern in welcher Phase und aus welchen Gründen jeweils die eine oder die andere Seite die Oberhand gewann oder gewinnt. 6 7
Vgl. Kap. 6 in Waldmann, Terrorismus (mit weiteren Literaturhinweisen). Appleby; Juergensmeyer.
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Der Terrorismus-Forschung ist es bisher nicht gelungen, ein dem sozialrevolutionären oder ethnisch-nationalistischen Terrorismus vergleichbares Strukturprofil des religiös motivierten Terrorismus zu erstellen. Ein solches Profil dürfte sich nicht auf den militanten Islamismus beschränken, sondern müsste auch terroristische Gruppen jüdischer und christlicher Provenienz einschließen. Deshalb seien hier nur einige charakteristische Züge genannt, in denen sich religiöser Terrorismus von den beiden anderen Varianten abhebt. Dazu zählen – das angestrebte Ideal einer religiös verklärten, die Defekte einer säkularisierten Welt hinter sich lassenden Gemeinschaft, ein Ideal, das entweder in der Vergangenheit gesucht oder in die Zukunft projiziert wird („Millenarismus“); – die Schlüsselrolle, die geistlichen Führern für die Anordnung oder zumindest die Billigung von Gewalttaten eingeräumt wird. Versagen die maßgeblichen Imame, Scheichs, Rabbis oder Priester ihre Zustimmung zu einem Anschlag, so gerät dieser in den Augen des Publikums in ein schiefes Licht und entbehrt der Rechtfertigung; daher kommt der hierarchischen Struktur einer Religionsgemeinschaft eine entscheidende Rolle zu. Je entschiedener die oberste Autorität den Terrorismus ablehnt (Papst für Katholische Kirche, Kirchenleitungen für protestantische Denominierungen), desto geringer die Anfälligkeit der Gläubigen für die terroristische Option. Das Gegenbeispiel liefert der Islam, der keine oberste Autorität kennt; – die enge Verbindung, die häufig zwischen religiösen und politischen Zielsetzungen besteht; – die besondere Wut und Kritik, die sich gegen Gemäßigte und „Laue“ im eigenen Konfessionslager richtet, denen oft Verrat und Ketzerei vorgeworfen wird; – die gezielte Verletzung heiliger Regeln und Tabus, um auf die religiöse Krisensituation aufmerksam zu machen, sowie, eng damit zusammenhängend, die Konzentration terroristischer Akte auf bestimmte Orte und Zeiten, das Benutzen ritueller Waffen wie des Dolchs usf.8
Ist der religiöse Terrorismus opferträchtiger und blutiger als die beiden anderen Grundformen? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Zwar hat man statistisch ermittelt, dass die Zahl der durchschnittlichen Opfer pro Anschlag seit 1985, dem Zeitpunkt, ab dem religiös motivierte Anschläge sich mehrten, deutlich angestiegen ist, doch lässt sich nicht ausmachen, ob dafür der religiöse Fanatismus der Täter oder die Tatsache verantwortlich zu machen ist, dass sich seitdem auch der Globalisierungsprozess beschleunigt hat. Denn dieser bedingt, dass terroristische Gruppen heute weltweit um die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit konkurrieren, die sie durch immer blutigere, „perversere“ Anschläge auf sich zu ziehen suchen. Immerhin steht fest, dass der Selbstmordanschlag, wie er besonders (aber nicht ausschließlich) von islamistischen Gruppen praktiziert wird, ein besonders präzises und „wirksames“ Instrument ist, um möglichst viele Menschen mit in den Tod zu reißen. Im Übrigen gilt es in Hinblick auf den islamischen Terrorismus zu unterscheiden zwischen Al Qaida und ihren Ablegern einerseits, in einem begrenzten territorialen Rahmen 8 Das rituelle Moment und die besondere Heftigkeit, mit der die Gemäßigten angegriffen werden, arbeitet David Rapoport in dem Aufsatz „Fear and Trembling. Terrorism in Three Religious Traditions“ am Beispiel der Zeloten und Sicarii im ersten Jahrhundert n. Chr. heraus, erschienen in: American Political Science Review, Vol. 78, No. 3, 1984, S. 658 – 677.
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operierenden Organisationen wie Hamas, Hizbollah u. a. andererseits. Während Al Qaida als erste veritable Transnationale des Terrorismus organisatorisch, strukturell und bezüglich der Rekrutierungsmuster ein Novum darstellt, knüpfen die territorial orientierten Gewaltgruppen an ältere Vorbilder des ethnisch-nationalistischen Terrorismus an. Beide verfolgen nicht nur unterschiedliche Ziele, sondern gehen auch unterschiedlich vor und ziehen unterschiedliche Typen gläubiger Muslime an.9 III. Entstehung, Entwicklung und Folgen des Terrorismus Terroristische Gruppen sind definitionsgemäß kleine, allenfalls mittelgroße Gruppen; eine allzu große Mitgliederzahl ist im Untergrund eher hinderlich. Die hohe Planungsund Organisationsfähigkeit dieser Gruppen bedingt einen etwas überdurchschnittlichen Intelligenzgrad ihrer Mitglieder, doch im Übrigen kann deren Zusammensetzung beliebig sein. Insbesondere ist nicht gesagt, dass sie repräsentativ für breitere soziale Schichten und allgemeine gesellschaftliche Problemlagen sein müssen. Das kann, wie beim ethno-nationalistischen Terrorismus, partiell der Fall sein, ist aber keineswegs selbstverständlich. Der starke Voluntarismus dieser Gruppen treibt sie eher in die entgegengesetzte Richtung einer zunehmenden Entfremdung von der Gesellschaft. Muss man sich somit hüten, eine direkte Kausalverbindung zwischen den Strukturproblemen einer Gesellschaft und der Emergenz terroristischer Gruppen anzunehmen, so ist doch andererseits nicht zu übersehen, dass bestimmte Entwicklungen im Zuge der Modernisierung entscheidend dazu beigetragen haben, den Terrorismus als Gewaltform attraktiv zu machen. Hierzu zählen:10 – Das weitgehende Gewaltmonopol, das der Staat vor allem in den westlichen Industrieländern erlangt hat. Es reduziert die Möglichkeiten, gewaltsam gegen ihn aufzubegehren – Terrorismus ist eine der verbleibenden Optionen. – Die modernen Großstädte, Produkte der Industrialisierung und Massenabwanderung aus ländlichen Regionen, sind ebenfalls eine wichtige Voraussetzung für den Terrorismus; als hochgradig störanfällige soziale Gebilde bieten sie dem Attentäter einen ausgezeichneten Aktions- und Resonanzraum für seine Anschläge. – Gesellschaften im Umbruch, die mit sozialen Integrationsproblemen zu kämpfen haben, wecken einerseits übertriebene Erwartungen und produzieren andererseits auf breiter Basis Enttäuschungen. Sie bieten einen besonders guten Nährboden für terroristische Aktionen. – Terroristische Aktionen sind schließlich vor allem dann und dort zu erwarten, wo keine größeren bewaffneten Konflikte, seien es Bürgerkriege oder zwischenstaatliche Kriege, stattfinden, die als kollektives Drama das durch Einzelanschläge verursachte Leid deutlich in den Schatten stellen.
Neben diesen allgemeinen Voraussetzungen gibt es zwei politische Konstellationen, die, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, Terrorismus als Form des Aufbegehrens wahrscheinlich machen. Die eine sind soziopolitische Protestbewegungen in ihrem Endstadium. Solche Protestbewegungen können sich nur in Demokratien offen artikulieren, 9 10
Zu Al Qaida Gunaratna und Sageman. Waldmann, Terrorismus, S. 60 ff.
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und in der Tat bieten, wie aus empirischen Untersuchungen hervorgeht, rechtsstaatlichdemokratische Systeme westlichen Zuschnitts besonders günstige Bedingungen für die Entstehung und Entfaltung terroristischer Zellen.11 Die andere politische Situation, die bewaffneten Widerstand in jedweder Form geradezu provoziert, sind Besatzungsregime. Der jüngste Fall der Invasion des Irak ist nur ein Beispiel unter vielen.12 Auch die bewaffnete Auflehnung ethnischer Minderheiten gegen die Mehrheit oder den Zentralstaat wird letztlich mit dem Argument gerechtfertigt, die als eigenes Territorium reklamierte Provinz oder Region sei von einer „fremden Macht“ okkupiert worden. Lassen sich keine festen Kausalketten angeben, die schlüssig erklären, warum Terrorismus in bestimmten Situationen entsteht, in anderen nicht, so verläuft die Entwicklung, sobald terroristische Organisationen einmal gegründet worden sind, weit einheitlicher. Die größte Gefahr, entdeckt und von den Sicherheitskräften zerschlagen zu werden, besteht in der Anfangsphase. Ist diese überwunden und haben sich die Gewaltverbände organisatorisch gefestigt, so wachsen ihre Chancen beträchtlich, sich über einen längeren Zeitraum behaupten zu können. Wie statistische Vergleiche zeigen, erreichen nicht wenige von ihnen ein Alter von 20 oder 30 Jahren.13 Als besonders zählebig haben sich die ethno-nationalistischen Gruppen erwiesen, während die Bilanz hinsichtlich der sozialrevolutionären Gruppen gemischt ausfällt (über Organisationen des religiösen Terrorismus Aussagen zu machen ist verfrüht, da sie fast durchweg erst nach 1980 entstanden sind). Für diese erstaunliche Überlebensfähigkeit lassen sich Gründe anführen; sie hängt vor allem mit der Herausbildung eines Fachwissens eigener Art zusammen, das, in Broschürenform und im Internet kursierend, inzwischen zum Allgemeingut sämtlicher Untergrundkämpfer geworden ist. Dazu zählen etwa: – eine Organisationsstruktur, die eine optimale Kombination von hierarchischen und dezentralen Elementen darstellt („Zellensystem“); – kollektive Führungskader, welche die Vorteile einer pluralen Meinungsbildung mit maximaler Flexibilität im Falle des plötzlichen Ausscheidens eines Mitglieds (wegen Tod oder Verhaftung) verbinden; – eingespielte Prozeduren der Anwerbung neuer Mitglieder, ihrer Disziplinierung und Sozialisierung; – eine Routinisierung der Beschaffung der Finanzmittel für den Unterhalt der Organisation, sei es durch Zwangsmethoden, sei es durch die Ausübung moralischen Drucks (beispielsweise in Diasporagemeinschaften); – die Perfektionierung der Geheimhaltungsmethoden, verbunden mit der Auslagerung der Führungsstäbe und eines Teils der Aktivitäten in Nachbarländer, wo sie vor dem Zugriff der Sicherheitsbehörden des eigenen Landes gefeit sind. 11 Lee Eubank / Leonhard Weinberg, Does Democracy Encourage Terrorism?, in: Terrorism and Political Violence, Vol. 6, No. 4, 1994, S. 417 – 443; Friedhelm Neidhardt, Über Zufall, Eigendynamik und Institutionalisierbarkeit absurder Prozesse, in: ders., Gewalt und Terrorismus. Studien zur Soziologie militanter Konflikte, Berlin 1998, S. 178 ff. 12 Ein weiteres Beispiel ist die Entstehung der Hizbollah im Libanon in den 80er-Jahren, als das Land von Israel besetzt wurde, um die PLO zu vertreiben. 13 Peter Waldmann, Die zeitliche Dimension des Terrorismus, in: ders. (Hrsg.), Determinanten, S. 139 – 188, insbes. S. 171 ff.
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Gleichwohl, terroristische Organisationen existieren nicht unbegrenzt. Sie können prinzipiell auf dreierlei Art ein Ende finden. Entweder sie werden zerschlagen, was bezeichnenderweise vor allem dann der Fall ist, wenn sie sich, ihre Kräfte überschätzend, aus der Deckung wagen. Die zweite Alternative besteht darin, dass sie sich freiwillig auflösen; das geschieht meistens geraume Zeit später, nachdem sie bereits die Anschlagstätigkeit eingestellt haben. Die dritte Lösung ist die schillerndste und komplexeste. Man könnte sie als politische Transformation der terroristischen Bewegung kennzeichnen. Dieser Prozess kann, wie in Nordirland, durch offizielle Friedensverhandlungen eingeleitet werden, aber auch mehr informeller Natur sein. Er besteht in der Regel darin, dass die Terroristen sich in der einen oder anderen Form, meist durch die Gründung einer eigenen Partei, in das offizielle politische System einfädeln. Da dieser Eintritt in die Legalität nicht die unmittelbare Auflösung der Restorganisation, insbesondere der bewaffneten Kader zur Folge hat, bleibt die Situation über einen längeren Zeitraum hinweg unsicher und zwiespältig. Versucht man eine Bilanz des Terrorismus und seiner Folgen in den vergangenen Jahrzehnten zu ziehen, muss man zunächst differenzieren. Es ist nicht dasselbe, ob eine von einem Diktator geknechtete Bevölkerung oder eine unterdrückte Minderheit sich gewaltsam zur Wehr setzen, oder ob selbsternannte Heilsbringer durch Bombenanschläge eine bessere Zukunft herbeizuführen suchen. Doch selbst dort, wo die Anschläge in der Anfangsphase verständlich gewesen sein mögen, lief die Entwicklung fast zwangsläufig auf die Einbeziehung immer breiterer Personenkreise in die Kategorie möglicher Opfer hinaus, bis hin zum Endstadium eines gänzlich willkürlichen „Gelegenheitsterrorismus“, der ausschließlich darauf abzielte, einen maximalen Publizitätseffekt zu erzielen. Auch die strukturellen Folgen terroristischer Gewaltkampagnen sind als negativ einzustufen. Das gilt zunächst für das Rechtssystem, insbesondere für die freiheitliche Rechtsordnung der westlichen Demokratien, die als Reaktion auf die terroristische Bedrohung oft empfindlich eingeschränkt wurde; es gilt weiterhin für die politischen Akteure und das politische System, die in etlichen Ländern aufgrund der einseitigen Belastung durch Debatten über den Terrorismus nicht in der Lage waren, dringliche Strukturreformen anzupacken; und es gilt schließlich auch für die Wirtschaft, speziell in den von Terrorismus als Dauerplage heimgesuchten Regionen, deren Entwicklung dadurch empfindlich beeinträchtigt wurde. An sich stellt die Gewalt gemäß den hochfliegenden Plänen der Terroristen nur ein Mittel dar, das als Geburtshelfer für eine bessere künftige Gesellschaft dienen soll. Doch ist dies einer der nicht seltenen Fälle, in denen das Mittel regelmäßig über den Zweck triumphiert, die destruktive Eigendynamik der Gewalt von den utopischen Zielvorstellungen der Terroristen oft nur wenig übrig lässt.
IV. Gegenmaßnahmen? Terrorismusabwehr ist eine schwierige Herausforderung. Wie ist ein Gegner zu bekämpfen, der nicht greifbar ist, sondern unsichtbar bleibt? Wer soll für diese Art Verteidigung zuständig sein, das Militär, die Geheimdienste, die Polizei? Und auf welcher Ebene ist primär vorzugehen, der nationalen oder der internationalen?
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Vorab erscheint es erneut wichtig zu differenzieren: im Hinblick auf den militanten Islamismus insbesondere zwischen in bestimmten Regionen operierenden Organisationen wie Hizbollah, Hamas und den militanten Muslimen in Tschetschenien einerseits, dem um Al Qaida herum entstandenen Netzwerk transnationaler terroristischer Zellen und Gruppen andererseits. Die Konflikte, in die die erstgenannten Verbände involviert sind, sind im Prinzip lösbar, liegen ihnen doch begrenzte territoriale Ansprüche zugrunde. Dagegen verfechten die transnational ausgerichteten terroristischen Verbände diffuse, stark ideologisch aufgeladene Ziele, die einer politischen Verhandlungslösung kaum zugänglich sind. Gewiss kann man nicht darauf warten, dass radikale Gruppen ihre Anschlagspläne in die Tat umsetzen, sondern muss Vorsorge treffen: die Informationssysteme verbessern, Verdächtige an der Einreise in ein Land hindern, die Früherkennungsmethoden für die Bildung extremistischer Zirkel verbessern, effektivere Verfolgungsmethoden entwickeln und vieles andere mehr. Doch das Grundproblem, wie die Zahl gefährlicher Zellen reduziert und damit die Anschlagsgefahr verringert werden kann, wird durch diese Maßnahmen nicht gelöst. Regierungsmaßnahmen sind nur einer von wenigstens drei Variablenkomplexen, die für die Eskalation oder Deeskalation einer Gewaltkampagne bestimmend sind.14 Daneben fallen die Führungskämpfe innerhalb der Gewaltorganisation und das Verhalten der Unterstützungsbasis ins Gewicht. Auseinandersetzungen im Führungskern terroristischer Organisationen lassen sich „von außen“ her kaum steuern. Dagegen ist die Haltung der „Basis“, auf deren Unterstützung die terroristischen Verbände in vielfacher Weise angewiesen sind, durchaus einer Einflussnahme von externer Seite zugänglich. In Bezug auf den islamistischen Terrorismus, der gegenwärtig die Hauptgefahrenquelle bildet, erscheinen zwei Handlungsdesiderate vordringlich. Zum ersten müsste der Westen sein Glaubwürdigkeitsdefizit beheben. Es sind ja nicht die im Okzident vertretenen Grundwerte wie die Respektierung individueller Grundrechte, von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, welche die USA und den gesamten westlichen Staatenblock in einem Großteil der Dritten Welt in Verruf gebracht haben. Dies ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass man nur allzu schnell bereit war, die lauthals proklamierten Werte beiseitezuschieben, wenn politische oder Geschäftsinteressen auf dem Spiel standen. Es ist nicht zuletzt der dem Westen gemachte Vorwurf der Doppelzüngigkeit und Heuchelei, der dem islamistischen Lager ständig neue Anhänger zutreibt. Das zweite Desiderat besteht mehr in einem Unterlassen als in einem Tun. Der Westen ist gut beraten, künftig um jeden Preis neokoloniale Unternehmungen wie die Invasion in den Irak zu meiden und sich generell mit Interventionen in Drittländer zurückzuhalten, sofern sie nicht durch den Weltsicherheitsrat ratifiziert sind. Derartige Interventionen erinnern viele Dritte-Welt-Länder fatal an ihre noch nicht allzu weit zurückliegende koloniale Vergangenheit. Meiden statt der Gefahr aktiv begegnen, abwarten statt zu handeln – das mag als ein mageres Ergebnis erscheinen, wenn es gilt, einer weltumspannenden Bedrohung wie dem Terrorismus die Stirn zu bieten. Gleichwohl führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass nicht jedes Problem durch Zupacken und rationale Zweckentscheidungen zu lösen 14 Martha Crenshaw, How Terrorism Declines, in: Terrorism and Political Violence, Vol. 3, No. 1, 1991, S. 69 – 87.
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ist, sondern manche sich durch Zeitablauf tendenziell selbst entschärfen. Der Terrorismus scheint zu diesem letztgenannten Problemtypus zu gehören. Wie oben erwähnt, suchte er Europa in der Vergangenheit in wellenartigen Schüben heim.15 Auf eine Generation, die sich für die Idee einer „Propaganda der Tat“ begeisterte und von Gleichgesinnten jenseits der nationalen Grenzen in ihrem gewaltträchtigen Tatendrang anstecken ließ, folgte ziemlich regelmäßig eine zweite Generation, die, ernüchtert durch das Missverhältnis zwischen hochfliegenden Plänen und mageren praktischen Resultaten und abgestoßen durch die unnötigen Mordopfer, sich ebenso entschieden von dieser Gewaltform abwandte. Literaturverzeichnis Appleby, R. Scott: The Ambivalence of the Sacred. Religion, Violence, and Reconciliation, Lanham u. a. 2000. Bjørgo, Tore (Hrsg.): Terror From the Extreme Right, London 1995. Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Analysen zum Terrorismus, 5 Bde., Opladen 1982. Crenshaw, Martha (Hrsg.): Terrorism in Context, Pennsylvania 1995. Della Porta, Donatella (Hrsg.): Social Movements and Violence. Participation in Underground Organizations, Greenwich / London 1992. Gunaratna, Rohan: Inside Al Quaida. Global Network of Terror, 2. Aufl., London 2003. Hoffman, Bruce: Terrorismus. Der unerklärte Krieg, Frankfurt a. M. 1999. Juergensmeyer, Marc: Terror in the Mind of God. The Global Rise of Religious Violence, Berkeley 2000. Kepel, Gilles: Jihad. The Trail of Political Islam, Cambridge 2002. Münkler, Herfried: Die neuen Kriege, Hamburg 2002. Paletz, David L. / Schmid, Alex P. (Hrsg.): Terrorism and the Media, Newburry Park / London 1992. Picard, Robert G.: Media Portrayals of Terrorism. Functions and Meanings of News Coverage, Iowa 2003. Rapoport, David C. (Hrsg.): Inside Terrorist Organizations, London 1988. Roy, Olivier: Globalised Islam. The Search for a New Ummah, London 2004. Sageman, Marc: Understanding Terror Networks, Pennsylvania 2004. Schmid, Alex P.: Political Terrorism. A Research Guide to Concepts, Theories, Data Bases and Literature, Amsterdam u. a. 1983. Schneckener, Ulrich: Transnationaler Terrorismus, Frankfurt a. M. 2006. Waldmann, Peter: Terrorismus. Provokation der Macht, 2. Aufl., Hamburg 2005. – (Hrsg.): Determinanten des Terrorismus, Weilerswist 2004.
15 David Rapoport, The Four Waves of Rebel Terror and September 11, in: Charles W. Kegley (Hrsg.), The New Global Terrorism. Characteristics, Causes, Controls, New Jersey 2003, S. 36 – 52.
Kulturkonflikte, Religion und Gewalt Von Michael Rutz I. Ein Kulturkonflikt? Die Frage, welche Ursachen die weltweit zunehmenden und unter religiösen Vorzeichen geführten Auseinandersetzungen haben, hat in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen. Seit Samuel Huntington in seinem Aufsatz „The Clash of Civilizations?“1 1993 das Ende der ideologisch oder ökonomisch motivierten Konflikte ausgerufen hat und an ihre Stelle den Konflikt entlang kultureller Bruchlinien setzte, sind Religionen als Konfliktursache in den Mittelpunkt der Debatten getreten. Huntington verweist in seinem Aufsatz auf sechs Gründe. So seien die Unterschiede zwischen den Zivilisationen nicht nur real, wie sie sich etwa in unterschiedlicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ausdrücken, sondern hätten den Charakter grundsätzlicher Anschauungsunterschiede. Die Dichte des durch Verkehrs- und Kommunikationswege zusammengewachsenen Lebens habe, zweitens, zu einem entschiedeneren Bewusstsein der diversen Zivilisationen geführt und das Gespür für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Zivilisationen intensiviert. Drittens hätten die wirtschaftlichen und sozialen Emanzipationsprozesse und diesbezügliche Verflechtungen die nationalen und lokalen Identifikationsmuster entwertet – eine Lücke, die zunehmend von Religionen besetzt werde, hier häufig von Gruppen, die als „fundamentalistisch bezeichnet werden“.2 Diesem Umstand einer Kehrtwendung nach innen sei auch die „Re-Islamisierung“ des Mittleren Ostens geschuldet und mit ihr die Abkehr von westlichen Lebensvorstellungen. Dies sei insofern von nachhaltiger Wirkung, weil auf Überzeugungen beruhende kulturelle Identifikationsmuster schwerer veränderlich seien als wirtschaftliche Leistungsdaten. Schließlich werde das Zivilisationsbewusstsein durch zunehmenden wirtschaftlichen Regionalismus weiter geschärft. Huntingtons Thesen, die später unter Wegfall des Fragezeichens im Titel auch als Buch erschienen (in Deutschland unter dem Titel „Kampf der Kulturen“3) und seither die Diskussion prägen, haben ihre besondere Dynamik durch Huntingtons Betonung der Rolle der Religionen als Merkmal der Distinktion erhalten, wenn er schreibt: „Mehr noch als Ethnizität trennt (discriminates) Religion scharf und exklusiv zwischen Menschen. Eine Person kann Halb-Franzose sein und Halb-Araber und kann gleichzeitig sogar Staatsbürger zweier Länder sein. Es ist viel schwieriger, Halb-Katholik und HalbMuslim zu sein“.4 So rivalisierten acht Ländergruppen miteinander: der Westen, Japan, Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations? in: Foreign Affairs 72, Nr. 3. Ebd., S. 25 – 28. 3 Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1997. 4 Ebd., S. 27. 1 2
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Lateinamerika, die (christliche) Orthodoxie, Schwarzafrika, der Islam, der Hinduismus und der Konfuzianismus. Nachdem seit Jahrhunderten Konflikte entlang religiös geprägter Zivilisations-Grenzen verlaufen seien, habe sich dies erneut in den Konflikten der Gegenwart gezeigt, und hier im besonderen durch eine Gewaltneigung des Islam: „In Eurasien stehen die großen historischen Bruchlinien zwischen Zivilisationen erneut in Flammen. Dies gilt ganz besonders entlang der Grenzen des halbmondförmigen islamischen Nationenblocks von der (West-)Wölbung Afrikas bis Zentralasien.“5 Zwar komme Gewalt auch in anderen Kulturkreisen vor, nirgends aber sei sie so programmatisch angelegt wie im Islam: „Der Islam hat blutige Grenzen“6. Die Kritik, die Huntington erfuhr, argumentiert zum einen, seine Konfliktanalyse sei von einer zu aufdringlichen, anspruchslosen Simplizität.7 Zum anderen blende sie die Gewaltgeschichte der anderen beiden abrahamitischen Religionen, also des Christentums und des Judentums, unzulässigerweise aus. Denn nicht nur der Islam, sondern „alle drei entfalteten sich in einer archaischen Welt, in der Gewalt als Machterweis des Göttlichen eine unübersehbare Rolle spielt. Alle drei gehen jedoch über diese archaische Ausgangslage im Laufe der Zeit hinaus. Dabei waren Rückfälle in Perioden religiös motivierter Gewaltanwendung nie ausgeschlossen“, bilanziert etwa Hans Maier.8 Die Thesen Huntingtons erlebten jedoch eine besondere Wirkungsmächtigkeit durch die weitere geschichtliche Entwicklung, im besonderen durch die Anschläge der Al Quaida vom 11. September 2001 und die nachfolgenden Auseinandersetzungen und Mordanschläge.
