Kirche, Politik und Recht: Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge [1 ed.] 9783428541904, 9783428141906

Herbert Schambeck behandelt aktualitätsbezogen den staatsrechtlichen und philosophischen Gehalt der katholischen Soziall

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German Pages 244 Year 2013

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Kirche, Politik und Recht: Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge [1 ed.]
 9783428541904, 9783428141906

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Kirche, Politik und Recht Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge

Von Herbert Schambeck

Duncker & Humblot · Berlin

HERBERT SCHAMBECK Kirche, Politik und Recht

Kirche, Politik und Recht Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge

Von Herbert Schambeck

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-14190-6 (Print) ISBN 978-3-428-54190-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84190-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Frage nach dem Woher, Warum und Wozu der Ordnung begleitet den Einzelnen in seinem Leben und seiner Persönlichkeitsentfaltung, die im Glauben auch zur Heilsfindung beitragen und die öffentliche Ordnung gestalten sowie beurteilen lässt. Der katholische Christ bekommt von seiner Kirche in ihrer Lehre dazu eine Wegweisung, die für mich über die Lehre vom Glauben hinaus durch die katholische Soziallehre für die Staatsrechtslehre, Rechtsphilosophie und politische Wissenschaft von Bedeutung war. Schon am Beginn meiner akademischen Tätigkeit ab 1959 als Assistent1 von o. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Adolf Julius Merkl (1890 – 1970) am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien hat mich dieser auf den staatsrechtlichen und rechtsphilosophischen Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen hingewiesen2, den ich später als Professor an der Universität Innsbruck ab 19663 und hernach bis zu meiner Emeritierung 2002 an der Universität Linz4, dazwischen 1967 auch als Visitingprofessor am Department of government and internal studies an der University of Notre Dame, Indiana, USA im Rahmen meiner Fächer öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und politische Wissenschaften bis heute laufend studierte und auch eingeladen kommentierte. Zu dieser Bezogenheit auf die katholische Glaubens- und Soziallehre auf akademischen Boden trat später meine Einladung zur Teilnahme an Vertretungen des Heiligen Stuhls bei internationalen Konferenzen, wie 1969 bis 1997 bei der General1 Siehe Herbert Schambeck, Der rechtsphilosophische und staatsrechtliche Gehalt der Päpstlichen Lehräußerungen, in: Im Dienste des Rechts in Kirche und Staat, Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz Arnold, hrsg. von Willibald Plöchl und Inge Gampl, Wien 1963, S. 55 ff. 2 Beachte Adolf Julius Merkl, Enzyklika „Quadragesimo anno“ und Verfassungsfragen, Wiener Neueste Nachrichten vom 14. März 1934, S. 1 f., Neudruck in derselbe, Gesammelte Schriften, hrsg. von Dorothea Mayer-Maly, Herbert Schambeck, Wolf-Dietrich Grussmann, Erster Band, Grundlagen des Rechts, zweiter Teilband, Berlin 1995, S. 115 ff.; derselbe, Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika „Quadragesimo anno“, Zeitschrift für öffentliches Recht, Band 14 (1934), S. 208 ff., Neudruck, S. 129 ff.; derselbe, Der staatsrechtliche Gehalt der Sozialenzykliken und die Möglichkeit ihrer Verwirklichung in der Gegenwart, in: Siebzig Jahre Enzyklika „Rerum novarum“, hrsg. von Nikolaus Hovorka, Wien 1961, S. 29 ff., Neudruck, S. 645 ff. 3 Siehe Herbert Schambeck, Kirche-Staat-Gesellschaft, Probleme von heute und morgen, Konfrontationen, Band 1, Wien / Freiburg / Basel 1967. 4 Hierzu Herbert Schambeck, Kirche, Staat und Demokratie, ein Grundthema katholischer Soziallehre, Berlin 1992.

2

Vorwort

konferenz der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO), und als Vortragender, vor allem 1993 bis 2009 als Konsultor des Päpstlichen Rates für die Familie und ab 1994 als Mitglied der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften. Auch als Parlamentarier, nämlich als Mitglied des Bundesrates, der Länderkammer des Parlaments der Republik Österreich, ab 1969, in dem ich von 1975 bis zu meiner freiwilligen Mandatsniederlegung 1997 auch in Präsidentenfunktionen tätig war, hatte ich Anlässe, mich mit Kirche, Politik und Recht auseinanderzusetzen; die einzelnen Beiträge in ihrer Originalfassung dazu sind in diesem Sammelband nicht nach zeitlichen Gesichtspunkten, sondern im Sachzusammenhang geordnet. Da sich diese in ihrer Erstfassung zusammengestellten Beiträge zwar auf verschiedene Themen, aber auf die gleiche Glaubens- und Soziallehre der katholischen Kirche beziehen, ergänzen sie sich nicht nur, sondern überschneiden sich bisweilen, um Kontinuität suchend auch zum Dialog einzuladen. Der Dialog über Kirche, Politik und Recht war neben Adolf Julius Merkl auch für den Priestergelehrten und Senior der katholischen Soziallehre in Österreich, o. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Johannes Messner (1891 – 1984) Fakultätsgrenzen überschreitend ein Anliegen sowie auch er für mich in Wort und Schrift wegweisend5. Dieser Sammelband ist daher auch ein Ausdruck dankbarer Erinnerung an Adolf Julius Merkl und Johannes Messner . Herbert Schambeck

5 Dazu insbesondere Johannes Messner, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 5. Aufl., Innsbruck / Wien / München 1966, Neudruck Berlin 2004, sowie derselbe, Ethik und Gesellschaft, Aufsätze 1965 – 1974, Köln 1975.

Inhalt I. 1. Die Verantwortung des Christen in der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I. Tätige Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

II. Politik und Heilige Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

III. Verantwortung vor Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

IV. Christliche Soziallehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

V. Dialogfähigkeit und Glaubwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

VI. Christ und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

2. Laienapostolat in der Kirche und Verantwortung in der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

I. Verpflichtung für die Ordnung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

II. Missionsauftrag Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

III. Kleriker und Laie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

IV. Empfehlungen katholischer Soziallehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

V. Kirche und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

VI. Zur Eigenverantwortung des Laien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

3. Die Verantwortung des Rechts und die Aufgaben des Apostolats . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

I. Die Sozialbezogenheit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

II. Der Ordnungsanspruch des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

III. Legalität und Humanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

IV. Über die Verantwortung des Einzelnen in der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

V. Das Apostolat des Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

VI. Sozialgestaltungsempfehlungen der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

VII. Demokratie und Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

VIII. Das positive Recht und sein präpositiver Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

IX. Christliche Wurzeln des integrierten Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

4. Gott und das Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

I. Rechts- und Machtzweck sowie Kultur- und Wohlfahrtszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

II. Die Lehre des Christentums von der Gottesebenbildlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

III. Gottesbezug in Staatsverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

IV. Ewigkeitsdimension der göttlichen Schöpfungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

4

Inhalt

5. Recht und Religion als Frage der Rechtsontologie und Problem der Rechtsethik . . . .

56

I. Der Ordnungsanspruch des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

II. Die Natur des Menschen und der Rechtsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

III. Die Freiheit und Würde des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

IV. Die ontologische Begründung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

V. Die Kennzeichen des demokratischen Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

VI. Die Bedeutung der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

VII. Das Apostolat des Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

VIII. Die Wegweisungen der katholischen Soziallehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

IX. Die Verantwortung des Christen in der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

X. Die Erneuerung des Rechtsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

XI. Die EU auch als Rechts- und Wertegemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

6. Die Menschenrechte in der Lehre der katholischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

I. Die Präpositivität der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

II. Der Weg zur kirchlichen Anerkennung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

III. Das Demokratie- und Freiheitsverständnis der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

IV. Die kirchliche Anerkennung der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

V. Die Menschenrechte als Teil der katholischen Soziallehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

VI. Die Mittlerfunktion der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

7. Die Religionsfreiheit und der Pluralismus unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

I. Freiheit zum Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

II. Religionsfreiheit als Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

III. Religiöser Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

IV. Verantwortung für religiöse Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 V. Die Religionsfreiheit und das Weltgemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 II. 8. Zum staatsrechtlichen Gehalt der Enzyklika „Centesimus annus“ Papst Johannes Paul II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 I. Positive Wegweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 II. Die helfende Aufgabe des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 III. Gebrauch und Missbrauch der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 IV. Freiheit für Persönlichkeitsentfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 V. Für Ethikbezug der Rechts- und Staatslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 9. Zur Lehre Papst Johannes Paul II. von der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 I. Lebensweg mit Zeiterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 II. Papst Johannes Paul II. und das Ende des Kommunismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Inhalt

5

III. Forderung von Werten an die Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 IV. Menschenrechte achten und dem Gemeinwohl dienen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 III. 10. Glaube, Staat und Demokratie. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung von Josef Kardinal Ratzinger mit Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 I. Lebensweg bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 II. Gegenwartsengagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 III. Erkenntnis von Zeitproblemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 IV. Folgen des Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 V. Wert und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 VI. Beurteilungswürdigkeit der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 11. Glaube und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I. Priester und Gelehrter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Ethik und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 III. Kirche als Glaubensgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 IV. Wirken in Zeitverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 12. Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus. Ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikt XVI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 I. Zur Problematik der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 II. Eigenverantwortung in der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 III. Parlamentarismus und Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 IV. Wegweisungen der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 V. Vermenschlichung der Staatsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 VI. Präambel als Wegweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 VII. Erfüllte Zeitverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 13. Nächstenliebe und Gerechtigkeit als Gebote des Glaubens sowie des Rechtes. Gedanken zur Enzyklika von Papst Benedikt XVI. „Deus caritas est“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 I. Liebe und Seinsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 II. Kirche und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 III. Christentum für alle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 IV. Katholische Sozialverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 V. Entwicklungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 VI. Nächstenliebe und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 VII. Grenzen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 VIII. Menschliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

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Inhalt IV.

14. Katholische Soziallehre und Solidarität der Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 I. Die existentielle Situation vom Ich und Du . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 II. Ehe und Familie in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 III. Das Beispielgeben der Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 IV. Offenheit für Höheres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 V. Vorgegebenheiten der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 15. Die Verantwortung des Politikers für die Verteidigung der Rechte der Familie . . . . . . 180 I. Die natürliche Ordnung der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 II. Das Recht auf Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 III. Hilfen für junge und alte Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 IV. Möglichkeiten der Politiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 V. Das Evangelium des Lebens hörbar machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 16. Zur Bedeutung von Ehe und Familie für Gesellschaft und Staat (Ein österreichischer Beitrag) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 V. 17. Die christlichen Wurzeln in der europäischen Verfassungsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 I. Der Friede ein Anliegen der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 II. Christentum und Integration Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 III. Das Christentum in der europäischen Leitkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 IV. Der religiöse Bezug der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 V. Die EU auch als Rechts- und Wertegemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 18. Edith Stein und die neue Ordnung des integrierten Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 I. Edith Stein und das jüdisch-christliche Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 II. Martyrium und Confessio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 III. Christliche Wegweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 IV. Die europäische Leitkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 V. Leidensweg als Mahnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 VI. 19. Die Gläubigen vereint im Aufbau des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 I. Der Friede – eine Sehnsucht der Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 II. Schicksalsgemeinschaft Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 III. Ein Vierteljahrhundert Päpstlicher Weltfriedenstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

Inhalt

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IV. Heutige Bedrohung des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 V. Wegweisungen des Papstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 VI. Wesen und Voraussetzungen des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 VII. Solidarität als Grundlage des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 VIII. Redlichkeit und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 IX. Ziel: Menschen lieber glücklich machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 20. Friede und Menschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 I. Gebrauch und Mißbrauch des Wortes Friede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 II. Wege zum Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 III. Ordnungsprinzipien für den Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 IV. Der Einzelne als Friedensstifter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 V. Friede im Miteinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 21. Anerkennung weltweiter Verantwortung für eine globale Humanität . . . . . . . . . . . . . . . . 231 I. Der Gehalt der Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 II. Verlangen nach Weltautorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 III. An Autorität gestellte Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 IV. Aufgaben internationaler Friedenssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 V. Rechtsstaatlichkeit in globaler Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Schriften zu Kirche und Recht von Herbert Schambeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

I.

Die Verantwortung des Christen in der Politik* Verantwortung haben verlangt Antwort geben. Antwort geben, kann aber nur ein Mensch, der das Wort versteht. Wortverständnis setzt Zeitverständnis voraus. Der Christ ist zu beidem besonders aufgerufen. I. Tätige Nächstenliebe Christ sein verlangt nämlich, den Glauben zu bekennen und zu verwirklichen. Wer an Jesus Christus1 glaubt, hat seinem Beispiel zu folgen und nach diesem zur Wahrung der Ordnung der göttlichen Schöpfung das seine jeweils der Zeit und dem Ort angepaßt beizutragen.2 In dieser Sicht muß sich der Christ den ihm schon vom Glauben her gegebenen Aufgaben stellen. Man beachte auch: Jesus selbst betete im hohepriesterlichen Gebet für die Apostel: „Ich bitte nicht: Nimm sie aus der Welt, sondern: Bewahre sie vor dem Bösen“ (Joh 17,15). Christ sein in Verantwortung verlangt zur Gestaltung der Weltordnung in Bewahrung vor dem Bösen und im Tun des Guten beizutragen. Die Verantwortung des Christen hat daher tätige Nächstenliebe3 zu sein. Diese Verantwortung des Christen als tätige Nächstenliebe ist nicht auf einen luftleeren Raum oder eine intellektuelle Fiktion, also auf etwas Abstraktes, sondern auf etwas Konkretes bezogen, nämlich auf das Du des Nächsten in seinem privaten und öffentlichen Leben. Dieses öffentliche Leben macht den Bereich der Politik aus und dieser bietet den Rahmen auch für das private Leben der Menschen und ist deshalb schicksalhaft für den Einzelnen. Der Einzelmensch wird, ohne je gefragt wor* Vortrag gehalten auf der internationalen Konferenz vom 19. bis 21. Juni 2007 in der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau zum Thema „Christentum, Kultur und moralische Werte“, die vom Institut für Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, vom Amt für auswärtige Angelegenheiten des Moskauer Patriarchats, vom Päpstlichen Rat für die Kultur und vom Päpstlichen Komitee für Geschichtswissenschaften veranstaltet wurde; erschienen in L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 27. Juli 2007, Nr. 30 / 31, S. 14 f. und in: Christianity, Culture and Moral Values, Conference International, Moscow 2009, S. 42 ff. (Russisch). 1 Joseph Ratzinger-Benedikt XVI, Jesus von Nazareth, Freiburg / Basel / Wien 2007. 2 Josef Clemens, Christ sein – in turbulenter Zeit, Vatikanstadt 2006. 3 Herbert Schambeck, Nächstenliebe und Gerechtigkeit als Gebote des Glaubens sowie des Rechts, Gedanken zur Enzyklika von Papst Benedict XVI. Deus caritas est, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 18. Mai 2007, Nr. 20, S. 10 f.

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den zu sein, in die jeweilige Zeit hineingeboren. Er lebt, um mit dem Titel eines wegweisenden Buches von Bischof Egon Kapellari zu sprechen, „Menschenzeit in Gotteszeit“. Egon Kapellari hat es schon erklärt „Wer Gott in seinem Leben Raum gibt, der gewinnt Zeit, ‚erfüllte Zeit‘“.4 So wie der Einzelmensch sich nicht die Zeit seines Lebens aussuchen kann, kann er auch nicht den Ort seiner Geburt und seine Angehörigen aussuchen. Seine Eltern bekommt der Mensch, seine Ehe und durch diese seine Familie kann er schon aussuchen und mitgestalten. Im Rahmen des jeweils Möglichen kann der Mensch seine inneren und äußeren Umweltbedingungen mitbestimmen sowie auf diese Weise auch Heilsfindung und Persönlichkeitsentfaltung erfahren. Dieser Weg des Glaubens ist ein solcher der Selbsterkenntnis sowie der Sozialerfahrung im Du des Nächsten, der Gesellschaft und des Staates. Auf diesem Weg tätiger Nächstenliebe überschreitet der Einzelne auch den Bereich des Privaten und betritt den der Politik. In diesem Bereich der Politik hat der Christ sich über sein Wissen ein Gewissen zu machen. Die beiden lateinischen Worte: „scientia“ und „conscientia“ verdeutlichen in ihrem überlappenden Sinn diese schicksalhafte Verbundenheit. Die Kenntnis der Glaubenswahrheit und das Verständnis der Zelt sowie der Aufgaben der Menschen und deren Probleme verpflichten geradezu den Christen, sich mit Ordnungsfragen auseinanderzusetzen.

II. Politik und Heilige Schrift Jesus Christus hat sich nicht in rein politische Auseinandersetzungen eingelassen. Er hat sowohl gegenüber seinen Jüngern als auch gegenüber seinem Richter den Einsatz politischer Macht zur Herbeiführung des Gottesreiches abgelehnt. Das soll aber nicht heißen, daß Jesus Einrichtungen des Staates nicht wahrnehmen wollte und sich nicht mit ihnen auseinandergesetzt hat. So spricht Christus z. B. vom Steuerzahlen (Mt 17,24) und verweist im Erbstreit auf die bürgerliche Rechtsordnung (Lk 12,13). Jesus ist dadurch mit Fragen der öffentlichen Ordnung in Berührung gekommen, sodaß er den einzelnen Menschen, an den sich seine Botschaft richtet, nicht als isoliertes, sondern als soziales Wesen ansieht, d. h. als ein Wesen, das einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeitsentfaltung in einem Leben in der Gemeinschaft findet. Obgleich die Heilige Schrift keine eigene Staatslehre enthält, beinhaltet sie doch Ansatzpunkte zu einer solchen. Sie anerkennt die staatliche Ordnung und führt die Herrschaftsgewalt auf den Willen Gottes zurück (Röm 13,1). Der Staat wird als eine der Art des Menschen gemäße Ordnung betrachtet, die deshalb den Menschen im 4 Egon Kapellari, Menschenzeit in Gotteszeit, Wege durch das Kirchenjahr, Graz / Köln / Wien 2002, S. 8.

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Gewissen verpflichtet, ihrer Autorität Gehorsam zu leisten. „So gebt denn jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, wem Steuer, Zoll, wem Zoll, Ehrfurcht, wem Ehrfurcht, Achtung, wem Achtung gebührt“ (Röm 13,7). Der Staat wird als Helfer für die Ordnung der Gerechtigkeit angesehen, weshalb auch das Gebet für die Obrigkeit empfohlen wird (Tm 2,1 – 3). Die Heilige Schrift kennt aber auch den Antichrist und die sittliche Entartung des Staates als ein politisches Phänomen. „Jenes tritt in satanischer Macht mit allerlei trügerischer Krafttaten, Zeichen und Wundern und mit allem sündhaften Trug auf“ (2 Thess 2,9). Es ist „der Mensch der Gesetzlosigkeit“. „Er setzt sich sogar in den Tempel Gottes und gibt sich für Gott aus“ (2 Thess 2,4). Es ist die dämonische Selbstvergiftung der Staatsgewalt. Dieser Mißbrauch der Staatsgewalt hat seinen Ursprung nicht in Gott, sondern im Satan (Offb 13,2). Dieser apotheosierte Staat bildet das Thema der Geheimen Offenbarung, die bereits den totalen Staat kennt. „Alle, groß und klein, reich und arm, frei und unfrei, brachte das Tier [Satan] dazu, auf ihrer rechten Hand oder an ihrer Stirne ein Zeichen zu tragen. Keiner sollte kaufen oder verkaufen dürfen, der nicht das Zeichen trug: den Namen des Tieres oder den Zahlenwert seines Namens“ (Offb 13,16 f.). Dieser Staat hat keinen Bezug mehr zur christlichen Welt, die Gläubigen sollen auch an ihm nicht teilhaben. „Zieht aus ihr weg, Ihr, mein Volk, damit ihr an ihren Sünden nicht teilnehmt und von ihren Plagen nicht mit betroffen werdet“ (Offb 18,4). Dies bedeutet eine sehr kritische Haltung gegenüber dem Staat und keine Bejahung des Typs der Feigen und Lauen, denn es heißt „Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, so will ich dich aus meinem Munde ausspeien“ (Offb 3,16) und „die Feigen – und alle Lügner sollen im brennenden Feuer- und Schwefelpfuhl ihren Anteil erhalten“ (Offb 21,8). Diese Ablehnung der Resignation gegenüber dem totalen Staat ist nur deshalb möglich, weil das Letzte nicht die Herrschaft des Satans, sondern die „Heilige Stadt“ ist, die aus der Herrlichkeit Gottes (Offb 21,10 f.) herabkommt. Die Heilige Schrift enthält die Darstellung zweier miteinander unvereinbarer Erscheinungsformen des Staates, die beide in der Heilsgeschichte deshalb ihren erforderlichen Platz haben, weil sie die Entwicklungsmöglichkeiten des Staates erkennen lassen. Dem Einzelnen verbleibt die Entscheidung, welcher Staatstyp im Einzelfall entsteht. An ihn ist die Mahnung Jesu gerichtet: „Gebt also dem Kaiser, was dem Kaiser gebührt, und Gott, was Gott gebührt“ (Mk 12,17).

III. Verantwortung vor Gott Der Maßstab für das Handeln des Christen in der Politik ist die göttliche Schöpfungsordnung mit dem Menschen als Ebenbild Gottes im Zentrum. Joseph Kardinal Ratzinger, der heutige Papst Benedikt XVI. hat es schon erklärt: „Das Christentum ist mit dem Bewußtsein eines universalen Auftrags in die Welt getreten. Die Gläubigen Jesu Christi wußten vom ersten Augenblick an von der Pflicht, ihren Glauben an alle Menschen weiterzugeben; sie sahen im Glauben ein

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Gut, das ihnen nicht alleine gehörte, auf das vielmehr alle einen Anspruch hatten. Es wäre Veruntreuung gewesen, das Empfangene nicht in den letzten Winkel der Erde zu tragen.“5 Dieser Auftrag, die Lehre Jesu Christi hinaus in die Welt und damit auch in die öffentliche Ordnung dieser Welt, die Politik, zu tragen, geht über die Grenzen der jeweiligen Kirchen und Religionsgemeinschaften alle Christen an. Ihnen ist die Achtung der „Dignitas humana“ aufgetragen, die in der „Imago Dei“6 ihre Begründung hat. Aus diesem Grund ist es erstrebenswert, wenn Christen sich für die Aufnahme der Verantwortung vor Gott, also die „invocatio Dei“ in der Präambel der Verfassung eines Staates und folgend zu Beginn eines solchen Verfassungsgesetzes für die Anerkennung der Würde des Menschen einsetzen. „Invocatio Dei“, „Imago Dei“ und „Dignitas humana“ stellen in dieser Weise eine Einheit dar. Sie begründen in dem heute in vielen Verfassungen der Welt geschützten Grundrecht der Würde und zu ihrem Schutz der Freiheit der Menschen einen Grundrechtswert, der eine präpositive Bedeutung hat und die der Staat mit seinem Gesetzgeber vorfindet. Im Dienste dieser Grundrechtswerte stehen mit weltweiter Bedeutung vor allem die UNO-Menschenrechtsdeklaration und in Europa die Menschenrechtskonvention des Europarates sowie in der Europäischen Union der Entwurf zur Grundrechtecharta. Der Christ hat in der Politik den Gewissensauftrag diesem präpositiven Grundrecht der Freiheit und Würde des Menschen allgemeine Anerkennung in Staat und Gesellschaft sowie in der Völkergemeinschaft zu verschaffen. Die im Zuge der Entwicklung von Politik und Recht erfolge Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen, wie sie auch die Französische Revolution proklamierte und wie sie später ideologisiert wurde, war eine Säkularisierung alten christlichen Gedankengutes! Dieses christlich begründete Grundrecht der Menschenwürde und die Humanisierung des Staates und seiner Ordnung im demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat kommt heute auch jenen zugute, die Nichtgläubige und Nichtchristen sind. Dieses Grundrecht und diese human mögliche Staatsordnung ist ein bleibendes Gut der Staatsrechtsordnung geworden, das es zu achten, zu schützen und zu entwickeln gilt, beginnend mit dem Schutz des Rechtes auf Leben von gezeugten noch ungeborenen Leben bis zu seinem Ende, mit Ablehnung der Abtreibung und der aktiven Sterbehilfe. Es verlangt aber nicht allein die Freiheit und Würde des Menschen zu proklamieren, sondern auch zu konkretisieren, wozu im Rahmen des jeweils zeitlich und örtlich Möglichen auch die kulturellen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen zu verschaffen sind. 5 Joseph Kardinal Ratzinger, Der christliche Glaube vor der Herausforderung der Kultur, in: Evangelium und Inkulturation, Salzburger Hochschulwochen, hrsg. Von Paulus Gordan, Graz 1993, S. 9. 6 Gen 1,26 f., Gen 5,3 und Gen 9,6 sowie Psalm 8,5 – 7.

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IV. Christliche Soziallehre Die Verantwortung des Christen in der Politik verlangt eine bestimmte Sozialeinstellung tätiger Nächstenliebe und getaner Gerechtigkeit. Die katholische Kirche hat hierzu ganz deutlich beginnend mit Papst Leo XIII. und seiner Sozialenzyklika Rerum novarum 1991 bis heute eine eigene katholische Soziallehre7 entwickelt und die orthodoxe Kirche Rußlands ein eigenes Sozialwort verkündet, nämlich die von der Moskauer Bischofssynode 2000 verabschiedeten Grundlagen der Sozialdoktrin der russisch-orthodoxen Kirche.8 Diese Sozialdoktrin entspricht mit den Erwartungen, welche Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli am 10. Juni 1988 in seiner Ansprache anläßlich des Festaktes der Tausendjahrfeier der Taufe des Volksstammes Rus von Kiew im Bolschoi-Theater in Moskau geäußert hat, als er den Wunsch zum Ausdruck brachte, „die russisch-orthodoxe Kirche und die anderen religiösen Gemeinschaften … – von denen es mir gestattet sei“, erklärte Eminenz Casaroli, „jene zu erwähnen, die in voller Einheit mit Rom stehen“ – mögen „imstande sein, nicht nur Aktivität auf geistigem Gebiet besser auszuüben, sondern auch auf ihre Art und Weise einen immer wirksamen Beitrag zur Entwicklung der … Gesellschaft im Bereich der Kultur, des moralischen Lebens und eines harmonischen Zusammenlebens zu leisten“9. Diese christlichen Lehren von der Sozialordnung dienen der Wahrung der Freiheit und Würde des Menschen sowie der Herstellung und Entwicklung einer humanen Ordnung des individuellen sowie öffentlichen Lebens. Dazu bedarf es von seiten des Politikers auch das Recht des Schutzes des Lebens, der Ehe und Familie sowie der Beachtung von Grundsätzen für eine christliche Sozialgestaltung. Es sind dies die Grundsätze der Autorität, der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohls, die Empfehlung leistungsgemeinschaftlicher oder partnerschaftlicher Ordnung und die Anerkennung der Autonomie der irdischen Wirklichkeit, sie seien hervorgehoben. In der Beachtung dieser Grundsätze können wir Lebensnähe und Ablehnung aller Utopien erkennen. Wer wollte nämlich nicht anerkennen, daß jede Ordnung zu ihrem dauernden Bestand von Autorität getragen sein muß und dieser Grundsatz gerade in einer Zeit von größter Bedeutung ist, in der die Anarchie offen und verdeckt in verschiedenen Formen eine früher nicht für möglich gehaltene Renaissance feiert sowie Formlo-

7 Siehe: Texte zur katholischen Soziallehre, die sozialen Rundschreiben der Päpste und anderer kirchliche Dokumente, mit Einführung von Oswald von Nell-Breuning SJ und Johannes Schasching, 1. Aufl., Bornheim / Kevelaer 1992. 8 Dazu Sozialdoktrin Russisch-Orthodox, hrsg. von Josef Thesing und Rudolf Uertz, Sankt Augustin 2001, und Johannes Schasching, Das Sozialwort der orthodoxen Kirche Rußlands, in: Diplomatie im Dienst der Seelsorge, Festschrift zum 75. Geburtstag von Donato Squicciarini, hrsg. von Egon Kapellari und Herbert Schambeck, Graz / Wien / Köln 2002, S. 268 ff. 9 Agostino Kardinal Casaroli, Glaube und Verantwortung, Ansprachen und Predigten, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1989, S. 45.

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sigkeit nur eine milde Form des Terrors ist. Dabei darf nicht angenommen werden, daß die Autoritäten immer gleichbleiben können. Auch diese entwickeln sich mit den Ordnungen, die sie tragen und zu sichern haben, weiter. So gehen wir den Weg von den hierarchischen zu den partnerschaftlichen Ordnungen, in welchen es auch Autoritäten geben muß. Waren diese früher bloß in den Positionen begründet, werden sie in Zukunft auch in den Argumentationen gelegen sein müssen. So erwartet man sich Autoritäten, die befragbar, partnerschafts- und antwortfähig sind! Diese Partnerschaft wird in Ehe, Familie, Kirche, Gesellschaft und Staat, im Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschehen der Natur der jeweiligen Sache entsprechend verschieden sein. Man halte sich das Erfordernis unterschiedlicher Partnerschaften von Kindern und Eltern in der Familie, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Betrieb und von lernender und lehrender Seite in den Schulen der 6- bis 10jährlgen, der 10- bis 14jährigen und der 14- bis 18jährigen und der Studenten und Professoren an den Hochschulen vor Augen. Es wird jeder in einer partnerschaftlichen Ordnung nur so viel an Aufgaben übernehmen können, als er verantworten kann, und verantworten kann man nur das, was man auch versteht! Diese Form der Autorität läßt die Solidarität als ihren gleichsam bedingten Grund erkennen. Sie ist aus der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen religiös erklärlich und in Grundrechten des Einzelnen rechtlich gesichert. Diese Grundrechte sind in Freiheitsrechten auf den Schutz der Privatsphäre des Einzelnen und in politischen Rechten auf seine Mitwirkung an der Staatswillensbildung gerichtet. Neben diesen mehr auf ein Unterlassen des Staates gerichteten Grundrechten haben sich in letzter Zeit zwei neue Gruppen von Grundrechten entwickelt, die auf ein Tun des Staates ausgerichtet sind, nämlich die im Dienste der sozialen Sicherheit stehenden soziale Grundrechte und die den Umweltschutz bezweckenden sogenannten existentiellen Grundrechte. Die Freiheit und Würde des Menschen verlangt nämlich den Schutz, die Freiheit auch als physisch und psychisch gesunder Mensch erleben zu können. Dieser vermehrte Einsatz des Staates ist mit dem Prinzip der Subsidiarität als dem Grundsatz der ersatzweisen Hilfeleistung zu konfrontieren. Dieser Grundsatz hat in verschiedener Weise eine Ausprägung gefunden. Es sei im Staatsrecht an die Bundesstaatlichkeit und in der Wirtschafts- und Sozialpolitik an die Formen der paritätischen Politik der Sozialpartner erinnert, in welcher der Gedanke der Leistungsgemeinschaft seine zeit- und ortsbezogene Ausführung erfahren hat. Während durch den Föderalismus eine Aufteilung der Ausübung der Staatsfunktionen auf Bund und Länder erfolgt, kann die paritätische Politik dem Staat die Mühen um eine Lösung wichtiger sozial- und wirtschaftspolitischer Probleme dadurch erleichtern, daß die Interessenverbände als freiwillige oder gesetzliche Selbstschutz- und Selbsthilfeeinrichtungen der Sozialpartner die sie betreffenden Fragen in Eigenverantwortung einer Lösung zuzuführen suchen, damit sie den Staat entlasten und dem Gemeinwohl dienen. Das Gemeinwohl hat ja die Aufgabe, dem Einzelnen jene Werte zu sichern, die er in kultureller, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Sicht braucht, um seine Persönlichkeitsentfaltung zu erfahren. Dieses Gemeinwohl wird heute nicht allein in-

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nerstaatlich, sondern auch zwischenstaatlich verstanden und die Forderung nach weltweiter Entwicklungshilfe erhoben. Wurde jahrzehntelang die Forderung nach einer ausgewogenen Sozialordnung des Staates und der Gesellschaft erhoben und dafür nach einzelnen Berufen auch die gemeinsame Organisation der Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein und desselben Berufes verlangt, so wird nach Erfüllung dieser Forderung in der heutigen bewährten Sozialpartnerschaft die internationale Zusammenarbeit angestrebt. Ist doch auch die Kirche berufen, eine Brüderlichkeit erleben zu lassen, die ökumenisch und ökonomisch zugleich ist. Neben der Gemeinwohlverpflichtung der Sozialpartner soll die Gemeinwohlverpflichtung der Völkergemeinschaft treten. Die Kirche erfüllt damit nicht alleine eine Repräsentations-, sondern eminent eine Sozialfunktion. Diese Aufgaben des Christen in der Politik werden nicht im Einsatz monologischer Macht – die die Ideologien der Politik kennzeichnet –, sondern vielmehr im Erleben des Dialoges zu erfüllen möglich sein.

V. Dialogfähigkeit und Glaubwürdigkeit In seiner Enzyklika Ecclesiam suam vom 6. August 1964 hat Papst Paul VI. als Eigenschaften dieses Dialogs die Klarheit, die Sanftmut, das Vertrauen und die Klugheit angegeben. Diese Eigenschaften, die allgemein für den Dialog von Papst Paul VI. genannt wurden, sind auch für die Ausübung der Verantwortung der Christen in der Politik notwendig. Sie sollten von allen Christen, gleich welcher Partei und welchem Interessenverband sie angehören, beachtet werden. Auf diese Weise kann eine Gesprächs- und nötigenfalls auch Streitkultur entstehen, die Grundsätze im Denken mit Toleranz im Handeln verbindet. Wenn Christen im politischen Leben in allen Parteien und allen Interessenverbänden diese Grundsätze vertreten, kann im wahrsten Sinne des Wortes ein Entgegenkommen möglich sein! Grundsätze im Denken bedeutet nicht Rechthaberei, sondern vielmehr Prinzipien, die für wahr und richtig gehalten werden, zu vertreten sowie Überzeugungen, die religiös begründet sind, mit menschlicher und sachlicher Erfahrung anderen zu vermitteln. Toleranz im Handeln bedeutet dazu nicht Gleichgültigkeit, sondern das Bemühen, im gegenseitigen Verstehen zu einer möglichsten Willensübereinstimmung zu gelangen. Je mehr Christen in den verschiedenen Parteien und Interessenverbänden eines Staates sowie Staaten mit ihren Repräsentanten in internationalen Organisationen sowie zwischenstaatlich christliche Grundsätze vertreten, desto mehr können sie im öffentlichen Leben der Staaten und der Völkergemeinschaft zum Frieden beitragen. Diese Friedensfunktion kann der Christ in der Politik aber nur dann zum Tragen bringen, wenn die Grundsätze der christlichen Soziallehre der Kirche mög-

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lichst allgemein anerkannt sind und von Menschen vertreten werden, die glaubwürdig sind. Glaubwürdigkeit verlangt einerseits, selbst würdig zum Glauben zu sein und würdig, anderen den Weg zum Glauben zu weisen sowie andererseits von Mitmenschen im Leben nur das zu verlangen, was man selbst zu tun bereit und fähig ist. Diese Möglichkeiten an Verantwortung der Christen in der Politik zum Tragen zu bringen, ergeben sich in allen Staatsformen, ob Monarchie oder Republik, und in jedem politischen System, vorausgesetzt, daß diese dem Gemeinwohl dienen und die Freiheit sowie Würde des Menschen, also die Grundrechte, anerkennen. Dies ist bei autoritären und totalitären Regimen, wie Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus, nicht gegeben. Es handelt sich in diesem Fall um Ideologien, die, wie die Geschichte zeigt, zu Unmenschlichkeiten führen, welche Millionen von Menschen zunächst ihre Freiheit und dann ihr Leben gekostet haben und auch deshalb abzulehnen sind. Diese Ideologien wurden zu Recht von vielen Christen abgelehnt und haben unzählige Christen durch ihren Widerstand im Gewissensauftrag zu Märtyrern werden lassen.

VI. Christ und Politik Der Hinweis auf das nachweisbare Märtyrertum vieler Christen zeugt für die Schwere der Verantwortung des Christen besonders auch in der Politik. Es kommt zwar darauf an, daß die Kirche mit ihren Autoritäten die Lehre von Jesus Christus verkündet und zur gegebenen Zeit sowie aus notwendigem Anlaß auch Position bezieht; die Verwirklichung dieser Glaubenswahrheiten und Grundsätze obliegt aber mit allem Risiko den Laien als Bürger oder Politiker. Papst Benedikt XVI. hat es schon in seiner Enzyklika Deus caritas est 2005 erklärt: „Die Kirche kann nicht und darf nicht den politischen Kampf an sich reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft zu verwirklichen. … Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muß von der Politik geschaffen werden“ (Nr. 28a). Er betont: „Die unmittelbare Aufgabe, für eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft zu wirken, kommt dagegen eigens den gläubigen Laien zu“ (Nr. 29), was Papst Benedikt XVI. auch vor kurzem am 13. Mai 2007 in seiner Ansprache zur Eröffnung der V. Generalversammlung der Bischofskonferenzen von Lateinamerika und der Karibik in Aparecida unterstrich.10 Der gläubige Christ wirkt, das sei betont, in Eigenverantwortung in der Politik. Er muß wissen, was das II. Vatikanische Konzil in der Pastoralkonstitution Gau10 Bleib bei uns Herr – ohne Christus gibt es kein Licht, keine Hoffnung, keine Liebe und keine Zukunft, Eröffnung der V. Generalversammlung der Bischofskonferenz von Lateinamerika und der Karibik, Ansprache von Papst Benedikt XVI. in Aparecida am 13. Mai 2007, L’O.R dt. 18. Mai 2007, Nr. 20, S. 5 f.

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dium et spes hervorhebt, daß keiner das Recht hat, das Wort christlich in der Auseinandersetzung des politischen Lebens für sich allein gleichsam als Monopol in Anspruch zu nehmen, außerdem gibt es viele Bereiche der Politik, in welchen es wie in der Staats-, Kultur-, Sozial- und Wirtschaftspolitik verschiedene Möglichkeiten und Wege gibt, christliche Grundsätze zu verwirklichen. Diese Pastoralkonstitution spricht sogar von der „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“, womit die Eigengesetzlichkeit der irdischen Sachbereiche und damit auch der Wissenschaft gemeint ist. Die Pastoralkonstitution erklärt, „daß in solchen Fällen niemand das Recht hat, die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen.“11 In diesem Zusammenhang sei auch auf die Enzyklika Fides et ratio von Papst Johannes Paul II. 1998 und auf die Enzyklika von Papst Benedikt XVI. Deus caritas est, in der er von der „Reinigung der Vernunft durch den Glauben der Kirche spricht, hingewiesen. In dieser sach- und wertebezogenen Haltung hat der gläubige Christ in der Politik Position zu beziehen, sei es als Politiker selbst Entscheidungen in Rechtssetzung oder Rechtsvollziehung zu treffen oder in der Demokratie an der Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung teilzunehmen. In all diesen Fällen sollte er sich von Glaubenswahrheiten leiten lassen, Position für christliche Werte beziehen und keinem Werteindifferentismus, Positivismus, keiner Säkularisierung12 sowie Diktatur des Relativismus13 folgen. Es kommt vielmehr darauf an, einen „angemessenen Beitrag“ zu leisten, „damit durch die Politik eine soziale Ordnung entsteht, die gerechter ist und mehr der Würde des Menschen entspricht“.14 Aufgabe des Christen in der Politik muß es sein, über die Grenzen der Parteien eines Landes möglichst vielen eine Wegweisung zu anerkennbaren Grundwerten und Grundrechten des privaten und öffentlichen Lebens, insbesondere auch der Grundsätze des demokratischen Verfassungs- und Rechtsstaates zu geben. In dieser Sicht könnte unter der Mitwirkung der Christen in der Politik die Meinungs-, Urteils- und Willensbildung in einem Staat bei aller Pluralität zu einer möglichsten Übereinstimmung an erforderlichen Grundsätzlichkeiten im Rechts-, Kultur-, Wirtschafts- und Sozialleben für die Gesetzgebung und Vollziehung führen. So kann der Christ in der Politik sowohl eine Repräsentations- wie auch eine Integrationsfunktion erfüllen.

11 Pastoralkonstitution, Über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes, Nr. 43; Karl Rahner, Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 2. Aufl. Freiburg i.Br. 1966, S. 493. 12 Sozialdoktrin der russisch-orthodoxen Kirche, IV. 7. 13 Joseph Kardinal Ratzinger, Heilige Messe Pro eligendo Romano Pontifice am 18. April 2005, L’O.R. dt, 22. April 2005, S. 3; dazu Herbert Schambeck, Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus, ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikts XVI., L’O.R. dt., 12. Mai 2006, Nr. 19, S. 10 und 19. Mai 2006, Nr. 20, S. 9 f. 14 Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhältnis der Katholiken im politischen Leben, Vatikanstadt 2002, S. 14.

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Politik und Glaube können sich in dieser Weise berühren.15 Der Christ in der Politik hat hierfür und dazu eine abwägende und ausgewogene Haltung einzunehmen, mit der er in einer Sachnotwendigkeit unter Beachtung christlicher Werte gerecht wird. Sachlichkeit und Menschlichkeit gilt es so zu verbinden, daß sie christlichen Erfordernissen gerecht wird. Dies verlangt zu erkennen, daß man nicht alles, was man tun kann, auch tun darf, wie zum Beispiel werdendes menschliches Leben durch Abtreibung töten, aktive Sterbehilfe leisten, die Gesundheit der Menschen durch mangelhaften Umweltschutz bedrohen, durch die industrielle Produktion unter Außerachtlassung des Kyoto-Abkommens den Klimaschutz gefährden oder auf Kosten des Personaletats von Betrieben den Aktienkurs steigern, es kommt nämlich darauf an, eine Politik nach menschlichem Maß in christlicher Verantwortung zu gestalten. In diesem Sinne erklärte schon der frühere deutsche Bundespräsident Johannes Rau, der ein jederzeit bekennender Christ war: Politik ist „offenbar nicht bloß und nicht zuerst, was irgendwer nach langen Diskussionen entschied, sondern Bestimmung von Richtung … Wenn Brüder den Vater erkennen, wird Richtung sichtbar.“16 Dabei sei beachtet, daß das Ende des Kommunismus nicht die endgültige Beantwortung der sozialen Frage ist; es kommt vielmehr darauf an, kulturellen Fortschritt mit wirtschaftlichem Wachstum und sozialer Sicherheit zu verbinden, um damit dem Neokapitalismus zu begegnen. Das verlang, den Menschen nicht als bloßes Objekt zu behandeln, sondern verständnisvoll als Subjekt anzusehen, Brot zu teilen mit dem Nächsten, vom Nächsten nichts zu verlangen, was man nicht selbst zu tun bereit ist, zu wissen, daß vor allem der zum Herrn, nämlich Gott, wird Vater sagen dürfen, dem jeder Nächste Bruder oder Schwester ist, um an die Stelle des Neben-und Gegeneinander der Menschen, Nationen, Völker und Staaten ein Miteinander mit wechselseitigem Verstehen treten zu lassen und die in Unordnung geratene Welt im Rahmen des Möglichen geeint in Gottes Arme zurückzuführen. Da Jesus Christus für uns alle gestorben ist, um uns zu erlösen, haben wir in ökumenischer Brüderlichkeit Gelegenheit, in der Christlichkeit mit dieser in der internationalen Gemeinschaft einen wegweisenden Beitrag des Füreinander für den Frieden zu leisten, von dem Augustinus schon einst feststellte: „pax est ordinata concordia“.17 Möge es uns allen mit dieser ökumenischen Tagung möglich sein, einen Beitrag zu dem Frieden zu leisten, den auch unsere Zeit so dringend braucht. Papst Benedikt XVI., Deus Caritas est, 28a. Johannes Rau, Was meinem Leben Richtung gab, in derselbe, Wer hofft, kann handeln, Gott und die Welt ins Gespräch bringen, Predigten, hrsg. von Matthias Schreiber, 2. Aufl., Holz-Gerlingen 2006, S. 18 und 21. 17 Aurelius Augustinus, De civitate Dei, XIX, 11 – 13, 14. 15 16

Laienapostolat in der Kirche und Verantwortung in der Politik* Kirche in der Welt von heute zu sein, wie es das II. Vatikanische Konzil in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ verlangt, bezieht den Auftrag des Glaubens auf die Verantwortung für die Welt.1

I. Verpflichtung für die Ordnung der Welt Ganz deutlich wird diese Verpflichtung, vom Glauben getragen zur Ordnung der Welt beizutragen, im Staat, wenn Verfassungen in ihrer Präambel einen Gottesbezug beinhalten; das ist nach dem Stand vom April 2006 von 191 Verfassungen bei 143 Verfassungen der Fall2, von denen 65 einen Gottesbezug zwar mit unterschiedlicher Formulierung haben. Sehr deutlich war diese Invocatio Dei schon im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, dessen Präambel mit den Worten beginnt: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen.“ Die Verfassung der Republik Polen vom 2. April 1997 sucht in ihrer Präambel Bezug auch auf die Pluralität der Gesellschaft zu nehmen, ansprechend „sowohl diejenigen, die an Gott als Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten.“ Diese Werte in der Erklärung des Gottesbezugs Polens entsprechen auch ganz dem, was sieben Jahre später Jürgen Habermas in seinem Beitrag zum Gespräch mit Joseph Kardinal Ratzinger, dem heutigen Papst Benedikt XVI. feststellte; er erklärte * Erschienen in: „Mit euch bin ich Mensch“, Festschrift anlässlich des 60. Geburtstags von Friedrich Schleinzer O. Cist., hrsg. von Georg Ritzer, Innsbruck / Wien 2008, S. 546 ff. 1 Siehe Paul Mikat, Christliche Weltverantwortung in einer veränderten gesellschaftlichen Situation, in: Apostolat und Familie. Festschrift für Opilio Kardinal Rossi zum 70. Geburtstag, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. 3 ff. und Herbert Schambeck, Glaube und Weltverantwortung nach dem II. Vatikanischen Konzil, in: Pax et iustitia. Festschrift für Alfred Kostelecky zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans Walther Kaluza, Heribert Franz Köck, Hans R. Klecatsky, Johannes Parhammer, Berlin 1990, S. 37 ff. 2 Beachte Constitutions of the Countries of the World, New York 1971 ff., zum Vergleich Herbert Schambeck, Zur Gottesfrage als Verfassungsfrage in Österreich, in: Identität und offener Horizont. Festschrift für Egon Kapellari, hrsg. von Franz Lackner und Wolfgang Mantl, Wien / Graz / Klagenfurt 2006, S. 1107 ff.

