Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft [1 ed.] 9783428442126, 9783428042128


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German Pages 296 Year 1978

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Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft [1 ed.]
 9783428442126, 9783428042128

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JOSEPH LISTL

Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft

Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Heransgegeben von Ernet Frieeenhahn • Ale:under Hollerbach . Josef leensee Hane Maier· PanI Mikat . Klane Möredorf . Ulrich Sehenner

Band 7

Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft

Von

Joseph Listl

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

@ 1978 Duncker & Humblot, Bcrlin 41

Gedruckt 1978 bei Berllner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Prlnted in Germany ISBN 3 428 04212 3

Vorwort Diese Untersuchung wurde im Sommer-Semester 1977 mit dem Titel "Die Grundvorstellungen der römischen Kirchenrechtswissenschaft zum Verhältnis von Kirche und Staat vom Ende der Aufklärung bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil" von der Fakultät der Abteilung für Rechtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurde sie an verschiedenen Stellen ergänzt und überarbeitet. Der Verfasser dankt allen Mitgliedern der Fakultät der Abteilung für Rechtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum für die ihm zuteil gewordene Förderung. In besonderem Maße gilt dieser Dank Herrn Kultusminister a. D. Prof. Dr. Paul Mikat, der die Anregung zu dieser Arbeit gegeben und ihre Abfassung mit stetem Interesse und kritischem Rat betreut hat. Für vielfache Förderung weiß sich der Verfasser auch Herrn Senator E. h. Ministerialrat a. D. Prof. Dr. Johannes Broermann, dem Inhaber des Verlags Duncker & Humblot, zu bleibendem Dank verpflichtet, der diese Arbeit mit großer Zuvorkommenheit in das Verlagsprogramm seines Hauses aufgenommen hat. Augsburg/Bonn, 31. Juli 1978

Joseph Listl

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1

Erstes Kapitel Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum zur selbständigen Teildisziplin des kanonischen Rechts I. Der Beginn der italienischen Epoche des Jus Publicum Ecclesiasticum 1. Das Erscheinen der "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici"

4

von Kardinal J ohannes Soglia ..................................

4

2. Der Inhalt der "Institutiones" Soglias ..........................

7

11. Dichotomie in Jus Ecclesiasticum Publicum und Jus Ecclesiasticum Privatum. Die Ausformung des Jus Publicum Ecclesiasticum zur selbständigen Teildisziplin in der deutschen Kirchenrechtswissenschaft der Aufklärungszeit ........................................

9

1. Die Glossierung nach den Dekretalen Gregors IX. ..............

9

2. Die Entstehung systematischer Lehrbücher ....................

10

3. Die Bedeutung des Begriffs "Jus Ecclesiasticum" ..............

11

4. Die Entstehung einer eigenständigen Disziplin des "Jus Publicum Ecclesiasticum" in der deutschen Aufklärungskanonistik ........ 13 a) Georg Christoph N eller

13

b) Johann Kaspar Barthel

15

c) Johann Adam von Ickstatt ..................................

16

d) Johann Nepomuk Endres ....................................

18

e) Philipp Anton Schmidt ......................................

18

f) Jakob Anton von Zallinger zum Thurn ......................

20

Inhaltsverzeichnis

VIII

IH. Die römische Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum und ihre Hauptvertreter .................................................... 21 1. Die Berücksichtigung des Jus Publicum Ecclesiasticum in der

Studienreform des Kirchenstaates vom Jahre 1824 ..............

21

2. Die einhundert "Theses ex Jure Publico Ecclesiastico" vom Jahre 1826 .......................................................... 22 3. Die Emanzipation des Jus Publicum Ecclesiasticum zur selbständigen kanonistischen Wissenschaft in der römisch-italienischen Kanonistik des 19. Jahrhunderts .. , .. ..... ........... ..... 23 4. Die Hauptvertreter des Jus Publicum Ecclesiasticum in der römischen Kanonistik ..............................................

28

a) Tommaso Micheie Salzano ..................................

29

b) Camillo Tarquini ............................................

29

c) Simon Aichner ..............................................

31

d) Ferdinand Joseph Moulart ..................................

32

e) Felix Cavagnis ..............................................

32

f) Adolfo Giobbio ..............................................

34

g) Francesco Solieri und Dante Munerati ......................

35

h) Sebastiano Sanguineti ......................................

35

i) Matthaeus Conte a Coronata ................................

36

k) Felix M. Cappello

36

1) Alfredo Ottaviani

37

m) Sylvio Romani, Laurentius R. Sotillo, Franciscus M. Marchesi und Giuseppe Ferrante ...................................... 38

IV. Die Problematik des Jus Publicum Ecclesiasticum als selbständiger Disziplin des kanonischen Rechts .................................. 39 1. Praktische Gründe für die Notwendigkeit der Dichotomie in Jus

Publicum und Jus Privatum ....................................

39

2. Gemeinsame Bezugsebene von kirchlichem und weltlichem Recht 42

Inhaltsver:reichnis

IX

Zweites Kapitel

Die Kirche als "societas inaequalis" Die römische Kanonistik im Widerstreit mit dem vernunft- und vereinsrechtlichen Kirchenbegriff der Aufklärung 1. Die Wechselwirkung zwischen kirchlichem Freiheitsanspruch und

staatskirchenrechtlicher Stellung der Kirche.. ... . . ... ..... ..... . ...

46

1. Die Grundproblematik des Staatskirchenrechts ..................

46

2. Staatskirchenrechtliche Systeme kirchlicher Unfreiheit im Aufklärungszeitalter . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

50

a) Das protestantische landesherrliche Kirchenregiment ........

50

b) Gallikanismus und reichskirchenrechtlicher Febronianismus ..

54

c) Josephinismus

57

II. Der Kirchenbegriff der römischen Kanonisten als Gegenposition zur Kollegialtheorie des evangelischen Kirchenrechts, zum Gallikanismus und Josephinismus .......................................... 60 1. Die Fragestellung bei Kardinal J ohannes Soglia und den Kano-

nisten der römischen Schule ....................................

60

2. Das Kollegialsystem. Der Kirchenbegriff des protestantischen Kirchenrechts der Aufklärungszeit .............................. 67 a) Die theoretische Begründung des Kollegialismus ............

67

b) Samuel von Pufendorf als Hauptexponent ..................

71

c) Die Kirche als herrschaftsfreie "societas aequalis" ...........

73

III. Der Begriff der Kirche im Verständnis der katholischen Kanonisten 82 1. Die Grundproblematik der Verfassung der katholischen Kirche

nach innerkirchlichem Recht ....................................

82

2. Die "klassische" Definition der Kirche des Kardinals Robert Bellarmin ...................................................... 85 3. Die deutschen Kanonisten des 18. Jahrhunderts ................

87

a) Der Gebrauch des Begriffs "societas" ........................

87

b) Die Würzburger Schule

88

c) Georg Christoph NeUer

89

d) Die romtreuen deutschen Kanonisten ........................

91

x

Inhaltsverzeichnis 4. Der Kirchenbegriff der römischen Kanonisten im 19. und 20. Jahrhundert........................................................ 93 a) Vincenzo Lupoli und Giovanni Devoti ........................

93

b) Kardinal Johannes Soglia . .. . . .. . . .. .. . . . . ... . . . . . . . ... . . . . ..

95

c) Die allgemeine Verwendung der Bellarminschen Kirchendefinition bei den römischen Kanonisten..... .. . . ... . ...... .....

96

d) Das Verhältnis von Kirche und Staat im "Schema de Ecclesia Christi" des I. Vatikanischen Konzils ........................ 99 e) Der hierarchische Charakter der katholischen Kirche in den Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils ................ 101

DTittes Kapitel Die Entwicklung der Lehre von der Kirche als "societas perfecta" vom Ausgang des Mittelalters bis zum 19. Jahrhundert. Die Eigenrechtsmacht der Kirche gegenüber dem Staat I. Die historische Entstehung der societas-perfecta-Lehre

104

11. Die einzelnen Komponenten der societas-perfecta-Lehre. Die Entwicklung dieser Lehre bis zum 19. Jahrhundert .................... 107 1. Die sozialphilosophische Herkunft des societas-perfecta-Begriffs 107

2. Die zerbrechende Einheit des Corpus Christianum im ausgehenden Mittelalter ................................................ 108 3. Das Entstehen des Dualismus von Kirche und Staat am Beginn der Neuzeit .................................................... 110 4. Die Unterordnung der Kirche unter den Staat nach den Grundsätzen des protestantischen landesherrlichen Kirchenregiments und die katholische Gegenreaktion .............................. 113 5. Die Rezeption der deutschen Fragestellungen durch die römischitalienische Kanonistik ........................................ 119 111. Die philosophisch-systematische Fundierung der societas-perfectaLehre durch die aristotelisch-thomistische Sozialphilosophie ........ 124 1. Die Renaissance des Thomismus in Italien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 124

2. Der Einfluß des "Saggio teoretico di diritto naturale appoggiato sul fatto" von Luigi Taparelli d'Azeglio ........................ 124 3. Sozialphilosophische Parallelen zwischen Staat und Kirche ...... 127

Inhaltsverzeichnis

XI

Viertes Kapitel Die societas-perfecta-Lehre als Inbegriff der Kirmenfreiheit in Kirmenremt, Ekklesiologie und Kirmenpolitik während des Pontifikats Papst Pius' IX. (1846 - 1878) I. Die Verwendung der societas-perfecta-Formel in den Erklärungen

Papst Pius' IX. .................................................... 134 1. Die societas-perfecta-Formel als kirchenrechtlicher und theo-

logischer Inbegriff der Kirchenfreiheit .......................... 134 a) Die Auseinandersetzungen zwischen dem Kirchenstaat und dem Königreich Sardinien-Piemont .......................... 134 b) Staatliche Eingriffe in das innerkirchliche Leben in Piemont .. 136 c) Die allgemeine Konkordatshoheit der katholischen Kirche .... 137 d) Der Staat nicht die alleinige Quelle allen Rechts .............. 138

2. Der Syllabus errorum vom 8. 12. 1864 .......................... 139 a) Die allgemeine Bedeutung des Syllabus ...................... 139 b) Die Grundaussagen des Syllabus zum Verhältnis von Kirche und Staat .................................................. 141 (1) Die Kirche als societas perfecta

142

(2) Der Konfessionsstaat als Basis

144

(3) Nicht Trennung, sondern Kooperation zwischen Kirche und Staat .................................................. 146 (4) Staatsunabhängige Ausübung der Kirchengewalt ........ 148 (5) Primat des Papstes und hierarchische Verfassung der Kirche .................................................. 150 (6) Unzulässige Exekutivmittel der staatlichen Kirchenhoheit 150 (7) Staatliche Einflußnahme auf Theologiestudium und Priesterausbildung .......................................... 154 (8) Geistliche Standesprivilegien ............................ 156 (9) Bestands- und Betätigungsfreiheit der religiösen Orden .. 157 (10) Garantie des Kirchenvermögens ........................ 158 11. Das Verhältnis von Kirche und Staat in den Vorlagen des Ersten Vatikanums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 159 1. Die Bedeutung der Konzilsaussagen zum Verhältnis von Kirche

und Staat ...................................................... 159

XII

Inhaltsverzeichnis 2. Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem "Schema über die Kirche Christi" ................................................ 161 a) Das Kapitel III des "Schemas über die Kirche Christi". Die Wesensmerkmale der Kirche ................................ 161 (1) Die Kirche als "vera societas" ............................ 163 (2) Die Kirche als "perfeeta Societas" ........................ 164 (3) Die Kirche als "societas spiritualis et supernaturalis" ...... 166 (4) Das Bekenntnis zum societas-perfecta-Charakter der Kirche als Voraussetzung voller tätiger Kirchengliedschaft ........ 166 b) Das Kapitel X des "Schemas über die Kirche Christi". Die Kirchengewalt .............................................. 167 (1) Die hierarchische Verfassung der Kirche .................. 167 (2) Die Jurisdiktionsgewalt der Kirche

168

(3) Die Träger der Jurisdiktionsgewalt

169

c) Die Rechtsbeziehungen zwischen Kirche und Staat nach dem "Schema über die Kirche Christi" ............................ 170

Fünftes Kapitel

Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum vom Beginn des Pontifikats Papst Leos XIn. bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1878 - 1962) I. Die Ära Papst Leos XIII. (1878 - 1903) .............................. 173 1. Der authentische Charakter der Äußerungen Papst Leos XIII.

zum Verhältnis von Kirche und Staat .......................... 174

2. Die aristotelisch-thomistische Zwecklehre und die societas-perfecta-Lehre als Grundlage der Doktrin Leos XIII. zum Verhältnis von Kirche und Staat .......................................... 176 a) Der philosophisch-theologische Grundansatz der Aussagen Leos XIII. zum Kirche-Staat-Verhältnis .......................... 176 b) Die Hauptdokumente des Pontifikats Leos XIII. zum Verhältnis von Kirche und Staat .................................... 177 (1) Enzyklika "Diuturnum illud" ............................ 177 (2) Ezyklika "Immortale Dei" ................................ 178 c) Der Wesensgehalt der societas-perfecta-Lehre

179

d) Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat .......... 180

Inhaltsverzeichnis

XIII

3. Das Grundverhältnis zwischen Staat und Religion bei Leo XIII. .. 182 a) Der konfessionelle Staat als "These"

182

b) Toleranz und Parität als "Hypothese"

185

4. Ablehnung der Trennung und Bekenntnis zur Kooperation zwischen Kirche und Staat ........................................ 186 a) Verpflichtung zu gegenseitiger Loyalität und Verständigung .. 186 b) Das Konkordat als adäquates Mittel zur Regelung strittiger Fragen .................................................... 187 5. Entwicklung und Pflege des Jus Publicum Ecc1esiasticum während des Pontifikats Papst Leos XIII. .......................... 187 11. Die Aussagen des Codex Iuris Canonici zum Verhältnis von Kirche und Staat ........................................................ 190 1. Die Grundlegung der Kirchenfreiheit im CIC .................. 190

2. Einzelnormen der Kirchenfreiheit im CIC ...................... 191 III. Die Entwicklung des Jus Publicum Ecc1esiasticum während der Pontifikate der Päpste Pius' XI. (1922 - 1939) und Pius' XII. (1939 - 1958) 195 1. Die

kirchenrechtliche Doktrin der Pontifikate Pius' XI. und Pius' XII. ...................................................... 195

2. Konfessioneller Staat und Religionsfreiheit .................... 203 Sechstes Kapitel

Das Verhältnis von Kirclte und staat in den Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils I. Das Grundrecht der Religionsfreiheit als Fundament der neuen Verhältnisbestimmung zwischen Kirche und Staat .............. , ... 208 II. Die konziliare Anerkennung des religiös-neutralen Charakters des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 216 II!. Der Auftrag der Kirche in der freiheitlichen Demokratie ............ 221 Anhang

Theses ex Jure Publico Ecclesiastico

236

Literaturverzeicltnis

247

Personenregister

268

Sacl1wortregister

272

Abkürzungsverzeichnis a.A. AAS abgedr. Abs. Abthl. Anm. AöR ArchkathKR Art. ASS Aufi. Az..

Bd. Bde bes. Beschl. BGBl. BVerfG BVerfGE cap. CIC CIC-Fontes DDC dens. ders. d.h. Diss. DÖV DS

anderer Ansicht Acta Apostolicae Sedis, Romae 1909 ff. abgedruckt Absatz Abtheilung Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für katholisches Kirchenrecht Artikel Acta Sanctae Sedis, Romae 1872 - 1908 Auflage Aktenzeichen Band Bände besonders Beschluß Bundesgesetzblatt Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 1952 ff. capitulum Codex Iuris Canonici Petrus Gasparri-Iustinianus Seredi (Hrsg.), Codicis Iuris Canonici Fontes, 9 Bde, Romae 1923 - 1939 Rene Naz (Hrsg.), Dictionnaire de droit canonique, 7 Bde, Paris 1935 - 1965 denselben derselbe das heißt Dissertation Die Öffentliche Verwaltung Henricus Denzinger-Adolfus Schönmetzer, Enchiridion Symbolorum, Definitionum et Declarationum de rebus fidei et morum, 35. Aufl., Barcelona - Freiburg/Br. - Rom - New York

1974

DZKR ebd. ed.

Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht, 1892 - 1917 ebenda editio; editor

Abkürzungsverzelchnis Eph. Erl. EuGRZ EvStL

XV

Epheserbrief Erläuterung(en) Europäische Grundrechte-Zeitschrift, Kehl am Rhein 1974 ff. Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl., Stuttgart - Berlin 1975 folgende (Seite) f. Freie Demokratische Partei F.D.P. folgende (Seiten) ff. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. GG Mai 1949 Herder-Ausgabe: "Sämmtliche Rundschreiben, erlassen von HA Unserem Heiligsten Vater Leo XIII., durch göttliche Vorsehung Papst", Verlag Herder, Freiburg/Br. 1881 - 1904 HdbStKirchR Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Ernst Friesenhahn u. Ulrich Scheuner i. V. m. Joseph Listl, 2 Bde, Berlin 1974/1975 herausgegeben hg., hrsg. Herausgeber Hrsg. i. d. F. d. B. v. in der Fassung der Bekanntmachung vom in Verbindung mit i. V.m. Jahrgang Jg. Jahrhundert Jhd. Jus Publicum Ecclesiasticum JPE juristisch(e, er, es) jur. Juristenzeitung JZ Kapitel Kap. katholisch(e, er, es) kath. königlich(e, er, es) kgl. lateinisch(e, er, es) lat. Liber Lib. Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Freiburg/Br. LThK 1957 ff. m. w. N. mit weiteren Nachweisen m. zahlr. w. N. mit zahlreichen weiteren Nachweisen numero n. Neue Juristische Wochenschrift, 1947 ff. NJW Nr. Nummer Österreichisches Archiv für Kirchenrecht ÖArchKR Ordo Praedicatorum O.P. pp. Papa Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Pr.ALR qu. quaestio Revue de droit canonique, Strasbourg 1951 ff. RDC Rdnr. Randnummer Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen RGG 1957 -1962

XVI

s. S.

Abkürzungs-verzeichnis

siehe Seite S.J. Societas J esu sog. sogenannt(e, er, es) Sp. Spalte Stimmen der Zeit StdZ s.v. sub voce Tit. Titulus Verfasser Verf. Volumen Vol. Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen StaatsVVDStRL rechtslehrer, Berlin 1924 ff. Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919 WeimRV Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Tübingen 1951 ff. ZevKR Zeitschrift für Kirchenrecht, 1861 - 1889 ZKR ZRG Kan. Abt. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung, Weimar 1911 ff.

Einleitung

Zum Gegenstand dieser Arbeit Diese kanonistische Untersuchung behandelt die Herausbildung entscheidender Grundlagen in der kirchlichen Auffassung des Verhältnisses von Kirche und Staat, die bis in die Gegenwart den Standpunkt der katholischen Kirche bestimmt haben. Sie umfaßt die geistesgeschichtliche Epoche, die religions- und staatskirchenrechtlich durch den Los~ lösungsprozeß des Staates aus den bis zur Aufklärungszeit bestehenden engen konfessionellen Bindungen an die universale Kirche bzw. an die Landeskirche und die eine Religion des Staates gekennzeichnet ist. Dieser lange Prozeß, der das 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts beherrscht und zu der heutigen Auffassung eines paritätischen und religiös neutralen Staates geführt hat, ist auf dem Gebiete des katholischen Kirchenrechts von der Entwicklung der Disziplin des Jus Publicum Ecclesiasticum, das die theoretischen Vorstellungen über die Stellung der Kirche gegenüber dem Staat zum Gegenstand hat, begleitet worden. Von der Reformationszeit bis zum Ende des landesherrlichen Kirchenregiments bestanden entsprechend dem divergierenden katholischen und reformatorisch-evangelischen kirchlichen Selbstverständnis in der Frage der gegenseitigen Zuordnung der geistlichen Institution der Kirche zur weltlichen Macht des Staates zwischen der katholischen und der evangelischen Auffassung grundlegende und unaufhebbare Gegensätze, die im jeweiligen Kirchenbegriff begründet waren. Nach dem Selbstverständnis der katholischen Kirche und ihrer Interpretation der Heiligen Schrift ist die Kirche die von ihrem göttlichen Stifter mit originärer, d. h. nicht von der staatlichen Gewalt abgeleiteter Rechtsmacht ausgestattete, vom Staat unabhängige, sichtbare und hierarchisch verfaßte Ecclesia universalis, der alle Getauften angehören. Das evangelische Kirchenverständnis dagegen beruht in dieser Epoche auf der Vorstellung einer ebenfalls in der Heiligen Schrift grundgelegten fundamentalen rechtlichen Gleichheit aller Mitglieder der Kirche. Es geht aus von den einzelnen Kirchengemeinden, die sich - im Ablauf der deutschen Reichs- und Kirchengeschichte unter dem bestimmenden Einfluß und unter der Herrschaft der Landesfürsten, deren 1 Listl

2

Einleitung

Stellung in der Kirche sich zu einem Kirchenregiment entwickelt hatte - zu Landeskirchen zusammengeschlossen haben. Die Ecclesia universalis ist für das in Deutschland vorwiegend lutherische Kirchenverständnis als die wesentliche Kirche die Kirche der wahrhaft Gläubigen und als solche eine" unsichtbare Kirche". Dieser gegensätzliche Kirchenbegriff tritt im Deutschen Reich im kirchenrechtlichen Schrifttum der katholischen Kanonisten und der Juristen des evangelischen Kirchenrechts vom 17. Jahrhundert an in der Zeit der Aufklärung deutlich in den Vordergrund und bildete einen entscheidenden Punkt ihrer kontroversen Auseinandersetzung. Er blieb auch während des 19. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung, obwohl der konfessionelle Gegensatz während dieser Zeit noch von anderen geistigen Bewegungen, die auf die Beziehungen von Kirche und Staat einwirkten, überlagert wurde. In diesen Auseinandersetzungen vollzieht sich im 18. und 19. Jahrhundert die Ausbildung einer für die beiden Konfessionen kennzeichnenden kirchlichen oder kirchlich orientierten Lehre von der Stellung der Kirche gegenüber den Staaten, die auch in den Diskussionen des 19. Jahrhunderts zu deutlich erkennbaren unterschiedlichen Standpunkten führte und die vor allem für die katholische Kirche bei ihren Auseinandersetzungen mit dem Liberalismus der damaligen Zeit große Bedeutung erlangt hat. Die vorliegende Untersuchung geht der Entstehung einer geschlossenen kanonistischen Haltung in dieser Frage am Ausgang des 18. Jahrhunderts und ihrer Fortbildung im 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil nach. Diese konfessionellen Gegensätze sind für das Verständnis der Beziehungen von Kirche und Staat seit der Reformation und auch noch während des 19. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung. Sie sind in dieser Arbeit nicht aufgehoben, sondern gerade im Interesse. der historischen Erkenntnis in möglichster Objektivität zur Darstellung gebracht. Als kirchenrechtliche Untersuchung behandelt diese Arbeit das Verhältnis der beiden Institutionen Kirche und Staat nicht auf der Grundlage des Staatskirchenrechts, d. h. des vom Staate gesetzten oder vereinbarten Rechts, durch das der Staat seine Beziehungen zu den auf seinem Territorium bestehenden Kirchen und übrigen Religionsgemeinschaften regelt, sondern auf der Grundlage des Kirchenrechts, d. h. des seine Geltung nicht aus der staatlichen Rechtsordnung ableitenden Rechts der Kirche. Das bedingt auch eine Blickweise vom Standpunkt der Kirche. Wenn das Staatskirchenrecht nach seiner Interessenlage von den Beziehungen zwischen "Staat und Kirche" spricht, kommt es dem Kirchenrecht zu, seinerseits vom Verhältnis zwischen "Kirche und Staat" zu sprechen. Diesen Sprachgebrauch übernimmt auch die vorliegende Untersuchung.