II. Im Mittelpunkt: Der Islam und die Gewaltfrage Die These, der Islam sei eine in sich gewaltbereite Religion, findet ihre Basis vor allem in dem unglücklichen Umstand, dass die in verschiedene Spielarten zerfallende Religion keine einheitliche Lehrautorität kennt. Daher bleiben Versuche, den Suren des Koran eine aufgeklärte, zivilisierte und auf ein friedliches Miteinander der Völker und Kulturen gerichtetete Exegese zu geben, im Ganzen gesehen unwirksam. In zahlreichen Suren des Koran, die unverändert Gültigkeit haben, tritt die Sprache der Gewaltbereitschaft deutlich hervor. Sie richtet sich nicht allein defensiv gegen jene, die angreifen, sondern auch offensiv gegen Andersdenkende, wenn es etwa in der Sure 9,29 heißt: „Kämpft wider jene, welchen die Schrift gegeben ward (Juden, Christen!), die nicht glauben an Allah und an den Jüngsten Tag und nicht verbieten, was Allah und sein Gesandter verboten haben, und nicht bekennen das Bekenntnis der Wahrheit, bis sie den Tribut aus der Hand demütig entrichten.“ Die Sure 9,124 lautet: „O ihr, die ihr glaubt, kämpft wider die Ungläubigen an euren Grenzen und lasst sie eure ganze Härte fühlen.“ Und auch die Sure 47,4 macht den offensiven Charakter des Korans offenbar: „Und wenn ihr die Ungläubigen trefft, dann herunter mit ihrem Haupt, bis ihr ein Gemetzel Ebd., S. 34 f. Ebd., S. 35. 7 Vgl. etwa Michael Mertes, Islam und westliches Denken, in: Rudolf Zewell (Hrsg.), Islam – die missbrauchte Religion . . . oder Keimzelle des Terrorismus, München 2001, S. 37 ff. 8 Hans Maier, Das Doppelgesicht des Religiösen, Freiburg i. Br. 2004, S. 18. 5 6
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unter ihnen angerichtet habt.“9 Adel Theodor Khoury fasst denn auch zusammen, dass die Doppelgesichtigkeit des Islam in seinem religiösen (Gebiet des Gottesstaates) und weltlichen Anspruch (Gebiet des Krieges) zur Pflicht führe, sein eigenes Gebiet gegen Angriffe der Feinde zu verteidigen. Darüber hinaus haben die Moslems sich „aber auch aktiv dafür einzusetzen, im Gebiet des Krieges ihrem Glauben zum Sieg zu verhelfen und die Rechte Gottes zur Geltung zu bringen. Der endgültige Friede wird erst erreicht sein, wenn ,nur noch ein Staat bestehen bleibt: der der islamischen Gemeinschaft‘.“ Auf dem Wege dahin könne es zwar eine Übergangszeit friedlicher Kontakte geben. „Allerdings bedeutet dies nicht die Anerkennung des Gegenübers als eines gleichberechtigten Partners.“10 Damit ist die Frage nach dem dschihad aufgeworfen, dem sogenannten „Heiligen Krieg“. Die zitierten und andere Suren definieren ihn also nicht nur, sondern beauftragen die Anhänger muslimischen Glaubens geradezu, ihn zu führen. „Nach dem klaren Schriftbefund im Koran heisst dschihad an mehr als 80 % der Fundstellen ,einen Krieg um des Glaubens willen führen‘. Darüber hinaus rufen die Verse 5 und 29 der neunten Sure, die als zeitlich letzte und damit alle anderen interpretierende Sure gilt, dazu auf, die Ungläubigen aktiv zu bekämpfen und, falls sie sich nicht ergeben und Muslime werden, zu töten“, bilanziert eine Schrift der Deutschen Bischofskonferenz, und fährt fort: „Die Vorstellung, dass die im Glaubenskrieg Gefallenen – nach islamischer Terminologie Märtyrer – unmittelbar ins Paradies eingehen, ist schon im Koran enthalten.“ (Sure 3,169; 2,14; 22,58)11 Die Versuche, den Islam als geläuterte und friedfertige Religion darzustellen und alle Anwendung von Gewalt unrepräsentativen fundamentalistischen Randgruppen zuzuweisen, werden mit dem Verweis darauf begründet, der „kleinere“ dschihad wende sich gegen die Ungläubigen, der propagierte „größere“ dschihad jedoch gegen die niedrigen Regungen der eigenen Seele des jeweiligen muslimischen Gläubigen. Aber diese Interpretation findet sich in den offiziellen Schriftensammlungen der Sunniten nicht wieder.12 Die Befürchtung, ja die Feststellung, dass im Islam nicht mit der Vernunft abwesender, nicht gottgefälliger Gewalt gehandelt werden könnte, dieser Umstand war es auch, der Papst Benedikt XVI. dazu bewog, seine Vorlesung an der Universität Regensburg im September 2006 auch dem Thema des dschihad zu widmen. Er zitiert eindringlich den byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaeologos und dessen Mahnung im Gespräch mit einem gebildeten Perser, dass Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig sei und im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele stehe. „Gott hat kein Gefallen am Blut“, zitiert Benedikt den Kaiser, „und nicht vernunftgemäß, nicht ,óýí ëüãù‘ zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung . . . um eine vernünftige 9 Vgl. Isabel Kocsis, Mohammed und die Gewalt, in: Rudolf Zewell (Hrsg.): Islam – die missbrauchte Religion . . . oder Keimzelle des Terrorismus, S. 48 ff. 10 Adel Theodor Khoury, Vortrag bei der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft am 30. 9. 2002 in Erfurt; hier zitiert nach: Hans Maier, Das Doppelgesicht des Religiösen, S. 20. 11 Christen und Muslime in Deutschland, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2003, Arbeitshilfen Nr. 172, Ziffer 142, S. 79 ff. 12 Vgl. ebd., Ziffer 146, S. 81.
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Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tode bedrohen kann.“13 So ungeklärt das Verhältnis von Islam und Gewalt im Islam selbst ist, so eindeutig ist die Verurteilung der Gewaltanwendung im Namen Gottes durch die Vertreter anderer Kirchen. Wie Benedikt XVI. hatte sich auch schon sein Vorgänger Johannes Paul II. geäußert, als er sagte: „Die Anmaßung, das, was man selbst für die Wahrheit hält, anderen gewaltsam aufzuzwingen, bedeutet, dass dadurch die Würde des Menschen verletzt und schließlich Gott, dessen Abbild er ist, beleidigt wird. Darum ist der fundamentalistische Fanatismus eine Haltung, die in radikalem Gegensatz zum Glauben an Gott steht. Wenn wir genau hinschauen, instrumentalisiert der Terrorismus nicht nur den Menschen, sondern auch Gott, indem er ihn schließlich zu einem Götzen macht, dessen er sich für seine Zwecke bedient. Kein Verantwortlicher der Religionen kann daher dem Terrorismus gegenüber Nachsicht üben und noch weniger kann er ihn predigen. Es ist eine Profanierung der Religion, sich als Terroristen im Namen Gottes zu bezeichnen, dem Menschen im Namen Gottes Gewalt anzutun.“14 Auch Karl Kardinal Lehmann hat, wenige Tage nach der Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI., betont, man müsse – wenn auch „ohne falsche Anklagen, Besserwisserei und Dünkel“ – die muslimischen Gesprächspartner „damit konfrontieren, dass in der heutigen Weltsituation vorgeblich religiös motivierte und religiös legitimierte Gewalt ein Phänomen darstellt, das sich – wenngleich nicht ausschließlich – am Islam festmacht. Natürlich lassen sich viele Gründe für die Unruhe benennen, die die Länder des sogenannten ,Größeren Mittleren Ostens‘ (vom Maghreb bis nach Pakistan und Indonesien) ergriffen hat – eine Unruhe, die manche Gewalteruption begünstigt“. Man stelle die mehr als eine Milliarde Muslime zwar nicht unter Generalverdacht. „Aber es muss zugleich gefragt werden, inwieweit in der heutigen Gewaltproblematik der muslimischen Religion die theologische Tradition des kämpfenden und herrschenden Islam, die mit einer gewissen Ungebrochenheit die Zeiten überdauert zu haben scheint, eine Rolle spielt. Und inwieweit erschwert – auch dies muss man fragen – die Grundgeschichte des Islam, die den Propheten Mohammed nicht nur als Religionsstifter, sondern auch als Feldherrn und Herrscher zeigt, bis heute eine Entfaltung gewaltkritischer Tendenzen des Islam?“15 Die Mahnungen dieser Kirchenführer stehen in einer Linie mit dem Friedensappell der „Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“, die unter dem Namen „Nostra aetate“ im November 1965 vom Zweiten Vatikanischen Konzil angenommen worden ist. Zwar betrachte man die Muslime „mit Wertschätzung“, da sie auf ein sittliches Leben Wert legten, Gott in Gebet, Almosen und Fasten verehrten. „Da aber im Ablauf der Jahrhunderte zwischen Christen und Muslimen nicht wenige Meinungsverschiedenheiten und Feindschaften entstanden sind, ermahnt die Hochhei13 Zitiert nach: Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität. Ansprache, gehalten an der Universität Regensburg am 12. September 2006, Vortragsmanuskript. 14 Johannes Paul II., Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung. Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1. Januar 2002 (zitiert nach: http: // dbk.de / aktuell /meldungen / 2910 / print_de.html). 15 Karl Kardinal Lehmann, Chancen und Grenzen des Dialogs zwischen den abrahamitischen Religionen, Vortrag beim St. Michaels-Empfang in Berlin am 19. September 2006, Kapitel VI., Vortragsmanuskript.
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lige Synode alle, dass sie sich, indem sie das Vergangene vergessen, aufrichtig um gegenseitiges Verständnis mühen und gemeinsam für alle Menschen soziale Gerechtigkeit, sittliche Güter sowie Frieden und Freiheit schützen und fördern.“16
III. Die katholische Kirche und die Gewalt: Ein Rückblick Die Einstufung der Gewaltfrage als vordringliches der besonders schwierigen und prekären Probleme im interreligiösen Gespräch ist nicht nur in den aktuellen Auseinandersetzungen mit dem und innerhalb des Islam zu suchen. Karl Kardinal Lehmann hat, ehe er seine Anfrage an die Muslime formulierte, auch auf die Verfehlungen anderer Religionen, auch der eigenen katholischen, hingewiesen. „Alle großen Religionen kennen die Versuchung, Gewalt im Namen des Glaubens zu üben oder zu rechtfertigen. Alle sind in der Geschichte dieser Versuchung auch erlegen. Nicht nur im Gespräch mit den Muslimen, sondern auch in der kritischen Selbstbefragung, die ein konstitutiver Bestandteil jedes religiösen Lebens ist, werden Kirche und Christen deshalb immer auch die Gewalttendenzen in der eigenen Geschichte offen legen und anerkennen.“17 Aufsehen erregend war in diesem Zusammenhang die Vergebungsbitte Papst Johannes Pauls II., die er bei einem Pontifikalgottesdienst am 12. März 2000 in Rom formulierte. Sie stellt unter den einschlägigen Zeugnissen das deutlichste Bekenntnis zu einer kirchengeschichtlichen Vergangenheit dar, die nach heutigen Maßstäben zweifelhaft war. In dem Gebet des Papstes heißt es: „Herr der Welt, Vater aller Menschen, durch deinen Sohn hast du uns gebeten, auch den Feind zu lieben, denen Gutes zu tun, die uns hassen, und für die zu beten, die uns verfolgen. Doch oft haben die Christen das Evangelium verleugnet und der Logik der Gewalt nachgegeben. Die Rechte von Stämmen und Völkern haben sie verletzt, deren Kulturen und religiöse Traditionen verachtet: Erweise uns deine Geduld und dein Erbarmen! Vergib uns!“18 Die Umstände, auf die der Papst hier Bezug nimmt, haben ihre Grundlagen auch in der Exegese der Schriften. So militaristisch das Alte Testament zuweilen klingt, so sehr bildet das Neue Testament ein friedliebendes Christentum ab, das den Sieg des sündenverfallenen Menschen über sich selbst zum höchsten Kampfesziel erklärt.19 Die weitere Geschichte des Christentums kennt dennoch Gewalt in ihren verschiedenen Spielarten. Vor allem die Kreuzzüge sind in die Geschichte der Christenheit als Offensiven eingegangen, die mit höchster Billigung von Kirchenvätern (etwa des Bernhard von Clairvaux oder auch des Thomas von Aquin) und von Konzilien stattfanden. Das 4. Laterankonzil (1215) preist die Gewalt gegen Andersgläubige – ein „Ketzertum, das sich gegen den heiligen, orthodoxen und katholischen Glauben erhebt, exkommunizieren wir“, die 16 Decretum „Nostra aetate“ vom 28. 11. 1965, NA 3,1; abgedruckt in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Band 1, hrsg. von P. Hünermann / J. Hilberath, S. 355 – 362, hier S. 358 17 Karl Kardinal Lehmann, Chancen und Grenzen des Dialogs. 18 Vergebungsbitte von Papst Johannes Paul II., Pontifikalgottesdienst am 12. 3. 2000 in St. Peter in Rom, Teil V: Schuldbekenntnis für die Verfehlungen gegen die Liebe, den Frieden, die Rechte der Völker, die Achtung der Kulturen und der Religionen (zitiert nach http: // dbk.de / aktuell / meldungen / 2750 / print_de.html). 19 Vgl. hierzu: Hans Maier, Das Doppelgesicht des Religiösen, S. 18 f.
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Katholiken, die diese „Ketzer“ vernichten, „genießen den Ablass und die heiligen Privilegien, die denen erteilt sind, die im Heiligen Land kämpfen“.20 Die Geschichte der Gewalt und ihrer Rechtfertigung, ausgehend vom Christentum, nimmt ihren Fortgang über Luther und Calvin, Papst Pius V., den Kardinal Bellarmin (der Giordano Bruno auf den Scheiterhaufen schickte) und andere bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts.21 Das Zweite Vatikanische Konzil schlägt in der Frage des Verhältnisses von Religion und erlaubter Gewalt, zumal mit dem Ziel der Missionierung, einen deutlich behutsameren Weg ein. Neben der Erklärung Nostra aetate zu den nichtchristlichen Religionen und der darin enthaltenen Friedens-Forderung wird in der Erklärung Dignitatis humanae, die von der religiösen Freiheit handelt, ein deutlicher Bruch mit den geistigen Grundlagen aller Kreuzzüge vollzogen. „Diese Vatikanische Synode“, heißt es in Dignitatis humanae, „erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von Zwang von Seiten sowohl Einzelner als auch gesellschaftlicher Gruppen und jedweder menschlichen Macht, und zwar so, dass im religiösen Bereich weder jemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat oder öffentlich, entweder allein oder mit anderen verbunden, innerhalb der gebührenden Grenzen nach seinem Gewissen zu handeln. Überdies erklärt sie, dass das Recht auf religiöse Freiheit wahrhaft in der Würde der menschlichen Person selbst gegründet ist, wie sie sowohl durch das geoffenbarte Wort Gottes als auch durch die Vernunft selbst erkannt wird.“22 Die Erklärung behandelt dann Einzelheiten der freien Religionsausübung in einer Gesellschaft und fährt fort: „Hieraus folgt, dass es für die öffentliche Gewalt ein Unrecht ist, durch Gewalt oder Furcht oder andere Mittel den Bürgern das Bekenntnis oder die Verwerfung irgendeiner Religion aufzuerlegen oder zu verhindern, dass irgendjemand entweder in eine religiöse Gemeinschaft eintritt oder sie verlässt. Umso mehr wird gegen den Willen Gottes und gegen die heiligen Rechte der Person und der Völkerfamilie gehandelt, wenn auf irgendeine Weise Gewalt angewendet wird, um die Religion zu zerstören oder fernzuhalten, sei es im ganzen Menschengeschlecht oder in irgendeiner Gegend oder in einer bestimmten Gruppe.“23
IV. Christentum und Gewalt: Ein Blick in die Gegenwart Die Ablehnung von jeder Gewalt, die dem Christentum heute idealistisch zugrunde liegt, muss angesichts der rauen Wirklichkeit allerdings ihre Brüche erfahren. „Das Ziel, Gewaltanwendung aus der internationalen Politik zu verbannen, kann auch in Zukunft mit der Pflicht kollidieren, Menschen vor fremder Willkür und Gewalt wirksam zu schützen. Dies gilt nicht nur in herkömmlichen zwischenstaatlichen Konflikten, sondern IV. Laterankonzil, Konstitution Excommunicamus. Eine Übersicht über die Entwicklung gibt Dag Tessore, Der Heilige Krieg im Christentum und Islam, Düsseldorf 2004. 22 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über die religiöse Freiheit „Dignitatis humanae“ vom 7. 12. 1965, DH 2,1, abgedruckt in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Band 1, S. 438. 23 Ebd., DH 6,5, S. 445. 20 21
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auch bei systematischer Gewaltanwendung gegen verfolgte Minderheiten innerhalb bestehender Staaten oder in Fällen terroristischer Geiselnahme und Erpressung“, beschreiben die deutschen katholischen Bischöfe die Situation in ihrer Schrift Gerechter Friede (GF).24 In solchen Situationen stelle sich deshalb die Frage, unter welchen Bedingungen die Anwendung von Gegengewalt gerechtfertigt sein kann, da alternative Instrumentarien dafür fehlten. „Die Anwendung von Gegengewalt kommt überhaupt nur als ultima ratio in Betracht“, schreiben die Bischöfe und weisen deshalb auf die Gefahren jeder Gewaltanwendung hin. Auch Gegengewalt stelle ein „schwerwiegendes Übel“ dar, da sie ein nur schwer begrenzbares Ausmaß von Leid mit sich bringe. Zudem setze sie eine Eigendynamik frei, die ein Übermaß an Gewaltanwendung nach sich ziehen könne. Auch werde es mit andauerndem Konflikt immer schwieriger, die Regeln des ius in bello, also des Rechts im Kriege zu beachten. Zudem werde Krieg „oft als Freiraum genutzt, indem sich die ,Lust am Bösen‘ ungestraft austoben“ könne. 25 Zwar ächte das Völkerrecht jeden Angriffskrieg und verpflichte auf den Gewaltverzicht, es kenne als Ausnahme aber den Fall der Notwehr eines Staates gegenüber einem militärischen Angriff von außen und die Abwehr des Angreifers durch Dritte. Eine solche „Nothilfeintervention“ gründe in der Überzeugung, dass ein „gewaltsamer Bruch des Völkerrechts weder vom angegriffenen Staat noch von der Staatengemeinschaft einfach hingenommen werden darf. Jeder, der mit dem Gedanken an einen Angriff spielt, muss wissen, dass sich Aggression für ihn nicht lohnt“, betonen auch die Bischöfe. Sie fügen den Verweis auf jene Fälle an, in denen eine gewaltsame Hilfe von außen notwendig sein kann, weil man „schutzlosen Opfern schwerwiegender und systematischer Verletzung der Menschenrechte innerhalb eines Staates“ zur Hilfe kommen müsse. Diese Frage stehe seit den UN-Aktionen im Nordirak 1991, in Somalia 1992 und im Kosovo 1999 verstärkt auf der Tagesordnung.26 Diese Feststellungen, vor den Terrorangriffen auf die Vereinigten Staaten im September 2001 und den nachfolgenden militärischen Aktionen der USA und ihrer Verbündeter formuliert, wurden durch diese Ereignisse nicht obsolet. Zwar wird der Terrorismus in der Denkschrift Gerechter Friede nicht ausdrücklich thematisiert, „aber er gehört ja genau in jenen Kontext der Auflösung verlässlicher Machtstrukturen und zunehmender Entstaatlichung und Privatisierung von Gewalt, den das Wort der Deutschen Bischofskonferenz als Kernproblem der Sicherheitslage nach dem Ende des Kalten Krieges beschreibt“, formulierte Karl Kardinal Lehmann 2003, um an anderer Stelle darauf hinzuweisen, es werde sich „auf unabsehbare Zeit immer wieder die Frage stellen, ob in einer konkreten Situation der Einsatz von Waffen gerechtfertigt, vielleicht sogar geboten ist“, um Aggressoren abzuwehren, und „ebenso kann der Einsatz von Gewaltmitteln zur Verhinderung eines Völkermordes legitim und erforderlich sein.“27 In ähnlicher Weise argumentierte schon die Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils, die sich „Über die Kirche in der Welt dieser Zeit“ 24 Gerechter Friede, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2000 (Die deutschen Bischöfe, 66), Nr. 150. Vgl. insbesondere die Nr. 150 bis 161. 25 Vgl. Gerechter Friede, Nr. 151. 26 Vgl. Gerechter Friede, Nr. 152 27 Karl Kardinal Lehmann, Zur Verantwortung des christlichen Glaubens für den Frieden. Festvortrag anlässlich der Feier des 25jährigen Bestehens des Instituts für Theologie und Frieden, gehalten am 27. Juni 2003, Kapitel VII und VIII.
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Gedanken macht.28 Zunächst wird dort die Notwendigkeit aller Mühen zur Vermeidung von Krieg betont, dann aber heißt es: „Jedenfalls ist der Krieg nicht aus den menschlichen Angelegenheiten ausgemerzt. Solange aber die Gefahr eines Krieges da ist und eine zuständige und mit angemessenen Mitteln ausgestattete internationale Autorität fehlt, solange wird man – freilich nach Ausschöpfung aller Hilfsmittel friedlicher Verhandlung – den Regierungen das Recht auf rechtmäßige Verteidigung nicht absprechen können.“ Dabei müsse man die Staatslenker, die das Wohl der ihnen anvertrauten Völker pflichtgemäß schützten, ermahnen, „die so ernsten Dinge“ auch ernst zu behandeln. „Aber es ist etwas anderes, militärische Unternehmungen auszuführen, damit Völker gerechterweise verteidigt werden, als andere Nationen unterjochen zu wollen. Auch macht kriegerische Macht nicht jeden militärischen und politischen Gebrauch von ihr rechtmäßig. Auch wird, wenn ein Krieg unglücklicherweise schon entstanden ist, nicht eben dadurch alles zwischen den gegnerischen Parteien erlaubt“, heißt es in Gaudium et spes, indem die Konzilsväter dort noch einmal deutlich die Zulässigkeit des Angriffskrieges ablehnen, den Verteidigungskrieg unter bestimmten Umständen aber legitimieren. Dies schließt auch die gewissensmäßige Legitimation für den in einem Verteidigungskrieg kämpfenden katholischen Soldaten ein, wenn es weiter heißt: „Diejenigen aber, die, dem Dienst am Vaterland verpflichtet, sich im Heer befinden, sollen sich auch selbst als Diener der Sicherheit und der Freiheit betrachten, und indem sie diese Aufgabe recht ausführen, tragen sie wahrhaft zur Festigung des Friedens bei.“29 Papst Johannes Paul II. hat die Linie der Konzilsväter auch angesichts der neuen terroristischen Bedrohungslage fortgeführt.30 Lange vor dem 11. September 2001, schon in seinem ersten Amtsjahr, hat Johannes Paul II. den Dialog mit dem Islam intensiviert, den das Zweite Vatikanische Konzil mit der Erklärung zur Religionsfreiheit Nostra Aetate angestoßen hatte. Wie kein Papst vor ihm hat Johannes Paul II. islamischen Ländern nicht nur einen Besuch abgestattet und das Gespräch gesucht. Auf der Basis dieses von ihm über 25 Jahre gepflegten Dialogs war es möglich, dass der Vatikan und die oberste islamische Lehrinstanz, die Al-Azhar-Universität in Kairo, in einer gemeinsamen Erklärung den Terroranschlag des 11. September 2001 nur einen Tag später verurteilten: „Solche Gewaltakte führen nicht zum Frieden in der Welt.“31 So konnte der Papst im Blick auf einen breiten Konsens gerade dort, wo es Not tut, mit den islamischen Autoritäten urteilen: „Niemand darf im Namen Gottes töten“32. Jedoch ist der Krieg bis heute trotz völkerrechtlichem Gewaltverbot in der Völkergemeinschaft gegenwärtig: nicht nur als Mittel gewaltförmigen Streites unter den Staaten, sondern als militärische Intervention wie auch als Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Aus seiner entschiedenen Haltung für die Würde eines jeden Menschen 28 Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“, abgedruckt in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Band 1, S. 592 – 749. 29 Ebd., S. 727 f. 30 Vgl. Heinz-Gerhard Justenhoven, Die Friedenslehre Papst Johannes Pauls II., abrufbar unter http: // dbk.de / sedisvakanz / johannes_paul_ii_themen_frieden / index.html; Darstellung und Zitate 31 bis 39 von dort übernommen. 31 Zitiert nach: Johannes Paul II., Versöhnung zwischen den Welten. Im Gespräch mit den Religionen, hrsg. und eingel. von Matthias Kopp, München 2004, S. 111. 32 Begegnung mit den Muslimen muß mehr sein als geteilter Lebensalltag. Ansprache von Johannes Paul II. an die regionale Bischofskonferenz von Nordafrika [CERNA] in Tunis, in: L’Osservatore Romano (Deutsch) (OR (D)) Nr. 17 (Dokumentation) vom 26. April 1996.