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nämlich zur Frage „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?“: „Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentliche Sprache zu übersetzen.“3 Die Wegweisung des Glaubens kommt durch das Bekenntnis der Gläubigen dadurch auch allen übrigen zugute, dass diese in einem Staat leben können, der durch die Wirkkraft des Christentums eine Menschenwürdigkeit seiner Ordnung4 sowie in einer Symbiose von Liberalismus und Demokratismus eine Verfassungsstaatlichkeit5 erreichte, welche eine Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit des Staatshandelns und seine Kontrolle ermöglicht. Jeder kann auch sein Bekenntnis in die öffentliche Meinungs- und Urteilsbildung sowie in die das positive Recht erzeugende demokratische Staatswillensbildung einbringen. Voraussetzung ist beim Einzelnen die Glaubenseinsicht und das gläubige Bekenntnis im öffentlichen Leben. Dieser Beitrag des Glaubens zur Politik und zu dem Recht des Staates setzt die Glaubwürdigkeit des Einzelnen in zweifacher Hinsicht voraus, nämlich selbst würdig zum Glauben zu sein und auch würdig, den anderen den Weg zu glauben zu weisen. Das verlangt, vom anderen nur das zu verlangen, was man selbst zu tun bereit ist und zu erkennen, dass die Freiheit des Einen dort endet, wo die des Mitmenschen beginnt. So kann vermieden werden, dass der Staat ein bloßes Clearinghaus der Gruppeninteressen wird, sondern als eine Solidargemeinschaft erlebt werden kann, die sich um das Gemeinwohl6 bemüht. Dieses Denken und Wollen vom Glauben her wird bezogen auf das private und öffentliche Leben in Europa und darüber hinaus in der Staatengemeinschaft, besonders vom Christentum und innerhalb desselben getragen durch die apostolische Sukzession von der römisch-katholischen Kirche, die vom Nachfolger des heiligen 3 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates, in: Jürgen Habermas, Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, über Vernunft und Religion, Freiburg / Basel / Wien 2005, S. 36; dazu auch derselbe, Glauben und Wissen, Frankfurt / Main 2001. 4 Dazu Staatsethik, hrsg. von Walter Leisner, Köln 1977, bes. Joseph Kardinal Höffner, Die Würde des Menschen als höchster Wert, S. 19 ff., Arthur F. Utz, Der Wert der Ordnung in christlicher Sicht, S. 45 ff., Leo Scheffczyk, Walter Leisner, Das Ebenbild Gottes im Menschen – Würde und Freiheit, S. 77 ff. und S. 81 ff. 5 Näher Adolf Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Demokratie und Rechtsstaat. Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 163 ff. und Herbert Schambeck, Der Staat und seine Ordnung: ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger, Wien 2002. 6 Siehe Johannes Messner, Das Gemeinwohl, Idee, Wirklichkeit, Aufgaben, Osnabrück 1962.

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Petrus geführt und geprägt ist.7 Urbi et orbi sucht sie den Menschen durch die Glaubensverkündigung den Weg zur Persönlichkeitsentfaltung und Heilsfindung sowie zu einer der Freiheit und Würde des Menschen, die in der Gottesebenbildlichkeit der Menschen8 ihren Grund hat, entsprechenden humanen Ordnung9 im Staat und in der Völkergemeinschaft zu weisen. In dieser Sicht verbindet sich mit der Glaubensverkündigung eine Verantwortung für die Welt, welche von einer göttlichen Schöpfungsordnung getragen ist. Sie zu wahren, beginnt mit dem Schutz des gezeugten noch ungeborenen Lebens, endet mit einer würdegerechten Sterbehilfe und schließt u. a. den Umweltschutz ein.10

II. Missionsauftrag Jesu Christi Jede Zeit hat die ihr eigene Verantwortung für diese Glaubensverkündigung und der damit verbundenen Weltverantwortung. Sie hat ihren Grund im Missionsauftrag Jesu Christi: „Darum geht hin und macht euch alle Völker zu Jüngern, in dem ihr sie tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und sie alles halten lehrt, was ich euch geboten habe. Seht, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ (Matthäus 28, 19 f.). Wie sich aus diesem Wortlaut ergibt, hat Jesus diesen seinen Missionsauftrag, welcher das Apostolat aller Christen begründet, mit seiner Erklärung der Zuversicht verbunden. Diese Zuversicht drückt sich deutlich in dem Wort spes (Hoffnung) der Bezeichnung der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils „Gaudium et spes“ aus. Diese Hoffnung ist auch Grund für die Freude, die der Christ haben kann. Joseph Kardinal Ratzinger hat oft erklärt, er wundere sich, warum Christen so ernst und traurig sind, wo sie doch Grund zum Frohsinn hätten. So erklärte er auch: „… das Grundelement des Christentums ist Freude. Freude nicht im Sinne einer billigen Gaudi, die auf dem Hintergrund der Verzweiflung stehen kann. Wir wissen doch, dass Klamauk häufig die Maske für Verzweiflung ist. Sondern es ist die eigentliche

7 Beachte Audomar Scheuermann, Die Amtsgewalt des Papstes, in: Kirche und Staat. Fritz Eckert zum 65. Geburtstag, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1976, S. 3 ff. 8 Gen 1,26 f., 5,3 und 9,6. 9 Dazu Karl Korinek, Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Grundlage moderner Grundrechtskataloge, in: Diplomatie im Dienst der Seelsorge. Festschrift zum 75. Geburtstag von Nuntius Erzbischof Donato Squicciarini, hrsg. von Egon Kapellari und Herbert Schambeck, Graz / Wien / Köln 2002, S. 76 ff. und Herbert Schambeck, Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, hrsg. von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier, Heidelberg 2004, S. 349 ff. 10 Näher Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel. Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, hrsg. von Alfred Klose, Herbert Schambeck, Rudolf Weiler und Valentin Zsifkovits, Berlin 1976, S. 480 ff.

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Freude. Eine, die mit einem schweren Dasein zusammen besteht und dieses Dasein dann auch lebbar macht. Die Geschichte Jesu Christi beginnt nach dem Evangelium damit, dass der Engel zu Maria sagt: Freue dich! In der Nacht der Geburt sagen die Engel wiederum: Wir verkünden euch die eine große Freude. Und Jesus sagt: Ich verkünde euch die gute Botschaft. Also der Kern, um den es eigentlich geht, lautet immer: Ich verkünde euch eine große Freude, Gott ist da, ihr seid Geliebte, und das steht für immer fest.“11 Der Weg zu dieser Freude des Christen, wie für jeden zu Gott, ist für den Einzelnen verschieden. Als Joseph Kardinal Ratzinger gefragt wurde, „wie viele Wege zu Gott es denn gäbe“12 „braucht“ er „nicht lange für seine Antwort: So viele, sagte er, wie es Menschen gibt“.13 So viele Wege es für den Einzelnen zu Gott gibt, so viele Wege gibt es, um im Auftrag der Mission Jesu Christi den Mitmenschen sein Wort zu verkünden und glaubwürdig vorzuleben. Dies macht den Gläubigen teilhaftig am Apostolat. Ferdinand Klostermann hat es schon festgestellt: „Jegliches Apostolat außer dem Jesu ist ein Apostolat der Teilhabe an seinem Apostolat.“14 Der Auftrag zur Verwirklichung dieses Apostolats15 begleitet alle in der Kirche, sowohl Laien wie Priester. Beide stehen im Missionsauftrag Jesu Christi; jeder aber in seinem spezifischen Aufgabenbereich und damit auch zur Heilsfindung der Mitmenschen das ihm Mögliche beizutragen; keiner kann den anderen ersetzen, weder der Laie den Priester noch der Priester den Laien! Gleiches gilt für die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute. Sie bezieht sich auf die Kirche in der Welt und nicht auf die Welt von heute in der Kirche! Die jeweilige Unterscheidung begleitet ein Spannungsfeld und diesem vom Glauben her Entsprechungsmöglichkeiten sowie den Verantwortlichen im Laien- und Priesterstand jeweils eigene Erfahrungen, Weisungsmöglichkeiten und nicht zuletzt Gnadengaben. Jegliches Apostolat setzt aber „die liebende Nachfolge Jesu“16 voraus.

III. Kleriker und Laie Das II. Vatikanische Konzil hat diese Vielfalt des Apostolats verdeutlicht, besonders in der dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ und im Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam actuositatem“. Mit dem Apostolat der 11 Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche an der Jahrtausendwende, ein Gespräch mit Peter Seewald, Stuttgart 1996, S. 29. 12 Ratzinger, a. a. O., S. 8. 13 Ratzinger, a. a. O. 14 Ferdinand Klostermann, Das christliche Apostolat, Innsbruck 1960, S. 1131. 15 Sie auch Markus 16, 15; Lukas 24,47 und Johannes 20,21. 16 Klostermann, a. a. O., S. 1137.

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Bischöfe, Priester und Ordensleute nimmt in ihrem eigenen Aufgabenbereich nach Lebenslage, Beruf, Stand, als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, intellektuell oder manuell Tätiger verschieden auch der Laie nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten am Missionsauftrag der Kirche teil; zur Zusammenarbeit besteht besonders im Bereich der pastoralen Aufgabe der Pfarren sowie in der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit Gelegenheit. Auch in der Ehe- und Familienpastoral, die von grundlegender Bedeutung für die Gesellschaft und den Staat sind, ist heute diese Zusammenarbeit von Klerikern und Laien sehr gefordert. Zum Unterschied von den Klerikern, die geweiht einen eigenen Auftrag zur Lehre und Seelsorge mit einem unersetzbaren Auftrag zum Dienst am Altar haben, ist der Laie aufgerufen, im öffentlichen Leben für eine Wahrung der Schöpfungsordnung und eine humane Staatlichkeit sich einzusetzen. Dieser Auftrag des katholischen Laien in der Politik ist unvertretbar. Papst Benedikt XVI. selbst hat in seiner Enzyklika „Deus caritas est“ betont, dass es nicht Auftrag der Kirche ist, selbst diese Lehre politisch durchzusetzen: „Sie will der Gewissensbildung in der Politik dienen und helfen, dass die Hellsichtigkeit für die wahren Ansprüche der Gerechtigkeit wächst und zugleich auch die Bereitschaft, von ihnen her zu handeln, selbst wenn das verbreiteten Interessenlagen widerspricht … Die Kirche kann nicht und darf nicht den politischen Kampf an sich reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft zu verwirklichen. Sie kann und darf nicht sich an die Stelle des Staates setzen. Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muss von der Politik geschaffen werden.“17 Zur Erfüllung dieser Aufgabe eines christlichen Beitrags zur Politik hat die katholische Kirche mit einer reichen Tradition eine Soziallehre18 entfaltet, die vor allem durch die päpstlichen Lehräußerungen eine bestimmende Prägung erfahren haben.

Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus Caritas est 2005, Nr. 28a. Beachte: Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung, Band I – IV, hrsg. von Arthur F. Utz und Brigitta Gräfin von Galen, Aachen 1976; Johannes Messner, Kurz gefasste christliche Soziallehre, Wien 1979; Alfred Klose, Die katholische Soziallehre, ihr Anspruch, ihre Aktualität, Graz / Wien / Köln 1979; Kardinal Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 8. erw. Aufl., Kevelaer 1983; Rudolf Weiler, Einführung in die katholische Soziallehre, ein systematischer Abriss, Graz / Wien / Köln 1991; Herbert Schambeck, Kirche, Staat und Demokratie, ein Grundthema der katholischen Soziallehre, Berlin 1992; Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit einer Einführung von Oswald von Nell-Breuning SJ. und Johannes Schasching SJ., Kevelaer 1992; Alfred Klose, Für eine Welt von morgen, soziale Orientierungen, Limburg / Kevelaer 2001; Roland Minnerath, Pour une éthique sociale universelle, la proposition catholique, Paris 2004 sowie Herbert Schambeck, Katholische Soziallehre und Solidarität der Generationen, in: Vanishing Youth, Solidarity with children and young people in a age of turbulence, edited by Mary Ann Glendon, Pierpaolo Donati, The Pontifical Academy of Social Sciences Acta 12, Vatican City 2006, S. 507 ff. 17 18

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IV. Empfehlungen katholischer Soziallehre Grundsätze dieser christlichen Sozialgestaltung, die Wegweisungen für die Verantwortung des Christen in der Politik sind, können erkannt werden besonders in der Empfehlung der Autorität, Solidarität, Subsidiarität, der partnerschaftlichen Ordnung und des Gemeinwohls. Jede Ordnung bedarf zu ihrem Bestand eine Autorität und deren Begründung. Mit den Anforderungen an eine Ordnung entwickeln sich deren Strukturen sowie deren Autoritätsbegründungen weiter; waren früher hierarchische Ordnungen mit hierarchischen Autoritäten gegeben, die in der jeweiligen Position begründet waren, so sind heute in einer Zeit der Demokratie partnerschaftliche Ordnungen mit partnerschaftlichen Autoritäten verlangt, die befragbar und beantwortungsfähig sowie in ihrer Argumentation begründet sein müssen. Je nach dem betreffenden Gebiet, sei es des privaten oder öffentlichen Lebens, des religiösen, kulturellen, rechtlichen, staatlichen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens sowie sonstiger politischer Bereiche, bedarf es der jeweilig spezifischen partnerschaftlichen Ordnungsbegründung. Gerade in einer Zeit, in welcher Formlosigkeit, beginnend mit den Umgangsformen und Handlungserscheinungen der Menschen, oft nur eine milde Form des Terrors ist, bedarf es Autoritäten, welche mit den Möglichkeiten des Motivierens und Normierens befähigt sind, Ordnung zu begründen und aufrecht zu erhalten. Partnerschaftlich begründete Autoritäten und Ordnungen sind imstande, anstelle des Neben- und Gegeneinanders ein Für- und Miteinander treten zu lassen, welche Solidarität als weiteren Grundsatz katholischer Soziallehre verwirklichen lässt. Solidarität ist die Verbundenheit des Gemeinsamen. Sie ist bei den Menschen begründet in der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen, die das Apriori der Freiheit und Würde des Einzelnen sowie damit auch der Grundrechte und all dessen ist, was dem Staat für seine Ordnung des positiven Rechtes zur Anerkennung vor- und aufgegeben ist. In diesen Grundrechten drückt sich zum Großteil eine Säkularisation alten christlichen Gedankengutes aus. Sie sind in liberalen Grundrechten als Freiheitsrechte auf den Schutz der Freiheitssphäre des Einzelnen und damit auf eine Freiheit vom Staat, in politischen Grundrechten auf eine Mitwirkung an der Staatswillensbildung der Demokratie in einer Freiheit im Staat sowie in sozialen Grundrechten auf eine Freiheit durch den Staat, welche im Rahmen des jeweils auch wirtschaftlich Möglichen auf eine soziale Sicherheit gerichtet. Weitere Grundrechte, die nicht wie in ihrer klassischen Form mehr auf ein Unterlassen, sondern auf ein Tun des Staates gerichtet sind, sind die sogenannten existentiellen Grundrechte. Sie sind auf einen Schutz des Lebens, beginnend mit der Ablehnung der Abtreibung und der aktiven Sterbehilfe sowie den Schutz der Umwelt

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als göttliche Schöpfungsordnung anstrebend gerichtet. Diese existentiellen Grundrechte wollen, dass der Mensch seine Freiheit und Würde nicht nur als Normadressat des positiven Rechts rechtlich gesichert erhält, sondern auch als physisch und psychisch gesunder Mensch erleben kann. Diese Weiterentwicklung der Grundrechte über ihre klassische Form, als liberale und demokratische Grundrechte auch in ihrer neuen Form als soziale und existentielle Grundrechte, verlangen dem Staat keine Zurückhaltung und Unterlassung, sondern vielmehr eine Aktivhaltung und ein Handeln ab. Neben dem Rechts- und Machtzweck des Staates tritt sein Kultur- und Wohlfahrtszweck. Diese Mehrzweckverwendung moderner Staatlichkeit verbindet die katholische Soziallehre mit dem Prinzip der Subsidiarität als dem Grundsatz der ersatzweisen Hilfeleistung. Dieser Grundsatz der Subsidiarität hat in der Enzyklika Papst Pius XI. „Quadragesimo anno“ 1931 seine klassisch gewordene Ausprägung erfahren. Die Subsidiarität hat im Völkerrecht in der Form des Staatenbundes, besonders nach dem Vertrag von Maastricht seine Bedeutung für die Europäische Union in der Beziehung der einzelnen Mitgliedsländer zur EU selbst und staatsrechtlich in der Organisationsform des Bundesstaates gefunden. In der Sozial- und Wirtschaftspolitik der einzelnen Staaten kann das Subsidiaritätsprinzip eine Bedeutung durch die freiwillige paritätische Politik der Interessenverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer erlangen. Die Interessenverbände als freiwillige Selbsthilfe- und Selbstschutzeinrichtungen der Sozialpartner können durch den möglichen Interessenausgleich im intermediären Bereich den Staat in seiner Willensbildung entlasten oder auch beratend seine Rechtssetzung und Rechtsvollziehung erleichtern. Diese sogenannte Sozialpartnerschaft sollte in einer Demokratie sowohl auf die Interessen ihrer Mitglieder als auch auf die Erwartungen und Anliegen der übrigen Bevölkerung, der sogenannten berufsständisch Heimatlosen Rücksicht nehmen und so zum Gemeinwohl beitragen. Dem Gemeinwohl ist dann gedient, wenn dem Einzelnen jene Werte gesichert sind, die er in kultureller, sozialer, wirtschaftlicher und sonstiger politischen Sicht braucht, um seine Persönlichkeitsentfaltung zu erfahren und Wohlfahrt in Gesellschaft und Staat zu ermöglichen. Dem Grundsatz des Gemeinwohls kommt nicht allein eine innerstaatliche, sondern auch eine zwischenstaatliche und weltweite Bedeutung, vor allem in der Völkergemeinschaft zu; an die Enzyklika „Populorum progressio“ Papst Paul VI. 196719 sei in diesem Zusammenhang verwiesen.

19 Näher Herbert Schambeck, Populorum progressio und das Zweite Vaticanum, in: Soziale Verantwortung, Festschrift für Goetz Briefs zum 80. Geburtstag, hrsg. von Johannes Broermann und Philipp Herder-Dorneich, Berlin 1968, S. 587 ff.

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In diesem Bemühen, auch partnerschaftlich dem Gemeinwohl zu dienen, kann in Staat und Gesellschaft die Wirkkraft des gemeinsamen Berufes sich zu einem wechselseitigen Verstehen der Sozialpartner entfalten und in der internationalen Ordnung eine Partnerschaft zwischen Staaten unterschiedlicher wirtschaftlicher und sozialer Leistungskraft in Form der Entwicklungshilfe zum Tragen kommen. Begrüßenswert wäre es, wenn dieses ökonomische Miteinander in der Sozialpartnerschaft der Interessenverbände innerhalb eines Staates und in dem Füreinander von leistungsfähigen Staaten in der Entwicklungshilfe für unterentwickelte Länder durch eine ökumenische Brüderlichkeit eine ergänzende Fortsetzung finden kann. In seinen Enzykliken „Sollicitudo rei socialis“ (Nr. 47) und „Centesimus annus“ (Nr. 60) betont Papst Johannes Paul II. die Notwendigkeit einer Ökumene der wertestiftenden Kräfte, er verweist auf die christlichen Religionen20, das Judentum, die großen Weltreligionen und auf alle Menschen guten Willens. Ökonomische Partnerschaft und ökumenische Brüderlichkeit vermögen in diesem Zu-, Mit- und Füreinander sowie auch die Entwicklungshilfe als Beweis weltweiter Solidarität eine Verbundenheit zu bekunden, die innerhalb der Staaten und zwischen ihnen in der Völkergemeinschaft zur Glaubwürdigkeit der Christen sowie zum Frieden beiträgt. Die Kirche kann hierzu vor allem durch die Nachfolger Petri in der päpstlichen Soziallehre Wegweisungen für die Laien in ihrer politischen Verantwortung in der Politik geben; sie erfüllt damit nicht allein ihre Lehraufgabe und eine Repräsentations-, sondern vielmehr auch eine Sozialfunktion. Dies verlangt nicht die Ausübung monologischer Macht, die meistens Herrschaften durch Ideologien begründeten und als solche leider nur all zu oft zu autoritären sowie totalitären Regimen führte, sondern das Erleben des Dialogs. Diesem Dialog hat Papst Paul VI. 1964 eine eigene Enzyklika, nämlich sein Rundschreiben „Ecclesiam Suam“ gewidmet und als Eigenschaften dieses Dialoges genannt: die Klarheit, den Sanftmut, das Vertrauen und die Klugheit. Sie sollen auch den Laien in seinem Apostolat leiten, die Möglichkeiten und auch die Grenzen des Dialogs und Apostolats erkennen lassen. In diesem Zusammenhang hat Friedrich Schleinzer 2003 im Hinblick auf „Die neue Ordnung Europas als Wertegemeinschaft aus (pastoral-)theologischer Sicht“ in einem in Rom gehaltenen Vortrag treffend gemeint, es sei erforderlich: „Das Gemeinsame suchen, das Trennende respektieren.“

20 Siehe: Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche, hrsg. von Josef Thesing und Rudolf Uertz, Sankt Augustin 2001 sowie die Charta Oecumenica, Straßburg 2001.

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V. Kirche und Politik In diesen auch auf die öffentliche Ordnung bezogenen Sozialgestaltungsempfehlungen hat sich die Kirche mit wechselnder Intensität und Konkretheit mit der Politik der jeweiligen Zeit, oft verschieden im Problembewusstsein auseinandergesetzt. Staatsformen, wie Monarchie und Republik, politische Ordnungssysteme, demokratische und autoritäre, liberale und totalitäre Systeme wechseln sich ab und haben gerade auch bei politischen Regimen im 20. Jahrhundert, wie es Kommunismus, Nationalsozialismus und Faschismus waren, schwere Opfer an Freiheit und Leben von bekennenden Christen abverlangt. Für Recht und Staat relevante Lehräußerungen gaben schon die Kirchenväter, Aurelius Augustinus mit seiner Schrift „De civitate dei“, Thomas von Aquin in „De regimine principum“ und vor allem mit den Enzykliken Leo XIII. 1891 „Rerum novarum“ bis zu Benedikt XVI. Enzyklika „Deus caritas est“ 2005 die Nachfolger des heiligen Petrus ab. Für die Zwischenzeit seien besonders die Enzykliken „Quadragesimo anno“ 1931 Pius XI., 1961 „Mater et Magistra“ Johannes XXIII. sowie 1967 „Populorum progressio“ Paul VI., Laborem exercens“ 1981, „Sollicitudo rei socialis“ 1987 und „Centesimus annus“ 1991 Johannes Paul II. genannt. Unmittelbar vor dem 50. Todestag Papst Pius XII. sei seine nahezu alle wichtigen Fragen des privaten und öffentlichen Lebens betreffende „Soziale Summe“21 in Erinnerung gerufen. In der heutigen Zeit wurde die Verantwortung des Katholiken in der Politik vom Heiligen Stuhl während des Pontifikats Papst Johannes Paul II. aktualisiert: „Lehrplanmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im öffentlichen Leben“ 2002, herausgegeben von der Kongregation für die Glaubenslehre, gezeichnet von deren damaligem Präfekt Joseph Kardinal Ratzinger, dem heutigen Papst Benedikt XVI. und dem seinerzeitigen Sekretär und heutigen Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone seien ebenso genannt, wie das vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden erarbeitete „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ 2004, vorgestellt von Renato Raffaele Kardinal Martino als Präsident und Giampaolo Crepaldi als Sekretär. Wenngleich in den letzten Jahrzehnten die katholische Kirche durch zuständige Autoritäten auf der Ebene von staatlichen, europäischen und weltweiten Bischofskonferenzen sowie durch den jeweiligen Nachfolger Petri Sozialgestaltungsempfehlungen für die Politik gaben, bleibt die Eigenverantwortung des jeweiligen Christen als Stimmberechtigten bei Wahlen, bei Nutzung der Möglichkeiten der direkten Demokratie, wie sie Volksbegehren, Volksbefragung und Volksabstimmung sind, 21 Soziale Summe Pius XII., Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, hrsg. von Arthur Fridolin Utz und Joseph-Fulko Groner, I. und II. Band, Freiburg i.d. Schweiz 1954, III. Band, Freiburg i.d. Schweiz 1961 sowie dazu Pius XII. zum Gedächtnis, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1977 und Pius XII. – Friede durch Gerechtigkeit, hrsg. von demselben, Kevelaer 1986.

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ebenso erhalten, wie die des politisch Verantwortlichen in der Gesetzgebung und Vollziehung, sei es als Parlamentarier, Regierungsmitglied, Richter und Beamter. Die Kirche will für diese Entscheidungsfindung in der Politik Position durch die Hinführung zu allgemein anerkennbaren Werten beziehen. In diesem Sinne erfolgte nach „der Verurteilung des Indifferentismus und des religiösen Relativismus“22 2002, 2005 in der planmäßigen Note vom damaligen Kardinaldekan Joseph Ratzinger in seiner Homilie während der Heiligen Messe „Pro eligendo Romano Pontifice“ vor der Petersbasilika eine weitere nähere Mahnung: „Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in den letzten Jahrzehnten kennengelernt … wie viele Denkweisen … Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zum Synkretismus und so weiter … Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ‚vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin- und Hertreiben lassen‘, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.“23 Papst Benedikt XVI. will diesem Relativismus mit einem Grundwertedenken, beginnend mit der allgemeinen Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen, die in einer Verbundenheit von Imago Dei und Dignitas Humana begründet ist, sowie mit Konsequenzen für die Ordnung des Staates, wie sie am besten in einem demokratischen Verfassungs- und Rechtsstaat gesichert ist, begegnen. In seiner Enzyklika „Deus caritas est“ betont er, „dass die Kirche die Pflicht hat, auf ihre Weise durch die Reinigung der Vernunft und durch ethische Bildung ihren Beitrag zu leisten, damit die Ansprüche der Gerechtigkeit einsichtig und politisch durchsetzbar werden.“24 Der Weg dieser politischen Durchsetzung christlicher Grundhaltung mit ihren Konsequenzen vor allem in der Kultur-, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftspolitik obliegt dem Laien im öffentlichen Leben. Die Kirche gibt ihm dazu Sozialgestaltungsempfehlungen, deren Realisierung seiner Eigenverantwortung unterliegt. Auch Papst Benedikt XVI. hat auf diese Eigenverantwortung in seiner Enzyklika im Anschluss an die Unterscheidung zwischen dem, was des Kaisers und dem, was

22 Kongregation für die Glaubenslehre. Lehrplanmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, Vatikanstadt 2002, S. 18. 23 L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 16, 22. April 2005, S. 3; siehe dazu Herbert Schambeck, Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus, ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikt XVI., L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 19, 12. Mai 2006, S. 10 f. und Nr. 20, 19. Mai 2006, S. 9 f. 24 Papst Benedikt XVI., a. a. O., Nr. 28a.

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Gottes ist25, das heißt auf die Unterscheidung von Kirche und Staat oder wie das II. Vatikanische Konzil sagt, die Autonomie des weltlichen Bereiches26, hingewiesen.

VI. Zur Eigenverantwortung des Laien In der Beachtung der richtigen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten hat der einzelne Laie selbst zeit- und ortsorientiert die entsprechende Entscheidung, sei es in Rechtssetzung oder Rechtsvollziehung, zu treffen. Das ist mit einem großen Risiko an Eigenverantwortung verbunden; der Grund liegt darin, dass, wie die Pastoralkonstitution betont, zum einen die Kirche „keinen dringlicheren Wunsch“ hat, „als sich selbst im Dienst des Wohles aller frei entfalten zu können unter jeglicher Regierungsform, die die Grundrechte der Person und der Familie und die Erfordernisse des Gemeinwohls anerkennt“27, bereit ist zu wirken und zum anderen erkannt werden soll, dass „oftmals … gerade eine christliche Schau der Dinge ihnen eine bestimmte Lösung in einer konkreten Situation nahelegen“28 wird. „Aber andere Christen werden vielleicht, wie es häufiger und zwar legitim der Fall ist, bei gleicher Gewissenhaftigkeit in der gleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen …“ „In solchen Fällen“ betont das Konzil, hat „niemand das Recht …, die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen.“29 In einer derartigen Situation hat der Laie sein Apostolat in der Ausgewogenheit von Sachnotwendigkeit und Gemeinwohlgerechtigkeit im Rahmen seiner politischen Eigenverantwortung auszuüben. Joseph Kardinal Ratzinger stellte hierzu fest: „Eine Sachlichkeit, die ohne Ethos auszukommen meint, ist Verkennung der Wirklichkeit des Menschen und damit Unsachlichkeit. Wir brauchen heute ein Höchstmaß an wirtschaftlichem Sachverstand, aber auch an Ethos, damit der wirtschaftliche Sachverstand in den Dienst der richtigen Ziele tritt und seine Erkenntnis politisch vollziehbar und sozial tragbar wird.“30 Letzteres verlangt heute u. a. Brot zu teilen, nämlich gemeinsam partnerschaftliche wirtschaftliche Erfolge zu erzielen und den Ertrag sozialgerecht zu verteilen, keine Arbeitsplätze für Aktiengewinne aufzugeben und den Klimaschutz für technologisch wirtschaftliche Zwecke nicht zu vernachlässigen.

Vgl. Mt 22,21. Vgl. Past. Konst. über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes, 36; Papst Benedikt XVI., a. a. O., Nr. 28a. 27 Gaudium et spes, 42. 28 Gaudium et spes, 43. 29 Gaudium et spes. 30 Joseph Kardinal Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., Marktwirtschaft und Ethik, Grüne Seiten, bku Bund katholischer Unternehmer e.V., Nr. 63, Juli 2005, S. 4. 25 26

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Auf diesem Weg kann man den Wert des Geldes anerkennen, ohne ein Materialist zu werden, die Freiheit schätzen, ohne libertinistisch zu sein, sozial denken, ohne sich im Kollektivismus zu verlieren und dies alles tun, ohne sich als etwas Außergewöhnliches vorzukommen. Das zu erkennen und zu tun, lässt bewahren ohne Konservativismus, fortschreiten ohne Progressismus und so Politik nach menschlichem Maß erleben. Der frühere deutsche Bundespräsident Johannes Rau war als evangelischer Christ ein solcher Politiker nach menschlichem Maß. Dieses Maß war ihm nach eigenen Worten die von ihm oft bei verschiedenen Gelegenheiten zitierte Heilige Schrift, von der er am Kirchentag in Leipzig 1997 erklärte: „die Botschaft der Bibel heißt nicht: Verlass dich darauf, es bleibt alles beim Alten. Sondern die Botschaft der Bibel heißt: Siehe, ich mache alles neu. Dich auch“.31 Der Christ in der Politik steht in dieser Sicht zwischen dem Gebot des Glaubens und den Erfordernissen der Welt seiner Zeit und die ist eine turbulente Zeit.32 Das Laienapostolat in der Kirche und die Verantwortung des Einzelnen in der Politik33 geben zu ihrer Bewältigung den Wegweisungen des Glaubens folgend Gelegenheit.

31 Johannes Rau, Wer hofft, kann handeln. Gott und die Welt ins Gespräch bringen. Predigten, hrsg. von Matthias Schreiber, Holzgerlingen, 2. Auflage, 2006, S. 83. 32 Siehe Josef Clemens, Christ sein – in turbulenter Zeit, Vatikanstadt 2006. 33 Dazu Herbert Schambeck, Katholischer Glaube und politische Verantwortung, in: Festschrift für Grete Rehor, hrsg. von Maria Hampel-Fuchs, Herbert Kohlmaier, Alois Mock, Wien 1980, S. 266 ff.; derselbe, Christliches Apostolat und politische Verantwortung heute, in: derselbe, Zu Politik und Recht. Ansprachen, Reden, Vorlesungen und Vorträge, hrsg. von den Präsidenten des Nationalrates und den Präsidenten des Bundesrates, Wien 1999, S. 263 ff. und derselbe, Nächstenliebe und Gerechtigkeit als Gebote des Glaubens sowie des Rechtes, Gedanken zur Enzyklika Papst Benedikt XVI. „Deus caritas est“, in: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 20, 18. Mai 2007, S. 10 f.

Die Verantwortung des Rechts und die Aufgaben des Apostolats* I. Die Sozialbezogenheit des Menschen Die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen ist eine von jedem erfahr- und erlebbare Tatsache. In der Ich Dubeziehung entfaltet der Mensch seine Persönlichkeit. In ihr ist ein Wertegehalt gegeben. Dies lässt auch schon das Wort Person1 erkennen. Person kommt vom griechischen Prosopon2, so hieß die Göttermaske in archaischer Kultur und vom lateinischen personare3, was hindurchtönen bedeutet. In diesem Wort- und Sinnverständnis kann der Mensch als ein Wesen erklärt werden, durch das ein höherer Anspruch in die Wirklichkeit tont. Die Beziehung des Einzelnen zum Nächsten weist ihn dazu noch den Weg mit seiner Persönlichkeitsentfaltung Seinsfindung zu erreichen und Sozialverständnis zu entfalten. Das abendländische Denken4 zeigt bis zur Gegenwart viele Beispiele für diese Erkenntnis. Aristoteles bezeichnete schon den Menschen als zoon politicon5, Martin Buber veröffentlichte „Die Schriften über das dialogische Prinzip“6, Carl Jaspers prägte den Begriff der Kommunikation7, Romano Guardini verfasste die Schrift „Vom Sinn der Gemeinschaft“8 und Gabriel Marcel wies auf „Das Geheimnis des Seins“9 * Erschienen in: Maius ac Divinius, Festschrift zum 80. Geburtstag von Jan Krucina, hrsg. von der Päpstlichen Theologischen Fakultät Wroclaw (Breslau) TUM und der Erzdiözese Wroclaw 2009, S. 211 ff. 1 Dazu Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, hrsg. von Alfred Klose, Herbert Schambeck, Rudolf Weiler, Valentin Zsifkovits, Berlin 1976, S. 458 ff. 2 Beachte Friedrich Karl Schumann, Diskussionsbeitrag, in: Harry Westermann, Person und Persönlichkeit als Wert im Zivilrecht, Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 47, Köln / Opladen 1957, S, 44 ff. 3 Siehe Siegmund Schlossmann, Persona und proposona im Recht und im christlichen Dogma, Dissertation, Kiel 1906 und Hans Rheinfelder, Das Wort „Persona“, Geschichte seiner Bedeutungen mit besonderer Berücksichtigung des französischen und italienischen Mittelalters, Beihefte der Zeitschrift für roman. Philologie, Heft 77, Halle 1928. 4 Beachte Platon, Politica, X. Buch and Aristoteles, Nikomachische Ethik, V. Buch. 9, und 10. Kapitel sowie VIII. Buch, 11. Kapitel. 5 Aristoteles Politik I / 2, 1153a, 7. 6 Martin Buber, Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954. 7 Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, 2. Aufl., Zürich 1950, S. 117 f. 8 Romano Guardini, Vom Sinn der Gemeinschaft, Graz / Wien / München 1952. 9 Gabriel Marcel, Geheimnis des Seins, Wien 1952.

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hin. Das Christentum hat mit der Glaubenslehre vom Menschen als Ebenbild Gottes10 die Wertigkeit des Einzelnen metaphysisch begründet und in der Verbundenheit von dignitas humana und imago dei das abendländische Rechtsdenken11 mit geprägt. Das Recht drückt einen Anspruch auf Ordnung aus, der sich auf den Menschen selbst sowie auf seine Beziehung zum Nächsten und zur Gesellschaft bezieht deren organisierte Form der Staat ist. Der Staat12 ist der dem Einzelnen und der Gesellschaft übergeordnete Herrschaftsverband, der Höchstfunktion erfüllt. Der Stellung des Einzelnen, den Aufgaben der Gesellschaft und der Verantwortung des Staates dient das Recht.

II. Der Ordnungsanspruch des Rechts Das Recht13 drückt einen mehrdimensionalen Ordnungsanspruch aus, welcher den Menschen schon von alters bewusst war. Dies zeigen schon in der römischen Antike14 die Begriffe ius, fas und lex. Ius15 als die für Menschen gebildete Ordnung, fas16 als die von den Göttern gegenüber zu respektierende Ordnung und lex17 als das Gebot einer menschlichen Autorität. In seinen auf den Einzelnen, die Gesellschaft und den Staat bezogenen Aufgabenbereich hat das Recht eine Individual- und Sozialseite, die das Menschsein immer begleitet hat. Rechtsgeschichte war und ist immer auch Menschheitsgeschichte. In dieser historischen Betrachtung kann auch erkannt werden, dass das Recht, in welcher Form es immer auftrat, älter ist als der Jurist18. Bevor es den Jurist als eigeGenesis 1,26 f., 5,3 und 9,6. Siehe Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963, S. 257 ff. 12 Näher Paul Ludwig-Weinacht, Staat-Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1968 und Herbert Schambeck, Der Staat und die Demokratie, in: Politik in Theorie und Praxis, hrsg. von Helmut Widder, Wien / Graz 2004, S. 101 ff. 13 Dazu Theo Mayer-Maly, Gedanken über das Recht, Wien / Köln / Graz 1985 und Herbert Schambeck, Das Recht und seine Verantwortung in unserer Zeit. Symposium „Jus 2000“ Österreichs Rechtstheorie und Rechtspraxis um die Jahrtausendwende. hrsg. von Walter Barfuss, Wien 1994, S. 7 ff. 14 Beachte Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, München 1988. 15 Wieacker, a. a. O., S. 267 ff. 16 Wieacker, a. a. O., S. 275 f. 17 Wieacker, a. a. O., S, 277 ff. 18 So auch Theo Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 2. Aufl., München 1981, S. 9 und Herbert Schambeck, Von den Aufgaben des Juristen, in: derselbe, Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger, Wien 2002, S. 33 ff. 10 11

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nen Berufsstand gab, waren es Priester, die sich neben ihren eigentlich religiösen Aufgaben mit dem Recht beschäftigten. So setzten im Rom des Zwölftafelgesetzes im 5. vorchristlichen Jahrhundert die pontifices die Riten der Rechtsakte wie die von Sakralakten. Sehr deutlich zeigt dies das Wort orare. Es bedeutete nicht nur beten, sondern bezeichnete auch den Parteienvortrag bei Gericht19. Von dieser pontifikalen Rechtspflege kann man eine Weiterentwicklung zur Fachjurisprudenz um 300 vor Christi Geburt annehmen. Um 100 vor Christi Geburt findet man bereits ein umfangreiches fachjuristisches Schrifttum, das später durch die klassisch-römischen Juristen einen prägenden Anteil an der Rechtsfortbildung erlangte. Auf diese Weise wurde das klassisch-römische Privatrecht vor allem Juristenrecht, das die römischen Kaiser durch das ius respondendi ex autoritate principis unter Kontrolle zu bringen suchten20. Theo Mayer-Maly21 hat schon darauf hingewiesen, dass in der Folge die rechtsbildende Jurisprudenz der Prinzipatszeit (bis ca. 230 nach Christi) mit dem Souveränitätsanspruch der Kaiser der Dominatszeit (ab Diokletian 284 – 305 nach Christi) unverträglich wurde. Alles Recht sollte vom Kaiser ausgehen: der Jurist sollte das Recht nicht zu finden, sondern anzuwenden haben! Dieses Spannungsverhältnis von Rechtssetzung und Rechtsanwendung begleitete später durch Jahrhunderte das Rechts eben mit monarchischen und republikanischen Staatsformen sowie autoritären und demokratischen Ordnungssystemen. Das Recht wurde zum Mittler der Ordnung des Staates, der den Menschen als Adressat seiner Normen hatte. Diese Rechtsnormen stehen im Dienste der Zwecke des Staates, nämlich sowohl des Rechts- und Machtzweckes als auch des Kultur- und Wohlfahrtszweckes22. In jedem Staat wird orts- und zeitbedingt Recht gesetzt und vollzogen. Der Jurist hat dabei eine den Aufgaben des Staates dienende Funktion zu erfüllen, der in der Staatswillensbildung die Entscheidungen der Politik23, möge sie autoritär oder demokratisch zustande kommen, vorausgehen. In den Normen des Rechts findet die Ordnung des Staates ihren Ausdruck, welche, die Freiheit des Menschen und deren Grundrechte anerkennen, aber auch, wie die Geschichte lehrt, verletzen können. So hat der Kommunismus die Freiheit als Kenntnis des wirtschaftlich Notwendigen24 und der Nationalsozialismus die Grundrechte als Aufstand des Eigennutzes gegen die Volksgemeinschaft25 bezeichnet. 19 Theo Mayer-Maly, Der Jurist, Tätigkeitsbericht der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1988 / 89. Wien 1988. S. 11. 20 Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S. 11. 21 Mayer-Maly, a. a. O., S. 12. 22 Siehe Adolf Merkl, Staatszweck und öffentliches Interesse. Ein Beitrag zur Nomenklatur der Verwaltungslehre, Verwaltungsarchiv, 28. Band, 1919, S. 268 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Julius Merkl und Alfred Verdross, hrsg. von Hans R. Klecatsky, Rene Marcic und Herbert Schambeck. Band 2, Wien / Salzburg 1968, S. 1559 ff., sowie beispielsweise Herbert Schambeck, Von den Staatszwecken Österreichs. in: Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich, Entwicklung und Gegenwartsprobleme, I. Band, hrsg. von denselben, Berlin 1993, S. 3 ff. 23 Herbert Schambeck, Politik in Theorie und Praxis, hrsg. von Helmut Widder, Wien / Graz 2004.

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III. Legalität und Humanität Die Verbundenheit von Legalität und Humanität war erst die Folge einer Entwicklung von Jahrhunderten. In dieser führte im 19. Jahrhundert die Bezogenheit von Demokratismus und Liberalismus26 zum demokratischen Verfassungsstaat27 zunächst in monarchischer und später mehr republikanischer Staatsform. Dieser demokratische Verfassungsstaat ist besonders gekennzeichnet von einer Verfassungsgebundenheit aller drei Staatsfunktionen, nämlich Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung, der Gewaltenteilung, dem Stufenbau der Rechtsordnung, der Unabhängigkeit der Richter, der Gehorsamspflicht und Weisungsgebundenheit der Beamten, der Rechnungs- und Gebarungskontrolle des Staats und der Amtshaftung28. Dieser demokratische Verfassungsstaat soll dem Einzelnen die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Staatshandelns bieten und auf diese Weise Rechtssicherheit gewähren. Aus diesem Grund kommt es darauf an, dass die Ordnung des Staates dem Einzelnen an Kenntnis, Wissen und Verstehen zugänglich ist. Diese Aufgabe stellt sich dem Verfassungsrecht eines Staates, das, wie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland29 1949 mit Inkorporationsgebot in Art. 79 beispielgebend in einem Gesetz die gesamte Grundordnung des Staates beinhaltet, oder wie in der Republik Österreich, die neben dem Bundes-Verfassungsgesetz30 1920 eine Vielzahl an weiteren Verfassungsrechtsquellen hat. Letzteres ist nicht empfehlenswert, weil sich dann 24 Friedrich Engels, Anti-Dühring, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus und Leninismus beim ZK der SED, Band XX, Berlin 1962, S. 106 und Herbert Schambeck, Von der Last der Freiheit im Recht und Staat des Westens und des Ostens, in: Die Freiheit des Westens, Wesen, Wirklichkeit, Widerstande, hrsg. von Otto B. Roegele, Graz / Wien / Köln 1967, S. 483 ff., bes. S. 510 ff., und 513 ff. 25 Dazu Adolf Merkl, Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens, Reine Rechtslehre und Moralordnung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Band XI Heft 3 – 4, Wien 1961, S. 301. Neudruck in: derselbe, Gesammelte Schriften, hrsg. von Dorothea Mayer-Maly, Herbert Schambeck, Wolf-Dietrich Grussmann, Erster Band, Erster Teilband, Berlin 1993, S. 639 sowie Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin 1997, S. 399 ff. und Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, 2. Aufl., Hamburg 2001. 26 Beachte Adolf Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 163 ff., bes. S. 167 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Band 1, S. 631 ff. 27 Siehe Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1953. 28 Näher als Beispiel Edwin Loebenstein, Der Rechtsstaat, in: Das österreichische BundesVerfassungsgesetz und seine Entwicklung, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980. S. 253 ff. 29 Dazu Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., München 1984, Band I-V sowie Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Heidelberg 1912, Band I – VIII. 30 Beachte Hans R. Klecatsky, Bundes-Verfassungsgesetz und Bundesverfassungsrecht, in: Das Österreichische Bundesverfassungsgesetz und seine Entwicklung, S. 83 ff.