Einleitung

3

Die Darstellung setzt in ihrem Hauptteil ein bei der Ausbildung der römischen Lehre vom Jus Publicum Ecclesiasticum während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihr geht voran eine Betrachtung der in die deutsche Aufklärungskanonistik zurückreichenden theologischen und kirchenrechtlichen Wurzeln dieser Lehre. In der Entwicklung der kanonistischen Disziplin des Jus Publicum Ecclesiasticum stehen daher die Vertreter der römischen Kirchenrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts im Vordergrund. Zu ihnen rechnet diese Untersuchung nicht nur die an den kirchlichen Hochschulen und Instituten der Stadt Rom und des Kirchenstaats unterrichtenden und tätigen Kanonisten, sondern alle italienischen und in bestimmten Fällen auch außerhalb Italiens wirkende Lehrer des kanonischen Rechts. deren Werke nach ihrer gesamten Anlage und ihrer Lehre der römischen Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum zuzurechnen sind. Da die Grundaussagen der römischen Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum um die Mitte des 19. Jahrhunderts unter Papst Pius IX. Eingang in die kirchenamtliche Doktrin gefunden und dadurch einen offiziösen Charakter erhalten haben, wurden sie rasch in der gesamten katholischen Kirche rezipiert und allgemein herrschend. Besondere nationale Ausprägungen der Lehre vom Verhältnis von Kirche und Staat traten demgegenüber in ihrer Bedeutung völlig zurück:. Die vorliegende Untersuchung rechtfertigt daher den Titel "Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft". Im Mittelpunkt der Gesamtbetrachtung der Untersuchung steht die Ausbildung der Lehre der Kirche als einer staatsunabhängigen und mit einer nicht vom Staate abgeleiteten Eigenrechtsrnacht ausgestatteten "societas perfecta" und die übernahme dieser Lehre durch das authentische Lehramt der Päpste Pius IX. und Leo XIII. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Untersuchung schließt mit einer Darstellung der Grundaussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Verhältnis von Kirche und Staat. Ungeachtet der Tatsache, daß das Zweite Vatikanische Konzil für die neue Verhältnisbestimmung zwischen der Kirche und der staatlichen Gewalt vom Grundrecht der Religionsfreiheit als staatsbürgerlichem Recht und vom religiös neutralen Staat ausgeht, erweist sich in den Aussagen des Konzils die Lehre von der Eigenrechtsrnacht der Kirche und der Unabhängigkeit der kinhlichen Gewalt vom Staat als ein nach wie vor bestimmendes Element.

Erstes Kapitel

Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum zur selbständigen Teildisziplin des kanonischen Rechts I. Der Beginn der italienischen Epoche des Jus Publicum Ecclesiasticum 1. Das Erscheinen der "lnstitutione& Juris Publlei Ecclesiastici" von Kardinal Johannes Soglla

Im Jahre 1842 veröffentlichte der angesehene Kanonist Kardinal

Johannes Soglia (1779 -1856), Bischof der beiden im Kirchenstaat in der

Provinz Ancona gelegenen Diözesen Osimo und Cingoli, unter dem Titel "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici" eine systematische Abhandlung zu den kirchenrechtstheoretischen Grundfragen der Beziehungen der Kirche zur staatlichen Gewalt1. Das Erscheinen dieses bezeichnenderweise in seinen ersten drei Auflagen ohne Angabe des Namens des Verfassers publizierten Werkes bedeutete für die römischitalienische Kanonistik der damaligen Zeit ein ungewöhnliches und aufsehenerregendes Ereignis!. Bereits im Titel seiner Untersuchung, die 1 Johannes Soglia, mit vollem Namen, den er jedoch auf den Titelseiten seiner Bücher niemals gebraucht hat, Giovanni Soglia Ceroni, zählt zu den bedeutendsten Kanonisten Roms und Italiens während des 19. Jahrhunderts. Vierundzwanzig Jahre lang, von 1814 -1838, unterrichtete Soglia Kanonisches Recht an der Universität Rom, der sog. Sapienza. Soglia bekleidete verschiedene Ämter an der römischen Kurie, u. a. das des Sekretärs der Studienkongregation. Seit 1826 bereits Kurien-Erzbischof, wurde er im Geheimen Konsistorium vom 12. 2. 1838 von Papst Gregor XVI. (1831 - 1846) "in petto" zum Kardinal kreiert. Seine Ernennung zum Kardinal wurde jedoch erst am 18.2. des folgenden Jahres 1839 publiziert, dem Tag, an dem er zum Bischof der beiden kleinen, seit dem Jahre 1725 vereinigten Diözesen Osimo und Cingoli ernannt wurde. Soglia starb am 12. 8. 1856 in Osimo. - Über Kardinal Johannes Soglia und seine Bedeutung als Kanonist vgl. die Darstellung von Giancarlo Parenti, Il Cardinale Giovanni Soglia Ceroni. Segretario di Stato di Pio IX ed eminente giurista, in: Divinitas, 19. Jg. (Roma 1975), S. 237 - 242 m.w.N. 2 1. In keinem der kanonistischen Lehr- und Wörterbücher finden sich zuverlässige Angaben über die ersten Ausgaben der Institutiones Juris Publici Ecclesiastici Sog lias. Dies erklärt sich vor allem aus der Tatsache, daß die ersten drei Ausgaben dieses Werkes anonym erschienen sind. So wird in dem Artikel "Soglia (Jean)" von R. Naz, in: DDC, Bd. 7, Paris 1965, Sp. 1065 f. als Erscheinungsjahr der ersten Auflage der "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici" von Soglia irrtümlich das Jahr 1841 angegeben. Johann Friedrich

I. Die italienische Epoche des Jus Publicum Ecclesiasticum

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als Lehrbuch für den kanonistischen Unterricht verfaßt war und deshalb die für Lehrbücher in der lateinischen Sprache übliche Bezeichnung "Institutiones" erhielt, brachte Soglia programmatisch zum Ausdruck, daß der Verfasser in betontem Gegensatz zu der damals auf dem Gebiete des kanonischen Rechts herrschenden Lehre eine eigene und Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur des canonischen Rechts von Gratian bis auf die Gegenwart. 3 Bde. Stuttgart 1875 ff. (Neudruck Graz 1956), Bd. HI/l, S. 540, datiert das Erscheinungsjahr der ersten Auflage irrtümlich auf das Jahr 1843. Gemessen an der kritischen Grundeinstellung, die Schulte vom Jahre 1870 an gegen Rom einnahm, bedeutet es eine hohe Anerkennung, wenn Schulte, ebd., sein Urteil über Soglia und dessen "Institutiones" in folgendem Gesamturteil zusammenfaßt: "Ein brauchbares Buch und nicht rücksichtslos kurialistisch. So hält er die Concordate für unbedingt verbindliche Verträge und verwirft die das Gegenteil als Ansicht der Kurie aufstellende Behauptung von Febronius." In Wirklichkeit ist die erste Auflage der "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici" von Soglia im Jahre 1842 in der als Wallfahrtsort bekannten, in der Diözese Osimo gelegenen Stadt Loreto erschienen. Wie umfangreiche Nachforschungen des Verf. ergeben haben, muß diese erste Auflage heute als verschollen gelten. Keine der bekannten kirchlichen und staatlichen Bibliotheken Roms und Italiens besitzt diese erste Auflage vom Jahre 1842. Auch in der Bibliothek des Priesterseminars und der Stadt Osimo ist diese Auflage nicht vorhanden. Bei dieser ersten Auflage dürfte es sich um einen verhältnismäßig kurzen Grundriß gehandelt haben, den Soglia, der auch als Bischof in seiner Diözese Kanonisches Recht unterrichtete, für seine Hörer als Lehrbuch verfaßt hat. Dies schreibt er ausdrücklich im Vorwort der späteren Auflagen. Daß die erste Auflage im Jahre 1842 erschienen ist, ergibt sich eindeutig aus dem Glückwunschschreiben, das Papst Gregor XVI. am 15. Juni 1842 an Soglia, der dem Papst ein Exemplar des Buches gewidmet hatte, gerichtet hat. Der Papst gratuliert darin Soglia zu dem soeben in Loreto erschienenen Buch ("Volumen Lauretanis typis proxime editum"). Vgl. dazu Soglia, Institutiones Juris Publici Ecclesiastici, 4. Aufl., Loreto (Laureti) 1853, S. IX. 2. Zur Verwirrung über die Erscheinungsjahre der ersten Ausgaben der "Institutiones" von Soglia hat vor allem die Tatsache beigetragen, daß von der ebenfalls anonym erschienenen zweiten Auflage der "Institutiones" Soglias zwei verschiedene Ausgaben existieren, nämlich die 1843 in Loreto erschienene "editio altera" im Umfang von 294 Seiten mit dem Titel "Institutionum Juris Publici Ecclesiastici libri tres" und im darauffolgenden Jahr 1844, ebenfalls in Loreto, im Umfang von 357 Seiten die "editio altera, ab ipso auctore recognita et aucta" mit demselben Titel "Institutionum Juris Publici Ecclesiastici libri tres". 3. Erstmals mit dem Namen Soglias erschien 1850 in Modena (Mutinae) die dritte Auflage der "Institutiones", der 1853, wiederum in Loreto, die "editio quarta ab ipso auctore recognita et aucta" mit dem Titel "Institutionum Juris Publici Ecclesiastici tomus primus" bzw. "tomus secundus" (Bd. 1: 168 S.; Bd. 2: 268 S.) folgte. Diese vierte Auflage des Jahres 1853, die die letzte von Soglia persönlich betreute italienische Auflage darstellt, wird in dieser Darstellung regelmäßig zitiert. Die erste französische Auflage der "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici" erschien als "editio quinta, prima Parisiensis" ebenfalls 1853. Sie stellt einen Nachdruck der vierten Auflage dar. In späterer Zeit wurden die "Institutiones" von Soglia in Italien, aber auch in Spanien, vor allem aber in Frankreich in zahlreichen Auflagen nachgedruckt. Zum letzten Mal im Jahre 1879 in Paris unter dem Titel "Institutiones Juris Ecclesiastici Publici et Privati". Vgl. dazu im einzelnen den Catalogue General des livres imprimes de la Bibliotheque Nationale, Bd. 174 (Paris 1948), s. v. Soglia, Johannes.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

vom übrigen kanonischen Recht abgegrenzte Behandlung des "öffentlichen Kirchenrechts", des "Jus Publicum Ecc1esiasticum", für notwendig hielt. Die Legitimität einer Dichotomie des kanonischen Rechts in Jus Publicum Ecclesiasticum und in ein dem Privatrecht im profanen Rechtsbereich vergleichbares Jus Ecclesiasticum Privatum war während der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts in der Kanonistik ebenso umstritten wie in der Gegenwart. Bei der Beantwortung der die Kanonisten in zwei Lager spaltenden Grundsatzfrage, ob auf dem Gebiete des kanonischen Rechts eine Bereichstrennung in Öffentliches Recht und Privatrecht überhaupt zulässig sei, beruft sich Soglia zur Rechtfertigung seiner Auffassung bereits auf der ersten Seite der "Praefatio" seiner "Institutiones" auf das Vorbild und die in seinen Augen unbestrittene Autorität mehrerer deutscher katholischer Kirchenrechtslehrer der Würzburger und Heidelberger Schule des 18. Jahrhunderts. An erster Stelle nennt er dabei den deutschen Staats- und Staatskirchenrechtslehrer Johann Adam lekstatt (1702 -1776), der zu den führenden Vertretern der süddeutschen Aufklärung zählt, sowie ferner den Würzburger Kanonisten Johann Nepomuk Endres (1731-1791) und den bedeutenden und kirchentreuen Heidelberger Kanonisten Philipp Anton Schmidt (1734 - 1805)3. In seinem methodischen Grundansatz, in der Wahl der Fragestellungen und in seiner Argumentation folgt Soglia weithin dem Vorbild dieser deutschen Kirchenrechtslehrer. Die "Institutiones Juris Publici Ecc1esiastici" von Kardinal Johannes Soglia bilden somit eine Rezeption des deutschen Jus Publicum Ecc1esiasticum des 18. Jahrhunderts durch die römische Kanonistik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die führende Mittlerpersönlichkeit, der die römische Kanonistik diesen für die Entwicklung der katholischen Kirchenrechtswissenschaft und vor allem für die kirchenrechtstheoretischen Grundlehren der katholischen Kirche zum Verhältnis von Kirche und Staat geistesgeschichtlich bedeutsamen Rezeptionsvorgang zu verdanken hat, ist der Kanonist Johannes Soglia. Sein Name steht am Beginn der italienischen Epoche des Jus Publicum Ecclesiasticum4 • 3 Saglia, Institutiones (Anm. 2), editio altera, Laureti 1843, S. V; 4. Aufl., Loreto 1853, Bd. 1, S. V; über lekstatt, Endres und Schmidt, vgl. diese Arbeit, unten II 4 c - e. 4 Saglia verfaßte auch ein Lehrbuch des kirchlichen Privatrechts mit dem Titel "Institutiones Juris Privati Ecclesiastici. Libri tres". 1. Aufi., Ancona 1854; 2. Aufl., Paris 1855. Darin behandelt Soglia im ersten Buch das gesamte Personenrecht der Kirche, im zweiten Buch mit großer Ausführlichkeit das Sachenrecht (Kirchenvermögensrecht im allgemeinen, Benefizialrecht, Patronatsrecht, Vermögensverwaltungsrecht, die res sacrae und das Verlöbnisund Eherecht mit den einzelnen Ehehindernissen) und im dritten Buch das kirchliche Prozeß- und Strafrecht.

1. Die italienische Epoche des Jus Publicum Ecclesiasticum

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Von den "Institutiones" von Soglia erschienen in kurzer Folge in den Jahren 1843 und 1844 zwei weitere Auflagen. Die günstige Aufnahme seines Werkes ist nicht in erster Linie dem Wohlwollen und der Gunst der Päpste zuzuschreiben, deren Soglia, der im Revolutionsjahr 1848 vom 3. 6. bis zum 29. 11. 1848, dem Tage der Flucht Papst Pius' IX. nach Gaeta, als glückloser Staatssekretär fungierte 5, sich stets in hohem Maße erfreut hat. Die Tatsache, daß von seinen "Institutiones" in späterer Zeit noch eine ganze Reihe von Auflagen erschienen ist, und vor allem, daß nach dem Vorbild dieses Lehrbuchs von Soglia in den folgenden hundert Jahren zahlreiche gleichnamige Lehrbücher mit dem Titel "Institutiones Juris Publici Ecc1esiastici"6 veröffentlicht wurden, ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die Bedürfnisse der Rechtspraxis und der Kirchenpolitik eine vom allgemeinen Jus Canonicum methodisch getrennte Darstellung des Verfassungsrechts der katholischen Kirche und der rechtstheoretischen Grundlagen ihrer Beziehungen zu den Staaten verlangten7 • Die bislang letzte repräsentative Darstellung dieser Teildisziplin des kanonischen Rechts bilden die am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils in vierter Auflage erschienenen "Institutiones Iuris Publici Ecclesiastici" des Kardinals Alfredo Ottaviani8 • 2. Der Inhalt der "Institutiones" Soglias

Inhaltlich gliedert Soglia seine "Institutiones" in zwei Bände, von denen der erste, einleitende Band die überschrift "Praenotiones in Jus Canonicum" trägt, während der aus drei Büchern bestehende Hauptteil des Werkes mit der überschrift "Institutionum Juris Publici Ecc1esiastici tomus secundus" das eigentliche "Jus Publicum Ecclesiasticum", d. h. die Darstellung des Verfassungsrechts der katholischen Kirche und ihrer Beziehungen zum Staat, enthält9 • 5 Vgl. Roger Aubert, Pius IX. nach 1848, in: Hubert Jedin (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte. Bd. VIII: Die Kirche zwischen Revolution und Restauration. Freiburg I Basel I Wien 1971, S. 513 mit Anm. 10; ferner Parenti, 11 Cardinale Soglia (Anm. 1), S. 237. Über die Rolle Soglias als Kardinalstaatssekretär vgl. Giacomo Martina, Pio IX (1846 -1850). Rom 1974, bes. S. 273 ff., 292 ff., 440 f., 499 f. e Über die Hauptvertreter des Jus Publicum Ecclesiasticum in der römischen Kanonistik vgl. in dieser Arbeit unten III 4. 7 EmHio Fogliasso, Per la sistematicitä e la funzionalitä del .. Ius Publicum Ecclesiasticum", in: Salesianum, 25. Jg. (Roma 1963), S. 412 ff. (435), mißt dem Jus Publicum Ecclesiasticum im Rahmen des Kirchenrechts zutreffend eine Doppelfunktion zu, eine rechtfertigend apologetische (giustificazione-difesa) und eine objektiv-wissenschaftliche (esposizione scientifica) im Sinne einer objektiven Darlegung der einschlägigen Gebiete des Kirchenrechts. 8 über Ottaviani vgl. in dieser Arbeit unten III 4 1. 9 Soglia, Institutiones, 4. Auf!. (Anm. 2), Bd. I, S. 11 - 168; Bd. 2, S. 9 - 268.

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l. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

In dem eine Einführung in die Gesamtmaterie des kanonischen Rechts darstellenden ersten Band bietet Soglia neben einer genauen Begriffsbestimmung des kanonischen Rechts eine detaillierte Darstellung der Rechtsquellen des katholischen Kirchenrechts (Heilige Schrift, Tradition, Gesetzgebung der Päpste, Konzilien, Kirchenväter, staatliches Recht) und eine übersicht über die bedeutsameren kirchlichen Gesetzessammlungen, insbesondere über das Corpus Juris Canonici10 • Von dem aus drei Büchern bestehenden zweiten Band seiner "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici" handelt das Buch I "De statu Ecclesiae" über die kirchliche Gewalt und deren Übertragung durch Christus auf Petrus und die Apostel. Die kirchliche Gewalt besteht nach Soglia theologisch in der Weihe- und Jurisdiktionsgewalt; sie entfaltet sich rechtlich in der Gesetzgebungs-, Rechtsprechungs- und Strafgewalt der Kirche. Besonderes Gewicht legt Soglia in Buch I auf die Betonung der Unabhängigkeit der kirchlichen Gewalt und damit der Kirche vom Staat. In deutlich erkennbarer übernahme der Fragestellungen der deutschen katholischen Kirchenrechtslehrbücher des 18. Jahrhunderts, auf denen er in der systematischen Anlage seines Werkes aufbaut, setzt sich Soglia in diesem Zusammenhang in Kürze mit den Grundthesen des von den deutschen evangelischen Kirchenrechtslehrern der Barockzeit entwickelten Kollegialsystems auseinander11 • In Buch 11 "De rectoribus Ecclesiae eorumque juribus et officiis" gibt Soglia eine Darstellung der hierarchischen Struktur der katholischen Kirche. Dieses Buch bringt ferner eine Erörterung der Stellung des Papstes und der päpstlichen Gewalt sowie der Rechte und Pflichten der Bischöfe in der Rechtsordnung der katholischen Kirche. In Buch 111 "De personis et rebus ecclesiasticae potestati subjectis" behandelt Soglia die Grundzüge des Personen- und Sachenrechts unter vornehmlicher Betonung der Unabhängigkeit der Kirche von der staatlichen Gewalt. Dieses Buch behandelt im Rahmen des Personenrechts die Standesrechte und Standespflichten der Kleriker und die RechtssteIlung der Laien mit Einschluß des kirchlichen Ämterrechts. Der Anspruch des Papstes auf freie Ernennung der Bischöfe und der gegenüber dem päpstlichen Ernennungsrecht untergeordnete Charakter des königlichen Bestätigungsrechts bei Bischofsernennungen wird in dem Abschnitt "De regia nominatione" besonders hervorgehoben12• Auf dem 10

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Soglia, Institutiones, 4. Auf!. (Anm. 2), Bd. 1, ebd. Soglia, Institutiones, 4. Auf!. (Anm. 2), Bd. 2, S. 11 ff. Soglia, Institutiones, 4. Auf!. (Anm. 2), Bd. 2, S. 211 ff. (213): "Jus igitur

nominandi Episcopos a Romano Pontifice tribuitur, ab eoque nominatio regia confirmanda est; postquam enim constiterit, eum, qui nominatus est, tanto munere dignum esse, tum nominatio confirmatur, nominatus scilicet Episcopus instituitur, et potestatem jurisdictionis consequitur."

II. Die deutsche Kirchenrechtswissenschaft der Aufklärungszeit

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Gebiete des Sachenrechts rechnet Soglia neben der Verwaltung der geistlichen Angelegenheiten im strengen Sinne auch das Eherecht und sämtliche mit der Ehe in Zusammenhang stehenden Angelegenheiten mit Einschluß des Verlöbnisrechts sowie das Kirchenvermögensrecht und die grundsätzliche Befugnis der Kirche, Kirchengut zu erwerben und zu besitzen, zu den dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche unterliegenden Angelegenheiten13• ll. Dichotomie in Jus Ecclesiasticum Publicum und Jus Ecclesiasticum Privatum. Die Ausformung des Jus Publicum Ecclesiasticum zur selbständigen Teildisziplin in der deutschen Kirchenrechtswissenschaft der Aufklärungszeit 1. Die Glossierung nach den Dekretalen Gregors IX.

Die von Soglia in seinen "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici" in die römische Kanonistik übernommene Dichotomie des kanonischen Rechts in Öffentliches Recht (Jus Ecclesiasticum Publicum) und Privatrecht (Jus Ecclesiasticum Privatum) und die auf der Grundlage dieser Scheidung in die beiden Rechtsbereiche erfolgte methodische Verselbständigung der Disziplin des Jus Publicum Ecclesiasticum hat in der katholischen Kirchenrechtswissenschaft bis zur Gegenwart einen wissenschaftstheoretischen Methodenstreit über die Zulässigkeit oder jedenfalls die Angemessenheit des Entstehens und der Entwicklung der neuen Disziplin des "Jus Publicum Ecclesiasticum" ausgelöst14• Die im Bereich des kanonischen Rechts im akademischen Unterricht und in den Lehrbüchern seit dem Mittelalter übliche und zum Teil noch bis zum Inkrafttreten des Codex luris Canonici im Jahre 1918 herrschende Unterrichtsmethode bestand vielfach im wesentlichen in der Kommentierung ("Glossierung") des Corpus luris Canonici in der Reihenfolge und in der Untergliederung der fünf Bücher der Dekretalen Papst Gregors IX. nach dem bekannten Merkvers "Iudex, iudicium, clerus, sponsalia, crimen". Wie Franz Xaver Wernz (1842 -1914) in seinem Werk "Ius Decretalium", dem letzten großen Kirchenrechtskommentar vor dem Codex luris Canonici, dazu anmerkt, hielt sich die Praxis der Vorlesungen dabei nicht nur streng an die generelle Einteilung der Dekretalen ("ordo Decretalium") Papst Gregors IX. in Bücher und Hauptabschnitte (Titel), sie folgte der Einteilung des Corpus luris Canonici häufig auch bis in alle Unterabschnitte (Kapitel)15. 13 14

Soglia, lnstitutiones, 4. Aufl. (Anm. 2), Bd. 2, S. 214 ff. Vgl. dazu auch in dieser Arbeit unten V.