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und der daraus resultierenden unbedingten Achtung des von Gott geschaffenen Lebens votiert Johannes Paul II. für die Überwindung der Gewalt und für gewaltloses Handeln. Seine Meinung, das äußerste Mittel des Krieges werde zu rasch ergriffen, hat ihn dem Verdacht des Pazifismus ausgesetzt. Gleichwohl argumentiert Johannes Paul II. bezüglich des Verteidigungsrechtes in der Linie seiner Vorgänger. In der Frage eines Eingreifens in den Krieg in Bosnien-Herzegowina bezog der Papst Position: „Die europäischen Staaten und die Vereinten Nationen haben die Pflicht und das Recht sich einzumischen, um jemanden zu entwaffnen, der töten will. Dies bedeutet nicht den Krieg anzuheizen, sondern ihn zu stoppen.“33 Hier gehe es darum, „unerhörte Leiden für zahlreiche Unschuldige“34 zu beenden. Auch wenn er prinzipiell von einem Verteidigungsrecht ausgeht, war sich Johannes Paul II. der Folgen eines Krieges bewusst: Es ist das unermessliche Leid der Zivilbevölkerung in jedem Krieg, weswegen er sich so erkennbar schwer tat, auch dem legitimen Krieg das Wort zu reden. Darüber hinaus sah er, dass jede Gewaltanwendung schon den Keim zu neuer Gewalt als Reaktion in sich trägt. Angesichts seiner entschiedenen Haltung zur Verteidigung des Lebens war es für Johannes Paul II. keine Frage, dass die Anwendung militärischer Gewalt immer nur als äußerstes Mittel in Frage kommt.35 Zugleich hat Johannes Paul II. während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien erlebt, dass die europäischen Staaten wie die Vereinten Nationen zu lange nicht bereit waren, wirksam einzugreifen. Öffentlich äußerte der Papst, dass das „schlimmste Übel, das dem heutigen Europa passieren könnte, das SichAbfinden mit dem Krieg [wäre], der Millionen von Männern und Frauen, zumal in den Balkanländern und im Kaukasus, grausam quält.“36 Von den Menschenrechten her gedacht sei es eine Frage von Gerechtigkeit und Solidarität, den Leidenden zu Hilfe zu kommen. „Es ist möglich“, so Johannes Paul II. in Bezug auf das Leid der Zivilbevölkerung auf dem Balkan, „dem ein Ende zu setzen, wenn man Mittel ergreift, die Regeln des Rechtes durchsetzen.“37 An anderer Stelle nennt er dies das „Prinzip der Nichtgleichgültigkeit“ 38. So machte er deutlich, dass „der Dialog und die Verhandlungen . . . auf keinen Fall von der Pflicht entbinden [können], die Aggressoren zu entwaffnen, die ganze Volksgruppen als Geisel genommen haben. Man muss den internationalen Organisationen helfen, die humanitären Hilfsgüter zu sammeln und auszuteilen; falls nötig, muss dabei auch Gewalt angewandt werden, damit diese Hilfsgüter zu der bedürftigen Bevölkerung gelangen, denn es handelt sich um eine begründete ,humanitäre Einmischung‘.“39 33 So zitiert Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano aus seinem Gespräch mit dem Papst über die Lage in Bosnien-Herzegowina: Den zu entwaffnen, der töten will, ist rechtens. Kardinalstaatssekretär Sodano sprach mit dem Papst über Bosnien-Herzegowina, in: OR (D) Nr. 33 / 34 vom 14. August 1992. 34 Wo sind wir vom Evangelium abgewichen? Eine Gewissenserforschung für die Welt an der Schwelle zum Jahr 2000. Interview von Jas Gawronskis mit Johannes Paul II. in der Tageszeitung ,La Stampa‘, in: OR (D) Nr. 45 vom 12. November 1993. 35 Vgl. Recht auf Verteidigung, in: OR (D) Nr. 30 / 31 vom 28. Juli 1995. 36 Gemeinschaft der Nationen – Ziel politischer Zusammenarbeit in Europa. Ansprache von Johannes Paul II. an den Ministerrat der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) am 30. November 1993, in: OR (D) Nr. 50 (Beilage XLVI) vom 17. Dezember 1993. 37 Ebd. 38 Streitkräfte im Dienst der Verteidigung von Freiheit und Sicherheit. Ansprache Johannes Pauls II. an die Militärbischöfe, in: OR (D) Nr. 24 / 25 vom 15. April 1994.
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„Der Terrorismus basiert auf der Verachtung des Lebens der Menschen. Deshalb bildet er nicht allein den Grund für unerträgliche Verbrechen, sondern stellt selbst ein wirkliches Verbrechen gegen die Menschheit dar, insofern er auf den Terror als politische und wirtschaftliche Strategie zurückgreift. Es besteht daher ein Recht auf Verteidigung gegen den Terrorismus“, heißt es bei Johannes Paul II.40 Allerdings ruft der Papst in Erinnerung, dass auch im Fall der Bekämpfung des Terrorismus geltendes Völkerrecht nicht aus den Angeln gehoben werden dürfe. Denn jede Anwendung militärischer Gewalt, die über die unmittelbare Selbstverteidigung hinausginge, könne nur der Durchsetzung elementarer Rechtsnormen wie dem Schutz vor schwersten Menschenrechtsverletzungen geschuldet sein. Dies zu entscheiden komme aber der Institution zu, die über den Partikularinteressen steht, den Vereinten Nationen. Der Nachfolger von Papst Johannes Paul II., Papst Benedikt XVI., hat diesen Punkt nochmals zugespitzt auf den Terrorismus, der vorgibt, aus religiösen Gründen kriegerisch zu handeln – der also einen „Kulturkampf“ unterstellt und darin selbst eine offensive gewalttätige Rolle einnimmt. „Es ist verständlich, dass das Menschenbild in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich ist. Unannehmbar ist dagegen, wenn anthropologische Vorstellungen gehegt werden, die in sich selbst den Keim des Kontrastes und der Gewalt tragen. Ebenso inakzeptabel sind Gottesvorstellungen, die Unduldsamkeit gegenüber den Mitmenschen erregen und zur Anwendung von Gewalt ihnen gegenüber anspornen. Das ist ein Punkt, der in aller Klarheit bekräftigt werden muss: Ein Krieg im Namen Gottes ist niemals gutzuheißen! Wenn eine gewisse Auffassung von Gott den Ursprung verbrecherischer Handlungen bildet, ist das ein Zeichen dafür, dass diese Auffassung sich bereits in eine Ideologie verwandelt hat“, schreibt Benedikt XVI. Aber auch er sieht realistisch, dass Gewalt nicht aus der Welt zu vertreiben ist, verweist aber auf die Unverzichtbarkeit des Völkerrechts. Von besonderem Interesse sind die Bedingungen, die er für einen unausweichlichen Kriegseinsatz formuliert: „Ausgehend von dem Bewusstsein, dass es unveräußerliche Menschenrechte gibt, die mit der gemeinsamen Natur der Menschen zusammenhängen, ist ein humanitäres Völkerrecht ausgearbeitet worden, zu dessen Beachtung die Staaten auch im Kriegsfall verpflichtet sind. Das ist leider – abgesehen von der Vergangenheit – in einigen Situationen kriegerischer Auseinandersetzungen in jüngster Zeit nicht entsprechend zur Anwendung gekommen. So ist es z. B. in dem Konflikt geschehen, dessen Schauplatz vor einigen Monaten der Süd-Libanon war, wo die Pflicht, unschuldige Opfer zu schützen und ihnen zu helfen und die Zivilbevölkerung nicht einzubeziehen, zum großen Teil nicht beachtet wurde. Das schmerzliche Schicksal des Libanon und die neue Beschaffenheit der Konflikte, besonders seit die terroristische Bedrohung ungekannte Formen der Gewalt in Gang gesetzt hat, erfordern, dass die internationale Gemeinschaft das humanitäre Völkerrecht bekräftigt und es auf alle heutigen Situationen bewaffneten Konfliktes – einschließlich der vom geltenden Völkerrecht nicht vorausgesehenen – bezieht. 39 Botschafter der Vergangenheit – Gestalter der Zukunft. Ansprache von Erzbischof Ernesto Gallina, Beauftragter für die Internationalen Regierungsorganisationen, vor der 17. Konferenz des Weltverbandes der Juristen in Kanada, in: OR (D) Nr. 46 (Beilage XLIV) vom 17. November 1995; vgl. auch ,Hilfe auch mit Gewalt durchsetzen‘, in: OR (D) Nr. 6 vom 12. Februar 1993. 40 Papst Johannes Paul II., Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung. Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1. Januar 2002 (zitiert nach: http: // dbk.de / aktuell /meldungen / 2910 / print_de.html).
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Außerdem verlangt das Übel des Terrorismus ein vertieftes Nachdenken über die ethischen Grenzen, die den Einsatz heutiger Mittel zum Schutz der nationalen Sicherheit betreffen. Immer häufiger werden nämlich die Kriege nicht erklärt, vor allem, wenn terroristische Gruppen sie auslösen, die entschieden sind, ihre Ziele mit jedwedem Mittel zu erreichen. Angesichts der erschütternden Szenarien dieser letzten Jahre können die Staaten unmöglich die Notwendigkeit verkennen, sich klarere Regeln zu geben, die fähig sind, dem dramatischen Abdriften, das wir erleben, wirksam entgegenzutreten. Der Krieg stellt immer einen Misserfolg für die internationale Gemeinschaft dar und einen schweren Verlust an Menschlichkeit. Wenn es trotz allem dazu kommt, müssen zumindest die wesentlichen Prinzipien der Menschlichkeit und die grundlegenden Werte jeglichen zivilen Zusammenlebens gewahrt werden durch die Aufstellung von Verhaltensnormen, die die Schäden so weit wie möglich begrenzen und darauf ausgerichtet sind, die Leiden der Zivilbevölkerung und aller Opfer der Konflikte zu erleichtern.“41
V. Zusammenfassung Der Gang durch Geschichte und Gegenwart des Verhältnisses von Religion und Gewalt unter dem besonderen Aspekt des vorgeblichen „Kulturkampfes“ zeigt deutliche Unterschiede zwischen den großen Religionen der Welt. Der Prozess der Aufklärung, der die christlichen Religionen in ihrer inneren Ethik geläutert hat42 und die Gewalt als offensives Mittel in religiösem oder politischem Zusammenhang relativierte bzw. ausschloss, ist insbesondere im Islam nicht – an seinen Schriften nachprüfbar – nachvollzogen worden. Die Größe und die Dynamik der Gefahr religiös motivierter Gewaltanwendung wird sich an der Frage entscheiden, inwieweit es dem Islam gelingt, diesen Prozess nachzuholen und sich eine innere Struktur zu geben, die einen weltweiten, zum Frieden hin orientierten Dialog überhaupt erst möglich macht. Dem Christentum ist die dafür notwendige innere Wendung längst gelungen.
41 Papst Benedikt XVI., Der Mensch – Herz des Friedens. Botschaft seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 2007 (zitiert nach: http: // dbk.de / aktuell / meldungen / 01243 / print_de.html). Diesbezüglich hat der Katechismus der Katholischen Kirche sehr ernste und genaue Kriterien vorgelegt; vgl. Nr. 2307 – 2317. 42 Vgl. hierzu: Karl Lehmann, Fundamentalismus als Herausforderung für Theologie und Kirche, in: Heiner Marré / Dieter Schümmelfelder / Burkhard Kämper (Hrsg.), Fundamentalismus als Herausforderung an Staat, Kirche und Gesellschaft, Essener Gespräche, Band 33, S. 63 ff., Münster 1999.
Vierzehntes Kapitel
Entwicklungszusammenarbeit
Weltwirtschaft und Entwicklungsländer Von Johannes Müller
Die katholische Kirche versteht sich von ihren Anfängen an als Weltkirche mit einer universalen Botschaft. Sie ist insofern der vielleicht älteste globale Akteur, auch wenn sich dieses Bewusstsein erst im Laufe von Jahrhunderten entfalten konnte. Dies spiegelt sich auch in der Katholischen Soziallehre wider, die zunächst nur die Industrieländer im Blick hatte, sich aber allmählich den weltweiten Problemen öffnete. Der Zusammenhang von Weltwirtschaft und Entwicklung spielt dabei eine wichtige Rolle. Der Prozess der Globalisierung, der vor allem in seiner ökonomischen Dynamik die gesamte Welt durchdringt, hat die Frage einer gerechten Weltwirtschafts- und Weltfinanzordnung noch dringlicher gemacht, zumal viele Menschen sich durch diese Entwicklung bedroht fühlen. Auch die Soziallehre muss sich dieser neuen Herausforderung stellen. Sie wird freilich primär grundlegende Kriterien vorlegen, da sie gerade in diesem komplexen Feld „keine technischen Lösungen“ (SRS 41) und „keine eigenen Modelle“ (CA 43) vorzulegen hat.
I. Weltweite Armut und Weltwirtschaft Neuere Studien belegen, dass im Gefolge der Globalisierung die Kluft zwischen Reich und Arm zwar geringer geworden, der Anteil der ärmsten 20 Prozent der Weltbevölkerung am Welteinkommen (auf Kaufkraftbasis) jedoch gesunken ist. Dies bestätigt die These, dass die Globalisierung unter Einkommensrücksicht viele Gewinner hat, auch in der Dritten Welt, umgekehrt aber ausgerechnet die Ärmsten zu Verlierern macht. Dies deckt sich mit dem Tatbestand, dass vor allem die Nachfrage nach ungelernter Arbeit zurückgeht, längerfristig vermutlich auch in den Entwicklungs- und Transformationsländern. Die innere Dynamik der Globalisierung führt also tendenziell zum Ausschluss schwächerer und weniger leistungsfähiger Menschen, Gruppen und Regionen weltweit. Dies ist ein für Christen nie einfach hinnehmbarer Tatbestand. Es gibt ein Bündel von eng verflochtenen Ursachen, die zu dieser Entwicklung geführt haben. Für viele Defizite sind die betroffenen Länder, vor allem ihre Eliten, selbst verantwortlich. Ebenso gibt es individuelles Versagen, das zur Armut führt. Eine wesentliche Rolle spielt aber auch eine Weltordnung, die primär nach den Interessen der Industrieländer gestaltet ist. Sie bestimmen weithin die Regeln des Welthandels und der internationalen Finanzen. Teilweise setzen sie ihre Interessen auch regelwidrig durch (z. B. Protektionismus) oder berücksichtigen in ihrer Politik zu wenig die Bedürfnisse armer Länder (z. B. Schuldennachlass). Spezifische Maßnahmen zur globalen Armutsbekämpfung wie Entwicklungshilfe können diese Defizite nie ausgleichen. Es braucht
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vielmehr eine Weltwirtschaftsordnung, welche diese Ziele unterstützt, worauf auch die Millenniums-Entwicklungsziele verweisen. Die Soziallehre hat sich schon immer zum Anwalt der Armen gemacht. Ins Blickfeld gerückt sind in neuerer Zeit zunehmend die armen und ärmsten Länder, in denen die Mehrzahl von ihnen lebt. Eine nachhaltige Verbesserung ihrer Lage erfordert eine institutionelle Ordnung, die das Handeln der Menschen unterstützt. Eine Vielzahl von Enzykliken, päpstlichen Botschaften (etwa zum Weltfriedenstag) und sonstigen Erklärungen hat dies stets betont und dabei auch den Zusammenhang von Weltwirtschaft und Entwicklung immer wieder thematisiert. Einige wichtige Grundsätze der Soziallehre sollen im Folgenden als Leitfaden dienen, um Konturen einer entwicklungsgerechten Weltwirtschaftsordnung exemplarisch aufzuzeigen. Dabei kann nur auf die wichtigsten Dokumente mit ihren Kernaussagen explizit Bezug genommen werden.
II. Grundsätze der Katholischen Soziallehre 1. Umfassende Entwicklung
Ein umfassender Entwicklungsbegriff, der im Zentrum der Soziallehre steht, ist grundlegender Maßstab auch für Wirtschaft und Weltwirtschaft: „Entwicklung ist nicht einfach gleichbedeutend mit wirtschaftlichem Wachstum. Wahre Entwicklung muss umfassend sein, sie muss jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben.“ (PP 14) – Paul VI. spricht von einem „integralen Humanismus“ und leitet daraus konkrete Entwicklungsziele ab: „Menschlicher: das ist der Aufstieg aus dem Elend zum Besitz des Lebensnotwendigen, die Überwindung der sozialen Missstände, die Erweiterung des Wissens, der Erwerb von Bildung. Menschlicher: das ist das deutlichere Wissen um die Würde des Menschen, das Ausrichten auf den Geist der Armut, die Zusammenarbeit zum Wohle aller, der Wille zum Frieden. Menschlicher: das ist die Anerkennung letzter Werte von Seiten des Menschen und die Anerkennung Gottes, ihrer Quelle und ihres Zieles.“ (PP 21) Eben darum sind es an erster Stelle immer die Menschen selbst, die sich und vorhandene Ressourcen entwickeln müssen. Entwicklung in diesem Sinn ist immer „Entwicklung von unten“, d. h. die menschliche Würde verlangt, dass der Mensch Zentrum und Ziel, Subjekt und Träger aller Entwicklung ist. Die Soziallehre betrachtet darum wahre Entwicklung als einen kulturellen Prozess. Dies gilt auch für die Weltwirtschaft: Ihre Ziele, Wirtschaftswachstum und globaler Wohlstand, dürfen nicht zum alleinigen oder übergeordneten Maßstab werden. Soziale, kulturelle, ökologische und religiöse Belange sind nicht allein nach ihrer ökonomischen Effizienz und Nützlichkeit zu betrachten (SRS 29 f.). 2. Subsidiarität und Partizipation
Die Soziallehre betont die Eigenverantwortung der Entwicklungsländer, denn wirkliche Entwicklung kann immer nur durch die Menschen vor Ort erfolgen: „Weil die Völker die Baumeister ihres eigenen Fortschritts sind, müssen sie selbst auch an erster
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Stelle die Last und Verantwortung dafür tragen.“ (PP 77) – Dies verlangt eine Entwicklungspolitik, die von den wirklichen Bedürfnissen des jeweiligen Landes ausgeht, die (oft reichlich) verfügbaren Ressourcen nutzt und die Eigeninitiative der Menschen fördert (SRS 44). Diesem Postulat entspricht das Strukturprinzip der Subsidiarität (CA 48). Es bedeutet zum einen ein Recht auf Partizipation, also auf aktive Teilnahme und Teilhabe, zum anderen die Verantwortung des Staates für eine Ordnung, welche die wirtschaftliche Initiative (SRS 15; CA 32) nicht behindert, sondern unterstützt. In diesem Zusammenhang werden harsche Worte an die Eliten der Dritten Welt gerichtet: „Und zu allem kommt der Skandal schreiender Ungerechtigkeit nicht nur im Besitz der Güter, sondern mehr noch in deren Gebrauch. Eine kleine Schicht genießt in manchen Ländern alle Vorteile der Zivilisation und der Rest der Bevölkerung ist arm, hin- und hergeworfen und ermangelt ,fast jeder Möglichkeit, initiativ und eigenverantwortlich zu handeln, und befindet sich oft in Lebens- und Arbeitsbedingungen, die des Menschen unwürdig sind‘.“ (PP 9) Diese Leitlinien gelten auch für die Weltwirtschaft. Ihre Institutionen und Regeln haben eine subsidiäre Funktion. Negativ gesprochen sollen sie Hindernisse beseitigen, die eigenverantwortlichem Handeln entgegenstehen. Positiv sollen sie durch förderliche Rahmenbedingungen die Eigeninitiative unterstützen. Dies schließt ein, dass die ärmeren Länder echte Mitsprache sowie einen fairen Anteil an den Ressourcen und am Wohlstand der Erde erhalten. Dazu können regionale Zusammenschlüsse viel beitragen (SRS 45). Umgekehrt darf man folglich nicht die Lösung aller Probleme von der Weltwirtschaft erwarten. Die gegenwärtige Weltwirtschaftsordnung wird diesem Anspruch nicht gerecht. Von vielen entscheidenden Verhandlungen sind die kleinen, weniger wichtigen Länder faktisch ausgeschlossen. Manche internationale Verträge schwächen ihre Selbständigkeit. So beschneidet etwa das Abkommen zum Schutz geistigen Eigentums (TRIPS) das traditionelle Recht der Bauern, Saatgut aus der eigenen Ernte zu gewinnen, und führt teils dazu, dass sie es aus dem Ausland teuer zukaufen müssen. Zudem bedroht diese Regelung die Artenvielfalt. 3. Gemeinwohl
Eine entwicklungsgerechte Weltwirtschaft muss auf das Weltgemeinwohl ausgerichtet sein und sein gemeinsames Handeln über nationale Grenzen hinweg fördern. Angesichts globaler Herausforderungen wie Armutsbekämpfung, Klimaschutz oder Sicherheit braucht es weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen, welche einen möglichst chancengleichen Wettbewerb gewährleisten, indem sie die Ausgangsbedingungen schwächerer Länder auszugleichen versuchen (PP 58). Ziel sind faire „Spielregeln“, die das Gewinnstreben nicht außer Kraft setzen, sondern in eine das Gemeinwohl fördernde Richtung lenken. Das Völkerrecht, die Menschenrechte (Zivil- wie Sozialpakt), das System der Vereinten Nationen, Institutionen wie IWF und Weltbank oder das Regelsystem der Welthandelsorganisation (WTO), besonders ihr Schlichtungsverfahren, sind wichtige, aber keineswegs ausreichende institutionelle Bausteine. Es gibt nämlich nach wie vor weithin ungeregelte Bereiche wie den Umweltschutz, was oft auf Kosten des Gemeinwohls geht.
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Besondere Aufmerksamkeit verdienen „Global Public Goods“. Derartige öffentliche bzw. kollektive Güter unterscheiden sich von privaten Gütern dadurch, dass ihre Nutzung für alle offen ist und der Gebrauch durch einen Akteur nicht den Gebrauch durch andere beeinträchtigt. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) unterscheidet drei Kategorien: Globale Umweltgüter wie Meere, Erdatmosphäre oder Ozonschicht; von Menschen geschaffene Güter wie Wissen oder universal gültige Normen und Werte; Grundlagen für das Weltgemeinwohl wie Frieden, eine Welt ohne Armut, ökologische Nachhaltigkeit oder stabile Finanzmärkte. Da ein freier Weltmarkt solche Güter in der Regel nicht bereitstellt, braucht es neue institutionelle Formen der Zusammenarbeit über nationale Eigeninteressen hinweg. Dies gilt umso mehr, als die weltweit ungleiche Verteilung von Kosten und Nutzen – zumindest kurzfristig – die stärkeren Akteure zu rücksichtslosem Verhalten verleiten kann. Vorrang sollten jene globalen öffentlichen Güter haben, die am meisten zur Verbesserung der Wirtschaft armer Länder und der Lebensverhältnisse ärmerer Bevölkerungsschichten beitragen.
4. Allgemeine Bestimmung der Güter und Sozialpflichtigkeit des Eigentums
Die Soziallehre tritt prinzipiell für eine freie Marktwirtschaft und das Recht auf Privateigentum ein. Allerdings betrachtet sie den Markt nicht als Selbstzweck, sondern als ein (wirksames) Instrument. Als solcher braucht er eine Ordnungspolitik, die ihn zum Wohl der Menschen lenkt (CA 40). Dies gilt auch für den Weltmarkt. Centesimus annus plädiert so klar wie noch keine Enzyklika zuvor für eine marktwirtschaftliche Weltwirtschaftsordnung (CA 34 f.). Manche sahen darin sogar eine Kurskorrektur. Allerdings muss auch der Weltmarkt gerecht gestaltet werden, etwa durch einen fairen Zugang für Entwicklungsländer. Die Katholische Soziallehre nennt als Maßstab für die Gestaltung von Märkten zwei Kriterien, die in der ältesten Tradition der Kirche wurzeln (SRS 42; CA 30 f.). Dies ist zum einen die „Bestimmung der Güter für alle“, zum anderen die „Sozialpflichtigkeit des Eigentums“: „Alle anderen Rechte, ganz gleich welche, auch das des Eigentums und des freien Tausches, sind diesem Grundgesetz untergeordnet. Das Privateigentum ist also für niemand ein unbedingtes und unumschränktes Recht. Niemand ist befugt, seinen Überfluss ausschließlich sich selbst vorzubehalten, wo andern das Notwendigste fehlt . . .“ (PP 22 f.) 5. Vorrangige Option für die Armen
Die Soziallehre vertrat in der Sache schon immer eine vorrangige Option für die Armen. Die letzten Sozialenzykliken benützen diesen Begriff auch ausdrücklich und an zentraler Stelle (SRS 42). Diese Option wurzelt in der Menschenwürde und den Menschenrechten, lässt sich jedoch auch von der allgemeinen Bestimmung der Güter her begründen. Vorrangige Aufmerksamkeit müssen jene erhalten, deren Würde und Rechte besonders bedroht sind. Die Ärmsten der Armen sind oft Frauen, weil sie nicht selten mehrfach diskriminiert sind: als Arme, als Frauen und manchmal zudem als Angehörige von Minderheiten. Dies ist eine Folge von Gender-Ungerechtigkeit, die in vielfältigen kulturellen, religiösen und sozialen Traditionen wurzelt.
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Die Option für die Armen gilt aber auch für die armen Länder (PP 5 f.). Entwicklungspolitik muss daher armutsorientiert oder – richtiger – armenorientiert sein, denn es sind die Armen, denen meist auch die Mittel fehlen, durch Eigeninitiative ihre Notlage selbst zu überwinden. Ebenso muss die internationale Politik ärmeren Ländern Vorzugsbedingungen einräumen, damit ihr Abstand zu den reichen Ländern nicht weiter zunimmt. Protektionismus in vielfältigen Formen, etwa im Agrarbereich, ist das genaue Gegenteil davon. Und der völlige Ausschluss der Entwicklungsländer von Treffen wie den G8-Gipfeln, die wichtige weltwirtschaftliche Weichenstellungen treffen, erlaubt diesen nicht einmal, ihre Perspektive und ihre Anliegen vorzutragen.