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kein entsprechendes Verfassungsbewusstsein bildet, das bei dem Einzelnen im Staat Verantwortung begründet, die nicht auf Zwang, sondern auf Überzeugung beruht. Dieser demokratische Verfassungsstaat wurde als Gemeinwesen in einer Mehrzweckverwendung genutzt und als Rechtsstaat auch Kultur-, Wirtschafts- und Sozialstaat. Die Rechtswege und Rechtsformen dienten nicht nur der Herstellung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit, sondern zur Ermöglichung von kulturellem Fortschritt, wirtschaftlichem Wachstum und sozialer Sicherheit. In einem solchen sozialen Rechtsstaat sollen sich Grundrechte31 sowie Grundpflichten paaren und liberale, demokratische und soziale Grundrechte in einer zur Wahrung des gemeinsamen Menschenbildes notwendig gewordenen Abgestimmtheit die Freiheit vom Staat, im Staat und durch den Staat ausdrücken. Unter dem Einfluss der Verfassungsentwicklung der heutigen USA32 ist das Verfassungsrecht der Staaten nahezu immer vor allem durch zwei Teile: die Staatsorganisation und die Grundrechte gekennzeichnet In letzter Zeit ist auch die Erklärung der Staatszwecke und bei deren Mehrzahl deren Rangfolge im Verfassungsrecht feststellbar. Der demokratische Verfassungsstaat ist Gesetzesstaat und gibt neben den Rechtsformen sowie Rechtswegen auch die Rechtsziele an. Da die Ausübung der Staatsgewalt im demokratischen Verfassungsstaat an die Gesetze gebunden ist, hat dies bei der Vielzahl an Staatsaufgaben eine Vielzahl an Vorschriften positiven Rechts zur Folge, wodurch eine Gesetzesflut entsteht, welche die Kenntnis des positiven Rechts gefährdet. Die aus der Mehrzweckverwendung des heutigen Rechtsstaates erklärbare Gesetzesflut33 geht somit auf Kosten der Rechtskenntnis und führt zur Rechtsunsicherheit. Dieser Tatsache sucht man instrumentell beginnend im skandinavischen Rechtskreis und später darüber hinaus mit der Einrichtung des Ombudsmanns34 als einem Rechtshilfeorgan zu begegnen.

31 Näher Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat S. 466 ff. und derselbe, Menschenbild und Menschenrechte im Österreichischen Verfassungsrecht, in: Menschenrecht und Menschenbild in den Verfassungen Schwedens, Deutschlands und Österreichs, ethische Grundlagen und praktische Folgerung, Heidelberg 1983, S. 57 ff., bes. S. 67 ff. 32 Dazu Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von Herbert Schambeck, Helmut Widder und Marcus Bergmann. 2. Aufl., Berlin 2007. 33 Siehe Theo Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut, Salzburg / München 1969 und Johannes W. Pichler, Rechtsakzeptanz, in: Österreichs Rechtstheorie und Rechtspraxis um die Jahrtausendwende, S. 39 ff. 34 Beachte Paavo Kastari, Die Institution des Ombudsmanns im skandinavischen Recht, Jahrbuch des Öffentlichen Rechts 1972, S. 219 ff. und Viktor Pickl, Die Institution des Ombudsmanns und ihre politischen Dimensionen, in: Recht als Aufgabe und Verantwortung, Festschrift Hans R. Klecatsky zu 70. Geburtstag, hrsg. von Siegbert Morscher, Peter Pernthaler, Norbert Wimmer, Wien 1990, S. 23 ff.

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IV. Über die Verantwortung des Einzelnen in der Demokratie Dieses Verstehen des positiven Rechts durch den Einzelnen im Staat ist deshalb so notwendig, weil diesem im Staat nicht nur Rechte zustehen, sondern von ihm auch Leistungen erwartet werden, zu deren Erfüllung die Kenntnis deren Notwendigkeit erforderlich ist. Der demokratische Verfassungsstaat ist auch von der Verbundenheit von Grundrechten und Grundpflichten35 getragen; sie machen das Miteinander von Legalität und Humanität möglich, geben durch das Recht dem Staat ein menschliches Antlitz und in erfüllter Verantwortung dem Einzelnen für seine Aufgaben- und Pflichterfüllung die Antwort auf die bewusst oder unbewusst von ihm gestellte Frage nach deren Warum und Wozu. Während in einem autoritären Staat seine Ordnung auf monologischer Machtausübung beruht, hat das Rechtsleben im demokratischen Staat einen dialoghaften Charakter; dadurch besteht die begründbare Möglichkeit, dass das positive Recht, das vom Volk ausgeht, wie es in Art. 1 des Österreichischen B-VG 1920 steht, nicht am Volk ausgeht. Durch dieses verstehende Miteinander in der Politik eines demokratischen Verfassungsstaates kann beim Normsetzer und Normadressaten jenes Bewusstsein an Solidarität entstehen, das bei der heute erfahrbaren Pluralität der Gesellschaft so dringend erforderlich ist. Zu dieser Pluralität der Gesellschaft im demokratischen Verfassungsstaat vermag der Christ mit seiner Religion einen Beitrag zu leisten, der auch Ungläubigen zugute kommt, da auch sie Adressaten der Normen des demokratischen Verfassungsstaats sind, die mit unter dem Einfluss des Christentums zustande gekommen sind, wofür die Grundrechte besonders zeugen. In diesem Sinne ist auch die Antwort beachtenswert, die Jürgen Habermas 2004 auf die Frage „Wie gläubige und säkulare Bürger miteinander umgehen sollten“36 gegeben hat: „Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beitrage zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beitrage aus der religiösen in eine öffentliche Sprache zu übersetzen.“37 Die öffentliche Diskussion bietet dem Einzelnen die Möglichkeit, zur Meinungs-, Urteils- und Willensbildung in der Demokratie und ihrem Verfassungsstaat das 35 Dazu Carl Schmitt, Grundrechte und Grundpflichten (1932), in: derselbe, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954, Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 181 ff., Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat. S. 493 ff. Habermas, a. a. O. S. 36; siehe auch derselbe, Glauben und Wissen, Frankfurt / Main 2001. 36 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: Jürgen Habermas, Joseph Ratzinger, Über Vernunft und Religion, Freiburg / Basel / Wien 2005, S. 34. 37 Habermas, a. a. O., S. 36; siehe auch derselbe, Glauben und Wissen, Frankfurt / Main 2001.

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Seine zum Notwendigen beizutragen. Persönliche Wünsche, berufliche Interessen, parteipolitische Einstellungen, weltanschauliche Überzeugungen sowie ideologische Ansichten können dabei wegweisend sein, besonders sind es die Glaubenshaltungen von Menschen, die offen und deutlich sowie bewusst oder nicht den Einzelnen gleich welchen Geschlechts und Alters, ob Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, intellektuell oder manuell tätig, begleiten. Der Christ hat seine Verantwortung begründet im Apostolat. V. Das Apostolat des Christen Das Apostolat des Christen, ist begründet im Missionsauftrag Jesu Christi: „Darum gehet hin und macht euch alle Völker zu Jüngern, in dem ihr sie tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes und sie alles lehrt, was ich euch geboten habe. Seht ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“38. Dieser Missionsauftrag bezieht sich sowohl auf die Heilsfindung des Einzelnen selbst als auch auf seinen Beitrag zu einer Gestaltung der Welt in einem christlichen Sinn. Die katholische Kirche hat daher niemals von ihren Gläubigen eine Weltflucht verlangt; Jesus sagte vielmehr in seinem Gebet für die Apostel: „Ich bitte nicht: Nimm sie aus der Welt, sondern: Bewahre sie vor dem Bösen“39. Christus hat in seiner Lehre der Beziehung der Christen zur Welt ethische Maßstäbe angelegt. Diesen christlichen Sinn der Weltverantwortung hat nahezu zweitausend Jahre später Papst Pius XII. dessen 50. Todestag40 in dieses Jahr fällt, verdeutlicht, als er am 16. März 1946 in einer Ansprache über „Aufgaben des Seelsorgers heute“ hervorhob: „Der Gegenstand der Glaubensverkündigung ist die katholische Lehre, d. h. die Offenbarung mit allen in ihr enthaltenen Wahrheiten, mit allen Folgerungen, die sie für das sittliche Verhalten des Menschen im persönlichen, im häuslichen und sozialen, im öffentlichen, auch politischen Leben nach sich zieht … Die katholische Kirche wird sich nie in die vier Wände ihres Gotteshauses einschließen lassen. Die Trennung von Religion und Leben, von Kirche und Welt widerspricht dem christlichen und katholischen Denken41. In diesem Sinne bemüht sich auch das II. Vatikanische Konzil42 besonders in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ um die Kirche in der Welt von heute; es sei aber betont, nicht um die Welt von heute in der Kirche! Matthäus 28,19 f. Johannes 17,15 f. 40 Hierzu Pius XII. zum Gedächtnis, hrsg. Von Herbert Schambeck, Berlin 1977; Pius XII., Friede durch Gerechtigkeit. hrsg. von Herbert Schambeck, Kevelaer 1986 und Karl Braun, Papst Pius XII., Begegnung in Wort und Bild, Kisslegg 2008. 41 Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII., hrsg. von Arthur Fridolin Utz und Fulko Groner, 2. Aufl., II. Band, Freiburg 1954, Nr. 2805, S. 1399. 42 Karl Rahner, Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 2. Aufl., Freiburg / Basel / Wien 1966. 38 39

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Die Welt von heute ist Auftrag für das Apostolat der Christen mit dem ganzen Umfang der Verantwortung, der sich heute für die Seinsfindung und Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen, für eine humane Sozialordnung und für eine Wahrung der Schöpfungsordnung, einschließlich notwendigen Umweltschutzes ergibt. Diese Aufgaben sollten im Apostolat des Christseins ganz nach den ersten Worten der Pastoralkonstitution mit Freude und Hoffnung erfüllt werden, Bischof Egon Kapellari sagte es schon: „Christsein ist ja kein sitzender Beruf. Sitzen, knien und stehen und dann immer wieder gehen hinaus vor die eigene Tür im Bewusstsein eines Auftrages, einer Sendung durch Christus – das sind sich einander ergänzende Weisen unseres Glaubensvollzugs.“43 Diese Aufgabe des Apostolats stellt sich Priester und Laie der Kirche in je eigener sich geradezu ergänzender Weise. Das II. Vaticanum hat diese Vielfalt des Apostolats betont und verdeutlicht. Die dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ und das Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam actuositatem“ seien in diesem Zusammenhang genannt. Mit dem Apostolat der Bischöfe, Priester und Ordensleute nimmt auch der Laie in seinem eigenen Aufgabenbereich je nach Lebenslage und Beruf an diesem Apostolatsauftrag teil. Während der Laie in der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit der Ehe- und Familienpastoral besonders auf Pfarrebene zur Erfüllung seines Apostolats mit Klerikern im Rahmen des Möglichen aufeinander abgestimmt zusammenarbeiten sollte, trägt er für den Bereich des öffentlichen Lebens, der Politik, ein großes Maß an Eigenverantwortung. Zum Unterschied von den Klerikern, die geweiht zur Lehre und Seelsorge mit Dienst am Altar einen unersetzbaren Auftrag haben, ist der Laie aufgerufen, sich mit Eigenverantwortung für eine humane Ordnung des öffentlichen Lebens und der Schöpfung einzusetzen. Die Kirche gibt hierzu eine Wegweisung, vor allem mit ihrer inhaltsreichen Soziallehre44, deren Ziel auch Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika „Deus cantas est“ 2005 verdeutlichte: „Sie will der Gewissensbildung in der Politik dienen und helfen, dass die Hellsichtigkeit für die wahren Ansprüche der Gerechtigkeit wächst und zugleich auch die Bereitschaft, von ihnen her zu handeln, selbst wenn das verbreiteten Interessenlagen widerspricht … Die Kirche kann nicht und darf nicht den politischen Kampf an sich reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft zu verwirklichen. Sie kann und darf nicht sich

43 Egon Kapellari, Referat bei der Jahrestagung Ständiger Diakone im Volksbildungsheim St. Martin am 13. Sept. 2008, S. 1. 44 Joseph Kardinal Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 2. Aufl., hrsg. von Lothar Ross, Kevelaer 2000, Alfred Klose, Katholische Soziallehre, ihr Anspruch, ihre Aktualität, Graz / Wien / Köln 1979; Rudolf Weiler, Einführung in die katholische Soziallehre, ein systematischer Abriss, Graz / Wien / Köln. 1991.

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an die Stelle des Staates setzen … Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muss von der Politik geschaffen werden.“45 Zur Erfüllung dieses Beitrags zu Politik auf dem Weg des Apostolats hat die katholische Kirche eine Soziallehre mit reicher Tradition entfaltet, die durch die päpstliche Lehräußerungen eine Prägung erfahren hat und Wegweisungen für eine menschliche Ordnung des Staates und der Völkergemeinschaft, in der Gegenwart auch für die neue Ordnung des integrierten Europa gibt, dessen christliche Wurzeln spürbar sind, obgleich sie und der Gottesbezug nicht expressis verbis in der Präambel des Reformvertrages von Lissabon46 genannt werden. In dieser Lehre der Kirche verbindet sich die Sozialverantwortung des Apostolats in ihrer Entwicklung mit der Tradition von gestern sowie mit den Erfordernissen von heute und morgen. Die Zeit lässt uns die Ewigkeit sowie damit auch Geschichte bedenken und zwar für den Gläubigen als Weg zu Gott. In diesem Sinn hat Joseph Kardinal Ratzinger am 27. Oktober 2000 in seiner Rede anlässlich seiner Ehrenpromotion an der Theologischen Fakultät Wroclaw / Breslau erklärt: „Die Geschichte zeigt uns, dass das Denken mit dem Wort Gottes immer wieder Neues bereit hält und nie langweilig, nie Leerlauf wird. Wer in die Geschichte schaut, schaut nicht bloß rückwärts. Er lernt auch besser, wo es vorwärts geht“.47

VI. Sozialgestaltungsempfehlungen der Kirche Zu diesem Lernen wie es weiter geht in Geschichtserfahrung, Gegenwartsverantwortung und Zukunftserwartung gibt die Soziallehre der Kirche mit ihren Grundsätzen eine empfehlende Richtung an. Diese Empfehlungen48 der Soziallehre sind auf den Schutz eines Wertes bezogen, nämlich der Freiheit und Würde des Menschen, die in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen begründet ist. Für sie soll die Ordnung des sozialen Lebens human sein, dazu wird Autorität, Solidarität, Subsidiarität, Partnerschaft und Gemeinwohldenken empfohlen. Jede Ordnung bedarf zu ihrer Begründung und ihrem Bestand der Autorität, die sich mit der Ordnung und deren Entwicklung auch in einer solchen befindet. Waren

Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est 2005, Nr. 28a. Abl. EU 2007 Nr. C 306 / 1 vom 17. 12. 2007; siehe dazu Rudolf Streinz, Der europäische Verfassungsprozess, Grundlagen, Werte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle Analysen 46, Hans Seidel Stiftung, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, München 2008. 47 Weggemeinschaft der Glaubens. Kirche als Communio, Festgabe zum 75. Geburtstag, hrsg. vom Schülerkreis, Augsburg 2002, S. 23. 48 Beachte Josef Stimpfle, Die Grundwerte in der Sicht der katholischen Kirche, StuttgartDegerloch 1979 und Alfred Klose, Für eine Welt von morgen, soziale Orientierungen, Limburg / Kevelaer 2001. 45 46

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es früher in einer hierarchisch fundierten Ordnung hierarchisch in ihrer Position begründete Autoritäten, so sind es jetzt in einer mehr partnerschaftlich bestimmten Ordnung partnerschaftlich in ihrer Argumentation begründete Autoritäten, die befragbar und beantwortungsfähig sein sollen. Die Demokratie unserer Zeit verlangt diese Partnerschaft, die in den Bereichen des privaten und Öffentlichen Lebens ihre jeweils eigene Prägung hat. Partnerschaft bedeutet Anerkennung des Miteinanders und lässt Solidarität erfahren. Diese Solidarität der Menschen stellte eine Verbundenheit des Gemeinsamen dar, die in der Gottesebenbildlichkeit somit Gleichheit aller Menschen begründet und präpositiv ist. Solidarität verlangt Subsidiarität, nämlich die Beachtung des Verschiedenen und Unterschiedlichen, damit auch es Kleinen und Größeren sowie das Erfordernis der notwendigen ersatzweisen Hilfeleistung, in positiver Form im Beistand, in negativer Form im Unterlassen. Sie ermöglicht bei einem Miteinander die Wahrung der Eigenständigkeit; sie hat in Nr. 79 der Enzyklika Papst Pius XI. „Quadragesimo anno“ 1931 ihre klassisch gewordene Definition erhalten. Sie hat staatsrechtlich in der Form des Bundesstaates und völkerrechtlich in der des Staatenbundes Ausführung erhalten. In der neuen Ordnung des Europas, vorgeschrieben im Vertrag von Maastricht 199249 ist sie für das Verhältnis der einzelnen Mitgliedsländer zur EU als Staatenverbund vorgeschrieben und drückt auch eine Form der Partnerschaft aus. Diese Partnerschaft ist erstrebenswert für die Gesellschaft mit ihren Interessenverbänden, in denen die Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die manuell und intellektuell sowie die selbständig und unselbständig Erwerbstätigen repräsentiert sind. Sie ermöglicht Interessenvertretung und Interessenausgleich. In Österreich50 hat diese Sozialpartnerschaft der großen Sozial- und Wirtschaftsverbände ohne Vorschreibung im Verfassungsrecht auf freiwilliger Basis nach dem 2. Weltkrieg sehr zum Sozialfrieden beigetragen sowie entlastend und beratend die Rechtssetzung und Rechtsvollziehung erleichtert. Alle diese Grundsätze sozial gestaltender Empfehlungen sollten auf das Gemeinwohl in Gesellschaft und Staat gerichtet sein, nämlich auf die Verwirklichung jener Voraussetzungen und Beachtung jener Werte, die der Einzelne in kultureller, rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht zur Entfaltung seiner Persönlichkeit sowie pastoral zu seiner Heilsfindung bedarf. Dieses Für- und Miteinander der ökonomischen Partnerschaft sollte im Dienste des Apostolats durch eine ökumenische Brüderlichkeit ergänzt werden, wie sie als

49 Art. 5 Abs. 2 EGV: die konsolidierte Fassung des EUV / EGV findet sich im Amtsblatt der EU Nr. C 321 E vom 29. Dezember 2006. 50 Beachte Alfred Klose, Ein Weg zur Sozialpartnerschaft, das österreichische Modell, Wien 1970 und Herbert Schambeck, Partnerschaft – ein gesellschaftliches Prinzip in Osterreich und Japan, in: Recht – Glaube – Staat, Festgabe für Herbert Schambeck, hrsg. von Hans Walther Kaluza, Johann Penz, Martin Strimitzer und Jürgen Weiss, 4. Aufl., Wien 1997, S. 126 ff.

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eine Ökumene der Werte stiftenden Kräfte Papst Johannes Paul II. in seinen Enzykliken „Sollicitudo rei socialis“ (Nr. 47) 1987 und „Centesimus annus“ (Mr. 60) 1991 empfahl. Alle diese Sozialgestaltungsempfehlungen sind auf das gegenseitige Verstehen der Menschen in ihrem persönlichen Leben sowie Gesellschaft und Staat gerichtet. Nicht der Monolog der Macht, den Ideologien wie Kommunismus und Marxismus zu rechtfertigen suchten, sondern der Dialog sollten die Sozial- und Staatsordnung bestimmen. 1964 hat Papst Paul VI. in seiner Enzyklika „Ecclesiam Suam“ die Möglichkeiten Eigenschaften und Grenzen des Dialogs51 verdeutlicht. Die Enzykliken als Sozialgestaltungsempfehlungen sind Wegweisungen für das Apostolat, welche richtungsweisend für den Einzelnen, die Gesellschaft und den Staat sein können. Sie wurden in den letzten Jahrzehnten beginnend 1968 mit Papst Paul VI. mit jährlichen Weltfriedensbotschaften52 ergänzt und haben 2004 in dem vom Päpstlichen Rat für die Gerechtigkeit und Frieden erarbeiteten „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ eine Zusammenfassung erfahren. Schon 1994 hatte Papst Johannes Paul II. eine eigene Päpstliche Akademie für Sozialwissenschaften mit Sitz im Vatikan gegründet. Die Verwirklichung dieser Sozialgestaltungsempfehlungen in Gesellschaft und Staat übersteigt die Kompetenz der Kirche, sie trifft die Verantwortung der Laien, von denen aber nach der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (Nr. 43) „niemand das Recht … die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen“ hat. Der Grund liegt darin, dass, wie die Pastoralkonstitution betont, zum einen die Kirche „keinen dringlicheren Wunsch“ hat, „als sich selbst im Dienst des Wohles aller frei entfalten zu können unter jeglicher Regierungsform, die die Grundrechte der Person und der Familie und die Erfordernisse des Gemeinwohls anerkennt“53, bereit ist zu wirken und zum anderen erkannt werden soll, dass „oftmals … gerade eine christliche Schau der Dinge ihnen eine bestimmte Lösung in einer konkreten Situation nahelegen“54 wird. „Aber andere Christen werden vielleicht, wie es häufiger und zwar legitim der Fall ist, bei gleicher Gewissenhaftigkeit in der gleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen …“55.

51 Näher Herbert Schambeck, Glaube und Weltverantwortung der Katholiken, Gedanken nach dem II. Vatikanischen Konzil. in: Pax et Iustitia, Festschrift für Alfred Kostelecky zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans Walther Kaluza, Hans R. Klecatsky, Heribert Franz Köck. Johannes Paarhammer. Berlin 1990, S. 46 ff. 52 Siehe jeweils hrsg. von Donato Squicciarini, Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Pauls II., Berlin 1992 und Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Pauls 1993 – 2000, Beiträge zur katholischen Soziallehre, Berlin 2001. 53 Gaudium et spes, 42. 54 Gaudium et spes, 43. 55 Gaudium et spes, 43.

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In einer derartigen Situation hat der Laie sein Apostolat in der Ausgewogenheit von Sachnotwendigkeit und Gemeinwohlgerechtigkeit im Rahmen seiner politischen Eigenverantwortung auszuüben. Joseph Kardinal Ratzinger stellte hierzu fest: „Eine Sachlichkeit, die ohne Ethos auszukommen meint, ist Verkennung der Wirklichkeit des Menschen und damit Unsachlichkeit. Wir brauchen heute ein Höchstmaß an wirtschaftlichem Sachverstand, aber auch an Ethos, damit der wirtschaftliche Sachverstand in den Dienst der richtigen Ziele tritt und seine Erkenntnis politisch vollziehbar und sozial tragbar wird“56. Letzteres verlangt heute u. a. Brot zu teilen, nämlich gemeinsam partnerschaftlich wirtschaftliche Erfolge zu erzielen und den Ertrag sozialgerecht zu verteilen, keine Arbeitsplätze für Aktiengewinne aufzugeben und den Klimaschutz für technologisch wirtschaftliche Zwecke nicht zu vernachlässigen. Die Ökosoziale Marktwirtschaft57 könnte dafür bedeutende Beitrage leisten. Diese Aufgaben verlangen ein Apostolat nicht bloß proklamiert im Wort, sondern aktiviert in der Tat! VII. Demokratie und Relativismus In der Erfüllung dieses seines Apostolats ist der Laie veranlasst, sich in die Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung der Demokratie, deren Weltanschauung Hans Kelsen58 im Relativismus sah, einzubringen. Vor diesem Relativismus hat Papst Benedikt XVI. unmittelbar vor seiner Wahl zum Nachfolger Petri ausdrücklich Christen gewarnt, als er am 18. April 2005 erklärte: „Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in den letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen … Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis bin zum radikalen Individualismus, vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter. Jeden Tag entstehen neue Sekten und dabei tritt ein, was der hl. Paulus über den Betrug unter den Menschen und über die irreführende Verschlagenheit gesagt hat (vgl. Eph 4,14). Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung hinund hertreiben lassen als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt“59. 56 Joseph Kardinal Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., Marktwirtschaft und Ethik, Grüne Seiten, bku Band katholischer Unternehmer e.V., Nr. 63, Juli 2005, S. 4. 57 Beachte Josef Riegler, Franz Josef Rademacher, Global Marshall Plan für eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft. Ein Projekt der Hoffnung, Wien / Ulm 2004. 58 Beachte Hans Kelsen, „Was ist juristischer Positivismus?“, in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Band I. S. 941 ff.

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Joseph Kardinal Ratzinger hat schon immer die Möglichkeiten der Demokratie und ihre Verantwortung erkannt. So betonte er 2002: „Der Mehrheitsentscheid ist in vielen Fällen, vielleicht in den allermeisten der vernünftigste Weg, um zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Aber die Mehrheit kann kein letztes Prinzip sein; es gibt Werte, die keine Mehrheit außer Kraft zu setzen das Recht hat. Die Tötung Unschuldiger kann nie Recht werden und von keiner Macht zu Recht erhoben werden. Doch hier geht es letztlich um die Verteidigung der Vernunft. Die Vernunft, die moralische Vernunft, steht über der Mehrheit“60. Die Verantwortung für die Verkraftung dieser Gefahr des Relativismus trifft in der Demokratie jeden, der zur Staatswillensbildung das ihm nach der jeweiligen Verfassung Mögliche beitragen kann. Das Recht gibt ihm in seiner normativen Form Gelegenheit dazu. VIII. Das positive Recht und sein präpositiver Bezug Das normative Recht steht im demokratischen Verfassungsstaat im Dienst der Verfassungskonkretisierung61. Da Verfassungsrecht positivierte Politik ist, kommt es darauf an, bei der Staats- und Verfassungswerdung eines Gemeinwesens Wertebezogenheit einzubringen. Als im Übergang von der Monarchie zur Republik, die Demokratie die Pluralität der Gesellschaft bei dem Werden des Verfassungsstaates einbrachte, ist zu deren Bewältigung die positivistische Rechtsauffassung62 mit der Auslegung des positiven Rechts nur im normativen Sinn erstrebenswert erschienen, Diskussionen und Streit über Werte erübrigten sich, Gesinnungsindifferentismus und Werteneutralismus dominierten dann, die Verantwortung des einfachen Gesetzgebers vergrößerte sich und öffnete das Tor für Ideologien63. Im 20. Jahrhundert haben autoritäre und totalitäre Regime dies zu nutzen gewusst. 59 Predigt von Kardinaldekan Joseph Ratzinger, Heilige Messe „Pro eligendo Romano Pontifice“ in der Petersbasilika, L’Osservatore Romano, Sonderausgabe 2005, S. 20; siehe dazu Herbert Schambeck, Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus, ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikt XVI, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Ausgabe, Nr. 19. 12. Mai 2006, S. 10 f. und Nr. 20, 19. Mai 2006, S. 9 f. 60 Joseph Kardinal Ratzinger, Politische Visionen und Praxis der Politik, Vortrag gehalten am 20. 9. 2002 in Triest, S. 13. 61 Näher Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien und Berlin 1927, Neudruck Darmstadt 1969, S. 157 ff. und Ulrich Scheuner, Verfassung (1963), in: Staatstheorie und Staatsrecht, gesammelte Schriften, hrsg. von Joseph Listl und Wolfgang Küfner, Berlin 1978, S. 171 ff. 62 Beachte Hans Kelsen, „Was ist juristischer Positivismus?“, in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Band 1, S. 94 1 ff. 63 Dazu Jeanne Hersch, Die Ideologien und die Wirklichkeit, München 1957 sowie in Ideologie und Recht, hrsg. von Werner Maihofer, Frankfurt am Main. 1969. Werner Maihofer, Ideologie und Recht S. 1 ff., Alexander Hollerbach, Ideologie und Verfassung, S. 37 ff., Peter Noll, Ideologie und Gesetzgebung, S. 63 ff. sowie Erich Fechner, Ideologie und Rechtspositivismus, S. 97 ff.

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Nach dem 2. Weltkrieg und dem Ende des Nationalsozialismus sowie nach dem Zerfall kommunistischer Regime erfolgte eine Erneuerung des Rechtsdenkens einer bewusst und deutlich oder Besinnung auf das präpositive Recht und auf die vorpolitischen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates64. Dies zeigt besonders neben der Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen sowie der Grundrechte überhaupt der Beginn eines Verfassungsgesetzes in der diesem voran gesetzten Präambel, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 1949 die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ betont und in der Verfassung der Republik Polen 199765 von den diese beschließenden spricht, „diejenigen, die an Gott als Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten“. Auf diese Weise wird durch das Verfassungsrecht der gesamten Rechtsordnung eine Wertehaltung und besonders dem einfachen Gesetzgeber zur Befolgung vorgeschrieben. Dies ist in Polen beispielgebend, weil es neben den Christgläubigen auch Menschen anderer Wertehaltung anzusprechen sucht. Wegweisend war schon auch das Grundgesetz Deutschlands. das in Art. 1 „Die Würde des Menschen … unantastbar“ erklärt und vorschreibt: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Dazu hält Art. 79 (3) Grundgesetz fest, dass eine Änderung dieses Gesetzes unzulässig ist, also in Verfassungskontinuität nicht möglich ist, wenn die in den Artikeln I (Schutz der Menschenwürde) und 20, der Deutschland zum demokratischen und sozialen Bundesstaat erklärt, niedergelegten Grundsätze berührt werden; gleiches gilt auch für die Gliederung des Bundes in Länder. Hervorzuheben ist auch Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz, nach den „die Gesetzgebung … an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung … an Gesetz und Recht gebunden“ sind. In dieser Weise wird eine Naturrechtsbezogenheit66 mit besonderer Verantwortung des einfachen Gesetzgebers ausgedrückt. Sie ist als Reaktion auf das NS-Regime vor 1945 erklärlich und wurde später auch für die Entwicklung des Verfassungsrechtes der postkommunistischen Staaten67 von Bedeutung, für die ausgehend von der Solidarnosc-Bewegung68 in Danzig und hernach der Verhandlungen am Runden Tisch 64 Siehe Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie. S. 215 ff. und Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates? S. 15 ff. und Joseph Ratzinger, Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, S. 39 ff., in: Jürgen Habermas, Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung über Vernunft und Religion, Freiburg / Basel / Wien 2005. 65 Siehe Boguslaw Banaszak, Prawo Konstytucyjne, Warszawa 1999, S. 166. 66 Beachte Gerhard Müller, Naturrecht und Grundgesetz, Zur Rechtsprechung der Gerichte, besonders des Bundesverfassungsgerichts, Würzburg 1967. 67 Dazu Herbert Schambeck, Politik und Verfassungsordnung postkommunistischer Staaten Mittel- und Osteuropas, in: derselbe, Zu Politik und Recht Ansprachen, Reden, Vorlesungenund Vorträge, hrsg. von den Präsidenten des Nationalrates und Bundesrates, Wien 1999, S. 121 ff. 68 Obrazki z historii – Pictures from history Podpisy / Captions: Justyna Skowronek, Danzig Fundacja Centrum Solidarnosci, 2005.

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in Warschau Polen die Richtung gebend für das Ende des Kommunismus und der Teilung Europas wurde. Dies war nur möglich, weil die Menschen nach Jahrzehnten der Unfreiheit verletzt in ihrer Würde für ein Recht demonstrierten, von dem sie fühlten, dass sie mit diesem geboren sind und es ihnen zusteht. Die sogenannte normative Kraft des Faktischen69 ermöglichte in diesem Fall die Wirksamkeit des präpositiven Rechts, nämlich des Naturrechts70, in dem Recht und Apostolat sich vereinen.

IX. Christliche Wurzeln des integrierten Europa Solche christlichen Wurzeln71 fundierten auch die neue Ordnung des integrierten Europa72. Dieses ist mit der EU eine Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft durch das verträglich zustande gekommene Recht geworden, welches, wie es das deutsche Bundesverfassungsgericht schon ausgedrückt hat, einen Staatenverbund73 begründete, dessen Mitglied Polen, das ein Herzstück und mit Tschenstochau74 als religiöse Kraftquelle Europas ist, 1995 wurde. Diese in den letzten Jahrzehnten aus einem Miteinander auf dem Kohle- und Stahlsektor entstandene Gemeinschaft75 geht auf die Initiative bekennender Katholiken zurück. Die Namen Robert Schuman76, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi und Joseph Bech seien genannt. Auch die Päpste, beginnend mit Leo XIII. und seinem Rundschreiben „Praeclara gratulationis“ 1894, in dem er auf die Sendung des christlichen Europa hinwies, seien genannt und darauf hingewiesen, dass es Papst

69 Siehe Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck, Darmstadt 1959, S. 337 ff. Obrazki z histori – Pictures from history Podpisy / Captions; Justyna Skowronek, Danzig Fundacja Centrum Solidarnosci, 2005. 70 Grundlegend Johannes Messner, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, Innsbruck / Wien / München, 1. Aufl. 1950, Neudruck Berlin 1984; dazu Rudolf Weiler, Die Wiederkehr des Naturrechts und die Neuevangelisierung Europas, Wien 2005 sowie Herbert Schambeck, Naturrecht in Zeitverantwortung, in: Mensch und Naturrecht in Evolution, hrsg. von Werner Freistetter und Rudolf Weiler, Wien / Graz 2008, S. 15 ff. 71 Näher Herbert Schambeck, Die christlichen Wurzeln in der europäischen Verfassungsidee, in: Kölner Gemeinschaftskommentar Europäische Grundrechte-Charta, hrsg. von Peter J. Tettinger und Klaus Stern, München 2006, S. 199 ff. 72 Dazu Europa – eine Idee nimmt Gestalt an, hrsg. vom Rat der Europäischen Union, Wien 2006. 73 2 BvR 2134 / 92 und 2 BvR 2159 / 92, Bverf.GE 89,155. 74 Dazu Janusz St. Pasierb, Jan Samek, Das Kloster Jasna Gora und seine Kunstsammlungen, 2. Aufl., Warszawa. 1991. 75 Hierzu Peter Fischer, Heribert Franz Köck, Margit Maria Karollus, Europarecht, 4. Aufl., Wien 2002, S. 26 ff. 76 Beachte Hans August Lücker, Jean Seitlinger, Robert Schuman und die Einigung Europas, Luxemburg 2000.

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Pius XII. war, der 1948 in seiner Rede an den II. Internationalen Kongress der europäischen Föderalisten als erster den Begriff Europäische Union77 verwendete, was 2004 Papst Johannes Paul II. anlässlich der Entgegennahme des Karlspreises in Erinnerung rief78. Als Erster der Nachfolger des Heiligen Petrus hat Papst Johannes Paul II. diesen Preis in hoher Anerkennung seines entscheidenden Beitrags zur neuen Ordnung Europas erhalten; ein Verdienst auf das auch Gorbatschow79 selbst hingewiesen hat. Diese Bedeutung des Christentums auch für die neue Ordnung des integrierten Europas wird im EU-Recht nicht entsprechend anerkannt. So ist es bedauerlich, dass auch der Reformvertrag von Lissabon80 keinen Gottesbezug und keine Nennung der christlichen Wurzeln81 enthält, wohl aber die Feststellung in der Präambel. „schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveränderlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“ und in der Präambel der Charta der Grundrechte der EU82: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns, in dem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.“ Viele andere Anliegen des Apostolats sind in der EU-Grundordnung auf vertraglichem Weg einer rechtlichen Erfassung zugeführt worden; so umfasst erstmalig die EU-Grundrechtecharta gemeinsam liberale83, demokratische84 und soziale85 Grundrechte, den Minderheitenschutz86 und das Diskriminierungsverbot87. Beachtenswert ist auch, dass alle Organe der EU künftig angehalten sind, einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit der Zivilgesellschaft und ihren repräsentativen Acta Apostolicae Sedis 40, 1948, 507 – 510. L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 2. April 2004, S. 8. 79 Siehe Johannes Paulus II., Erinnerung und Identität: Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden, Augsburg 2005; Donato Squicciarini, Der Papst und die Wende, in: derselbe, Dialog in Wahrheit und Liebe. Der Apostolische Nuntius in Österreich, zu aktuellen Fragen in Kirche und Welt (1989 – 1996), hrsg. von Egon Kapellari, Herbert Schambeck, Graz / Wien / Köln 1997, S. 398 ff. 80 Abl. EU 2007 Mr. C 306 / 1 vom 17. 12. 2007. 81 Siehe Herbert Schambeck, Invocatio Dei in der Präambel in: Kölner Gemeinschaftskommentar, S. 245 ff. 82 2007 / C, 3030 / 01. 83 Titel II der Grundrechtecharta. 84 Titel V der Grundrechtecharta. 85 Titel I und IV der Grundrechtecharta. 86 Titel III der Grundrechtscharta. 87 Vgl. Art 18 AEUV sowie Titel III der Grundrechtecharta. 77 78

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Verbänden zu führen, damit sie ihre Ansichten in allen Bereichen der EU öffentlich bekannt geben und austauschen88. Dabei wird besonders die Bedeutung der Kirchen und religiösen Vereinigungen „in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags“89 hervorgehoben. In gleicher Weise achtet die EU den Status, den weltanschauliche Gemeinschaften nach einzelnen Rechtsvorschriften genießen90. Die EU-Vorschriften bieten die Möglichkeit auf den Weg des Rechts in diesem Staatenverbund Aufgaben des Apostolats zu erfüllen, die christlichen Anliegen und Werte dienen. Bischof Egon Kapellari hat bereits mit seinem Hinweis auf die „europäische Leitkultur“ erklärt: „Wer die humane und kulturelle Prägung Europas durch das Christentum verschweigen will, der übersieht den wesentlichen Beitrag, den das Christentum für den Wertehaushalt europäischer Gesellschaften nach wie vor im großen Maße leistet.“91 Der Reformvertrag von Lissabon und die EU-Grundrechtecharta bieten die Möglichkeit, die neue Ordnung Europas auch als Rechts- und Wertegemeinschaft in einer Friedensordnung Wirklichkeit werden zu lassen und das zu verhindern, wovor Joseph Kardinal Ratzinger 1990 warnte, „das zunehmende Absinken der europäischen Idee in eine bloße ökonomische Arithmetik, die zwar Europas wirtschaftliche Macht in der Welt immer mehr steigerte, aber die großen ethischen Ziele immer mehr auf Besitzvermehrung reduzierte und die Logik des Marktes einebnete“92. Zu diesen notwendigen Zielsetzungen in der EU und mit der EU im übrigen Europa sowie mit Europa in der Welt kann durch das Recht das Apostolat richtunggebend zu dem beitragen, was unsere Zeit braucht, erkannte Menschlichkeit und auf ihr bauend eine allgemeine geachtete Ordnung. Der Mut des Bekenntnisses zum Christentum gibt dazu die Möglichkeit, die Glaubenstreue unzähliger Polen, auch in schwerster Zeit, war ein unvergleichliches Beispiel der erforderlichen Wegweisung, das nie vergessen sei und auch für die Zukunft verpflichtet. Jan Krucina hat durch sein Wirken als Priestergelehrter93 viele Jahrzehnte lang das ihm Mögliche dazu beigetragen, wofür ihm Dank und Respekt bekundet sei.

Art 11 Abs. 2 AEUV. Art 17 Abs. 1 AEUV. 90 Art. 17Abs. 2 AEUV. 91 Egon Kapellari, Gibt es eine christliche Leitkultur in Europa? Vortrag bei den Reichersberger Pfingstgesprächen am 31. Mai 2004, S. 9. 92 Joseph Kardinal Ratzinger, Europa – Hoffnungen und Gefahren, in: derselbe, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Freiburg 1991, S. 84. 93 Słowo nieskowane, Ksiega Jubileuszowa dla ks. Jana Kruciny, redakcja ks. Andrzej Nowicki bp Jan Tyrawa. Wrocław 1998. 88 89

Gott und das Verfassungsrecht* In der Frage nach Gott und dem Verfassungsrecht verbinden sich Transzendenz und Immanenz sowie Glaube und Politik. Beide berühren den Menschen, der, wenn gläubig, sich um seine Heilsfindung bemüht, und, wenn zugehörig zu einem Staat, dessen Ordnung zu beachten hat. Der Christ erfährt Gott durch die Bibel aus seiner geschichtlichen Offenbarung als den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ und erlebt seine Schöpfung. Friedrich Kardinal Wetter betonte schon: „Die Heilige Schrift verschließt sich hierbei in ihrem Gottesbild keineswegs den denkenden Bemühungen des menschlichen Geistes um die vertiefte Erkenntnis Gottes; ja sie fordert geradezu auf, Gott auch denkerisch zu suchen, ob man ihn ertasten und finden könnte; denn keinem von uns ist er ferne“ (vgl. Apg 17,27).1 Nach Religionszugehörigkeit wird es verschiedene Gottes-Verständnisse geben. Diese Verschiedenheit schließt aber den grundsätzlichen Gottesbezug nicht aus, der, von absoluten Atheisten abgesehen, auch in einer pluralistischen Demokratie die Menschen begleitet. Für den Staat ist bei aller Pluralität das Verfassungsrecht von existenzsichernder und ordnungsbegründender Bedeutung. Das Verfassungsrecht ist die normative Grundlage jedes obrigkeitlichen Gemeinwesen, des Staates im Besonderen.2 Die Ausführung erfährt das Verfassungsrecht in der gesamten Rechtsordnung; nämlich über einfache Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsbescheide, Gerichtsurteile und Vollstreckungsakte. Jeder Akt in diesem Aufbau der Rechtsordnung hat der Verfassungskonkretisierung zu dienen. Dem Verfassungsrecht kommt daher für den Menschen, der Adressat dieser Rechtsordnung ist und als Gläubiger einer Religion angehört, eine große Bedeutung zu.

* L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 16. Januar 2004, Nr. 3, S. 12. 1 Friedrich Kardinal Wetter, Die Kraft der Vision und die Herausforderung der Realität – Europa auf dem Weg zu sich selbst, Vortrag in Brüssel am 3. 12. 2003, Manuskript S. 6. 2 Siehe näher Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Darmstadt 1981.

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I. Rechts- und Machtzweck sowie Kultur- und Wohlfahrtszweck Der Staat selbst ist der dem Einzelmenschen und der Gesellschaft übergeordnete Herrschaftsverband, der Höchstfunktion erfüllt. Diese Höchstfunktion besteht in der Herstellung und Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit. Bei der Vielzahl an persönlichen Wünschen der einzelnen Menschen sowie den von Parteien und anderen Verbänden organisierten Interessen der Gesellschaft ist der Staat unserer Zeit im Dienste einer Mehrzweckvielfalt stehend. Neben dem Primärzweck des Staates, nämlich dem Rechts- und Machtzweck, steht er auch im Dienst des Kultur- und Wohlfahrtszweckes, das heißt, er hat auf dem Weg der demokratischen Staatswillensbildung, also auf Grund des Verfassungsrechts, auch im Rahmen des gesetzlich und politisch Möglichen um den kulturellen Fortschritt, das wirtschaftliche Wachstum und die soziale Sicherheit bemüht zu sein. Diese Mehrzweckverwendung des Staates setzt auch eine entsprechende gesetzliche und letztlich verfassungsrechtliche Grundlage sowie damit auch ein dem angepasstes Ordnungs- und Menschenbild voraus. Das den Staat in seiner normativen Form begründende Verfassungsrecht kennzeichnet in der Tradition europäischer Rechtskultur die unter dem starken Einfluss der frühen Verfassungsentwicklung der USA gestanden ist, eine Zweiteilung, nämlich in einen Staatsorganisations- und einen Grundrechtsteil, zu dem in letzter Zeit auch Aussagen über die Staatszwecke und bei deren Mehrzahl deren Rang getreten sind. Für diese Entwicklung zeugen viele Staatsverfassungen inner- und außerhalb Europas, vor allem in postkommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas. In der Entwicklung dieser Staatlichkeit zeigt sich, dass die Staatsrechtsordnung in Demokratien Ausdruck der freien politischen Willensbildung ist und diese auch einen Prozess der Säkularisation durchgemacht hat. So erweist sich die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die zum Ruf der französischen Revolution wurde, letztlich geistesgeschichtlich als eine Säkularisation alten christlichen Gedankengutes, besonders deutlich in der Lehre von der Gottesebenbildlichkeit der Menschen. Diese Imago-Dei-Lehre ist auch die ideengeschichtliche Begründung für die „Dignitas humana“, welche in Grundrechtsteilen von Verfassungsrechten ihren positivrechtlichen Ausdruck fand. Was kürzlich erst wieder der Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, Univ.-Prof. Dr. Karl Korinek, betonte.3

3 Karl Korinek, Die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen als Grundlage moderner Grundrechtskataloge, in: Diplomatie im Dienst der Seelsorge, Festschrift für Donato Squicclarini, Graz 2002, S. 76 ff.