15 Franz Xaver Wernz, lus Decretalium. 2. Aufl., Bd. 1. lntroductio in lus Decretalium. Rom 1905, S. 66 f. mit Anm. 50 ff. Wernz, von 1882 bis 1906

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

Wernz, wegen seines maßvollen und abgewogenen Urteils allseitig geschätzt, hält diese Methode persönlich für seine Zeit zwar nicht mehr für empfehlenswert; er wendet sich aber gleichwohl gegen eine globale und geringschätzige Verurteilung des ordo Decretalium16 ; andererseits mißbilligt er aber ebenso auch dessen unangemessene Verherrlichung, die die Lücken und Schwächen dieses Systems ignorieren möchte17 • 2. Die Entstehung systematischer Lehrbücher

Die Unzulänglichkeiten einer vorwiegend glossierenden Methode der Kanonisten in der scholastischen Zeit, wie sie im Spätmittelalter vorherrschte, wurden bereits im 16. Jahrhundert stark empfunden und führten entsprechend der Entwicklung im römischen Recht nach dem Vorbild der "Institutiones" des Kaisers Justinian I. (527 - 565) auch im Bereich des kanonischen Rechts zur Abfassung systematischer Lehrbücher, in denen die einzelnen Materien des kanonischen Rechts in drei oder vier Bücher in der Reihenfolge Personenrecht, Sachenrecht, Prozeßrecht, Strafrecht (De personis, de rebus, de iudiciis, de criminibus atque poenis) aufgegliedert waren18• Dieses Einteilungsschema liegt auch dem Codex luris Canonici vom Jahre 1917 zugrunde, dem in den Normae generales (ce. 1- 86) noch ein einleitendes Buch beigefügt wurde. Bereits das Dekretbuch des Gratian war seiner Anlage nach ein Lehrbuch, dessen Einteilungsschema lange Zeit von hoher Bedeutung blieb 19• Zum klassischen Vorbild dieser systematischen Darstellungsweise des kanonischen Rechts wurden jedoch die erstmals im Jahre 1562 in Perugia erschienenen "Institutiones luris Canonici, quibus lus Pontificium singulari methodo libris quatuor comprehenditur" des berühmten Kanonisten Giovanni Paolo Lancelotti (1522 - 1590), die in vielen Ausgaben des Corpus luris Canonici als Anhang abgedruckt sind20• Die Professor des Kirchenrechts an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom und von 1906 -1914 General des Jesuitenordens, nahm unter den Kanonisten seiner Zeit den ersten Platz ein. Er verfaßte in der Zeit von 1898 bis 1914 sein sechs Bände umfassendes Hauptwerk "lus Decretalium", den letzten klassischen Kirchenrechtskommentar vor dem Codex luris Canonici. über Wernz vgl. Ivo Zeiger, Art. "Wernz, Franz Xaver S. J.", in: LThK, 1. Aufl., Bd. 10, Freiburg/Br. 1938, Sp. 831; Ulrich Mosiek, Artikel "Wernz, Franz Xaver S. J.", in: LThK, 2. Aufl., Bd. 10, Freiburg/Br. 1965, Sp. 1057; ferner Joseph Laurentius, Franz Xaver Wernz, in: ArchkathKR 94 (1914), S. 684 ff. lS Wernz, lus Decretalium, Bd. 1 (Anm. 15), S. 67, Anm. 50. 17 Wernz, lus Decretalium, Bd. 1 (Anm. 15), S. 67. 18 Wernz, ebd. IV Zum Decretum Gratiani vgl. Alphons M. Stickler, Historia luris Canonici Latini. Bd. 1: Historia Fontium. Turin 1950 (Neudruck Rom 1974), S. 200 ff. m.w.N.

11. Die deutsche Kirchenrechtswissenschaft der Aufklärungszeit

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Mehrzahl der Kanonisten hielt sich jedoch auch in den folgenden Jahrhunderten an die Methode der Glossierung nach den Dekretalen des Corpus Iuris Canonici21• Bereits vor Lancelotti hatte in Deutschland der an mehreren Universitäten lehrende und überwiegend in der Stadt Danzig tätige protestantische Kanonist Konrad Lagus (t 1546) in seinem Werk "Juris utriusque traditio methodica omnem omnium titulorum tam pontificii quam caesarei juris materiam et genus, glossarum item et interpretum abstrusiora vocabula scienter et summatim explicata, postremo et judiciarii ordinis modum, ad practicam forensem accomodatam complectens" das kanonische und römische Recht in einer systematischen Behandlung dargestellt22• 3. Die Bedeutung des Begriffs "Jus Ecclesiasticum"

Für den Sprachgebrauch der katholischen Kirchenrechtswissenschaft der Gegenwart sind die Begriffe ius canonicum und ius eccZesiasticum ihrem Inhalt nach gleichbedeutend. Sie bezeichnen heute das gesamte katholische Kirchenrecht23 • Im Mittelalter dagegen wurde das gesamte kirchliche Recht als ius canonicum bezeichnet. Erst später wurde dieser Ausdruck auf das im Corpus Iuris Canonici enthaltene, sog. klassische kanonische Recht eingeschränkt, während das durch die Gesetzgebungstätigkeit der Päpste und Synoden neu entstandene Kirchenrecht als ius ecclesiasticum bezeichnet wurde. Ungeachtet der inhaltlichen Gleichwertigkeit dieser beiden Begriffe trägt das geltende kirchliche Gesetzbuch der katholischen Kirche den Namen Codex Iuris Canonici. Diese Benennung verweist auf die große Vergangenheit des kanonischen Rechts24 und auf das Gesetzeswerk Corpus Iuris Canonici, dessen Tradition der Codex Iuris Canonici fortsetzt. 20 über Lancelotti vgl. Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. 111/1, S. 451 ff. über den Studienbetrieb im kanonischen Recht an den deutschen Universitäten der damaligen Zeit s. Schulte, Bd. 111/2, S. 315 ff.; speziell über die Bedeutung, die dem Werk von Lancelotti beigemessen wurde, s. Schulte, 111/2, S. 320 f. 21 Wernz, lus Decretalium, Bd. 1 (Anm. 15), S. 66 f. 22 Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. 11, S. 368 f. und Band 111/2, S. 319; über andere ältere Verfasser systematischer kanonistischer Kompendien vgl. bei Schulte, Bd. 11, S. 403 f.; ferner bei Wernz, lus Decretalium, Bd. 1 (Anm. 15), S. 67 f. mit Anm. 52. 23 Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex luris Canonici, 11. Aufl., Bd. 1, Paderborn 1964, S. 22. Wernz, lus Decretalium Bd. 1 (Anm. 15), S. 54 ff., gebraucht den Begriff "ius ecclesiasticum" als die umfassendste Bezeichnung für das gesamte katholische Kirchenrecht. Zur Geschichte der Begriffe "ius canonicum" und "ius ecclesiasticum" vgl. ferner Alphonsus van Hove, Prolegomena ad Codicem luris Canonici. 2. Auflage. Mecheln-Rom 1945, S. 33 ff., bes. S. 37 ff., 41 ff., jeweils m. w. N. 24 Mörsdorf, ebd.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

Auch Soglia legt entscheidendes Gewicht auf die inhaltliche Identität der Begriffe ius ecclesiasticum, ius canonicum und ius sacrum. Dies bringt Soglia bereits im ersten Satz der Praefatio seiner "Institutiones" zum Ausdruck, wenn er schreibt: "Jus Ecclesiasticum, sive Canonicum, sive Sacrum (nam haec verba idem sonant) est complexio earum legum, quibus Ecclesia regitur26." Möglicherweise will sich Soglia durch die starke Betonung des synonymen Charakters der Begriffe ius canonicum und ius ecc1esiasticum gegen das von dem Leipziger evangelischen Kirchenrechtslehrer Benedikt Carpzov (1591-1664) in die protestantische Kirchenrechtswissenschaft eingeführte Verständnis des Begriffs "Jus Ecclesiasticum" wenden. Carpzov verwendet in seinem Hauptwerk "Jurisprudentia ecclesiastica", dem ersten vollständigen System des protestantischen Kirchenrechts, den Begriff "Jus Ecclesiasticum" als Gegen- und Kampfbegriff zum "Jus Canonicum"28. Carpzov wurde damit zum Begründer der bis dahin in der Literatur und im akademischen Unterricht unbekannten Wissenschaft des " Kirchenrechts " , indem er die Scheidung zwischen kanonischem Recht und Kirchenrecht "sowohl der Sache als auch dem Namen nach vollzogen" hat. Mit sicherer Hand hat er, wie Stintzing dazu hervorhebt, die zum protestantischen Kirchenrecht gehörigen Materien begrenzt, zusammengestellt, systematisch geordnet und "die Rechtssätze selbst mit der ihm eigenen Virtuosität formuliert"27. Dem Vorbild Carpzovs und anderer evangelischer Kirchenjuristen folgten in der Aufklärungszeit mit Eifer zahlreiche katholische Kirchenrechtslehrer, die sich von der bis dahin üblichen Kommentierung des Corpus Iuris Canonici abwandten und ihr Fach nicht mehr Jus Canonicum, sondern "Jus Ecc1esiasticum" nannten28• Sie begrün25

Soglia, Institutiones, 4. Aufl. (Anm. 2), Bd. 1, S. V.

28 Benedikt CaTpzov, Jurisprudentia Ecclesiastica seu Consistorialis.

1. Aufl. Leipzig 1649. Von diesem Werk erschienen mehrere Auflagen. Vgl. dazu RodeTich Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Zweite Abteilung, München & Leipzig 1884 (Neudruck Aalen 1957), S. 88 mit Anm. 3. 27 Stintzing, Geschichte (Anm. 26), ebd. S. 89. Zur Entstehung der evangelischen Kirchenrechtswissenschaft vgl. auch UITich Stutz, Kirchenrecht, in: v. Holtzendorff I Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. 7. Aufl., Bd. 5, München - Leipzig u. Berlin 1914, S. 381 f., m.w.N. 28 Im rechtswissenschaftlichen Unterricht mit Einschluß des Kirchenrechts fanden während des 18. Jahrhunderts an den süddeutschen katholischen Universitäten protestantische Lehrbücher in weitem Umfang Verwendung. Dies geschah vor allem in Würzburg und Ingolstadt auf Grund des Einflusses des Rechtslehrers Johann Adam Ickstatt, der an der Universität Marburg Rechtswissenschaft studiert und dort auch kurze Zeit unterrichtet hatte. Ober den Widerstand gegen den Gebrauch protestantischer Lehrbücher an diesen Universitäten vgl. FTitz Kreh, Leben und Werk des Reichsfreiherrn Johann Adam von Ickstatt (1702 - 1776). Ein Beitrag zur Staatsrechtslehre der Aufklärungszeit. Paderborn 1974, S. 31, 44 ff., 93.

H. Die deutsche Kirchenrechtswissenschaft der Aufklärungszeit

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deten diese Namensgebung, die dem Geist des Josephinismus und dem Staatskirchenturn der süddeutschen katholischen Landesfürsten entgegenkam, mit dem Argument, daß das Recht der Canones nur einen Teil des Kirchenrechts umfasse. Das Jus Ecclesiasticum müsse dagegen auch diejenigen staatlichen Gesetze berücksichtigen, die die kirchlichen Angelegenheiten betreffen, und vor allem auch das Naturrecht, das die Grundlage des Kirchenrechts bilde!9. Zur Bedeutung des Begriffs "Jus Ecclesiasticum" ist somit festzustellen, daß zwar die Ausformung des Jus Publicum Ecclesiasticum zur selbständigen Teildisziplin des katholischen Kirchenrechts und ihre Benennung auf bemerkenswerte Einflüsse der deutschen protestantischen und katholischen Kirchenrechtswissenschaft verweist, daß aber in der römischen Kanonistik des 19. Jahrhunderts ein Gegensatz zwischen den Begriffen ius ecclesiasticum und ius canonicum nicht besteht. 4. Die Entstehung einer eigenständigen Disziplin des "Jus Publicum Ecclesiasticum" in der deutschen Aufklärungskanonistik

In der Aufklärungszeit fand die in der weltlichen Jurisprudenz im Zeitraum vom Ende des 15. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts entstandene Disziplin des Jus Publicum30 in Gestalt des "Jus Publicum Ecclesiasticum" auch in die deutsche katholische Kirchenrechtswissenschaft Eingang31 • a) Georg Christoph NeUer. Im Bereich des katholischen Deutschlands geriet das neue Fach des Jus Publicum Ecclesiasticum in den Anfängen seiner Entwicklung in eine scharfe Frontstellung zu den 28 Johannes Neumann, Die Kirche und die kirchliche Gewalt in der deutschen Kirchenrechtswissenschaft vom Ende der Aufklärung bis zum Ersten Vatikanischen Konzil. Habil.-Schrüt (Manuskript), München 1965, S. 11. 30 Vgl. dazu die wissenschaftsgeschichtlich informative Darstellung von Klaus Neumaier, Ius Publicum. Studien zur barocken Rechtsgelehrsamkeit an der Universität Ingolstadt. Berlin 1974, S. 13 ff., 32 ff., 44. Die staatsrechtlich-politischen Zusammenhänge zwischen der Entwicklung des absolutistischen Staatsdenkens und dem Jus Publicum als dem nichtjustiziablen Rechtsbereich des Monarchen zeigt Dieter Grimm, Zur politischen Funktion der Trennung von öffentlichem und privatem Recht in Deutschland, in: Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Hrsg. von Walter Wilhelm. (Helmut Coing zum 28. Febr. 1972 von seinen Schülern und Mitarbeitern.) Frankfurt a. M. 1972, S. 224 ff. 31 Sten Gagner, Über Voraussetzungen einer Verwendung der Sprachformel "öffentliches Recht und Privatrecht", im kanonistischen Bereich, in: MaxPlanck-Institut für Ausländisches und Internationales Privatrecht. Deutsche Landesreferate zum VII. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Uppsala 1966. Hrsg. von Ernst v. Caemmerer und Konrad Zweigert. Sonderveröffentlichung von Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht. Berlin und Tübingen 1967, S. 56.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus PubIicum Ecclesiasticum

Vertretern der traditionellen Kanonistik und vor allem auch zum Heiligen Stuhl. Ebenso wie die ersten Auflagen der "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici" von Kardinal Johannes Soglia erschien das erste Buch, das in Deutschland aus der Feder eines katholischen Kanonisten zu diesem Gebiet veröffentlicht wurde, die "Principia Juris Publici Ecclesiastici Catholicorum ad statum Germaniae accomodata in usum tyronum", im Jahre 1746 in Frankfurt am Main anonym. Der Verfasser des Buches war der von 1748 bis 1783 als Professor des kanonischen Rechts an der Universität Trier unterrichtende katholische Theologe Georg Christoph Neller (1709 -1783)32. Neller, der mit dem Trierer Weihbischof Nikolaus von Hontheim durch eine Jahrzehnte währende Freundschaft eng verbunden war, zählt nicht nur zu den bedeutendsten Kanonisten seiner Zeit, er gehört auch zu den entschiedenen Verfechtern der Ideen des Febronianismus und des reichskirchenrechtlichen Episkopalismus. Auch den Vorstellungen des Kollegialismus des protestantischen Kirchenrechts stand er aufgeschlossen gegenüber33 • In seinen "Principia", die nur 166 Seiten umfassen und einen knappen Grundriß des deutschen Reichskirchenrechts darstellen, vertritt N eller mit Entschiedenheit und in voller übereinstimmung mit Nikolaus von Hontheim und den geistlichen Kurfürsten der damaligen Zeit einen episkopalistischen Standpunkt. Dem Papst will er auch in den im strengen Sinne geistlichen und dogmatischen Fragen keine letztverbindliche Entscheidungsbefugnis zuerkennen34 • Es überrascht daher nicht, daß die "Principia Juris Publici Ecclesiastici" Nellers bereits kurze Zeit nach ihrem Erscheinen am 11. 9. 1750 nach damaliger Praxis auf den römischen Index der verbotenen Bücher gesetzt wurden. Die Verbreitung des Buches wurde durch die römische Indizierung aller32 Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. IIIIl, S. 215, nennt Neller den bedeutendsten Kanonisten seiner Zeit und "einen Freund des Fortschritts". 33 Wie Schulte an der gleichen Stelle hervorhebt, war der treueste Freund und Gesinnungsgenosse Nellers der Trierer Weihbischof Nikolaus von Hontheim (1707 - 1790), der 1763 unter dem Pseudonym Justinus Febronius in Frankfurt a. M. das Buch "De statu Ecclesiae et legitima potestate Romani Pontificis. Liber singularis ad reuniendos dissidentes in religione christiana compositus", das kanonische Standardwerk des deutschen Episkopalismus der Aufklärungszeit, herausgegeben hatte. Neller, der anfangs als alleiniger Verfasser dieses Werkes angesehen wurde, war bei dessen Abfassung beteiligt. Vgl. dazu Heribert Raab, Artikel "Hontheim, Nikolaus", in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 9 (1972), S. 605. Bereits 1764, ein Jahr nach seinem Erscheinen, wurde das Buch in Rom auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. 34 Vgl. Georg Christoph Neller, Principia Juris Publici Ecclesiastici Catholicorum ad statum Germaniae accomodata in usum tyronum. Frankfurt a. M. 1746, S. 40 ff.; vgl. ferner oben Anm. 32 mit zugehörigem Text; kurze Inhaltsangabe des Buches von Neller auch bei Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. IIIfl, S. 216.

H. Die deutsche Kirchenrechtswissenschaft der Aufklärungszeit

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dings nicht beeinträchtigt. Vor allem in Österreich wurde das Erscheinen dieses Buches lebhaft begrüßt. Eine Instruktion der StudienhofKommission vom Jahre 1774 schrieb "das kurze, doch fürtreffliche Werklein, so den Titel führt Principia Juris Publici Ecclesiastici Catholocorum ad statum Germaniae accomodata" als Textbuch für den Gebrauch bei allen Kirchenrechtsvorlesungen verpflichtend vor35• Die Definitionen und der Argumentationsstil in den "Principia" N eUers sind von einer bewundernswerten Kürze und Prägnanz gekennzeichnet. Unter dem Jus Publicum im Bereich des kanonischen Rechts versteht er die Summe aller Rechtsnormen, die die Verfassung der Kirche und die damit im Zusammenhang stehenden Rechtsakte regeln; das Jus Privatum im kanonischen Recht definiert er als die Summe derjenigen Rechtsnormen, die die Rechtsverhältnisse der Einzelpersonen bestimmen36 • NeUer weist darauf hin, daß das Corpus Juris Canonici an zahlreichen Stellen "jura publica Ecclesiae" enthält, an anderen Stellen aber auch Rechtsverhältnisse und Rechtshandlungen von Einzelpersonen regelt. Er erklärt es als das spezifische Anliegen seines Buches, auf dem Gebiete des kanonischen Rechts das Jus Publicum Ecclesiasticum nach der neuen Methode ("methodo recenti") in einem kurzen Grundriß systematisch darzustellen37• b) Johann Kaspar Barthel. Von großem Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Kirchenrechtswissenschaft in der Aufklärungszeit und auf die Entwicklung der selbständigen Disziplin des "Jus Publicum Ecclesiasticum" war ferner vor allem der Würzburger Theologe und Kirchenrechtslehrer Johann Kaspar Barthel (1697 -1771), der von 1727 bis 1771 ohne Unterbrechung den Lehrstuhl des kanonischen Rechts an der Universität Würzburg innehatte. Bart.hel, der Lehrer NeZlers im kanonischen Recht, hatte in Rom kanonisches Recht studiert und war bei dem berühmten Kanonisten Prosper Lambertini, dem nachmaligen Papst Benedikt XIV. (1740 - 1758), zum Dr. jur. utr. promoviert worden. Schulte rühmt Barthel als den ersten Kanonisten, lIder sich in Deutschland von der hergebrachten scholastischen und schablonenhaften Methode, das Kirchenrecht lediglich im Anschluß an die Dekretalen, unter Berücksichtigung des stilus Curiae Romanae und der sonstigen Gerichtspraxis zu lehren, gründlich entfernte" und der von ihm entwickelten neuen Richtung des Kirchenrechts in mehr als vierzigjähriger Lehrtätigkeit allmählich zum Durchbruch verhalf 38• Barthel war von den 35 Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. lII/l, S. 216 und Bd. III/2, S. 316 f. mit Anm. 7. 38 "Jus Publicum ordinat Statum Ecclesiae et negotia illi connexa; Jus Privatum causas singulorum": Neller, Principia (Anm. 34), S. 2. 37 Neller, Principia (Anm. 34), S. 2 f. 38 Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. III/l, S. 184.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

französischen Kanonisten Petrus de Marca, Thomassin, N atalis Alexander, Bossuet, Fleury und vor allem auch von van Espen stark beeinflußt. Er stand im Dienste des Fürstbischofs von Würzburg und war, wie Schulte anerkennend hervorhebt, stets bestrebt, "dem Staate in vollem Umfang gerecht zu werden, als echter deutscher Mann die Besonderheiten der deutschen Rechtsentwicklung zu erhalten und auszubilden" und hierbei "ganz besonders die volle Selbständigkeit des Episkopats zu vertheidigen"39. Im Gegensatz zu seinem Schüler Neller veröffentlichte Barthel, der dem Febronianismus nahestand", möglicherweise auch aus der Erwägung, durch kirchenrechtliche Publikationen seine Stellung als Universitätslehrer nicht zu gefährden, kein eigenes Lehrbuch zum Jus Publicum Ecclesiasticum. Sein geplantes und angekündigtes Vorhaben, ein "Jus Canonicum Catholicum secundum principia Nationis germanico genio accomodatum" zu schreiben, kam jedenfalls nicht zur Ausführung41. c) Johann Adam von Ickstatt. Eine Persönlichkeit von besonderer Ausstrahlung und nachhaltigem Einfluß auf die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum zu einer selbständigen Disziplin des Kirchenrechts war ferner der von 1731 bis 1741 in Würzburg und später von 1746 - 1765 an der Universität Ingolstadt vor allem als Lehrer des Staats-, aber auch des Kirchenrechts tätige Johann Adam von Ickstatt (1702 - 1776), einer der berühmtesten Staatsrechtslehrer der Barockzeit. Ickstatt, der zu den führenden Wegbereitern der Aufklärung in Süddeutschland, insbesondere in Bayern, zählt, war in Würzburg neben Barthel der bevorzugte Lehrer Nellers 4!. lekstatt hatte in Marburg Rechtswissenschaft studiert und stets auch für das Kirchenrecht ein besonderes Interesse bewiesen. Deshalb war er mit den Werken der protestantischen Kirchenjuristen vertraut. In seiner programmatischen Schrift "De studio Juris, ordine atque methode scientifica instituendo, 81

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Schulte, ebd. Friedrich Merzbacher, Artikel "Barthel, Johann Kaspar", in: Neue

Deutsche Biographie, Bd. 1 Berlin 1953 (Nachdruck Berlin 1971), S. 608. Das dort angegebene Schriftenverzeichnls Barthels ist sehr unvollständig. 41 Barthel publizierte aber seine gesammelten Schriften unter dem Titel "Opuscula Juridica varii argumenti". 1. Aufl., 2 Bde, Bamberg 1756. 2. Aufl., 3 Bde, Bamberg 1771 - 1780. Die in dieser Sammlung enthaltenen Schriften sind zum Teil aufgeführt bei Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. HII1, S. 184 f.; über Barthel vgl. ferner bei Schulte, Bd. HI/2, S. 321 mit Anm. 15. Ferner existieren Nachschriften der Vorlesungen Barthels, die aus der Feder seiner Schüler stammen. U Kreh, Leben und Werk des Reichsfreiherrn J. A. v. Ickstatt (Anm. 28), S. 42 ff., 102 ff., 124 ff. Über Ickstatt vgl. ferner Ludwig Hammermayer, Artikel "Ickstatt, Johann Adam Frhr. v.", in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10 (1974), S. 113 ff.; Rudolt Bamberger, Johann Adam Freiherr von Ickstatt und seine Bedeutung für Würzburg. Jur. Diss., Würzburg 1971, S.26ff.