6. Weltweite Solidarität
Aufgrund ihrer marktwirtschaftlichen Orientierung hat die Katholische Soziallehre eine grundsätzlich positive Sicht des Wettbewerbs und des Gewinns als Anreiz (CA 35). Sie weiß allerdings auch, dass Markt und Wettbewerb, die primär und legitimerweise von Eigeninteressen bestimmt sind, Ungleichheiten verschärfen können. Deswegen braucht es stets auch Solidarität als ein mindestens ebenso wichtiges Handlungsmodell. Es widerspricht auch aller menschlichen Erfahrung, Wettbewerb und Konkurrenz zum obersten oder gar alleinigen Leitprinzip zu erklären. Vielmehr sind Solidarität und Kooperation, die sich nicht auf pure Eigeninteressen reduzieren lassen, ebenso wichtige Motive. Dies gilt gerade im Hinblick auf die globalen Probleme, besonders auf die weltweite Ungleichheit, die nicht ohne „eine solidarische Entwicklung der Menschheit“ (PP 43) und partnerschaftliche Zusammenarbeit aller Länder zu lösen sind. Weltweite soziale Gerechtigkeit und solidarische Hilfe sind eine „schwere Verpflichtung der hochentwickelten Länder“ (PP 48). Dies verlangt zweifellos eine gerechte internationale Verteilungspolitik. Noch grundlegender aber ist eine Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der armen Länder. Dies ist angesichts unübersehbarer Tendenzen, ökonomische Prinzipien zur Grundlage allen Handelns zu erklären und die Ethik in eine Ökonomik zu verlagern, von größter Bedeutung. So gibt es etwa auch in der Entwicklungshilfe eine klare Tendenz, Eigeninteressen weit mehr Gewicht beizumessen als in der Vergangenheit. Dies ist nicht grundsätzlich falsch und lässt sich pragmatisch gut begründen. Es hätte jedoch verheerende Folgen, wenn der Eigennutz zum ausschlaggebenden oder alleinigen Motiv der Entwicklungszusammenarbeit würde. Es wird nämlich wohl immer Situationen geben, wo Menschen in größter Not leben, gleichzeitig aber beim besten Willen keine Eigeninteressen potenzieller Geberländer aufzeigbar sind.
7. Soziale Menschenrechte
Die Menschenwürde und die Option für die Armen sind eng verbunden mit den sozialen Menschenrechten, wie sie – zusammen mit den wirtschaftlichen und kulturellen Rechten – im Sozialpakt der Vereinten Nationen völkerrechtlich festgeschrieben sind. Die Soziallehre hat diese Rechte immer wieder eingefordert, nicht zuletzt in ihrem umfassenden Entwicklungsverständnis. Sie implizieren eine „Ethik des Überlebens“ bzw. des Schutzes menschlichen Lebens.
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Dies ist weltwirtschaftlich in vieler Hinsicht höchst bedeutsam. Dies zeigen etwa die Kontroversen um soziale (und ökologische) Mindeststandards im Rahmen der WTO. Derartige Standards können einerseits die Umsetzung sozialer Menschenrechte fördern, andererseits aber auch die Handels- und Entwicklungsinteressen ärmerer Länder schwer beeinträchtigen. Insofern gibt es keine einfache Lösung. Der beste Weg wäre, wenn die betroffenen Länder und transnationalen Unternehmen sich freiwillig und gemeinsam um die Beachtung der sozialen Menschenrechte bemühen würden. Ein anderes Beispiel ist der Konflikt um den Handel mit billigen, in Entwicklungsländern selbst hergestellten Medikamenten (Generika) für AIDS-Kranke. Dabei stehen sich die Patentrechte von Pharmaunternehmen, die durch das TRIPS-Abkommen der WTO gesichert sind, und das „Recht auf Gesundheit“ gegenüber. Vorrang muss auf jeden Fall die Gesundheit haben, andernfalls würde es sich aus ethischer Sicht um unterlassene Hilfeleistung handeln. Umgekehrt haben die Unternehmen ein Recht, angemessene Einnahmen für ihre Forschung und Produktion zu erwirtschaften. Ein vernünftiger Kompromiss verlangt faire Verhandlungen und finanzielle Unterstützung durch die Weltgemeinschaft. Soziale Menschenrechte sind auch ein zentrales Kriterium bei der Lösung des komplexen Problems der internationalen Verschuldung. Sie verbieten es, Schulden (mit Zinsen) einzutreiben oder Forderungen zu stellen, welche vor allem die Armen mit dem Leben bezahlen müssten oder mit Lebensbedingungen, die sich mit der Menschenwürde nicht vereinbaren lassen. Das gleiche Recht haben nicht nur Migranten, sondern auch Flüchtlinge und irreguläre Zuwanderer, deren Zahl im Gefolge der Globalisierung immer mehr zunimmt. 8. Billigkeit von Handels- und Finanzbeziehungen
Es gibt vielfältige, oft nachteilige Abhängigkeiten der Dritten Welt, die zum Teil nicht einfach zu beseitigen sind, etwa starke Schwankungen von Rohstoffpreisen. Andere Nachteile sind dagegen Folge von ungerechten Praktiken, die ihrerseits in ungerechten Regeln oder dem Fehlen von Regeln gründen: „Die Spielregel des freien Handels kann also für sich allein die internationalen Beziehungen nicht regieren. Ihre Vorteile sind klar, wo es sich um Partner in nicht allzu ungleicher wirtschaftlicher Lage handelt: sie fördert den weiteren Fortschritt und belohnt die Anstrengung. Deshalb sehen die Industrieländer darin in gewissem Sinne ein Gesetz der Gerechtigkeit. Aber es ist etwas anderes, wenn die Bedingungen von Land zu Land ungleich sind.“ (PP 58) Diese Feststellung verweist auf den auch weltwirtschaftlich gültigen Grundsatz der Tauschgerechtigkeit, der etwa durch einseitigen Protektionismus verletzt wird, meist im Widerspruch zu den Regeln der WTO. Insofern gilt zunächst einmal, dass Verträge, wenn sie unter fairen Bedingungen zustande gekommen sind, einzuhalten sind. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen eine entsprechende Pflicht nicht zu erfüllen ist, sei es weil die nötigen Voraussetzungen fehlen, sei es weil das immer übergeordnete Recht auf Überleben verletzt würde. Dies lässt sich am Beispiel der oft erdrückenden Schuldenlast vieler Entwicklungsländer zeigen. Schulden beruhen auf Abmachungen, die allen beteiligten Seiten Pflichten auferlegen, die zu erfüllen sind, wenn es sich um ethisch zulässige Verträge ohne Zwang handelt. Daher dürfen bestehende Verträge nicht einseitig aufgekündigt werden.
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Eine Reduzierung oder Streichung von Schulden ist daher nur als Ergebnis von Verhandlungen zulässig. Allerdings ist die Rechtmäßigkeit und Billigkeit der Schulden zu prüfen, möglichst durch neutrale Vermittler, um gegebenenfalls eine Neubewertung (von odious debt) vorzunehmen. Dies gilt auch für Schulden, die aufgrund falscher Ratschläge durch mächtige Gläubiger wie die Weltbank oder den IWF zustande kamen. Der Vorschlag eines internationalen Insolvenzrechtes, um diese Probleme nach festen Regeln institutionell zu lösen, weist zumindest in die richtige Richtung. Es ist überdies ein Gebot der Gerechtigkeit, dass die Gläubiger keine unerfüllbaren Forderungen erheben, zumal wenn sie deren Erfüllung selbst erheblich behindern. Wenn die Industrieländer etwa durch vielfältige Handelshindernisse die Schuldnerländer daran hindern, die für den Schuldendienst nötigen Devisen zu erwirtschaften, oder wenn dies nur zu Lasten der Umwelt möglich ist, dann sind auch ihre Schuldenforderungen ethisch nur sehr bedingt gerechtfertigt. 9. Verfahrensgerechtigkeit
Wenn Vertragsparteien über sehr ungleiche Macht verfügen, wie oft in den Nord-SüdBeziehungen, können internationale Verträge und Handelsabkommen durchaus den Forderungen der sozialen Gerechtigkeit widersprechen. Umso wichtiger ist der Grundsatz der Verfahrensgerechtigkeit, der Transparenz sowie echte Beteiligung aller Länder am Prozess der Beratung und Entscheidung in multilateralen Organisationen und Gremien verlangt. Offensichtliche verfahrensrechtliche Defizite erfordern prozedurale Reformen, welche die Verhandlungsmacht schwächerer Länder stärken. Dies gilt z. B. für die WTO-Verhandlungen, die schon wegen ihrer Komplexität die Kapazität (Kosten, Kompetenz) kleinerer Länder meist überfordern. Hinzu kommen informelle Mechanismen, etwa Treffen im kleinen Kreis der mächtigen Industrie- und Schwellenländer, welche die Verhandlungen vereinfachen sollen, faktisch aber zum Ausschluss aller anderen Länder führen. Ein weiteres Problem ist die oft völlig ungenügende Kohärenz zwischen WTO-Regeln und anderen völkerrechtlichen Verträgen, vor allem den Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und multilateralen Umweltabkommen. Dies hat zur Folge, dass die Handelsinteressen meist häufig den Vorrang haben, einfach deshalb, weil sie sich durchsetzen können.
10. Nachhaltigkeit und Solidarität der Generationen
Die Ausdehnung des Welthandels (Transport) und die wachsende Mobilität von Menschen (Tourismus) wird zum Teil auch dadurch ermöglicht, dass die gegenwärtigen Marktpreise nur bedingt die ökologischen Kosten wiedergeben. Diese Expansion ist zudem eng mit der Ausbreitung des westlichen Wohlstandmodells verbunden. Umgekehrt zeigt die Erderwärmung infolge des Klimawandels die kaum abschätzbaren ökologischen Schäden, die eine weltweite Übernahme dieses Modells zur Folge hätte. Dies hängt wesentlich damit zusammen, dass der Markt sehr kurzfristig ausgerichtet ist und weitgehend nur die Interessen der gegenwärtigen Generation berücksichtigt. Der Konkurrenzdruck unter Ländern und Unternehmen verstärkt diese Kurzsichtigkeit. All
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dies fördert eine umweltschädliche Wirtschaftsweise und einen verschwenderischen Lebensstil auf Kosten künftiger Generationen. Es ist daher erforderlich, dass die Lebensinteressen künftiger Generationen mit berücksichtigt werden, was aber nur stellvertretend geschehen kann, da sie sich nicht selbst zu Wort melden können. Ziel muss eine nachhaltige bzw. zukunftsfähige Entwicklung auch im Rahmen der Weltwirtschaftsordnung sein. Diese ökologische Perspektive spielt in der Soziallehre bisher eine eher untergeordnete Rolle, sieht man von vereinzelten Hinweisen ab (SRS 34; CA 37 f.). Sie lässt sich gleichwohl etwa vom Gebot umfassender Solidarität her gut begründen. Sie ist aber auch ein Gebot vorausschauender Vernunft, denn eine Entwicklung, die nicht nachhaltig ist, birgt in hohem Maße Konflikt- und Gewaltpotenzial in sich. Darauf hat schon Populorum progressio hingewiesen mit der Feststellung, dass heute „Entwicklung gleichbedeutend ist mit Frieden“ (PP 87). Die große Zahl von Konflikten in vielen Teilen der Welt bestätigt dies, auch wenn sie vielfältige Ursachen haben. Der Ausschluss vom wachsenden globalen Wohlstand und die damit verbundene Frustration sind aber zweifellos eine wichtige Wurzel von Gewalt, Kriegen und Terrorismus. Dabei wird freilich immer darauf zu achten sein, dass ökologische Postulate nicht zu Lasten der Armen von heute gehen, wie umgekehrt mehr intragenerationelle Gerechtigkeit nicht die intergenerationelle Gerechtigkeit außer Acht lassen darf. Dies ist ein Dilemma und zugleich ein zentraler Streitpunkt auf internationaler Ebene, der sich nur gemeinsam durch Kooperation lösen lässt.
III. Notwendigkeit einer Weltordnungspolitik Den Schlüssel zur Lösung der weltweiten sozialen Frage sieht die Soziallehre in einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung. Entwicklungshilfe, so wichtig sie als Zeichen der Solidarität bleibt, kann nie ein Ersatz für die viel umfassendere Aufgabe weltweiter Entwicklungspolitik sein. Deren Erfolg aber hängt entscheidend davon ab, dass die reichen Nationen bereit sind, den Interessen auch ärmerer Länder erheblich mehr Gewicht einzuräumen. Dazu braucht es „kühne bahnbrechende Umgestaltungen“, die „unverzüglich in Angriff genommen werden“ (PP 32) müssen. Dies ist eine politische Aufgabe, welche die Wirtschaft nicht selbst leisten, wohl aber dazu beitragen kann. Auf diesem Hintergrund kritisierte schon Paul VI. einen ungezügelten liberalen Kapitalismus, heute oft als Neoliberalismus angeprangert: „Im Gefolge dieses Wandels der Daseinsbedingungen haben sich unversehens Vorstellungen in die menschliche Gesellschaft eingeschlichen, wonach der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsmitteln ein absolutes Recht, ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber darstellt“ (PP 26). Johannes Paul II. sieht in sozioökonomischen Mechanismen und Strukturen (SRS 16 f.), denen eine „,ökonomistische‘ Auffassung“ (SRS 28) zugrunde liege, eine der Hauptursachen dieser Ungerechtigkeit. Er spricht in diesem Kontext von einer „Art von Überentwicklung“, die ebenfalls unannehmbar sei. Wurzel all dieser Übel sei die Gier nach Profit und Macht „um jeden Preis“ (SRS 37). Centesimus annus (36) unterzieht den „Konsumismus“ einer scharfen Kritik und fordert einen veränderten Lebensstil.
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Theologisch werden diese Mechanismen der Ungerechtigkeit als „Strukturen der Sünde“ (SRS 36) gedeutet. Die Sozialenzykliken sind also ausgesprochen systemkritisch im Hinblick auf den real existierenden Kapitalismus mit seiner einseitig ökonomischen Wertordnung (SRS 43). Sie verlangen tiefgreifende Strukturreformen wie eine entsprechende Umorientierung im Lebensstil. Ziel muss eine sozial- und umweltverträgliche Weltwirtschaftsordnung sein, ohne die es keine „nachhaltige Entwicklung“ geben wird, welche die Bedürfnisse künftiger Generationen berücksichtigt. Die Soziallehre ist insofern ökologisch höchst aktuell angesichts der Zunahme von Umweltrisiken wie dem Klimawandel, die gerade die Ärmsten bedrohen. Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung muss in eine noch umfassendere Weltordnung eingebettet sein, denn es geht nicht nur um Wirtschaft (PP 78). Andernfalls besteht die Gefahr, dass alle anderen Politikfelder ausgeklammert bleiben. Man spricht in diesem Zusammenhang heute von der Notwendigkeit einer Weltordnungspolitik (Global Governance), die als komplexes System von Institutionen, Regeln und Regimen auf verschiedenen Ebenen zu verstehen ist. Sie soll den einzelnen Ländern Anreize bieten, ihr Handeln an den genannten Grundsätzen auszurichten. Ein wichtige Rolle kommt dabei der internationalen Zivilgesellschaft zu, sowohl wirtschaftlichen Akteuren wie nicht-profitorientierten Nichtregierungsorganisationen. Die Religionen sind Teil dieser Zivilgesellschaft, insofern sie keine Regierungsverantwortung tragen, auch wenn sich ihre Aufgabe nicht darin erschöpft. Sie können durch den Hinweis auf ethische Grundsätze, wie sie in der Soziallehre entfaltet sind, und eigenes Verhalten viel zum geforderten Wandel beitragen.
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„Integrale Entwicklung“ und weltweite Gerechtigkeit Von Alexander Saberschinsky
Die Entstehung der Katholischen Soziallehre im 19. Jahrhundert ist eng mit der sogenannten „Sozialen Frage“ assoziiert, wie sie die europäischen Länder im Zeitalter der entstehenden und erstarkenden Industrialisierung prägte. Damals führten der technische Fortschritt und der mit ihm einhergehende Wandel im Wirtschaftsleben zu gesellschaftlichen Umwälzungen, die soziale Probleme von riesigem Ausmaß und enorme Ungerechtigkeiten zur Folge hatten. Hingegen sprengen die sozialen Herausforderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den nationalen und auch den europäischen Rahmen und sind immer enger mit der internationalen Verflechtung verknüpft. Doch nicht nur die Problematik, sondern auch der Blick der Katholischen Soziallehre hat sich geweitet: Seit den sechziger Jahren äußern sich die Sozialenzykliken auch zur weltweiten Entwicklung. So hat 1967 Paul VI. in seiner Enzyklika über die „Entwicklung der Völker“ (Populorum progressio) gleich eingangs festgestellt: „Heute ist – darüber müssen sich alle klar sein – die soziale Frage weltweit geworden.“ (PP 3; vgl. auch PP 9) Damit ist nicht gesagt, dass sich die Probleme schlichtweg von der nationalen auf die internationale Ebene verschoben hätten. Die sozialen Fragestellungen vor Ort sind geblieben, doch können sie heute nicht mehr losgelöst vom größeren, weltweiten Kontext gesehen werden. Die Problematik in den einzelnen Ländern ist im Zeitalter der Globalisierung von der internationalen Entwicklung beeinflusst. Entsprechend müssen die Lösungsversuche diesem globalen Zusammenhang Rechnung tragen. Zentrales Thema der Katholischen Soziallehre ist seit jeher die Gerechtigkeit. Im Hinblick auf die Soziale Frage unter dem Vorzeichen der internationalen Verflechtung ist dies nicht anders: Hier geht es um weltweite Gerechtigkeit. Im Folgenden werden die Aussagen der Katholischen Soziallehre zu dieser Thematik dargestellt und reflektiert. Dies geschieht exemplarisch anhand zweier einschlägiger Sozialenzykliken, nämlich der schon zitierten Enzyklika Populorum progressio (PP) von Papst Paul VI. aus dem Jahr 1967 und der zwanzig Jahre später erschienenen Enzyklika Papst Johannes Pauls II. Sollicitudo rei socialis (SRS) von 1987. Dabei wird sich zeigen, dass sich die Forderung nach einer „integralen Entwicklung“ als Leitfaden des Strebens nach weltweiter Gerechtigkeit erweist.
I. Populorum progressio – Umfassender Fortschritt und integraler Humanismus Am 28. März 1967 unterzeichnete Papst Paul VI. die Enzyklika Populorum progressio. Der Papst selbst verstand diese Sozialenzyklika als einen Diskussionsbeitrag zu den internationalen Überlegungen zur Problematik der Entwicklungsländer und ver-
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bindet seine Aussagen mit einem Appell zur Entwicklungshilfe. Dabei greift Paul VI. gleichzeitig die Linien, die das Zweite Vatikanische Konzil vorgezeichnet hat, auf und zeigt – wie wir heute rückblickend erkennen – einen bemerkenswerten Weitblick. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils erfuhr sich die Kirche in ihrer weltweiten Dimension, aber auch in ihrer globalen Verantwortung für die Menschen – nicht zuletzt durch die Präsenz der Bischöfe aus der Dritten Welt. In diesem größeren Kontext formuliert die Pastoralkonstitution Gaudium et spes (GS) nicht nur den generellen Anspruch der Kirche, ihre Soziallehre zu verkünden und für das Wohl der Menschen einzutreten (vgl. GS 76), sondern stellt auch ausdrücklich den Zusammenhang zwischen dem Fortschritt der menschlichen Person und dem Wachsen der Gesellschaft her, die sich gegenseitig bedingen (vgl. GS 25). Vor diesem Hintergrund liest sich Populorum progressio wie eine „Anwendung der Soziallehre des Konzils auf die spezifische Frage von Entwicklung und Unterentwicklung der Völker“, wie später Johannes Paul II. urteilte (SRS 7), so etwa in der Bestimmung der Erdengüter für alle Menschen (vgl. GS 69, PP 22). Mit welch bestechender Weitsicht Paul VI. die Probleme der Zeit erkannte, wird eindringlich deutlich, wenn man seine Aussagen mit denjenigen der Nord-Süd-Kommission bzw. Unabhängigen Kommission für Internationale Entwicklungsfragen vergleicht. Diese Kommission legte verschiedene Berichte vor, so etwa 1980 den nach dem damaligen Vorsitzenden benannten Brandt-Bericht und 1987 den sogenannten BrundtlandReport. Im Bericht von 1980 heißt es, dass Entwicklung mehr sei als der Übergang von Arm zu Reich und neben der Idee des materiellen Wohlstands auch menschliche Würde, Sicherheit, Gerechtigkeit und Gleichheit unverzichtbare Aspekte der Entwicklung seien – Gedanken, die dreizehn Jahre zuvor schon Paul VI. entfaltet hatte. Näherhin entfaltet die Enzyklika den Gedankengang in zwei großen Schritten: Zunächst entwickelt das Schreiben den Begriff des „umfassenden Fortschritts der Menschen“, um im Anschluss daran darzulegen, wie eine „solidarische Entwicklung der Menschheit“ erfolgen kann, wie also auf der Basis der Solidarität unter den Menschen ein umfassender Fortschritt für alle möglich wird. Entscheidend ist dabei zu beachten, wie Paul VI. Fortschritt versteht: „Entwicklung ist nicht einfach gleich bedeutend mit wirtschaftlichem Wachstum. Wahre Entwicklung muss umfassend sein, sie muss den ganzen Menschen im Auge haben und die gesamte Menschheit.“ (PP 14) Den Hintergrund für diese Aussage bilden die Beobachtungen, wie sich die Entwicklung der Menschheit im internationalen Kontext tatsächlich darstellt: Das Spiel der Kräfte im internationalen Mechanismus des Wirtschaftssystems führt immer stärker zu einem Missverhältnis im Lebensstandard einzelner Länder; denn vor allem die reicheren Länder profitieren vom Wachstum, nicht selten auf Kosten der ärmeren Länder (vgl. PP 8). Zu dieser Ungerechtigkeit im Vergleich der einzelnen Länder kommt hinzu, dass unter dem Einfluss der wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung die traditionellen Kulturen zerbrechen. Sittliche, geistige und religiöse Orientierungen, die mit zum Reichtum der Menschheit zählen, gehen verloren (vgl. PP 10). Angesichts dieser Entwicklung hält der Papst fest, dass jeder Mensch dazu berufen ist, sich zu entwickeln (vgl. PP 15). Das gilt erstens für den Einzelnen wie für die ganze Menschheit, und zweitens geht es um eine „volle Entfaltung“ (PP 17). Mit dieser Formulierung wird verdeutlicht, dass der technische Aspekt der Entwicklung wichtig ist, doch dass sich die Perspektive zugleich weiten muss: Gefragt ist ein Humanismus, der die Menschen mehr zu
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sich selbst finden lässt. „So kann die wahre Entwicklung voll und ganz verwirklicht werden, die für jeden einzelnen und für alle der Weg von weniger menschlichen zu menschlicheren Lebensbedingungen ist.“ (PP 20) Hierzu zählen nicht nur die technische und wirtschaftliche Entwicklung, sondern neben der Behebung von materieller Not auch die Beseitigung sozialer Missstände, Erweiterung des Wissens, Erwerb von Bildung, Verwirklichung von Gemeinwohl und Friede (vgl. PP 21). Entsprechend fallen die konkreten Forderungen des Papstes aus: die Erdengüter zum Nutzen aller einsetzen, Gewalt vermeiden, Analphabetentum bekämpfen, Familien sichern, Kultur fördern u. a. m. (vgl. PP 34). Die wirtschaftliche Entwicklung selbst hat in diesem Zusammenhang insofern nur eine untergeordnete Funktion, als sie letztlich dazu dient, der umfassenden Entwicklung des Menschen zu dienen (vgl. PP 42). Im Zentrum der Enzyklika steht somit die Sorge um den Menschen. Durch das ganze Dokument hindurch wird immer wieder nach dem Menschen gefragt. Seiner Entfaltung werden alle anderen Aspekte untergeordnet. In PP 20 wird der Humanismus, der näherhin angestrebt wird, beschrieben: Es geht um einen „neuen Humanismus“, der „den heutigen Menschen sich selbst finden lässt, in der Bejahung der Werte der Liebe, der Freundschaft, des Gebets, der Betrachtung.“ Hier wird deutlich, was mit dem „umfassenden Fortschritt des Menschen“ – so der Titel des ersten Teils der Enzyklika – gemeint ist: Der „volle Humanismus“ (PP 42) beschränkt sich nicht auf eine innerweltliche Entfaltung des Menschen, sondern schließt die transzendente Verwiesenheit des Menschen (Gebet) ein. Mit dieser Bestimmung des Humanismus knüpft die Enzyklika an die Philosophie Jacques Maritains an, auf dessen Werk „L’humanisme intégral“ (Paris 1936) in einer Anmerkung eigens verwiesen wird. J. Maritain setzt sich im genannten Werk eingehender mit dem Begriff des Humanismus auseinander und stellt heraus, wie seit der Renaissance und der Reformation die neue Wertschätzung des Menschen zunehmend zu dessen „Vergöttlichung“ führte. Der Mensch selbst wird so zum Träger des Gesellschaftlichen; Metaphysik hat in dieser Konzeption des Humanismus keinen Platz mehr. Das macht nach J. Maritain die Tragödie des Humanismus aus. Der wahre Humanismus ist hingegen in dem Sinne integral, als dass er von einer metaphysischen Theorie im Verständnis des Menschen ausgeht, wie sie der christlichen Tradition entspricht. Integral ist der hier gemeinte Humanismus insofern, als er diese anthropozentrische und theozentrische Sichtweise integriert. Der innere Zusammenhang zwischen beiden Sichtweisen besteht darin, dass der Mensch nur dann zu seiner vollen Entfaltung gelangt, wenn er in Gott den Zielpunkt seines Seins erkennt.1
1 Vgl. Maritain, S. 20 – 23. Zum Werk J. Maritains vgl. Peter Nickl, Jacques Maritain. Eine Einführung in Leben und Werk, Paderborn 1992, sowie Armando Rigobello, Jacques Maritain (1882 – 1973), in: E. Coreth (Hrsg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Rückgriff auf scholastisches Erbe, Graz 1988, S. 493 – 518, vor allem S. 496, S. 505 – 507.