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II. Lehre des Christentums von der Gottesebenbildlichkeit In der Genesis 1,27 lesen wir: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Gottes Abbild schuf er ihn“, und im Psalm 8 ist festgestellt, dass Gott den Menschen „mit Herrlichkeit und Ehre“ ausgestattet hat. Dem Neuen Testament entnehmbar hat Jesus Christus jeden Menschen die Gottesebenbildlichkeit, die von der ersten Sünde verunstaltet war, wiedergegeben und den Menschen durch sein Leben sowie letztlich durch seine Erlösungstat vollendet. Die Lehre des Christentums von der Gottesebenbildlichkeit hat die Würde des Menschen metaphysisch begründet. Sie fand ihre Ausführung durch die Kirchenväter, vor allem Gregor von Nyssa mit seiner Schrift „De hominis opificio“ sei genannt. In diesem Zusammenhang sei es auch nicht unerwähnt, dass in der ältesten Gebetssammlung der Westkirche, in der im „Sacramentarium Leonianum“ enthaltenen Weihnachtsoratorio, die einleitenden Worte stehen, die hernach in den Messkanon der tridentinischen Messe übernommen wurde: „Deus, qui humanae substantiae dignitatem mirabilliter condidisti et mirabillus reformasti.“ In der Folge ließ es das Christentum nicht mit der Idee der Menschenwürde allein sein, diese wurde später begleitet von einer christlichen Soziallehre, die neben der Individualmoral eine Sozialethik entwickelte. In diesem Zusammenhang seien Aurelius Augustinus: „De civitate Dei“ und Thomas von Aquin: „De regimine principum“ genannt. Diese augustinisch-thomasische Rechtsphilosophie wurde später von der spanischen Moralphilosophie – Francisco de Vitoria, Fernando Vásquez de Menchaca und Francisco Suarez seien besonders genannt – in einer naturrechtlich begründeten Staats- und universellen Völkerrechtslehre fortgesetzt. Dazu traten Überzeugungen der Menschenwürde in den verschiedenen Naturrechtslehren protestantischer Professoren wie Samuel Pufendorf und Christian Wolff. Die deutlichste Anerkennung fand später 1948 die Menschenwürde in der Präambel und in Art. 1 der UNO-Menschenrechtsdeklaration sowie beispielgebend für viele andere Verfassungen in Art. 1 des Bonner Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, eine Bestimmung, welche sogar unter dem Schutz der Unabänderlichkelt nach Art 79 (3) des Grundgesetzes steht. In vorbildlicher Weise drückt dieses Verfassungsrecht Deutschlands auch den Zusammenhang von Menschenwürde und Gottesbezug aus, denn die Präambel dieses Grundgesetzes beginnt mit den Worten: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“.

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III. Gottesbezug in Staatsverfassungen Auch die neue Schweizerische Bundesverfassung 2000 enthält in ihrer Präambel einen Gottesbezug: „Im Namen Gottes, des Allmächtigen! Das Schweizervolk und die Kantone, in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung, … geben sich folgende Verfassung.“ Noch weitere Gottesbezüge in Staatsverfassungen ließen sich nennen, wie z. B. in der Präambel der Verfassung Polens 1997: „Im Gefühl der Verantwortung vor Gott …“. Jede dieser „Invocatio Dei“ hat ihre eigenen Formulierungen und ihren jeweils spezifischen Bezug in der Entwicklung der politischen Ordnung ihres Staates. Im schweizerischen Verfassungsrecht4 ist sie ein Ausdruck ihrer langen diesbezüglichen Tradition und im deutschen Staatsrecht eine bewusste Reaktion auf die vorangegangene autoritäre Zeit des NS-Regimes. Die Verantwortung des Staates und seines Gesetzgebers wird gleich einleitend auch in ihrer Bedingt- und Begrenztheit verdeutlicht. Der deutsche Staatsrechtslehrer Univ.-Prof. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat es bereits viel zitiert schon in Erinnerung gerufen: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“5 Sicher geht dieser Gottesbegriff vom christlichen Gottesbild aus, das Wurzeln im Judentum hat. „Es werden aber auch andere monotheistische Gottesvorstellungen darunter zu subsumieren sein, ja es wird überhaupt jede religiöse Konzeption, in der es transzendenzbezogene Verantwortung gibt, ihren Ort finden können“.6 Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat es schon festgestellt: „Der ‚ethische Standard‘ des Grundgesetzes ist … die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen …“7. Der Gottesbezug drückt eine Verantwortung aus, beschränkt dann auch die politische Willensbildung und nimmt einen präpositiven Bezug in das Verfassungsrecht auf. Mit dem Hinweis auf Gott wird für die Ordnung des privaten und öffentlichen Lebens eine jeden Menschen betreffende Höchstverantwortung verdeutlicht, ohne „dass die Bürger verpflichtet sind, an Gott zu glauben“.8

4 Die schweizerische Bundesverfassung Kommentar, hrsg. von Bernhard Ehrenzeller u. a., Lachen 2002, S. 8 ff. 5 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsecht, Frankfurt a. M., 1976, S. 60. 6 Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Band VI, Heidelberg 1989, S. 518. 7 BverfGE 41, 29 (50). 8 Hollerbach, a. a. O., S. 518.

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IV. Ewigkeitsdimension der göttlichen Schöpfungsordnung Der Hinweis auf Gott in einem Verfassungsgesetz stellt eine besondere Verpflichtung für den Staat und seine Verantwortlichen dar. Er sollte weder zu einer „religiösen Verbrämung“ autoritärer und totalitärer Herrschaftssysteme in einem Staat noch zur Herbeiführung eines „kritik- und meinungslosen Untertanengehorsams“ missbraucht werden. Der Gottesbegriff eignet sich nämlich nicht zur ideologisierten Herrschaftsbegründung, gleichgültig ob in der Staatsform der Monarchie oder der Republik! Man soll diesbezüglich aus der Geschichte lernen. Der Hinweis auf Gott in der Verfassung stellt eine Selbstbeschränkung politischer Macht dar und ist gegen jene Selbstgerechtigkeit gerichtet, die oft in Demokratien manche Politiker begleitet. „Es ist dadurch der Blick geöffnet auf eine Wirklichkeit, die mehr und etwas anderes ist als dieser Staat in dieser Welt.“9 Der Hinweis auf Gott begründet somit ein besonderes Sozialverständnis, ein Miteinander, das in der Bewältigung des Zeitlichen auch die Ewigkeitsdimension der göttlichen Schöpfungsordnung vor Augen führt und so die Gemeinwohlverpflichtung der Politik verdeutlicht. Es wird, wie es der langjährige frühere deutsche Bundesverfassungsrichter Univ.Prof. Dr. Paul Kirchhof festhält, klargestellt, „dass Verfassungsstaat und Verfassung in eine Verantwortung gestellt werden, die über das freiheitliche Eigeninteresse, das politische Anliegen von Partei und Gruppierungen, das Nützlichkeitskalkül von Machterhalt oder wirtschaftlichem Vorteil hinausgreift und die Handelnden auch dann auf die ‚res publica‘ verpflichtet, wenn Eigennutz oder auch Rechtsbruch in Öffentlichkeit und Demokratie unbemerkt bleiben“.10 Präambeln im Allgemeinen und solche mit Gottesbezug im Besonderen haben Grundsatzcharakter und Symbolbedeutung. Sie suchen Idealität und Realität zu verbinden. Sie vermögen in einer pluralistischen Demokratie das gemeinsam Grundsätzliche zu verdeutlichen und den Menschen als Subjekt oder Objekt der Politik auf seine Gewissenhaftigkeit hinzuführen. Dies braucht der Staat auch bei aller Freiheitlichkeit seiner Ordnung. Böckenförde unterstreicht es: „Als freiheitlicher Staat kann er … nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“11 Präambeln12 stehen im engen Zusammenhang mit dem übrigen Text des Verfassungsgesetzes, besonders mit der Erklärung vor allem der Menschenwürde, der Hollerbach, a. a. O., S. 517. Gutachterliche Äußerung zur sachgerechten Berücksichtigung kirchlichen Wirkens in einer erneuerten europäischen Grundordnung im Auftrag des Kommissariats der deutschen Bischöfe Berlin, vorgelegt von Prof. Dr. Paul Kirchhof, Bundesverfassungsrichter a. D., Heidelberg, Dezember 2002, S. 8. 11 Böckenförde, a. a. O. S. 60. 9

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Menschenrechte, der Demokratie, des Rechts- und Sozialstaates. Sie stellen auch Sozialgestaltungsempfehlungen dar, die über das Verfassungsrecht hinaus in der übrigen Rechtsordnung ihre Aus- und Durchführung verlangen. Gottesklauseln in Präambeln sind nicht zwingend politisch notwendig, aber doch mögliche und empfehlenswerte Bestandteile eines Verfassungsgesetzes, sie sind Ausdruck einer religiösen, kulturellen und politischen Entwicklung des Volkes eines Staates, seiner Bewusstseinsbildung und seiner Verantwortung. Dies gilt sowohl für die Verfassungsordnung eines Staates wie auch für die der neuen Ordnung Europas in der EU, für beide gilt das wegweisende Bekenntnis des deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau, der evangelischer Christ ist, nämlich „dass es allen zumutbar ist, wahrzunehmen, dass wir unser Leben nicht uns selber verdanken. Das kann man in einer Verfassung mit dem Wort Gott ausdrücken. Ich halte das für richtig“,13 und er betont „Das entspricht dem Denken der meisten Menschen in Europa. Die Ablehnung des Gottesbezugs in der Verfassung kommt aus einem Verständnis von Laizismus, wie es ihn in Frankreich oder Finnland gibt, was aber nach meiner Meinung in dieser Frage nicht angemessen ist.“14

12 Peter Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Demokratie in Anfechtung und Gewährung, Festschrift für Johannes Broermann, Berlin 1982, S. 212 ff., bes. S. 231 ff. und derselbe, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., Berlin 1998, S. 951 ff. 13 Johannes Rau, Alles, was unser Leben ausmacht, Exklusiv-Interview, Unsere Kirche, evangelische Wochenzeitung für Westfalen und Lippe, Nr. 17, 20. – 26. 4. 2003, S. 11. 14 Johannes Rau, Die Reformen dürfen nicht scheitern, Bild am Sonntag, 7. 12. 2003, S. 4 / 5.

Recht und Religion als Frage der Rechtsontologie und Problem der Rechtsethik* Recht und Religion scheinen Unterschiedliches etwa wie Dies- und Jenseits, für manche auch Gegensätzliches zu sein. Wer aber das Recht als Ausdruck der für den Menschen bestimmten Ordnung und die Religion als Wegweisung zur Beantwortung der Frage nach dem Grund, dem Sinn und Ziel des Lebens ansieht, der erkennt die Zusammenhänge von Recht und Religion. Recht und Religion sind auch insofern aufeinander bezogen, als das Recht präpositive Bezüge besitzt, wie etwa nach dem abendländischen Rechtsdenken auf die Freiheit und Würde des Menschen1, mit denen der Einzelne, auf den sich das Recht bezieht, geboren wird und die Religion für ihre Ausübung des Grundrechts der Glaubens- und Gewissensfreiheit2 bedarf.

I. Der Ordnungsanspruch des Rechts Das Recht3 drückt einen mehrdimensionalen Ordnungsanspruch aus, welcher den Menschen schon von Alters her bewusst war. Dies zeigen bereits in der römischen Antike4 die Begriffe ius, fas und lex, ius als die für Menschen bestehende Ordnung5,

* Gastvorlesung, gehalten am 27. Nov. 2008 auf der Tagung Diritto e Religione Tra Passato e Futuro der Università degli Studi di Roma „Tor Vergata“ in Rom, erschienen in: Teoria del Diritto e dello Stato, Rivisita Europea di Cultura e Scienza Giuridica, Roma 2008 v. 1-2-3, S. 304 ff. und in: Diritto e Religione Tra Passato e Futuro, Atti del convegno internazionale Villa Mondragone – Monte Porzio Catone (Roma) 27. – 29. Novembre 2008, a cura di Agata C. Amato Mangiameli, Maria Rosa Di Simone, Roma 2010, S. 49 ff. (Italienisch). 1 Siehe A. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau, 2. Aufl., Wien 1963, bes. 257 ff. 2 Näher H. R. Klecatsky, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Rechtsstellung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften, R. Machacek, W. P. Pahr, G. Stadler (hrsg. von), in: 40 Jahre EMRK Grund- und Menschenrechte in Österreich, II, Kehl / Straßburg / Arlington 1992, 489 ff. 3 Dazu T. Meyer-Maly, Gedanken über das Recht, Wien / Köln / Graz 1985, und H. Schambeck, Das Recht und seine Verantwortung in unserer Zeit, Symposium „Jus 2000“ Österreichs Rechtstheorie und Rechtspraxis um die Jahrtausendwende, hrsg. von W. Barfuß, Wien 1994, 7 ff. Vgl. auch H. Franz Köck, Meaning and Function of Responsibility in Modern Pluralistic Society, in: Laudatio ad gloriam, Piteşti 2006, 63 ff. 4 Beachte F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, München 1988. 5 F. Wieacker, a. a. O., 267 ff.

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fas6 als die den Göttern gegenüber zu respektierende Ordnung und lex7 als das Gebot einer menschlichen Autorität. In seinem auf den Einzelnen, die Gesellschaft und den Staat bezogenen Aufgabenbereich hat das Recht eine Individual- und eine Sozialseite, die das Menschsein immer begleitet hat. Rechtsgeschichte war und ist immer auch Menschheitsgeschichte. In dieser historischen Betrachtung kann auch erkannt werden, dass das Recht, in welcher Form es immer auftrat, älter ist als der Jurist8. Bevor es den Jurist als eigenen Berufsstand gab, waren es Priester, die sich neben ihren eigentlich religiösen Aufgaben mit dem Recht beschäftigten. So setzten im Rom des Zwölftafelgesetzes im 5. vorchristlichen Jahrhundert die pontifices die Riten der Rechtsakte wie die von Sakralakten. Sehr deutlich zeigt dies das Wort orare. Es bedeutete nicht nur beten, sondern bezeichnete auch den Parteienvortrag bei Gericht9. Von dieser pontifikalen Rechtspflege kann man eine Weiterentwicklung zur Fachjurisprudenz um 300 vor Christi Geburt annehmen. Um 100 vor Christi Geburt findet man bereits ein umfangreiches fachjuristisches Schrifttum, das später durch die klassisch-römischen Juristen einen prägenden Anteil an der Rechtsfortbildung erlangte. Auf diese Weise wurde das klassisch-römische Privatrecht vor allem Juristenrecht, das die römischen Kaiser durch das ius respondendi ex autoritate principis unter Kontrolle zu bringen suchten10. Theo Mayer-Maly11 hat schon darauf hingewiesen, dass in der Folge die rechtsbildende Jurisprudenz der Prinzipatszeit (bis ca. 230 nach Christi) mit dem Souveränitätsanspruch der Kaiser der Dominatszeit (ab Diokletian 284 – 305) unverträglich wurde. Alles Recht sollte vom Kaiser ausgehen; der Jurist sollte das Recht nicht zu finden, sondern anzuwenden haben! Dieses Spannungsverhältnis von Rechtssetzung und Rechtsanwendung begleitete später durch Jahrhunderte das Rechtslebenmit monarchischen und republikanischen Staatsformen sowie autoritären und demokratischen Ordnungssystemen. Das Recht wurde zum Mittler der Ordnung des Staates, der den Menschen als Adressat seiner Normen hatte. Diese Rechtsnormen stehen im Dienste der Zwecke des Staates, nämlich sowohl des Rechts- und Machtzweckes als auch des Kultur- und Wohlfahrtszweckes12. In jedem Staat wird orts- und zeitbedingt Recht gesetzt und vollzoIvi, a. a. O., 275 f. Ivi, a. a. O., 277 ff. 8 So auch T. Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 2. Aufl., München 1981, 9, und H. Schambeck, Von den Aufgaben des Juristen, in: derselbe, Der Staat und seine Ordnung. Ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von J. Hengstschläger, Wien 2002, 33 ff. 9 T. Mayer-Maly, Der Jurist, Tätigkeitsbericht der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1988 – 89, Wien 1988, 11. 10 T. Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, cit., 11. 11 T. Mayer-Maly, a. a. O., 12. 12 Siehe A. Merkl, Staatszweck und öffentliches Interesse, ein Beitrag zur Nomenklatur der Verwaltungslehre, Verwaltungsarchiv, 28. Band, 1919, 268 ff., Neudruck in: Die Wiener 6 7

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gen. Der Jurist hat dabei eine den Aufgaben des Staates dienende Funktion zu erfüllen, der in der Staatswillensbildung die Entscheidungen der Politik13, mögen sie autoritär oder demokratisch zustande kommen, vorausgehen. In den Normen des Rechts findet die Ordnung des Staates ihren Ausdruck, welche die Freiheit des Menschen und dessen Grundrechte anerkennen, aber auch, wie die Geschichte lehrt, verletzen kann. II. Die Natur des Menschen und der Rechtsanspruch Der Mensch. mit seiner Natur steht wohl am Beginn jeglichen Rechtsdenkens als ein schöpferischer Uransatz. Die Selbstverwirklichung des Menschen darin entspricht der Lehre von der Entelechie. In welchem Maße aber der Natur des Menschen im Recht entsprochen wird, hängt von dem Personifikationsprozess ab, welchen jede Rechtsordnung durchzumachen hat und der nur möglich ist, weil der Gesetzgeber tatsächlich weitgehend die freie Wahl des Rechtsinhaltes hat, wobei sich im Laufe der Zeit auch Fehlentwicklungen zeigen können. Es wäre sonst nicht erklärlich, dass ein Mensch als Sklave und ein anderer als freier Bürger gilt. Eines der wichtigsten Merkmale der Natur der Menschen ist die Zweigeschlechtigkeit. Jede Rechtsordnung beachtet sie in ihrem Familienrecht. Sie ist eine Naturtatsache, welche eine Vielzahl von sozialen Voraussetzungen des Rechtes bedingt. Diese sind nur aus der gesellschaftlichen Natur des Menschen zu erklären. Der Mensch geht nicht bloß in seiner individuellen Existenz auf, sondern ist bestimmt durch seine gesellschaftliche Natur, welche durch das Leib-Seelenverhältnis beeinflusst wird. Warum kann aber der Mensch überhaupt eine Beachtung durch die Rechtsordnung fordern? Ist der Forderung des suum cuique tribuere nicht bereits durch ein formales Gerechtigkeitsprinzip Genüge getan? Eine Bejahung würde den Anschein erwecken, als würde das Recht nur um seiner selbst willen existieren. Sie wäre falsch, denn alles Recht besteht nur des Menschen wegen, der Recht insofern hat, als ihm eine Würde zukommt, die die staatliche Achtung und den staatlichen Schutz herausfordert. Es besteht eine Art innere Wechselbeziehung zwischen dem Menschen, seiner Natur und dem Recht. Der Mensch bedarf seiner Natur nach des Rechtes, zum einen wegen seiner von Immanuel Kant so genannten „ungeselligen Geselligkeit“14, zum anderen, weil Rechtstheoretische Schule, Schriften von H. Kelsen, A. J. Merkl, A. Verdross, II, hrsg. von H. R. Klecatsky, R. Marcic, H. Schambeck, Wien / Salzburg 1968, 1559 ff., sowie beispielsweise H. Schambeck, Von den Staatszwecken Österreich, in: Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich, Entwicklung und Gegenwartsprobleme, I, hrsg. von demselben, Berlin 1993, 3 ff. 13 Dazu H. Schambeck, Politik in Theorie und Praxis, hrsg. von H. Widder, Wien / Graz 2004.

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seine Freiheit und Würde eine Sicherung durch die Rechtsordnung verlangt. Das positive Recht wieder ist auf die Ergänzung durch sittliche Grundwerte angewiesen15, denn sie können dem positiven Recht unter der Voraussetzung seiner Sittengemäßheit jenes Maß an Rechtsgehorsam verschaffen, das mit eine Bestandsgarantie der Geltung ist. Die Natur und die Würde des Menschen stellen sich somit auch vom Gesetzgeber her gesehen als ein vom positiven Recht unbedingt zu sichernder Wert dar. Man denke nur an die Prinzipien der Zuverlässigkeit, der Treue und der Wahrhaftigkeit, welche neben anderen für die Privatrechtsordnung bestimmend sind. Es handelt sich immer um Forderungen, die dem Wesen des Menschen entspringen. Die Erfüllung dieser Forderungen lässt sich aber nicht nur seiner Vernunftsnatur entsprechend aus dem rationalen Denken finden, sondern vielmehr in einer sittlichen Wertordnung. Die entscheidende Bedeutung der Natur und des Wesens des Menschen liegt in ihrer Eigenart, welche die Verwirklichung sittlicher Werte ermöglicht. Aus der Natur des Menschen sehen wir, „dass er mehr ist als eine Gattung natürlicher organischer Lebewesen im Sinne der Biologie“16, sie ist der Bereich, in dem der Mensch seine Einmaligkeit erfährt und sich in ihrer Entsprechung erfüllt.

III. Die Freiheit und Würde des Menschen Was macht jedoch den Bereich aus, welcher dem Menschen zur Verwirklichung offensteht? Es ist die Freiheit, die durch das Wesen der Person bedingt ist. Alle Rechte, welche es aus der Natur und dem Wesen des Menschen abzuleiten gilt, dienen ihrer Sicherung. Alle Fähigkeiten des Menschen, die Rechts- wie die Handlungsfähigkeit, lassen sich nur aus der Freiheit des Menschen erklären. Erst dadurch wird dem einzelnen Menschen die Möglichkeit eröffnet, Recht oder Unrecht zu tun. Nur die erkennbar freie Tat kann dem einzelnen Menschen zu- oder angerechnet werden. Doch welcher Art ist die Freiheit, die sich als Existenzbedingung des Menschen erweist? Es ist die sittliche Freiheit, welche bereits Kant als Grundlage eines Systems von Grundsätzen des Rechtes gedient hat. „Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit (d. h., so dass alle frei sein können) zusammen vereinigt werden kann“17. Die Sittlichkeit selbst ist nichts anderes, wie Johannes Messner hervorhebt, als die Naturrichtigkeit, d. h. das der menschlichen Seins-

14 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784, in derselbe, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik (= Immanuel Kants Werke in sechs Bänden, Bd. VI), hrsg. von W. Weischedel, 5. Nachdruck 1983 der Ausgabe Darmstadt 1958, S. 37. 15 H. Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, Heidelberg 1947, 36. 16 H. Coing, a. a. O., 63.

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weise Entsprechende. „Die Sittlichkeit besteht in der Übereinstimmung des Verhaltens des Menschen mit den in seiner Natur, ihren körperlichen und geistigen Trieben vorgezeichneten Zwecken.“18 Worin liegt aber der bestimmende Grund, welcher das Wesen des Menschen ausmacht? Er ist in der ihm angeborenen Würde zu sehen. Dieser Sonderwert, als welcher sich die Würde des Menschen darstellt, hebt die Menschen über alle anderen Gegebenheiten hinaus. Jede Aussage über die Würde des Menschen ist somit zugleich eine solche über sein Wesen, über seine Natur. Es handelt sich dabei um eine Natur, die der freien Entfaltung bedarf. Diese kann aber vor allem in der Gemeinschaft erfolgen. Jede Erkenntnis aus der Natur des Menschen lässt daher den besonderen Wert der menschlichen Gemeinschaft deutlich werden und die Vorstellung eines atomisierten Individuums als unrichtig erscheinen19. Die Würde des Menschen und der Wert der Gemeinschaft stehen in einem engen Zusammenhang. Darum bilden die Menschenrechte die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft20. Die Menschenrechte setzen als ihren Träger eine der Gemeinschaft verantwortliche Persönlichkeit voraus. Das ist der Mensch, denn allein er ist seiner Natur nach ein Freiheitsträger. Sollte der Mensch aber versuchen, sich über die Forderungen der Gemeinschaft hinwegzusetzen, um sich aus ihren Bindungen zu befreien, dann handelt er entgegen seiner Natur. Aus der Natur des Menschen21 ergibt sich, dass ihm eine Würde angeboren ist, welche unverlierbar und unverzichtbar ist. Die Anerkennung der Würde des Menschen sollte daher am Beginn jeder Rechtsordnung stehen22. Die Würde der menschlichen Person ist ein dem positiven Recht voraus liegender Wert, dessen Positivierung keine Rechtsetzung darstellt, sondern eine allgemein verbindliche positivrechtliche Anerkennung. Sie ist getragen von der Erfahrung des Seins, in dem für den christgläubigen Menschen die Freiheit und Würde in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen begründet ist23. Diese Lehre von der menschlichen Würde, der dignitas humana, 17 I. Kant, Einleitung zu „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“, XXXIII, der Königsberger Ausgabe von 1797. 18 J. Messner, Das Naturrecht, 3. Aufl., Innsbruck 1958, 38. 19 Die Bindung des Einzelnen an die Gemeinschaft hat ihren verfassungsrechtlichen Ausdruck in Art. 2 (1) Bonner GG gefunden: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ 20 Siehe dazu E. Fechner, Die soziologische Grenze der Grundrechte, Recht und Staat, Heft 177, Tübingen 1954. 21 Beachte H. Schambeck, Der Begriff der „Natur der Sache“, ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung, Wien 1964, 45 ff. 22 Siehe Art. 1 GG. 23 Siehe Gen. 1,26 f. Dazu auch J. Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: derselbe, Ethik und Gesellschaft, Aufsätze 1965 – 1974, Köln 1975, 13 ff., bes. 20 ff.

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wurde mit der Imago-Dei-Lehre metaphysisch begründet. So lesen wir in der Genesis: „Lasset uns den Menschen machen nach unserem Abbild, uns ähnlich“24. Anschließend wird die gleiche Menschenwürde der Frau betont. Nach seinem Bild schuf er die Menschen „als Mann und Weib erschuf er sie“25. Zur Weihnacht wird diese Nähe von Gott und Mensch besonders deutlich, denn Gott macht sich nach dem Glauben der Christen zum Menschensohn und die Menschen zu Gotteskindern26. Diese Lehre von der Gottesebenbildlichkeit wurde von den Kirchenvätern27, vor allem auch in der Schrift von Gregor von Nyssa „De officio hominis et civis“ im 4. Jahrhundert näher ausgeführt. Sie begleitete durch Jahrhunderte die Idee von der Würde des Menschen. Besonders sei auf die ausdrückliche Hervorhebung der Menschenwürde bei Samuel von Pufendorf verwiesen, der in seinem Werk „De officio hominis et civis iuxta legem naturalem libri duo“ 1673 von der Idee der angeborenen Würde des Menschen (inesse homini aliqua dignatio) aus die gleiche Achtung und Gleichberechtigung aller Menschen ableitete28, eine Lehre, die später auch die amerikanische Erklärung der Menschenrechte und über diese die Frankreichs sowie auch den Weg Europas zum demokratischen Verfassungsstaat der Neuzeit beeinflusst hat29. Die Verbundenheit von Sein und Würde des Menschen drückt sich in dem Wort „Person“30 aus. Dieser Begriff geht auf das griechische Wort prosopon zurück, wie die Göttermaske im archaischen Kult bezeichnet wurde und auf das lateinische Wort personare, was hindurchtöten bedeutet. Im Menschen, der Person ist, tönt daher ein höherer Anspruch an die Wirklichkeit! Dieses Wort Person, es sei besonders betont, ist älter als der Rechtsbegriff Person31. Boethius scheint die erste formalontologische Definition von Person gegeben zu haben, wenn er feststellte: „Persona est naturae rationalis individua substantia“32.

Gen. 1,26 f. Gen. 1,27. 26 Vgl. Lukas 2,1 – 20. 27 Dazu A. Verdross, a. a. O., 55 ff.; F. Flückinger, Geschichte des Naturrechts, Zürich 1954, 284 ff., und H. Rahner, Kirche und Staat im frühen Christentum, München 1961. 28 S. von Pufendorf, De officio hominis et civis, 1673, III, § 1. 29 Näher G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 8. Aufl., 6. Neudruck, Darmstadt 1959, bes. 412 ff., sowie C. J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1953. 30 Siehe S. Schloßmann, Persona und prosopon im Recht und im christlichen Dogma, Dissertation, Kiel 1906 sowie H. Rheinfelder, Das Wort „Persona“, Geschichte seiner Bedeutungen mit besonderer Berücksichtigung des französischen und italienischen Mittelalters, „Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie“, Heft 77, Halle 1928. 31 Dazu näher H. Coing, Der Rechtsbegriff der menschlichen Person und die Theorie der Menschenrechte, Beiträge zur Rechtsforschung, Tübingen 1950. 24 25

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Die Auseinandersetzung um die Anerkennung aller Menschen als Rechtsperson hat eine sehr lange Geschichte und erfolgte erst mit dem Untergang der feudalen Ständeordnung33. Die Würde des Menschen fand in dem Personenbegriff seinen Ausdruck. Treffend und anschaulich sagte es dementsprechend auch Papst Johannes XXIII. 1963 in seiner Enzyklika „Pacem in terris“ (Art. 9), „dass jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist“34. Der Schutz dieser Würde und Personhaftigkeit des Menschen erfolgt in der Rechtsform des Grundrechts; d. h. in der Form eines Rechtssatzes höchsten Ranges, nämlich des Verfassungsrechts, welches den Staat selbst verpflichtet und den Einzelmenschen berechtigt. Die Geschichte zeigt, dass die Verbindung des Menschen als Rechtsperson mit der Rechtsordnung im Sinne des Gebotes von Menschenwürde ein Vorgang von langer Dauer war und der Personbegriff zum Rechtsgebot sich erst mit dem Beginn der Rechtskodifizierung verdeutlichte35. Im späteren Rechtspositivismus36 ging die metaphysische Begründung der Menschenrechte verloren. Erst nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges ließ die Wiederkehr des Naturrechts37 die Einheit von Menschenwürde und Personhaftigkeit in positivrechtlich gesicherten Menschenrechten zustande kommen. Der Mensch wurde als Rechtsperson anerkannt, seine Rechtsfähigkeit damit begründet und die Voraussetzung für seine Stellung in Recht und Politik geschaffen. Das zeigt sich in vielen Verfassungen. So beginnt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 sogar im Art. 1 mit der Deklaration und dem Schutz der Menschenwürde. Auch die Verfassungen vieler Staaten enthalten Bekenntnisse zur Freiheit bzw. zur Würde des Menschen, so erklärt die Verfassung der Republik Italien vom 27. 12. 1947: Art. 2: „Die Republik anerkennt und gewährleistet die unverletzlichen Rechte des Menschen, sei es als Einzelperson, sei es innerhalb der sozialen Gemeinschaften, in denen sich seine

32 Nach A. Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, Recht und Staat, Heft 282 / 283, Tübingen 1964, S. 11 f. 33 Beachte H. Conrad, Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, Karlsruhe 1956. 34 Hierzu: Die Kirche und die Menschenrechte, ein Arbeitspapier der Päpstlichen Kommission Iustitia et Pax, 3. Aufl., München 1980; Päpstlicher Rat Iustitia et Pax, Die Kirche und die Menschenrechte, historische und theologische Reflexionen, Bonn 1991; G. Filibeck, Human Rights in the Teaching of the Church: From John XXIII to John Paul II, Vatican City 1994 sowie H. Schambeck, Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, hrsg. von Detlef Merten und H.-J. Papier, Heidelberg 2004, S. 349 ff. 35 Dazu F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, bes. S. 322 ff. 36 Siehe H. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Charlottenburg 1928, Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Band 1, S. 281 ff. 37 Beachte H. Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrecht, 2. Aufl., Köln 1947 sowie H. Schambeck, Naturrecht in Zeitverantwortung, in: Mensch und Naturrecht in Evolution, hrsg. von W. Freistetter und R. Weiler, Wien / Graz 2008, S. 15 ff.

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Persönlichkeit entfaltet; sie verlangt die Erfüllung der unabdingbaren Pflichten politischer, wirtschaftlicher und sozialer Solidarität.“

IV. Die ontologische Begründung der Menschenrechte Die Entsprechung der ontologischen Begründung der Menschenrechte im Grundrechtsteil eines Verfassungsrechtssystems verlangt die Beachtung der Mehrdimensionalität des menschlichen Seins. Es ist auf ein Selbstsein, auf ein Zusein und auf ein Mitsein gerichtet. Das Selbstsein kann zur Selbsterkenntnis, Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung des einzelnen Menschen führen; das Zusein kann die Verbundenheit mit dem Mitmenschen erleben und das Mitsein die gemeinsame Verantwortung für Gesellschaft und Staat begründen lassen. Die verschiedenen Dimensionen des Seins entsprechen der ontologischen Bedingtheit des Menschen. Da der Mensch nicht alleine lebt, bedarf es auch seines Verständnisses für das entsprechende Neben- und Miteinander mit seinen Nächsten, wie z. B. Entgegenkommen und Toleranz. Der deutsche Philosoph Josef Pieper hat diesem Erfordernis seine Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Grundformen sozialer Spielregeln“ gewidmet38. Im Menschen kann sich insofern Religion und Recht verbinden, als er Glaubender und Normadressat zugleich sein kann, wodurch sich auch seine Individual- und Sozialexistenz verdeutlicht. In der Individual- und Sozialexistenz dokumentiert sich der Mensch, der auch physisch und psychisch ideell und materiell in gleicher Weise bestimmt ist. Anlagen, Triebe, Leidenschaften, Bedürfnisse, Wünsche, Interessen, Zwecke und sonstige Gegebenheiten und Notwendigkeiten verschiedenster Art begleiten den Menschen und prägen ihn. Diese Grundstrukturen der Menschen finden beim Einzelnen einen unterschiedlichen individuellen Ausdruck. Der Mensch erlebt und erfährt sich dabei nicht allein, sondern auch in vielen Bezügen im Hinblick auf Mitmenschen, die Gesellschaft und den Staat. In dieser Sicht eignet der ontologischen Bedingtheit des Menschen gleichzeitig eine starke soziale Dimension, in der er auch seine volle Persönlichkeitsentfaltung finden kann. Selbstgestaltung und Sozialgestaltung verbinden sich und verlangen auch eine Abgrenzung der verschiedenen Seins-, Aufgaben- und Verantwortungsbereiche der Menschen. Die Freiheit des Einen endet nämlich dort, wo die Freiheit des Nächsten beginnt! Zur Sicherung der Respektierung dieser Abgrenzung ist der Staat mit seiner Rechtsordnung erforderlich. Damit aber bei aller Notwendigkeit des Staates zur Rechtssetzung und Rechtsvollziehung die Seinsautonomie des Menschen39 und damit auch seine Freiheit und Würde gewahrt bleibt, bedarf es der Menschenrechte, welche in der Rechtsform der Grundrechte 38 39

J. Pieper, Grundformen sozialer Spielregeln, 7. Aufl., München 1987. R. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, Wien 1957, 314.

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geschützt werden. Die Grundrechte sind daher ontologisch begründet und notwendig40. Die Notwendigkeit ergibt sich aus dem Erfordernis der Abgrenzung der Stellung des Einzelmenschen gegenüber seinen Mitmenschen sowie aus seiner Beziehung zum Staat. Auch für das öffentliche Recht ist der Mensch mit seiner Wertigkeit, die religiös begründet ist, bestimmend; das zeigt jede Staatsrechtsordnung, die neben der Regelung der Staatsorganisation eine Grundrechtsordnung hat, welche in liberalen, demokratischen und sozialen Grundrechten dem Einzelnen eine Freiheit vom und im Staat sowie durch den Staat und in existentiellen Grundrechten einen Schutz des Lebens und der Umwelt zu gewähren hat. In der Achtung des Lebens verlangt die Religion dessen Schutz durch das Recht von der Zeugung bis zum Tod, was die Abtreibung und die aktive Sterbehilfe verbietet. Ein solches Ja zum Leben ist aber nach der Religion nicht allein vom Staat, sondern mit ihm auch vom Menschen selbst zu erwarten, den die Gewissenspflicht trifft, im Bewusstsein seiner in der Ebenbildlichkeit Gottes begründeten Würde die Möglichkeit entstehenden Lebens nicht zu verhindern!

V. Die Kennzeichen des demokratischen Verfassungsstaates Im Staat war die Verbundenheit von Legalität und Humanität erst die Folge einer Entwicklung von Jahrhunderten. In dieser führte im 19. Jahrhundert die Bezogenheit von Demokratismus und Liberalismus41 zum demokratischen Verfassungsstaat42 zunächst in monarchischer und später mehr republikanischer Staatsform. Dieser demokratische Verfassungsstaat ist besonders gekennzeichnet von einer Verfassungsgebundenheit aller drei Staatsfunktionen, nämlich Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung, der Gewaltenteilung, dem Stufenbau der Rechtsordnung, der Unabhängigkeit der Richter, der Justizmäßigkeit der Verwaltung, der Gehorsamspflicht und Weisungsgebundenheit der Beamten, der Rechnungs- und Gebarungskontrolle des Staats und der Amtshaftung43.

40 Beachte: Die ontologische Begründung des Rechts, hrsg. von A. Kaufmann, Darmstadt 1965, sowie H. Schambeck, Die ontologische Begründung der Menschenrechte, in Diritti dell’ Uomo, Diritto delle genti nel Mediterraneo, hrsg. von A. Filipponio, D. M. Jaeger, Bari 2000, 13 ff. 41 Beachte A. Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, 163 ff., bes. 167 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, I, 631 ff. 42 Siehe C. J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin 1953. 43 Näher als Beispiel E. Loebenstein, Der Rechtsstaat, in Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, hrsg. von H. Schambeck, Berlin 1980, 253 ff.

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Dieser demokratische Verfassungsstaat soll dem Einzelnen die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Staatshandelns bieten und auf diese Weise Rechtssicherheit sowie die Freiheit zur Persönlichkeitsentfaltung gewähren. Aus diesem Grund kommt es darauf an, dass die Ordnung des Staates dem Einzelnen an Kenntnis, Wissen und Verstehen zugänglich ist. Dieser demokratische Verfassungsstaat wurde als Gemeinwesen in einer Mehrzweckverwendung genutzt und als Rechtsstaat auch Kultur-, Wirtschafts- und Sozialstaat. Die Rechtswege und Rechtsformen dienten nicht nur der Herstellung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit, sondern auch zur Ermöglichung von kulturellem Fortschritt, wirtschaftlichem Wachstum und sozialer Sicherheit. In einem solchen sozialen Rechtsstaat sollen sich Grundrechte44 und Grundpflichten paaren und liberale, demokratische und soziale Grundrechte in einer zur Wahrung des gemeinsamen Menschenbildes notwendig gewordenen Abgestimmtheit die Freiheit vom Staat, im Staat und durch den Staat ausdrücken. Unter dem Einfluss der Verfassungsentwicklung der heutigen USA45 ist das Verfassungsrecht der Staaten nahezu immer vor allem durch zwei Teile – die Staatsorganisation und die Grundrechte – gekennzeichnet. In letzter Zeit ist auch die Erklärung der Staatszwecke und bei deren Mehrzahl deren Rangfolge im Verfassungsrecht feststellbar. Der demokratische Verfassungsstaat ist Gesetzesstaat und gibt neben den Rechtsformen sowie Rechtswegen auch die Rechtsziele an. Da die Ausübung der Staatsgewalt im demokratischen Verfassungsstaat an die Gesetze gebunden ist, hat dies bei der Vielzahl an Staatsaufgaben eine Vielzahl an Vorschriften positiven Rechts zur Folge, wodurch eine Gesetzesflut entsteht, welche die Kenntnis des positiven Rechts gefährdet. Die aus der Mehrzweckverwendung des heutigen Rechtsstaates erklärbare Gesetzesflut46 geht somit auf Kosten der Rechtskenntnis und führt zur Rechtsunsicherheit. Dieser Tatsache sucht man beginnend im skandinavischen Rechtskreis und später darüber hinaus mit der Einrichtung des Ombudsmanns47 als einem Rechtshilfeorgan zu begegnen. Dieses Verstehen des positiven Rechts durch den Einzelnen im Staat ist deshalb so notwendig, weil diesem im Staat von ihm nicht nur Rechte zustehen, sondern von ihm auch Leistungen erwartet werden, zu deren Erfüllung auch die Kenntnis deren Notwendigkeit erforderlich ist. Der demokratische Verfassungsstaat ist auch 44 Näher H. Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, Berlin 1976, 466 ff. 45 Dazu Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von H. Schambeck, H. Widder, M. Bergmann, 2. Aufl., Berlin 2007. 46 Siehe T. Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut, Salzburg / München 1969, und J. W. Pichler, Rechtsakzeptanz, in: Österreichs Rechtstheorie und Rechtspraxis um die Jahrtausendwende, 39 ff. 47 Beachte P. Kastari, Die Institution des Ombudsmanns im skandinavischen Recht, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 1972, 219 ff.

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von der Verbundenheit von Grundrechten und Grundpflichten48 getragen; sie machen das Miteinander von Legalität und Humanität möglich, geben durch das Recht dem Staat ein menschliches Antlitz und in erfüllter Verantwortung dem Einzelnen für seine Aufgaben- und Pflichterfüllung die Antwort auf die bewusst oder unbewusst von ihm gestellte Frage nach deren Warum und Wozu. Während in einem autoritären Staat seine Ordnung auf monologischer Machtausübung beruht, hat das Rechtsleben im demokratischen Staat einen dialoghaften Charakter; dadurch besteht die begründbare Möglichkeit, dass das positive Recht, das vom Volk ausgeht, wie es in Art. 1 des österreichischen B-VG 1920 heißt, nicht am Volk ausgeht. Durch dieses verstehende Miteinander in der Politik eines demokratischen Verfassungsstaates kann beim Normsetzer und Normadressaten jenes Bewusstsein an Solidarität entstehen, das bei der heute erfahrbaren Pluralität der Gesellschaft49 so dringend erforderlich ist. Die Pluralität tritt in der Gesellschaft und ihrem Staat mannigfach auf, vor allem in Fähigkeiten, Einstellungen und Bedürfnissen der einzelnen Menschen, mit den organisierten Interessen der Gesellschaft in Verbänden, den Glaubenshaltungen von Religionen, den Ideologien und Weltanschauungen in politischen Parteien sowie in den Zwecken und Zielsetzungen des Staates.

VI. Die Bedeutung der Religion Die Religion hat in dieser Vielfalt an Pluralität eine grenzenüberschreitende Bedeutung; sie führt den Menschen zur Beantwortung der Sinnfrage des Lebens sowie des Anspruchs der Ordnung seines privaten und öffentlichen Lebens; beginnend mit den Menschenrechten sowie durch diese auch zu Recht und Staat. Die Religion vermag den Menschen den Weg zum Sinn des Lebens, zur Erkenntnis seiner Identität sowie helfend auch zur Bewältigung von Grenzsituationen des Menschseins hinführen. In der Erfahrung seiner Menschenwürde und deren Beachtung im Recht vermag der Mensch durch das Recht, vor allem in einem demokratischen Verfassungsstaat, zur Humanisierung der Staatsordnung beizutragen. Bei einer Pluralität von Religionen kommt es aber darauf an, dass diese eine möglichste Übereinstimmung in der Anerkennung der Menschenrechte und damit an Menschlichkeit der Staatsordnung durch das Recht erreichen50; dies verlangt eine Verbundenheit von Gläubigkeit ohne Fundamentalismus mit Toleranz51 ohne 48 Dazu C. Schmitt, Grundrechte und Grundpflichten (1932), in: derselbe, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 2954, Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, 181 ff.; H. Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, 493 ff. 49 Beachte H. F. Köck, Recht in der pluralistischen Gesellschaft, Wien 1998. 50 Siehe dazu Id., Religion und Menschenrechte, in: Linzer Philosophisch-Theologische Schriften, Bd. 15, hrsg. von S. J. Lederhilger, G. Verlassen, Menschenwürde und Menschenbilder, Bern 2008, 126 ff. bes. 139 ff.

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Gleichgültigkeit, nämlich ein Zu- und Füreinander in verstehender Solidarität. Das Recht vermag dann der Religion Freiheitsräume zu ermöglichen und zu sichern sowie die Religion mit die Voraussetzung für den Maßstab an Menschlichkeit im Staat zu gewährleisten52. Zu dieser Pluralität der Gesellschaft im demokratischen Verfassungsstaat vermag der Christ mit seiner Religion53 einen Beitrag zu leisten, der auch Ungläubigen zugute kommt, da auch sie Adressaten der Normen des demokratischen Verfassungsstaats sind, die mit unter dem Einfluss des Christentums zustande gekommen sind, wofür die Grundrechte besonders zeugen. In diesem Sinne ist auch die Antwort beachtenswert, die Jürgen Habermas 2004 auf die Frage „Wie gläubige und säkulare Bürger miteinander umgehen sollten“54 gegeben hat: „Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentliche Sprache zu übersetzen.“55 Die öffentliche Diskussion bietet dem Einzelnen die Möglichkeit, zur Meinungs-, Urteils- und Willensbildung in der Demokratie und in ihrem Verfassungsstaat das Seine zum Notwendigen beizutragen. Persönliche Wünsche, berufliche Interessen, parteipolitische Einstellungen, weltanschauliche Überzeugungen sowie ideologische Ansichten können dabei wegweisend sein, besonders sind es die Glaubenshaltungen von Menschen, die offen und deutlich sowie bewusst oder nicht den Einzelnen gleich welchen Geschlechts und Alters, ob Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, intellektuell oder manuell tätig, begleiten. Der Christ hat seine Verantwortung begründet in der Religion seines Glaubens und dieser Glaube verlangt das Apostolat.