II. Die deutsche Kirchenrechtswissenschaft der Aufklärungszeit

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Meditationes praeliminares", die er aus Anlaß seiner Berufung an die Universität Würzburg als ordentlicher Professor für Öffentliches Recht des Römisch-Deutschen Reiches, Natur- und Völkerrecht, verfaßte, forderte er auf dem Gebiete des Kirchenrechts die Ausformung einer eigenständigen Disziplin des Jus Publicum Ecclesiasticum und die Trennung dieser Disziplin vom Jus Ecclesiasticum Privatum43 • Zugleich wandte er sich jedoch gegen die Grundsätze des protestantischen Kollegialsystems und betonte die Eigenrechtsmacht der Kirche und ihre Unabhängigkeit vom Staat in ihren eigenen Angelegenheiten". Mit großer Wahrscheinlichkeit hat NeUer, der von 1726 -1733 an der Universität Würzburg Theologie und Rechtswissenschaft studiert hat, während seiner Studienzeit von seinen Lehrern Barthel und lekstatt den entscheidenden Anstoß zur späteren Abfassung seines Buches "Principia Juris Publici Ecclesiastici" erhalten46 • 43 Diese für die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum in der deutschen Kanonistik der Barockzeit wegweisende Schrift erschien in 2. Aufl. in den Gesammelten Schriften Ickstatts, den Opuscula Juridica varii argumenti, Bd. 1, Ingolstadt und Augsburg 1747, S. 1-151. Im Rahmen dieser seiner Darstellung einer wissenschaftlichen Grundlegung des Studiums der gesamten Rechtswissenschaft befaßt sich Ickstatt auch eingehend mit dem Kirchenrecht. Das Gesamtgebiet des kirchlichen Rechts bezeichnet er als "jus canonicum", innerhalb dessen er das "jus canonicum divinum" und das "jus canonicum humanum" nach inhaltlichen Kriterien unterscheidet. Vgl. lekstatt, ebd., 2. Aufl., § 51 ff. = S. 82 ff. Die fundamentale methodisch-wissenschaftliche Unterscheidung im Bereich des Kirchenrechts besteht für Ickstatt jedoch in der Trennung der Bereiche des "jus eeclesiasticum publicurn" und des "jus canonicum privatum". Das Jus Ecelesiasticum Publicum definiert Ickstatt auf folgende Weise: ,,§.LX. Complexum canonum atque saerarum eonstitutionum, tum juris divini positivi, turn humani, quibus status eeclesiae publicus, summi Pontüieis, personarum atque magistratuum ecclesiasticorum jura determinantur, jus ecclesiasticum publicum dicere lubet." Die Definition des Jus Canonicum Privatum bei Ickstatt lautet: ,,§.LXIII. Complexum eanonum, sive legum, a summa Pontifice latarum, approbatarum vel eonfirmatarum, quibus officia, jura, nec non poenae personarum atque membrorum ecclesiae privatorum determinantur, jus canonicum privatum appello." Vgl. bei Ickstatt, ebd., 2. Aufl., S. 86 und 88. Zu den beiden Rechtsgebieten skizziert Ickstatt eine detaillierte Inhaltsangabe aller Materien, die im akademischen Unterricht oder in einem Lehrbuch bei der Darstellung des Jus Publicum Eeclesiasticum und Jus Canonieum Privatum behandelt werden müßten. Vgl ebd., S. 86 und 88. Diese Schrift erweist Ickstatt als den bahnbrechenden Geist, der bereits im Jahre 1731 für die Ausbildung der selbständigen Disziplin des Jus Publicum Ecclesiasticum in der deutschen Aufklärungskanonistik den entscheidenden Anstoß gegeben hat, der erst während der folgenden Jahrzehnte aufgegriffen und verwirklicht wurde. Ober Ickstatt vgl. auch Giuseppe FOTchielli, n coneetto di "Pubblico" e "Privato" nel Diritto Canonico, in: Studi di Storia e Diritto in onore di Carlo Calisse. Bd. 2, Milano 1940, S. 508 ff. Ober Ickstatt vgl. ferner Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. III/1, S. 206 f. '4 Vgl. in dieser Arbeit unten 3. Kapitel II 4. 4S Möglicherweise in Unkenntnis der engen Verbindungen Ickstatts zu den

!! lJstl

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

d) Johann Nepomuk Endres (1731-1791), Schüler und Freund und zugleich auch Nachfolger Barthels, war der letzte Würzburger Kanonist der Aufklärungszeit, der auf die Ausbildung einer selbständigen Disziplin des Jus Publicum Ecclesiasticum einen bedeutsamen Einfluß ausgeübt hat. Seine Auffassungen über die wesensmäßige Verschiedenheit zwischen Kirche und Staat einerseits und andererseits über die Analogie, die zwischen dem naturrechtlich begründeten Staat und der ebenfalls einen personenrechtlichen Herrschaftsverband darstellenden Kirche besteht, zeigt bereits der Titel seiner wissenschaftstheoretischen Untersuchung "De necessario jurisprudentiae naturalis cum ecclesiastica nexu et illius in hac usu", die Gedankengänge von Barthel und vor allem von lekstatt übernimmt und auch von Soglia im Vorwort zu seinen "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici" anerkennend und zustimmend zitiert wird46 • e) Philipp Anton Schmidt. Die dem Geiste der Aufklärung nahestehenden deutschen Kirchenrechtslehrer Neller, Barthel, lekstatt und Endres hätten für sich allein wohl kaum der von ihnen vertretenen "neuen Richtung" des Kirchenrechts in der römischen Kanonistik zum Durchbruch verholfen, wenn ihre Methode nicht auch von dem in der deutschen kanonistischen Fachwelt wegen seiner geistigen Bedeutung ebenso angesehenen wie in Rom wegen seiner Treue zur Kirche hochgeschätzten Heidelberger Kanonisten und späteren Speyerer Weihbischof Philipp Anton Schmidt (1734 - 1805) übernommen und damit in den Augen der römischen Kirchenrechtslehrer erst als theologisch unFebronianisten und seines großen Einflusses auf die süddeutsche Aufklärungsbewegung beruft sich SogZia in der programmatischen Praefatio seiner "Institutiones" auf die Autorität lekstatts und rechtfertigt unter Berufung auf die genannte Schrift Ickstatts "De studio Juris ordine atque methodo scientifica instituendo" seinen Entschluß, unter Abweichung von der bisherigen Praxis des römischen Lehrbetriebs als erster Italiener ein eigenes Lehrbuch des Jus Publicum Ecclesiasticum herauszugeben. Vgl. Soglia, Institutiones, 4. Aufl. (Anm. 2), Praefatio, S. I. 41 SogZia, Institutiones, 4. Aufl. (Anm. 2), Praefatio, S. VI und Bd. 2, S. 36. Diese Schrüt von Endres ist abgedruckt in dem von Philipp Anton Schmidt herausgegebenen wichtigen siebenbändigen Sammelwerk "Thesaurus Iuris Ecclesiastici potissimum Germanici sive Dissertationes selectae in Ius Ecclesiasticum, quas iuxta seriem Institutionum eiusdem Iuris a se editarum in ordinem digessit, illustravit animadversionibus novis, adauxit lucubrationibus propriis Antonius Schmidt". Heidelberg, Bamberg und Würzburg 1772 -1779, Bd. 1, S. 1 - 97. Johann Friedrich Schulte, Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 6, 1877, S. 110, rechnet Endres "zu den besseren Kanonisten seiner Zeit" und bezeichnet ihn "als würdigen Schüler Barthels und als einen Gelehrten, welcher selbständig forscht, kritischen Sinn hat und ein patriotischer Mann ist, auch gegenüber der Kurie die deutsche Selbständigkeit retten will". Vgl. ferner Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. HI/l, S. 244. Über Endres vgl. die zusammenfassende Darstellung von Friedrich Merzbacher, Der Kanonist Johann Nepomuk Endres (1730 - 1791). Leben und Werk eines deutschen Kirchenrechtslehrers vor der Säkularisation, in: ArchkathKR 139 (1970), S. 42 ff.

H. Die deutsche Kirchenrechtswissenschaft der Aufklärungszeit

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bedenklich erwiesen und legitimiert worden wäre47 • Schmidt, den auch Schulte "unfraglich zu den besseren Kanonisten des vorigen Jahrhunderts" rechnet und dem er einen "scharfen juristischen Blick und zugleich wissenschaftliches Verständnis, insbesondere für die Geschichte", attestiert48, ist derjenige unter den deutschen Kanonisten, auf dessen Autorität sich Soglia mit Vorzug beruft. Im Anschluß an Soglia bezeichnen auch die späteren bekannten Vertreter des Jus Publicum Ecclesiasticum unter den römischen Kanonisten, wie die Kardinäle Felix Cavagnis (1841 - 1906) und Alfredo Ottaviani (geb. 1890), Schmidt als den führenden deutschen Kanonisten, durch dessen Autorität die neue Methode der Trennung des kanonischen Rechts in Jus Publicum Ecclesiasticum und Jus Privatum in die römische Kirchenrechtswissenschaft Eingang gefunden habe. Schmidts Hauptwerk sind die im Jahre 1771 erstmals erschienenen "Institutiones Juris Ecclesiastici Germaniae accomodatae", ein zweibändiges Lehrbuch zum Kirchenrecht, dessen erster Band eine kritische Darstellung der Geschichte des Kirchenrechts sowie das "Jus Ecclesiasticum Publicum", d. h. das Verfassungsrecht der katholischen Kirche und die Darstellung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat, enthält, während der zweite Band das kirchliche Privatrecht, d. h. das Personen-, Sachen-, Schuld- und Prozeßrecht, und abschließend auch das kirchliche Strafrecht behandelt49 •

Franz Xaver Wernz, der persönlich die Einteilung des Kirchenrechts in Jus Publicum Ecclesiasticum und einen entsprechenden Bereich des Jus Canonicum Privatum ablehnt und in seinem fünf Bände umfassenden monumentalen Werk "Jus Decretalium" in der gleichen Reihen47 Schmidt gehörte von 1751 bis zu dessen Aufhebung im Jahre 1773 dem Jesuitenorden an und unterrichtete von 1770 -1776 an der Universität Heidelberg das Fach Kirchenrecht. Anschließend trat er in die Dienste des Fürstbischofs von Speyer, wurde dessen geheimer Referendar in Kirchenangelegenheiten und war von 1789 -1805 Weihbischof von Speyer. Der von Schmidt in den Jahren 1772 -1779 herausgegebene "Thesaurus Iuris Ecclesiastici" (Anm. 46) enthält insgesamt 126 Abhandlungen zum Jus Publicum Ecclesiasticum der bekanntesten Kanonisten und Staatskirchenrechtler der damaligen Zeit. Nach Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. HI!l, S. 249, Anm. 12, enthält diese siebenbändige Sammlung "unstreitig das Beste, was an akademischen Dissertationen von katholischen Schriftstellern etwa von 1740 bis in's Ende der siebziger Jahre herauskam". Auch bei Soglia wird der Thesaurus Iuris Ecclesiastici Schmidts häufig zitiert. 48 über Schmidt vgl. Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. HIlI, S. 248; ferner Schulte, Artikel "Schmidt, Philipp Anton", in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 32 (1891), S. 12 f. 4e Von den zweibändigen "Institutiones Juris Ecclesiastici Germaniae accomodatae" von Schmidt sind drei Auflagen erschienen: 1. Aufl. Heidelberg und Bamberg 1771; 2. Aufl. Heidelberg und Bamberg 1774; 3. Aufl. Bamberg und Würzburg 1778. Kurze Inhaltsangabe des Buches auch bei Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. UI!I, S. 249. Die Grundhaltung der "Institutiones" von Schmidt ist, wie Schulte anerkennend hervorhebt, "nicht exzessiv kurial".

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1. Kap.:

Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

folge, wie sie die Gliederung des späteren Codex Iuris Canonici aufweist, in genialer Weise das Corpus Iuris Canonici kommentiert, bemerkt mit dem Unterton einer leichten Mißbilligung im Hinblick auf die "Institutiones Juris Ecc1esiastici Germaniae accomodatae" Schmidts, daß dieser sich als erster der papst- und kirchentreuen katholischen Kanonisten für die neue Methode im Kirchenrecht aufgeschlossen gezeigt habe. Wernz hält Schmidt zugute, wofür sich jedoch in den Werken Schmidts keine Anhaltspunkte finden, daß dieser sich deshalb für die damalige moderne Richtung entschieden habe, um seine Gegner, d. h. die den Systemen des Episkopalismus und Kollegialismus anhängenden katholischen und evangelischen Kirchenrechtslehrer, mit ihren eigenen Waffen zu besiegen. Diese Art des Vorgehens könne man nicht selten auch bei anderer Gelegenheit beobachten50 • f) Jakob Anton von ZalZinger zum Thurn. Zu den deutschen Kirchenrechtslehrern des 18. Jahrhunderts, deren Werke auf die Entwicklung des römischen Jus Publicum Ecc1esiasticum im 19. Jahrhundert in bedeutsamer Weise nachhaltig eingewirkt haben, gehört in der zeitlichen Reihenfolge als letzter der aus Südtirol stammende Kanonist Jakob Anton von ZaIZinger zum Thurn. ZaIZinger war von 1777 - 1807 im Dienste des Augsburger Bischofs am Salvatorkolleg in Augsburg als Lehrer des Kirchenrechts tätig. In seiner Methode und Argumentationsweise folgt er, der sich gegen alle Anfechtungen stets als offener und entschiedener Gegner der Aufklärung betrachtet hat, weithin dem Vorbild von Philipp Anton Schmidt. Von Zallinger stammt das 1784 in Augsburg in erster Auflage erschienene umfangreiche Werk "Institutionum Juris Naturalis et Ecc1esiastici Publici libri V"51 und das 1792 bis 1793 ebenfalls in Augsburg veröffentlichte Lehrbuch "Institutiones Juris Ecc1esiastici maxime Privati ordine Decretalium. Libri V". Beide Werke wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Ausland an mehreren Orten, darunter auch in Rom, nachgedruckt. Im Gegensatz zu Philipp Anton Schmidt, der sich ganz offensichtlich aus innerer Überzeugung in der Kanonistik vom ordo Decretalium abgewandt hatte, bekennt Zallinger im Vorwort zu seinen fünfbändigen "Institutiones Juris Ecclesiastici maxime Privati", daß er sich in seinen zehn Jahre früher erschienenen "Institutiones Juris Naturalis et Ecclesiastici Publici" nur aus dem Grund zur Dichotomie des kanonischen Rechts in Öffentliches Recht und Privatrecht entschlossen habe, weil er auf diese Weise denjenigen Kanonisten besser entgegentreten zu können geglaubt 60 Wernz, lus Decretalium, Bd. 1 (Anm. 15), S. 68 mit Anm. 55. 61 Der 1823 in Rom erschienene Nachdruck "Institutiones Juris Ecc1esiastici Publici et Privati. Libri V" ist eine Kompilation verschiedener Bücher von Zallinger. Über ZallingeT vgl. Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. 111/1, S. 250.

IH. Die römische Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum

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habe, die unter dem Vorwand einer angeblich besseren kirchenrechtlichen Methode den Charakter der Kirche als einer göttlichen Stiftung leugnen und damit das Kirchenrecht selbst pervertieren. Ein weiteres Motiv, von dem er sich bei seiner Entscheidung für die Behandlung des Kirchenrechts nach der neuen Methode habe leiten lassen, sei für ihn die Erwägung gewesen, daß er auf diese Weise diejenigen Studenten des katholischen Kirchenrechts, die ein besonderes Interesse für die Fragen des Jus Publicum Ecclesiasticum zeigten, für dieses Fach gewinnen wollteG2•

m. Die römische Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum und ihre Bauptvertreter 1. Die Beriic:kslchtigung des Jus PubUcum Eccleslastlcum In der StDdieureform des Kirchenstaates vom Jahre 1824

Die Besetzung der Stadt Rom durch die französischen Truppen am 2.2. 1808 und die am 17.5. 1809 von Napoleon I. mit der Begründung verfügte Vereinigung des Kirchenstaats mit Frankreich, daß dadurch "der mißbräuchlichen Verbindung von geistlicher und weltlicher Macht" ein Ende bereitet werden sollteU, hatten in den päpstlichen Territorien zu einem weitgehenden Zusammenbruch des gesamten Unterrichtswesens geführt. Nach der Rückkehr Papst Pius' VII. (1800 -1823) aus dem französischen Exil am 24.5.1814 und der fast völligen Restitution des Kirchenstaates durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses und der Wiedererrichtung der päpstlichen Herrschaft wurde unter dem Pontifikat Papst Leos XII. (1823 - 1829) durch die Apostolische Konstitution "Quod divina Sapientia" die gesamte Unterrichtsverwaltung des Kirchenstaats neu geordnetG4• Mag in der damaligen Zeit der Restauration die Universitäts ausbildung des Kirchenstaats, wie Aubert berichtet, auch in mancher Hinsicht "nach rückläufigen Konzeptionen refor52 Vgl. Jakob Anton Zallinger, Institutiones Juris Ecclesiastici, maxime privati, ordine Decretalium. Liber I, Augsburg 1792, S. 1 ff. Die Ausgaben dieses Werks Zallingers tragen bezeichnenderweise den Untertitel "De Jure Naturali, et Ecclesiastico Publico coniungendo eum Institutionibus Juris Decretalium". 53 Roger Aubert, Napoleon und Pius VII., in: Hubert Jedin (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VI/1 (Anm. 5), S. 88. 54 Der Wortlaut der Apostolischen Konstitution "Quod divina Sapientia" vom 28. August 1824 ist abgedruckt in: Bullarii Romani Continuatio. Tomus XVI, Romae 1854, S. 85 ff.; deutsche übersetzung bei Th. Scherer, Papst Leo der Zwölfte. Nach Artaud von Montor, mit Berücksichtigung anderer Quellen, deutsch bearbeitet und mit einer urkundlichen Beilage über die Organisation des Erziehungswesens im Kirchenstaate. Schaffhausen 1844, S. 443 ff.; vgl. dazu auch Joseph Hergenröther, Der Kirchenstaat seit der Französischen Revolution. Historisch-statistische Studien und Skizzen. Freiburg/Br. 1860, S. 71 ff.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

miert" worden sein, so gilt dies nicht uneingeschränkt für das Studium der Rechtswissenschaft. Im Zuge der Studienreform wurden im Kirchenrecht an den Juristischen Fakultäten der Universitäten Rom und Bologna erstmals auch eigene Lehrstühle für das Fach "Jus Publicum Ecclesiasticum" errichtet. Das Curriculum für das fünf jährige Studium der Rechtswissenschaft, das für den Erwerb des Grades eines Dr. jur. utr. erforderlich war, sah während des zweiten und dritten Jahres ganzjährig Vorlesungen im Fach "Jus Publicum Ecclesiasticum" vor55• 2. Die einhundert "Tbeses ex Jure Publico Ecclesiastico" vom Jahre 1826

Den hauptsächlichen Lehr- und Prüfungsstoff für das Fach Jus Publicum Ecclesiasticum enthält die einhundert Thesen umfassende Aufstellung "Theses ex Jure Publico Ecclesiastico", die am 12. Juni 1826 von den Mitgliedern der für das Prüfungswesen an der Juristischen Fakultät der Universität Rom verantwortlichen Kommission ("Censores") publiziert wurde 56• Unter den sieben Mitgliedern dieser Kommission, die dieses Thesarium unterzeichnet haben, befindet sich auch der Name Johannes Soglia. Gemäß seiner damaligen Stellung als Päpstlicher Geheimkämmerer und Sekretär der Studienkongregation steht der Name Soglia entsprechend seiner Dignität nach zwei Erzbischöfen an dritter Stelle. Dennoch dürfte Soglia als der alleinige Verfasser dieser Thesen anzusehen sein, da er als einziger der sieben Unterzeichner auf dem Gebiete des Jus Publicum Ecclesiasticum hervorgetreten ist57• Dieses römische Thesarium von 1826 ist ganz offensichtlich als eine Parallele und als römisch-kanonistische Gegenposition zu dem berühmten, 253 Thesen umfassenden Wiener Thesarium "Synopsis Juris Ecclesiastici publici et privati, quod per terras haereditarias augustissimae Imperatricis Mariae Theresiae obtinet" konzipiert, das der einem gemäßigten Josephinismus huldigende Benediktiner-Abt Franz Stephan Rautenstrauch 1776 publiziert hat58• Inhaltlich behandeln die 100 rö55 Vgl. Constitutio Apostolica "Quod divina Sapientia", in: Bullarii Romani Continuatio, ebd., S. 101 f. (= Nr. 209); vgl. ferner dazu die Kritik am Unterrichtswesen des Kirchenstaates bei Roger Aubert, Die Restauration des Kirchenstaates, in: Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VIII (Anm. 5), S.126. 58 Theses ex Jure Publico Ecclesiastico. Romae 1826. Apud Franciscum Bourlie. 31 Seiten. Dieses Thesarium, abgedruckt als Anhang in dieser Arbeit, S. 236 ff., enthält das Grundsatzprogramm der römischen Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum und stellt zugleich deren erstes wissenschaftliches Dokument dar. Vgl. dazu auch in dieser Arbeit, unten, 3. Kapitel H 5, S. 122. 57 Zu diesem Thesarium vgl. FOTchielli, n concetto di "Pubblico" e "Privato" (Anm. 43), S. 523; ferner Emilio Fogliasso, n Ius Publicum Ecclesiasticum e il Concilio Ecumenico Vaticano H. Torino 1968, S. 23 f. 58 Vindobonae, Typ. Ioan. Thomae Nob. de Trattnern, Caes. Reg. Aulae Typogr. et Bibliopol., 1776. 77 Seiten. Auch dieses Thesarium ist anonym

III. Die römische Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum

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mischen Thesen folgende Themen: den göttlichen Stiftungs charakter der Kirche, ihre Eigenrechtsmacht und Unabhängigkeit von der staatlichen Gewalt; die Gesetzgebungsgewalt der Kirche, ihre Ämterhoheit und hierarchische Struktur; den Amtsprimat des Papstes und sein Lehramt in dogmatischen Fragen; das aktive Gesandtschaftsrecht des Papstes; die Stellung und die Aufgaben der Kardinäle und der Bischöfe; den status der niederen Kleriker; das ausschließliche Recht des Papstes, Konzilien einzuberufen; den Anspruch der Kirche auf alleinige Regelung der Ehegesetzgebung; die Unzulässigkeit einer "appellatio ab abusu"; die klerikalen Standesprivilegien; die Evangelisationsfreiheit der Kirche und ihr Recht, überall auf der Welt Bischofsstühle zu errichten; das freie Bischofsernennungsrecht des Papstes; das Recht der Kirche, Vermögen zu erwerben und zu verwalten. Inhaltlich sind die 100 "Theses ex Jure Publico Ecclesiastico" weitgehend identisch mit dem Inhalt des Lehrbuchs "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici", das Soglia sechzehn Jahr später erstmals veröffentlicht hat. 3. Die Emanzipation des .Jus Publicum Ecclesiasticum zur selbständigen kanonistischen Wissenschaft in der römischitalienischen Kanonistik des 19. .Jahrhunderts

Da brauchbare Lehrbücher italienischer Autoren für die neue Disziplin des Jus Publicum Ecclesiasticum nicht vorhanden waren, wurden im Kirchenstaat lange Zeit hindurch für den akademischen Gebrauch die Bücher des Augsburger Kanonisten Jakob Anton Zallinger verwendet, der nicht nur in seinem Fach hohes Ansehen genoß, sondern in Rom auch wegen seiner in der napoleonischen Zeit bewiesenen Kirchentreue hochgeschätzt war59• Die in den achtziger und neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Augsburg erschienenen, bereits erwähnten Lehrbücher Zallingers "Institutionum Juris Naturalis et Ecclesiastici Publici libri V" und "Institutiones Juris Ecclesiastici maxime privati ordine Decretalium. Libri V"60 wurden deshalb in Rom von 1823 an wiederholt nachgedruckt. Erst im Jahre 1842 entschloß sich Soglia, der vor seiner im Jahre 1838 erfolgten Ernennung zum Bischof des Doppelbistums Osimo und Cingoli vierundzwanzig Jahre in Rom als Lehrer des kanonischen erschienen. Die Autorschaft des Benediktiner-Abtes Stephan Rautenstrauch ist jedoch unbestritten. Auf dem Titelblatt des Exemplars der Universitätsbibliothek Wien befindet sich der handschriftliche Vermerk aus der damaligen Zeit: "Auctore Stephano de Rautenstrauch, Ord. S. Bened., Abbate Bronow., Facult. Theolog. in Univers. Viennen. Directore". 59 über Zallinger vgl. Karl Alois Kneller, Art. "Zallinger zum Thurn, Jac. Ant. v., S. J.", in: Wetzer und Weite, Kirchenlexikon. 2. Aufl., Bd. XII, Freiburg/Br. 1901, Sp. 1865 f. 80 Vgl. dazu diese Arbeit, oben Anm. 51 mit zugehörigem Text.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publieum Ecclesiastieum