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II. Revolution im Dienste der Gerechtigkeit? Das Spannungsfeld von Gerechtigkeit, Entwicklung und Befreiung wird in besonderer Weise von der sogenannten Befreiungstheologie thematisiert.2 Die Enzyklika Populorum progressio steht in Wechselbeziehung mit diesem theologischen Ansatz: Indem sie die Fragen nach der Befreiung von Ungerechtigkeit in den ärmeren Ländern aufwirft und die Freiheit zu ganzheitlicher Entwicklung der Menschen fordert, greift sie zentrale Anliegen der Befreiungstheologie auf. Zugleich wirkt die Enzyklika auch auf die lateinamerikanischen Bischöfe, die sich ein Jahr nach ihrem Erscheinen im kolumbianischen Medellín auf die Option für die Armen verpflichten. Eine Frage, die sich im Kontext der Befreiungstheologie immer wieder stellt, ist diejenige nach der Erlaubtheit einer gewaltsamen Revolution. Ist diese nicht sogar notwendig und moralisch geboten, um die Strukturen des Unrechts und der Gewalt zu brechen und gerechte gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Verhältnisse zu etablieren? Eben zu dieser Frage äußert sich Paul VI. ausdrücklich (vgl. PP 30 f.): Der Papst stellt in Rechnung, dass es durchaus Situationen gibt, „deren Ungerechtigkeit zum Himmel schreit“, weil die Menschen das Notwendigste entbehren, am kulturellen Aufstieg gehindert werden und nicht am sozialen und politischen Leben teilnehmen können. Hier ist die Versuchung, die Situation mit Gewalt zu beseitigen groß. Doch Paul VI. hält dieser Versuchung entgegen, dass jeder revolutionäre Aufstand wieder neues Unrecht erzeugt und nicht zum Frieden beiträgt. „Man darf ein Übel nicht mit einem noch größeren Übel vertreiben“, mahnt der Papst. Wohlgemerkt, eine Ausnahme lässt Paul VI. gelten: wenn die Gewaltherrschaft lange andauert, die Grundrechte der Person schwer verletzt werden und das Gemeinwohl des Landes schweren Schaden nimmt. Nur unter diesen Bedingungen ist Revolution ein vom Widerstandsrecht gerechtfertigtes Mittel. Bereits die Instruktion der Glaubenskongregation über die christliche Freiheit und die Befreiung von 1968 hatte vor dem Missverständnis gewarnt, dass schon die Beseitigung einer Unrechtssituation ausreiche, um eine menschlichere Gesellschaft zu schaffen. Das gewissermaßen ,inhaltliche‘ Ziel müsse es daher sein, eine gerechtere Ordnung in Gesellschaft und Politik zu errichten. Dabei ist es nicht gleichgültig, welcher Mittel man sich bediene, denn es gibt auch eine „Moral der Mittel“. Ein Echo finden die Aussagen der Enzyklika Populorum progressio zur Gewaltanwendung bereits in den Beschlüssen der Zweiten Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats in Medellín 1968.3 Ziel der Konferenz ist die Umsetzung der Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils und von Populorum progressio in die lateinamerikanische Situation. Die Bischöfe folgen der generellen Option Pauls VI. für einen friedlichen Weg, doch schließen sie nicht aus, dass ein revolutionärer Aufstand gegen eine Gewaltherrschaft gerechtfertigt sein kann, sei es die Gewaltherrschaft einer Person oder eindeutig ungerechter Strukturen. Damit wird der Legitimationsgrund des aktiven Widerstands von dem klassischen Fall der Tyrannis ausgeweitet auf strukturelle Ungerechtigkeit. Es geht demnach nicht allein um das moralische Versagen Einzelner, 2 Vgl. Peter Langhorst, Kirche und Entwicklungsproblematik. Phasen lehramtlicher Tradition von der ,conquista‘ zu ,Sollicitudo rei socialis“, in: Lebendiges Zeugnis 46 (1991), S. 117 – 134. 3 Vgl. Günter Baadte, Kirche, Theologie und Gewalt. Zu Vorgängen und Erfahrungen im weltkirchlichen Kontext von 1965 bis heute, in: N. Glatzel / E. J. Nagel (Hrsg.), Frieden in Sicherheit. Zur Weiterentwicklung der katholischen Friedensethik, Freiburg i. Br. 1981, S. 149 – 175.
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sondern auch um institutionalisierte Ungerechtigkeit. Gerechtigkeit muss auch in den Institutionen und Strukturen herrschen. Im zweiten Teil seiner Enzyklika stellt Paul VI. klar heraus, wie das Ziel der Gerechtigkeit zu erreichen ist: „Die ganzheitliche Entwicklung des Menschen kann nur in einer solidarischen Entwicklung der Menschheit erfolgen.“ (PP 43) Die Pflicht zur Solidarität besteht gleichermaßen für die Begüterten wie für die Völker insgesamt. Doch versteht die Enzyklika ihren Aufruf zur Solidarität nicht als einen individualmoralischen Appell an den Einzelnen, sondern weiß sich als Sozialenzyklika einer strukturenethischen Lösung verpflichtet. So wird betont, dass die Anstrengungen zur Besserung der Lage koordiniert werden müssen und dass es dazu Programme bedarf. Da die Ursachen der Not der Menschen struktureller Natur sind und nicht auf Verfehlungen Einzelner zurückgehen, müssen auch die Lösungsansätze struktureller Art sein (vgl. PP 50). Eingangs heißt es in der Enzyklika: „Bleibt die Welt dem Spiel der Kräfte überlassen, so führt dessen Mechanismus zur Verschärfung und nicht zur Entspannung im Missverhältnis des Lebensstandards.“ (PP 8) Diese zentrale Aussage stellt nicht nur den Menschen und sein Wohlergehen in das Zentrum, sondern deutet bereits die notwendige Konsequenz an: Die Welt darf eben nicht dem freien und unkontrollierten „Spiel der Kräfte überlassen“ werden, wenn unmenschliche und ungerechte Entwicklungen zu vermeiden sind. Die Pointe der Überlegung liegt darin, dass angesichts der Gefahren der weltwirtschaftlichen Entwicklung – anders als man es von manchen Globalisierungsgegnern heute kennt – nicht pauschal geurteilt, sondern differenziert wird. Es gilt die Kräfte so zu nutzen, dass sich eine Entwicklung der Menschheit im umfassenden Sinne vollziehen kann. Ziel kann es folglich nicht sein, die wirtschaftliche Entwicklung generell schwächen zu wollen. Nicht diese Kräfte an und für sich sind schlecht, sondern die Folgen, die aus ihrem unkontrollierten Spiel erwachsen können, nämlich die „Verschärfung . . . im Missverhältnis des Lebensstandards“. Wenn es nicht darum geht, die Kräfte der Globalisierung zu schwächen, dann liegt die Lösung darin, sie in die richtigen Bahnen zu lenken (vgl. PP 56).
III. Die „wahre Entwicklung des Menschen“ nach Sollicitudo rei socialis Zwanzig Jahre nach Populorum progressio veröffentlichte Papst Johannes Paul II. 1987 die Sozialenzyklika Sollicitudo rei socialis. Auch ihr geht es zentral um die „wahre Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft, welche die menschliche Person in allen ihren Dimensionen achten und fördern soll“ (SRS 1). Dazu besinnt sich der Papst zunächst auf die Vorgänger-Enzyklika von 1967 und stellt deren Verdienste heraus. Doch eine Sozialenzyklika ist niemals nur eine Jubiläumsschrift, sondern bezieht sich immer auf eine konkrete Notlage. So ist es die erklärte Absicht Johannes Pauls II., mit Sollicitudo rei socialis die Katholische Soziallehre im Hinblick auf den rasanten Wandel der geschichtlichen Bedingungen fortzuschreiben (vgl. SRS 3). Die Enzyklika stellt heraus, dass – unbestritten der positiven Impulse, die von Populorum progressio ausgingen – die globale Gesamtlage einen negativen Eindruck bietet. So hat sich der Graben zwischen dem entwickelten Norden und dem unterentwickelten Süden verbreitert – und dies gilt nicht nur im ökonomischen Sinne, sondern auch mit
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Blick auf Bildung, Diskriminierung, politische und religiöse Unterdrückung sowie Verletzung der Menschenrechte, Wohnungssituation u. a. m. Einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen steht zum Zeitpunkt des Erscheinens der Enzyklika auch der Gegensatz zwischen Ost und West entgegen. Vor allem die Gefahr des Krieges ist zu nennen. Die Auseinandersetzung mit der Ost-West-Problematik zeigt, dass es Johannes Paul II. darum geht, in den wirtschaftlichen und politischen Strukturen und Mechanismen das Hauptübel der weltweiten Ungerechtigkeiten aufzudecken. So bindet die Konfrontation von Ost und West wichtige Ressourcen, die für die Entwicklung der Völker dringend benötigt werden. Mehr noch: In ihrem jeweiligen Einflussbereich übertragen die Blöcke ihre Mechanismen auf die Entwicklungsländer, die so zu Rädern in der großen Maschinerie werden (vgl. SRS 22). Bei dieser Betrachtung geht es dem Papst nicht um politische, soziale oder ökonomische Theorien, sondern darum, die ethischen Hintergründe der (Unter-)Entwicklung aufzuweisen. Für das Verständnis der Enzyklika ist es wichtig zu bedenken, welchen Entwicklungsbegriff der Papst seinen Ausführungen zugrunde legt. Es kommt ihm auf eine „ganzheitliche Entwicklung des Menschen“ (SRS 32) an. Damit meint er nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, sondern berücksichtigt die kulturelle, transzendente und religiöse Dimension des Menschen und der Gesellschaft (vgl. SRS 46). Der Maßstab der Entwicklung liegt im Menschen selbst (vgl. SRS 29): Wenn auch nicht expressis verbis auf J. Maritain oder den „integralen Humanismus“ rekurriert wird, so wird doch deutlich gemacht, dass die Entwicklung des Menschen keine rein innerweltliche Angelegenheit ist, sondern der Berufung des Menschen entspricht, und zwar als Geschöpf Gottes.4 Diese Bestimmung des Menschen umfasst verschiedene Aspekte (vgl. SRS 30): Als Abbild Gottes ist der Mensch von seinem göttlichen Ursprung her bestimmt. Zugleich ist es ihm aufgegeben, die Schöpfung zu beherrschen, und zwar in Anerkennung der größeren göttlichen Schöpfungsordnung, innerhalb der auch der Mensch steht. Außerdem erhellt der Glaube an Christus als Erlöser das Wesen der Entwicklung „von innen her“ (vgl. SRS 31). Wir finden hier jene Gedanken theologisch entfaltet, die bereits in Populorum progressio mit dem „integralen Humanismus“ angeklungen sind. Die theozentrische und die anthropozentrische Perspektive müssen integriert werden, soll der Fortschritt des Menschen auch wirklich dem Menschen gerecht werden und umfassend sein. In Sollicitudo rei socialis wird nun entfaltet, worin die theozentrische Perspektive näherhin besteht: Als Abbild Gottes ist der Mensch auch auf Gott hin ausgerichtet. Sein Wirken in der Welt darf nicht davon absehen, dass die ganze Welt Teil der göttlichen Schöpfungsordnung ist. Doch seine letzte Ausrichtung auf Gott kann der Mensch erst in Jesus Christus verwirklichen, weil durch dessen Erlösungstat der Mensch Anteil an der Herrlichkeit Gottes hat. Insoweit die Enzyklika beide Argumentationsstränge verfolgt, den anthropozentrischen und den theozentrischen, leistet sie eine doppelte Begründung der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen. Dort, wo der Entwicklungsbegriff als anthropologische 4 Bereits 1975, noch vor seiner Wahl zum Papst, schrieb Karol Wojtyla, dass das „Integrum des Menschseins“ darin bestehe, dass der Mensch „mehr wert durch das [ist], wer er ist, als dadurch, was er besitzt“. In: Von der Königswürde des Menschen, Stuttgart 1980, S. 71. Was der Mensch ist, wird jedoch erst deutlich, wenn man dessen Bezug auf das Heilsgeheimnis Gottes mit einbezieht; vgl. ebd., S. 73 – 76.
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Größe reflektiert wird, liegt eine naturrechtliche Begründung zugrunde. Doch tritt eine theologische Begründung hinzu, die allerdings nicht wie ein ,Stockwerk‘ aufgesetzt wird, sondern naturrechtliche und theologische Argumente greifen ineinander, indem beide zu dem jeweiligen Sachverhalt vorgetragen werden. Insofern bietet die theologische Begründung keine Alternative zum anthropologisch begründeten Entwicklungsbegriff, sondern erschließt diesen in seiner ganzen Tiefe.
IV. Solidarität als Antwort auf „Strukturen der Sünde“ Entsprechend der Eigenart der katholischen Sozialverkündigung beschränkt sich Sollicitudo rei socialis nicht auf die theoretische Entfaltung der Grundlagen, hier: eines umfassenden Entwicklungsbegriffs, sondern sucht die konkreten Ursachen der Notsituation zu analysieren und offen zu legen. Hierfür hat allerdings der dargelegte Entwicklungsbegriff entscheidende Bedeutung: Wenn – erstens – der Fortschritt sich nicht auf die ökonomische Ebene beschränken darf, sondern dem Menschen in all seinen Dimensionen (kulturell, sozial, politisch, religiös usw.) zur Entfaltung als Person verhelfen soll, und wenn – zweitens – darüber hinaus die volle Entfaltung des Menschen nicht bei einem innerweltlichen Verständnis stehen bleiben soll, sondern dessen Verwiesenheit auf Gott und seine letzte Vollendung durch diesen transzendenten Bezug berücksichtigen muss, dann darf sich auch die Analyse der Ursachen der Unterentwicklung nicht ausschließlich auf wirtschaftliche und politische Aspekte beschränken. Gerade darin liegt die Differenz zwischen einer rein sozialpolitischen oder ökonomischen Analyse, und einer Analyse, die die Gottbezogenheit des Menschen mitberücksichtigt sowie – theologisch gesprochen – dessen Platz in der Heilsgeschichte. In beiden Entwicklungsenzykliken, Populorum progressio und Sollicitudo rei socialis, wird herausgearbeitet, dass der Mensch nicht das bloße Objekt eines (globalen) wirtschaftlichen Prozesses sein kann, sondern er vielmehr dessen Subjekt ist. Denn der Mensch ist gleichermaßen Ausgangspunkt, aber auch Zielpunkt aller wirtschaftlichen Bemühungen. Vom ethischen Standpunkt aus ist Wirtschaft niemals Selbstzweck, sondern hat letztlich dem Menschen zu dienen. Im Umkehrschluss bedeuten diese Überlegungen, dass auch bei der Ursachenerforschung der Not der Menschen nicht von der personalen Dimension abgesehen werden kann. Johannes Paul II. spricht daher von „Strukturen der Sünde“ (vgl. SRS 36). So verdeutlicht er, dass es nicht nur in einem gleichsam technischen Sinne wirtschaftliche und politische Ursachen der Not gibt, sondern die Ursachen auch moralischer Natur sind. Sie liegen auch auf der Ebene verantwortlicher Personen. Mit der Rede von den „Strukturen der Sünde“ versucht Johannes Paul II. die individualmoralische und die strukturenethische Dimension miteinander zu verknüpfen: Einerseits handelt es sich nicht um das bloße Fehlverhalten Einzelner, sondern um verfestigte Strukturen, andererseits eignet diesen Strukturen eine ethische Qualität, die sehr wohl ursächlich mit dem moralisch verantworteten Handeln des Einzelnen verknüpft ist (vgl. SRS 36). Entsprechend dieser moralischen Dimension der Ursachen der Unterentwicklung müssen auch die Lösungsansätze dieser moralischen Dimension Rechnung tragen. Daher liegt die Lösung der Probleme nicht allein auf der Ebene unpersönlicher Verfahrensweisen, sondern stellt Anforderungen an die moralische Haltung und das moralische Handeln der Menschen. Technisch gesehen liegt angesichts der „gegenseitigen Abhän-
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gigkeit zwischen den Menschen und den Nationen“ die Lösung der internationalen Probleme hinsichtlich der Unterentwicklung in der Notwendigkeit der Zusammenarbeit. Doch dem muss auch die moralische Entscheidung entsprechen, sich für das Wohl aller einzusetzen. In der Enzyklika heißt es: „Wenn die gegenseitige Abhängigkeit in diesem Sinne anerkannt wird, ist die ihr entsprechende Antwort als moralisches und soziales Verhalten, als ,Tugend‘ also, die Solidarität. [ . . . ] Sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ,Gemeinwohl‘ einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind.“ (SRS 38)5 Auffallenderweise versteht Johannes Paul II. an dieser Stelle Solidarität nicht als Sozialprinzip, sondern als eine „Tugend“ und definiert sie geradezu klassisch als „feste und beständige Entschlossenheit“. So weist er eindringlich auf die moralische Dimension der Entwicklungsfrage hin. „Die [technische] wechselseitige Abhängigkeit muss sich in eine [moralische] Solidarität verwandeln.“ (SRS 39) Zu diskutieren wäre allerdings, ob eine solche Sichtweise auch Situationen gerecht wird, in denen Menschen mit besten Absichten handeln, in denen dieses Handeln aber doch ungewollt zu Ungerechtigkeiten führt.6 Auch ist zu überlegen, ob der Akzent nicht deutlicher auf strukturelle Defizite gelegt werden müsste. Dann wäre die Änderung gesellschaftlicher Missstände weniger in der Umkehr der Einzelnen zu suchen als im strukturellen Wandel.7 Jedoch wird die in Sollicitudo rei socialis dargelegte Sichtweise dem Anliegen des „integralen Humanismus“ gerecht, denn der Nächste ist „nicht mehr nur ein menschliches Wesen mit seinen Rechten und seiner grundlegenden Gleichheit mit allen, sondern wird das lebendige Abbild Gottes“ (SRS 40). Hier werden die anthropozentrische und theozentrische Sichtweise des Menschen ineinander integriert; denn entsprechend dem integralen Entwicklungsbegriff wird ein integraler Solidaritätsbegriff zugrundegelegt: „Das Argument von der Einheit und Solidarität der Menschheit ist freilich keineswegs nur Ausfluß der profangeschichtlichen Entwicklung; wiederum steht es in unlösbarem Bezug zur christlichen Heilsbotschaft.“8
5 Es ist allerdings anzumerken, dass man in der lateinischen Fassung von Sollicitudo rei socialis das neulateinische Wort „solidarietas“ vergeblich sucht. So steht im lateinischen Text des Zitats „consensio“. Und in SRS 33 ist von „mutua hominum necessitudo“ die Rede, also – wörtlich – von „gegenseitiger Abhängigkeit der Menschen“ und nicht explizit von „Solidarität“. In SRS 39 heißt es: „mutua copulatio mutanda est in concordiam“ – „die gegenseitige Verbindung muß sich in Eintracht / Solidarität wandeln“. Im gleichen Abschnitt findet sich die Formulierung: „Opus hominum coniunctionis pax.“ In der vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen deutschen Fassung (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 82, Bonn 1988) liest man an dieser Stelle: „Friede, die Frucht der Solidarität.“ Dem ist allerdings auf Lateinisch vorangestellt: „Opus solidarietatis pax“. Hier wird eben jener lateinische Begriff „solidarietas“ verwendet, der im originalen, lateinischen Text vermieden wird. Die Formulierung in dieser Fassung legt den Akzent hingegen auf die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen („hominum coniunctio“). 6 Vgl. Ursula Nothelle-Wildfeuer, „Duplex ordo cognitionis“. Zur systematischen Grundlegung einer Katholischen Soziallehre im Anspruch von Philosophie und Theologie, Paderborn 1991, S. 697 – 704. 7 Vgl. Wiemeyer, S. 23. 8 Rauscher, S. 163.
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Literaturverzeichnis Köß, Hartmut: Globale Entwicklung und Option für die Armen, in: M. Heimbach-Steins (Hrsg.), Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, Bd. 2: Konkretionen, Regensburg 2005, S. 109 – 136. Langhorst, Peter: Kirche und Entwicklungsproblematik. Von der Hilfe zur Zusammenarbeit (Abhandlungen zur Sozialethik, Bd. 37), Paderborn 1996. Maritain, Jacques: Christlicher Humanismus. Politische und geistige Fragen einer neuen Christenheit, Heidelberg 1950. Pöner, Ulrich / Habisch, André (Hrsg.): Signale der Solidarität. Wege christlicher Nord-Süd-Ethik, Paderborn u. a. 1994. Rauscher, Anton: Die Entwicklungshilfe als Verpflichtung der Kirche, in: ders., Kirche in der Welt. Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung, Bd. 2, Würzburg 1988, S. 161 – 176. Wiemeyer, Joachim: Soziallehre der Kirche im Zeitalter der Globalisierung, in: Theologie in der Gegenwart 44 (2001), S. 13 – 24.
Kirchliche Entwicklungszusammenarbeit und Entwicklungshilfe Von Michael P. Sommer I. Entwicklungspolitisches Bewusstsein – damals und heute Das Evangelium vom Reich Gottes als Evangelium des Lebens, von Freiheit, Gerechtigkeit und Versöhnung bis an die Grenzen der Erde zu tragen und es allen Menschen zu bezeugen (Mk 16,15; Mt 28,19 – 20) ist der immerwährende Auftrag an die Kirche. Als frohe und befreiende Botschaft ist das Evangelium zugleich Antwort auf die tiefsten Fragen und Sehnsüchte der Menschen. Deshalb muss die Verkündigung der christlichen Frohbotschaft in Wort und Tat die „Zeichen der Zeit“ wahrnehmen und deuten.1 So leistet die Kirche im Licht des Evangeliums ihren besonderen Beitrag zum Aufbau einer gerechteren und solidarischen Welt. Diese einleitenden Sätze machen deutlich, dass nicht erst seit der Existenz des Begriffes der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit diese gelebter Ausdruck kirchlichen Lebens ist. Es ist sicher so, dass im Bewusstsein vieler deutscher Katholiken die Entwicklungshilfe der Kirchen eine Nachkriegserscheinung ist. Der Begriff „Entwicklungshilfe“ ist auch in der Tat nicht älter als der Marschall-Plan des Jahres 1948. Die Kirche hat aber im Laufe ihrer Geschichte immer schon nicht nur Personalhilfe, sondern bereits im 19. Jahrhundert in organisierter Weise auch materielle und finanzielle Hilfe geleistet. Begrifflich war dies alles Mission und fiel unter das Rubrum einer Evangelisierung der Völker. Auch in voller Anerkennung der Tatsache, dass es immer Missionare und Missionarinnen gegeben hat, die die Sendung der Christen aus der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe heiligmäßig gelebt haben, ist aus heutiger Sicht aber nicht zu leugnen, dass auch Christen oft unempfindlich waren (und sind) gegenüber fremdem Leid. Die Missionsgeschichte hat dafür Beispiele, die z. T. Nachwirkungen bis in die heutige Zeit haben. Erst in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts verbindet sich die Missionsdiskussion immer mehr mit den sozialen Problemen in den verschiedenen Ländern. Die soziale Frage wird zunehmend als Schicksalsfrage angesehen, der gegenüber die Kirche nicht gleichgültig sein kann. Papst Pius XII. unterstreicht die Notwendigkeit des Eingehens auf die gegenwärtigen sozialen und politischen Verhältnisse.2 Heute ist unbestritten, dass die Kirche aus ihrem Selbstverständnis heraus ihre Stimme gegen Unrecht und das Böse in der Welt erheben muss. Den konkreten Bedürfnissen der Menschen begegnet die Kirche immer. Lag einstmals der Schwerpunkt aber eher auf der caritativen Gaudium et spes, Nr. 4 u. a. Vgl. dazu Ludwig Watzal, Die Entwicklungspolitik der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Mainz u. a. 1985, S. 95 f. 1 2
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Seite, so spiegelt heute die Katholische Soziallehre eher die an der Veränderung der Strukturen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens orientierte Strömung wider. Einbindung in die Kirche und Motivation aller Arbeit aus der Sendung der Kirche ist dabei das Spezifikum des heutigen Engagements weltkirchlicher Einrichtungen, das sie von vergleichbaren Aktivitäten säkularer Organisationen unterscheidet. II. Die Kirchlichen Hilfswerke Als wesentliche, wenn auch bei weitem nicht alleinigen Instrumente kirchlicher Entwicklungszusammenarbeit haben sich in Deutschland die Kirchlichen Hilfswerke herausgebildet und mit ihrer hohen Professionalität etabliert. Sie sind institutionalisierter Ausdruck des konkreten Handelns und der Mitverantwortung der Christen für den Weltdienst. Indem sie zugleich intensive Bewusstseins- und Aufklärungsarbeit leisten, sind sie gleichermaßen kirchliche Mittel in Wort und Tat. In ihrer Arbeit – die sich in detaillierten Projektkriterien niederschlägt – orientieren sie sich am christlichen Menschenbild. Davon ausgehend sind die Mitarbeit am Aufbau einer humanen Gesellschaftsordnung, die Anleitung zu subsidiärer Eigenverantwortung, Hilfen der Pastoral vor Ort und die Unterstützung missionarischen Bewusstseins, der Einsatz für Menschenrechte, Menschenwürde und Freiheit auf der Grundlage des Prinzips der Hilfe zur Selbsthilfe Konkretisierung der christlichen Soziallehre. (1) Das internationale katholische Missionswerk MISSIO, heute mit Sitz in Aachen und (für die Bistümer der Bayerischen Kirchenprovinzen einschließlich Speyer) München, versteht sich als Missionsbewegung, deren Aufgabe es ist, missionarisches Bewusstsein in Familien und Gemeinden zu wecken, zu fördern und zu stärken. Unterstützt werden die „Jungen Kirchen“ in Afrika, Asien und Ozeanien durch materielle Hilfe in ihrer pastoralen Arbeit. Jährlich gehen bei Missio über 8000 Anträge auf Unterstützung von Projekten ein. Diese reichen von der Anschaffung eines Mopeds bis zur Erweiterung eines Priesterseminars, vom Wiederaufbau einer zerstörten Kapelle bis zum Bibeldruck. Die Initiative liegt bei den Projektpartnern vor Ort, die auch die Schwerpunkte ihrer Seelsorge selbstständig erarbeiten. Kollektentermin in den katholischen Kirchen in Deutschland ist der Weltmissionssonntag im Oktober jeden Jahres. Entstanden ist Missio als Laien-Initiative in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts, Vorläufer gab es bereits 1822 in Frankreich. Es war eine Zeit der religiösen Erneuerung nach der Zeit des Umbruchs im Denken und Glauben. Die Missionsaktivitäten waren auf einem Tiefpunkt, weltweit gab es nur 300 katholische Missionare. Die Gründung in Aachen durch den Arzt Heinrich Hahn erhielt 1842 die kirchliche und staatliche Anerkennung, in Bayern wurde die dortige Gründung 1862 Körperschaft des öffentlichen Rechts. 1922 wurden beide Werke in den Rang von Päpstlichen Missionswerken erhoben. Heute wirbt Missio mit dem Leitgedanken „Missionarisch Kirche sein“: Missio – glauben. leben. geben. Darin steckt die Überzeugung, dass der Glaube die Welt besser macht. (2) Das bischöfliche Hilfswerk MISEREOR e.V. ist dagegen als unmittelbar entwicklungspolitisch tätiges Hilfswerk 1958 von den deutschen Bischöfen gegründet worden. Deshalb ist die Katholische Zentralstelle für Entwicklungshilfe (KZE) in Bürogemeinschaft und enger praktischer Verbindung bei Misereor verzahnt. Sie ist
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katholischerseits der Empfänger der Mittel aus dem Haushalt des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) für die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit, außerdem für Gelder der Europäischen Union. Misereor entstand als Hilfswerk gegen „Hunger und Krankheit in der Welt“. Das Werk setzt sich heute nach seinem Selbstverständnis gemeinsam mit den Armen für gerechte Strukturen und Rahmenbedingungen ein: Landreform, gerechtere Marktbedingungen, Entschuldung usw. Dementsprechend sind Projektpartner nicht nur Teile der kirchlichen Hierarchie, sondern Nichtregierungsorganisationen, Regierungen und Verbände auf nationaler wie internationaler Ebene. Nach Hans Maier wurde „aus dem spontanen Impuls der Barmherzigkeit . . . die Bemühung um Gerechtigkeit, um grundlegende Reformen, um wirtschaftliche, soziale und politische Lösungen. So ist Misereor für die katholische Laienarbeit heute ein Werkzeug der praktischen Weiterentwicklung der Katholischen Soziallehre“.3 Dies macht auch den Einfluss von Populorum progressio für die Arbeit Misereors deutlich: vom Almosen hin zur Selbsthilfe. Die Arbeit Misereors ist gemäß Statut offen für alle Armen, „ungeachtet von Rasse, Geschlecht, Religion und Nation“. Sie zielt ab auf nachhaltige Entwicklungsprozesse armer Bevölkerungsgruppen in Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika sowie auf die Bewahrung der Schöpfung für heutige und künftige Generationen. In der Inlandsarbeit wird der deutschen Öffentlichkeit die strukturelle Ungerechtigkeit in der Verteilung der Güter und Chancen sowie in den weltweiten Beziehungen vor Augen geführt. Misereor (vom Wort Christi „Misereor super turbam“ – „mich erbarmt des Volkes“) ist von der Gründungsgeschichte her eine Fastenaktion und hat seinen Kollektentermin am Passions-Sonntag in der Fastenzeit. (3) Bei der Bischöflichen Aktion ADVENIAT stand mit der pastoralen Aufgabenstellung für die Ortskirchen in Lateinamerika und in der Karibik von Anfang an die für eine nachhaltig wirksame „Leibsorge“ grundlegende „Seelsorge“ im Mittelpunkt der Hilfen. Mit der Umsetzung der Bitte aus dem Vaterunser „Adveniat regnum tuum“ – „Dein Reich komme“ leistet Adveniat einen eigenständigen und wesentlichen Beitrag zur weltkirchlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage der Aufforderung des Zweiten Vatikanischen Konzils zur zwischenkirchlichen Solidarität: „Es ist jedoch Sache des ganzen Volkes Gottes, . . . die Nöte unserer Zeit nach Kräften zu lindern, und zwar nach alter Tradition der Kirche nicht nur aus dem Überfluss, sondern auch von der Substanz.“4 Dementsprechend unterstützt Adveniat die Arbeit der Ortskirchen in allen Bereichen kirchlicher Arbeit, zudem die in Lateinamerika tätigen kirchlichen Gemeinschaften und Institutionen. Maßstab sind die seelsorglichen Prioritäten vor Ort, ausgerichtet an der Option für die Armen. Vor Ort gefördert werden die Aus- und Weiterbildung von Priestern, Diakonen, Ordensleuten und Laien im kirchlichen Dienst, die soziale Kommunikation, kirchliches Engagement in der Gesellschaft, zudem Baumaßnahmen und Transportmittel. Im Sinne der Option für die Armen liegt der Förderschwerpunkt jeweils auf dem Aufbau einer ausreichenden kirchlichen Infrastruktur. Ergänzt wird die Arbeit durch eine intensive Bildungs- und Informationsarbeit in Deutschland, wobei der Schwerpunkt auf dem Erfahrungsaustausch und der Weltkirche als Lerngemeinschaft liegt. Ungefähr 4000 Maßnahmen 3 Vgl. Hans Maier, Misereor und die katholischen Laienbewegungen, in: ZdK (Hrsg.), Berichte und Dokumente, Nr. 38, Bonn 1979, S. 19. 4 Vgl. Gaudium et spes, Nr. 88.