51 Vgl. ders., Human Rights under the Conditions of Globalisation with Special Regard to Fundamentalism and Religion Freedom, in: Universität Pitesti (Hrsg.) Anul 6, Nr. 1 (6)-2007, Pitesti 2007, 33 ff. 52 Beachte: Menschensohn und Menschenwürde, in Neue Züricher Zeitung, 24. 12. 2008, 1: „Unabhängig davon, welcher der – miteinander sich verschlingenden Traditionslinien bevorzugt wird: Sobald die Menschenwürde als fundamentale Idee in die Verfassung des säkularen Rechtsstaat eingegangen ist, muss sie als weltanschaulich, neutral verstanden werden. Es kommt darauf an, dass die Menschen bedingungslos in ihrer Würde als Person geachtet werden und dass sie – mit Hannah Arendt gesprochen – ein unveräußerliches Recht auf Rechte haben“. 53 Dazu J. Ratzinger, Einführung in das Christentum, 9. Aufl., München 2007. 54 J. Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: J. Habermas, J. Ratzinger, Über Vernunft und Religion, Freiburg / Basel / Wien 2005, 34. 55 J. Habermas, a. a. O., 36; siehe auch derselbe, Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001.

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VII. Das Apostolat des Christen Das Apostolat des Christen ist begründet im Missionsauftrag Jesu Christi: „Darum gehet hin und macht euch alle Völker zu Jüngern, in dem ihr sie tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und sie alles lehrt, was ich euch geboten habe. Seht ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“56. Dieser Missionsauftrag bezieht sich sowohl auf die Heilsfindung des Einzelnen selbst als auch auf seinen Beitrag zu einer Gestaltung der Welt in einem christlichen Sinn. Die katholische Kirche hat daher niemals von ihren Gläubigen eine Weltflucht verlangt; Jesus sagte vielmehr in seinem Gebet für die Apostel: „Ich bitte nicht: Nimm sie aus der Welt, sondern: Bewahre sie vor dem Bösen“57. Christus hat in seiner Lehre der Beziehung der Christen zur Welt ethische Maßstäbe angelegt. Diesen christlichen Sinn der Weltverantwortung hat nahezu zweitausend Jahre später Papst Pius XII., dessen 50. Todestag58 in dieses Jahr fällt, verdeutlicht, als er am 16. März 1946 in einer Ansprache über „Aufgaben des Seelsorgers heute“ hervorhob: „Der Gegenstand der Glaubensverkündigung ist die katholische Lehre, d. h. die Offenbarung mit allen in ihr enthaltenen Wahrheiten, mit allen Folgerungen, die sie für das sittliche Verhalten des Menschen im persönlichen, im häuslichen und sozialen, im öffentlichen, auch politischen Leben nach sich zieht (…) Die katholische Kirche wird sich nie in die vier Wände ihres Gotteshauses einschließen lassen. Die Trennung von Religion und Leben, von Kirche und Welt widerspricht dem christlichen und katholischen Denken“59. In diesem Sinne bemüht sich auch das II. Vatikanische Konzil60 besonders in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ um die Kirche in der Welt von heute61; es sei aber betont, nicht um die Welt von heute in der Kirche! Die Welt von heute ist Auftrag für das Apostolat der Christen mit dem ganzen Umfang der Verantwortung, der sich heute für die Seinsfindung und Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen, für eine humane Sozialordnung und für eine Wahrung der Schöpfungsordnung einschließlich des notwendigen Umweltschutzes ergibt. Diese Aufgaben sollten im Apostolat des Christseins ganz nach den ersten Worten der Pastoralkonstitution mit Freude und Hoffnung erfüllt werden. Bischof Egon Matthäus, 28,19 f. Johannes, 17,15 f. 58 Hierzu Pius XII, zum Gedächtnis, hrsg. von H. Schambeck, Berlin 1977; Pius XII, Friede durch Gerechtigkeit, hrsg. von H. Schambeck, Kevelaer 1986, und K. Braun, Papst Pius XII, Begegnung in Wort und Bild, Kisslegg 2008. 59 Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII., hrsg. von A. Fridolin Utz, F. Groner, II, 2. Aufl., Freiburg 1954, 1399, Nr. 2805. 60 K. Rahner, H. Vorgrimmler, Kleines Konzilskompendium, 2. Aufl., Freiburg / Basel / Wien 1966. 61 Vgl. H. Franz Köck, Rechts- und gesellschaftspolitische Voraussetzungen für das Verhältnis Kirche und Staat in einer globalisierten Welt, in: Universität Salzburg, Theologische Fakultät, Johannes Paarhammer (Hrsg.), Salzburg 2008. 56 57

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Kapellari sagte es schon: „Christsein ist ja kein sitzender Beruf. Sitzen, knien und stehen und dann immer wieder gehen hinaus vor die eigene Tür im Bewusstsein eines Auftrages, einer Sendung durch Christus – das sind sich einander ergänzende Weisen unseres Glaubensvollzugs.“62 Egon Kapellari hatte zunächst weltliches Recht studiert und auch promoviert und ist hernach Theologe geworden; er ist schon mehr als ein Vierteljahrhundert Bischof, jetzt für die Diözese Graz-Seckau und stellvertretender Vorsitzender der österreichischen Bischofskonferenz. Er hat sein Wirken Religion und Recht gewidmet und kürzlich in einem Vortrag zu „Recht und Unrecht in philosophischer und theologischer Sicht bezüglich Mitmenschlichkeit“ festgestellt: „Man kann Verzeihen und Versöhnen nicht dekretieren, aber keine humane Gesellschaft, gleich welcher Größe, könnte ohne diese menschliche Geste auskommen. Es gibt, um ein weiteres Beispiel zu nennen, auch keinen Rechtsanspruch, nicht einsam zu sein, aber die Bereitschaft vieler, sich vereinsamter und vergessener Menschen aus freien Stücken zuzuwenden, sichert nachhaltig den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Miteinander der Generationen.“63 Man muss auch betonen, dass nicht alles, was menschlich notwendig ist, auch des Ausspruchs durch das Recht immer fähig ist, nämlich normiert werden kann, wie etwa Mitmenschlichkeit. Verstehende Mitmenschlichkeit verlangt christliches Apostolat. Diese Aufgabe des Apostolats aus der Religion stellt sich Priester und Laien der Kirche in je eigener sich geradezu ergänzender Weise. Das II. Vaticanum hat diese Vielfalt des Apostolats betont und verdeutlicht. Die dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ und das Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam actuositatem“ seien in diesem Zusammenhang genannt. Mit dem Apostolat der Bischöfe, Priester und Ordensleute nimmt auch der Laie in seinem eigenen Aufgabenbereich je nach Lebenslage und Beruf an diesem Apostolatsauftrag teil. Während der Laie in der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit, der Ehe- und Familienpastoral besonders auf Pfarrebene zur Erfüllung seines Apostolats mit Klerikern im Rahmen des Möglichen aufeinander abgestimmt zusammenarbeiten sollte, trägt er für den Bereich des öffentlichen Lebens, der Politik, ein großes Maß an Eigenverantwortung. Zum Unterschied von den Klerikern, die geweiht zur Lehre und Seelsorge mit Dienst am Altar einen unersetzbaren Auftrag haben, ist der Laie aufgerufen, sich mit Eigenverantwortung für eine humane Ordnung des öffentlichen Lebens und der Schöpfung einzusetzen. Die Kirche gibt hierzu eine Wegweisung, vor allem mit ihrer inhaltsreichen Soziallehre64, deren Ziel auch Papst Benedikt XVI. in seiner 62 E. Kapellari, Referat bei der Jahrestagung Ständiger Diakone im Volksbildungsheim St. Martin am 13. Sept. 2008, 1. 63 Ders., Recht und Unrecht in philosophisch und theologischer Sicht, in: derselbe, seit ein Gespräch wir sind … Neue Begegnungen, Wien / Graz / Klagenfurt 2007, 335 f. 64 J. Kardinal Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 2. Aufl., hrsg. von L. Roos, Kevelaer 2000; A. Klose, Katholische Soziallehre, ihr Anspruch, ihre Aktualität, Graz / Wien / Köln

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Enzyklika „Deus caritas est“ 2005 verdeutlichte: „Sie will der Gewissensbildung in der Politik dienen und helfen, dass die Hellsichtigkeit für die wahren Ansprüche der Gerechtigkeit wächst und zugleich auch die Bereitschaft, von ihnen her zu handeln, selbst wenn das verbreiteten Interessenlagen widerspricht (…). Die Kirche kann nicht und darf nicht den politischen Kampf an sich reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft zu verwirklichen. Sie kann und darf nicht sich an die Stelle des Staates setzen (…) Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muss von der Politik geschaffen werden.“65

VIII. Die Wegweisungen der katholischen Soziallehre Zur Erfüllung dieses Beitrags des religiösen Menschen zur Politik und zum Recht hat die katholische Kirche eine Soziallehre mit reicher Tradition entfaltet, die durch die päpstlichen Lehräußerungen eine Prägung erfahren hat, Inhalt des Katechismus66 und des Kompendiums der Soziallehre der Kirche67 wurde und Wegweisungen für eine menschliche Ordnung des Staates und der Völkergemeinschaft, in der Gegenwart auch für die neue Ordnung des integrierten Europa68 gibt, dessen christliche Wurzeln spürbar sind, obgleich sie und der Gottesbezug nicht expressis verbis in der Präambel des Reformvertrages von Lissabon69, welcher den gescheiterten Verfassungsvertrag ersetzen soll70, genannt werden.

1979; R. Weiler, Einführung in die katholische Soziallehre, ein systematischer Abriss, Graz / Wien / Köln 1991. 65 Papst Benedikt XVI, Enzyklika Deus caritas est, 2005, Nr. 28a. 66 Katechismus der katholischen Kirche, lateinische Ausgabe Vatikan 1998, deutsche Ausgabe München 1998. 67 Kompendium der Soziallehre der Kirche, italienische Originalausgabe Vatikan 2004, deutsche Ausgabe Freiburg im Breisgau 2006. 68 Siehe näher H. Schambeck, Zur gegenwärtigen Situation der europäischen Union aus christlicher Sicht, in: Europäische Verfassung im Werden, hrsg. von K Stern, P. J. Tettinger, Berlin 2006, 9 ff. und R. Streinitz, Der europäische Verfassungsprozess, Grundlagen, Werte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle Analysen 46, München 2008. 69 Abl. EU 2007 Nr. C 306 / 1 vom 17.12.2007; siehe dazu Streinitz, Der europäische Verfassungsprozess. 70 Zum EU-Verfassungsprozess nach den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 vgl. u. a. H. F. Köck, Restoring dynamics to the European integration process – Perspectives after the Austrian EU presidency during the first semester of 2006, in: „Quo vadis Europa?“, hrsg. von E. Piontak, K. Karasiewicz, Warschau 2007, 68 ff.; ders., The Future Treaty on European Union, in: Quo vadis Europa II, hrsg. von E. Piontac, Warschau 2007, 1 ff.; ders., Der gegenwärtige Stand des Verfassungsprozesses der Europäischen Union, in: Universitatea din Craiova, Facultatea de Drept si Stünte Administrative (Hrsg.), in Revista de Stiintje Juridice, 1 / 2008, 27 ff.

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In dieser Lehre der katholischen Kirche verbindet sich die Sozialverantwortung durch die Religion in ihrer Entwicklung mit der Tradition von gestern sowie mit den Erfordernissen von heute und den Erwartungen von morgen. Die Zeit lässt uns die Ewigkeit sowie damit auch Geschichte bedenken und zwar für den Gläubigen als Weg zu Gott. In diesem Sinn hat Joseph Kardinal Ratzinger am 27. Oktober 2000 in seiner Rede anlässlich seiner Ehrenpromotion an der Theologischen Fakultät Wroclaw / Breslau erklärt: „Die Geschichte zeigt uns, dass das Denken mit dem Wort Gottes immer wieder Neues bereit hält und nie langweilig, nie Leerlauf wird. Wer in die Geschichte schaut, schaut nicht bloß rückwärts. Er lernt auch besser, wo es vorwärts geht“71. Diese Soziallehre der katholischen Kirche ist auf den Schutz eines Wertes bezogen, nämlich der Freiheit und Würde des Menschen, die in der Gottesebenbildlichkeit der Menschen begründet ist. Für sie soll die Ordnung des sozialen Lebens human sein, dazu wird Autorität, Solidarität, Subsidiarität, Partnerschaft und Gemeinwohldenken empfohlen72. Alle diese Sozialgestaltungsempfehlungen sind auf das gegenseitige Verstehen der Menschen in ihrem persönlichen Leben sowie Gesellschaft und Staat gerichtet. Nicht der Monolog der Macht, den Ideologien wie der Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus und Marxismus zu rechtfertigen suchten, sondern der Dialog sollte die Sozial- und Staatsordnung bestimmen. 1964 hat Papst Paul VI. in seiner Enzyklika „Ecclesiam Suam“ die Möglichkeiten, Eigenschaften und Grenzen des Dialogs verdeutlicht. Die Verwirklichung dieser Sozialgestaltungsempfehlungen in Gesellschaft und Staat übersteigt die Kompetenz der Kirche, sie trat die Verantwortung der Laien, von denen aber nach der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (Nr. 43) „niemand das Recht (…), die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen“ hat. In einer derartigen Situation hat der religiöse Mensch sein Apostolat in der Ausgewogenheit von Sachnotwendigkeit und Gemeinwohlgerechtigkeit im Rahmen seiner politischen Eigenverantwortung auszuüben73.

71 Weggemeinschaft des Glaubens Kirche als Communio, Festgabe zum 75. Geburtstag, hrsg. vom Schülerkreis, Augsburg 2002, 23. 72 Beachte J. Stimpfle, Die Grundwerte in der Sicht der katholischen Kirche, Stuttgart-Degerloch 1979; A. Klose, Für eine Welt von morgen, soziale Orientierungen, Limburg / Kevelaer 2001; Handbuch der katholischen Soziallehre, hrsg. von A. Rauscher, Berlin 2008. 73 Vgl. dazu auch H. F. Köck, Staatliche Sozialgestaltung in einer pluralistischen Gesellschaft, in: Für Staat und Recht, Festschrift für Herbert Schambeck, hrsg. J. Hengstschläger, H. F. Köck, K. Korinek, K. Stern, A. Truyol y Serra, Berlin 1994, 281 ff.

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IX. Die Verantwortung des Christen in der Demokratie In der Erfüllung dieses seines Apostolats ist der religiöse Mensch veranlasst, sich in die Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung der Demokratie, deren Weltanschauung Hans Kelsen74 im Relativismus sah, einzubringen. Vor diesem Relativismus hat Joseph Kardinal Ratzinger unmittelbar vor seiner Wahl zum Nachfolger Petri als Papst Benedikt XVI. ausdrücklich Christen gewarnt, als er am 18. April 2005 erklärte: „Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in den letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen (…) Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum radikalen Individualismus, vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter. Jeden Tag entstehen neue Sekten und dabei tritt ein, was der hl. Paulus über den Betrug unter den Menschen und über die irreführende Verschlagenheit gesagt hat (vgl. Eph 4,14). Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-her-Treibenlassen, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.“75 Joseph Kardinal Ratzinger hat schon immer die Möglichkeiten der Demokratie und ihre Verantwortung erkannt. So betonte er 2002: „Der Mehrheitsentscheid ist in vielen Fällen, vielleicht in den allermeisten der ‚vernünftigste‘ Weg, um zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Aber die Mehrheit kann kein letztes Prinzip sein; es gibt Werte, die keine Mehrheit außer Kraft zu setzen das Recht hat. Die Tötung Unschuldiger kann nie Recht werden und von keiner Macht zu Recht erhoben werden. Doch hier geht es letztlich um die Verteidigung der Vernunft. Die Vernunft, die moralische Vernunft, steht über der Mehrheit.“76 Die Verantwortung für die Verkraftung dieser Gefahr des Relativismus trifft in der Demokratie jeden, der zur StaatsBeachte H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, 101. Predigt von Kardinaldekan J. Ratzinger, Heilige Messe „Pro eligendo Romano Pontifice“ in der Petersbasilika, in: L’Osservatore Romano, Sonderausgabe 2005, 20; siehe dazu H. Schambeck, Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus, ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikt XVI, in: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Ausgabe, 19, 12. Mai 2006, 10 f., und 20, 19. Mai 2006, 9 f.; W. Leisner, Gott und Volk, Religion und Kirche in der Demokratie, Vox Populi – Vox Dei?, Berlin 2008. 76 J. Kardinal Ratzinger, Politische Visionen und Praxis der Politik, Vortrag gehalten am 20. 9. 2002 in Triest, 13, siehe auch derselbe, Wahrheit, Werte, Macht, Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, 3. Aufl., Freiburg / Basel / Wien 1993, bes. 13 ff., 65 ff. und 68 ff., sowie H. Schambeck, Fede, Stato e Democrazia: un contributo sul confronto tra il Cardinale Joseph Ratzinger e Hans Kelsen, in: Alla scuola della Verità, I settanta anni di Joseph Ratzinger, a cura di J. Clemens, A. Tarzia, Milano 1997, 319 ff. 74 75

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willensbildung das ihm nach der jeweiligen Verfassung Mögliche beitragen kann. Das Recht gibt ihm in seiner normativen Form Gelegenheit dazu. Das normative Recht steht im demokratischen Verfassungsstaat im Dienst der Verfassungskonkretisierung77. Da Verfassungsrecht positivierte Politik ist, kommt es darauf an, bei der Staats- und Verfassungswerdung eines Gemeinwesens Wertebezogenheit einzubringen. Als im Übergang von der Monarchie zur Republik die Demokratie die Pluralität der Gesellschaft bei dem Werden des Verfassungsstaates einbrachte, ist zu deren Bewältigung die positivistische Rechtsauffassung78 mit der Auslegung des positiven Rechts nur im normativen Sinn erstrebenswert erschienen. Diskussionen und Streit über Werte erübrigten sich. Gesinnungsindifferentismus und Werteneutralismus dominierten dann, die Verantwortung des einfachen Gesetzgebers vergrößerte sich und öffnete das Tor für Ideologien79. Im 20. Jahrhundert haben autoritäre und totalitäre Regime dies zu nutzen gewusst und haben Kontinuität und Legalität des Rechts im Verfassungsstaat nicht mit Humanität verbunden, sondern die Verfassungsrechtsordnung als bloße Rechtswegeordnung angesehen, die werteneutral zu jedem Zweck und Ziel des Staates, auch zu solchen der Unmenschlichkeit verwendet und genützt werden konnte. Das Recht ist dann das dem Souverän im Rahmen seiner Kompetenz Zusinnbare. Der Preis für eine solche Rechtsund Staatsauffassung wurde besonders im 20. Jahrhundert von unzähligen Glaubenszeugen als Märtyrer80 bezahlt. Hier zeigt sich opferreich, wie es schon Joseph Kardinal Ratzinger ausdrückte, „die radikal relativistische Position, die den Begriff des Guten und damit erst recht den des Wahren aus der Politik ganz ausscheiden will, weil freiheitsgefährdend. ‚Naturrecht‘ wird als metaphysikverdächtigt abgelehnt, um den Relativismus konsequent durchzuhalten. Es gibt danach letztlich kein anderes Prinzip des Politischen als die Entscheidung der Mehrheit, die im staatlichen Leben an die Stelle der Wahrheit trete. Recht könne nur rein politisch verstanden werden, das heißt Recht sei, was von den dazu befugten Organen als Recht ge77 Näher A. Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien / Berlin 1927, Neudruck Darmstadt 1969, 157 ff., und U. Scheuner, Verfassung (1963), in: Staatstheorie und Staatsrecht, gesammelte Schriften, hrsg. von J. Listl, W. Küfer, Berlin 1978, 171 ff. 78 Beachte H. Kelsen, „Was ist juristischer Positivismus?“, in: Juristen-Zeitung 1965, 465 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, I, 941 ff. 79 Dazu J. Hersch, Die Ideologien und die Wirklichkeit, München 1957, sowie in Ideologie und Recht, hrsg. von W. Maihofer, Frankfurt am Main 1969; W. Maihofer, Ideologie und Recht, 1 ff.; A. Hollerbach, Ideologie und Verfassung, 37 ff.; P. Noll, Ideologie und Gesetzgebung, 63 ff., sowie E. Fechtner, Ideologie und Rechtspositivismus, 97 ff. 80 Siehe S. Courtois, N. Werth, J.-L. Panné, A. Paczkowski, K. Bartosek, J.-L. Margolin, Das Schwarzbuch des Kommunismus, Unterdrückung, Verbrechen und Terror, 2. Aufl., München 1998; J. Mikrut, Die christlichen Märtyrer des Nationalsozialismus und Totalitarismus in Mitteleuropa 1988 – 1945, Wien 2005; Europa, vergiss deine Märtyrer nicht! Pro Oriente – Studientagung aus jüdischer und christlicher Sicht, hrsg. von R. Prokschi, J. Marte, Klagenfurt 2006, und Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945, 2. Aufl., hrsg. von Bundesarchiv, Koblenz 2006, sowie Zeugen für Christus, das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, hrsg. von H. Moll, 2 Bände, 4. Aufl., Paderborn 2006.

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setzt wird. Demokratie wird demgemäß nicht inhaltlich, sondern rein formal definiert: als ein Gefüge von Regeln, die Mehrheitsbildung, Machtübertragung und Machtwechsel ermöglichen. Sie bestünde dann wesentlich im Mechanismus von Wahl und Abstimmung. Dieser Auffassung steht die andere These gegenüber, dass die Wahrheit nicht Produkt der Politik (der Mehrheit) ist, sondern ihr vorangeht und sie erleuchtet: Nicht die Praxis schafft Wahrheit, sondern die Wahrheit ermöglicht rechte Praxis.“81

X. Die Erneuerung des Rechtsdenkens Nach dem 2. Weltkrieg und dem Ende des Nationalsozialismus sowie nach dem Zerfall kommunistischer Regime erfolgte bewusst und deutlich oder nicht eine Erneuerung des Rechtsdenkens mit einer (bewusst und deutlich oder nicht) eine Erneuerung des Rechtsdenkens mit einer teils bewussten und deutlichen, teils unbewussten Besinnung auf das präpositive Recht und auf die vorpolitischen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates82. Dies zeigt besonders neben der Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen sowie der Grundrechte überhaupt der Beginn eines Verfassungsgesetzes in der diesem voran gesetzten Präambel, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 1949 die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ betont und in der Verfassung der Republik Polen 199783, die von den diese beschließenden spricht, als „diejenigen, die an Gott als Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten“. Auf diese Weise. wird durch das Verfassungsrecht der gesamten Rechtsordnung eine Wertehaltung und besonders dem einfachen Gesetzgeber zur Befolgung vorgeschrieben. Dies ist in Polen beispielgebend, weil das Verfassungsrecht neben den Christgläubigen auch Menschen anderer Wertehaltung anzusprechen sucht. Wegweisend war auch schon das Grundgesetz Deutschlands, das in Art. 1 „Die Würde des Menschen (…) unantastbar“ erklärt und vorschreibt: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Dazu hält Art. 79 (3) Grundgesetz fest, dass eine Änderung unzulässig, also in Verfassungskontinuität nicht möglich ist, wenn die in den Artikeln 1 (Schutz der Menschenwürde) und 20, der Deutschland zum demokratischen und sozialen Bundesstaat erklärt, niedergelegten Grundsätze berührt werden; Gleiches gilt auch für die Gliederung des Bundes in J. Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht, 69 f. Siehe A. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 215 ff.; J. Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, 15 ff.; J. Ratzinger, Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, 39 ff., in: J. Habermas, J. Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung über Vernunft und Religion, Freiburg / Basel / Wien 2005. 83 Siehe B. Banaszak, Prawo Konstytucyjne, Warszawa 1999, 166. 81 82

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Länder. Hervorzuheben ist ferner Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz, nach dem „die Gesetzgebung (…) an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung (…) an Gesetz und Recht gebunden“ ist. In dieser Weise wird eine Naturrechtsbezogenheit84 mit besonderer Verantwortung des einfachen Gesetzgebers ausgedrückt; christliche Wurzeln des Rechtsdenkens werden auf diese Weise erkennbar.

XI. Die EU auch als Rechts- und Wertegemeinschaft Christliche Wurzeln85 fundierten auch die neue Ordnung des integrierten Europa86. Dies ist mit der EU sowohl eine Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft als auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft durch das vertraglich zustande gekommene Recht geworden, welches, wie es das deutsche Bundesverfassungsgericht schon ausgedrückt hat, einen Staatenverbund87 begründete. Diese Bedeutung des Christentums auch für die neue Ordnung des integrierten Europas wird im EU-Recht nicht entsprechend anerkannt. So ist es bedauerlich, dass auch der Reformvertrag von Lissabon88 keinen Gottesbezug und keine Nennung der christlichen Wurzeln89 enthält, wohl aber die Feststellung in der Präambel, „schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveränderlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“ und in der Präambel der Charta der Grundrechte der EU90: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.“ Viele andere Anliegen der Religion sind beachtenswert in der EU-Grundrechteordnung auf vertraglichem Weg einer rechtlichen Erfassung zugeführt worden; so 84 Beachte G. Müller, Naturrecht und Grundgesetz, Zur Rechtsprechung der Gerichte, besonders des Bundesverfassungsgerichts, Würzburg 1967. 85 Näher H. Schambeck, Die christlichen Wurzeln in der europäischen Verfassungsidee, in: Kölner Gemeinschaftskommentar Europäische Grundrechte-Charta, hrsg. von P. J. Tettinger, K. Stern, München 2006, 199 ff. 86 Dazu Europa – eine Idee nimmt Gestalt an, hrsg. vom Rat der Europäischen Union, Wien 2006. 87 2 BvR 2134 / 92 und 2 BvR 2159 / 92, BVerf.GE 89,155. 88 Abl. EU 2007 Nr. C 306 / 1 vom 17.12.2007. 89 Siehe H. Schambeck, Invocatio Dei in der Präambel, in: Kölner Gemeinschaftskommentar, 245 ff. 90 2007 / C 3030 / 01.

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umfasst erstmalig die EU-Grundrechtecharta gemeinsam liberale91, demokratische92 und soziale93 Grundrechte, den Minderheitenschutz94 und das Diskriminierungsverbot95. Beachtenswert ist auch, dass alle Organe der EU künftig angehalten sind, einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit der Zivilgesellschaft und ihren repräsentativen Verbänden zu führen, damit sie ihre Ansichten in allen Bereichen der EU öffentlich bekannt geben und austauschen96. Dabei wird besonders die Bedeutung der Kirchen und religiösen Vereinigungen „in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags“97 hervorgehoben. In gleicher Weise achtet die EU den Status; den weltanschauliche Gemeinschaften nach einzelnen Rechtsvorschriften genießen98. Die EU-Vorschriften bieten die Möglichkeit, auf den Weg des Rechts in diesem Staatenverbund Aufgaben des Apostolats zu erfüllen, die christlichen Anliegen und Werten dienen. Egon Kapellari hat dies schon mit seinem Hinweis auf die „europäische Leitkultur“ erklärt: „Wer die humane und kulturelle Prägung Europas durch das Christentum verschweigen will, der übersieht den wesentlichen Beitrag, den das Christentum für den Weitehaushalt europäischer Gesellschaften nach wie vor im großen Maße leistet.“99 In dieser sozialethischen Sicht kann die Religion durch das Recht zur Erkenntnis von Grundwerten des privaten und öffentlichen Lebens beitragen, die durch ihre mögliche allgemeine Anerkennung einen Beitrag zur Verkraftung der Pluralität in Gesellschaft und Staat leistet und auch für die neue Ordnung des integrierten Europa von Bedeutung sein kann, dass diese als Rechtsgemeinschaft nicht nur Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft ist, sondern auch Wertegemeinschaft wird. Der Reformvertrag von Lissabon und die EU-Grundrechtecharta bieten die Möglichkeit, die neue Ordnung Europas auch als Rechts- und Wertegemeinschaft in einer Friedensordnung Wirklichkeit werden zu lassen und das zu verhindern, wovor Joseph Kardinal Ratzinger schon 1990 warnte, „das zunehmende Absinken der europäischen Idee in eine bloße ökonomische Arithmetik, die zwar Europas wirtschaftliche Macht in der Welt immer mehr steigerte, aber die großen ethischen Ziele immer mehr auf Besitzvermehrung reduzierte und in die Logik des Marktes einebnete“100.

Titel II der Grundrechtecharta. Titel V der Grundrechtecharta. 93 Titel I und IV der Grundrechtecharta. 94 Titel III der Grundrechtecharta. 95 Vgl. Art 18 AEUV sowie Titel III der Grundrechtecharta. 96 Art. 11 Abs. 2 AEUV. 97 Art. 17 Abs. 1 AEUV. 98 Art. 17 Abs. 2 AEUV. 99 E. Kapellari, Gibt es eine christliche Leitkultur in Europa? Vortrag bei den Reichersberger Pfingstgesprächen am 31. Mai 2004, 9. 91 92

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Zu diesen notwendigen Zielsetzungen in der EU und mit der EU im übrigen Europa sowie mit Europa in der Welt kann durch das Recht die Religion und der Glaube richtunggebend zu dem beitragen, was unsere Zeit braucht, erkannte Menschlichkeit und auf ihr bauend eine allgemeine geachtete Ordnung. Vor sechzig Jahren hat die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen101 einen wegweisenden Beitrag dazu zu leisten gesucht, dessen Bedeutung Papst Benedikt XVI. am 18. April 2008 in seiner Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York betonte; er erklärte dieses Dokument als „das Ergebnis einer Übereinstimmung verschiedener religiöser und kultureller Traditionen, die alle von demselben Wunsch erfüllt waren, die menschliche Person in den Mittelpunkt der Institutionen, der Gesetze und des Vorgehens der Gesellschaften zu stellen und sie als wesentlich für die Welt der Kultur, der Religion und der Wissenschaft anzusehen“102. Möge es möglich sein, durch das Recht und die Religion zu dieser vermehrten Menschlichkeit in der Welt einen Beitrag zu leisten.

100 J. Kardinal Ratzinger, Europa – Hoffnungen und Gefahren, in: derselbe, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Freiburg 1991, 84. 101 Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 217 (III) vom 10. 12. 1948. 102 Papst Benedikt XVI, Eine menschliche Welt für alle, Die Rede vor der UNO kommentiert von G. Exler, U. Di Fabio, K. Töpfer, Freiburg / Basel / Wien 2008, 21.

Die Menschenrechte in der Lehre der katholischen Kirche* Die Menschenrechte1 sind der positivrechtliche Ausdruck der Anerkennung der Würde des Menschen2 und seiner Personhaftigkeit. Roland Minnerath veranschaulichte es klar: „Mit der Person ist die Würde als ein nicht reduzierbares Faktum und als ein zu realisierbares Pensum gegeben“.3

I. Die Präpositivität der Menschenrechte Die Menschenrechte stellen einen im Menschen personifizierten Wert dar, der präpositiv ist, weil er dem Staat und seiner Rechtsordnung vorgegeben vorangeht.4 Er ist vom Staat und dem Recht nicht zu schaffen, sondern vielmehr durch das positive Recht anzuerkennen. Den Menschenrechten eignet ein deklaratorischer Charakter. Ein vorhandener Wert findet Anerkennung; dies zeigt sich auch expressis verbis, wenn Menschenrechte als Grundrechte5 in das Verfassungsrecht eines Staates aufgenommen werden und in der Formulierung6 das Wort „anerkennen“ gebraucht wird, z. B. „die Freiheit und Würde des Menschen wird anerkannt“. Die Menschenrechte bestimmen die Beziehungen des Einzelnen zum Staat. Ihrer Ideengeschichte nach sind die Menschenrechte wesentlicher Teil des abendländischen Rechtsdenkens7 und innerhalb derer eine Säkularisation christlichen Gedan* Vortrag gehalten auf der 15. Plenartagung der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften vom 1. – 5. Mai 2009 im Vatikan, erschienen in: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 29. Mai 2009, Nr. 22, S. 9 und in: Catholic Social Doctrine and Human Rights, The Pontifical Academy of Social Sciences, Acta 15, hgb. von Roland Minnerath, Ombretta Fumagalli Carulli, Vittorio Possenti, Vatican City 2010, S. 83 ff. 1 Dazu Felix Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, 1974. 2 Näher Paul Kirchhof, Menschenwürde und Freiheit, in: Handbuch der katholischen Soziallehre, hrsg. von Anton Rauscher, 2008, S. 41 ff. 3 Roland Minnerath, Gegen den Verfall des Sozialen, Ethik in Zeiten der Globalisierung, 2007, S. 19. 4 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 ff. und S. 60 f. 5 Dazu Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Festschrift für Johannes Messner, 1976, S. 445 ff. 6 Ausführlich Gottfried Dietze, Über die Formulierung der Menschenrechte, 1956. 7 Siehe Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1963.

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kengutes,8 das die katholische Kirche grundgelegt hat. Mit der Lehre von den Menschenrechten sucht die katholische Kirche die Stellung des Einzelnen durch das Recht im Staat zu sichern. Recht und Staat sind für die katholische Kirche nicht eigentliche Lehrinhalte. Recht und Staat können wesentliche Voraussetzungen für die pastoralen Aufgaben der Kirche enthalten, müssen es aber nicht. Dies hat der jeweilige Staat in seiner Rechtsordnung, insbesondere auf Grund seines Verfassungsrechtes, zu entscheiden. Sie bestimmen auch den Rechtsschutz des Menschen und anerkennen damit seine Individual- und Sozialnatur. In dieser Sicht berühren Gedanken über die Menschenrechte in der Lehre der katholischen Kirche auch die Beziehung von Glaube und politischem System.9 Diese Beziehung ergibt sich daraus, dass die katholische Kirche kein politisches Programm vertritt, sondern eine auf den Glauben an Jesus Christus begründete Lehre zum Heil des Menschen, der aber wieder selbst sowohl am religiösen wie am politischen Leben teilnimmt. Für den gläubigen Menschen und für die katholische Kirche sind daher der Staat und seine Rechtsordnung und vor allem mit diesen die Menschenrechte von zweifacher Bedeutung: zum einen dadurch, dass Recht und Staat das Ausmaß der Bekenntnisfreiheit des Einzelmenschen, also seine Rechtsstellung, bestimmen und zum anderen, dass sie die gesamten „politischen Umweltbedingungen“ des Menschen prägen. Aufgabe der katholischen Kirche war es daher auch nie, eine eigene Lehre von Recht und Staat zu entwickeln, sondern vielmehr in ihrer Heilslehre soweit auf den Staat und seine Ordnung Bezug zu nehmen, als dies pastoral erforderlich ist.10 Im Mittelpunkt dieser Heilslehre der katholischen Kirche steht ihre Lehre von der Gottesebenbildlichkeit der Menschen, die ihre Freiheit und Würde begründet und dies in verschiedenen Bezügen. Die besondere Stellung des Menschen in der Seinsordnung hat schon in der Heiligen Schrift ihren Beginn genommen. Dreimal drückt die Genesis die Gottesebenbildlichkeit des Menschen aus. In der Gen 1,26 – 27 steht bereits: „Gott sprach: ‚Lasset uns den Menschen machen nach unserem Ebenbilde, uns ähnlich. Er soll herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Feldes und über alles Gewürm, das auf dem Erdboden kriecht‘ und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie“. Die Böckenförde, a. a. O. Ernst Wolfgang Böckenförde, Robert Spaemann, Menschenrechte und Menschenwürde, Historische Voraussetzungen – saekulare Gestalt – christliches Verständnis, 1997; siehe auch: Gott verlassen Menschenwürde und Menschenbilder, 8. Ökumenische Sommerakademie Kremsmünster 2006, hrsg. von Severin Lederhilger, Linzer Philosophisch-Theologische Beiträge, Band 15, 2007, bes. Heribert Franz Köck, Religionen und Menschenrechte, S. 126 ff. und Severin Lederhilger, Aspekte einer Pastoral der Menschenrechte – ein katholisches Statement, S. 188 ff. 10 Näher Herbert Schambeck, Kirche, Staat, Gesellschaft, 1967, und ders., Kirche, Staat und Demokratie, 1992, Joseph Ratzinger, Neue Versuche zur Ekklesiologie, 1987, bes. S. 137 ff.; ders., Grundorientierungen, 1997, bes. S. 219 ff. und 231 ff. 8 9

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zweite Stelle findet sich in Genesis 5,3, an der von Adam gesagt wird, er zeugte einen Sohn, „ihm gleich nach seinem Bild“, und die dritte Stelle in Genesis 9,6, wo es heißt: „Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll durch Menschen vergossen werden! Denn nach seinem Blut hat Gott den Menschen gemacht.“ Nicht unerwähnt sei auch Psalm 8,5 – 7: „Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst, oder des Menschen Sohn, da Du in heimsuchst? Wenig geringer als einen Engel hast Du ihn über die Werke Deiner Hände gesetzt. Alles legest Du ihm zu Füßen.“ Es wäre falsch anzunehmen, dass bereits in der Heiligen Schrift und hernach in der Patristik Grundrechtsformulierungen anzutreffen sind; das war nicht der Fall: Es sind Ansätze für die im katholischen Glauben fußende, besondere Stellung des Menschen festzustellen. Thomas von Aquin11 stellt den Menschen vollends in die irdische Welt, in der er die ihm von Gott zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen hat. Der Mensch erkenne diese Aufgabe aus den in seiner und der äußeren Natur durch den Schöpferwillen vorgezeichneten Zwecken. Der entscheidende Schritt von Thomas liegt darin, dass diese Zwecke auch Eigenzwecke des Menschen sind, durch deren Verwirklichung er seine Selbstverwirklichung findet. Auf diesem Eigenzweck beruhe die dignitas humana. Einen starken Einfluss auf die Menschenrechtsentwicklung hat von der Heiligen Schrift ausgehend mit der Menschenwürde12 die christliche Idee vom Gemeinwohl,13 und zwar in nationaler und internationaler Sicht, nämlich im Hinblick auf das bonum commune humanitatis ausgeübt. Aus dieser Sicht kam es zu einem Überdenken der Rechte der menschlichen Person und der menschlichen Gemeinschaften, wie Staat und Völkergemeinschaft. Bischof Egon Kapellari hat es 2006 schon hervorgehoben: „Im biblischen Glauben sind Personenwürde und Gemeinwohl gleichermaßen verankert und mit Verantwortung gegenüber Gott und den Nächsten ausgestattet. Vom Dekalog reicht eine direkte geistige, wenn auch geschichtlich oft vergessene und verlassene Spur zur allgemeinen Deklaration der Menschenrechte und in die Verfassungen heutiger demokratischer Staaten, auch dann, wenn diese keinen Gottesbezug in den Verfassungspräambeln aufweisen.“14 In diesem Zusammenhang gilt es, vor allem auf die Spanischen Moraltheologen des 15. und 16. Jahrhunderts, besonders auf die Schule von Salamanca15 hinzuweisen und die Namen Francisco de Vitoria und Francisco Suarez zu nennen. In dieser Zeit finden wir zwar noch keine vollständige Liste der Menschenrechte, wohl ist aber der innere Gehalt

Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles III, 17. Siehe: Der Mensch als Bild Gottes, hrsg. von Leo Scheffczyk, 1969. 13 Johannes Messner, Das Gemeinwohl, Idee, Wirklichkeit, Aufgaben, 1968. 14 Egon Kapellari, Recht und Unrecht in philosophisch-theologischer Sicht, in: derselbe, Seit ein Gespräch wir sind … Neue Begegnungen, 2007, S. 335. 15 Siehe Verdross, Rechtsphilosophie, S. 92 ff.; Heribert Franz Köck, Der Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Lehre von den Grundrechten, 1987 und Herbert Schambeck, La escuela de Salamanca y su significación hoy, Anuales de la Real Academia de Ciencias morales y políticas, Año XLII, Nr. 67, 1990, S. 85 ff. 11

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jener Grundrechte bereits entwickelt worden, die spätere Verfassungsurkunden prägten, wie: das Recht auf Leben, die Unverletzlichkeit des Körpers, das Recht auf Ehe und Familie, auf gesellschaftliche und politische Freiheit, wobei gewisse Zugeständnisse der staatlichen Autorität zugunsten der bürgerlichen Freiheit vorgesehen waren, weiters bestimmte Formen der Gleichheit vor dem Gesetz und des Rechtschutzes, das Recht auf Privateigentum und der Vereinigung sowie das Recht, auszuwandern und das Recht, in jedem Land der Erde sich niederzulassen. Es wäre aber falsch davon auszugehen, dass all das, was katholische Professoren der Moral in ihrem Wissensgebiet geschrieben haben, auch in dieser Zeit von den offiziellen Repräsentanten der Kirche immer und überall mit allen Mitteln verlangt worden wäre. In einem 1976 herausgegebenen Arbeitspapier der Päpstlichen Kommission Iustitia et Pax über „Die Kirche und die Menschenrechte“ wurde schon festgestellt: „Es gab jedoch Zeiten in der Geschichte der Kirche, in denen die Menschenrechte in Wort und Tat nicht mit genügender Klarheit und Energie gefördert und verteidigt wurden. Heute stellt die Kirche durch ihr Lehramt und ihre Tätigkeit einen wichtigen Faktor auf dem Gebiet der Menschenrechte dar“.16

II. Der Weg zur kirchlichen Anerkennung der Menschenrechte Den Weg zur Anerkennung der Menschenrechte hierzu hat besonders die Soziallehre der Päpste,17 vor allem beginnend mit Papst Leo XIII., gewiesen. Ihre Entwicklung war vorher unterschiedlich,18 da die katholische Kirche im Laufe der Geschichte lange unter dem Einfluss der monarchisch absolutistischen Staatsform stand und manche Forderungen, die später der Demokratismus und Liberalismus erhoben hatten, in einer radikalisierten Form erlebte. Am deutlichsten ist letztgenannter Umstand im Zusammenhang mit der französischen Revolution 1789 erkennbar, deren Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eine Säkularisation alten christlichen Gedankengutes darstellte, das sich aber in jakobinisierter Form so präsentierte und aktualisierte, dass die katholische Kirche dies nicht akzeptierte.19 Man darf nicht übersehen, dass die Monarchie, gegen die sich die 16 Die Kirche und die Menschenrechte, hrsg. von der Päpstlichen Kommission „Iustitia et Pax“, 1976, S. 8. 17 Arthur Fridolin Utz, Gräfin von Galen (Hrsg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung, 1976, sowie Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente mit Einführungen von Oswald von Nell-Breuning SJ und Johannes Schasching SJ, 1992. 18 Beachte Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Band 104 (1987), S. 296 ff. 19 Dazu Hans Maier, Kirche und Demokratie, 1979 und ders., Die Kirche und die Menschenrechte, IKZC Communio 1981, S. 501 ff., sowie Isensee, a. a. O., S. 214 ff.