Rechts tätig war und seit Errichtung des Lehrstuhls für Jus Publicum Ecclesiasticum auch dieses Fach vertreten hatte, dem von ihm empfundenen Mangel abzuhelfen und als erster Italiener ein den Bedürfnissen seiner Zeit entsprechendes Lehrbuch des Jus Publicum Ecclesiasticum zu verfassen81, Soglia sieht im Jus Publicum Ecclesiasticum die zentrale und richtungweisende Disziplin des gesamten kanonischen 11 über seinen Entschluß, nach der Veröffentlichung der Apostolischen Konstitution "Quod divina Sapientia" vom 28. August 1824 ein Lehrbuch des Jus Publieum Ecclesiasticum zu verfassen, schreibt Soglia im Vorwort der Ausgabe von 1844 seiner Institutiones, das auch in den späteren Auflagen abgedruckt ist: "Qua Constitutione promulgata, eum animadvertissem Italorum extitisse neminem, qui Juris Publiei Ecelesiastici Institutiones in scholarum usum edidisset, huie operi manus admovere eoepi, et has Institutiones, videlieet prima Juris Publici Ecclesiastici elementa eonseripsi, et sunt veluti pars dogmatiea Juris Canoniei, eaque nuper edidi in gratiam adoleseentium, qui in Auximano Ven. Seminario et Nobili Collegio Campana instituuntur." Vgl. Soglia, Institutiones, 4. Aufl. (Anm. 2), Bd. 1, S. 7. Auch Zeitgenossen Soglias haben sich literarisch mit Fragen des Verhältnisses von Kirche und Staat beschäftigt. An erster Stelle ist hier zu nennen Antonio Vittadini (t 1847), der Verfasser eines in vier Auflagen anonym erschienenen umfangreichen Traktats zum Jus Publieum Eeclesiasticum. Im Gegensatz zu den Institutiones Juris Publici Ecclesiastici Soglias hat die Darstellung Vittadinis jedoch keinen erkennbaren Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaft des Jus Publicum Ecclesiasticum ausgeübt. Das Werk Vittadinis erschien in 1. Aufl. unter dem Titel "Analisi deI Diritto Pubblico Ecclesiastico" 1824 in Lugano; die 2. Aufl., hrsg. von F. Bassi, jedoch ohne den Namen des Verfassers, 1829 ebenfalls in Lugano. Die 3. Aufl. erschien 1844 in Lugano unter dem Titel "Saggio elementare di Diritto Pubblico Ecclesiastico"; die 4. Aufl. gab Aloisio BaTbato 1848 in Neapel unter demselben Titel und versehen mit Anmerkungen, jedoch ohne Nennung des Namens des Verfassers heraus. Vgl. hierzu Emilio Fogliasso, Il Ius Publicum Ecelesiasticum e il Concilio Ecumenico Vaticano II, Turin 1968, S. 23 mit Anm. 67, m.w.N. Den Unterschied zwischen dem Jus Canonicum und dem Jus Publicum Ecclesiasticum erblickt Vittadini darin, daß sich das Jus Canonicum mit den bereits erlassenen Kirchengesetzen, d. h. dem geltenden positiven Kirchenrecht, zu befassen habe, während den Gegenstand des Jus Publieum Eec1esiastieum die Befugnisse und Vollmachten der Kirche bilden, und zwar sowohl nach außen gegenüber dem Staat als auch innerkirchlich in der Abgrenzung der Kompetenzen der verschiedenen kirchlichen Ämter (vgl. Vittadini, 3. Aufl., Lugano 1844, Prefazione, S. XI). Ihrer gesamten Anlage nach ist die Arbeit von Vittadini weniger ein kanonistischer, als vielmehr ein soziologisch-ekklesiologischer Traktat, in dem die hierarchisch und monarchisch verfaßte Gesellschaft (soeieta) der Kirche dem als "societa civile" bezeichneten Staat gegenübergestellt wird. Erwähnung verdient ferner die 1826 in Rom erschienene Abhandlung des Kanonisten loachim VentuTa (1792 -1861) "De Jure Publico Ecc1esiastico commentaria". In seiner Abhandlung, die ebenfalls ohne erkennbaren Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaft des römischen Jus Publicum Ecclesiasticum geblieben ist, betont VentuTa mit besonderem Nachdruck gegenüber der im übrigen Europa einsetzenden konstitutionellen Bewegung die monarchische und hierarchische Verfassung der katholischen Kirche. VentuTa war der letzte Inhaber des von Papst Leo XII. im Jahre 1824 am Archigymnasium Romanum, der Universität des Kirchenstaates, errichteten Lehrstuhls des Jus Publieum Ecc1esiasticum. Vgl. hierzu Felix Cavagnis, Institutiones Iuris Publici Ecc1esiastici, 4. Aufl., Bd. 1, Rom 1906, S. XVI.

IH. Die römische Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum

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Rechts. Deshalb nennt er im Vorwort seiner "Institutiones" das Jus Publicum Ecclesiasticum den "dogmatischen Teil des kanonischen Rechts" ("pars dogmatica Juris Canonici")'Z, d. h. diejenige Disziplin der Kanonistik, die die Erkenntnis des Kirchenrechts in seiner maßgebenden Bedeutung und in seinem systematischen Zusammenhang mit den übrigen theologischen Disziplinen vermitteltes. In seinem Kampf gegen den von vielen Kanonisten der damaligen Zeit erhobenen Anspruch auf Alleinherrschaft des "ordo Decretalium" begründet SogZia die Notwendigkeit einer Dichotomie des Kirchenrechts in das Jus Ecclesiasticum PubZicum und das Jus Ecclesiasticum Privatum nach dem Vorbild der deutschen Kirchenrechtslehrer der Aufklärungszeit nicht primär mit theologischen Argumenten, sondern soziologisch aus der hoheitlichen Organisations- und der Verbandsstruktur der Kirche. Die Einteilung des Kirchenrechts in Öffentliches Recht und ein korrespondierendes Privatrecht ergibt sich für SogZia, ähnlich wie im Staatsrecht, zwangsläufig aus dem Wesen der Kirche als eines gesellschaftlichen Verbandes. Da die Kirche einen gesellschaftlichen Verband darstelle und, ebenso wie alle übrigen gesellschaftlichen Verbände, eine Regierung und ein Volk voraussetze, umfasse der Bereich des Öffentlichen Rechts die Summe aller jener Gesetze, durch die die Rechte und Pflichten dieses auf göttlicher Stiftung beruhenden gesellschaftlichen Verbandes als solchen und seiner Amtsträger bestimmt werden. Das Privatrecht hingegen sei der Inbegriff aller Gesetze, die die Rechte und Pflichten der Einzelperson regeln64•

Auch mit den Argumenten, die im Sinne der traditionellen Kanonistik gegen eine Dichotomie des kanonischen Rechts in Öffentliches Recht und Privatrecht vorgetragen wurden, setzt sich SogZia eingehend auseinander. Als Vertreter dieser älteren Richtung nennt er den bedeutenden und in der Barockzeit berühmten Kirchenrechtslehrer Franz Xaver Zeck (1692 - 1772)611, den letzten großen Kanonisten der Universität Ingolstadt. Im Einleitungsband seines großen Kommentarwerks zum Corpus Iuris Canonici nach der Ordnung der Dekretalen Papst Gre8!

Soglia, ebd.

Zur Bedeutung der Dogmatik nach katholischem Glaubensverständnis und innerhalb der katholischen Theologie von Karl Rahner, Art. "Dogmatik", in: LThK, 2. Aufl., Bd. 3, Freiburg/Br. 1959, Sp. 446 ff. " "eum enim Ecclesia societas sit, quae instar aliarum societatum Magistratu et Populo constat, hinc Jus Publicum complectitur eas leges, quibus divinae hujus societatis, et eorum qui in ea potestatem gerunt, jura et officia determinantur; Jus vero Privatum üs legibus continetur, quae jura et officia Privatorum definiunt." Vgl. Soglia, Institutiones, 4. Aufl. (Anm. 2), Praefatio, S.V. es über Zech vgl. bei Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. IHIl, 18

S.179.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

gors IX. "Praecognita Juris Canonici ad Germaniae catholicae principia et usum accomodata"66 hatte sich Zech aus sachimmanenten Gründen, vor allem wegen des engen inneren Zusammenhangs der verschiedenen Materien des kanonischen Rechts, gegen eine Trennung des Kirchenrechts in Öffentliches Recht und Privatrecht ausgesprochen und zusammenfassend erklärt, daß er keinen zwingenden Grund sehe, in seinen Vorlesungen in der Darlegung des Stoffes von der bisherigen Praxis abzugehen. Soglia, dessen "Institutiones" auch von Schulte als "ein brauchbares Buch und nicht rücksichtslos curialistisch"67 bezeichnet werden, läßt die Frage letztlich offen, warum die von Zech und seinen Anhängern verteidigte traditionelle Praxis aufgegeben wurde und sich die Trennung des Kirchenrechts in Jus Publicum und Jus Privatum in Deutschland nahezu ausschließlich durchgesetzt hat. Soglia hält es durchaus für möglich, daß lediglich der menschliche Drang nach Neuerung und Veränderung den Ausschlag gegeben habe, bekennt sich aber persönlich zu der überzeugung, daß die neue Methode bessere Voraussetzungen für ein leichteres und umfassenderes Studium der Gebiete des Jus Publicum Ecc1esiasticum biete als der herkömmliche "ordo Decretalium". Zur Rechtfertigung seiner Option für die Dichotomie in Öffentliches Recht und Privatrecht im Bereich der Kanonistik beruft er sich schließlich auch auf die im Kirchenstaat damals unbestrittene Autorität Zallingers 68 • Es liegt auf der Hand, daß Soglia und sämtliche römischen Kanonisten, ebenso wie auch Zallinger, die Kirche bzw. die "Kirchengesellschaft" (societas ecclesiastica) nicht als einen freien Zusammenschluß der Gläubigen im Sinne eines Vereins verstehen, sondern als eine Gemeinschaft, die ihren Ursprung in Gott hat, der die Kirche als solche gewollt hat. Daraus leiteten sie die bekannten Eigenschaften der Kirche und ihre hierarchische Struktur ab69• Der Kirchenbegriff Soglias und der römischen Kanonisten unterscheidet sich dadurch wesentlich von dem von ihm nachdrücklich abgelehnten Kirchenverständnis derjeni1. Auf!. Ingolstadt 1749; 2. Auf!. Ingolstadt 1766. Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. IIII1, S. 540. 18 Soglia, Institutiones, 4. Auf!. (Anm. 2), Praefatio, S. VI; über Zallinger vgl. diese Arbeit, oben II 4 fund III 3. über Zallinger vgl. ferner Neumann, Die Kirche und die kirchliche Gewalt (Anm. 29), S. 11, 26, 44 f. 88 Jakob Anton Zallinger, Institutionum Juris Naturalis et Ecclesiastici Publici libri V, Augsburg 1784, S. 629 f. (= Liber V., § CCCXVII): "Origo Ecclesiae vel societatis ecclesiasticae non in natura quaerenda est, nec pectis hominum, nec legibus principum politicorum; sed tota est divina, et ex consiliis divinae sapientiae ac bonitatis pendet, quanta quanta est." über den Begriff der Kirche bei Zallinger vgl. auch Neumann, Die Kirche und die kirchliche Gewalt (Anm. 29), S. 44 f. über den hierarchischen Charakter der Kirche auf Grund der übertragung der Leitungsgewalt der Kirche auf Petrus und die Apostel vgl. Soglia, Institutiones, 4. Auf!. (Anm. 2), Bd. 2, S. 11. 88

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II!. Die römische Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum

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gen evangelischen Juristen, die nach den Vorstellungen des aus dem Sozialvertrag entwickelten Kollegialsystems 70 die Kirche als einen freien Zusammenschluß der Gläubigen im Sinne eines Vereins verstanden haben und den Geltungsgrund des Kirchenrechts in den Gesetzen der weltlichen Herrschaft erblickten, jedenfalls soweit diese Gesetze Materien zum Gegenstand hatten, die außerhalb des Bereichs von Dogma und Kultus lagen71 • Beim Tode Sog lias im Jahre 1856 war die Dichotomie in Jus Publicum Ecclesiasticum und Jus Privatum im Bereich des kanonischen Rechts bei den römischen Kanonisten und darüber hinaus in ganz Italien weithin anerkannt und üblich. Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschien in Rom eine große Anzahl von Lehrbüchern des Jus Publicum Ecclesiasticum. Das hohe Ansehen, das diese neue Disziplin des kanonischen Rechts, vor allem auch bei den Päpsten, in verhältnismäßig kurzer Zeit gewinnen konnte, findet seine Erklärung vor allem darin, daß der moderne und systematische Traktat des Jus Publicum Ecclesiasticum in besonderem Maße geeignet war, Antworten auf aktuelle und akute Fragen, die sich auf dem Gebiete des Verhältnisses von Kirche und Staat und der Kirchenpolitik ergaben, zu erarbeiten und Lösungen für die Probleme anzubieten, denen sich die Kirche auf dem Gebiete der Theologie und des Rechts in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Erscheinungsformen des Liberalismus und mit dem übersteigerten nationalstaatlichen Denken der damaligen Zeit gegenübersah. Infolge der Besetzung Roms durch die Truppen des Königreichs Sardinien am 20. 9. 1870 und der Annexion des Kirchenstaats durch das Königreich Italien fiel die Universität Rom, die sog. Sapienza, an den italienischen Staat. Dies bedeutete das Ende des Lehrstuhls für Jus Publicum Ecclesiasticum, der an dieser Universität im Jahre 1824 errichtet worden war. Papst Leo XIII. (1878 -1903), der sich selbst zeit seines Lebens intensiv mit Fragen des Verhältnisses von Kirche und Staat befaßt hat, errichtete deshalb in Fortführung der an der Universität Rom bestehenden Tradition des Jus Publicum Ecclesiasticum am Seminarium Romanum, dem Priesterseminar für die Stadt Rom, zu 70 Der Grundthese des Kollegialsystems der evangelischen Kirchenjuristen der Aufklärungszeit, daß die Kirche eine "societas aequalis" auf der Grundlage eines freien Zusammenschlusses sei, die das ihr zustehende Gesetzgebungsrecht und ihre Jurisdiktionsgewalt auf den jeweiligen Landesherrn übertragen habe, setzt Soglia die katholische Auffassung entgegen, nach der die Kirche eine hierarchisch strukturierte "societas inaequalis" ist, bei der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung nicht den jeweiligen staatlichen Machthabern, sondern den von Christus eingesetzten Trägern, dem Papst und den Bischöfen, zustehen. Vgl. Soglia, Institutiones, 4. Aufl. (Anm. 2), Bd. 2, S. 6 f., 9, 29 ff., 37 f. 71 Vgl. dazu im einzelnen in dieser Arbeit die Ausführungen in Kapitel 2.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

Beginn des Studienjahres 1880/1881 einen neuen Lehrstuhl für das Fach Jus Publicum Ecclesiasticum. Die bei dieser Gelegenheit geschaffene Professur wurde dem fähigen Kanonisten und späteren Kardinal Felix Cavagnis übertragen71• Auch die am 7. März 1889 von Papst Leo XIII. bestätigte Grundordnung der Katholischen Universität Washington sah neben der Errichtung von Lehrstühlen für das Studium des kanonischen Rechts nach dem ordo Decretalium, der sog. schola textus, die Errichtung eines Lehrstuhls für das Fach Jus Publicum Ecclesiasticum vor73• 4. Die Bauptverlreter des Jus PubUcum Eccleslasticum In der r6mlschen Kanonlsiik

Nach dem Durchbruch, den das Erscheinen der von den Päpsten Gregor XVI. (1831 - 1846) und Pius IX. (1846 - 1878) mit besonderen Anerkennungsschreiben bedachten "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici" von Kardinal Johannes Soglia auf dem Gebiete des kanonischen Rechts für Rom und Italien bedeutet hat, erschienen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zahlreiche Lehrbücher zu diesem neuen Zweig des katholischen Kirchenrechts. Die meisten von ihnen tragen den gleichlautenden Titel "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici". Nur wenige von ihnen zeichnen sich in ihrer Anlage und Gedankenführung durch eine besondere Originalität aus. Die Gleichförmigkeit des Aufbaus, der Argumentation und der Ergebnisse dieser Lehrbücher, die ausnahmslos für den akademischen Unterricht an den römischen Hochschulen und Instituten verfaßt wurden, kann, ebenso wie dies auch bei den Lehrbüchern anderer Wissenschaften der Fall ist, nicht übersehen werden. Im folgenden sollen die bedeutendsten Repräsentanten der einzelnen Entwicklungsphasen des Jus Publicum Ecclesiasticum bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil mit ihren wichtigsten und bekanntesten Publikationen vorgestellt werden74• 72 Über die Errichtung dieses Lehrstuhls schreibt Kardinal Felix Cavagnis, Institutiones Iuris Publici Ecclesiastici. 4. Aufl., Rom 1906, Bd. 1, Praefatio, S. VII: "Gloriosae memoriae Leo PP. XIII, ut clericorum Institutio novis Ecclesiae necessitatibus apprime responderet, anno scholastico 1880 - 81, cathedram iuris publici ecclesiastici in suo pontificio Seminario romane erexit, eam facultati legali adscripsit et mihi concredidit." 73 Die Bestätigung der Grundordnung der Katholischen Universität Washington ist enthalten in einem Schreiben Papst Leos XIII. an Kardinal James Gibbons von Baltimore und die nordamerikanischen Bischöfe. Abgedr. in: ASS 21 (1888/1889), S. 518 und, in: Leonis XIII. Pontificis Maximi Acta, Bd. 9 (1890), S. 71; ferner, in: ArchkathKR, Bd. 65 (1891), S. 38 ff. Über das Studium des Kirchenrechts wird in dieser Grundordnung bestimmt: "Quoad jus canonicum, erigentur cathedrae institutionum ac textus, nec non juris publici ecclesiastici; totum vero studium tribus saltem annis absolvetur." 7~ Ausführliche Verzeichnisse der Gesamtliteratur zum Jus Publicum Ecclesiasticum finden sich vor allem bei Cavagnis, Institutiones, 4. Auf!.,

111. Die römische Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum

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a) Tommaso MicheIe Salzano. Der neuen, von ZallingeT und Soglia in Rom zum Siege geführten Richtung folgt in seiner systematischen Darbietung der Materien des kanonischen Rechts der Dominikaner und spätere Titularerzbischof von Edessa Tommaso MicheIe Salzano (1807 bis 1890). Sein ausführlich mit Quellenangaben belegtes Hauptwerk "Lezioni di diritto eanonieo pubblieo e privato eonsiderato in se stesso e seeondo l'attual polizia deI Regno delle due Sieilie"75, ein weitverbreitetes Lehrbuch, gliedert er in vier Bücher. Im ersten Buch behandelt Salzano die Grundzüge des kirchlichen Verfassungsrechts und die Rechtsquellenlehre, d. h. das Jus Publieum Eeelesiastieum in dem hier dargestellten Sinne, im zweiten Buch das Personenrecht, im dritten Buch das Sachen- mit dem Sakramenten- und dem Kirchenvermögensrecht, im vierten Buch das Prozeß- und Strafrecht. Zahlreiche päpstliche und andere kirchliche Dokumente, die sich auf das Staatskirchenrecht von Neapel und Sizilien beziehen, sind dem Buche, das bei jeder seiner vielen Neuauflagen immer wieder auf den neuesten Stand gebracht wurde, im Anhang beigegeben. b) Camillo TaTquini. Die weiteste Verbreitung und die größte Auflagenzahl aller Lehrbücher, die jemals zum Jus Publieum Eec1esiastieum verfaßt wurden, erreichte der in prägnanter Kürze unter dem Titel "Iuris Eeclesiastici Publici Institutiones" verfaßte Leitfaden des bekannten Kanonisten und späteren Kardinals Camillo Tarquini (1810 bis 1874). TaTquini, der dem Jesuitenorden angehörte, unterrichtete von 1850 -1873 am Collegio Romano, der Hochschule des Jesuitenordens, der heutigen Pontifieia Universita Gregoriana, das Fach Jus Publieum Eeclesiastieum. Sein nur etwa 120 Seiten umfassendes Kompendium, das als Handreichung für seine Hörer gedacht war, erschien erstmals 1862. Lange nach dem Tode des Autors, im Jahre 1911, erschien die 22. und letzte Auflage dieses Werkes78. Bd. 1 (Anm. 72), Praefatio, S. X ff.; Ottaviani, Alfredo, Institutiones luris Publici Ecclesiastiei. Ed. 4., emendata et aucta adiuvante Iosepho Damizia, Bd. 1, Rom 1958, S. 18; Bd. 2, Rom 1960; Felix M. Cappello, Summa luris Publici Ecclesiastici, 6. Aufl., Rom 1954, S. 375 ff.; Matthaeus Conte a Coronata, Institutiones luris Canonici. Introductio: lus Publicum Ecclesiastieum. 4. Aufl., Turin - Rom 1960, Praefatio, S. IX ff. (bester überblick). 75 4 Bände. 1. Aufl. Neapel 1845; hier zitiert nach der 10. Aufl., Neapel 1859; 13. (letzte) Aufl. Neapel 1875; vgl. auch Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. 11111, S. 545; ferner R. Naz, Artikel "Salzano (Thomas de)", in: DDC, Bd. 7 (1965), Sp. 863. 78 Camillus Tarquini, luris Ecclesiastici Publici Institutiones. 1. Aufl. Rom 1862, hier zitiert nach der 17. Aufl., Rom 1898. Die Angabe bei Ottaviani I Damizia, Institutiones, 4. Aufl., Bd. 1 (Anm. 74), S. 24, daß die 1906 in Rom erschienene 20. Aufl. die letzte Auflage dieses Werkes von Tarquini darstelle, ist unrichtig. Das Buch von Tarquini ist auch französisch erschienen: vgl. R. Naz, Artikel "Tarquini (Camille)", in: DDC, Bd. 7 (1965), Sp. 1166. Nach dem Tode Tarquinis wurde der Text des Buches nicht mehr verändert. Die

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

In seiner Argumentation unterscheidet sich Tarquini von Soglia dadurch, daß er im Anschluß an den Ethiker Luigi Taparelli d' Azeglio (1793 - 1862)17 auf die Kirche den der aristotelisch-thomistischen Philosophie entlehnten Begriff "societas perfecta" übertrug und zur theoretischen Begründung der Eigenrechtsmacht der Kirche und ihrer Unabhängigkeit vom Staate nicht nur dem Staat, sondern auch der Kirche den Charakter einer societas perfecta zuerkannte78• Auch nach dem Kirchenverständnis Soglias besaß die Kirche alle wesentlichen Elemente einer societas perfecta, der formelle Begriff "societas perfecta" in Bezug auf die Kirche findet jedoch in dem Lehrbuch von Soglia keine Verwendung 79• Ausgehend von der Hierarchie der Zwecke der verschiedenen in der Welt existierenden Verbandsformen und Gemeinschaften (societates) gelangt Tarquini zu einer überordnung der geistlichen Gemeinschaft, d. h. der Kirche, über die weltliche Gemeinschaft, d. h. den Staat. Auf Grund dieser Prämissen vertritt Tarquini, soweit feststellbar, als einziger unter den bedeutenden Kanonisten des 19. Jahrhunderts 80, noch die in früher Zeit in der Kanonistik herrschende Auffassung, daß die Konkordate ihrer Rechtsnatur nach nicht zweiseitige völkerrechtliche Verträge darstellen, sondern einseitig gewährte Privilegien des Heiligen Stuhls81 • An der Dichotomie des kanonischen Rechts in Jus Publicum und Jus Privatum hält Tarquini mit aller Entschiedenheit fest 82• zahlreichen nach dem Tode des Autors erschienenen Ausgaben sind im Text identisch. In ihrer gesamten Anlage und Argumentation stimmt mit dem Buch von Tarquini weithin überein die, ebenso wie auch das Buch von Tarquini, mit spärlichen Literaturangaben ausgestattete, "ad usum privatum auditorum Universitatis Gregorianae" verfaßte Darstellung des Jus Publicum Ecclesiasticum von Iosephus Biederlack S. I., Institutiones Iuris Ecclesiastici de fundamentali Ecclesiae constitutione (Ius Ecclesiasticum Publicum). Rom 1906. 77 über Taparelli d' Azeglio vgl. in dieser Arbeit unten 3. Kap. III. 78 Tarquini, Institutiones (Anm. 76), S. 30 ff. 79 Der Begriff "societas perfecta" für die Kirche findet sich jedoch in den maßgeblich von Soglia mitverfaßten 100 "Theses ex Jure Publico Ecclesiastico" vom Jahre 1826. Vgl. dazu in dieser Arbeit, oben III 2 und im 3. Kapitel II 5. 80 über den Stand der Meinungen zu dieser Frage in der römischen Kanonistik im 19. Jahrhundert vgl. Wernz, Ius Decretalium, Bd. 1 (Anm. 15), S. 231 ff.; über Tarquini s. ebd. S. 217; über die Auffassungen der Gegenwart vgl. Ottaviani / Damizia, Institutiones Iuris Publici Ecclesiastici, 4. Aufl. (Anm. 74), Bd. 2, S. 299 ff.; Giovanni Lajolo, I Concordati moderni. La natura giuridica internazionale dei Concordati aHa luce di recente prassi diplomatica. Brescia 1968, bes. S. 3 ff., 219 ff. 81 Tarquini, Institutiones (Anm. 76), 17. Aufl., Rom 1898, S. 73 f.; zum Konkordatsverständnis Tarquinis im Sinne der früheren "Privilegientheorie" vgl. die Dokumentation "Zur Frage über den rechtlichen Charakter der Concordate", in: ArchkathKR, Bd. 38 (1877), S. 56 ff., wo die Auffassung Tarquinis ausführlich wiedergegeben ist.