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werden jährlich von Adveniat bewilligt. Aktionszeit ist die Adventszeit zur Vorbereitung der Weihnachtskollekte in allen katholischen Kirchen Deutschlands. Am 30. August 1961, am Fest der Heiligen Rosa von Lima, der Patronin von Lateinamerika, bat Bischof Hengsbach aus Essen die Vollversammlung der deutschen Bischöfe erstmals um die Genehmigung einer Kollekte zur Linderung der Not in Lateinamerika. 5 Sie war gedacht auch als Dank an die Kirche in Lateinamerika für geleistete Hilfe nach dem Krieg, vor allem aber aus der Erkenntnis heraus, dass soziale Not oft eine Auswirkung geistiger Not ist. Deshalb drängten die Ortskirchen in Lateinamerika auf eine integrale Hilfe; sie konnten die Trennung von sozialer und pastoraler Arbeit nicht verstehen. Adveniat ist kein eingetragener Verein, sondern versteht sich als „Aktion“ (ist rechtlich heute Körperschaft des öffentlichen Rechts, da das Bistum Essen für den Verband der Diözesen Deutschlands als Rechtsträger der Deutschen Bischofskonferenz treuhänderisch die Rechts- und Vermögensträgerschaft Adveniats übernommen hat), in der der Mensch im Mittelpunkt steht. Starthilfe zur Selbsthilfe will Adveniat geben, so dass nicht von Deutschland aus, sondern die Menschen vor Ort selbst Umwandlungsprozesse und neue Strukturen initiieren und umsetzen können. (4) Die historisch gewachsene Trennung von Mission (Missio Aachen und München) „Leibsorge“ (Misereor) und „Seelsorge“ (Adveniat) wird in der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa RENOVABIS aufgehoben. Es ist die jüngste große Solidaritätsaktion der katholischen Kirche in Deutschland und wurde 1993 auf Anregung des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken (ZdK) von der deutschen Bischofskonferenz gegründet. „Renovabis faciem terrae“ – „Du erneuerst das Antlitz der Erde“ (Psalm 104,30) ist der Leitgedanke, auf dessen Grundlage Renovabis mit den Nachbarn in Mittel-Südost- und Osteuropa an der künftigen Gestalt des europäischen Kontinents arbeiten will. Deshalb unterstützt Renovabis in seiner Projektarbeit gleichermaßen pastorale, sozialcaritative und gesellschaftspolitische Anliegen. Neben konkreter finanzieller Hilfe geht es in der Solidaritätsaktion vor allem um Dialog, Erfahrungsaustausch und menschliche Begegnung. Renovabis initiiert und begleitet deshalb Partnerschaften zwischen West und Ost, zwischen Pfarrgemeinden, Verbänden und Einzelpersonen. Die von Renovabis betreute Region wird zudem geprägt von einer Vielfalt religiöser Bekenntnisse und christlicher Konfessionen. Deshalb wird in der Projektarbeit vor Ort großer Wert auf ein gutes Einvernehmen mit den Ortskirchen sowie auf eine wirksame ökumenische Zusammenarbeit gelegt. Renovabis ruft jährlich an Pfingsten die Gläubigen zur Kollekte auf. Außerdem erhält das Werk Mittel aus Kirchensteuern, auch einen geringen Teil öffentlicher Gelder. (5) Fokussiert auf eine Zielgruppe ist das Päpstliche Missionswerk der Kinder in Deutschland (PMK) / Die Sternsinger, das Kindermissionswerk. Wie die Vorläufer von Missio wurde auch dieses Werk in Frankreich gegründet, 1843 in Nancy durch den dortigen Bischof. Über Lüttich kam die Idee der solidarischen Hilfe von Kindern für Kinder nach Aachen, wo am 2. Februar 1846 das deutsche Kindermissionswerk gegründet wurde. Am 3. Mai 1922 wird das Werk von Papst Pius XI. zum „Päpstlichen Werk“ erhoben. 5
Vgl. Ludwig Watzal, S. 191 ff.
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Ungefähr 3.600 Kinderprojekte werden jährlich gefördert. Die finanziellen Mittel stammen aus Spenden, wobei den weitaus größten Beitrag die jährliche Aktion Dreikönigssingen leistet, die gemeinsam getragen wird mit dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ). An der Sternsinger-Aktion beteiligen sich nach Angaben des PMK jeweils bundesweit etwa eine halbe Million Kinder. Partner in Übersee sind vor allem die Ortskirchen in Afrika, Asien, Ozeanien, Lateinamerika und Osteuropa. Die Aufgaben des Werkes ergeben sich aus der Zielsetzung: „Den Kindern helfen, dass sie heute leben können.“ Dabei gehen die Verantwortlichen von der Überzeugung aus, dass das Evangelium für alle Menschen die beste Lebenschance beinhaltet. Dementsprechend sind die vom Kindermissionswerk unterstützten Projekte in den Ländern der Not gleichermaßen auf Erziehung im Geiste des Evangeliums und auf die Durchsetzung der Rechte der Kinder ausgerichtet, wie sie in der Konvention der Vereinten Nationen beschrieben sind. Es geht also auch hier um eine ganzheitliche Hilfe – um die physische, psychische und spirituelle Dimension des Lebens. (6) CARITAS International (CI) ist katholischerseits das Hilfswerk für die Katastrophenhilfe. Caritas als konkrete Hilfe für Menschen in Not ist Aufgabe und Verpflichtung eines jeden Christen und zugleich Grundauftrag der Kirche. Caritas International ist der Weiterentwicklung der Caritas und ihrer Verankerung in Kirche und Gesellschaft verpflichtet. CI unterstützt deshalb das internationale Caritasnetzwerk, um die Ressourcen wirkungsvoll einzusetzen und Caritas als weltweit tätige und gemeinsam handelnde Bewegung fortzuentwickeln. Dabei gelten die Standards und Vereinbarungen der internationalen Caritas-Konföderation und der internationalen Hilfsorganisationen für Katastrophenhilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Aufgabe von Caritas International ist es vor allem, Nothilfe zu leisten für die Opfer von Kriegen, Naturkatastrophen und anderen Krisen. Katastrophenhilfe ist ein Beitrag zur Förderung von Gerechtigkeit und Versöhnung. Langfristig sollen Selbsthilfe und Selbstorganisation unterstützt werden und die Verwundbarkeit der Notleidenden durch die Auswirkungen von Krisen gemindert werden. Die Hilfe ist subsidiär, d. h. die Arbeit der örtlichen Partner hat Vorrang. Durch die spezifische Ausrichtung auf die Präsenz in der Katastrophensituation selbst hat CI ein von allen anderen katholischen Werken unterscheidbares Profil und darüber hinaus ein sehr spezifisches Know-how. Nicht zuletzt hat auch die langjährige steuerrechtliche Unterscheidung von mildtätigen Zwecken (wozu die Katastrophenhilfe der „ersten Stunde“ gehört) und gemeinnützigen Zwecken (denen die langfristige kirchliche Entwicklungszusammenarbeit der übrigen Werke zuzuordnen ist) zu dieser Aufgabenteilung beigetragen. Von in der Praxis zu regelnden Einzelfragen abgesehen zeigt sich gerade auch in dieser sinnvollen Aufgabendifferenzierung die sich ergänzende Funktion der einzelnen Hilfswerke zueinander. Insgesamt zeigt der Blick auf die sechs großen katholischen Hilfswerke in Deutschland die Vielfalt der Herausforderung, Ansprüche und Nöte und die dafür erforderliche Fachlichkeit. Nicht alle können (und sollten!) alles tun, schon gar nicht in der Komplexität der heutigen Welt. Die sicher z. T. nur historisch erklärbare Arbeitsteilung hat sich als ein identitätsstiftendes Merkmal erwiesen. Sie macht deutlich, dass – wenn auch eine Ortskirche ihre universalkirchliche Verantwortung nicht delegieren kann – mit der Fachlichkeit, Effizienz und Erfahrung der Werke der Ortskirche in Deutschland Instrumente
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zur Seite stehen, die ihr weltkirchliches Handeln fundieren und ein Ausweis lebendigen kirchlichen Lebens sind. Allen gemeinsam ist die Förderung einer Entwicklung, die nicht zur Entfremdung führt, sondern zu einem Leben in Fülle.
III. Viele Dienste, ein Zeugnis So lautet eine Zwischenüberschrift der Druckschrift der deutschen Bischöfe zum Selbstverständnis weltkirchlich orientierter Einrichtungen und Initiativen.6 Die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit als Ausdruck weltkirchlicher Verantwortung besteht tatsächlich aus vielen Diensten, die quantitativ weit über die Tätigkeit der Hilfswerke hinausgehen. Es wäre eine unzulässige Verengung und Verkürzung, wollte man bei dem Blick auf den Reichtum weltkirchlicher Tätigkeit in Deutschland nur die oben unter II. genannten großen Hilfswerke sehen. Nicht nur, dass es auch im Hilfswerke-Bereich noch weitere gibt, so z. B. das Bonifatiuswerk und das Päpstliche Missionswerk der Frauen. Darüber hinaus sind vor allem zu nennen die missionierenden Ordensgemeinschaften, deren Dienst – anders als bei den Hilfswerken – vor allem im Personaleinsatz besteht. Rund 4000 deutsche Ordensleute sind in mehr als 140 Staaten tätig. Sie sind damit auch wichtige Mittler und Träger von Projektpartnerschaften und internationaler Entwicklungszusammenarbeit. Weitere in der Entwicklungszusammenarbeit tätige katholische Organisationen in Deutschland sind z. B. die Deutsche Kommission Justitia et Pax, die Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe e.V. (AGEH) und der Katholische Akademische AusländerDienst (KAAD). Jeder dieser Organisationen stehen eigene und spezifische Instrumente zur Verfügung, Hilfe zur menschlichen Entwicklung zu leisten im Rahmen einer weltweiten geschwisterlichen Communio. Auch im Bereich der katholischen Verbände gibt es viele, die weltkirchlich-entwicklungspolitische Ansätze in ihre Arbeit mit aufgenommen haben. Dazu gehören z. B. das Kolpingwerk, welches in seiner internationalen Arbeit den Menschen als Schöpfer, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sieht und in den Mittelpunkt stellt. Zu nennen sind aber auch der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB), der Bund Katholischer Unternehmer (BKU), die Katholische Landvolkbewegung (KLB) und Pax Christi, die insbesondere die Friedensarbeit in das Zentrum ihrer Aktionen stellt. In der Fläche fest verankert ist weltkirchliches Wirken durch das jeweilige Engagement der Pfarreien in den 27 Bistümern Deutschlands. Es gibt wohl keine zusammenfassende Übersicht, aber die Behauptung ist nicht übertrieben, dass es mehrere tausend Partnerschaften, Patenschaften, Aktionen und dauerhaftes Engagement in Eine-WeltKreisen bundesweit auf pfarrlicher Ebene gibt. Die Übersicht einzelner Bistümer zeigt die Vielfalt und die personelle wie fachliche Durchdringung der Thematik an der Basis auf. Dabei ist der tausendfache gegenseitige Austausch und die fachliche Hilfestellung seitens der Hilfswerke Grundlage und wechselseitige Bereicherung, gleichzeitig eine sich ergänzende Vervollkommnung weltkirchlichen Engagements. 6 Die eine Sendung und die vielen Dienste: Zum Selbstverständnis weltkirchlich orientierter Einrichtungen und Initiativen heute, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2000, Nr. 65.
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Viele Dienste, ein Zeugnis. In der Einheit ihrer vielen Dienste, so die oben erwähnte Druckschrift der Deutschen Bischöfe, bezeugen die weltkirchlichen Einrichtungen und Initiativen, dass „die Sendung der Kirche sich als eine religiöse und gerade dadurch höchst humane erweist“7. Deshalb kann ihr religiös-missionarischer und ihr humanentwicklungsbezogener Auftrag zwar unterschieden, aber nie grundsätzlich geschieden werden. Gerade in der Zusammengehörigkeit beider Seiten des einen Auftrags ist weltkirchliches Engagement ein privilegierter Ort christlichen Zeugnisses in der Welt von heute. Das in der deutschen Bevölkerung so breit gefächerte tätige Bewusstsein weltkirchlichen Engagements ist mithin ein Reichtum kirchlichen Lebens, dessen fruchtbare Dimension allerdings nicht immer von allen Teilen der kirchlichen Hierarchie ausreichend wahrgenommen und bewahrt wird.
IV. Erfolge und Grenzen kirchlichen Entwicklungsengagements Betrachtet man die Vielfalt weltkirchlicher Aktivitäten in Deutschland im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, werden Erfolge und Grenzen sehr schnell deutlich. Die Grenzen ergeben sich aus der Tatsache einer gewachsenen, überwiegend auch sehr erfolgreich arbeitenden Identität der je einzelnen Dienste. Diese historisch gewachsene Vielfalt der Arbeit steht beständig in der Gefahr, über die konkrete Zusammenarbeit das integrale Ganze eines reflektierten Entwicklungsverständnisses aus katholischer Sicht aus dem Blick zu verlieren. Dieser Gefahr zu entgehen, gibt es in der Praxis zwar zahlreiche Instrumente der Kommunikation und Koordination. Zu wünschen wäre allerdings eine Optimierung in diesem Bereich, die einer strikten Fachlichkeit auf allen Ebenen noch größere Priorität verleiht. Als im Ergebnis überragend sind aber die positiven Elemente der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit zu sehen. Es gibt ein Alleinstellungsmerkmal, welches gleichbedeutend ist mit einem spezifischen und unverzichtbaren Beitrag der Kirche für die Menschen in den Entwicklungsländern. Es ist dies die Tatsache, dass im Entwicklungsverständnis der katholischen Kirche der Mensch im Mittelpunkt steht. Alles, was geschieht, hat der Vervollkommnung des Menschen zu dienen. Es geht also nicht um eine rein materielle Entwicklung, sondern um die Entwicklung des Menschen in all seinen Dimensionen. Deshalb gehören Evangelisierung und Entwicklungspolitik zusammen. Die Förderung von Priesternachwuchs, die Unterstützung von Projekten gesellschaftspolitischer Weiterentwicklung, der Kampf gegen Ungerechtigkeit, Krankheit und Hunger in der Welt, die Ausbildung von Laien in Kirche und Gesellschaft, strukturelle Hilfen, die Unterstützung der Umsetzung von Pastoralplänen der Ortskirchen, fachliche und finanzielle Zusammenarbeit usw. dürfen nicht in einem Abwägungsverhältnis zueinander stehen. Wie soll sich eine Gesellschaft entwickeln, wenn die Menschen in ihrer je eigenen geistigen Entwicklung keine Unterstützung erfahren? Diese nach kirchlichem Verständnis interessenfreie, ganzheitliche Entwicklungspolitik, die zudem die kulturelle Identität der Menschen als positiv und nicht als entwicklungshemmend betrachtet, ist Entwicklungsarbeit „sui generis“ und kontrastiert mit den (legitimen) Interessen ökonomischer und strategisch-politischer Art staatlicher Entwicklungszusammenarbeit. Christen haben in ihrem Verhalten gegenüber staatlichen Verhaltensmustern einen unschätz7
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baren Vorteil: Sie sind Suchende, nicht in erster Linie Planende. Der Planende verkündet gute Absichten, stellt Ressourcen bereit – und wundert sich, warum sich nichts ändert. Suchende, wie wir Christen, sind vom Ansatz her auf Veränderung und Erneuerung aus. Deshalb ist es vor allem die Kirche, die nahe bei den Menschen ist. Die Ergebnisse im Vergleich staatlicher und kirchlicher Entwicklungszusammenarbeit sind eindeutig: – Die Kirche hat vielfach Pionierfunktion und kann frei von Zwängen agieren. – Die Kirche ist durch ihre Verwurzelung in der Bevölkerung näher an den Problemen der Menschen als staatliche Organismen einschließlich der Regierungen. – Die Kirche hat mit ihrer Festlegung auf die vorrangige Option für die Armen Aktionsmöglichkeiten in Bereichen, die staatlichem Handeln zuwiderlaufen oder von dieser Seite nicht geleistet werden. Marginalisierte Bevölkerungsgruppen, soziale Randgruppen finden vielfach nur bei der Kirche Gehör. – Die Kirche springt in vielen Ländern bei Defiziten staatlicher Daseinsvorsorge ein, weit über den Gesundheitsbereich hinaus. – Schließlich ist die Kirche auch Dank der Solidarität in und außerhalb des eigenen Landes in vielen Ländern der Erde zu einem sozialen Ordnungsfaktor geworden.