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revolutionären Bewegungen, beginnend vor allem mit Frankreich, richteten, die Staatsform war, in der sich die katholische Kirche seit ihrer Entstehung zurechtzufinden hatte. Eine mehr liberale, nicht jakobinisierte Form der Demokratie20 wie in den aus den früheren nordamerikanischen Kolonien hervorgegangenen Vereinigten Staaten21 mit ihrem Nebeneinander von frame of Government für die Staatsorganisation und bill or declaration of rights22 für die Grundrechte in der Verfassung hat die katholische Kirche anfangs nicht selbst miterlebt, sondern erst später in einer bisher in dieser Weise nicht gekannten Form dank der Trennung von Kirche und Staat erlebt. Die Lehre der katholischen Kirche vom Staat formte die Monarchie nahezu zu einem Modell gottgewollter Staatsform, zumal die Monarchie gelegentlich, z. B. im späten Römischen Reich, sogar theokratische Züge angenommen hatte. Andererseits ist die Abneigung katholischer Amtsträger und kirchlicher Lehräußerungen gegenüber demokratischen und konstitutionellen Bewegungen auf die Kirchenfeindlichkeit jener Kreise zurückzuführen, von denen diese Bestrebungen ursprünglich ihren Ausgang nahmen. In diesem Zusammenhang gilt es, die gegen die katholische Kirche gerichteten Beschlüsse der damaligen französischen Nationalversammlung, beginnend mit der Revolution, zu nennen. 1791 hat daher auch Papst Pius VI. in seinem Breve „Quod aliquantum“ die Constitution civile du clergé verurteilt und sich dabei auch gegen Freiheit, Gleichheit und die aus ihnen abgeleitete Religionsfreiheit des Individuums gerichtet; sie werden als unvereinbar mit Vernunft und Offenbarung erklärt. Pius VI. spricht sogar von einer absurden Freiheitslehre (absurdissimum ejus libertatis commentum).23 Nach der Wiedererrichtung des bourbonischen Königreichs hat sich Papst Pius VII.24 in seinem Apostolischen Schreiben „Post Tam Diuturnas“ 1814 an den Bischof von Troyes, Monsignore De Boulogne, gegen die allgemeine Gewissensund Kulturfreiheit sowie gegen die Pressefreiheit gewandt. 1821 sprach sich Papst Pius VII. in „Ecclesiam a Jesu Christo“ für die Einheit von „Thron und Altar“ und damit für Autorität und Gehorsam aus. In der Enzyklika „Mirari vos“ 1832 und „Singulari nos“ 1834 setzte sich Papst Gregor XVI.25 kritisch mit dem Freiheitsbegriff und den Demokratievorstellungen von Robert de Lamennais auseinander, den er verurteilte. In diese Phase kritischer Auseinandersetzung mit den Tendenzen des Demokratismus und Liberalismus gehört noch der Apostolische Brief „Quanta cura“ Papst Pius IX.26 von 1864 mit dem Anhang „Syllabus“, welcher die wichtigsten Zeitirrtümer auflistet.27 Siehe Hans Maier, Revolution und Kirche, 1973. Näher Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von Herbert Schambeck, Helmut Widder und Marcus Bergmann, 2. Aufl., 2007. 22 Dazu Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1959, S. 517 ff. 23 Utz, Galen, Bd. III, S. 2665 f., Nr. 13. 24 Utz, Galen, Bd. I, S. 463 ff., Nr. 57 ff. 25 Utz, Galen, Bd. I, S. 137 ff., Nr. 1 ff. 20 21

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Eine Wende trat mit Papst Leo XIII. ein. Er setzte sich noch kritisch mit liberalen Demokratieauffassungen auseinander, geht aber bereits auf Distanz zu der bisher akzeptierten Staatsform der Monarchie und bekennt sich in seiner Lehre vom Staat, weitgehend auch von Thomas von Aquin beeinflusst, zur Zulässigkeit einer „gesunden Demokratie“.28 In seiner Enzyklika „Immortale Dei“ 1885 erklärt Papst Leo XIII. bezüglich der Staatsform: „Das Befehlsrecht ist freilich an und für sich mit keiner Staatsform notwendigerweise verbunden. Es darf sich diese oder jene dienstbar machen, wenn sie nur imstande ist, Nutzen zu stiften und das Gemeinwohl tatkräftig zu fördern“.29 Die gleiche Ansicht hat Papst Leo XIII. auch schon in seiner Enzyklika über die Staatsgewalt „Diuturnum illud“ 1881 vertreten.30 In der Enzyklika „Libertas praestantissimum“ von 1888 betont Papst Leo XIII. bereits deutlicher die Zulässigkeit der Demokratie.31

III. Das Demokratie- und Freiheitsverständnis der Kirche Dieser Hinweis auf das Demokratie- und Freiheitsverständnis der katholischen Kirche ist deshalb so wichtig, weil es im Zusammenhang mit der Haltung der katholischen Kirche zu den Menschenrechten steht, zu welchen die liberalen und demokratischen Grundrechte geradezu klassische Beiträge leisten. Die Einsicht in die Bedeutung und Notwendigkeit von Grundrechten hat sich in dem Maße für die katholische Kirche aktualisiert, als politische Entwicklungen, hervorgerufen insbesondere durch menschenunwürdige Ideologien wie Kommunismus und Nationalsozialismus, autoritäre und totalitäre Herrschaftssysteme entstehen ließen. In solchen Fällen ist es auch in Demokratien, unabhängig von der Staatsform Monarchie oder Republik, zu Unmenschlichkeiten mit Verletzungen der Freiheit und Würde des Menschen gekommen. Die Demokratie wurde daher zwar nicht mehr wie bis in das 19. Jahrhundert von der katholischen Kirche abgelehnt, sondern sie setzte sich mit ihr kritisch auseinander, wobei sie sich stets gegen jede jakobinisierte Form von Demokratie aussprach und die Verantwortung der demokratischen Staatswillensbildung für Freiheit und Würde des Menschen in Wahrung der Grundrechte betonte. Gerade durch diese Gefährdungen und Verletzungen der Menschenwürde hat sich

Utz, Galen, Bd. I, S. 161 ff., Nr. 26 ff. Peter Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII., 1927, S. 11. Zur Hermeneutik des Syllabus, siehe Roland Minnerath, Le Syllabus de Pie IX., 2000, S. 71 ff. 28 Tischleder, a. a. O., insbes. S. 243 ff. 29 Emil Marmy (Hrsg.), Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, Dokumente, 1945, TS. 577, Nr. 841. 30 Marmy, a. a. O., S. 557, Nr. 808. 31 Marmy, a. a. O., S. 115, Nr. 137. 26 27

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für die katholische Kirche das Erfordernis ergeben, mit einer zunehmenden Breite und in einer auch vom Grundsätzlichen ins Einzelne gehenden Auseinandersetzung mit Politik, Recht und Staat vom katholischen Standpunkt her eine Lehre von den Grundrechten zu entwickeln. Dabei kann man rückblickend feststellen, dass die Menschenwürde als Idee älter ist als die Menschenrechte und damit als die Grundrechte als Rechtseinrichtung. Für diese Menschenwürde, nämlich für das Recht auf Leben, Freiheit, Eigentum auch der Eingeborenen haben sich die Päpste schon zu einer Zeit eingesetzt, als sie gegenüber Demokratie und Freiheitsrechten noch ablehnend waren; so Papst Eugen IV. 1435 in seiner Bulle „Dudum Nostras“ über den Sklavenhandel,32 Papst Paul III. in seiner Bulle „Veritas ipsa“ 1537 über die menschliche Würde der Heiden,33 Papst Urban VIII. in seiner Bulle „Commissum nobis“ 1639 mit dem Auftrag, jedweder Person zu verbieten, die Bewohner West- und Südindiens zu verkaufen, zu versklaven oder ihrer Frauen, Kinder und Besitztümer zu berauben,34 Papst Benedikt XIV. in seiner Bulle „Immensa Pastorum“ 1741 betreffend die Brüderlichkeit über alle Rassenunterschiede hinweg35 und Papst Gregor XVI. in seinem Apostolischen Brief „In Supremo“ gegen die Sklaverei in Afrika und Indien und gegen den Negerhandel 1839.36 Josef Isensee hat es auch hervorgehoben: Es „wurden viele Gebote der Menschlichkeit, die heute unter der Flagge der Menschenrechte segeln, vom Papsttum schon in Jahrhunderten vertreten, in denen die Menschenrechte als säkulare Kategorie noch nicht existierten. Beispielhaft seien genannt die Verwerfung der Folter und der Sklaverei, die Würde der Menschen aller Rassen, die Anerkennung unterschiedlicher Kulturen, die Ablehnung von Zwangsbekehrungen. Ein Menschenrecht, das seiner Substanz nach liberal ist, wurde im 19. Jahrhundert vom politischen Katholizismus eingefordert und im 20. Jahrhundert erfolgreich durchgesetzt: das Elternrecht. Von einer pauschalen Absage an die Menschenrechte kann also nicht die Rede sein. Objekt der Kritik ist der liberale Freiheitsentwurf in seiner ideologischen Dimension und in jenen Rechten der geistigen Freiheit, die für die hergebrachten Ordnungen der Religion, der Sittlichkeit und des Staates bedrohlich erscheinen“.37 Die katholische Kirche ist bereit, jeden Staat unabhängig von der Staatsform, dem Staatsaufbau und seinem politischen Ordnungssystem anzuerkennen, so lange er dem Gemeinwohl dient und die Freiheit und Würde des Menschen wahrt. Die katholische Kirche lehnt nämlich jeden Anspruch von Omnipotenz und Totalität im Bereich des Rechtes, des Staates und der Politik ab. Sie sind unvereinbar mit der

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Utz, Galen, Bd. I, S. 398 ff., Nr. 15 ff. Utz, Galen, a. a. O., S. 381, Nr. 1. Utz, Galen, a. a. O., S. 382 ff., Nr. 2 ff. Utz, Galen, a. a. O., S. 389 ff., Nr. 6 ff. Utz, Galen, a. a. O., S. 406 ff., Nr. 18 ff. Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, S. 301 ff.

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Freiheit und Würde des Menschen und den Aufgaben sowie der Lehre der katholischen Kirche. Dies zeigt sich auch in dem Prinzip der Subsidiarität, welches Papst Pius XI. in seiner Enzyklika „Quadragesimo anno“ (Nr. 79)38 1931 statuiert hatte und das den „Grundsatz der ergänzenden Hilfeleistung“39 darstellt. Er schützt die kleinere Einheit vor der größeren und begründet abgestufte Eigenverantwortungen, die sich in einem wechselseitig bedingenden Zusammenhang verbinden und auch den Menschen vor der Allmacht des Staates schützt. Die Konfrontation der katholischen Kirche mit menschenunwürdigen Zeitumständen erfolgte besonders während des Zweiten Weltkriegs. Damals hatte auch die katholische Kirche mit Priestern und Laien in verschiedenen Staaten und Nationen unzählige Opfer zu erbringen. In dieser Zeit erfolgte die umfassendste Lehräußerung der katholischen Kirche zur Demokratie, und zwar in der Rundfunkansprache Papst Pius XII.40 „Grundlehren über die wahre Demokratie“ zu Weihnachten 1944. Erschüttert von der Grausamkeit des Krieges, der von der nationalsozialistischen Diktatur des Deutschen Reiches entfesselt worden war, begrüßt Papst Pius XII. die Neigung der Völker zur Demokratie. Auch der demokratische Staat muss, wie jede andere Regierungsform mit wirksamer Autorität, ohne die er nicht bestehen kann, ausgestattet sein. Eine Überlebensfrage und eine Frage des Gedeihens der Demokratie ist die geistige und sittliche Qualität der Volksvertreter, von denen die höchsten politischen Entscheidungen im demokratischen Staat getroffen werden. Papst Pius XII. erkennt, dass nur eine Auslese von geistig hervorragenden und charakterfesten Männern als Vertreter des gesamten Volkes wirken sollte. Wird der staatlichen Gesetzgebung eine zügel- und grenzenlose Macht zuteil, verkehrt sich nach Papst Pius XII. die demokratische Staatsform, die dann nicht mehr auf den unveränderlichen Grundgesetzen des Naturgesetzes und den geoffenbarten Wahrheiten beruht, trotz des gegenteiligen trügerischen Scheins in ein absolutistisches System. Eindringlich ermahnt Papst Pius XII. die Christen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Dies sei ein Akt schwerer sittlicher Verantwortung, dessen Vernachlässigung die Gefährdung der Demokratie und dort, wo religiöse Dinge auf dem Spiele stehen, eine schwere, verhängnisvolle Unterlassungssünde bedeute.

Marmy, a. a. O., S. 443 ff., Nr. 610 ff., bes. S. 478 f., Nr. 672 f. Johann Baptist Schuster, Die Soziallehre nach Leo XIII. und Pius XI. unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft, 1935, S. 7. 40 Papst Benedikt XVI., Grundlehren über die wahre Demokratie, Radiobotschaft an die Welt, 24. Dezember 1944, AAS XXXXVII (1945), S.10 ff., in: Soziale Summe Pius XII., Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, hgb. von Arthur Fridolin Utz und Joseph Fulko Groner, II. Band, 2 Aufl., Freiburg 1962, S. 1771 ff., Nr. 3467 ff.; siehe näher Herbert Schambeck, Der rechts- und staatsphilosophische Gehalt der Lehre Pius XII., in: ders. (Hrsg.), Pius XII. zum Gedächtnis, 1977, S. 447 ff., und ders., Pius XII. und der Weg der Kirche, in: ders. (Hrsg.), Pius XII. – Friede durch Gerechtigkeit, 1986, S. 192 ff. 38 39

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IV. Die kirchliche Anerkennung der Demokratie Diese Anerkennung der Demokratie durch die katholische Kirche erfolgte nicht gleichmäßig, sondern in Etappen. So hat Papst Gregor XVI. 1832 in seiner Enzyklika „Mirari vos“ die Freiheitsrechte und mit ihnen die Demokratie noch verurteilt,41 Papst Leo XIII. 1888 in seiner Enzyklika „Libertas praestantissimum“ die Zulässigkeit der Demokratie schon herausgestrichen, Papst Pius X. 1906 in seiner Enzyklika „Vehementer vos“ die Christen42 vor der einseitigen Zuneigung zur demokratischen Staatsform aber gewarnt43 und Papst Pius XI. noch 1922 in seiner Enzyklika „Ubi arcano“ auf die Gefahren für die Demokratien durch Parteienhader hingewiesen44. Hingegen haben Papst Pius XII. und Papst Johannes XXIII. die Demokratie als politisches Ordnungssystem als durchgesetzt akzeptiert und sich in ihren Lehräußerungen mit ihren Grundsätzen und Konsequenzen für die Christen auseinandergesetzt. In seinem verhältnismäßig kurzen Pontifikat von fünf Jahren hat Papst Johannes XXIII. Akzente gesetzt, die über seine Zeit hinaus für die katholische Kirche wirksam wurden; dazu zählen neben der Einberufung des II. Vatikanischen Konzils 1962 seine zwei Enzykliken, nämlich 1961 „Mater et Magistra“ und 1963 „Pacem in terris“. Während Papst Johannes XXIII. zum Jubiläum von „Rerum novarum“ in „Mater et Magistra“ die katholische Kirche in ihrer Weltverantwortung im Hinblick auf „die „jüngsten Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens und seine Gestaltung im Licht der christlichen Lehre“45 auch mit zeitorientierten Sozialgestaltungsempfehlungen vorstellt, bemüht er sich in „Pacem in terris“ um „den Frieden unter allen Völkern in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit“.46 Papst Johannes XXIII. hat in „Pacem in terris“ die päpstliche Lehre von Staat und Politik mit einer systematischen Darlegung der Menschenrechte bereichert. „Pacem in terris“ kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil in allen übrigen katholischen Lehräußerungen zwar punktuell Bezug auf Grundrechte genommen wird, aber in keinem einzigen Dokument ein derartig umfassender Katalog an Menschenrechten enthalten ist! Die umfassende Darstellung der Rechte der Menschen findet sich im 1. Teil des Rundschreibens „Pacem in terris“ Papst Johannes XXIII. unter dem Titel „Die Ordnung unter den Menschen“. In diesem Text steht die grundlegende Feststellung: „9. Jedem menschlichen Zusammenleben, das gut geordnet und fruchtbar sein soll, muss das Prinzip zugrundeliegen, dass jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist. Er hat eine Natur, die mit Vernunft und Wil41 42 43 44 45 46

Marmy, a. a. O., S. 15 ff., Nr. 1 ff. Marmy, a. a. O., S. 632 ff., Nr. 968 ff. Marmy, a. a. O. Marmy, a. a. O., S. 716 f., Nr. 1102. Texte zur katholischen Soziallehre, S. 171. Texte a. a. O., S. 241.

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lensfreiheit ausgestattet ist; er hat daher aus sich Rechte und Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen. Wie sie allgemein gültig und unverletzlich sind, können sie auch in keiner Weise veräußert werden“.47 Ausdrücklich wird neben der Personenhaftigkeit des Menschen die Würde der menschlichen Person nach den Offenbarungswahrheiten betrachtet und betont, wenn wir dies tun, „müssen wir sie noch viel höher einschätzen. Denn die Menschen sind ja durch das Blut Jesu Christi erlöst, durch die himmlische Gnade Kinder und Freunde Gottes geworden und zu Erben der ewigen Herrlichkeit eingesetzt“.48 In „unauflöslicher Beziehung“ werden Rechte und Pflichten in derselben Person gesehen; zu den Rechten werden gezählt: „das Recht auf Leben und Lebensunterhalt (11)“, „moralische und kulturelle Recht (12, 13)“, „das Recht auf Gottesverehrung (14)“, „das Recht auf freie Wahl des Lebensstandes (15, 16, 17)“, „Rechte in wirtschaftlicher Hinsicht (18, 19, 20, 21, 22)“, „Recht auf Gemeinschaftsbildung (23, 24)“, „Recht auf Auswanderung und Einwanderung (25)“ und „Rechte politischen Inhalts (26, 27)“; bezüglich dieser letztgenannten Rechte wird in „Pacem in terris“ betont, „dass mit der Würde der menschlichen Person das „Recht verknüpft ist, am öffentlichen Leben aktiv teilzunehmen, um zum Gemeinwohl beizutragen (26, 27)“. Zur menschlichen Person gehört „auch der gesetzliche Schutz ihrer Rechte, der wirksam und unparteiisch sein muss in Übereinstimmung mit den wahren Normen der Gerechtigkeit“. Neben den Rechten wird die „unauflösliche Beziehung zwischen Rechten und Pflichten in derselben Person (28)“ betont, u. a. das Verantwortungsbewusstsein und das Zusammenleben in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit (35, 36) gefordert. Betrachtet man diese auf die Stellung des Einzelmenschen bezogenen Aussagen, so sind diese weniger normativrechtlich formuliert, sondern mehr von sozialethischer Bedeutung, aber in dieser Weise präpositive Werte betonend und Ansprüche postulierend, welche den deklaratorischen Charakter von Grundrechtsformulierungen in Verfassungsrechtsordnungen erklären lässt. Daneben enthält „Pacem in terris“ auch Hinweise auf die Möglichkeit der näheren Ausführung dieser Menschenrechte. So betonte Papst Johannes XXIII. in Bezug auf die „Teilnahme der Bürger am öffentlichen Leben“: „(73) Dass es den Menschen gestattet ist, am öffentlichen Leben aktiv teilzunehmen, ist ein Vorrecht ihrer Würde als Person, auch wenn sie die Teilnahme nur in den Formen ausüben können, die dem Zustande des Staatswesens entsprechen, dessen Glieder sie sind“! Er erkannte, dass „(74) aus der Teilnahme am öffentlichen Leben … sich neue, sehr weitgehende und nützliche Möglichkeiten“ ergeben und erklärt, konkreter werdend, in Bezug auf „Zeichen der Zeit“: „(75) In der heutigen Zeit begegnet man bei der rechtlichen Organisation der politischen Gemeinschaften in erster Linie der Forderung, dass in klaren und bestimmten Sätzen eine Zusammenfassung der den Men-

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Texte a. a. O., S. 243. Texte a. a. O., S. 243.

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schen eigenen Grundrechten ausgearbeitet wird, die nicht selten in die Staatsverfassung selber aufgenommen wird. (76) Ferner wird gefordert, dass in exakter juristischer Form die Verfassung eines jeden Staates festgelegt wird. Darin soll angegeben werden, in welcher Weise die staatlichen Behörden bestimmt werden, durch welches Band diese untereinander verknüpft sind, wofür sie zuständig sind, und schließlich, auf welche Art und Weise sie zu handeln verpflichtet sind. (77) Schließlich wird gefordert, dass im Hinblick auf Rechte und Pflichten die Beziehungen festgelegt werden, die zwischen den Bürgern und den Staatsbehörden gelten sollen; dass deutlich als Hauptaufgabe der Behörden betont werde, die Rechte und Obliegenheiten der Bürger anzuerkennen, zu achten, harmonisch miteinander in Einklang zu bringen, zu schützen und zu fördern“. Papst Johannes XXIII. hat mit seiner Friedensenzyklika „Pacem in terris“ nicht nur den umfangreichsten Katalog an Menschenrechten angegeben, sondern auch für deren Aufnahme in einer Staatsrechtsordnung Detailregelungen den Weg gewiesen, wie dies in päpstlichen Lehräußerungen noch nicht der Fall war! Papst Johannes XXIII. wusste, dass heute der Schutz der Grundrechte über den Staat hinaus auch die internationale Anerkennung verlangt und zählte zu den „Zeichen der Zeit“ (Nr. 142) als „(Nr. 143) ein Akt von höchster Bedeutung … die allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ 1948, die „gleichsam als Stufe und als Zugang zu der zu schaffenden rechtlichen und politischen Ordnung aller Völker auf der Welt zu betrachten“ (Nr. 144) ist. Die Bedeutung der UNO konnte Papst Johannes XXIII. zwar nicht mehr selbst durch seinen Besuch in dieser Weltorganisation unterstreichen, wohl aber seine Nachfolger Papst Paul VI., Papst Johannes Paul II.49 und Papst Benedikt XVI.50 Die katholische Kirche erkennt, dass sittliche Postulate alleine nicht genügen, dass es vielmehr darauf ankommt, mittels der Exaktheit positiven Rechts Rechtssicherheit zu gewähren, da nicht alle Ordnungsbezüge präpositiv bedingt sind. Papst Pius XII. hat schon am 13. Oktober 1955 in einer Ansprache über „Koexistenz und Zusammenleben der Völker in der Wahrheit und in der Liebe“ festgestellt, dass es nicht weniger lehrreich sei, zu sehen, „wie man immer das Bedürfnis erkannt hat, durch internationale Verträge und Vereinbarungen das festzulegen, was nach den Grundsätzen der Natur nicht mit Sicherheit feststand, und das zu ergänzen, worüber die Natur schwieg“.51 Damit hat Papst Pius XII. mit einmaliger, oft viel zu wenig beachteter Deutlichkeit festgestellt, dass es für das positive Recht Bereiche gibt, die 49 Beachte Permanent Observer Mission of the Holy See to the United Nations, Path to Peace. A Contribution, Documents of the Holy See to the International Comrnunity, 1987; The Visit of His Holiness Pope John Paul II to the United Nations, 1996, und Permanent Observer Mission of the Holy See to the United Nations, Serving the Human Family, the Holy See at the Major United Nations Conferences, 1997. 50 Papst Benedikt XVI., Eine menschliche Welt für alle. Die Rede vor der UNO, 2008. 51 Papst Pius XII., Koexistenz und Zusammenleben der Völker in der Wahrheit und in der Liebe, Ansprache an das „Centro Italiano di Studi per la Riconciliazione Internazionale“, 13. Oktober 1955, AAS XLVII (1955), S. 764 ff. in: Utz, Groner, S. 3783, Nr. 6286.

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nicht durch ein naturrechtlich begründetes, präpositives Recht vorherbestimmt sind; hier ist auch nach Papst Pius XII. ein Bereich der politischen Entscheidung eröffnet. In diesem Zusammenhang sei auch nicht übersehen, dass bereits Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika „Libertas praestantissimum“ 1988 betonte, dass sich nicht jede positivrechtliche Vorschrift auf einen Naturrechtssatz zurückzuführen lässt: es gibt „verschiedene Gegenstände, für welche die Natur nur allgemeine Angaben macht“52 dem sei hinzugefügt, dass auch dort, wo sich kein Naturrechtspostulat dem positiven Recht ergibt, der Gesetzgeber um eine humane Regelung unter Beachtung der Menschenrechte und des Gemeinwohls bemüht sein soll! V. Die Menschenrechte als Teil der katholischen Soziallehre Trotz all dieser päpstlichen Lehräußerungen kann aber nicht angenommen werden, dass die katholische Kirche zu diesem Zweck der humanen Ordnung eine eigene Verfassungslehre entwickelt hätte. Die Lehre vom Staat und von den Menschenrechten ist Teil der Soziallehre der katholischen Kirche, in der sie seit Ambrosius neben der Individualethik eine Sozialethik entwickelt, d. h. neben der Sittenordnung für das private Leben des Einzelmenschen eine Sittenordnung für das öffentliche Leben des Einzelnen, von Staat und Gesellschaft, die ja beide für den Einzelmenschen, an den sich die Glaubenswahrheit der Kirche richtet, schicksalhaft sind. Die katholische Kirche betont die Priorität des Menschen und seiner Menschenrechte gegenüber dem Staat. Zu diesen Rechten in Bezug auf die Sozialordnung, die jedem zustehen und unentziehbar sind, zählt nach Papst Leo XIII. Enzyklika „Rerum novarum“ das Koalitionsrecht.53 Papst Johannes XXIII. betonte in seiner Enzyklika „Populorum progressio“ 1967 (in der er die „Entwicklung, der neue Name für Friede“ (Nr. 76) bezeichnet) den Wohlfahrtszweck des Staates,54 den Papst Pius XI. in „Quadragesimo anno“,55 Papst Pius XII. in vielen Ansprachen, besonders in der Pfingstbotschaft 1941,56 Papst Johannes XXIII. in „Mater et Magistra“,57 Papst Paul VI. besonders in seiner Ansprache vor der Internationalen Arbeitsorganisation 196958 und Papst Johannes Paul II. in „Laborem exercens“ hervorgehoben haben. Papst Johannes Paul II. hat ja in dieser letztgenannten Sozialenzyklika 198159 unter erneuter Betonung der Personhaftigkeit des Menschen die Arbeit als 52 53 54 55 56 57 58 59

Utz, Galen, I, S. 191, RN 47. Texte a. a. O., S. 30 f. Texte a. a. O., S. 433. Texte a. a. O., S. 88 ff. Texte a. a. O., S. 123 ff. Texte a. a. O., S. 171 ff. Texte a. a. O., S. 441 ff. Texte a. a. O., S. 529 ff.

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Mittel der Persönlichkeitsentfaltung dargestellt, den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital betont und die Sozialrechte in den Zusammenhang mit den allgemeinen Menschenrechten gestellt und somit die katholische Lehre der Menschenrechte, wie sie Papst Johannes XXIII. in „Pacem in terris“ besonders entfaltet hat, weiterentwickelt.60 Die Sozialverantwortung des Staates, aber auch der Völkergemeinschaft, wird in zunehmendem Maße betont. Einen Beitrag leisten hierzu, beginnend 1968 mit Papst Paul VI., die Weltfriedensbotschaften, welche der Nachfolger Petri jeweils zum Jahresanfang zu aktuellen Themen erlässt.61 Der Staat ist für die Kirche nicht Selbstzweck, sondern hat helfende Funktion. Papst Johannes Paul II. hat dies in „Centesimus annus“ besonders hervorgehoben. Die Kirche nimmt den Staat nicht mehr in einer Neutralität an Ordnungsvorstellungen hin, sondern verlangt seine sozialgestaltende Kraft. Diese Sozialgestaltung im Sinne der auf Gesellschaftsverbesserung ausgerichteten Soziallehre62 der Kirche bekommt in „Centesimus annus“ durch Papst Johannes Paul II. außerordentliche Deutlichkeit. Die Verwirklichung der auf die Sozial- und Wirtschaftsordnung bezogenen Gestaltungsempfehlungen setzt eine bestimmte Ordnung des Staates voraus. In diesem Zusammenhang wird die Wichtigkeit der Teilung der drei Gewalten des Staates, nämlich der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit, deren Bedeutung an wechselseitiger Kontrolle für den Schutz der Freiheit aller sowie das Prinzip des „Rechtsstaates“ genannt, „in dem das Gesetz und nicht die Willkür der Menschen herrscht“ (Nr. 44).63 Der Staat und seine Einrichtungen sind auch in „Centesimus annus“ nicht Selbstzweck, sondern stehen im Dienste des Menschen. In der Einstellung zum Menschen und seiner Würde liegt der Grund für die Beurteilung und damit der Unterscheidung der Staaten. Papst Johannes Paul II. bedauert es, dass die Menschen nur so weit respektiert werden, „als sie als Werkzeug für egoistische Ziele dienen“. „Die Wurzel des modernen Totalitarismus liegt also in der Verneinung der transzendenten Würde des Menschen, der ein sichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes ist“ (Nr. 44).64 Papst Johannes Paul II. bezeichnet den Menschen als „Subjekt von Rechten, die niemand verletzen darf: weder der Einzelne, noch die Gruppe, die Klasse, die Nation oder der Staat“ (Nr. 44).65 Papst Johannes Paul II. geht damit von absolut Texte a. a. O., S. 241 ff. Siehe jeweils Donato Squicciarini (Hrsg.), Die Weltfriedensbotschaften Papst Paul VI., 1979, Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Paul II., 1992 und Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Paul II. 1993 – 2000, 2001 sowie Roland Minnerath, L’Eglise, catholique et ses efforts pour la paix, in: J. P. Ribaut & J. F. Collange (Hrsg.), Recevoir et construire la paix. Les religions et la paix (Travaux de la Faculté de Théologie Protestante, 5), 1994, S. 49 ff. 62 Beachte Alfred Klose, Die katholische Soziallehre, 1979; Rudolf Weiler, Einführung in die katholische Soziallehre, 1991 und Arthur Fridolin Utz, Zum Begriff „Katholische Soziallehre“, in: Die katholische Soziallehre und die Wirtschaftsordnung, 1991, S. 6 ff. 63 Texte, a. a. O., S. 742. 64 Texte a. a. O. 60 61

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geltenden Menschenrechten des Einzelmenschen aus, die dem Staat und seiner Gesetzesordnung vorgegeben sind und deren Außerachtlassung unzulässig ist. Johannes Paul II. verlangte die Anerkennung und den Schutz der Stellung des Einzelmenschen, der Familie, der Gesellschaft und der Religionsgemeinschaft. Er lehnte jede Form des Totalitarismus ab und verlangt die Anerkennung der Eigenständigkeit nichtstaatlicher Gebilde. Sehr klar wird jede Form der Uniformierung und Nivellierung und damit auch jeder Fanatismus und Fundamentalismus abgelehnt. Die Kirche verlangt vielmehr die Achtung der Freiheit und der Unterschiedlichkeit, sofern sie mit der Würde des Menschen vereinbar ist. Die Demokratie kann dazu in der Staatswillensbildung die Möglichkeit bieten. Diese Wertbezogenheit der Demokratie erfährt durch die Menschenrechte ihre besondere Begründung. „Centesimus annus“ beinhaltet zwar keine taxative Aufzählung der Menschenrechte, sondern bloß eine demonstrative, die aber eine bestimmte Rangordnung erkennen lässt: „Unter den vorrangigsten Rechten sind zu erwähnen: das Recht auf Leben, zu dem wesentlich das Recht gehört, nach der Zeugung im Mutterschoß heranzuwachsen; das Recht, in einer geeinten Familie und in einem sittlichen Milieu zu leben, das für die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit geeignet ist; das Recht, seinen Verstand und seine Freiheit in der Suche und Erkenntnis der Wahrheit zur Reife zu bringen; das Recht, an der Arbeit zur Erschließung der Güter der Erde teilzunehmen und daraus den Lebensunterhalt für sich und die Seinen zu gewinnen; das Recht auf freie Gründung seiner Familie und auf Empfang und Erziehung der Kinder durch verantwortungsvollen Gebrauch der eigenen Sexualität. Quelle und Synthese dieser Rechte ist in gewissem Sinne die Religionsfreiheit, verstanden als Recht, in der Wahrheit des eigenen Glaubens und in Übereinstimmung mit der transzendenten Würde der eigenen Person zu leben (Nr. 47)“. Das Grundrecht auf Leben ist während seines ganzen Pontifikates ein besonderes und ständiges Anliegen Papst Johannes Paul II. gewesen. Dieses Menschenrecht hebt er 1995 in seiner Enzyklika „Evangelium vitae“ und 1999 in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag hervor. „In der Achtung der Menschenrechte liegt das Geheimnis des wahren Friedens“ war das Motto dieses Weltfriedenstages und das Lebensrecht stand dabei im Zentrum. Papst Johannes Paul II. betonte: „4. Das erste ist das Grundrecht auf Leben. Das menschliche Leben ist heilig und unantastbar vom ersten Augenblick seiner Empfängnis an bis zu seinem natürlichen Ende. …“. Papst Johannes Paul II. sieht es als Aufgabe der katholischen Soziallehre an, dem Einzelmenschen nicht bloß Freiheit zu sichern, sondern ihm die Verantwortung für die Nutzung der Freiheit sowie aller ihm auch durch die Wissenschaft, wie z. B. der Medizin im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben, eröffneten Möglichkeiten vor Augen zu halten und zu deren Nutzung im Sinne einer Persön65

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lichkeitsentfaltung die erforderlichen sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zu vermitteln. Alle auch aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit und des Gemeinwohles in „Centesimus annus“ an den Staat gerichteten Forderungen stehen unter der Beachtung des Prinzips der Subsidiarität. Papst Johannes Paul II. weist in „Centesimus annus“ besonders auf die Bedeutung aller Gebilde im intermediären Bereich zwischen dem Einzelmenschen und dem Staat hin. Papst Johannes Paul II. spricht sich in Erfüllung des Subsidiaritätsprinzips für spezifische Solidaritätsnetze aus. Er will mittels der Prinzipien des Gemeinwohles und der Subsidiarität verhindern, dass einerseits der Staat gleich dem libertinistischen Nachtwächterstaat seine Sozialverantwortung übersieht und andererseits ein Versorgungsstaat mit einem aufgeblähten Machtapparat entsteht. Auf diese Weise gibt er in „Centesimus annus“ den Demokratien unserer Tage mit ihrem Instrumentarium an Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit eine an der Freiheit und Würde der Menschen orientierte Sozialgestaltungsempfehlung, welche die Rechtslehre durch eine Rechts- und Sozialethik ergänzt. Die Menschenrechte haben dabei eine wegweisende Mittlerfunktion! VI. Die Mittlerfunktion der Menschenrechte Diese Mittlerfunktion der Menschenrechte kann sich, bei der erforderlichen Anerkennung, in Solidarität sowohl im Miteinander der Menschen als auch in Gesellschaft, Staat und Völkergemeinschaft ausdrücken. Europa trifft dabei beispielgebend eine besondere Verantwortung. „In Europa ist zuerst der Begriff der Menschenrechte formuliert worden“, betonte Papst Benedikt XVI. am 7. September 2007 anlässlich seines Österreichbesuches in Wien und verdeutlichte „das grundlegende Menschenrecht, die Voraussetzung für alle anderen Rechte, ist das Recht auf das Leben selbst. Das gilt für das Leben von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende. Abtreibung kann demgemäß kein Menschenrecht sein – sie ist das Gegenteil davon“.66 Mit dieser Feststellung wollte Papst Benedikt XVI. richtig verstanden werden und sagte deshalb auch, er „spreche nicht von einem speziellen kirchlichen Interesse“, er möchte sich „vielmehr … zum Anwalt eines zutiefst menschlichen Anliegens und zum Sprecher der Ungeborenen machen, die keine Stimme haben“.67 Er „verschließe damit nicht die Augen vor den Problemen und Konflikten vieler Frauen“ und sei sich bewusst, „dass die Glaubwürdigkeit“ dieser „Rede auch davon abhängt, was die Kirche selbst zur Hilfe für betroffene Frauen tut“.68 66 Papst Benedikt XVI. in Österreich, Apostolische Reise aus Anlass des 850 Jahr-Jubiläums von Mariazell, Die österreichischen Bischöfe 8, 2007, S. 37 f. 67 Papst Benedikt XVI., a. a. O. 68 Papst Benedikt XVI., a. a. O.; siehe auch Reinhard Marx, Lebensschutz als Einsatz für die Menschenwürde, Familia et Vita, Nr. 1 / 2009, S. 36 ff. und derselbe, Moral für das Leben, 2009.

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In vielen Gemeinschaften der katholischen Kirche geschieht viel auf diesem Gebiet, dass gezeugtes Leben auch geboren werden kann, wenn Frauen sich in Grenzsituationen befinden; als eine für viele sei die Kongregation „Missionaries of Charity“ genannt, die von Mutter Teresa in Calcutta gegründet wurde und heute weltweit wirkt. Der Name von Mutter Teresa ist gerade zur Personifikation der tätigen christlichen Nächstenliebe geworden, auch was den Schutz des noch ungeborenen Lebens betrifft So erklärte auch Mutter Teresa am 11. Dezember 1979 in ihrer Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Friedensnobelpreises in Oslo: „Wir bekämpfen Abtreibung durch Adoption. Wir haben tausende Leben gerettet; wir haben Nachrichten gesandt an alle Kliniken, an die Spitäler, Polizeistationen: bitte, tötet kein Kind, wir nehmen das Kind … Und wir haben eine große Nachfrage von Familien, die keine Kinder haben, das ist Gottes Segen auf uns“.69 In gleicher Weise tätiger Nächstenliebe haben sich Gemeinschaften der Kirche um das Leid am Ende des Lebens angenommen; auch hier war Mutter Teresa mit ihrer Kongregation wegweisend.70 All dies ist ein Handeln auch im Sinne des früheren Erzbischofs von Wien, Franz Kardinal König, der forderte: „Der Mensch soll nicht durch die Hand, sondern an der Hand eines Menschen sterben“.71 Ganz in dieser Haltung erklärte 2007 in Wien auch Papst Benedikt XVI.: „Die richtige Antwort auf das Leid am Ende des Lebens ist Zuwendung, Sterbebegleitung – besonders auch mit Hilfe der Palliativmedizin – und nicht ‚aktive Sterbehilfe‘. Um eine humane Sterbebegleitung durchzusetzen, bedürfte es freilich struktureller Reformen in allen Bereichen des Medizin- und Sozialsystems und des Aufbaus palliativer Versorgungssysteme. Es bedarf aber auch konkreter Schritte: in der psychischen und seelsorglichen Begleitung schwer Kranker und Sterbender, der Familienangehörigen, der Ärzte und des Pflegepersonals. Die Hospizbewegung leistet hier Großartiges“.72 Sicher werden diese Hilfen für das Leben im Besonderen und die Wahrung der Menschenrechte im Allgemeinen bedauerlicher Weise nicht in allen Dimensionen und allen Erdteilen in gleicher Weise möglich sein; es bedarf eines Bewusstseins der Verantwortung für Menschlichkeit sowie der entsprechenden kulturellen, rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zu deren Schutz. Die Staatengemeinschaft kann zu dieser Entwicklung Zweckmäßiges und Zielführendes beitragen; eine Erziehungsarbeit ist dazu erforderlich. Die katholische Kirche bemüht sich darum auch die Grenzen der Staaten und Kontinente überschreitend. Sehr deutlich war dies in der Rede Papst Benedikt XVI. vor der UNO am 18. April 2008 in 69 Mutter Teresa, Durch Liebe zum Frieden, in: Apostolat und Familie, Festschrift für Opilio Kardinal Rossi, hrsg. von Herbert Schambeck, 1980, S. XVI. 70 Siehe Mutter Teresa, a. a. O., S. XVI. f. 71 Kardinal Franz König, Brief vom 14. Jänner 2004 an das Präsidium und den Ausschuss 4 (Grundrechte) des Österreich-Konvents. 72 Papst Benedikt XVI., a. a. O. S. 38.

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New York anlässlich des 60. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Er bezeichnete dieses Dokument als „das Ergebnis einer Übereinstimmung verschiedener religiöser und kultureller Traditionen, die alle von demselben Wunsch erfüllt waren, die menschliche Person in den Mittelpunkt der Institutionen, der Gesetze und des Vorgehens der Gesellschaft zu stellen und sie als wesentlich für die Welt der Kultur, der Religion und Wissenschaft anzusehen“.73 Er spricht von den Rechten des Menschen, „der für die Welt und die Geschichte der zentrale Punkt des Schöpfungsplanes Gottes bleibt“74 und anerkennt gleichzeitig ihre Präpositivität. Papst Benedikt XVI. betont nämlich: „Diese Rechte haben ihre Grundlage im Naturrecht, das in das Herz des Menschen eingeschrieben und in den verschiedenen Kulturen und Zivilisationen gegenwärtig ist“.75 Wer diese Menschenrechte aus diesem Kontext herauslöst, würde „einer relativistischen Auffassung“ nachgeben, die Papst Benedikt XVI. ablehnt. Diese Gefahr des Relativismus hat Papst Benedikt XVI. schon vor seiner Wahl zum Nachfolger Petri erkannt und bereits in seiner Predigt in der Heiligen Messe „Pro eligendo Romano Pontifice“ vor der Petersbasilika am 18. April 2005 hervorgehoben: „Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in diesen letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen … Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: Vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter. Jeden Tag entstehen neue Sekten … Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich, ‚vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung hin- und hertreiben lassen‘, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt. Wir haben jedoch ein anderes Maß: den Sohn Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des wahren Humanismus. ‚Erwachsen‘ ist nicht ein Glaube, der den Wellen der Mode und der letzten Neuheit folgt; erwachsen und reif ist ein Glaube, der tief in der Freundschaft mit Christus verwurzelt ist. Diese Freundschaft macht uns offen gegenüber allem, was gut ist und uns das Kriterium an die Hand gibt, um

Papst Benedikt XVI., Eine menschliche Welt für alle, S. 21. Papst Benedikt XVI., a. a. O. 75 Papst Benedikt XVI., a. a. O.; beachte auch derselbe, Probleme und Perspektiven des Naturrechts, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 8, 23. Februar 2007, S. 9. Siehe dazu Herbert Schambeck, Naturrecht in Zeitverantwortung, in: Mensch und Naturrecht in Evolution, 2008, S. 15 ff. 73 74

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zwischen wahr und falsch, zwischen Trug und Wahrheit zu unterscheiden. Diesen Glauben müssen wir reifen lassen“.76 Papst Benedikt XVI. geht es um die Anerkennung der Menschenrechte und auf deren Grundlage mit der Religions- und Glaubensfreiheit im Zentrum um eine humane Ordnung im staatlichen und internationalen Leben. In dieser Sicht betonte er vor der UNO auch: „Es ist unbegreiflich, dass Gläubige einen Teil von sich – ihrem Glauben – unterdrücken müssen, um aktive Bürger zu sein. Es sollte niemals erforderlich sein, Gott zu verleugnen, um in den Genuss der eigenen Rechte zu kommen. Die mit den Religionen verbundenen Rechte sind umso schutzbedürftiger, wenn sie als im Gegensatz stehend zu einer säkularen Ideologie oder zu religiösen Mehrheitspositionen exklusiver Art angesehen werden. Die volle Gewährleistung der Religionsfreiheit kann nicht auf die freie Ausübung des Kultus beschränkt werden, sondern muss in richtiger Weise die öffentliche Dimension der Religion berücksichtigen, also die Möglichkeiten der Gläubigen, ihre Rolle im Aufbau der sozialen Ordnung zu spielen“.77 Mit diesen Worten vor der UNO hat Papst Benedikt XVI. die Bedeutung der Menschenrechte sowohl individuell für den Einzelmenschen als auch sozial für Gesellschaft, Staat und Völkergemeinschaft betont. Die katholische Kirche leistet mit ihrer Lehre von den Menschenrechten über den Kreis ihrer Gläubigen einen Beitrag zur Weltverantwortung, der allen Menschen zugutekommen kann, ganz im Sinne der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils „Kirche in der Welt von heute“ zu sein; möge dies mit Freude und Hoffnung möglich sein; mit Freude, weil auch Menschenrechte zur Persönlichkeitsentfaltung und Heilsfindung des Einzelnen beitragen und zur Hoffnung, weil Menschenrechte in Gesellschaft, Staat und Völkergemeinschaft dem Gemeinwohl dienend der Allgemeinheit zugute kommen können. Dies setzte aber voraus, dass die Lehre der katholischen Kirche, die ja an alle Staaten und politischen Systeme gerichtet ist, nicht zur Legitimierung von einseitigen Machtansprüchen, etwa aus imperialen und wirtschaftlichen Gründen und Zwecken,78 auch nicht zur Rechtfertigung von Kriegen missbraucht wird, was die Glaubwürdigkeit gefährden würde, sondern als Sozialgestaltungsempfehlung mit Gewissensanspruch an alle beachtet, anerkannt und befolgt wird. 76 Kardinaldekan Joseph Ratzinger, Heilige Messe „Pro eligendo Romano Pontifice“, L’Osservatore Romano, Sonderausgabe 2005, S. 20; dazu Herbert Schambeck, Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus – ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikt XVI., L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 12. Mai 2006, Nr. 19, S. 10 f. und 19. Mai 2006, Nr. 20, S. 9 f. 77 Papst Benedikt XVI., Eine menschliche Welt für alle, S. 33; beachte dazu derselbe, Die Würde des Menschen darf niemals von Gewalt erniedrigt werden, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 6, 6. Februar 2009, S. 3. 78 Siehe dazu Herbert Schambeck, Kein gerechter Krieg im Irak, Die Tagespost Würzburg Nr. 61 / 62, 61. Jahrgang, 20. Mai 2008, S. 2 und derselbe, Schwierige Situation für die Christen im Irak, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 3. Oktober 2008, Nr. 40, S. 6.

Die Religionsfreiheit und der Pluralismus unserer Zeit* „Bei allem Respekt vor letzter persönlicher Entscheidung steht jeder Mensch immer wieder vor den letzten großen Fragen: ‚Woher komme ich? Wohin gehe ich? Welchen Sinn hat mein Leben?‘.“ Diese Feststellung hat Kardinal Franz König am 24. September 2000 im Dom zu St. Stephan in Wien zum „Fest der Vielfalt“ und zu seinem 95. Geburtstag getroffen.1 William Shakespeare hat sie auch seinem Hamlet in seiner berühmten Frage nach dem Sein in den Mund gelegt. Sie begleitet – bewusst und deutlich oder nicht – die Menschen durch die Zeiten und auf diese Weise jeden von uns! I. Freiheit zum Glauben Diese Frage nach dem Sinn des Lebens ist zugleich auch eine Frage nach dem Sinn der Schöpfung, an welcher der Mensch teilhaftig ist, und damit nach dem Schöpfer selbst. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich, dass mir der frühere Apostolische Nuntius in Prag und heutige Kardinal Giovanni Coppa 1992 nach dem Begräbnis von Alexander Dubcek in Bratislava erzählte, dass Dubcek ihm einmal sagte, er sei zwar nicht gläubig, aber es sei ihm bewusst, dass es etwas Höheres im Leben gebe. Dieses Bewusstsein von einem „höheren Leben“ begleitet alle Menschen. Ich habe dies auch in den Jahrzehnten meiner Zeit in der Politik erfahren, als mir politische Gegner, die mich angriffen und bekennende Atheisten waren, unter vier Augen später, nachdem wir die parlamentarisch Arena verlassen hatten, gestanden haben, dass sie sich selbst um die Beantwortung letzter Fragen des Lebens bemühen. Diese Frage nach dem Sinn des Lebens begleitet den Menschen auf dem Weg seines Lebens, sie ist eine Grundfrage und die Berechtigung, diese Frage zu stellen, wird durch das Grundrecht der Religionsfreiheit geschützt.