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Dem Engagement Tarquinis, der bei Papst Pius IX. in hohem Ansehen stand, ist es vor allem zuzuschreiben, daß der Begriff "societas perfecta" in Bezug auf die Kirche als Kurzformel für die originäre, d. h. nicht vom Staate abgeleitete Eigenrechtsmacht der Kirche und das Selbstbestimmungsrecht der Kirche in ihren eigenen Angelegenheiten binnen kurzer Zeit in die römische Kanonistik Eingang fand. Bei Tarquini zeigen sich aber auch bereits mit besonderer Schärfe und Deutlichkeit die rechtlichen Verengungen des Kirchenbegriffs und des Kirchenverständnisses, die durch den nahezu ausschließlichen und einseitigen Gebrauch des Rechtsbegriffs "societas perfecta" für die Kirche im Bereich des Jus Publicum Ecclesiasticum verursacht wurden. Erst die spätere theologische Reflexion und die Entwicklung des 20. Jahrhunderts, in der die Kirche wieder stärker auch als der Geheimnisvolle Leib Christi (Corpus Christi Mysticum) und als das Volk Gottes (Populus Dei) verstanden und akzentuiert wurde, brachten einen Ausgleich dieser Einseitigkeiten83• c) Simon Aichner. Dem Kreis der römischen Kanonisten ist auch der Brixener Fürstbischof Simon Aichner (1816 - 1911) zuzurechnen, dessen sich durch besondere Gründlichkeit auszeichnendes Compendium Juris Ecclesiastici84 das Kirchenrecht unter besonderer Berücksichtigung des Staatskirchenrechts der österreichisch-ungarischen Monarchie behandelt. Aichner steht in scharfer Ablehnung des bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Österreich herrschenden josephinistischen und febronianistischen Systems und stimmt in sämtlichen Fragen von grunds ätz82 "Hinc duplex quoque in unaquaque societate systema legum distingui necesse est, alterum nimirum, quo ipsius societatis constitutio determinatur, quod proinde audit ius publicum; alterum vero, quo leges continentur, quibus eiusdem societatis membra diriguntur ad finem in ea propositum assequendum, quod propterea ius privatum appellatur. Ergo etiam in Ecclesia Christi duplex ius recte distinguitur, Ecclesiasticum publicum, et Ecclesiasticum privatum." Vgl. Tarquini, Institutiones (Anm. 76), S. 1. "Inde est, quod ius ecclesiasticum publicum duobus complectimur libris, in quorum prima res sit de Ecclesiae potestate in se spectata, in altero de eiusdem potestatis subiecto." Vgl. Tarquini, Institutiones (Anm. 76), S. 2. 83 über Tarquini s. auch Schulte, Geschichte der Quellen (Anm. 2), Bd. IH/1, S. 542, der - entsprechend seiner bekannten romfeindlichen GrundeinsteIlung - das Werk des von ihm als extremer Kurialist betrachteten Tarquini negativ und abwertend beurteilt und es als "ein sehr oberflächliches, mit rein scholastischen Deductionen den extrem kurialen Standpunkt durchführendes Buch" bezeichnet; andererseits nennt er aber Tarquini "einen scharfen und im scholastischen Deduzieren gewandten Kopf". Neben seiner Lehrtätigkeit war Tarquini lange Zeit hindurch Konsultor bei mehreren römischen Kongregationen. 8' 1. Aufl. Brixen 1862; 10. Aufl. Brixen 1905; 11. Aufl., hrsg. von Theodor Friedl, Brixen 1911. Aichner war seit 1854 Professor des Kirchenrechts am Priesterseminar in Brixen, später Domkapitular und Seminarregens und seit 1882 Weihbischof für Vorarlberg in Feldkirch. Am 26. 11. 1884 wurde er als Fürstbischof von Brixen inthronisiert.

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licher Bedeutung mit den Anschauungen der römischen Kanonisten voll überein. Dies zeigt mit eindrucksvoller Deutlichkeit die Literaturübersicht in der ersten Auflage seines Kompendiums, in der er die Gruppe der josephinistisch denkenden deutschen und österreichischen Kanonisten, als deren Hauptvertreter er ausdrücklich Joseph Valentin Eybel (1741 -1805), Franz Stephan Rautenstrauch (1734 - 1785), Joseph J ohann N epomuk Pehem (1741 - 1799), Georg Rechberger (1758 - 1808) und Joseph Heltert (1791-1847) nennt, der von ihm selbst vertretenen "neuen Richtung" gegenüberstellt, die für die Unabhängigkeit der Kirche in ihren eigenen Angelegenheiten eintritt8s • Das umfangreiche Kompendium Aichners gehörte, da es in lateinischer Sprache abgefaßt und daher auch allen römischen Kanonisten mühelos verständlich war, zu den auch in Rom und in Italien meistzitierten Werken der damaligen Kanonistik. Aichner gliedert sein Kompendium in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil. Der zwei Bücher umfassende Allgemeine Teil behandelt im ersten Buch die Rechtsquellenlehre und im zweiten Buch neben dem kirchlichen Verfassungsrecht unter der Bezeichnung "Äußeres Kirchenrecht" die Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat und die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und den anderen Religionsgemeinschaften. Der Besondere Teil, von Aichner als "Inneres Kirchenrecht" bezeichnet, ist ebenfalls in zwei Bücher gegliedert und behandelt das Personen-, Sachen- und Strafrecht. Das Werk schließt mit einem kurzen überblick über die Grundsätze des kirchlichen Vermögensverwaltungsrechts. d) Ferdinand Joseph Moulart. Auch die umfangreiche Darstellung des Löwener Kanonisten Ferdinand Joseph Moulart (1832 -1904), L'eglise et l'etat, ou les deux Puissances, leur origine, leurs rapports, leurs droits et leurs limites88, befindet sich in seiner Anlage und Argumentation völlig im Einklang mit den Grundvorstellungen der römischen Kanonisten der damaligen Zeit über das Verhältnis von Kirche und Staat und kann insofern der römischen Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum zugeordnet werden. Moulart lehrt die "Subordination" des Staates unter die Kirche in geistlichen Angelegenheiten. Für den Bereich der Kirchenpolitik vertritt er die traditionelle Auffassung von der potestas indirecta der Kirche87• e) Felix Cavagnis. Als einer der "Klassiker" des römischen Jus Publicum Ecclesiasticum im Zeitraum vom Beginn des 19. Jahrhunderts es Compendium, 1 Aufl. (Anm. 84), S. 18. 1. Aufl. Louvain 1879; 2. Aufl. 1880. Deutsche Übersetzung von HeTman Hauben unter dem Titel "Kirche und Staat oder die beiden Gewalten, ihr Ursprung, ihre Beziehungen, ihre Rechte und ihre Grenzen", Mainz 1881 (Neudruck Aalen 1974). 87 S. 168 ff. der deutschen Übersetzung. 81

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bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil gilt mit Recht der spätere Kurienkardinal FeZix Cavagnis (1841 - 1906). Der Höhepunkt seiner glanzvollen Wirksamkeit fällt fast ganz in das lange Pontifikat Papst Leos XIII. (1878 -1903). Die "Institutiones Juris Publici Ecclesiastici" von Cavagnis88 bildeten lange Zeit hindurch das angesehenste wissenschaftliche Standardwerk dieser Disziplin. Die thematischen Aussagen, die in den Enzykliken "Diuturnum illud" von 1881 und "Immortale Dei" von 1885 und in den übrigen Verlautbarungen Papst Leos XIII. über das Verhältnis von Kirche und Staat enthalten sind, hat Cavagnis in seinen in vier Bücher gegliederten "Institutiones Iuris Publici Ecclesiastici" erläutert und juristisch und ekklesiologisch tiefer begründet. Bei Cavagnis erreichte die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der römischen Kanonistik rezipierte, ursprünglich von der deutschen Kirchenrechtswissenschaft entwickelte Leitvorstellung von der Kirche als einer rechtlich vom Staate unabhängigen und mit einer originären Rechtsmacht ausgerüsteten "societas perfecta" ihre volle Entfaltung und zugleich ihren Höhepunkt. Ausgehend von der Kirche als Stiftung Christi entwickelt Cavagnis im 1. Buch seiner "Institutiones" aus dem Begriff der "vollkommenen Gesellschaft" (societas perfecta), wie er beim Staat verwirklicht ist, in Abgrenzung und als Gegenüber zum Staat, dessen höchste Perfektion in seiner inneren und äußeren Souveränität gesehen wird, auch von der Kirche die Vorstellung und den Begriff einer "societas perfecta". Auf Grund ihrer originären, nicht auf staatlicher Verleihung beruhenden Eigenrechtsmacht tritt die Kirche als rechtliche Institution dem Staat auf gleicher Ebene gegenüber. Der Ausgangspunkt und die Basis der Argumentation, deren sich Cavagnis bei seinen Deduktionen bedient, sind sozialphilosophisch und naturrechtlich. Die konstitutiven Elemente, die nach Aristoteles den Charakter des Staates als einer "vollkommenen Gesellschaft" ausmachen, werden von Cavagnis auch auf die Kirche übertragen. Soweit die Kirche hierbei wesentlich als "Gesellschaft", d. h. als menschlicher Zusammenschluß, gesehen wird, ist diese Vorstellung vom rationalistischen Naturrechtsdenken der Aufklärungszeit beeinflußt. Ungeachtet ihrer gleichen rechtlich-institutionellen Struktur als "societates perfectae" unterscheiden sich Kirche und Staat jedoch wesentlich durch ihre verschiedene Entstehung und ihre unter88 Cavagnis, Institutiones (Anm. 72), 1. Aufl. Rom 1882; 4. Aufl. Rom 1906. Cavagnis war seit 1880 Professor des Jus Publicum Ecclesiasticum am Semi-

narium Romanum und Konsultor mehrerer römischer Kongregationen; 1893 wurde er zum Sekretär der Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten ernannt, 1901 Kardinal. Vgl. auch J. RaffaUi, Artikel "Cavagnis (Felix)", in: DDC, Bd. 3 (1942), Sp. 124 f. Kardinal Ottaviani, Institutiones, 4. Aufl., Bd. 1 (Anm. 74), S. 22 bezeichnet das Werk von Cavagnis als "opus princeps" des Jus Publicum Ecclesiasticum. 3 List!

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

schiedliche AufgabensteIlung. Im 2. Buch der "Institutiones" behandelt Cavagnis das Personenrecht der katholischen Kirche, d. h. vor allem ihre hierarchische Struktur und ihre Befugnis, unabhängig vom Staat ohne dessen Einmischung ihre Ämter frei zu verleihen. Das 3. und 4. Buch behandelt Einzelfragen des Verhältnisses von Kirche und Staat, vor allem die im 18. und 19. Jahrhundert die katholische Kirche bewegenden Probleme des königlichen Plazets ("Placetum regium"), ferner des königlichen Nominationsrechts der Bischöfe, der "appellatio ab abusu" sowie des königlichen Patronats und schließlich das umfangreiche Gebiet des Schul- und Erziehungswesens und das Verlöbnis- und Eherecht. In wohltuendem Gegensatz zu der großen Mehrheit der Autoren der römischen Lehrbücher des Jus Publicum Ecclesiasticum berücksichtigt Cavagnis im zweiten Teil seines umfangreichen Werkes in eingehender Weise auch kirchengeschichtliche Fragestellungen und Ereignisse. Im Vorwort zu seinen "Institutiones" erklärt er ausdrücklich, daß er sich der Geschichtlichkeit und der Zeitbedingtheit vieler konkreter Erscheinungen und rechtlicher Bestimmungen auf dem Gebiete von Kirche und Staat durchaus bewußt sei. Es gehe ihm, wie er betont, bei der Behandlung historischer Fragen vor allem darum, frühere Rechtsinstitute im Verhältnis von Kirche und Staat aus ihrer jeweiligen Zeit heraus zu verstehen und ihren Sinngehalt, der ihnen im Interesse und zum Nutzen der Kirche zukam, darzustellen. Auf Grund seiner Einsicht in die geschichtlichen Bedingtheiten jeder Ausgestaltung eines konkreten Kirche-Staat-Verhältnisses ist Cavagnis, wie er ausdrücklich hervorhebt, immer bestrebt, in seinem Lehrbuch zwischen den Mitteln und Einrichtungen zu unterscheiden, die für den Auftrag der Kirche und ihre Zweckerreichung unverzichtbar sind, und anderen, zeitbedingten Formen, die der Kirche zwar förderlich und nützlich sein können, die aber mit ihrem Wesen nicht notwendig gegeben und Ausdruck der jeweiligen geschichtlichen Epoche und ihres Zeitgeistes sind89.

f) Adolfo Giobbio. Nicht nur die Grundlagen und die Doktrin des Jus Publicum Ecclesiasticum, wie sie im Lehrbuch von Cavagnis enthalten sind, sondern auch deren konkrete Anwendung in der Praxis behandelt der römische Kirchenrechtslehrer AdolfoGiobbio (1868 bis 1932) in seinem dreibändigen Werk "Lezioni di Diplomazia Ecclesiastica"90. Dieses Werk verbindet den Charakter eines Lehrbuchs des Jus Publicum Ecclesiasticum mit detaillierten Anweisungen für den Dienst der Apostolischen Nuntien und ihrer Mitarbeiter in den Apostolischen Nuntiaturen und der übrigen Gesandten des Heiligen Stuhls. Cavagnis, Institutiones, 4. Aufl. (Anm. 72), Bd. 1, Praefatio, S. IX. Erschienen Rom 1899 -1904. Giobbio war, ebenso wie Cavagnis, Professor des Jus Publicum Ecclesiasticum am Pontificio Seminario Romano. 89

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IH. Die römische Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum

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g) Francesco Solieri und Dante Munerati. Dem üblichen Einteilungsschema der Lehrbücher des Jus Publicum Ecclesiasticum folgen auch Francesco Solieri (t 1928), der als Lehrer des Jus Publicum Ecclesiasticum am Pontificium Institutum utriusque Juris in Rom tätig war, in seinen "Iuris Publici Ecclesiastici elementa"91 und der Salesianer Dante Munerati (1869 - 1942) in seinem ebenfalls weitverbreiteten Lehrbuch "Elementa Iuris Ecclesiastici Publici et Privati"92. h) Sebastiano Sanguineti. Das kanonische Recht wurde in den römischen Lehrbüchern während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allgemein in Jus Publicum und Jus Privatum eingeteilt. Dies zeigt die Tatsache, daß der an der Päpstlichen Universität Gregoriana lehrende Kanonist Sebastiano Sanguineti S. J. (1829 - 1893) der ersten Auflage seines Lehrbuchs, ohne dies in irgendeiner Weise besonders zu rechtfertigen, den Titel gab: "Iuris Ecclesiastici Privati Institutiones ad Decretalium enarrationem ordinatae"93. Im Rahmen dieses Lehrbuchs des kanonischen Privatrechts behandelt Sanguineti neben dem Einleitungsteil mit der Überschrift "Iuris Ecclesiastici Prolegomena", in welchem er die Rechtsquellenlehre und den Begriff des Gesetzes des kanonischen Rechts untersucht, das Personenrecht mit Einschluß des Strafrechts sowie das Sachenrecht, dessen Hauptteil das Sakramentenrecht bildet, und schließlich das Prozeßrecht. Das kirchliche Verfassungsrecht und den Bereich der Beziehungen zwischen Kirche und Staat mit Einschluß des Konkordatsrechts und sämtlichen den Bereich der Öffentlichkeit berührenden Fragen rechnet Sanguineti zum Jus Publicum Ecclesiasticum und klammert diese Gebiete daher folgerichtig aus seiner Darstellung aus. Bezeichnenderweise nicht aus innerer Einsicht oder sachlichen Notwendigkeiten, sondern lediglich aus der Erwägung, damit der unter den deutschen Kanonisten der damaligen Zeit entstandenen virulenten Kontroverse über die Legitimität einer Dichotomie in Öffentliches Recht und Privatrecht im Bereich des kano~ nischen Rechts keine neue Nahrung zu bieten, entschloß sich Sanguineti, wie er im Vorwort der im Jahre 1890 erschienenen zweiten Auflage seines Lehrbuchs ausdrücklich hervorhebt, den Titel seines Buches zu ändern und darin das Wort "Privatrecht" zu streichen. Der gegenüber der Erstauflage inhaltlich nur geringfügig erweiterten zweiten Auflage seines Lehrbuchs gab er deshalb den Titel "Iuris Ecclesiastici Institutiones in usum praelectionum". Zugleich bekannte sich Sanguineti in der Vorrede zur zweiten Auflage seines Lehrbuchs nach wie vor Erschienen Rom 1900. Erschienen Turin 1903. »3 1. Aufl. Rom 1884; 2. Auf!. Rom 1890; Sebastiano Sanguineti S. J. war Professor des kanonischen Rechts an der Pontificia Universita Gregoriana in Rom. 91

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus

Publicum Ecclesiasticum

als entschiedener Anhänger der Dichotomie des kanonischen Rechts in Öffentliches Recht und Privatrecht. Diese Einteilung hält er unter der Voraussetzung für durchaus sinnvoll und glücklich, daß das Jus Publicum das im wesentlichen auf dem ius divinum beruhende "ius constituens", d. h. das Verfassungsrecht der Kirche, das Privatrecht dagegen das von der Kirche durch Rechtsetzungsakte geschaffene "ius constitutum", d. h. das positive Kirchenrecht, behandelt94• i) Matthaeus Conte a Coronata. Der durch sein umfangreiches Kommentarwerk zum Codex luris Canonici bekanntgewordene italienische Kanonist Matthaeus Conte a Coronata hat als Einleitungsband zu seinen Kommentaren auch ein weitverbreitetes, sich in seinem Aufbau und in der Argumentationsweise eng an Cavagnis anschließendes Lehrbuch zum lus Publicum Ecclesiasticum verfaßt96 . Nach dem Vorbild von Simon Aichner unterteilt auch Conte a Coronata das lus Publicum Ecclesiasticum in das lus Publicum Internum, d. h. das kirchliche Verfassungsrecht (perfectio iuridica Ecclesiae Catholicae), und das lus Publicum Externum (relationes Ecclesiam inter et alias societates). In dem mit "Ius Publicum Externum" überschriebenen Abschnitt behandelt Conte a Coronata im ersten Kapitel die Beziehungen der katholischen Kirche zum "katholischen" Staat (ad societatem civilem catholicam), im zweiten Kapitel die Beziehungen der katholischen Kirche zu den nichtkatholischen Staaten (ad societates civiles acatholicas) und im dritten Kapitel die Beziehungen des katholischen Staates zu den nichtkatholischen Religionsgemeinschaften (relationes reipublicae catholicae ad societates religiosas acatholicas)".

k) Felix M. Cappello. Eine ungewöhnliche Ausstrahlung gewann sowohl durch seine Lehrtätigkeit an der Pontificia Universita Gregoriana als auch durch seine zahlreichen Publikationen auf dem Gebiete des lus Publicum Ecclesiasticum der Italiener Felix M. Cappello S. J. (1879 -1962), dessen Lehrbuch "Institutiones luris Publici Ecclesiastici"t7 und ebenso sein mit reichhaltigen Literaturhinweisen versehenes, sorgfältig gearbeitetes und weitverbreitetes Kompendium "Summa luris Publici Ecclesiastici"98 sich in ihrem Aufbau und ihrer Argument4 Sanguineti, Juris Ecclesiastici Institutiones, 2. Aufl. (Anm. 93), Praefatio, S. V f. und S. 28 f. 95 1. Aufl. unter dem Titel "Ius Publicum Ecclesiasticum. Introductio ad Institutiones Canonicas ad usum scholarum", Turin 1924; 4. Aufl. unter dem

Titel "Institutiones luris Canonici ad usum utriusque cleri et scholarum. lntroductio: lus Publicum Ecclesiasticum", Turin - Rom 1960. 9B Conte a COTonata, lus Publicum Ecclesiasticum, 4. Aufl. (Anm. 95), S. 45 ff., 98 ff. 97 1. Aufl. Turin 1907/1908; 2. Aufl. Turin 1913. 98 1. Aufl. Rom 1923; 6. Aufl. Rom 1954.