Die jahrzehntelange kontinuierliche, verlässliche und den Menschen zugewandte Arbeit kirchlicher Entwicklungstätigkeit stärkt somit maßgeblich das Leben der Menschen – nicht nur der Christen und der Kirche – in den Gesellschaften dieser Länder. Alle Akteure in den Werken, den Diözesen, den Orden, den Verbänden und den Pfarreien können von zahlreichen Beispielen berichten. Vieles geht, oberflächlich gesehen, nicht schnell genug. Doch zeigt sich überall, dass die spirituelle wie die fachliche Kompetenz der Kirche in den Entwicklungsländern maßgeblich zu gesellschaftlichem Fortschritt und der Verwirklichung eines humaneren Menschenbildes beiträgt. Auch Rückschläge gibt es – natürlich. Doch in vielen Staaten ist nachgewiesenermaßen die Kirche in der Wahrnehmung der Menschen der mit Abstand wichtigste Vertrauensfaktor in einer ansonsten zerrissenen, konfliktiven oder nach Orientierung und Maß suchende Wirklichkeit. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang die evangelisatorische Freiheit und der Ausdruck praktizierter Solidarität, in der dies geschieht. Zwar stellt die öffentliche Hand in Anerkennung der entwicklungspolitischen Leistungen der Kirchen Geldmittel zur Verfügung, doch wird diese vieldimensionierte Arbeit der katholischen Kirche wesentlich von der Solidarität der Menschen in Deutschland mit den Mitchristen in den Entwicklungsländern getragen. Und dieses Mit-Denken, Mit-Fühlen und Mit-Handeln versetzt die Menschen erst in die Lage, ihren selbstbestimmten und selbstgewollten Weg zu gehen. Dies ist im besten Sinne die von Papst Johannes Paul II. geforderte „Globalisierung der Solidarität“, Ausdruck von Communio in einer geschwisterlichen Kirche und ein „Leuchtturm des Dienstes“ im Leben des ältesten global players der Welt – unserer Kirche.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Althammer, Jörg, Dr., Professor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensethik. Bade, Klaus J., Dr. phil. habil., em. Professor für Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück; Begründer des „Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien“ (IMIS) und des Rates für Migration (RfM). Becker, Winfried, Dr., em. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau. Bergsdorf, Wolfgang, Prof. Dr., Präsident der Universität Erfurt 2000 – 2007; Präsident der GörresGesellschaft zur Pflege der Wissenschaft. Breuer, Clemens, Dr. theol. habil., Pädagogischer Mitarbeiter beim Katholischen Bildungswerk Köln; a. o. Professor für Moraltheologie und Dozent für Theologie der Ehe und Familie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten. Depenheuer, Otto, Dr., Professor an der Universität zu Köln, Lehrstuhl für Staatsphilosophie und Rechtspolitik. Feldhoff, Norbert, Dr. jur., 1975 – 2004 Generalvikar des Erzbischofs von Köln; seit 2004 Dompropst der Hohen Domkirche Köln; 1993 Dr. jur. utr. h. c., Lateranuniversität Rom. Fröhlich, Stefan, Dr., Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Internationale Politik. Funke, Manfred, Dr., em. Professor für Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Gaugler, Eduard, Dr., em. Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim; 1988 Ehrenpromotion Universität Passau; 1991 Ehrenpromotion Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt. Genosko, Joachim, Dr., Professor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Goldschmidt, Nils, Prof. Dr., Vertretungsprofessor an der Universität der Bundeswehr München, Lehrstuhl für Sozialpolitik und Organisation sozialer Dienstleistungen; Forschungsreferent beim Walter Eucken Institut, Freiburg i. Br. Graulich, Markus SDB, Dr. iur. can. habil., Professor an der Università Pontificia Salesiana in Rom, Lehrstuhl für Grundfragen und Geschichte des Kirchenrechts. Habisch, André, Dr., Professor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Lehrstuhl für Christliche Sozialethik und Gesellschaftspolitik. Härle, Wilfried, Dr., Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik. Hauser, Richard, Dr., em. Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Sozial- und Verteilungspolitik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Heintzen, Markus, Dr., Professor an der Freien Universität Berlin, Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Steuerrecht. Herz, Dietmar, Dr. rer. pol. habil. Dr. phil., Professor an der Universität Erfurt, Lehrstuhl für Vergleichende Regierungslehre. Höffe, Otfried, Dr., Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen, Lehrstuhl für Philosophie. Höhn, Hans-Joachim, Dr., Professor an der Universität zu Köln, Lehrstuhl für Systematische Theologie und Religionsphilosophie. Isensee, Josef, Dr., em. Professor für Rechts- und Staatswissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Kaufmann, Franz-Xaver, Dr. oec. Dr. theol. h. c. Dr. oec. h. c., em. Professor für Sozialpolitik und Soziologie an der Universität Bielefeld; Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Academia Europea Scientiarum et Artium. Kersting, Wolfgang, Dr., Professor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Lehrstuhl für Philosophie; Leiter des Kieler Forums für Politische Philosophie und Wirtschaftsethik. Kettern, Bernd, Dr. theol., Direktor des Caritasverbandes für die Region Trier e. V., Geschäftsführer der Caritas-Geschäftsstelle Wittlich. Kirchhof, Paul, Prof. Dr., Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; Bundesverfassungsrichter a. D. Kleinhenz, Gerhard D., Dr., em. Professor für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Wirtschaftsund Sozialpolitik an der Universität Passau. Kneuer, Marianne, Dr., Privatdozentin; Gastprofessorin für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Erfurt. Kühnhardt, Ludger, Dr., Direktor des Zentrums für Europäische Integrationsforschung (ZEI) und Professor für Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Küppers, Arnd, Dr., Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Ladenthin, Volker, Dr., Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Lehrstuhl für Historische und Systematische Erziehungswissenschaft. Lampert, Heinz, Dr., em. Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Augsburg (y). Liedhegener, Antonius, Dr., Privatdozent an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Lehrstuhlvertretung an der Europa-Universität Viadrina, Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft. Liminski, Jürgen, Journalist, Publizist und Buchautor. Losinger, Anton, Dr. theol. Dr. rer. pol., Weihbischof im Bistum Augsburg. Makrides, Vasilios N., Dr., Professor an der Universität Erfurt, Lehrstuhl für Religionswissenschaft (Orthodoxes Christentum). Mückl, Stefan, Dr., apl. Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., Institut für Öffentliches Recht. Müller, Christian, Dr., Privatdozent an der Universität Duisburg-Essen, Mercator School of Management / Fachbereich Betriebswirtschaft.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Müller, Johannes SJ, Dr., Professor für Sozialwissenschaften und Entwicklungspolitik, Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München und Leiter des der Hochschule angegliederten Instituts für Gesellschaftspolitik. Nass, Elmar, Dr. theol. Dr. soc., Domvikar, Bischöfliches Generalvikariat Aachen. Nothelle-Wildfeuer, Ursula, Dr., Professorin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre. Ockenfels, Wolfgang OP, Dr. phil. Dr. theol. habil., Professor an der Universität Trier, Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften; Leiter des „Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“, Bonn. Ott, Notburga, Dr., Professorin an der Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft. Pompey, Heinrich, Dr. theol., Lic. theol., em. Professor für Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.; Professor für Christliche Sozialarbeit an der Universität Olomouc / Tschechien. Rauscher, Anton, Dr. theol., Dr. h. c. mult., lic. phil., em. Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Augsburg; Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle, Mönchengladbach. Roos, Lothar, Prälat, Dr. theol., em. Professor für Christliche Gesellschaftslehre und Pastoralsoziologie an der Universität Bonn. Rüthers, Bernd, Dr. iur. Dres. h. c., em. Professor für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Handelsrecht, Rechtstheorie an der Universität Konstanz; Richter am OLG a. D. Rutz, Michael, Prof., Chefredakteur Rheinischer Merkur. Saberschinsky, Alexander, Dr. theol., Referent in der Hauptabteilung Seelsorge des Erzbischöflichen Generalvikariates Köln; Dozent für Christliche Gesellschaftslehre am Interdiözesanen Priesterseminar St. Lambert, Lantershofen. Schockenhoff, Eberhard, Dr. theol., Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., Lehrstuhl für Moraltheologie. Schönberger, Christoph, Dr., Professor an der Universität Konstanz, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Vergleichende Staatslehre und Verfassungsgeschichte. Schramm, Michael, Dr., Professor an der Universität Hohenheim, Lehrstuhl für Katholische Theologie und Wirtschaftsethik. Schüller, Alfred, Dr. rer. pol., em. Professor für Volkswirtschaftslehre an der Philipps-Universität Marburg; Schriftleiter des Jahrbuchs ORDO und Vorstandsmitglied des Walter Eucken Instituts, Freiburg i. Br. Schwarz, Jürgen, Dr., em. Professor für Internationale Politik, ehem. Direktor des Instituts für Internationale Politik und Völkerrecht der Universität der Bundeswehr München; Professor an der Hochschule für Politik München und an der Universität München, Lehrstuhl für Internationale Politik. Sommer, Michael P., Ass. jur., Leiter Auslandskunden und Nachhaltigkeitsmanagement bei der Bank im Bistum Essen eG; ehem. stellvertretender Geschäftsführer der Bischöflichen Aktion Adveniat. Spieker, Manfred, Dr., Professor an der Universität Osnabrück, Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
van Suntum, Ulrich, Dr., Professor und Direktor des Centrums für Angewandte Wirtschaftsforschung Münster (CAWM) der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sutor, Bernhard, Dr., em. Professor für Christliche Gesellschaftslehre an Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Uertz, Rudolf, Dr. phil. habil., apl. Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und an der Kardinal-Stefan-Wyszyn´ski-Universität Warschau; Referent in der Konrad-Adenauer-Stiftung. Vogt, Markus, Dr., Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Christliche Sozialethik. Vorländer, Hans, Dr., Professor an der Technischen Universität Dresden, Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte. Waldhoff, Christian, Dr., Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Lehrstuhl für Öffentliches Recht; Direktor des Kirchenrechtlichen Instituts. Waldmann, Peter, Dr. jur., em. Professor für Soziologie an der Universität Augsburg. Watrin, Christian, Dr., em. Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln; 2000 – 2002 Präsident der Mont-Pèlerin-Gesellschaft. Werding, Martin, Dr., Leiter des Forschungsbereichs Sozialpolitik und Arbeitsmärkte, ifo Institut für Wirtschaftsforschung, München. Zacher, Hans F., Dr. jur., Dr. h. c., Ph. D. h. c., em. Professor des Öffentlichen Rechts an der Ludwig-Maximilians-Universität München; em. Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht in München; Präsident der Max-Planck-Gesellschaft a. D.
Personenregister Abbé, E. 616 Adenauer, K. 116, 184, 187 f., 541, 851, 853, 1043 Adorno, Th. W. 197, 928 Albers, J. 187, 543 Althusius 14 Ambrosius 900 Amendola, G. 924 Amery, C. 189 Anheier, R. 639 Annan, K. 597, 635 Anschütz, G. 78, 837 Anselm von Canterbury 391 Antonius von Florenz 605 Anzenbacher, A. 145 Apel, K.-O. 96, 206 Aquin, Th. von 11 f., 18 f., 29, 95, 107, 112, 122, 133, 136 f., 144, 161, 165, 263, 273, 281, 286, 502 f., 515, 518, 526, 530, 565, 756 f., 760, 775 f., 781, 846, 901, 945, 1075 Arendt, H. 923, 928 Aristoteles 8, 11, 17, 95, 144, 150, 160 f., 165, 281, 377, 397, 427, 501, 515, 526, 530, 755 f., 760, 762, 768 f., 781, 865 f., 876, 899, 922, 1032 Auer, A. 75 Augustinus 11, 66, 180, 235, 238 f., 273, 278, 282, 565, 751, 755, 767 f., 775 f., 900, 945, 1021, 1023, 1025 Augustus (röm. Kaiser 27 v. Chr. – 14 n. Chr.) 1032 Aus der Au, Ch. 406 Baader, F. von 105, 178 Babeuf, F. N. 533 Bacon, F. 398 Bandura, A. 918 Barth, K. 240 Basilius der Große 711 Basilius von Caesarea 249, 390 Bauer, C. 104, 107 Bauer, P. 660 Becker, G. S. 224 Bellarmin, R. 775, 1076
Benedikt XVI. (Papst) 100, 123, 125, 141 f., 173, 178, 191, 258, 275, 281, 286, 373, 642, 709 f., 716, 718, 804, 909, 1001, 1023 f., 1073 f., 1080 Benedikt von Nursia 390, 532 Benjamin, W. 922 Bentham, J. 218, 403, 427 Bergson, H. 406 Bergstraesser, A. 1033 Berkowitz, L. 917 Bernhard von Clairvaux 391, 1075 Bernhard von Siena 605, 607 Bernhard, J. 404 Bertram, H. 269 Bismarck, O. von 179 ff., 583, 658, 1022 Bloch, E. 197 Blum, R. 913 Böckenförde, E.-W. 62, 195, 275, 804, 820, 857 Bodin, J. 755, 1011 Boethius 19, 29 Boff, L. 200 Böhler, D. 206 Böhler, W. 186, 855 Böhm, F. 525, 540, 545, 566, 592, 695 Bonald, L.-G.-A. de 777 Bonaventura 12 Börsch-Supan, A. 701 Bourdieu, P. 446 Bourgeois, L. 35 Boutros-Ghali, B. 1012 Bowlby, J. 289 Bracher, K. D. 921 Brandts, F. 107, 616, 712 Brandts, M. 712 Brauer, Th. 114 Bräuninger, D. 701 Brauns, H. 182, 184 Brecht, B. 919 Briefs, G. 114, 124, 591, 631 Brüning, H. 182 f., 185 Bruno, G. 1076 Brust, A. 181 Brzezinski, Z. 923
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Personenregister
Buchanan, J. 221 – 225, 527 Buchez, P. 178 Büchner, G. 919 Burckhardt, J. 948 f. Bush, G. W. 891 Buß, F. J. Ritter von 106, 177, 712 Calvin, J. 1076 Cantillon, R. 605 Capra, F. 408 Cardenal, E. 200 Casas, B. de las 13, 1026 Cicero 11, 751 Clausewitz, C. von 1025 Clinton, B. 891 Coing, H. 848 Colmar, J. L. 176 Coontz, St. 273 Cornelius 711 Cortés, D. 35, 195 Crucé, E. 1011 Cyprian 1026 Dahrendorf, R. 868 Dalberg, K. T. von 176 Demsetz, H. 528 Descartes, R. 66 f., 398, 427 Domes, J. 1035 Dorbritz, J. 267 Drewermann, E. 408 Dürig, G. 69, 857 f. Durkheim, E. 35, 152 Dussel, E. 200 Dux, G. 294 Ellwein, Th. 189 Engels, F. 119, 126 f., 467, 524, 768, 874 Eron, L. 918 Erzberger, M. 182 Eschenburg, Th. 477 Eucken, W. 115, 134, 523, 525, 530, 533, 540, 545, 561, 566, 571, 592, 607 f. Eugen IV. (Papst 1431 – 1447) 114 Even, J. 187 Farley, M. A. 295 Faulhaber, M. 184 Fehrenbach, K. 183 Fermi, E. 927 Feshbach, S. 917 Feuerbach, L. 16 Fichte, J. G. 67, 172, 506, 772
Forster, K. 187 Forsthoff, E. 669 Franz von Assisi 401 Freeman, R. E. 594 Freese, H. 616 Freud, S. 294 Friedman, M. 600, 609, 660 Friedrich II. (Kaiser 1220 – 1250) 1033 Friedrich, C. J. 923 Frings, J. 186 Fuchs, Th. 25 Fukuyama, F. 378 Galbraith, J. K. 660 Galen, C. A. von 186 Galen, F. H. Graf von 107, 180 Galilei, G. 98 Gallitzin, A. von 176 Gehlen, A. 26, 76 Geiger, W. 848 Gelasius (Papst 492 – 496) 80, 103 Gerbner, G. 917 f. Gide, Ch. 35, 153 Giscard d’Estaing, V. 1046 Giuliano, B. 931 Glucksmann, A. 922 Goethe, J. W. von 57, 289, 591, 922 Göring, H. 926 Görres, J. 176 f. Greenspan, St. 288 Gregor VII. (Papst 1073 – 1085) 939 Gregor XVI. (Papst 1831 – 1846) 139, 777, 999 Grimm, D. 971 Groebel, J. 918 Groner, J.-F. 113 Gross, L. 917 Groß, N. 185 Grossmann, K. 289 Großmann-Doerth, H. 566 Grotius, H. 14, 29, 235, 503, 1011 Guardini, R. 76 Gundlach, G. 36 f., 109 f., 114 f., 146, 153, 157 f., 167 ff., 187, 543, 573 Gurian, W. 923 Gutiérrez, G. 199 f. Häberle, P. 857 Habermas, J. 96, 123, 153, 170 ff., 195, 197, 206, 211, 242, 752, 804, 808, 866, 1037 Hahn, H. 1106 Hanssler, B. 187 Harmel, L. 178
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Harsanyi, J. C. 219, 221 ff., 225 Hayek, F. A. von 169 f., 523, 530, 533, 570, 586, 660 Heck, B. 189 Hegel, G. W. F. 67, 75, 119, 172, 297, 503 f., 506 f., 584, 756, 760, 769, 1038 Heidegger, M. 399 Heinrich VIII. (König von England 1509 – 1547) 580 Hengsbach, Franz 200, 1108 Hengsbach, Friedhelm 119, 648, 651 Heraklit 11 Hermanns, M. 116 Herms, E. 241 f. Hertling, G. von 105, 107 f., 180, 182 Heuss, Th. 853, 856 Himmler, H. 186 Hindenburg, P. von 184, 927 Hippel, E. von 847 Hitler, A. 35, 185, 779, 924, 926 f. Hitze, F. 107 f., 116, 124, 180, 712 Hobbes, Th. 29, 221 f., 635, 747, 749, 755, 768, 784, 865, 942 Hobsbawm, E. 921, 923 Hofbauer, K. M. 176 Hoffmann, A. 182 Höffner, J. 13, 17, 115 – 118, 124, 137, 153, 168 f., 200, 545 f., 549, 561 f., 591, 611, 631, 1026 Homann, K. 223, 225 Hommes, U. 911 Honneth, A. 152, 172 f. Höpflinger, F. 277 Höpker-Aschoff, H. 853 Hoppe, H.-H. 586 Horkheimer, M. 195, 197, 377, 928 Huber, L. 181 Huesmann, R. 918 Humboldt, W. von 282, 746 Hume, D. 403 Huntington, S. 194, 1071 f.
Johannes XXIII. (Papst 1958 – 1963) 4, 21, 37, 81, 93, 111, 125, 128, 130, 139 f., 148, 546, 634, 775, 780, 784 f., 796, 804, 895, 1000, 1022, 1040 Johannes Chrysostomus 249, 278, 775 f. Johannes Paul II. (Papst 1978 – 2005) 22 f., 86, 111, 119 – 122, 125, 127, 132 – 135, 140, 142, 154, 190, 200, 279, 281, 283, 286 f., 289 f., 292, 301, 361 ff., 366, 368, 373, 382, 429 f., 435, 518, 546 f., 594, 605, 620, 646, 648, 785, 909, 1000 f., 1023, 1028, 1074 f., 1078 ff., 1092, 1095 f., 1099 – 1102, 1112 Johannes vom Kreuz 289 Johnson, L. B. 660 Jonas, H. 405 Jostock, P. 114
Isensee, J. 20, 855
Laforet, W. 853 Laktanz 80 Lamennais, R. F. de 176, 777 f. Lasalle, F. 494 Laufs, A. 69 Ledochowski, W. 114 Lehmann, K. 695, 1074 f., 1077 Leibholz, G. 847
Jasay, A. de 586 Jefferson, Th. 15 Jesse, E. 923 Joachim von Fiore 769 Johann Ohneland (König von England 1199 – 1216) 51
Kant, I. 65, 67 f., 73, 95 f., 141, 144, 206, 221, 335, 394, 399 ff., 403, 426, 504 – 507, 566, 755, 865, 944, 1003, 1011, 1018 Karl der Große (Kaiser 800 – 814) 711 Kelsen, H. 747, 762 Kennedy, J. F. 660 Kersting, W. 156, 171, 226 Ketteler, W. E. Frhr. von 18, 35, 81, 105 – 108, 133, 137 f., 157, 177, 518, 542, 544, 546, 712, 778 Keynes, J. M. 540, 553, 660 Khoury, A. Th. 1073 Kierkegaard, S. 399 Kirchhof, P. 994 Kjellén, R. 1038 Köcher, R. 916 Kohl, H. 1045 Kolping, A. 178 Kopelew, L. 922 Korff, W. 298 Kroh, W. 118 Kronenberg, V. 1037 Kronstadt, J. von 251 Kuhlmann, W. 206 Kurt, St. 275
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Personenregister
Leo XIII. (Papst 1878 – 1903) 18, 20, 35, 104, 108, 125 ff., 136 f., 139, 477, 518, 520, 544, 546, 594, 778, 784, 802 f., 846, 939, 945 f., 999, 1040 Leroux, P. 151 Lessing, G. E. 919 Letterhaus, B. 185 Lichtenberg, G. 919 Lieber, E. 180 Liebermann, F. L. 176 Lincoln, A. 864 Linhardt, R. 779 Linz, J. J. 884 Lipset, S. M. 882 Locke, J. 51, 221, 503 – 508, 747, 755, 768, 784, 1003 Lübbe, H. 912 Lücke, P. 188 Ludwig I. der Fromme (Kaiser 814 – 840) 711 Ludwig I. von Bayern (König von Bayern 1825 – 1848) 177 Ludwig XIV. (König von Frankreich 1643 – 1715) 138 Luhmann, N. 195, 226, 242, 806 f., 912 Luther, M. 83, 158, 233, 236 – 239, 241, 246, 919, 945, 1076 Luttwack, E. 276 Machiavelli, N. 742 MacIntyre, A. 172 MacIver, R. M. 26 Maier, H. 118, 778, 1028, 1072, 1107 Maistre, J. de 777 Makrembolites, A. 250 Malaparte, C. 925 Mangoldt, H. von 853 Manuel II. Palaeologos (byzantinischer Kaiser 1391 – 1425) 1073 Mao 922 Marcuse, H. 197 Maritain, J. 1097, 1100 Marshall, A. 606 Marx, K. 16, 20, 32, 119, 126 f., 169, 468, 490, 517, 571, 581, 874 f., 922, 930, 1063 Marx, W. 183 f. Mast, C. 911 Mausbach, J. 114 McGuire, W. 918 Meadows, D. 422 Megglé, D. 280 Meinecke, F. 1038 Melanchthon 83
Merkel, W. 884 Messner, J. 11, 37, 112 f., 129, 147, 168, 284, 591 f., 631 Metz, J. B. 118 f., 196 – 199 Meyer, Th. 136 Michelangelo 5 Michels, E. 184 Mikat, P. 296 Miksch, L. 569 Mill, J. St. 166, 218, 580, 606 Mises, L. von 523, 530 Mitterand, F. 1045 Molina, L. de 14, 545 Monnet, J. 1043 f. Montalembert, Ch. de 778 Monzel, N. 124, 173 Moore, B. 882 Morus, Th. 526, 533 Mückenberger, U. 461 Mueller, F. H. 124 Müller, A. H. 105, 176, 178 Müller, O. 184 Müller-Armack, A. 134, 541, 544 f., 583 f., 593 Mußgnug, R. 853 Mussolini, B. 924, 926 f. Muth, C. 184 Mutter Teresa (Bojaxhiu, A. G.) 286, 393 Myrdal, G. 660 f. Nawroth, E. 113 Nell-Breuning, O. von 31, 33, 109, 114 f., 143, 145, 153, 167 ff., 187, 454, 543 ff., 631, 651, 695 Nelson, L. 17, 403 Nietzsche, F. 16, 389, 405, 757, 772 Nolte, E. 924, 928 Nothelle-Wildfeuer, U. 162 Novalis 279 Nox, St. 276 Oberndörfer, D. 1037 Oberreuter, H. 910 O’Donnell, G. 882 f. Ollenhauer, E. 853 Ottaviani, A. 803 Paine, Th. 873 Pascal, B. 282, 285, 808 Paul VI. (Papst 1963 – 1978) 100, 114, 125, 134, 281, 546, 1023, 1086, 1092, 1095 f., 1098 f.
Personenregister Paulus, Apostel 11, 235, 278, 289 Périn, Ch. 36 Pesch, H. 35 – 38, 107 ff., 124, 151, 153, 167 f. Piaget, J. 335 Pieper, J. 919 Pitschas, R. 669 Pius V. (Papst 1566 – 1572) 1076 Pius VI. (Papst 1775 – 1799) 139, 777 Pius IX. (Papst 1846 – 1878) 139, 777, 1099 Pius X. (Papst 1903 – 1914) 181 Pius XI. (Papst 1922 – 1939) 19 f., 35, 95, 114, 117, 124 f., 127 f., 131, 133 f., 137, 157, 520, 546, 594, 780, 795, 1000, 1108 Pius XII. (Papst 1939 – 1958) 3, 12, 20 f., 37, 81, 110 f., 113, 125, 128 – 131, 134, 138 f., 187, 372, 519 f., 546, 775, 780, 784, 795, 854, 1000, 1040, 1105 Platon 8, 27, 34, 241, 501, 526, 864, 866, 899 Popper, K. R. 1022 Prahalad, C. K. 601 f. Preiser, E. 452 Pridham, G. 884 Prodi, P. 809 Proudhon, P. J. 166, 517 Przeworski, A. 882 Pufendorf, S. 14, 235, 503, 505, 768 Quesnay, F. 29 Radbruch, G. 835, 847 f., 858 Radnitzky, G. 586 Raiffeisen, F. W. 638 Ratzinger, J. 119, 121 ff., 200, 278, 280, 284 – 287, 803 f., 808, 1032 Rawls, J. 169 f., 172, 219, 221 ff., 225 f. Reagan, R. 894 Regan, T. 403 Reichensperger, A. 106 Reichensperger, P. 106, 179 Renan, E. 761 Rendtorff, T. 242 Repgen, K. 35 Ricardo, D. 655 Roegele, O. B. 910, 918 Rommen, H. 780, 848 Roosevelt, Th. 540 Röpke, W. 156, 544, 546, 557, 656, 658 Rosmini, A. 166 Rostow, W. W. 660 Rousseau, J.-J. 138, 141, 282, 756, 768, 771, 873 f., 876 Rufner, W. 669
1121
Ruskin, J. 607 Ruß-Mohl, St. 914 Rüstow, A. 525, 544, 567, 573 Sacher, H. 115 Sailer, J. M. 176 Saint-Simon, C.-H. 151 Saunders, C. 391 Say, J.-B. 606 Scharmitzel, Th. 185 Scheler, M. 421 Schelling, F. W. J. 760 Schetelig, H. 285 Schlegel, F. 176 Schleiermacher, F. 241 Schmid, C. 853, 855 Schmidtchen, G. 194 Schmitt, C. 195, 197, 749 Schmitter, Ph. 882 f. Schneider, L. 158 Schneider, W. 919 Schockenhoff, E. 112, 848 Schopenhauer, A. 282, 403, 405 Schreiber, G. 183 Schreiber, W. 188, 454, 591, 631 Schröder, G. 893 Schröder, M. 701 Schüler, M. 701 Schulze-Delitzsch, H. S. 638 Schuman, R. 1043 Schumpeter, J. 536, 606 Schweitzer, A. 405 Schwer, W. 114, 124 Schwering, L. 185 Ségré, E. 927 Sen, A. 172 f. Seneca 11 Shafer, B. C. 1033 Shakespeare, W. 57 Siemer, L. 113, 185 Simmel, G. 760 Singer, P. 427 Sismondi, J. Ch. L.-S. de 35 Skynner, R. 274 Smend, R. 760 f., 847, 958 Smith, A. 18, 30 f., 105, 126, 143 f., 273, 441, 524 f., 535, 549 f., 562, 567, 569, 579, 581, 608, 632, 655 Snyder, L. 1035 Sobrino, J. 200 Sodano, A. 365 Sombart, W. 109
1122
Personenregister
Spaemann, R. 62, 68, 376 Spahn, P. 182 Spalding, J. J. 235 Spinoza, B. 408, 768 Stauffenberg, C. Ph. M. Graf Schenk von 185 Stegerwald, A. 181 f., 185 Stresemann, G. 183 Suarez, F. de 14, 136, 775, 777 Süsterhenn, A. 853, 855 f. Szczesny, G. 189 Tannenbaum, P. H. 918 Taparelli, L. 112, 136, 166 f. Taylor, Ch. 172 Tertullian 80, 280 Thoma, R. 17 Thomasius, Ch. 235 Tibi, B. 921 Tillich, P. 195, 244 Tocqueville, A. de 757, 876, 891, 894 Toscano, M. 927 Treitschke, H. von 930 Trendelenburg, F. A. 15 Trimborn, K. 180 Trotzki, L. 922 Ulbricht, W. 581 Ulpianus, D. 12 Urban VIII. (Papst 1623 – 1644) 939 Utz, A. F. 113 f. Van Parijs, Ph. 440 Vaz, S. A. F. 303 Velden, J. van der 114 Verdross, A. 111 Verney, Th. 288 Vitoria, F. de 13, 136 f., 775, 777, 807, 1025 f.