* Vortrag gehalten auf der internationalen Tagung „Die Freiheit im neuen Europa“ an der Universität „König Juan Carlos“ in Madrid im April 2011, erschienen in L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 9. September 2011, Nummer 36, S. 10 f. und in: Persona Y Derecho, Revista De Fundamentacion De Las Institutciones Juridicas Y De Derechos Humanos, Universidad De Navara Pamplona 2011/ 2, Numero 65, S. 159 ff. 1 Kardinal Franz König, Religion gehört zum Wesen des Menschen, aus der Schlussansprache zum „Fest der Vielfalt“ und zum 95. Geburtstag am 24. September 2000 im Dom zu St. Stephan, in: Requiem für Kardinal Dr. Franz König, Wien 2004, S. 19.

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Dieses Grundrecht der Religionsfreiheit gewährt die Freiheit, sich über die letzten Dinge des Lebens, das heißt Freiheit zum Glauben oder auch zum Nichtglauben, Gedanken zu machen. Im Anschluss an die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit Dignitas humanae erklärte Papst Benedikt XVI. auch in seiner Weltfriedensbotschaft 2011: „Das Recht auf Religionsfreiheit ist in der Würde des Menschen selbst verankert.“2 Dieses Grundrecht der Religionsfreiheit beinhaltet einerseits ein Verbot, Religion einem Menschen aufzuzwingen, und andererseits die Anerkennung der Befähigung, selbst eine Entscheidung für den Glauben zu treffen. Es ist, um einen Gedanken von Papst Pius XII. zu zitieren, „die Öffnung zum Transzendenten“.3 In dieser Sicht haben auch die Grundrechte der Menschen eine biblische Verankerung. Die Schutzgesetze im Buch Deuteronomium seien vor allem hervorgehoben.4 Sie verlangen in der Folge kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander von Glaube und Vernunft, worüber Jürgen Habermas anlässlich seiner Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001 gesprochen und in der katholischen Akademie Bayern 2004 ein Kolloquium mit Joseph Kardinal Ratzinger hatte, das zur Schrift „Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion“ geführt hat. Beide Autoren, die Nichtjuristen sind, hatten in ihrem Wechselgespräch die Freiheit zur Religion präpositiv anerkannt. Habermas fragte nach den vorpolitischen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates5 und Ratzinger wies darauf hin: „Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“.6 Für Habermas war anerkannte Religionsfreiheit Respekt vor der Überzeugung Andersdenkender und Verpflichtung, einander friedlich und vernünftig darüber Rechenschaft zu geben. Vernunft und Religion sollen den Menschen in einer Zeit des Pluralismus besonders begleiten.7

2 Papst Benedikt XVI. zur Feier des Weltfriedenstages, 1. Januar 2011, Vatikanstadt 2011, Nr. 2, S. 7. 3 Zitiert nach: Die fünf Bedrohungen für die Religionsfreiheit und das Christentum, Katholisches Magazin für Kirche und Kultur, 10.3.2011, S. 2. 4 Siehe auch Gen 1 – 2; Apg 17,24 – 32 und Ex 20; beachte dazu auch Thomas Domanyi, Die Stellung der Religionsfreiheit im modernen Katholizismus, Gewissen und Freiheit, Nr. 62 / 2006. S. 78 ff., bes. S. 81 ff. 5 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: derselbe / Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg / Basel / Wien 2005, S. 15 ff. 6 Joseph Ratzinger, Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: Dialektik der Säkularisierung S. 39 ff. 7 Vgl. dazu Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005, S. 119 ff.

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II. Religionsfreiheit als Grundrecht Der Pluralismus8 wird deutlich durch einen offenen Blick auf den einzelnen Menschen, die Gesellschaft und den Staat. Glaube und Unglaube, Weltanschauungen, Ideologien, kulturelle Einstellungen, wirtschaftliche und soziale Interessen werden erkenn- und erlebbar. Sie finden vor allem in Kirchen, Religionsgemeinschaften, Parteien und Verbänden ihre Institutionen und Organisationen, die mit-, neben- und gegeneinander bestehen, sich achten oder auch übersehen und missachten. Die Situation des Pluralismus zeigt sich in den verschiedenen Einstellungen und Haltungen der Menschen, den Organisationen der Gesellschaft sowie den Einrichtungen des Staates. An ihnen allen nimmt der einzelne Mensch teil, der begleitet ist von den Rechten, die mit seiner Personalität verbunden ist, die im abendländischen Rechtsdenken9 zu den Grundrechten10 geführt haben. Sie werden als präpositiv angesehen und prägen im Glauben entscheidend die Identität des Menschen, weil sie sich auf die wichtigsten Fragen seines Lebens und des Seins beziehen. Das Grundrecht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist vor allem im Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948, dem Art. 18 des internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte 1965, dem Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention 1950, Art. 10 der EU-Grundrechtecharta und in zahlreichen regionalen Menschenrechtskonventionen positiviert. Besonders sei auch auf die UNO Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder des Glaubens 1981 verwiesen.11 Nach Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist die Religionsfreiheit insofern ein Menschenrecht als es jedermann zusteht und weder im Krisenfall noch im Fall eines bewaffneten Konfliktes eingeschränkt werden darf. Nach dem internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Zivilpakt genannt, umfasst die individuelle Religionsfreiheit die Freiheit zur Ausübung des Gottesdienstes, der Versammlung in Verbindung mit einer Religion, die Freiheit zur Herstellung, zum Erwerb und Gebrauch notwendiger Gegenstände und Materialien, die Freiheit, finanzielle Mittel zu erhalten, geeignete Personen für das religiöse Leben 8 Beachte Albert Hartmann, Vielfalt der Weltanschauungen. Pluralistische Gesellschaft und Kirche, Kevelaer 1964 und Heribert Franz Köck, Recht in der pluralistischen Gesellschaft; Grundkurs über zentrale Fragen zu Recht und Staat, Wien 1998. 9 Dazu Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Form, 2. Aufl., Wien 1963. 10 Siehe Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hrsg. von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier. Band I – IX, Heidelberg 2004, bes. Herbert Schambeck, Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche, Band 1, S. 349 ff. und Kölner Gemeinschaftskommentar zur europäischen Grundrechte-Charta, hrsg. von Peter J. Tettinger (†) und Klaus Stern, München 2006, bes. Herbert Schambeck, Die christlichen Wurzeln in der Europäischen Verfassungsidee, S. 199 ff. 11 UN-Dok. A / RES / 36 / 55 vom 25. November 1981.

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auszubilden, Feier- und Ruhetage und die religiöse Freiheit am Arbeitsplatz einhalten zu können, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zum Gebet und religiösen Festen, die Freiheit, den Glauben zu verkünden, das Recht auf den Religionsunterricht sowie das Recht, eine Religion und die Weltanschauung zu wechseln und abzulehnen. Mit diesem Grundrecht der Religionsfreiheit sind auch für Einrichtungen, die aus religiösen Gründen bestehen, bestimmte Freiheiten verbunden, wie zur Errichtung und Erhaltung geeigneter humanitärer Einrichtungen, zur Verfassung, Veröffentlichung und Verbreitung von einschlägigen Dokumentationen sowie die Schaffung zur Erziehung zur Religion oder Weltanschauung angeeigneter Plätze. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Erkenntnis vom 18. März 2011 erklärt, dass Kreuze in Klassenzimmern nicht gegen die Religionsfreiheit verstoßen12 und der österreichische Verfassungsgerichtshof erkannte am 9. März 2011: das Anbringen von Kreuzen in Kindergärten ist nach dem niederösterreichischen Kindergartengesetz 2006 keine Verfassungswidrigkeit.13 Beide Urteile anerkennen das Kreuz als religiöses und kulturelles Symbol, das in den vom Christentum geprägten Ländern Europas ein wichtiges Element einer gemeinsamen Identität ist. Gleichzeitig wird klar festgehalten, dass vom Kreuz kein Zwang ausgeht. Als „passives Symbol“ indoktriniert es nicht. Die Religionsfreiheit hat auch Grenzen. Der Glaube selbst wird ohne Vorbehalt geschützt, der Ausübung oder die Bekundung des Glaubens können Grenzen gesetzt werden, wenn die Interessen anderer beeinträchtigt werden; diese Beschränkungen müssen verhältnismäßig sein, auf Gesetz beruhen und sich als notwendig erweisen im Hinblick auf die öffentliche Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Moral oder um die Grundrechte und Freiheiten anderer zu schützen.

III. Religiöser Pluralismus Die Religionsfreiheit wird aber nicht immer und überall entsprechend den grundrechtlichen Verpflichtungen geschützt. So wurde bei einer gemeinsamen Tagung der CDU-CSU-Bundestagsfraktion und des ÖVP-Parlamentsklubs in Wien 201014 festgestellt, dass die Religionsfreiheit in 64 Ländern der Erde, in denen fast 70% der

12 Appl. Nr. 30814 / 06; siehe auch Rudolf Streinz, Wie hast du’s mit der Religion? Anmerkungen zum Kruzifix-Urteil des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: Verfassung – Völkerrecht – Kulturgüterschutz, staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Band 26, Festschrift für Wilfried Fiedler zum 70. Geburtstag, hrsg. von Michaela Wittinger, Rudolf Wendt, Georg Ress, Berlin 2011, S. 703 ff. 13 Zl. G 287 / 00. 14 Presseaussendung der CDU / CSU Fraktion des Deutschen Bundestages und des ÖVPParlamentsklubs vom 20. Sept. 2010.

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Weltbevölkerung leben, sehr stark eingeschränkt oder nicht gegeben ist. 200 Millionen Christen leben in diesen Staaten. Beispielsweise sei die Türkei genannt, wo vor 100 Jahren noch 20% Christen lebten; heute nur mehr 0,1 %. Im Irak lebten vor dem Krieg 1,4 Millionen Christen, nach zahlreichen Verfolgungen durch islamische Fundamentalisten wurde die Zahl halbiert. In 30 Ländern, in welchen der Islam Staatsreligion ist und auch verfassungsrechtlich verankert wurde, gibt es sogar staatlich unterstützte oder staatlich tolerierte Gewalt gegen Christen. Erwähnt sei auch, dass von 1986 bis 2010 mindestens 993 Personen der Koranschändung oder der Beleidigung des Propheten Mohammed beschuldigt und so Opfer des sogenannten Blasphemie-Paragraphen wurden. Im Hinblick auf die Gefährdungen der Religionsfreiheit hat sich Österreichs Vizekanzler, Außenminister Dr. Michael Spindelegger, dafür eingesetzt, dass auch der Europäische Auswärtige Dienst die Situation der Religionsfreiheit weltweit beobachtet, regelmäßig Bericht erstattet und diesen den EU-Außenministern vorlegt,15 ein Bemühen, das Papst Benedikt XVI. am 3. Februar 201116 in seiner Ansprache an den neuen Österreichischen Botschafter beim Heiligen Stuhl, Dr. Alfons Kloss, würdigte. Das Christentum ist mit rund 2.260.000.000 die meist verbreitete Religion vor dem Islam mit rund 1.157.000.000 Personen und dem Hinduismus mit rund 900.000.000 Personen Anhängern. Bei einer Unterscheidung des Christentums kann festgestellt werden, dass die römisch-katholische Kirche die größte religiöse Gruppierung der Welt darstellt und zahlenmäßig auch die größte Kirche innerhalb des Christentums ist: mit rund 1.181.000.000 Mitgliedern (davon 408.000 Priestern und 815.000 Ordensleuten). Weltweit ist die römisch-katholische Kirche weiter im Wachstum begriffen – so hat die Zahl der Mitglieder allein im Jahre 2009 um 15 Millionen Personen zugenommen. Innerhalb des Christentums gibt es 23 Teilkirchen. Neben der römisch-katholischen Kirche sind es die aufgegliederten protestantischen Kirchen, die mit rund 800 Millionen Personen die zweitgrößte Gruppe innerhalb des Christentums darstellen (rund 70 Millionen Lutheraner, 75 Millionen in den Reformierten Kirchen, 70 Millionen bei den Methodisten, etwa 85 Millionen hei den Baptisten, 75 Millionen in den anglikanischen Kirchen und viele evangelische Freikirchen). Die verschiedenen orthodoxen Kirchen werden auf ca. 225 Millionen Angehörige geschätzt.17

Austria Presseagentur vom 10. 12. 2010. L’Osservatore Romano, deutsche Wochenausgabe vom 11. 2. 2011, S. 7 f. 17 Die Zahlenangaben stammen aus zahlreichen Statistiken, wie den Päpstlichen Jahrbüchern, den evangelischen Veröffentlichungen (auch aus www.evangelical.de / statistik), www. islamische-zeitung.de, Islamlexikon etc. und sind auch Teil jeweils fortschreitender Analysen von Josef Höchtl – siehe bspw. Entwicklung der Religionsgemeinschaften, in: Gesellschaft und Politik, Wien 2011, S. 57 ff. 15 16

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Auch die EU ist vom religiösen Pluralismus gekennzeichnet, wenn auch nicht von Christenverfolgungen. In diesem Zusammenhang hat Bernhard Vogel18 im Hinblick auf die Frage „Wie christlich ist Europa?“ schon darauf verwiesen, dass 70% der Bevölkerung katholischen, evangelischen oder orthodoxen Glaubens sind. 230 Millionen, also jeder Zweite der 463 Millionen EU-Bürger sind Katholiken, 16% Protestanten, 3% orthodoxe Christen und ebenfalls 3 % Muslime, 0,3 % Juden, während 27% keiner oder einer kleineren Religionsgemeinschaft angehören. Bedenkt man die Religionsfreiheit, dann gilt es nicht allein die Gläubigen, sondern auch die Konfessionslosen zu beachten ihre Zahl ist mit 0,75% im orthodox dominierten Griechenland am niedrigsten und in Tschechien, das früher sehr katholisch war, mit 76% am höchsten. Bernhard Vogel19 hat auch auf eine Umfrage von „Time Magazine“ zu zwei Fragen Bezug genommen. Die eine: „Gehören Sie zu einer Kirche?“, die zweite Frage: „Besuchen Sie die Gottesdienste Ihrer Kirche einmal im Monat oder häufiger?“ Die Antworten in Großbritannien: „Ich gehöre zu einer Kirche“ 83%, „Ich besuche die Kirche einmal im Monat oder häufiger“ 19%. In Italien: „Ich gehöre zu einer Kirche“ 82%, „Ich besuche sie einmal im Monat oder häufiger“ 53%. In Frankreich war das Verhältnis 87 zu 12, in Polen 95 zu 78 und in Deutschland 76 zu 30.

IV. Verantwortung für religiöse Einrichtungen Diese Zahlen sind nicht allein Daten der Statistik, sondern Ausdruck und Zeichen der Haltung des Menschen und seiner Verantwortung im Sinne des Antwortgebens; des Antwortgebens der einzelnen Menschen auf die sie begleitende bewusst oder nicht seiende Frage nach dem Sinn des Lebens sowie seinem Schöpfer, eine Antwort, in der sich ganz im Sinne der überlappenden Worte „scientia“ und „conscientia“ Wissen und Gewissen ergänzen. Diese Verantwortung ergibt sich auch für die Einrichtungen des religiösen Lebens, wie Kirchen und Religionsgemeinschaften, so wie ihre Repräsentanten, die ihr Wirken in einem „Sentire cum eccelesia“ der Heilsfindung der ihnen anvertrauten Menschen widmen, damit sie eine Glaubensgemeinschaft werden und bleiben. Diesem Anliegen hat die katholische Kirche in der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Gaudium et spes einen nachhaltigen Impuls gegeben. Dieses Für- und Miteinander verlangt auch für die Religionsfreiheit gerade in einer Zeit des Pluralismus ein Bemühen sowohl um soziale Partnerschaft20 von Ar18 Bernhard Vogel, Wie christlich ist Europa heute? Europäische Union und religiöser Pluralismus, Die politische Meinung, Konrad Adenauer Stiftung, Nr. 461, April 2008, 53. Jahrgang. S. 7. 19 Vogel, a. a. O., S. 8. 20 Siehe Alfred Klose, Ein Weg zur Sozialpartnerschaft. Das österreichische Modell, Wien 1970.

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beitgeber- und Arbeitnehmerseite als auch um ökumenische Brüderlichkeit der Christenheit, die mit Hinweis auf die Notwendigkeit einer Ökumene der wertestiftenden Kräfte ein besonderes Anliegen Papst Johannes Pauls II.21 war, und den Dialog mit andersgläubigen Menschen. In diesem letztgenannten Zusammenhang, der den Dialog auch zwischen Christen und Muslimen meint, schließe ich mich Bischof Egon Kapellari an, der erklärte: „Ein Dialog, der diesen Namen verdient, muss zunächst darauf zielen, den Glauben des Dialogpartners und auch den eigenen Glauben gut zu kennen. Diesbezüglich gibt es in Europa sowohl bei vielen Christen wie bei Muslimen große Defizite. Es geht um ein möglichst faires Miteinander bei der Gestaltung von Staat und Gesellschaft auf der Basis nicht verhandelbarer, nicht aufgebbarer Werte europäischer Demokratie und Kultur. Dazu zählt besonders auch eine Toleranz, die keine Einbahnstraße ist. Ernsthafte Christen werden dabei immer auch versuchen müssen, Andersglaubenden Christus zu zeigen und das Evangelium zu erschließen. Andererseits werden tiefgläubige Muslime ihre Religion einladend präsentieren. All das muss kein Hindernis für ein friedliches Miteinander sein. Ernsthafte Christen werden auch nicht aufhören dürfen, Religionsfreiheit in muslimischen Ländern einzumahnen und die in Europa integrierten Muslime zu darauf bezogenen Allianzen einzuladen.“22 Auch die EU bemüht sich um den Dialog; so sieht Art. 17 (1) des Reformvertrages von Lissabon23 vor: „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.“

V. Die Religionsfreiheit und das Weltgemeinwohl In diesem immer mehr erforderlich werdenden Bemühen um das verstehende Miteinander über die Grenzen der Kirchen und Religionsgemeinschaften besteht die Chance, dass sich Gläubige tolerieren, aber nicht in Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben, sondern in Achtung vor dem Höheren, das unser Leben bestimmt, gleich welcher Begründung, und Nichtgläubige in Achtung vor der Haltung des nächsten gläubigen oder ungläubigen Menschen, seine Freiheit und Würde unabhängig von seiner Nutzung anerkennt. In diesem Zusammenhang gilt es auch, das über die Ökumene des Christen zu beachten, was Papst Benedikt XVI. in Bezug auf die ökumenischen Kontakte mit dem Patriarchen von Moskau in seinem Interview21 Papst Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo reisocialis 1987, Nr. 47 und Enzyklika Centesimo annus 1991, Nr. 60. 22 Egon Kapellari, In und Gegen. Gespräche über Gott, Mensch und Welt, Wien / Graz / Klagenfurt 2010, S. 239. 23 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ABl.Nr. C 290 / 1 vom 30. 11. 2009.

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buch „Licht der Zeit. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit“ betonte: „Das sind keine taktischen, politischen Fortschritte, sondern Annäherungen in der inneren Zugewandtheit“24 und feststellte: „Wir tragen vom Fundament des Glaubens her eine ethische Botschaft, die den Menschen Orientierung gibt. Und es miteinander zu tun, ist in der Krise der Völker von größter Bedeutung“.25 Eine solche Haltung kann dazu beitragen, sowohl den Fundamentalismus, in dem der Glaube die Vernunft leugnet und die Religion gewaltsam aufzwingt, zu verhindern, wie den Laizismus, der den Nichtglauben und die Nichtreligion aufzwingen will.26 Massimo Introvigne erklärte treffend: „… nur das Gleichgewicht zwischen Glaube und Vernunft ohne jede Konfusion, aber auch ohne jede Trennung, garantiert die Religionsfreiheit, die der Ursprung der moralischen Freiheit ist und damit der Ursprung jeder wahren Freiheit“.27 Es besteht auch die Chance, dem Relativismus der Demokratie28 zu begegnen und mit möglichst umfassender Meinungs-, Urteils- und Willensbildung im Staat zur allgemeinen Anerkennung von Grundätzen und Grundwerten des privaten und öffentlichen Lebens29 im Staat auch in einer Zeit des Pluralismus zu gelangen, die im Verfassungsrecht30 eine Funktion der Repräsentation und Integration erfüllen können, besonders neben den Staatsfunktionen auch für die Grundrechte und Staatszwecke. In diesem Fall würde eine solche Bewältigung der Aufgabe der Religionsfreiheit in einer Zeit des Pluralismus mit dem Einzelnen dem Staat zugutekommen, dessen Verfassungsrecht dann nicht nur normierend, sondern auch motivierend wirken und dessen Geltung nicht bloß auf Macht und Gewalt beruhen würde und eine voluntaristische Geltung wäre, sondern getragen auch durch Überzeugung eine autoritative Geltung.31

24 Benedikt XVI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit; ein Gespräch mit Peter Seewald, Freiburg / Basel / Wien 2010, S. 112. 25 Benedikt XVI., a. a. O., S. 113. 26 Massimo Introvigne, Die fünf Bedrohungen für die Religionsfreiheit und das Christentum, Magazin für Kirche und Kultur, 10. 3. 2011, S. 2. 27 Introvigne, a. a. O. 28 Dazu näher Hans Kelsen, Vom Wesen und Ort der Demokratie 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 101 ff.: Herbert Schambeck, Fede, Stato e Democrazia: un contributo sul Confronto tra il Cardinale Joseph Ratzinger e Hans Kelsen, in: Alla scuola della Verità, I settanta anni di Joseph Ratzinger, Milano 1997, S, 319 ff. und derselbe, Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus – ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikt XVI., L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 12. Mai 2006, Nr. 19, S. 10 f. und 19. Mai 2006, S. 9 f. 29 Dazu Herbert Schambeck, Die Grundwerte des öffentlichen Lebens, in: Objektivierung des Rechtsdenkens, Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo, hrsg. von Werner Krawietz, Theo Mayer-Maly, Ota Weinberger, Berlin 1984, S. 321 ff. 30 Siehe Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates. Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen im modernen Verfassungsrecht, Zürich 1945, Neudruck Darmstadt 1971 sowie Herbert Schambeck, Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger, Wien 2002, bes. S. 45 ff.

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In einem Staat, und Staaten bilden die Völkergemeinschaft, ist nämlich das Recht32 die Grundlage. Das Grundrecht der Religionsfreiheit gehört in Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen dazu. Ihrer sich in unserer Zeit, in der die EU in der neuen Ordnung des integrierten Europa nicht allein eine Wirtschaftsund Währungsgemeinschaft, sondern auch Rechts- und Wertegemeinschaft33 sein soll, zu besinnen, ist eine Notwendigkeit, die mit und in der EU als Staatenverbund34 und mit Katholiken in Kirche, Staat und Gesellschaft über ihre Grenzen hinaus anderen Gläubigen und Ungläubigen eine Kontinente übergreifende Wegweisung geben kann. Dazu sind möglichst alle aufgerufen. Bernhard Vogel hat dazu schon treffend gesagt: „Der Staat kann nur ein Mindestmaß an Normen setzen – Werte müssen andere vermitteln. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften haben hier einen besonderen Auftrag“.35 Möge es uns möglich sein, diese Werte vom Glauben und der Ethik mit der Religionsfreiheit in einer Zeit des Pluralismus einzubringen; wenn uns dies in verstehender Gegenwartsverantwortung gelingt, können wir zum „bonum commune humanitatis“ beitragen, für das sich schon vor einem halben Jahrhundert Francisco de Vitoria und Francisco Suarez in der Schule von Salamanca besonders eingesetzt haben.36

31 Näher Herbert Schambeck, Ethik und Staat, Schriften zum öffentlichen Recht, Band 500, Berlin 1986, S. 78 ff. 32 Beachte Theo Mayer-Maly, Gedanken über das Recht, Wien / Köln / Graz 1985. 33 Siehe Joseph Kardinal Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Freiburg 1991 und derselbe, Europa, I suoi fondamenti oggi e domani Milano 2004 und Josef Clemens, Der Europagedanke bei Joseph Ratzinger, Analecta Segermitana XXXIV, Vatikan 2008 sowie Herbert Schambeck, Zur gegenwärtigen Situation der Europäischen Union aus christlicher Sicht, in: Europäische Verfassung im Werden, hrsg. von Klaus Stern und Peter J. Tettinger (†), Berlin 2006, S. 9 ff. 34 BVerfGE 88,55 (156 L, S. 8,184). 35 Vogel, a. a. O., S. 11. 36 Siehe dazu Heribert Köck, Der Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Lehre von den Grundrechten, Schriften zur Rechtsgeschichte, Heft 39, Berlin 1987 und Herbert Schambeck, La escuela de Salamanca y su signification hoy, Anales de la Academia de Ciencias Morales y Politicas, Ano XLII, No. 67, Madrid 1990, S. 85 ff.

II.

Zum staatsrechtlichen Gehalt der Enzyklika „Centesimus annus“ Papst Johannes Paul II.* Das Gedenken der Sozialgestaltungsempfehlungen der Sozialenzyklika „Rerum novarum“ Papst Leo XIII. in periodischen Abständen hat dem Gang durch die Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Welt einen eigenen Rhythmus gegeben. Es zählt mit zu den Zeichen der Eschatologie, dass die jeweiligen päpstlichen Verlautbarungen in vielfacher zeitlicher Bezogenheit zu entscheidenden politischen Entwicklungen stehen, die sich im öffentlichen Leben ergeben, ohne immer entsprechend vorhersehbar und berechenbar zu sein; sie waren auch keine Zufälligkeiten, sondern Fügungen, die im Zeitablauf unterschiedlich, nämlich einmal negativ, einmal positiv zu beurteilen waren.

I. Positive Wegweisungen Der Kapitalismus libertinistischer Prägung des 19. Jahrhunderts, der geradezu mit herausfordernd für Papst Leo XIII. zur Erlassung des ersten umfassenden Sozialrundschreibens 1891 gewesen ist, war negativ zu beurteilen; die Entwicklung zu den neuen Demokratien nach den Ereignissen des Jahres 1989 sind zum Jubiläum von „Rerum novarum“ und damit auch aus dem Anlass zur Erlassung der neuen Sozialenzyklika „Centesimus annus“ Papst Johannes Paul II. hingegen positiv zu beurteilen; sie zeigen nämlich wieder in der politischen Geschichte, dass kein autoritäres und totalitäres Regime auf Dauer gegen die Anerkennung sowie des Schutzes der Freiheit wie der Würde des Menschen möglich ist. Diese letzten Jahre deuten klar auf einen vor kurzem noch undenkbar erschienenen neuen Aufbruch im politischen Leben, der auch für das Schicksal der einzelnen Menschen mitprägend ist. Dieser Aufbruch ist eine Forderung an die Sozial- und Wirtschaftsordnung, primär aber auch an die Staatsrechtsordnung, welche die Grundlage für die gesellschaftliche Entwicklung überhaupt gibt. Die katholische Kirche hat in ihrer Lehre gegenüber dem Staat1, was seine Form, d. h. ob Republik oder Monarchie, seinen Aufbau, d. h. ob Einheits- oder Bundes-

* Erschienen in: Der Mensch ist der Weg der Kirche, Festschrift für Johannes Schasching, herausgegeben von Herbert Schambeck und Rudolf Weiler, Berlin 1992, S. 69 ff. 1 Dazu näher Herbert Schambeck, Kirche – Staat – Gesellschaft, Wien / Freiburg / Basel, 1963; derselbe, Der Staat in der katholischen Gesellschaftslehre, in: Katholisches Soziallexikon, 2. Aufl., Innsbruck 1980, Sp. 2921 ff. und derselbe, Zur Staatsordnung, in: Bleibendes

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Enzyklika „Centesimus annus“ Papst Johannes Paul II.

staat, oder die vorherrschende politische Ordnung betrifft, den Grundsatz der Neutralität vertreten, solange der jeweilige Staat in seiner Prägung dem Gemeinwohl dient und die Grundrechte der Menschen achtet2. Im Laufe der Entwicklung der katholischen Soziallehre hat besonders deutlich, beginnend mit der Weihnachtsansprache 1944 Papst Pius XII.3, die Anerkennung der Bedeutung der Demokratie als politisches Ordnungssystem zugenommen. Das ist deshalb kein Widerspruch zur bisherigen Lehre von der Neutralität der Kirche gegenüber dem Staat, weil die Demokratie sowohl in einer Monarchie als auch in einer Republik und sowohl in einem Einheits- als auch in einem Bundesstaat realisierbar ist. Die Bevorzugung demokratischer gegenüber autoritärer politischer Ordnungssysteme geht darauf zurück, dass die Kirche mit Recht annimmt, dass in einer Demokratie das Gemeinwohl und die Grundrechte besonders gewahrt werden4.

II. Die helfende Aufgabe des Staates Aus dieser Einstellung der Kirche zur Demokratie zeigt sich einmal mehr, dass der Staat für die Kirche nicht Selbstzweck ist, sondern eine helfende Funktion hat. Papst Johannes Paul II. hat dies in „Centesimus annus“ besonders hervorgehoben: „Der Staat hat instrumentalen Charakter, da der Einzelne, die Familie und die Gesellschaft vor ihm bestehen und der Staat dazu da ist, die Rechte des einen und der anderen zu schützen, nicht aber zu unterdrücken“5. Die Kirche nimmt den Staat nicht mehr in einer Neutralität an Ordnungsvorstellungen hin, sondern verlangt seine sozialgestaltende Kraft; auch hier zeigt die katholische Soziallehre Stadien ihrer Entwicklung. Johannes Schasching hat es bereits betont: „In der vorindustriellen bäuerlich-handwerklich und ständisch verfassten Gesellschaft lag in der kirchlichen Praxis der pastorale Hauptakzent auf der Betonung der Zufriedenheit mit dem vorgegebenen Lebensstandard, auf der Einschärfung der Mildtätigkeit gegenüber den Armen und auf einer Sinndeutung des Leidens im Blick auf das Jenseits. Mit ‚Rerum novarum‘ setzt dagegen die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen ein … Damit ist die Soziallehre der Kirche notwendig auch gesellschaftskritisch und Veränderliches in der Katholischen Soziallehre, Anton Burghardt zum Gedächtnis, Berlin 1982, S. 95 ff. 2 Dazu von Papst Leo XIII. die Enzykliken Diuturnum illud, 1881; Immortale Dei, 1885 und Libertas praestantissimum, 1888. 3 Papst Pius XII., Grundlehren über die wahre Demokratie, Radioansprache an die Welt, 24. Dezember 1944, in: Soziale Summe Pius XII., hrsg. von Arthur Fridolin Utz und JosephFulko Groner, Freiburg 1954 und 1961, Nr. 3469 ff.; Dazu Herbert Schambeck, Der rechtsund staatsphilosophische Gehalt der Lehre Pius XII., in: Pius XII. zum Gedächtnis, hrsg. von demselben, Berlin 1937, S. 44 ff. 4 Beachte ausführlich Herbert Schambeck, Die Demokratie in der Lehre der katholischen Kirche, in: Convivium utriusque iuris, Alexander Dordett zum 60. Geburtstag, Wien 1976, S. 27 ff. 5 Centesimus annus Nr. 11.

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und gesellschaftsverändernd …“6; es ist das Vorherrschen der „Überzeugung, dass der Glaube nicht nur dazu hilft, gesellschaftliche Zustände zu erleiden, sondern sie zu verändern“7. Diese auf Sozialgestaltung im Sinne von Gesellschaftsverbesserung ausgerichtete katholische Soziallehre8 der Kirche bekommt in „Centesimus annus“ durch Papst Johannes Paul II. außerordentliche Deutlichkeit. Die Verwirklichung der auf die Sozial- und Wirtschaftsordnung bezogenen Gestaltungsempfehlungen setzt eine bestimmte Ordnung des Staates voraus. Besonders verdeutlicht sich dies in dem V. Kapital von „Centesimus annus“, welches die bezeichnende Überschrift trägt: „Staat und Kultur“ und in dem schon einleitend Papst Johannes Paul II. in diesem staatspolitischen Kapitel von „Centesimus annus“ im Anschluss an Papst Leo XIII. betont, „dass man eine gesunde Staatstheorie braucht, um eine normale Entfaltung der menschlichen Tätigkeiten zu gewährleisten, der geistigen und der materiellen, die beide unerlässlich sind“ (Nr. 44)9. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der Teilung der drei Gewalten des Staates, nämlich der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit genannt, deren Bedeutung an wechselseitiger Kontrolle sowie für den Schutz der Freiheit aller erkannt wird, sowie „das Prinzip des Rechtsstaates“ genannt wird, „in dem das Gesetz und nicht die Willkür der Menschen herrscht“ (Nr. 44). Der Staat und seine Einrichtungen sind auch in „Centesimus annus“ nicht Selbstzweck, sondern stehen im Dienste des Menschen. In der Einstellung zum Menschen und seiner Würde liegt der Grund für die Beurteilung und damit der Unterscheidung der Staaten. Papst Johannes Paul II. bedauert es, dass der Mensch nur so weit respektiert wird, „als man ihn als Werkzeug für ein egoistisches Ziel benützen kann. Die Wurzel des modernen Totalitarismus liegt also in der Verneinung der transzendenten Würde des Menschen, der sichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes ist“ (Nr. 44). Papst Johannes Paul II. bezeichnet den Menschen als „Subjekt von Rechten, die niemand verletzen darf: weder der Einzelne, noch die Gruppe, die Klasse, die Nation oder der Staat“ (Nr. 44). Papst Johannes Paul II. geht damit von absolut geltenden Grundrechten des Einzelmenschen aus, die dem Staat und seiner Gesetzesordnung vorgegeben sind und deren Außerachtlassung unzulässig ist. Papst Johannes Paul II. geht sogar so weit, diese Grundrechte zu einem starren Teil des Verfassungsrechtes zu zählen, denn er erklärt: „Auch die gesellschaftliche Mehrheit darf das nicht tun, indem sie gegen eine Minderheit vorgeht, sie ausgrenzt, unter-

6 Johannes Schasching, Unterwegs mit den Menschen, Kommentar zur Enzyklika „Centesimus annus“ von Johannes Paul II., Wien / Zürich 1991, S. 19 f. 7 Schasching, Kommentar S. 20. 8 Beachte Alfred Klose, Die katholische Soziallehre, Graz / Wien / Köln 1939; Rudolf Weiler, Einführung in die katholische Soziallehre, Graz / Wien / Köln 1991 und Arthur F. Utz, Zum Begriff „Katholische Soziallehre“, in: Die katholische Soziallehre und die Wirtschaftsordnung, Fribourg 1991, S. 6 ff. 9 Vgl. Enzyklika Rerum novarum, 32 – 33: a. a. O., 126 – 128.

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drückt, ausbeutet oder sie zu vernichten sucht“ (Nr. 44)10. Papst Johannes Paul II. geht es um die Anerkennung und den Schutz der Stellung des Einzelmenschen, der Familie, der Gesellschaft und der Religionsgemeinschaft. Er lehnt jede Form des Totalitarismus ab und verlangt die Anerkennung der Eigenständigkeit nichtstaatlicher Gebilde. Man geht sicher nicht fehl, wenn man die in „Centesimus annus“ aufgezeigten Gefahren des Totalitarismus auch auf die verschiedenen ethnischen Gruppen bezieht – findet sich doch auch in „Centesimus annus“ der Begriff der Nation verwendet – und den Minderheitenschutz ins Auge fasst. Dies zeigt sich auch 1991 in dem Schlussdokument der Europäischen Bischofssynode, welches eine konkrete Warnung beinhaltet: „Nachdem aber das marxistische Herrschaftssystem zugrundegegangen ist, welches mit erzwungener Gleichförmigkeit der Völker und Unterdrückung kleiner Nationen gekoppelt war, taucht nun nicht selten die Gefahr auf, dass die Völker Europas in Ost und West wiederum zu alten nationalistischen Konstellationen zurückkehren.“11 Sehr klar wird jede Form der Uniformierung und Nivellierung und damit auch jeder Fanatismus und Fundamentalismus abgelehnt. Die Kirche verlangt vielmehr die Achtung der Freiheit und der Unterschiedlichkeit, sofern sie mit der Würde des Menschen vereinbar ist. „Der christliche Glaube, der keine Ideologie ist, maßt sich nicht an, die bunte soziopolitische Wirklichkeit in ein strenges Schema einzuzwängen“ (Nr. 46).

III. Gebrauch und Missbrauch der Demokratie Die Anerkennung der Vielfalt gilt natürlich besonders auch für die Politik und in diesem Bereich besonders für die Demokratie. Schon das II. Vatikanische Konzil hat in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ Nr. 36 „die richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ anerkannt: „Durch ihr Geschaffensein selber nämlich haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihr Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methoden achten muss.“12 In „Centesimus annus“ geht Papst Johannes Paul II. auf „die berechtigte Autonomie der demokratischen Ordnung“ (Nr. 47) ein. Die Hervorhebung der Demokratie gegenüber anderen politischen Systemen liegt darin, dass „die Kirche das System der Demokratie zu schätzen“ weiß, „insoweit es die Beteiligung der Bürger an den Vgl. Papst Leo XIII., Enzyklika Libertas praestantissimum, 10: a. a. O. 224 – 226. Schlussdokument der Europäischen Bischofssynode, verabschiedet am 13. 12. 1991, deutsche Ausgabe, S. 19. 12 Kleines Konzilskompendium, hrsg. von Karl Rahner und Herbert Vorgrimler, 2. Aufl., Freiburg / Basel / Wien 1966, S. 482. 10 11

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politischen Entscheidungen sicherstellt und den Regierten die Möglichkeit garantiert, sowohl ihre Regierungen zu wählen und zu kontrollieren als auch dort, wo es sich als notwendig erweist, sie auf friedliche Weise zu ersetzen“ (Nr. 46). Papst Johannes Paul II. weiß um die Gefahren der Missbilligung und des Missbrauches der Demokratie, weshalb er in „Centesimus annus“ feststellt: „Sie kann daher nicht die Bildung schmaler Führungsgruppen billigen, die aus Sonderinteressen oder aus ideologischen Absichten die Staatsmacht an sich reißen. Die wahre Demokratie ist nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich“ (Nr. 46). Für Papst Johannes Paul II. ist diese positive Wertung der Demokratie abhängig vom Dienst der Demokratie am Gemeinwohl und den Grundrechten der Menschen. Johannes Schasching stellt schon fest, „die Kirche weiß um die Vielfalt der geschichtlich bedingten politischen Ordnungen. Was die Kirche als Beitrag zur demokratischen Ordnung der politischen Gesellschaft einbringt, ‚ist die Sicht von der Würde der Person‘ und die sich daraus ergebenden Ordnungsprinzipien.“13 Diese grundsätzliche Bejahung der Demokratie unter der Voraussetzung ihrer Gemeinwohl- und Grundrechtsbezogenheit verbindet Papst Johannes Paul II. insofern mit der sonstigen Neutralität der Kirche gegenüber den Formen und Systemen des Staates, als er bezüglich der Kirche feststellte: „Es steht ihr nicht zu, sich zugunsten der einen oder anderen institutionellen oder verfassungsmäßigen Lösung zu äußern“ (Nr. 47). Papst Johannes Paul II. weiß anscheinend um die Weite der Möglichkeiten, gemeinwohl- und grundrechtsorientiert die Demokratie in verschiedenen Einrichtungen der Rechtsstaatlichkeit zu verwirklichen. Klar und deutlich zeigt sich aber die Empfehlung der Verbundenheit von Demokratie und Rechtsstaat14. Aus den Ausführungen von „Centesimus annus“ kann entnommen werden, dass Papst Johannes Paul II. nicht einem bloßen rechtspositivistischen Rechtswegestaat das Wort redete, sondern einem demokratischen Rechtsstaat, der seine Rechtswege in den Dienst von Rechtszielen stellt, die im Dienst von Werten stehen, denn: „Die Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus“ (Nr. 46). Papst Johannes Paul II. sieht eine wechselseitige Bezogenheit von Werten, Freiheit und Wahrheit, denn er hebt hervor: „Die Freiheit erhält erst durch die Annahme der Wahrheit ihren vollen Wert. In einer Welt ohne Wahrheit verliert die Freiheit ihre Grundlage und der Mensch ist der Gewalt der Leidenschaften und offenen oder verborgenen Bedingtheiten ausgesetzt“ (Nr. 46). Diese Wertbezogenheit der Demokratie erfährt durch die Grundrechte ihre besondere Bezogenheit und Begründung. „Centesimus annus“ beinhaltet zwar keine taxative Aufzählung der Grundrechte, sondern bloß eine demonstrative, die aber eine bestimmte Rangordnung erkennen lässt: „Unter den vorrangigsten Rechten sind zu 13 14

Schasching, Kommentar, S. 66. Siehe Centesimus annus Nr. 46.

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erwähnen: das Recht auf Leben, zu dem wesentlich das Recht gehört, nach der Zeugung im Mutterschoß heranzuwachsen; das Recht, in einer geeinten Familie und in einem sittlichen Milieu zu leben, das für die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit geeignet ist; das Recht, seinen Verstand und seine Freiheit in der Suche und Erkenntnis der Wahrheit zur Reife zu bringen; das Recht, an der Arbeit zur Erschließung der Güter der Erde teilzunehmen und daraus den Lebensunterhalt für sich und die Seinen zu gewinnen; das Recht auf freie Gründung einer Familie und auf Empfang und Erziehung der Kinder durch verantwortungsvollen Gebrauch der eigenen Sexualität. Quelle und Synthese dieser Rechte ist in gewissem Sinne die Religionsfreiheit, verstanden als Recht, in der Wahrheit des eigenen Glaubens und in Übereinstimmung mit der transzendenten Würde der eigenen Person zu leben“ (Nr. 47)15.

IV. Freiheit für Persönlichkeitsentfaltung Papst Johannes Paul II. sieht es aber nicht als Aufgabe der katholischen Soziallehre an, bloß dem Einzelmenschen Freiheit zu sichern, sondern auch zu deren Nutzung im Sinne einer Persönlichkeitsentfaltung die erforderlichen sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zu vermitteln. Er erwartet daher vom Staat eine aktive Gesellschaftspolitik mit Sicherheit des Arbeitsplatzes, des Eigentums in seiner Sozialverantwortung sowie des Arbeitslohnes. Ausdrücklich erklärte Papst Johannes Paul II. es als Hauptaufgabe des Staates, die „Sicherheit zu garantieren, sodass der, der arbeitet und produziert, die Früchte seiner Arbeit genießen kann und sich angespornt fühlt, seine Arbeit effizient und redlich zu vollbringen … Eine andere Aufgabe des Staates besteht darin, die Ausübung der Menschenrechte im wirtschaftlichen Bereich zu überwachen und zu leiten“ (Nr. 48). In dieser Sicht sieht Papst Johannes Paul II. den Staat verantwortlich bei der Arbeitsplatzbeschaffung aktiv zu sein. Alle auch aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit und des Gemeinwohles in „Centesimus annus“ an den Staat gerichteten Forderungen stehen unter der Beachtung des Prinzips der Subsidiarität. Papst Johannes Paul II. weist in „Centesimus annus“ besonders auf die Bedeutung aller Gebilde im intermediären Bereich zwischen dem Einzelmenschen und dem Staat hin. Johannes Schasching spricht mit Recht im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip von der „gestuften Solidarität“16 und sieht die Gefahren für den Fall ihrer Beseitigung: „Jedes totalitäre System ist bestrebt, die Zwischenträger zwischen der Herrschaftselite und den Bürgern zu zerschlagen oder letztere zu Ausführungsorganen der Zentralmacht zu degradie-

15 Vgl. Papst Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1988 a. a. O., 1572 – 1580; Botschaft zum Weltfriedenstag 1991: L’Osservatore Romano, 19. Dezember 1990; II. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 1 – 2. 16 Schasching, Kommentar, S. 68.