IH. Die römische Schule des Jus Publieum Eeclesiastieum

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tation deutlich am Vorbild der "Institutiones Iuris Publici Eeelesiastici" von Felix Cavagnis orientieren.

l) Alfredo Ottaviani. Ihren bisher letzten großen Repräsentanten fand die römische Kanonistik auf dem Gebiete des Jus Publieum Eeelesiastieum in der Person des Römers Alfredo Ottaviani (geb. 1890). Im Lebenswerk Ottavianis, der 1953 von Papst Pius XII. zum Kurienkardinal ernannt wurde, fand das auf der Idealvorstellung der Staatskirche und des konfessionellen Glaubensstaates beruhende Jus Publieum Eeclesiastieum in der Form, wie es vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil auf römischem Boden entwickelt worden war, nochmals eine letzte und klassische Zusammenfassung. Ebenso wie Kardinal Felix Cavagnis war auch Kardinal Ottaviani lange Jahre Lehrer des Faches Jus Publieum Eeclesiastieum an der berühmten und für die Entwicklung des Jus Publieum Eeclesiastieum bedeutenden, für die Ausbildung der Kleriker bestimmten Päpstlichen Fakultät beider Rechte, die 1853 von Papst Pius IX. im Gebäude des Athenaeum Pontificii Seminarii Romani, der Hochschule des Priesterseminars für die Diözese Rom, errichtet worden war und nach dem Sitz dieser Hochschule, dem Palazzo delI' Apollinare, den Namen "Athenaeum Juridieum ad S. Apollinaris" erhalten hatte. Unter dem Pontifikat Papst Pius' XI. wurde diese Fakultät, die häufig auch als "Faeultas utriusque iuris ad S. Apollinaris" bezeichnet wurde, zusammen mit den übrigen Studieneinrichtungen des römischen Seminars in den Lateranpalast verlegt. Papst Pius XI. verlieh der Fakultät in der Constitutio Apostoliea "Deus Scientiarum Dominus" vom 24.5.1931, durch die das kirchliche Hochschulwesen an den Universitäten und Theologischen Fakultäten neu geordnet wurde, den Namen "Pontifieium Institutum Utriusque Iuris"99. Durch Papst Johannes XXIII. wurde das Pontifieium Institutum Utriusque Iuris im Zuge der Errichtung der Pontifieia Universitas Lateranensis durch das Motuproprio "Cum inde" vom 17.5. 1959 als Rechtswissenschaftliche Fakultät der Lateranuniversität eingegliedert1oo• In seinen "Institutiones Iuris Publici Eeclesiastici"lOl schließt sich Ottaviani, wie er im Vorwort zu den ersten beiden Auflagen seiner 99 Vgl. AAS 23 (1931), S. 241 (254): "f) In Pontifieio Instituto Utriusque Iuris, fontibus investigatis, iuridico apparatu adhibito atque legibus inter se eollatis, sive in lure eanonieo sive in lure eivili, eum romano turn vigenti, soUda tradatur institutio."; ferner den zugehörigen Kommentar in "Apollinaris", 4. Jg. (1931), S. 386 f., 537 ff. 100 AAS 51 (1959), S. 401 ff.; vgl. zum Ganzen ferner Antonio Piolanti, Artikel "Lateranuniversität, Pontifieia Universitä Lateranense", in: LThK, 2. Aufl., Bd. 6, Freiburg/Br. 1961, Sp. 818 f.; über die Geschichte und die gegenwärtige Struktur der Lateranuniversität vgl. ferner den Artikel "Pontifieia Universitil Lateranense", in: Annuario Pontificio 1978, S. 1519.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

Institutiones ausdrücklich betont, eng an sein großes Vorbild Cavagnis an, dessen Tradition er fortführen will, dessen Sicherheit in der Lehre er bewundert und von dem er erklärt, daß seiner überragenden Gelehrsamkeit und Erfahrung im Lehramt sich schwerlich jemand entziehen könne102 • Ebenso wie Cavagnis schaltet auch Ottaviani seiner Darstellung des Verfassungsrechts der katholischen Kirche und der Beziehungen zwischen Kirche und Staat einen sozialphilosophischen Traktat vor, in dem er eine Gesellschaftslehre im Sinne der aristotelischen Philosophie entwickelt, die Wesensmerkmale des Staates als einer "societas perfecta" darlegt und schließlich diese Wesensmerkmale auch bei der Kirche verwirklicht findet. Besonderes Gewicht legt Ottaviani, der bis zu den ersten Sitzungsperioden des Zweiten Vatikanischen Konzils als der maßgebliche juristische Theoretiker des Heiligen Stuhls in allen Fragen galt, die die Stellung der Kirche zum Staat und ihr öffentliches Wirken betrafen, auf die Behandlung der Konkordate, die er zwar als Ausnahmeregelungen vom geltenden Kirchenrecht und insofern als "Privilegien" bezeichnet, andererseits aber als "im strengen Sinne des Wortes zweiseitige internationale Verträge" versteht und behandelt103 • m) Sylvio Romani, Laurentius R. Sotillo, Franciscus M. Marchesi und Giuseppe Ferrante. Von den Kompendien zum vorkonziliaren Jus Publicum Ecclesiasticum der römischen Schule, die unmittelbar vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil oder während des Konzils erschienen sind, verdient erwähnt zu werden der Traktat "Elementa Iuris 101 2 Bände. 1. Aufl. Rom 1926; 4 .. AufI., besorgt von Josephus Damizia, Rom, Bd. 1 (1958); Bd. 2 (1960). Von Ottaviani existiert ferner unter dem Titel "Compendium iuris Publici Ecclesiastici", 5. Aufl., Rom 1964, eine Kurzausgabe seines Lehrbuchs "Institutiones Iuris Publici Ecclesiastici". 102 Ottaviani, Institutiones, 1. Auf!. (Anm. 101), Praefatio, S. III f. 103 Die Konkordate sind nach Ottaviani, Institutiones, 4. Aufl., Bd. 2 (Anm. 101), S. 259 "veri nominis conventiones". Ottaviani ist daher, im Gegensatz etwa zu Tarquini (vgl. in dieser Arbeit oben Anm. 81 mit zugehörigem Text), nicht den Anhängern der früheren konkordatsrechtlichen "Privilegientheorie" zuzurechnen. In weitgehender inhaltlicher Übereinstimmung mit den Institutiones Ottavianis befindet sich auch das im Jahre 1948 zwar in Bussum (Holland) erschienene, aber uneingeschränkt der "römischen" Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum zuzurechnende Kompendium "Jus Publicum Ecclesiasticum" von Ludovicus Bender O. P. Bender war Professor des kanonischen Rechts am "Angelicum", der Hochschule des Dominikanerordens in Rom. Bender gliedert seine Darstellung des Ius Publicum Ecclesiasticum in drei Teile und behandelt im ersten Teil die "Principia generalia et fundamentalia", d. h. die aristotelisch-thomistische Gesellschaftslehre und den Charakter der Kirche als einer "societas perfecta", im zweiten Teil das "Ius Publicum Ecclesiasticum Internum", das Verfassungsrecht der katholischen Kirche, und im dritten Teil das "Ius Publicum Ecclesiasticum Externum" mit den beiden Unterabschnitten "Relationes inter Ecclesiam et Statum" und "De Concordatis".

IV. Das Jus Publicum Ecclesiasticum als selbständige Disziplin

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Ecclesiastici Fundamentalis in Seminariorum usum" des römischen Kanonisten Sylvio Romani. Diese sozialphilosophische und sozialtheologische Untersuchung behandelt den Gesellschaftscharakter des Staates und der Kirche und die Wesensverschiedenheit der beiden Institutionen, d. h. jenen Teil des Jus Publicum Ecclesiasticum, der in den "Institutiones Iuris Publici Ecclesiastici" von Cavagnis und Ottaviani als philosophische Grundlegung dem eigentlichen Jus Publicum Ecclesiasticum vorgeschaltet istl° 4 • Auch das mit großer Sorgfalt verfaßte "Compendium Iuris Publici Ecclesiastici" des spanischen Kanonisten Laurentius R. Sotillo S. J., der das Fach Jus Publicum Ecclesiasticum an der Päpstlichen Universität Comillas vertreten hat, gleicht in seinem Aufbau und in seiner Argumentationsweise völlig den Lehrbüchern der römischen Schulelos. Gleiches gilt von der "Summula Iuris Publici Ecclesiastici" des italienischen Kanonisten Franciscus M. Marchesi S. J.106 und von der umfangreichen, bereits nach Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils erschienenen "Summa Juris Constitutionalis Ecclesiae" des Kanonisten Giuseppe Ferrante 107 • Dieses mit einem umfangreichen Dokumentenanhang versehene Lehrbuch enthält im Einleitungsteil die "Praenotiones Generales", d. h. die Wesensbestimmung des Faches Jus Publicum Ecclesiasticum und einen kurzen Abriß der Gesellschaftslehre im sozialphilosophischen Sinne, im zweiten Teil das "Jus Constitutionale Internum" und im dritten Teil das "Jus Constitutionale Externum" der Kirche. Den Fragen der Toleranz und der Religionsfreiheit sowie den Konkordaten sind im Anhang besondere Untersuchungen gewidmet. Hierbei verweist das Lehrbuch von Ferrante bereits stark auf die Fragestellungen, die in den Sitzungen des Zweiten Vatikanischen Konzils erörtert wurden. IV. Die Problematik des Jus Publicum Ecclesiasticum als selbständiger Disziplin des kanonischen Rechts 1. Praktisdle Grinde für die Notwendigkeit der Dldlotomie in Jus Publicum und Jus Privatum

Die Frage, ob im kanonischen Recht eine Dichotomie in Öffentliches Recht und Privatrecht in Analogie zum profanen Recht sinnvoll oder gar zulässig ist, wird von den Vertretern der Kanonistik in der Gegen104 Sylvius Romani, Elementa Juris Ecclesiastici Fundamentalis in seminariorum usum. Quarta editio amplior. Rom 1953. 105 Laurentius R. Sotillo, Compendium Iuris Publici Ecclesiastici. 3. Aufl., Santander 1958. lOG Franciscus M. Marchesi, Summula Iuris Publici Ecclesiastici. Editio altera emendata et aucta. Neapel 1960. 107 Josephus Ferrante, Summa Juris Constitutionalis Ecclesiae. Rom 1964.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

wart ebenso unterschiedlich beantwortet wie während des vergangenen Jahrhunderts 108• Die auf dem jeweiligen ideologisch-ekklesiologischen Denkansatz der einzelnen Autoren beruhenden Optionen, Differenzen und Streitpunkte können im Rahmen dieser Untersuchung in ihren Einzelheiten nicht dargestellt werden109 • Eine grundsätzliche, das ekklesiologische Selbstverständnis der katholischen Kirche berührende sachlich-theologische und kirchenrechtliche Bedeutung kommt dieser Kontroverse jedoch nicht zu. Wie die Geschichte der profanen Rechtswissenschaft der Neuzeit ausweist, hat die methodische Scheidung der Rechtsgebiete in Jus Publicum und Jus Privatum ihren tieferen Grund nicht in der Beliebigkeit akademischen Theoretisierens und Systematisierens, sondern in der als zwingend erkannten Notwendigkeit, die sich immer mehr verdichtende und steigernde Fülle der Kompetenzen und Funktionen des modernen Staates umfassend darzustellen und zu analysieren. Von der Barockzeit an verlangt die Staats- und Verwaltungspraxis eine gesonderte Behandlung des Staats- und Verwaltungsrechts in der Lehre und im akademischen Unterricht des Universitätsbetriebs llO • 108 Die Dichotomie des katholischen Kirchenrechts in Jus Ecclesiasticum Publicum und Jus Ecclesiasticum Privatum und folgerichtig auch die Legitimität der Existenz eines selbständigen Faches Jus Publicum Ecclesiasticum wird z. B. abgelehnt von Peter Huizing, Kirche und Staat im öffentlichen Recht der Kirche, in: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie. 6. Jg. (1970), S. 586 ff. 109 Vgl. dazu einerseits z. B. Klaus Mörsdorf, Die Rechtssprache des Codex Iuris Canonici, Paderborn 1937 (Neudruck Paderborn 1967), S. 43 mit Anm. 20; dens., Rechtsprechung und Verwaltung im kanonischen Recht, Freiburg/ Br. 1941, S. 41; dens., Lehrbuch des Kirchenrechts. 11. Aufl., Bd. 1, München Paderborn - Wien 1964, S. 23; Gagner, Über Voraussetzungen einer Verwendung der Sprachformel "Öffentliches Recht und Privatrecht" im kanonistischen Bereich (Anm. 31), S. 56 f.; andererseits z. B. statt aller Wilhelm Bertrams, Das Privatrecht der Kirche, in: ders., Quaestiones Fundamentales Iuris Canonici, Rom 1969, S. 83 ff., der sich ausführlich mit der Literatur, auch derjenigen des 19. Jhd., auseinandersetzt; vermittelnd Wernz, Ius Decretalium, Bd. 1 (Anm. 15), S. 60 ff. mit Anm. 28, der gegen Phillips, Scherer und andere deutsche Kanonisten darauf hinweist, daß deren Argumente gegen die angebliche Unzulässigkeit einer Dichotomie in Öffentliches Recht und Privatrecht im Bereich des kanonischen Rechts keine DurchschlagSkraft besitzen und daher nicht zu überzeugen vermögen. Wernz verweist andererseits aber auch auf die vielen Verschiedenheiten und Abweichungen in der Argumentation derjenigen Autoren, die sich für die Dichotomie einsetzen. Weithin handelt es sich bei den Kontroversen, die zu dieser Frage während der 'Zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zum Teil unter Verkennung des Wesens des Privatrechts, geführt wurden, um Richtungskämpfe innerhalb der Vertreter dieser Wissenschaft. Es ging dabei nicht um Grundsatzfragen des kanonischen Rechts. Vgl. dazu z. B. die Auseinandersetzung zwischen Friedrich H. Vering und Ernst Frhr. v. Moy de Sons, Gibt es im Gebiete des Kirchenrechtes Rechte, welche die Natur von Privatrechten haben?, in: ArchkathKR, Bd. 2 (1857), S. 565 f. Vgl. zum Ganzen ferner A. de la Hera / Ch. Munier, Le Droit Public Ecclesiastique a travers ses definitions, in: RDC 14 (1964), S. 32 ff.

IV. Das Jus Publicum Ecclesiasticum als selbständige Disziplin

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Auch im Kirchenrecht verlangten die Problemstellungen, die sich aus der Konfrontation der Kirche mit dem Staat ergaben, der seit der Zeit der Glaubensspaltung zuerst faktisch und seit dem Westfälischen Frieden auch reichsrechtlich endgültig mehrere Religionsparteien anerkannte, eine eigene systematische Behandlung jenes Gebietes, das als Jus Publicum Ecclesiasticum bezeichnet wurde. Dabei wird als Jus Publicum Internum, als "Inneres Kirchenrecht", das Verfassungsrecht der Kirche als einer vom Staate unabhängigen und mit Eigenrechtsmacht ausgestatteten Institution verstanden, während das Jus Publicum Externum, das "Äußere Kirchenrecht", die konkreten Fragen der Beziehungen der Kirche zum Staat und auch zu den anderen Religionsgemeinschaften zum Gegenstand hat111 • Die Darstellung der Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat kann nicht erfolgen, ohne daß zugleich auch die wesentlichen Grundlagen des innerkirchlichen Verfassungsrechts, des Jus Publicum Ecclesiasticum Internum, zur Darstellung gebracht werden. Erst in der Gegenüberstellung des seine Souveränität akzentuierenden und die Kirche als innerstaatliches Kollegium in seine Rechtsordnung einbeziehenden und seiner Hoheit unterstellenden Staates mit der sich auf ihre nicht vom Staate abgeleitete Eigenrechtsmacht berufenden und insofern ihre "Koordination" mit dem Staate betonenden Kirche zeigte sich die Notwendigkeit der Entwicklung einer eigenen, jedenfalls methodisch neuen wissenschaftlichen Disziplin im Bereich des kanonischen Rechts, eben des Jus Publicum Ecc1esiasticum. Weil sich dieses Problem in seiner ganzen Schärfe zuerst im Deutschen Reich in den Auseinandersetzungen zwischen den kollegialistischen Theorien der protestantischen Juristen und Landesfürsten und der katholischen Kirche und ihrem kanonischen Recht stellte, entstanden an den deutschen protestantischen Universitäten der Barockzeit die ersten Lehrbücher des Jus Publicum Ecclesiasticum. Durch die Würzburger Schule fanden diese Fragestellungen im Deutschen Reich auch Eingang in das katholische Kirchenrecht. 110 Neumaier, Ius Publicum (Anm. 30), S. 97 ff. Ein weiteres bedeutsames Element, das im Zeitalter des Absolutismus im profanen Rechtsbereich zur Ausbildung des Gebietes des Öffentliches Rechts führte, war, wie bereits erwähnt, das Bestreben der Landesfürsten, mit der Sonderstellung des Öffentlichen Rechts die Macht des souveränen Fürstenstaates gegen den widerstrebenden Adel und später auch gegen das liberale Bürgertum abzuschirmen. Vgl. dazu Dieter Grimm, Zur politischen Funktion der Trennung von öffentlichem und privatem Recht in Deutschland (Anm. 30), S. 224 ff., bes. S. 238. m Diese im 19. Jahrhundert gängige Einteilung in Jus Publicum Internum und Externum verwendet z. B. noch AZaphridus Ottaviani in der 1. Aufl. seines Werkes "Institutiones Iuris Publici Ecclesiastici". 2 vol., Romae 1926. In Bd. 1 behandelt Ottaviani das Jus Publicum Internum, in Bd. 2 das Jus Publicum Externum. über Ottaviani vgl. oben, in diesem Kap. III 4 1.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

In der Ablehnung der päpstlichen Jurisdiktions- und Lehrgewalt überlagerten sich die Auffassungen des protestantischen Kollegialismus mit dem Gedankengut des sich am Gallikanismus orientierenden reichskirchenrechtlichen Episkopalismus der geistlichen Kurfürsten und Fürstbischöfe. Als erster erkannte der Heidelberger Kanonist Philipp Anton Schmidt in voller Klarheit, daß das Jus Publicum Ecc1esiasticum auch als Waffe gegen die neuen staatskirchenhoheitlichen Strömungen, wie sie sich im josephinistischen Staatskirchentum und in der Aufklärungskanonistik zeigten, verwendet werden kann. Das hohe Ansehen, das sich das Jus Publicum Ecclesiasticum in der römischen Kirchenrechtswissenschaft und bei den führenden Repräsentanten der katholischen Kirche seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts binnen kurzer Zeit erworben und bis zum Zweiten Vatikanischen Konzils stets genossen hat, findet seine Erklärung vor allem in der praktischen Bedeutung, die dieser Teildisziplin des kanonischen Rechts in steigendem Maße für die theoretische Bewältigung der Fragestellungen zukam, die sich auf dem Gebiete der Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und den Staaten in der Zeit des Liberalismus, des Kulturkampfs und während der Auseinandersetzungen mit den verschiedenen totalitären Herrschaftsformen während des 20. Jahrhunderts ergaben. Es waren zwingende praktische Notwendigkeiten, die für die methodische Entwicklung und die Entfaltung dieser neuen Disziplin der Kirchenrechtswissenschaft bestimmend waren. Diese praktischen Notwendigkeiten werden von denjenigen Kanonisten, die einer Dichotomie des kanonischen Rechts in Öffentliches Recht und einen dem profanen Privatrecht vergleichbaren privatrechtZichen Rechtsbereich ablehnend gegenüberstehen, offensichtlich nicht in ihrer vollen Tragweite gewürdigt. 2. Gemeinsame Bezugsebene von kirchlichem und weltlichem Recht

Noch eine weitere, mehr dem systematischen Zusammenhang zwischen der profanen Rechtswissenschaft und der Theologie bzw. dem kanonischen Recht zuzuordnende Erwägung fordert in dieser Frage Beachtung. Die von manchen Theologen und Kanonisten postulierte völlige "Inkommensurabilität" des kirchlichen Rechts mit der weltlichstaatlichen Rechtsordnung würde, wenn sie zuträfe, jede Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden Rechtsordnungen ausschließen. Unter dieser Voraussetzung erhöbe sich die Frage, welche Bezugsebene in den Bereichen, in denen sich Kirche und Staat notwendig begegnen und die z. B. den Gegenstand gemeinsamer Rechtsetzung in den Staatskirchenverträgen und - ebenso auch - in "paktierten Staatsgesetzen" bilden112, dann überhaupt noch gegeben wäre. Wollte man auf die Ab-

IV. Das Jus Publicum Ecclesiasticum als selbständige Disziplin

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leitung der Rechtsordnung des Kirchenrechts aus der Gemeinschaft der Gläubigen als einem der konstitutiven Elemente des Kirchenrechts verzichten, wäre, wie Bertrams mit Recht hervorhebt, dem Kirchenrecht seine natürliche Basis entzogen. Das innerkirchliche Recht liefe dann Gefahr, in "lebensfremden, formalistischen Abstraktionen" aufzugehen113 • Geht man jedoch davon aus, daß die Kirche als von Christus gestiftete Gemeinschaft auf Grund ihres gesellschaftlichen Verbandscharakters und ihrer notwendig gemeinschaftsbezogenen Struktur wesentlich auch Rechtsgemeinschaft sein muß, steht mit Notwendigkeit der "Rechtssphäre der Gemeinschaft als solcher" die "Rechtssphäre der einzelnen als eigenständiger Wesen, als Menschen, als Personen" gegenüber. Daraus ergibt sich dann auch für die Rechtsordnung des kanonischen Rechts zwangsläufig eine Unterscheidung zwischen den Belan112 Zum Begriff des "paktierten Staatsgesetzes" vgl. Alexander HalZerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: VVDStRL 26 (1968), S. 80.

Zur Frage der Möglichkeit einer "gemeinsamen Rechtsschöpfung" zwischen Kirche und Staat in allen Angelegenheiten, die existenziell zur Kirche gehören und von ihr im innerkirchlichen Bereich eigenständig geregelt werden, die zugleich aber im staatlichen Raum als öffentliches Recht gelten sollen und dazu der staatlichen Mitwirkung bedürfen, s. Paul Mikat, Grundfragen des Kirchensteuerrechts unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Nordrhein-Westfalen, in: ders., Religionsrechtliche Schriften, Bd. 1, Berlin 1974, S. 563. Kirchliches und staatliches Recht können dabei, wie Mikat im gleichen Kontext ausführt, parallel ergehen; ebenso kann der Staat aber durch förmliche Erklärung das kirchliche Recht im staatlichen Bereich für verbindlich erklären. Wesentlich ist jedoch hierbei, daß auf diese Weise nicht wesensfremde staatliche Regelungen in den kirchlichen Bereich eingeführt werden, sondern kirchliche Regelungen, soweit der Staat sie für seinen Bereich anerkennen kann, für Staat und Kirche gemeinsam gelten. In diesem Zusammenhang nennt Mikat die Kirchensteuer einen besonders prägnanten Fall für ein so geschaffenes "staatlich-kirchliches Recht". Zur gemeinsamen Bezugsebene des staatlichen und kirchlichen Rechts vgl. ferner Peter Häberle, "Gemeinrechtliche" Gemeinsamkeiten der Rechtsprechung staatlicher und kirchlicher Gerichte?, in: JZ 1966, S. 384 ff. 113 Bertrams, Das Privatrecht der Kirche (Anm. 109), S. 88. In vieler Hinsicht sind die Problemstellungen, die in diesem Zusammenhang in der Kanonistik, insbesondere seit der Aufklärungszeit, erörtert werden, die gleichen, die sich auch im profanen Recht, und hier insbesondere in der modernen Verwaltungsrechtswissenschaft, bei der Frage der Abgrenzung von Öffentlichem Recht und Privatrecht ergeben. Vgl. dazu zum römischen Recht und zum älteren kanonischen Recht Hans MülZejans, Publicus und Privatus im Römischen Recht und im älteren Kanonischen Recht unter besonderer Berücksichtigung der Unterscheidung lus publicum und lus privatum. München 1961; zum profanen Recht Erich MoZitar, Über Öffentliches Recht und Privatrecht. Eine rechtssystematische Studie, Karlsruhe 1949. MoZitor kommt zu dem Ergebnis, daß der Unterschied von öffentlichem und Privatrecht "rechtstechnisch tief begründet" ist und "daher immer bestehen wird (ebd. S. 80); ferner Ingo von Münch, Verwaltung und Verwaltungsrecht im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, in: Hans-Uwe Erichsen und Walfgang Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht. 2. Aufl. Berlin 1977, S. 13 ff. mit Anm. 17 m. w. N.; Hans JuZius Wolff und Otto Bachof, Verwaltungsrecht. 9. Aufl., Bd. 1, München 1974, § 22 (= S. 97 ff.) m. w. N.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum

gen der Kirche als solcher, d. h. als rechtlich verfaßter Gemeinschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit, und den Rechten ihrer einzelnen Glieder bzw. Mitglieder114• Wenn auch die methodische Scheidung der Rechtsgebiete in Öffentliches Recht und Privatrecht, wie sie heute im profanen Rechtsbereich besteht, nicht unbesehen in das Kirchenrecht übertragen werden kann, so bietet dennoch auch das Kirchenrecht einen Ansatz für eine Differenzierung zwischen dem Öffentlichen Recht und einem Rechtsbereich, der in jedenfalls vergleichbarer Weise der Privatrechtsordnung des profanen Rechts entspricht. Die Möglichkeit und Legitimität dieser Scheidung der beiden Rechtsbereiche besteht unabhängig davon, ob die Systematik des geltenden oder auch des künftigen reformierten kirchlichen Gesetzbuchs diese Begrifflichkeit ausdrück.. lich verwendet oder nicht115• Das Kirchenrecht wird auch in Zukunft auf eine besondere systematische Erörterung und Darstellung der Wesensverschiedenheit der kirchlichen und staatlichen Gewalt und der Beziehungen zwischen den beiden Institutionen Kirche und Staat, sowohl im grundsätzlichen als auch in der Praxis des internationalen und des Völkerrechts, nicht verzichten können116 • Die für die systematische Behandlung dieser Fragen und Problembereiche, die in ihren fundamentu Bertrams, Das Privatrecht der Kirche (Anm. 109), S. 91 f. In diesem Sinne erklärt auch Eduard Eichmann die Einteilung in öffentliches und Privatkirchenrecht für "insofern begründet, als es Rechtssätze gibt, welche das bonum publicum berühren, z. B. die Verfassung der Kirche, Recht kirchlicher Institute, Gültigkeit von Ehe und Weihe, und solche, welche zunächst den Nutzen von Privaten im Auge haben, z. B. die Scheidung von Tisch und Bett, Beleidigungsklagen, Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit". Vgl. Eduard Eichmann, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici für Studierende. 1. Aufl., Paderborn 1923, S. 9; ders., Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, 4. Aufl., Bd. 1, Paderborn 1934, S. 22. Ober einen Ansatzpunkt der Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht bei der Einteilung der Ehehindernisse im kirchlichen Eherecht vgl. z. B. bei F. Walter, Lehrbuch des Kirchenrechts, 13. Aufl., Bonn 1861, S. 655 ff. (Nr. 305 ff.). 115 Aus gesetzessystematischen Gründen empfiehlt z. B. Klaus Mörsdorf, Zur Neuordnung der Systematik des Codex Iuris Canonici, in: ArchkathKR Bd. 137 (1968), S. 13, den Bereich des "äußeren Kirchenrechts", d. h. das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nichtkatholischen christlichen Gemeinschaften, zu anderen Religionen, zu den Nichtglaubenden und zum Staat, nicht im reformierten Codex Iuris Canonici zu regeln. Nach diesem Vorschlag sollen somit auch in Zukunft bedeutsame Gebiete des kanonischen Rechts im kirchlichen Gesetzbuch unberücksichtigt bleiben. 11& Zu den religionsrechtlichen, verfassungsrechtlichen, vertragsrechtlichen und internationalrechtlichen Beziehungen, die zwischen der Kirche und der Staatenwelt bestehen und die nicht nur von seiten des Staatskirchenrechts, d. h. des staatlichen Rechts, sondern auch vom innerkirchlichen Recht her einer Berücksichtigung und Regelung bedürfen, vgl. z. B. die Beiträge von Ernst Friesenhahn, Konrad Hesse, Alexander Hollerbach, Paul Mikat und Ulrich Scheuner, in: HdbStKirchR, Bd. 1 und 2, Berlin 1974/1975. Zum Völkerrecht vgl. die Darstellung von Heribert Franz Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls. Dargestellt an seinen Beziehungen zu Staaten und internationalen Organisationen. Berlin 1975.