Vogelsang, K. von 105, 107, 184 Völker-Rasor, A. 273 Volkery, A. 424 Wagner, A. 108 Wall, H. de 965 Walterbach, C. 184 Walzer, M. 172 Watrin, Ch. 584 Weber, M. 195, 760, 871, 905, 1035 Weber, W. 124, 200, 546 Weinkauff, H. 849 Weizsäcker, C. Ch. von 162 Welker, M. 242 Welty, E. 37, 113, 153 Werthmann, L. 712 Wessenberg, I. H. von 176 Westermann, C. 64 Whitehead, L. 883 Wiese, L. von 760 Wilcox, W. B. 276 Wilson, W. 1012 Windthorst, L. 107, 179 Wingen, M. 309 Winkelheide, B. 187 Winter, L. 701 Wirth, J. 183 Wittgenstein, L. 282 Wolf, U. 404 Wolff, Ch. 17, 768 Wuermeling, F.-J. 189 Yunus, M. 602, 638 Zacher, H. F. 670 Zeidler, W. 346 Zillmann, D. 918
Sachregister Fett gedruckte Hervorhebung: Verweis auf den Handbuchbeitrag. Abtreibung 72 f., 361 – 367 Adveniat 1107 f. Alter 386 f., 683 – 692 Alterssicherung 683 – 692 Altersvorsorge 453 f., 473, 532 Amsterdamer Vertrag 1046 Anarchie 767 ff. Anglikanische Kirche 989 f. Anthropologie 398 Anthropozentrik 397, 421 Antike 936, 1032 Arbeit 32, 132 f., 435 – 442, 445 – 456, 459 – 464, 490 f., 504 Arbeiter 32, 583 Arbeiterfrage (siehe Soziale Frage) Arbeitgeber 473, 477 – 486, 620 Arbeitnehmer 467 – 486 Arbeitsgesellschaft 459 – 464 Arbeitskampf 484 ff. Arbeitslosigkeit 460 f., 496 f. Arbeitsmarkt 447 f., 489 – 498, 671 Arbeitsmarktordnung 489 – 498 Arbeitsrecht, kirchliches 475 f., 637, 647 – 652, 715 – 718 Arbeitsrecht, staatliches 321, 467 – 486 Arbeitsteilung 549 f. Arbeitsvertrag 137, 447 f., 467 – 476 Armut 414 f., 579 f., 601 f., 671, 677, 686, 1085 f. Ars moriendi 372, 391, 394 Artenschutz 425 Asyl 1053 ff., 1058 Aufklärung 14 f., 29, 67, 79, 95 f., 144, 161, 235, 260 f., 758, 768, 846 Ausschuss der Regionen 1048 Autonomie 95 – 99 Autorität 27 Bedarfsgerechtigkeit 449, 560, 671, 675 Behinderung 384 ff. Bellum iustum 1021 – 1029 Beruf 319 – 322
Berufsständische Ordnung 544 ff. Beteiligungsgerechtigkeit 171, 1087 Betrieb 615, 620 Betriebsrat 616 ff. Betriebsverfassung 468, 615 – 629 Bildungssystem 671 Biodiversität 425 Bioethik 72 ff., 372, 1003 f. Bismarck’sche Sozialgesetzgebung 714 Bürger 58 f., 748 f., 754 f., 761, 770 f., 887 – 896 Bürgergesellschaft (siehe Zivilgesellschaft) Bürgerrechtler 887 Bürgerversicherung 704 Caritas 580, 642 f., 645 f., 672, 707 – 718 Caritas International 1109 Christentum 926, 947, 965 ff., 1075 – 1081 Corporate Citizenship 594, 597 – 600 Corporate Social Responsibility 594 – 597, 609 Daseinsfürsorge 669 – 681 Deismus 15, 30, 567 Demographie 267, 584 ff., 690, 692, 702 Demokratie 111, 138 – 141, 195, 665, 758 f., 764, 779, 784, 806, 833, 861 – 869, 871 – 879, 881 – 885, 888, 900, 910, 1002 f., 1005 Dialog der Kulturen 1005, 1024, 1028 Dienstgemeinschaft (siehe Arbeitsrecht, kirchliches) Diktatur 864, 921 – 931, 1002 Diskriminierungsverbot 473 f., 619 f. Diskursethik 203 – 212 Ehe 6, 257 – 271, 273 – 290, 291 – 310, 313 f. Ehrenamt 439, 599, 637, 642 Ehrfurcht vor dem Leben 405 f., 429 f. Eigentum 18, 21, 35, 58, 127, 501 – 509, 511 – 521, 523 – 536, 570 f., 632 f., 1088 Eigenverantwortung 159 f., 439, 553 Elternschaft 258 f., 269, 313 ff., 358 Embryo 71 – 74, 361, 372 – 378, 829
1124
Sachregister
Empfängnisregelung 268, 363 Entwicklung 1086, 1092 f., 1095 – 1102 Entwicklungshilfe 1105 – 1112 Entwicklungsländer 661, 664 f., 1085 – 1093 Erziehung 287 ff., 301, 310, 316, 323, 328 f., 331 – 339 Ethik, anthropozentrische 397 – 410 Ethik, biozentrische 405 ff. Ethik, ökozentrische 397 – 410 Ethik, pathozentrische 403 ff., 427 f. Ethik, physiozentrische 407 ff. Eugenik 384 Europa 987 – 995, 1043 – 1048 Europäische Kommission 1047 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 726, 829 Europäische Union 158 f., 598, 724 – 737, 773, 824, 841 f., 988 f., 994 f., 1039, 1043 – 1048 Europäische Zentralbank 1048 Europäischer Gerichtshof 825, 1048 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 825 Europäischer Ministerrat 1047 Europäischer Rat 1046 f. Europäischer Rechnungshof 1048 Europäisches Parlament 1047 f. Europarat 725 Euthanasie 367 – 372 EU-Vertrag 158, 727 f., 1045 f. Evangelische Sozialethik 233 – 247 Evolutionslehre 401 f. Existenzminimum 447, 451, 674, 678 – 681 Extremismus 928 f. Familie 25 f., 257 – 271, 273 – 290, 291 – 310, 311 – 330, 331 – 339, 341 f., 449, 451, 579 Familienlastenausgleich 315, 318, 350, 674 Familienleitbild, bürgerliches 261, 264 ff., 299, 459 Familienpolitik 311 – 330, 341 – 352 Faschismus 33, 923 f. Fernsehen 911 – 920 Föderalismus 837 f. Folter 55 Fortschritt 1095 ff. Fortschrittsglaube 141 Frankfurter Schule 117 ff., 197 f. Französische Revolution 15, 18, 30, 52, 999 Frau 133, 355 – 358 Frauenerwerbstätigkeit 460 f. Freiburger Schule (siehe Ordoliberalismus)
Freiheit 30, 41 – 59, 541, 670, 696, 768 f., 789, 791, 795, 815, 1001, 1006 Freiheitsrechte 53 – 59, 962 ff. Friede 1021 – 1029, 1077 Fundamentalismus 1071 Fürsorgeprinzip 697 Gemeinschaft 26 ff. Gemeinsinn 29, 148 f. Gemeinwirtschaft 631 – 639 Gemeinwohl 21, 28 f., 31, 143 – 150, 154 f., 165 f., 167 ff., 430, 485 f., 492, 496, 572, 610, 619, 670 f., 679, 746 f., 754 f., 779, 783, 814, 832, 839 ff., 951, 1087 f. Generationengerechtigkeit 413 ff., 671, 1091 f. Generationenvertrag 311, 318 f., 322 f., 585, 676 f., 688 f., 692 Genossenschaft 638 Gerecht 246 Gerechtigkeit 165, 377, 413 ff., 426, 507 f., 696, 704, 732, 751 f., 793, 835, 902 ff., 1091, 1095 – 1102 (siehe auch Bedarfsgerechtigkeit, Beteiligungsgerechtigkeit, Tauschgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit) Gerechtigkeit, soziale 126 – 136, 157 f., 165 – 173, 216, 225 f., 423, 519, 541, 670 ff., 676, 849 Gesellschaft 136 ff., 145 – 150, 209 f., 764 f., 787 – 799, 819 f., 831 f., 935 – 955 Gesundheit 700 Gewalt 1061 – 1064, 1071 – 1081 Gewaltenteilung 755, 759 Gewaltmonopol 748 f., 752, 813 Gewerkschaft 115, 181 f., 448, 477 – 486, 620, 636 Gewinn 455 f., 593, 609, 632 Gewissen 236 f. Gewissensfreiheit 77 – 89, 247, 999 Glaube 808, 906, 1024, 1073 Glaubensfreiheit 77 – 89, 247, 999 Gleichheit 50 f., 377, 670, 696 f., 757, 789, 815 Global Governance 1006 ff., 1012, 1092 f. Globalisierung 148, 571, 773, 879, 1007, 1085 f., 1099 Globalisierungskritik 600 Goldene Regel 377 Görresgesellschaft 180 Gottesebenbildlichkeit 4 f., 42, 50, 61 – 64, 67, 97, 243, 293, 430, 592, 789, 1000, 1100 Gotteserkenntnis 8 f., 11
Sachregister Grundeinkommen, bedingungsloses 440, 463 f., 679 Grundgesetz (siehe Verfassung) Grundrechte 45 f., 474 ff., 764, 779, 796, 821 – 832, 965
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Journalismus 914 – 920 Judentum 965
895 f., 1000, 1086 – 1093, 1095 – 1102, 1106 f. Katholizismus, politischer und sozialer 104, 108, 175 – 191, 777 Kind 269 f., 284 f., 297 ff., 303, 309 f., 311 – 320, 322 – 330, 332 – 339, 342 – 352, 356 ff., 373 Kinderkrippe 326 f., 586 Kindermissionswerk 1108 f. Kinderwahlrecht 327 f. Kindeswohl 310, 319 Kirche 641 – 653, 707 – 718, 854, 856, 894 f., 926, 935 – 955, 978 – 983, 1075 – 1081, 1105 – 1112 Kirchensteuer 644, 984 Klassengesellschaft 100, 539, 544 Klugheit 554 f. Koalitionsfreiheit 448, 478 – 482, 494, 620 Kollektivismus 33 ff., 37 Kommunikation 209 f., 282 f., 910 f. Kommunismus 33, 769, 795, 852, 876, 887, 922 f. Kommunitarismus 39, 145, 149, 172 Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 86 Königswinterer Kreis 114 f., 543 f. Konkordat (siehe Staatskirchenvertrag) Konsum 551 ff., 608 Kopfpauschale 702 ff. Korruption 590, 635 Krankenpflege 344, 356, 383 Krankenversicherung 699 f. Krankheit 73 f., 382 ff., 695 – 705 Kreuzzüge 1075 Krieg 1012 f., 1015 f., 1023, 1025 ff., 1078, 1081, 1100 Kulturkampf 179 ff., 542, 801, 846 Kulturkonflikt 1071 – 1081 Kunstfreiheit 57
Kapital 445 – 456 Kapitaldeckungsverfahren 676, 684 f., 691 f., 701 Kapitalismus 18, 32, 105, 127 f., 135, 446, 547, 582, 627, 878 Katholische Romantik 105 – 108, 127, 631 Katholische Soziallehre 20 – 23, 35, 98 ff., 103 – 124, 143 – 162, 196 f., 198, 200 f., 341, 416 ff., 429 ff., 450 f., 489 – 492, 518 – 521, 524 f., 539 – 547, 572 f., 610 f., 626 f., 677, 702 – 705, 735 ff., 803 f., 820, 842 f., 851,
Laizismus 960 Lebensschutz 361 – 378 Lehrauftrag, sozialer 93 – 100 Leistung 440 f., 449 f., 561, 570 Leistungsgerechtigkeit 675 Liberalismus, ökonomischer 18, 30 ff., 35, 127 – 130, 170, 539 f., 542, 569, 586 Liberalismus, politischer 139, 144, 567 f., 999 f. Liebe 906 f. Lohn 471, 570
Handel 658 – 665 Heil 93 ff., 238, 240 f., 438 Heiliger Krieg 193 f., 1025, 1073 Herrschaft 745, 748, 752, 754, 761, 863, 866, 871, 987 Hilfswerke, kirchliche 1106 – 1111 Hoffnung 906 Hospiz 372, 389 – 394 Humanismus 43, 142, 795 Humanitäre Intervention 1016, 1026 f. Humankapital 437, 446, 529 Humanökologie 430 f. Humanvermögen 265, 288, 342 – 349 Idealismus, deutscher 15, 43, 506 f. Ideologie 1003 f., 1023 Individualisierung 274 Individualismus 29, 31 ff., 769 Individuum 828 – 831 Industriegesellschaft 32 Integraler Humanismus 1095 ff., 1100, 1102 Integration, soziale 385 f. Internationale Regierungsorganisation (IGO) 1038 f. Internationaler Strafgerichtshof 1015 Internet 911, 914 Intimität 264, 274, 278 ff., 294 f. Investivlohn 454 ff. Islam 83 f., 193 f., 941, 947 f., 965 ff., 1004 ff., 1024, 1064 ff., 1072 – 1075 Islamismus 193, 1069
1126
Sachregister
Lohngerechtigkeit 127, 439, 447 – 451, 471 f., 520, 649 f. Maastrichter Vertrag 158, 1045 Magna Charta 51 Markt 566 f. Marktwirtschaft 557, 1088 Marktwirtschaft, ökologisch-soziale 423 f. Marktwirtschaft, soziale (siehe Soziale Marktwirtschaft) Marxismus 189, 196 f., 199 f., 546 f. Massendemokratie (siehe Demokratie) Materialismus 16 Mediengesellschaft 909 – 920 Mediensystem 912 ff. Menschenbild, antikes 8, 27, 42 Menschenbild, christliches 3 – 23, 27 f., 34, 42, 46, 56, 66 f., 130 f., 243 f., 293 f., 788 ff., 960 Menschenbild, Grundgesetz 852 Menschenrechte 15 f., 19, 21, 30, 45, 52, 62, 68 – 72, 77 – 89, 123, 137, 376, 407, 596, 670, 756 – 759, 780, 785, 787 – 799, 803, 851, 866, 868 f., 999 – 1009, 1011, 1079, 1087 – 1090 Menschenrechtsverletzung 1017 Menschenwürde 19 – 23, 41 – 59, 61 – 76, 96, 295 f., 328 f., 374, 376 f., 381, 440 f., 490 f., 519, 619 f., 626 f., 670, 756 f., 851, 856 ff., 1000, 1003 f., 1008 f., 1011, 1088 Migration 1007, 1051 – 1058 Militärseelsorge 983 Misereor 1106 Missio 1106 Mitbestimmung 115, 468, 617, 619, 622 – 629, 648 f. Mitgeschöpflichkeit 426 f., 429 Mittelalter 263, 580, 710 f., 939, 1025, 1032 f. Mittelstand 601, 618 Moderne 3, 14 – 18, 151 f., 582, 605 Moral 549 ff., 566 – 569, 573, 591, 613 Mutter 286 f. Nachhaltigkeit 410, 411 – 418, 422, 430, 612, 1091 f. Nächstenliebe 439, 513 f., 579, 646 Nation 750 f., 1032 ff. Nationalismus 846, 1034 ff. Nationalsozialismus 34, 185 f., 845, 852, 876, 924 – 928 Nato 842, 1018, 1039 Natur 398 f., 407 ff.
Naturalismus 29 Naturrecht 10 – 23, 35, 108, 110 – 114, 121 ff., 125, 136 f., 203 f., 235, 262, 502 – 507, 778 – 782, 785, 787 – 799, 801 – 810, 846, 848 – 856, 999, 1026 Naturschutz 421 – 431 Neoliberalismus 702 f., 1092 Neutralität 943 ff., 959 f., 967, 971 f., 980, 982 Neuzeit 711 f., 942 Nicht-Regierungsorganisation (NGO) 1038 Nominalismus 13 Non-Profit-Unternehmen 631 – 639 Norm 10 f., 208, 724, 747, 792, 849, 865 Normalarbeitsverhältnis 461 ff. Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess 848 Offenbarung 235 f. Ökologie 412 Ökonomie, zirkuläre 411 f. Ökonomisches Prinzip 554 Ökozentrik 397 Option für die Armen 154, 198 f., 1088 f. Ordoliberalismus 525, 540, 543 f., 551, 566, 573, 586, 592, 607 f. Organtransplantation 220 f. Orthodoxe Kirche 249 – 253 Ost-West-Konflikt 888, 923, 1012 Palliativmedizin 392 f. Pantheismus 408 Parlamentarischer Rat 853 – 856 Partei 834, 874, 904 Partnerschaft, nichteheliche 299 – 302, 306 – 310 Patient 700 Patientenverfügung 370 ff. Patriotismus 750 f., 1036 f. Pazifismus 1022 Peace keeping 1017 Person 19 – 23, 27 f., 34, 37, 47 ff., 110, 128 ff., 139, 145 f., 152 f., 160 f., 490, 851 Personalismus 780 f. Personalitätsprinzip 143, 417, 436 ff., 440 f., 592, 782 Pflegebedürftigkeit 695 – 705 Pflegeversicherung 700 ff., 718 Pluralismus 242, 763, 790, 809 f., 890 Politik 173, 197, 899 – 907, 955 Politische Religion 196, 921 Politische Theologie 118 – 121, 189, 193 – 201 Positivismus 16 f., 223 f., 850 Postsäkulare Gesellschaft 211
Sachregister Präimplantationsdiagnostik 73 f., 372 ff. Preis, gerechter 561 Privateigentum (siehe Eigentum) Privatisierung 840 f. Protestantismus 83, 293 f., 299, 809 Radikalismus 930 f. Rätesystem 875 Rationalismus 14 f., 262 Recht 766 f. Recht, positives 787 – 799, 801 – 810 Recht auf Arbeit 469 ff. Rechtfertigungslehre 245 Rechtspositivismus 16 f., 846 ff. Rechtsstaat 68 – 72, 136 – 141, 366, 752 f., 756, 758 f., 762 – 765, 770, 813 – 843 Reformation 78 f., 935, 941 f. Reich Gottes 240 f., 244 f., 769 Reichskonkordat 185, 188 Relativismus 121 ff., 142, 204, 790 f., 943, 1002, 1004 Religion 194 f., 894 f., 938, 940 f., 964 f., 1071 – 1081 Religionsfreiheit 77 – 89, 193 f., 763 ff., 778, 944, 957 – 973, 999, 1008, 1076 Renaissance 41 Renovabis 1108 Rentenversicherung 689 f. Reproduktion, assistierte 372 – 378 Revolution 1098 f. Riester-Rente 587 Rundfunkanstalten 913 – 920 Säkularisation 175 Säkularisierung 760, 935, 948 Säkularität 755, 941 ff., 948 f., 980 Scheidung 267, 275 ff., 281, 307 Scholastik 9, 12 ff., 17, 19, 29, 776 f. Schöpfungsbericht 4 – 7, 63 f. Schöpfungsordnung 4, 11, 97 f., 99, 400, 438, 783 Schöpfungsspiritualität 401, 423 Schöpfungstheologie 416, 426 f. Schöpfungsverantwortung 417 f., 429 Schuldennachlass 1090 f. Schutz von Ehe und Familie 304 f., 315, 317 f., 325 f. Sexualität 259 ff., 278 f., 283, 294 f., 297, 300 f. Shareholder-Value 594, 609, 632 Sicherheitsrat 1014 f., 1017 f., 1028 Skeptizismus 204, 790
1127
Solidargemeinschaft 750 f. Solidarismus 35 – 38, 108 f., 151, 153, 167 f. Solidarität 414, 426, 560, 578 f., 638, 672, 704 f., 732, 750, 783 Solidaritätsprinzip 35 f., 38 f., 150 – 156, 417, 437, 572, 592, 620, 1089, 1099, 1101 f., 1112 Sophisten 12 Souveränität 744, 813, 1014, 1033, 1038 f. Souveränitätsanspruch 936 – 941 Sozial 721 – 724, 730 – 734 Soziale Frage 18, 20, 35, 104 – 108, 126, 250, 445, 517 f., 539, 542, 677, 1095 Soziale Marktwirtschaft 38 f., 134 ff., 161 f., 188, 492 – 495, 539 – 547, 583 f., 592 f., 672, 729 Soziale Natur des Menschen 25 – 40, 35 ff. Sozialenzykliken 125 – 142, 429 f. Soziale Partnerschaft 611, 647 f. Soziale Sicherheit 732 Soziale Sicherung 553 f., 577 – 587, 669 – 681, 683 – 692, 695 – 705 Sozialismus 35, 127 f., 200 f., 569 f., 581 ff., 876 Sozialität 6, 8, 25, 437, 491 Sozialkapital 891, 893 Sozialpflichtigkeit des Eigentums 520 f., 524 Sozialpolitik 571, 583, 729 Sozialpolitik, europäische 721 – 737 Sozialprinzipien 143 – 162, 210, 216 f., 416 f., 436 ff., 697, 895 Sozialrecht, europäisches 721 – 737 Sozialstaat 136 – 141, 187, 577 – 587, 669 f., 680, 696 ff., 836, 903 Sozialversicherung 673, 689 ff., 701 Sparen 453 f., 531 f., 553 Spätscholastik, spanische 13 f., 136 f., 545, 807, 1025 f. Staat 94, 136 ff., 146 f., 169, 251, 311 f., 324 – 330, 567 – 574, 672, 741 – 773, 776, 1028, 1032 – 1040 Staat-Kirche-Verhältnis 78 ff., 84 – 88, 776 f., 787 f., 790, 796 f., 839, 935 – 955, 957 – 973, 975 – 984, 987 – 995 Staatsdenken, katholisches 775 – 785, 801 – 810 Staatskirchenrecht 975 – 984 Staatskirchenvertrag 977 f. Staatslehre, katholische 775 – 785 Staatsorganisation 832 – 839 Staatsverständnis, christliches 768 Staatsziel 839 ff.
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Sachregister
Stakeholder-Value 594, 609, 632 Stammzellforschung, embryonale 361, 372 – 378, 829 Sterbebegleitung 393 f. Sterbehilfe 368 – 372, 392 Sterben 389 – 394 Steuer 323 ff., 453 f., 593, 675 Stoa 11, 17, 42, 235 Streik 485 f., 815 Strukturen der Sünde 7, 22, 362, 1092, 1101 f. Subsidiaritätsprinzip 20, 137 f., 157 – 162, 417, 437, 448, 491, 592, 612, 620, 628, 636 – 639, 679, 704 f., 717, 732, 746, 783, 895 f., 1086 f., 1106 Sünde 5 f., 246, 438, 767 f., 781 Suprematieanspruch 939 f. Systemwechsel 881 – 885 Systemwettbewerb 660 ff. Tarifautonomie 149 f., 162, 448, 468, 478 – 484, 494, 498, 620 Tarifvertrag 450, 472, 479 – 484, 492, 650 ff. Tarifvertragsparteien 449 f., 456, 475, 483 f., 494 Tauschgerechtigkeit 165, 902 f., 1090 f. Teilhabe 731 Teleologie 400 f. Terrorismus 193 f., 221, 663, 773, 1004 ff., 1013, 1023, 1061 – 1070, 1074, 1080 f. Theokratie 196, 938 Theologie der Befreiung 118 – 121, 193 – 201, 1098 f. Theonomie 95 ff., 771 Tierschutz 404 f., 421 – 431 Totalitarismus 34, 140, 921 – 928, 1005 Transformation 881 – 885, 1068 Transition 881 ff. Transnationalismus 1056 Trittbrettfahrerverhalten 686 f., 699 Tugend 423, 1102 Tugend, politische 899 – 907 Tyrannis 1098 f. Umlageverfahren 676, 685, 691, 701 ff. Umwelt 421 f., 570 f., 664 f. Umweltethik 422 f. Umweltschutz 421 – 431, 840 Universalismus 36, 769 Unternehmen 132 f., 593 – 602, 615 (siehe auch Non-Profit-Unternehmen) Unternehmen, kirchliche 641 – 653 Unternehmensethik 591 – 602
Unternehmensverfassung 615 – 629 Unternehmer 605 – 613 Utilitarismus 205, 215 – 227, 403
Vater 284 ff. Verantwortung 596 f., 607 – 613 Verantwortungsethik 428 Verbände 477 ff., 636 f. Vereinbarkeit von Familie und Beruf 346, 348 f., 351, 355 – 358, 461 f. Vereinte Nationen 841 f., 857, 879, 1000 ff., 1007 f., 1011 – 1018, 1027 f., 1040, 1087 ff. Verfahrensgerechtigkeit 1091 Verfassung 41 – 60, 69, 743, 766 f., 801 – 810, 845 – 858 Verfassungspatriotismus 1037 Vermögenspolitik 451 – 456 Vermögensverteilung 451 Vernunft 7 – 12, 67, 142, 205 – 210, 217, 234 f., 399 f., 505, 792, 797 f., 808, 846, 1024, 1073 Versicherungsprinzip 459 Versorgungsprinzip 697 Verteilungsgerechtigkeit 165, 169 ff., 560, 903 Vertragsfreiheit 550, 571, 633 Vertragstheorie 31 ff., 205, 215 – 230, 503, 768, 784 Verwandtschaft 261 Virginia Bill of Rights 15, 51 Volk 771, 863, 866, 871 Völkerbund 1012 Völkermord 1017 Völkerrecht 13 f., 1014 f., 1017 f., 1029, 1077, 1080, 1087 Volkssouveränität 138, 866, 871, 1006 Volksverein 107 f., 181, 187 Wahlen 817 f., 834, 877 Wahrheit 9 f., 790, 919 f., 938 f., 944, 954, 1023 Weimarer Republik 183 ff., 847, 874 Weltbürgerrecht 869 Weltfriedensordnung 879, 1011 – 1018 Weltwirtschaft 1085 – 1093 Weltwirtschaftsordnung 1087, 1092 f. Werte 335 ff. Wertschöpfung 593 ff., 598 ff. Wettbewerb 58, 128, 447, 532 – 536, 547, 567 – 574, 584, 591 ff., 601, 607 ff., 612, 645, 656, 729, 1089 Widerstandsrecht 753, 815, 1098
Sachregister Wirtschaft 549 – 562, 655 – 665, 729, 878 Wirtschaftsordnung 126 – 136, 540 f., 549 f., 565 – 574, 591, 606 Wirtschaftspolitik 565 – 574 Wirtschaftstheorie 109 Wohlfahrtsstaat (siehe Sozialstaat) Wohlfahrtsverbände 636 f., 639, 672, 680, 715 Wohlstand 655, 659, 671 Zeitungen 912 – 920 Zentralverwaltungswirtschaft 556, 607
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Zentrumspartei 178 – 186, 779 Zivilcourage 904 f. Zivilgesellschaft 58 f., 147, 149, 597 – 600, 634, 638 f., 877, 887 – 896, 1093 Zivilreligion 756 Zoon politikon 8, 781 Zwei-Reiche-Lehre 238 – 241, 246 f. Zwei-Schwerter-Lehre 80 Zweites Vatikanisches Konzil 21 f., 81 ff., 89, 784 f., 787 f., 796, 804, 935 f., 946, 1076 ff., 1096