IV. Das Jus Publicum Ecclesiasticum als selbständige Disziplin

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talen Ansätzen, wenn auch nicht in systematischer Entfaltung, auch im Codex Iuris Canonici enthalten sind117, zuständige kanonistische Disziplin ist das Jus Publicum Ecclesiasticum.

117 Zu den Aussagen des Codex Iuris Canonici vom 27. Mai 1917 zum Verhältnis von Kirche und Staat vgl. in dieser Arbeit, 5. Kap. 11.

Zweites Kapitel

Die Kirche als "societas inaequalis" Die römische Kanonistik im Widerstreit mit dem vernunftund vereinsrechtlichen Kirchenbegriff der Aufklärung J. Die Wechselwirkung zwischen kirchlichem Freiheitsanspruch und staatskirchenrechtlicher Stellung der Kirche 1. Die Grundproblematik des Staatskirchenrechts

Die gegenseitigen Beziehungen zwischen den beiden Institutionen Kirche und Staat waren in keiner Epoche der Geschichte problemlos und frei von Konflikten, sondern vielmehr stets in starkem Maße von den Auseinandersetzungen und Kämpfen der einem ständigen Wandel unterworfenen geistigen, politischen und gesellschaftlichen Anschauungen und Kräfte gekennzeichnet. Wie einerseits der gegenwärtige Zustand der Beziehungen zwischen Kirche und Staat in einem Staatswesen nur verstanden werden kann auf dem Hintergrund der jeweiligen gesamtgeschichtlichen Entwicklung der Beziehungen zwischen diesen beiden Mächten, so können andererseits auch die historischen Konkretisierungen des gegenseitigen Verhältnisses und der Zuordnung von Kirche und Staat nur aus den Perspektiven und mit den herrschenden rechtlichen Kriterien der Gegenwart zutreffend und wirklichkeitsgerecht beurteilt werden. Erst der Kontrast des Zustandes der vollaktualisierten Religions- und Kirchenfreiheit, wie er z. B. unter der Herrschaft des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland in der Gegenwart verwirklicht ist, zu der Situation kirchlicher Unfreiheit, wie sie in der Epoche der Aufklärungszeit und auch im 19. Jahrhundert infolge der engen Verflechtung zwischen Kirche und Staat bestanden hat, läßt die Dimensionen des Ringens der katholischen Kirchenrechtswissenschaft um die Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche vom Staat in ihrer ganzen Tragweite und in ihrer Bedeutung, die ihr gleichzeitig für die Kirche und den Staat zukommt, erkennen. In der Neuzeit - und vor allem gilt das für das 19. Jahrhundert besteht die Grundproblematik des Staatskirchenrechts in der "Institutionen-Rivalität" zwischen dem seine Souveränität nach innen und außen stark akzentuierenden Staat und der um ihre Eigenständigkeit

I. Der Freiheitsansprucll der Kirche gegenüber dem Staat

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und ihr Selbstbestimmungsrecht ringenden Kirche1 • Die Konflikte zwischen Kirche und Staat, die staatlicherseits in der Kirchenpolitik und in der staatskirchenrechtlichen Gesetzgebung Ausdruck fanden, finden innerkirchlich ihre theologische Entsprechung in dem intensiven Bemühen der Kirchenrechtswissenschaft um die Gewinnung und Ausformung eines Kirchenbegriffs, wie ihn die deutsche katholische Kirchenrechtswissenschaft bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt hatte und wie er von sämtlichen Vertretern der römischen Schule des Jus Publicum Ecclesiasticum während des 19. Jahrhunderts in Kontinuität mit der deutschen romtreuen Aufklärungskanonistik übernommen wurde. Es war dabei der erklärte Wille der römischen Kirchenrechtswissenschaft, dem vernunft- und vereinsrechtlichen Kirchenbegriff der Aufklärung entgegenzutreten, den die deutschen protestantischen Kirchenrechtslehrer der Aufklärungszeit, allen voran Samuel von Pufendorf, auf der Grundlage des kollegialistischen Kirchenverständnisses ausgebildet hatten. In der Auseinandersetzung mit diesen im evangelischen Rechtsraum zur theoretischen Begründung und staatsrechtlichen und theologischen Rechtfertigung des landesherrlichen Kirchenregiments entstandenen Lehren formulierten die Vertreter des Jus Publicum Ecclesiasticum jene von der katholischen Lehre als unverzichtbar betrachteten Postulate der Kirchenfreiheit, die schließlich in Deutschland in der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 in Gestalt der Weimarer Kirchenartikel vom Staat weitgehend anerkannt worden sind. Erst durch die Weimarer Reichsverfassung wurde im deutschen Reichskirchenrecht die Ära des Kulturkampfes, der auf die Beseitigung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts und auf die Wiederherstellung der vor 1848 bestehenden staatskirchenhoheitlichen Zustände gerichtet war2, endgültig zugunsten der 1 Martin Heckel, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: VVDStRL 26 (1968), S. 11. Beispiele für die deutsche Staatskirchenrechtsgeschichte bei Ernst Rudolf Huber / Wolfgang Huber, Staat und Kirche im 19. und 20.

Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts. Bd. 1, Berlin 1973, S. 342 ff., 406 ff., 456 ff. Zur Geschichte des Kulturkampfs vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. IV, Stuttgart 1969, S. 645 ff. 2 Die katholische Kirche in Preußen hatte im Revolutionsjahr 1848 durch faktische Inanspruchnahme der ihr nach dem Wortlaut der Verfassung zustehenden Freiheitsrechte eine weitgehende Befreiung von der staatlichen Kirchenaufsicht erreicht. Vgl. dazu im einzelnen die kritischen Anmerkungen bei Gerhard Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, Berlin 1912 (Neudruck Aalen 1974), S. 287. Anschütz bemerkt dazu mißbilligend, daß sich die katholische Kirche sofort durch ihre Bischöfe einseitig in den Besitz der Freiheit und Macht setzte, "welche sie auf Grund der Art. 15, 16 und 18 (der Preußischen Verfassung) beanspruchen zu dürfen glaubte". Vgl. dazu ferner die Darstellung von Hubert Jedin, Freiheit und Aufstieg des deutschen Katholizismus zwischen 1848 und 1870, in: In Benedictione Memoria. Gesammelte Aufsätze zur Hundertjahrfeier der Kölner Provinz der Redemptoristen. Hrsg. vom Ordensseminar Geistin-

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2. K.ap.: Der vereinsrechtliche Kirchenbegriff der Aufklärung

Kirchenfreiheit abgeschlossen und überwunden. Der fortwirkenden Bestandskraft des in Weimar zwischen den demokratischen Parteien auf der Grundlage eines allgemeinen Konsenses gefundenen geschichtsträchtigen Kompromisses ist es zuzuschreiben, daß die Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland inkorporiert werden konnten. Emil Friedberg, der, ebenso wie Paul Hinschius, als "wissenschaftlicher Parteigänger und politischer Berater in dem von Bismarck seit 1872 ausgefochtenen Kulturkampf" tätig war und an der Kulturkampfgesetzgebung in einflußreicher Weise mitgewirkt hatteS, hat die mit den Kulturkampfmaßnahmen verfolgten staats- und kirchenpolitischen Ziele auf folgende zwei Grundprinzipien zurückgeführt: Einmal sollte unter Ablehnung des Grundsatzes der "Trennung von Kirche und Staat" den Kirchen ihre historische überkommene Stellung als öffentlich-rechtliche Korporationen im Staat erhalten bleiben. Für die Gewähr dieser Rechtsstellung sollten dem Staat nach der sog. Korrelatentheorie aber auch diejenigen Hoheitsrechte zukommen, "die sich in der Beaufsichtigung des äußeren Rechtslebens der Kirche zu betätigen haben"'. Das zweite Grundanliegen, das nach den Intentionen ihrer Urheber mit den Kulturkampfgesetzen verfolgt wurde, faßt Friedberg dahingehend zusammen, "daß nicht die Kirche als Organisation, sondern das einzelne Individuum kirchlich ,frei' sein" sollte5 • Damit bringt Friedberg zum Ausdruck, daß durch den Kulturkampf für die evangelische Kirche das bestehende landesherrliche Kirchenregiment erhalten bleiben und die katholische Kirche, gegen die sich die Kulturkampfgesetze in erster Linie richteten, wieder zu dem Stand kirchlicher Unfreiheit zurückgeführt werden sollte, wie er vor 1848 bestanden hatte, und aus dem sich die katholische Kirche infolge der Gunst der politischen Situation der Revolution des Jahres 1848 hatte befreien können. Wie Friedberg bedauernd und resignierend feststellt, hat die katholische Kirche der Durchführung der Kulturkampfgesetze einen scharfen Widerstand entgegengesetzt; aber auch von der evangelischen Kirche, auf die sich die Kulturkampfgesetze, schon der Parität wegen, mitbeziehen mußten, habe der Staat nicht jenes Maß an Unterstützung erfahren, das er bei richtiger Würdigung seiner Absichten hätte erwarten gen. Bonn 1959, S. 79 ff.; ferner Joseph ListZ, Staat und Kirche in Deutschland. Vom Preußischen Allgemeinen Landrecht bis zum Bonner Grundgesetz, in: Civitas, Jahrbuch für christliche Gesellschaftsordnung. Bd. 6 (Mannheim 1967), S. 142 ff. a Vgl. AdaZbert ErZer, Art. "Friedberg, Emil Albert v.", in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 5, BerUn 1961 (Nachdruck Berlin 1971), S. 443. 4 EmU Friedberg, Lehrbuch des katholischen und evangelischen Kirchenrechts. 6. Aufl., Leipzig 1909 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1965), S. 84. 5 Friedberg, Lehrbuch (Anm. 4), ebd.

I. Der Freiheitsanspruch der Kirche gegenüber dem Staat

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dürfen. Deshalb habe sich die Regierung schließlich zum Einlenken von dem mit solcher Energie eingeschlagenen Wege für verpflichtet ge~ halten6 • In betonter Abkehr von der bis dahin bestehenden staatskirchen~ rechtlichen Ordnung und Praxis, die durch die Beseitigung jeder Form eines landesherrlichen Kirchenregiments zum Ausdruck kommt, hat sich die Weimarer Nationalversammlung für die Gewährleistung voller Freiheit für die Kirchen und übrigen Religionsgemeinschaften in ihrem Eigenbereich entschieden7• Der Parlamentarische Rat hat 1949 durch die Inkorporation der Weimarer Kirchenartikel in das Grundgesetz diese durch das Dritte Reich unterbrochene verfassungsrechtliche Tradition wieder aufgenommen8 • Für die Bundesrepublik Deutschland bilden neben dem Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die Bestimmungen des Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WeimRV, "Es besteht keine Staatskirche", und Art. 137 Abs. 3 WeimRV, "Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle gel~ tenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der .bürgerlichen Gemeinde", das unumstößliche Fundament der Eigenrechtsmacht und der freien Betätigungsmöglichkeit der Kirchen und übrigen ReligionsgemeinschaftenlI. Die Bestimmung des Art. 137 Abs. 1 WeimRV, "Es besteht keine Staatskirche", richtete sich, wie der Berichterstatter für die Staatskirchenartikel in der Deutschen Nationalversammlung, der Zentrumsabgeordnete und Münsteraner Moraltheologe Joseph Mausbach, ausgeführt hat, gegen das bis 1918 herrschende System "einer bestimmten, engen Verbindung zwischen Staat und Kirche, wie sie bei den evangelischen Landeskirchen bislang vorhanden war"10. I Friedberg, Lehrbuch (Anm. 4), S. 84 f. mit Anm. 10. über die fortdauernden negativen Auswirkungen der Kulturkampfgesetzgebung vgl. Ulrich Scheuner, Der Staatsgedanke Preußens, KölnlGraz 1965, S. 41 f. 7 Zum Staatskirchenrecht der Weimarer Zeit vgl. Ulrich Scheuner, Kirche und Staat in der neueren deutschen Entwicklung, in: ders., Schriften zum Staatskirchenrecht. Berlin 1973, S. 121 (140 ff.) m. w. N.; ferner Godehard Josef Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland. München 1930, S. 108 ff.; zum Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften vgl. Konrad Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR, Bd. I, Berlin 1974, S. 409 ff.; zur Bedeutung der "Schranken des für alle geltenden Gesetzes" vgl. ebd., S. 430 ff.; BVerfG, Beschl. v. 21. 9. 1976 (Az.: 2 BvR 350/75), in: DÖV 1977, S. 51 (55 f.). 8 Alexander Hollerbach, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Staats~ kirchenrechts, in: HdbStKirchR, Bd. 1, Berlin 1974, S. 218 ff. 8 Alexander Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: VVDStRL 26 (1968), S. 60 ff. m. w. N.; ders., Verfassungsrechtliche Grundlagen (Anm. 8), S.216. 10 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversamm~ lung, Bd. 328, S. 1644 C (= 59. Sitzung vom 17.7.1919); vgl. dazu Godehard

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2. Kap.: Der vereinsrechtliche Kirchenbegriff der Aufklärung

Aus der in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WeimRV verfassungsrechtlich gebotenen institutionellen Trennung von Staat und Kirche folgt, wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt ausgeführt hat, daß die wesentlichen Aufgaben, Befugnisse und Zuständigkeiten der Kirche "originäre und nicht vom Staate abgeleitete" sindl l. Der Staat erkennt mit diesen Verfassungsbestimmungen die Kirchen als "Institutionen mit dem Recht der Selbstverwaltung an, die ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat sind und ihre Gewalt nicht von ihm herleiten. Die Folge ist, daß der Staat in ihre inneren Rechtsverhältnisse nicht eingreifen darf"1!. Die hier angesprochene Eigenständigkeit der kirchlichen Gewalt gegenüber dem Landesfürsten und dem Staat und die kirchenrechtliche und theologische Begründung und Rechtfertigung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Lebensvollzug der Kirche bilden, wie im folgenden in dieser Darstellung gezeigt werden soll, den zentralen Gegenstand und das Grundanliegen der katholischen kirchenrechtlichen Publizistik von der Zeit der Aufklärung bis zur Gegenwart. 2. Staatskirchenrechtliche Systeme kirchUcher Unfreiheit im Aufklärungszeitalter

a) Das protestantische landesherrliche Kirchenregiment In denkbar großem Kontrast zu dem ein Maximum an kirchlicher Freiheit gewährenden System gegenseitiger Unabhängigkeit, religiöser Neutralität und vielfältiger enger Kooperation zwischen Kirche und Staat, wie es z. B. in der Gegenwart das Grundgesetz für die BundesJosef Ebers, Staat und Kirche (Anm. 7), S. 121; ebenso Gerhard Anschütz,

Die Verfassung des Deutschen Reichs. 14. Aufl., Berlin 1933, Er!. zu Art. 137 Abs. 1 (= S. 631); Ernst Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat. Tübingen 1931, S. 112: "Mitdem Ausdruck Staatskirche in Abs. 1 sind also die Landeskirchen gemeint, wie sie vor dem Umsturz in den deutschen Ländern bestanden." Teilweise a. A. Klaus Schlaich, Zur weltanschaulichen und konfessionellen Neutralität des Staates, in: Essener Gespräche, Band 4 (1970), S. 40; ebenso deTS., Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, vornehmlich im Kulturverfassungs- und Staatskirchenrecht. Tübingen 1972, S. 172. Andererseits jedoch ders., Kollegialtheorie. Kirche, Recht und Staat in der Aufklärung, München 1969, S. 256, wo Schlaich mit der herrschenden Meinung die Auffassung vertritt, daß das landesherrliche Kirchenregiment "erst durch Art. 137 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung (,Es besteht keine Staatskirche') verboten wurde". 11 BVerfG, Besch!. v. 21. 9.1976 (Az.: 2 BvR 350/75), BVerfGE 42, 312 = DÖV 1977, 52 ("Bremer Pastoren-Entscheidung") unter Hinweis auf die frühere Entscheidung in: BVerfGE 19, 129 (133 f.). 12 BVerfGE 18, 385 (386); vg!. dazu UlTich Scheuner, Kirche und Staat in der neueren deutschen Entwicklung (Anm. 7), S. 149 ff.; Paul Mikat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: ders., Religionsrechtliche Schriften, Bd. 1, BerIin 1974, S. 81 ff., bes. S. 91.

I. Der Freiheitsanspruch der Kirche gegenüber dem Staat

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republik Deutschland vom 23. 5. 1949 konstituiert und ermöglicht13, stehen die rechtlichen Systeme, die in der Zeit der Aufklärung zum Verhältnis des Staates zu den Kirchen entwickelt und praktiziert wurden. In besonders intensiver Weise waren hiervon die evangelischen Territorien betroffen, in denen die protestantischen Landeskirchen weithin dem staatlichen Aufbau eingefügt waren und in denen der Landesherr neben der von ihm über alle Religionsgemeinschaften seines Gebietes in Anspruch genommenen "allgemeinen" Kirchenhoheit auch das innerkirchliche Kirchenregiment über seine evangelische Landeskirche ausübte. Im Zeitalter der Aufklärung erreichte die "sachliche Ausdehnung landesherrlicher Einwirkungen auf die Kirchen ihr höchstes Maß"14. In seiner Grundstruktur und auch in zahlreichen seiner Auswirkungen bestand das landesherrliche Kirchenregiment in Deutschland fort bis zum Ende der Monarchie im Jahre 1918. Noch 1906 stellte Otto Mayer zum landesherrlichen Kirchenregiment fest, daß in der evangelischen Kirche "allen Grundsätzen und allen Beteuerungen von der Freiheit der Kirche zum Trotz, das landesherrliche Kirchenregiment, d. h. der alte Territorialismus", ruhig weiter blühe. Otto Mayer nannte es "eine leere Spitzfindigkeit", wenn man, um den Schein zu retten, behaupte, es sei nicht der Staat, sondern der Landesherr persönlich, der das Kirchenregiment führe. Die Person des Landesherrn lasse sich in öffentlichen Dingen vom Staat nicht scheiden. Es werde "einfach als eine angeborene Eigenschaft der evangelischen Kirche betrachtet, daß sie vom Staate also geleitet werden soll und muß"15. In seiner Sorge um das Schicksal der Volkskirche erblickte Otto Mayer auch in dem parallel zur konstitutionellen Bewegung im Staat während des 19. Jahrhunderts in den evangelischen Landeskirchen eingeführten Presbyterialsynodalsystem keine zufriedenstellende Lösung der durch das Fortbestehen des landesherrlichen Kirchenregiments gegebenen Leitungsprobleme in der evangelischen Kirche. Dabei hat er jedoch die Zukunftsbedeutung des presbyterial-synodalen Prinzips, in dem sich bereits die Ablösung des landesherrlichen Kirchenregiments ankündigte, nicht voll erkannt18 • "Worauf es aber ankäme", schrieb 13 Zu den Grundlagen des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland vgl. Ulrich Scheuner, Das System der Beziehungen von Staat und Kirchen im Grundgesetz. Zur Entwicklung des Staatskirchenrechts, in: HdbStKirchR, Bd. 1, Berlin 1974, S. 5 ff. U Ulrich Scheuner, Art. "Kirchenregiment", in: RGG, 3. Aufl., Bd. 3, Tübingen 1959, Sp. 1521. 15 Otto Mayer, Art. "Staat und Kirche", in: Herzog / Hauck, Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. 3. Aufl., Bd. 18, Leipzig 1906, S. 717. Otto Mayer war während seiner Straßburger Zeit (1880 -1903) Mitglied des Oberkonsistoriums (Landessynode) der Augsburgischen Kirche im Elsaß. Vgl. dazu Otto Mayer, in: Hans Planitz (Hrsg.), Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. 1, Leipzig 1924, S. 166.

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2. Kap.: Der vereinsrechtliche Kirchenbegriff der Aufklärung

Otto Mayer, "das wäre, daß die Kirche selbst, die Kirche als Ganzes dem Staate gegenüber frei würde, Selbstverwaltung erhielte. Das ist nicht der Fall. Die Kirchenverwaltung ist nach wie vor Staatsverwaltung, der weltlichen Staatsverwaltung parallel organisiert. Wie der Landesherr in weltlichen Dingen nicht aufhört, der wahre Regierer zu sein trotz Volksvertretung, Ehrenamt und örtlichen Selbstverwaltungen, gerade so in kirchlichen Dingen" 17. Diese enge Verflechtung zwischen der Kirchenleitung und der staatlichen Macht in der Person des Landesherrn führte nach der Meinung Otto Mayers für die evangelischen Kirchen zu einem immer spürbareren Verlust an Glaubwürdigkeit bei den Gläubigen. Mehr und mehr werde man sich darüber klar, daß die Umarmung des Staates die Kirche zu erdrücl