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ren.“17 Deshalb stellte Papst Johannes Paul II. in „Centesimus annus“ fest: „Nach ‚Rerum novarum‘ und der ganzen Soziallehre der Kirche erfüllt sich die gesellschaftliche Natur des Menschen nicht im Staat, sondern verwirklicht sich in verschiedenen Zwischengruppen, angefangen von der Familie bis hin zu den wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Gruppen, die in derselben menschlichen Natur ihren Ursprung haben und daher innerhalb des Gemeinwohls ihre eigene Autonomie besitzen“18. Papst Johannes Paul II. spricht sich in Erfüllung des Subsidiaritätsprinzips für spezifische Solidaritätsnetze aus und Johannes Schasching meint begründet hierzu: „Solche Solidaritätsnetze müssen aber ebenso über die Nachbarschaft, die Betriebsgemeinschaft, die freien Vereinigungen und auch die religiösen Gemeinschaften geknüpft werden.“19 Papst Johannes Paul II. will mittels der Prinzipien des Gemeinwohles und der Subsidiarität verhindern, dass einerseits der Staat gleich dem libertinistischen Nachtwächterstaat seine Sozialverantwortung übersieht und anderseits ein Versorgungsstaat mit einem aufgeblähten Machtapparat entsteht. Sowohl von der Organisation des Staates als auch von den Zielen seiner Politik her erwartet Papst Johannes Paul II. eine „Kultur der Nation“. Dieses Erfordernis begleitet die ganze Enzyklika „Centesimus annus“, besonders aber den staatsrechtlichen Teil, nämlich Kapitel V in allen Ausführungen über Möglichkeiten und Grenzen des Staates20. Auch dort, wo Papst Johannes Paul II. sich gegen die Verstaatlichung der Gesellschaft ausspricht und im Sinne des Subsidiaritätsprinzipes für die Eigeninitiative des Einzelmenschen und der gesellschaftlichen Gebilde, verlangt er eine Rechtsordnung, wie Johannes Schasching hervorhebt, „die garantiert, dass das Gemeinwohl nicht den Gruppeninteressen geopfert wird“21.

V. Für Ethikbezug der Rechts- und Staatslehre Auf diese Weise gibt Papst Johannes Paul II. in „Centesimus annus“, ohne auch nur im geringsten bei der Pluralität der Staaten mit ihren vielfältigen Gesellschaften ein orts- und zeitgebundenes „Patentrezept“ an Staats- und Gesellschaftsordnung vorstellen zu wollen, den Demokratien unserer Tage mit ihrem Instrumentarium an Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit eine an der Freiheit und Würde der Menschen orientierte Sozialgestaltungsempfehlung, welche die Rechts- und Staatslehre durch eine Rechts- und Sozialethik ergänzen lässt. Wer wollte leugnen, dass dies nicht heute Staat und Gesellschaft benötigen, denn, wie Johannes Schasching schon ver-

Schasching, Kommentar, S. 67. Centesimus annus Nr. 13. 19 Schasching, Kommentar, S. 68. 20 Dazu Herbert Schambeck, La Responsabilità e i limiti delle Funzioni dello Stato, L’Osservatore Romano vom 15. Juni 1991, S. 1 u. 4. 21 Schasching, Kommentar, S. 70. 17 18

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langte, muss die Demokratie „auf tragfähigen Fundamenten gebaut sein: auf Menschenwürde, auf eine selbst- und mitverantwortliche Gesellschaft und auf eine öffentliche Moral, die den Eigennutz dem Gemeinwohl unterordnet und politische Vorbildfunktion übernehmen kann“22. Papst Johannes Paul II. gibt auch im staatsrechtlichen Teil seiner Sozialenzyklika „Centesimus annus“ zu diesem notwendigen Fundament der Demokratie unserer Zeit einen bedeutenden Beitrag, der für alle Menschen, welche die Bedeutung einer gemeinwohlgerechten Ordnung anerkennen, einsichtig und wegweisend ist.

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Schasching, Kommentar, S. 70.

Zur Lehre Papst Johannes Paul II. von der Demokratie* I. Lebensweg mit Zeiterfahrung Das Pontifikat des Papstes ist der von den Gläubigen miterlebbare Weg des Nachfolgers Petri in seiner Zeit. Als Vicarius Jesu Christi drückt der Papst mit und in seiner Kirche Zeitverantwortung für die Heilsfindung der Menschen aus. Er steht im Dienst der geoffenbarten Wahrheit, die er glaubwürdig vermittelt, nämlich würdig selbst zum Glauben sowie würdig, den Mitmenschen den Weg zum Glauben zu weisen. Im Wirken des Papstes verbindet sich daher der Blick auf die Ewigkeit mit den Erfordernissen der jeweiligen Gegenwart, in der er selbst als Kind seiner Zeit auch mit seinem persönlichen Schicksal hineingeboren wird und für andere beispielgebend sowie richtungsweisend werden kann. Für Papst Johannes Paul II. trifft dies mit seinem Leben und der Zeit seines Pontifikates von einem Vierteljahrhundert besonders zu. Als er am 18. Mai 1920 in Wadowice zur Welt kam, mußte seine polnische Nation um ihre Freiheit kämpfen. Im Jänner 1998 sagte Papst Johannes Paul II. anläßlich seines Besuches bei den Opfern jenes Erdbebens, bei dem auch die Franziskus-Basilika von Assisi schwer beschädigt wurde: „Eines Tages werden die Kinder hier ihre Eltern sagen hören: ‚Du bist während des Erdbebens geboren‘, und die Kinder werden nichts davon wissen. So wie ich“, betonte der Heilige Vater, „im Krieg geboren bin und nichts davon wußte“. Leid begleitete ihn auch auf seinem weiteren Lebensweg. 1929, knapp vor seinem neunten Lebensjahr und seiner Erstkommunion, stirbt seine Mutter und schon einige Jahre später sein älterer Bruder, der ein angehender Arzt war und übrigens im oberösterreichischen Enns einige Zeit zur Schule gegangen ist. Sein Vater, der noch der altösterreichischen Armee angehörte, zieht ihn mutterlos auf und wurde für ihn in seiner gläubigen Haltung bis zu seinem Heimgang 1941 prägend. Zum 50. Jahr seiner Priesterweihe schrieb Papst Johannes Paul II. über seinen Vater in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Geschenk und Geheimnis“: „Sein Beispiel war für mich in gewisser Weise das erste Seminar, eine Art Hausseminar.“1

* Erschienen in: Giovanni Paolo II., Le Vie Della Giustizia Itinerari per li terzio millennio Omaggio dei Giuristi a Sua Santità nel XXV anno di Pontificato, a cura di Aldo Loiodice e Massimo Vari, Liberia Editrice Vaticana 2003, S. 179 ff. 1 Papst Johannes Paul II., Geschenk und Geheimnis, Zum 50. Jahr meiner Priesterweihe, Graz / Wien / Köln 1997, S. 30.

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In seinen späteren Jahren mußte Papst Johannes Paul II. durch den Feuerofen des 2. Weltkrieges sowie des Nationalsozialismus und Kommunismus. Er war ein Arbeiter im Steinbruch und in der Kläranlage in der Bikarbonat-Fabrik in Borek Falecki. Im Herbst 1942 nahm der damalige Arbeiter der Solvaywerke das Studium im geheimen Priesterseminar in Krakau auf. Diese Hinweise auf das persönliche Schicksal Papst Johannes Pauls II. seien schon einleitend gemacht, um zu betonen, daß er, der, wie kaum ein anderer, selbst die tragische Schwere der Zeit erfahren hat, zu deren Bewältigung und Befriedung als Nachfolger Petri in den mehr als zwei Jahrzehnten seine Pontifikates das ihm Mögliche zu leisten sucht.

II. Papst Johannes Paul II. und das Ende des Kommunismus Heute ist es schon eine allgemein anerkannte Tatsache der Zeitgeschichte, welch entscheidender Anteil Papst Johannes Paul II. an dem ideologischen Ende des Kommunismus und damit der Teilung Europas zukommt, was schon Michail Gorbatschow betont hat. Auch in seinen bald 100 Auslandsreisen hat Papst Johannes Paul II. durch sein pastorales Engagement zur Geschichts- und Zeitbewältigung beizutragen gewußt und neben seinen unzähligen Gesprächen mit führenden Persönlichkeiten, die zu ihm in den Vatikan gekommen waren, an Ort und Stelle in Konflikt- und Krisenregionen, wie kürzlich im Nahen Osten, mit Wegweisungen zu befrieden gesucht. Die Achtung der Menschenrechte und in ihrem Dienst der Demokratie ist ihm daher immer ein besonderes Anliegen gewesen. Die Verkündigung der Enzyklika Centesimus annus 1991 zur Hundertjahrfeier der Enzyklika Rerum novarum war für Papst Johannes Paul II. dazu ein wichtiger Anlaß. Er nutzte sie daher auch, um einerseits die in den Menschenrechten grundgelegten Fundamente der Demokratie zu verdeutlichen und andererseits ebenso eindeutig die ethischen Voraussetzungen und Funktionsbedingungen zur Demokratie klarzustellen. Anlaß hierzu war ihm die Empfehlung weiterer Maßnahmen zu einer zeitgemäßen Sozialgestaltung und nach der politischen Wende der Jahre 1989 / 902 die entstandenen Möglichkeiten in Mittel- und Osteuropa zu einer neuen Staatsordnung3. Dazu konnte Papst Johannes Paul II. auch die Erfahrung mit den Entwicklungstendenzen der Demokratie nutzen, die sich schon in dem sogenannten freien, nämlich nicht-kommunistischen Teil Europas bisher gezeigt hatten. Auf seinem Le-

2 Papst Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), III. Kapitel, Nr. 22 ff. 3 Siehe näher Herbert Schambeck, Das staatliche Ordnungsbild in Centesimus annus, in: derselbe, Kirche, Staat und Demokratie, Berlin 1992, S. 127 ff. und derselbe, Centesimus annus und die neue Ordnung in Europa, Gedanken unter besonderer Bezugnahme auf das III. Kapitel der Enzyklika, L’Osservatore Romano vom 20. Dezember 1991, S. 79.

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bensweg hatte Papst Johannes Paul II., wie kaum ein anderer seiner Vorgänger in der Nachfolge Petri, diese Konfrontation auch mit autoritären und totalitären Regimen persönlich erlebt. Seine Beurteilung beruht daher auf Lebenserfahrung! Er sieht, daß „aus diesem historischen Prozeß … neue Formen der Demokratie hervorgegangen“4 sind und betont: „Diese Verantwortung trifft nicht nur die Bürger jener Länder, sondern alle Christen und Menschen guten Willens“5. Mit Recht betont er im Zusammenhang mit der von ihm geforderten Hilfe für Mittel- und Osteuropa: „Für einige Länder Europas beginnt in gewissem Sinne die eigentliche Nachkriegszeit.“6 Diese Demokratiewerdung ist für Papst Johannes Paul II. nicht bloß eine allgemeine Forderung nach einer unkritischen, nämlich ideologisierten Demokratisierung des Staates, sondern vielmehr nach einer konkreten Kultur des Staates7. Er sieht diese im Rechtsstaat gegeben, denn für ihn „ist es besser, wenn jede Macht von anderen Mächten und anderen Kompetenzbereichen ausgeglichen wird, die sie in ihren rechten Grenzen halten. Das ist das Prinzip des ‚Rechtsstaates, in dem das Gesetz und nicht die Willkür der Menschen herrscht.‘8 Der Rechtsstaat wird aber nicht als bloßer Rechtswegestaat, d. h. nur in seiner Ausprägung im formellen, sondern auch im materiellen Sinn, d. h. als ein Rechtsstaat, dessen Gesetze vorrangig auch im Dienste der unveräußerlichen Rechte der Menschen gelegen sind, verstanden. Papst Johannes Paul II. erkennt die entgegengesetzte Gefahr und warnt: „Die Wurzel des modernen Totalitarismus liegt … in der Verneinung der transzendenten Würde des Menschen, der ein sichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes ist.“9

III. Forderung von Werten an die Demokratie Papst Johannes Paul II. sieht die Demokratie nicht unkritisch, auch dort, wo sie instrumentalisiert die Richtung zur Staatswillensbildung angibt. „Die Kirche weiß das System der Demokratie zu schätzen, insoweit es die Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen sicherstellt und den Regierten die Möglichkeit garantiert, ihre Regierungen zu wählen, sie zur Rechenschaft zu ziehen und sie dort, wo es sich als notwendig erweist, auf friedliche Weise zu ersetzen.“10 Centesimus annus, Nr. 22. Centesimus annus, Nr. 22. 6 Centesimus annus, Nr. 28. 7 Siehe Centesimus annus, V. Kapitel: Staat und Kultur. 8 Centesimus annus, Nr. 44. 9 Centesimus annus, Nr. 44. 10 Centesimus annus, Nr. 46; vgl. ebd. 29; Papst Pius XII., Weihnachtsbotschaft im Rundfunk (24. Dezember 1944): AAS 37 (1945), S. 10 – 20. 4 5

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In diesem Zusammenhang betont Papst Johannes Paul II. die „Subjektivität“ der Gesellschaft und verlangt „die Schaffung von Strukturen der Beteiligung und Mitverantwortung“11 sowie besonders die Anerkennung von Werten, die präpositiv dem Staat und seinem Gesetzgeber vorgegeben sind: „Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus.“12 Diese Werte werden nicht vom Staat erzeugt, sondern entstammen der Wertschätzung der vielfach gegliederten Gesellschaft. In diesem Zusammenhang kommt den Kirchen und religiösen Gemeinschaften eine, wenn auch nicht ausschließliche, aber doch besondere Bedeutung zu. Papst Johannes Paul II. hat daher auch in seinen Enzykliken Sollicitudo rei socialis (Nr. 47) 1987, Centesimus annus (Nr. 60) 1991 und Fides et ratio (Nr. 104) 1998 auf die Bedeutung der christlichen Religionen, des Judentums, der großen Weltreligionen und aller Menschen guten Willens für die Erkenntnis und Verwirklichung der Wertegrundlagen und damit auch auf die Möglichkeit der Bewahrung der Demokratie vor Deformierungen hingewiesen. Die Lehre Papst Johannes Paul II. ist auf die Anerkennung von Werten in der Demokratie und durch die Demokratie gerichtet, welche die Freiheit des einen Menschen mit der des Mitmenschen vereinbaren läßt und lehnt, wie er schon 1995 in seiner Enzyklika Evangelium vitae betonte, „die Förderung des eigenen Ich als absolute Autonomie“13 ab, denn dadurch gelangt „man unvermeidlich zur Verneinung des anderen, der als Feind empfunden wird, gegen den man sich verteidigen muß … So schwindet jeder Bezug zu gemeinsamen Werten und zu einer für alle geltenden absoluten Wahrheit: das gesellschaftliche Leben läuft Gefahr, in einen vollkommenen Relativismus abzudriften. Da läßt sich alles vereinbaren, über alles verhandeln …“.14 Papst Johannes Paul II. sieht dies als „das unheilvolle Ergebnis eines unangefochtenen herrschenden Relativismus: das ‚Recht‘ hört auf, Recht zu sein, weil es sich nicht mehr fest auf die unantastbare Würde der Person gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen wird“. Er spricht von einem „tragischen Schein von Legalität … und das demokratische Ideal, das es tatsächlich ist, wenn es denn die Würde jeder menschlichen Person anerkennt und schützt, wird in seinen Grundlagen selbst verraten“15 und warnt vor einem „ethischen Relativismus“16: „Aber der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die sie verkörpert und fördert … Im Hinblick auf die Zukunft der Gesellschaft, und die Entwicklung einer gesunden Demokratie ist es daher dringend notwendig, das Vorhandensein wesentlicher, angestammter, menschlicher und sittlicher Werte wiederzuentdecken, die der Wahrheit des menschlichen Seins selbst entspringen und die 11 12 13 14 15 16

Centesimus annus, Nr. 46. Centesimus annus, Nr. 46. Papst Johannes Paul II., Evangelium vitae, 1995, Nr. 20. Evangelium vitae, Nr. 20. Evangelium vitae, Nr. 20. Evangelium vitae, Nr. 70.

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Würde der Person zum Ausdruck bringen und schützen: Werte also, die kein Individuum, keine Mehrheit und kein Staat je werden hervorbringen, verändern oder zerstören können, sondern die sie nur anerkennen, achten und fördern werden müssen.“17 Diese Werte sieht Papst Johannes Paul II. in den Menschenrechten als Grundlage der Demokratie besonders geschützt und erwähnt „unter den vorrangigsten Rechten“ ausdrücklich: „das Recht auf Leben, zu dem wesentlich das Recht gehört, nach der Zeugung im Mutterschoß heranzuwachsen; das Recht, in einer geeinten Familie und in einem sittlichen Milieu zu leben, das für die Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes geeignet ist; das Recht, seinen Verstand und seine Freiheit in der Suche und im Besitz der Wahrheit zur Reife zu bringen; das Recht, an der Arbeit zur Erschließung der Güter der Erde teilzunehmen und daraus den Lebensunterhalt für sich und die Seinen zu gewinnen; das Recht auf freie Gründung einer Familie und auf Zeugung und Erziehung von Kindern durch verantwortungsvollen Gebrauch der eigenen Sexualität. Quelle und Synthese dieser Rechte ist in gewissem Sinne die Religionsfreiheit, verstanden als Recht, in der Wahrheit des eigenen Glaubens und in Übereinstimmung mit der transzendenten Würde der eigenen Person zu leben.“18 Mit einem Blick für die Wirklichkeiten des politische und staatlichen Lebens hat Papst Johannes Paul II. erkannt, daß „auch in den Ländern mit demokratischen Regierungsformen … diese Rechte nicht immer voll respektiert“19 werden und bezieht sich auf „den Skandal der Abtreibung“20 und auf den Umstand, daß „die Anliegen der Gesellschaft … nicht nach den Kriterien der Gerechtigkeit und Billigkeit verwirklicht“ werden, „sondern mehr nach der Zahl der Wählerstimmen oder der Finanzkraft der Gruppen, die sie unterstützen“21. Mit Recht weist Papst Johannes Paul II. als Folge dieser Entwicklung, die er als „Entartungen des politischen Verhaltens“22 bezeichnet, auf „Mißtrauen und Gleichgültigkeit und in der Folge“ auf Evangelium vitae, Nr. 70 f. Centesimus annus, Nr. 47; II. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae 1 – 2; Papst Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1988, Botschaft zum Weltfriedenstag 1991 sowie Botschaft zum Weltfriedenstag 1999 und die von Erzbischof Donato Squicciarini jeweils hrsg. Sammlungen: Die Weltfriedensbotschaften Papst Pauls VI., Berlin 1979; Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Pauls II., Berlin 1992 und Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Pauls II. 1993 – 2000, Beiträge zur katholischen Soziallehre, Berlin 2001. 19 Centesimus annus, Nr. 47. 20 Centesimus annus, Nr. 47; siehe Herbert Schambeck, Die Verantwortung des Gesetzgebers und der Schutz des ungeborenen Lebens, Arzt und Christ, 27. Jg., Heft 21, 1981, S. 98 ff. und derselbe, The Politician’s Responsibility for the Defense of the Rights of the Family, in: La Famiglia: Dono e Impegno Speranza dell’Umanita, Atti del Congresso Internazionale Rio de Janeiro, 1 – 3 Ottobre 1997, Pontificio Consiglio per la Famiglia, Citta del Vaticano 1998, S. 135 ff. und Joachim Kardinal Meisner, Den ungeborenen Kindern eine hörbare Stimme verleihen, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Jänner 1999, Nr. 13, S. 9. 21 Centesimus annus, Nr. 47. 17 18

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Zur Lehre Papst Johannes Paul II. von der Demokratie

„eine Abnahme der politischen Beteiligung und des Gemeinsinnes in der Bevölkerung“23 sowie auf die Mißbräuche des Wohlfahrtsstaates hin24.

IV. Menschenrechte achten und dem Gemeinwohl dienen Wenngleich Papst Johannes Paul II. auf diese im Hinblick auf die Demokratie wichtigen Entwicklungstendenzen kritisch hingewiesen und auch aus religiöser sowie sittlicher Verantwortung unbedingt notwendige Forderungen erhoben hat, so hat er gleichzeitig auch in dieser seiner letzte Sozialenzyklika betont: „Die Kirche achtet die berechtigte Autonomie der demokratischen Ordnung. Es steht ihr nicht zu, sich zugunsten der einen oder anderen institutionellen oder verfassungsmäßigen Lösung zu äußern. Der Beitrag, den sie zu dieser Ordnung anbietet, ist die Sicht von der Würde der Person, die sich im Geheimnis des Mensch gewordenen Wortes in ihrer ganzen Fülle offenbart“25. Die Verantwortung für die verschiedenen Möglichkeiten einer orts- und zeitgemäßen Verwirklichung der Demokratie auf den Wegen des Rechtsstaates haben im jeweiligen Staat die Politiker26 mit Vertrauen des Volkes zu treffen, wobei nach den Sozialgestaltungsempfehlungen der katholischen Soziallehre die Kirche erwartet, daß diese die Menschenrechte achten und dem Gemeinwohl dienen. Diese urbi et orbi gegebenen Wegweisungen Papst Johannes Paul II. für die christliche Gestaltung des individuellen und sozialen Lebens betreffen gleicher Weise die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelmenschen wie die der Ordnungen der Staaten und der Völkergemeinschaft. Möge die Fortsetzung dieses Weges Papst Johannes Paul II., dessen Pastoralbesuche 1983, 1988 und 1998 in Österreich unvergeßlich sind, für die Welt ganz im Sinne der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils in Freude und Hoffnung nach der Vorhersehung auch noch lange weiter segensreich möglich sein.

Centesimus annus, a. a. O. Centesimus annus, a. a. O. 24 Centesimus annus, Nr. 48. 25 Centesimus annus, Nr. 47. 26 Siehe hierzu die Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben der Kongregation für die Glaubenslehre approbiert von Papst Johannes Paul II. am 21. November 2002 und veröffentlicht am 24. November 2002 von Joseph Kardinal Ratzinger als Präfekt und Erzbischof Tarcisio Bertone S.D.B. als Sekretär dieser Kongregation. 22 23

III.

Glaube, Staat und Demokratie Ein Beitrag zur Auseinandersetzung von Joseph Kardinal Ratzinger mit Hans Kelsen* I. Lebensweg bedenken Ein Geburtstag gibt Anlaß zur Standortbestimmung. Die Vollendung eines Lebensabschnitts läßt nämlich das Wirken eines Menschen bedenken. Je nach der Situation und Position des einzelnen Betrachters wird die Blickrichtung auf das Schaffen eines Jubilars verschieden sein. Wenn aus der Sicht eines Politikers und Staatsrechtslehrers aus Österreich die Lebensarbeit von Joseph Kardinal Ratzinger gewürdigt wird, dann gilt diese Aufmerksamkeit einer Persönlichkeit, die zwar nicht aus Österreich stammt, sich aber wie ihre Eltern von frühester Jugend an von ihrem Elternhaus her unserem Land und seiner Gläubigkeit schon immer verbunden fühlte. So war seine Mutter Maria um 1902 in Innsbruck beschäftigt und ist oft und oft von der Stadt am Inn zum Wallfahrtsort Absam gepilgert, was später Joseph Kardinal Ratzinger, als er mit seinen Geschwistern Maria und Georg in Südtirol auf Urlaub war, gerne nützte, um jenes Haus nahe dem Goldenen Dachl unter den Arkaden in Innsbruck aufzusuchen und die gleiche Pilgerfahrt zu unternehmen. Mariengnadenstätten waren schon von Jugend auf das Ziel von Fahrten der Familie Ratzinger mit Vater Joseph, so von ihrem bayerischen Wohnort in das oberhalb von Salzburg gelegene Maria Plain, eine Kirche, für die bekanntlich Wolfgang Amadeus Mozart seine „Krönungsmesse“ geschrieben hat. Zur Musik Mozarts fühlte sich Joseph Kardinal Ratzinger schon immer besonders hingezogen und weilte daher bis heute oft und gerne in der Salzachstadt und ihrem Land. So nahm er an den Salzburger Hochschulwochen auch schon in den fünfziger Jahren als Student und ab 1967 als Vortragender teil. Später verbrachte er viele Sommer mit seinen Geschwistern als Urlaubsgäste im Gasteiner Tal, wobei freundschaftliche Beziehungen zum Pfarrer von Bad Hofgastein Simon Dietmann entstanden, der später auf tragische Weise verunglückte.

* Erschienen in: Fede, Stato e Democrazia: un contributo sul Confronto tra il Cardinale Joseph Ratzinger e Hans Kelsen, in: Alla scuola della Verità, I settanta anni di Joseph Ratzinger, in Cura di Josef Clemens e Antonio Tarzia, Milano 1997, S, 319 ff.

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Besondere Kontakte hatte auch Joseph Kardinal Ratzinger durch seinen Bruder Georg zu Oberösterreich gepflogen; dieser war nämlich mit den beiden als bedeutende Kirchenmusiker bekannten Brüdern Joseph und Hermann Kronsteiner befreundet, was Kardinal Ratzinger ab 1978 alle drei Jahre Urlaubszeiten in Linz verbringen ließ und sicher mit dazu beitrug, daß er sich 1991 mit Exegeten in Urfahr bei Linz zur Vorbereitung des späteren katholischen Katechismus traf. Auch Gastvorlesungen in Graz und Linz seien ebenso erwähnt wie sein Vortrag vor der Österreichisch Deutschen Kulturgesellschaft in Wien sowie 1988 die unter seinem Vorsitz im niederösterreichischen Laxenburg stattgefundene Konferenz der Glaubenskommissionen der europäischen Bischofskonferenzen. Auch ohne offizielle Verpflichtung besuchte Joseph Kardinal Ratzinger einzelne Orte Österreichs, so auch mit seiner Schwester Maria und seinem Bruder Georg 1988 das Stift Schlägl, wo er mit seinen Familienangehörigen aus festlichem Anlaß unter der Menge stehend zur allgemeinen Überraschung erkannt wurde, oder 1991 ebenfalls mit seinen beiden Geschwistern über Einladung des Verfassers Baden bei Wien, wo sie das Haus besuchten, in dem Ludwig Van Beethoven die IX. Symphonie komponierte, und die Priesterbrüder in der Stadtpfarrkirche Gottesdienst feierten, in der 1791 Wolfgang Amadeus Mozart das „Ave Verum“ komponierte und welturaufführte. Auch 1996 fand das Brüderpaar Ratzinger zu einem Urlaubsaufenthalt mit Konzelebration in der Mittagsmesse der Stadtpfarrkirche Baden Zeit. Sicher gäbe es noch weitere Anlässe, die Österreichpräsenz von Joseph Kardinal Ratzinger zu erwähnen, die aber auf Grund ihrer Vielzahl dem Verfasser nicht vollständig bekannt sind. Wie sehr Österreich die Bedeutung des Wirkens von Joseph Kardinal Ratzinger und seine Bezogenheit auf unser Land anerkannte und würdigte, zeigt die 1991 erfolgte Zuerkennung des Großen Leopold-Kunschak-Preises und die 1992 erfolgte Verleihung des Großen Goldenen Ehrenzeichens am Bande für Verdienste um die Republik Österreich. Erste Repräsentanten der Kirche und des Staates erwiesen auch durch ihre Anwesenheit bei diesen festlichen Anlässen Joseph Kardinal Ratzinger ihre besondere Wertschätzung. Daneben stehen eine Vielzahl von Menschen inner- und außerhalb der katholischen Kirche in Österreich mit Joseph Kardinal Ratzinger in Kontakt, weil sie seine laufend erscheinenden Schriften studieren und sich mit Lehräußerungen auseinandersetzen, auch mit jenen, die er in offizieller Funktion als Präfekt der Glaubenskongregation vertritt. Betrachtet man rückblickend, wie es ja zu einem runden Geburtstag verständlich ist, den Lebenslauf von Joseph Kardinal Ratzinger, dann hat ihn von Jugend an in allen Stadien seines Lebens der Kontakt zu Österreich und seinen Menschen begleitet; je mehr er im akademischen und später auch im innerkirchlichen Leben Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen hatte, desto mehr entstand der persönliche, geistige und religiöse Dialog mit ihm. Er wurde Gegenstand und auch Mittelpunkt öffentlicher Meinungs- und Urteilsbildung und das auch von kompetenten und, wie es auch ist, nicht zuständigen Menschen; bisweilen ging der Dialog auch in die Diskussion über. Gerade in unserer Zeit dokumentiert sich das Sentire cum ecclesia in verschiedenen Formen; wobei sich keiner den Partner aussuchen kann.

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II. Gegenwartsengagement Wer Verantwortung vor allem auf Grund einer Funktion trägt, der ist verpflichtet Antwort zu geben, und Antwort geben kann nur, wer das Wort versteht, was wieder Zeitverständnis voraussetzt. So erweist sich das Wirken von Joseph Kardinal Ratzinger und besonders auch in seiner literarischen nämlich nachlesbarer Form als ein Ausdruck der Glaubenstreue und des Zeitverständnisses; in beiden zeigt sich seine Auseinandersetzung mit den Problemen der Gegenwart in pastoraler Sicht. Joseph Kardinal Ratzinger ist nämlich in seinem ganzen Lebens- und Berufsweg – das Wort Karriere sei nicht gebraucht, weil es ja kalt und ehrgeizig klingt und für ihn nicht zutrifft – ein Seelsorger geblieben, den es, wie übrigens auch seinen Bruder Georg, dem bedeutenden Kirchenmusiker, dem Musik Gotteslob ist, um die Heilsfindung seiner Mitmenschen geht; keine Anstrengung war ihm zu groß und kein Weg in der Welt zu weit, um hierzu seinen Beitrag im Rahmen seiner Möglichkeiten zu leisten. Bisweilen schätzte er aber seine körperlichen Kräfte zu optimistisch ein und mußte seine Grenzen des Physischen erfahren. All das von Joseph Kardinal Ratzinger Geleistete ist eine seiner Zeit und seiner Verantwortung entsprechende Ausführung dessen, was ihm schon in seinem Elternhaus1 an Glauben vermittelt wurde, und er mit seiner Schwester Maria, die 1991 am Allerseelentag beim Besuch am Grab der Eltern verschied, und seinem Priesterbruder Georg in geschwisterlicher Verbundenheit bis heute an Familiensinn fortsetzt. Joseph Kardinal Ratzinger wußte dabei wann und wo welcher Auftritt notwendig und Einladungen anzunehmen waren. Daneben war er aber immer einer, der bei allen Engagement für seine Mitmenschen gegenüber dem bloß Äußerlichen auf Distanz ging und in Ruhe aus der Stille neue und weitere Kraft schöpfte, aus der er wirkte. Auf diesem seinen Lebensweg begleitete ihn in aufopfernder Weise bis zu ihrem überraschenden Heimgang vor wenigen Jahren seine Schwester Maria. Nur mit dieser persönlichen Ausgeglichenheit und Ordnung ist es möglich, den Umfang an erfüllten Aufgaben und fundierter Tiefe ihrer Erfüllung auf verschiedenen Gebieten durch Joseph Kardinal Ratzinger zu erklären. Er tat dies nicht in einer Abgewandtheit zur Zeit, nein im Gegenteil mit einem ihn seit Jahrzehnten in allen Stadien begleitenden jeweiligen Gegenwartsengagement; auch der Politik gegenüber. So erklärte er 1989 anläßlich der Verleihung des Augustin Bea-Preises 1989: „Gerade wer Religion und Theologie in ihrem eigenen Anspruch vertreten wollte, müßte nun auch die wesentliche Profanität und die Vernünftigkeit der Politik gegenüber einer zur Ideologie degenerierenden Religion verteidigen. Dies aber müßte in einer Weise geschehen, die zugleich den sittlichen Auftrag der Politik und die politische Verantwortung des Glaubens definierte und damit notwendigerweise eine Idee von Sachlichkeit ausschloß, die Rationalität mit Wertfreiheit und so mit Blindheit 1 Siehe jetzt Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde – Christentum und katholische Kirche, ein Gespräch mit Peter Seewald, Stuttgart 1996, S. 44 ff.

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im Bereich des Sittlichen und Religiösen verwechselte. Dieser schwierigen Aufgabe konnte und durfte ein akademischer Lehrer in jenen verworrenen Jahren nicht ausweichen, noch dringender stellte sie sich mir, als ich zuerst das Amt des Erzbischofs von München und Freising und dann dasjenige des Präfekten der Glaubenskongregation zu Rom zu übernehmen hatte.“2 In dieser mannigfachen Verantwortung als Theologe bemühte sich Joseph Kardinal Ratzinger mit der Verdeutlichung und Weiterentwicklung der Lehre der katholischen Kirche ganz im Sinne der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ des II. Vatikanischen Konzils auch einen Beitrag zur Kirche in der Welt von heute zu leisten3 und sich dabei auch mit den Sachstrukturen sowie den Entwicklungstendenzen des öffentlichen Lebens auseinanderzusetzen. In diesem Bemühen, die Wegweisung der Kirche auch für Probleme der Politik zu geben, war Joseph Kardinal Ratzinger kein politisierender Theologe, sondern ein pastoraler Wegweiser für eine humane Ordnung der Politik mit Gewissenhaftigkeit.4 Dabei war ihm mit Recht bewußt, daß die Civitas Dei des Aurelius Augustinus keine Realität ist, auch nicht sein kann, sondern ein Ideal, das zeit- und ortsorientiert jeweils anzustreben ist, wobei Kirche und Staat verschiedenes sind; Joseph Kardinal Ratzinger hat sich daher nie für eine politisierende Kirche noch für einen klerikalen Staat ausgesprochen. „Die Kirche ist nicht eine Organisation unter anderen oder eine Art Staat im Staate, der ja dann genau wie dieser nach den gleichen demokratischen Spielregeln gebildet sein müßte. Sie ist etwas anderes, sozusagen eine geistige Kraft. Sie hat ihre soziale und organisatorische Form, aber im wesentlichen ist sie ein Kraftquell, der das liefert, was der Staat aus sich selber nicht haben kann.“5 Für Ratzinger ist nämlich „der Staat in der Geschichte seinem Wesen nach irdischer Staat und kann gar nicht Gottesstaat werden; die Kirche bleibt ihrem Wesen nach vom Staat verschieden. Gott ist nicht ein politisches Instrument menschlichen Handelns. Was die Kirche zum Staat beiträgt, ist anderer Art. Indem sie den Menschen für die Wahrheit öffnet, öffnet sie ihm das Recht und läßt so das Maß der Gerechtigkeit in Erscheinung treten, ohne das ein Staat, wie erfolgreich und mächtig er auch sei, mehr von einer Räuberbande als von einem wirklichen Staat an sich hat.“6 Ratzinger wußte neben der Eigenständigkeit von Kirche und Staat sowie von Religion und Politik die Wichtigkeit ihrer möglichen gegenseitigen Bezogenheit zu ver2 Glaube und demokratischer Pluralismus im wissenschaftlichen Werk von Joseph Kardinal Ratzinger zur Verleihung des Augustin Bea-Preises 1989, hrsg. von Arthur F. Utz, Bonn 1989, S. 61. 3 Dazu näher Herbert Schambeck, Glaube und Weltverantwortung der Katholiken. Gedanken nach dem II. Vatikanischen Konzil, in: Pax et iustitia, Festschrift für Alfred Kostelecky zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans Walther Kaluza u. a., Berlin 1990, S. 37 ff. 4 Näher Joseph Kardinal Ratzinger, Gewissen und Wahrheit, in: Fides quaerens intellectum, Beiträge zur Fundamentaltheologie, hrsg. von Michael Kessler u. a., Tübingen 1992, S. 293 ff. 5 Ratzinger, Salz der Erde, S. 289. 6 Ratzinger, in: Glaube und demokratischer Pluralismus, S. 63.

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deutlichen. Diese vermag auch dem Staat jenes Maß an Ethik und Gewissenhaftigkeit zu geben, ohne die ein staatliches Gemeinwesen, vor allem als Demokratie, auf Dauer nicht bestehen kann.7

III. Erkenntnis von Zeitproblemen Joseph Kardinal Ratzinger, obgleich selbst kein Rechts- und Politikwissenschaftler, erkennt die Problemlage der Politik unserer Tage und die Situation der Demokratie vor allem unter den Geboten des Rechtsstaates. Er weist auf „die Entmythologisierung vieler Ideologien“8 hin und bedauerte mit Recht anläßlich der Aufnahme in die Academie Française in seiner dem Andenken Andrej Sacharow gewidmeten Antrittsrede die Richtungslosigkeit und das Arrangierbedürftigkeit der Weltöffentlichkeit „Die Öffentlichkeit hat ihn bewundert, aber sie hat zugleich von dem Flirt mit der Ideologie nicht ablassen wollen, derentwegen er litt.“9 Joseph Kardinal Ratzinger verlangt die Einsicht in absolute Werte und Maßstäbe auf welche die Kirche mit ihrer Lehre hinweist. Ihm ist dabei Recht zu geben, denn je pluralistischer eine Gesellschaft und ihre Demokratie in einem Staat ist, desto wichtiger ist der Grundkonsens an möglichst allgemein anerkannten Grundwerten des öffentlichen und privaten Lebens der Menschen.10 Im Anschluß an Robert Spaemann11 warnt er, „daß nach dem Fall der Utopie heute ein banaler Nihilismus sich auszubreiten beginnt, der in seinen Ergebnissen nicht weniger gefährlich werden kann.“12 Im Hinblick auf die Philosophie des Amerikaners Richard Rorty, der die neue Utopie des Banalen formuliert hat, warnt Ratzinger vor dieser Philosophie einer liberalen Gesellschaft, „in der absolute Werte und Maßstäbe nicht mehr existieren werden; das Wohlbefinden wird die einzige Sache sein, die anzustreben sich lohnt.“13 Er spricht sich hingegen für die moralische Verantwortung in der freien Welt aus. „Die Freiheit behält ihre Würde nur, wenn sie auf ihren sittlichen Grund, auf ihren sittlichen Auftrag bezogen bleibt. Eine Freiheit, deren einziger Inhalt in der Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung besteht, wäre keine menschliche Frei7 Beachte ausführlich dazu Herbert Schambeck, Kirche, Staat, Gesellschaft, Wien / Freiburg / Basel 1967; derselbe, Ethik und Staat, Berlin 1986 und derselbe, Kirche, Staat und Demokratie, Berlin 1992. 8 Ratzinger, Salz der Erde, S. 248. 9 Joseph Kardinal Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht – Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, 3. Auflage, Freiburg / Basel / Wien 1993, S. 7. 10 Dazu Herbert Schambeck, Die Grundwerte des öffentlichen Lebens, in: Objektivierung des Rechtsdenkens, Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo, hrsg. von Werner Krawietz u. a., Berlin 1984, S. 321 ff. 11 Robert Spaemann, La perle precieuse et le nihilisme banal, in: Catholica 1992, Nr. 33, S. 43 ff., bes. S. 45. 12 Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht, S. 16. 13 Ratzinger, a. a. O. S. 16.

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heit; sie bliebe im Bereich des Animalischen … Der Begriff der Freiheit verlangt seinem Wesen nach die Ergänzung durch zwei weitere Begriffe: das Recht und das Gute.“14 Das Recht erlaubt die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Lebens im Staat. Es gewährt nämlich Rechtssicherheit; diese ist aber kein Selbstzweck, sondern soll im Dienst einer humanen Ordnung stehen, nämlich einer solchen, welche die Freiheit und Würde des Menschen schützt. Joseph Kardinal Ratzinger spricht sich daher auch für die Anerkennung von moralischen Werten aus, auch für die, „die von keiner Mehrheitsüberzeugung getragen werden“,15 und warnt gleichzeitig vor jenem, wie er schreibt, strengen Positivismus, „der sich in der Verabsolutierung des Mehrheitsprinzips ausdrückt“, er „schlägt irgendwann unvermeidlich in Nihilismus um.“16 Gerade in einer Zeit des sozialen Rechtsstaates, in dem, wie gerade jetzt, man sich in gleicher Weise um kulturellen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit bemüht, kommt es darauf an, daß die an den Einzelnen neben seinen Ansprüchen und Rechten im Staat gerichteten Anforderungen auch von einem umfassenden Solidaritätsbewußtsein getragen werden. Darum verlangt Joseph Kardinal Ratzinger das stete Bemühen auf ethischer Grundlage um das Gute, das durch keine wie immer gearteten Strukturen an Institutionen für immer garantiert ist; im Gegenteil es muß stets neu erkämpft und errungen werden. Es bedarf daher auch des Mutes zum Guten. Er erklärt daher auch: „Nur jene politischen Programme sind moralisch, die diesen Mut wecken“17, und warnt vor der irrigen Annahme einer mechanischen „Sicherung der richtig eingerichteten Gesellschaft“18 und vor der „Zuflucht zu Scheinhoffnungen“19. Er betont vielmehr, daß das Christentum immer bemüht war, „das Politische in der Sphäre der Rationalität und des Ethos zu belassen.“20 Joseph Kardinal Ratzinger spricht sich daher auch für eine „moralische Erziehung“21 aus und für einen Beitrag der Kirche als einer „Überzeugungsgemeinschaft“22 zum Staat. Dabei erkennt er in der gegenwärtigen Welt, „daß der Öffentlichkeitsanspruch des Glaubens Pluralismus und religiöse Toleranz des Staates nicht beeinträchtigen darf“23 und verbindet damit die Feststellung: „Aber daraus kann nicht eine völlige Wertneutralität des Staates hergeleitet werden.“24 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Ratzinger, a. a. O. S. 17. Ratzinger, a. a. O. S. 19. Ratzinger, a. a. O. S. 20. Joseph Kardinal Ratzinger, Kirche, Ökumene und Politik, Einsiedeln 1987, S. 187. Ratzinger, a. a. O. Ratzinger, a. a. O. S. 189. Ratzinger, a. a. O. S. 193. Ratzinger, a. a. O. S. 195. Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht, S. 24. Ratzinger, a. a. O. S. 186. Ratzinger, a. a. O.

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IV. Folgen des Rechtspositivismus Den Wert des Staates leitet Joseph Kardinal Ratzinger aus seinen ihm gestellten Aufgaben und Zwecken ab. Auf die Frage, wozu der Staat dient, antwortet er: „Der Staat garantiert das Recht als die Bedingung der Freiheit und des gemeinsamen Wohlstands. Zum Staat gehört deshalb zum einen, daß regiert werde; zum anderen aber, daß dieses Regieren nicht einfach Ausübung von Macht, sondern Schutz des Rechtes eines jeden einzelnen und des Wohlergehens aller sei.“25 Joseph Kardinal Ratzinger erkennt, daß es eine Vielfalt an Inhalten politischer Meinungs- und Urteilsbildungen im Staat gibt, der für ihn „Treuhänder der Ordnung vor Augen, der dem Menschen sein Einzelsein wie sein Gemeinschaftswesen ermöglicht.“26 Ratzinger ist aber in Unterscheidung zu Hans Kelsen, der für ihn der herausragende Vertreter der streng relativistischen Position und der später „nach Amerika emigrierte österreichische Rechtslehrer“ ist27, nicht der Meinung, daß der Relativismus das Letzte in der Politik und damit im Staat sowie in einer Demokratie ist. Er spricht die Interpretation Kelsens der Pilatusfrage an. Dabei bezieht sich Joseph Kardinal Ratzinger auf die Interpretation Kelsens durch Vittorio Possenti28 und zitiert nicht die Primärschrift Kelsens zu dieser Frage, nämlich seine 1929 in Tübingen in 2. Auflage erschienene und oft übersetzte Publikation „Vom Wesen und Wert der Demokratie“, sondern Possentis Studie, die seinen Gedanken zugrunde liegt. In dieser seiner für die allgemeine Lehre von Recht und Staat sowie besonders für das Verstehen der Demokratie klassisch gewordenen Arbeit geht Kelsen nach Abschnitten über die Freiheit, das Volk, das Parlament, die Reform des Parlamentarismus, die berufsständische Vertretung, das Majoritätsprinzip, die Verwaltung, die Führerauslese, formale und soziale Demokratie abschließend in seinem Schlußkapitel auf die Beziehung „Demokratie und Weltanschauung“ ein und bezeichnet den Relativismus als „die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt“29 und zitiert das 18. Kapitel des Johannesevangeliums. Kelsen, den der Verfasser selbst während seiner Lehrtätigkeit in den USA am Karfreitag 1967 in Berkeley persönlich kennenlernte und auch ein Mitherausgeber eines Sammelwerkes auch seiner Schriften30 wurde, war seiner religiösen Einstellung nach, nach der Auffassung des Verfassers, ein Agnostiker, der die Heilige Schrift gut kannte.

Ratzinger, a. a. O. S. 74. Ratzinger, a. a. O. S. 74. 27 Ratzinger, a. a. O. S. 70. 28 Vittorio Possenti, Le societá liberali al bivio. Lineamenti di filosofia della societá, Genova 1991, bes. S. 289 ff. 29 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Auflage, Tübingen 1929, S. 101. 30 Siehe Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, hrsg. von Hans R. Klecatsky, René Mercier und Herbert Schambeck, 2 Bände, Wien / Salzburg 1968. 25 26

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Seiner methodischen Einstellung nach war Hans Kelsen ein Rechtspositivist31, dem es um die Erklärung der Rechtssätze einer Ordnung des Staates ausschließlich im normativen Sinn ging; alles nicht Normative, wie etwa das Religiöse, Philosophische, Weltanschauliche, Ideologische oder sonst Politische, das Kelsen zwar wahrnahm, war für ihn nicht rechtsrelevant. Er hat daher auch anschaulich seine Rechtslehre als „Reine Rechtslehre“ bezeichnet. Sie ist 1934 in Buchform erstmals behandelt worden, wobei er sie mit dem Untertitel „Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik“ versah,32 und 1960 in 2. Auflage, dabei ist es erwähnenswert, daß diese 2. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage den oberwähnten Untertitel nicht enthält, sondern einen andern: „Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit“.33 Für Hans Kelsen ist die Reine Rechtslehre „eine Theorie des positiven Rechts … Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtpolitik. Wenn sie sich als eine ‚reine‘ Lehre vom Recht bezeichnet, so darum, weil sie nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen und weil sie aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden möchte, was nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstande gehört. Das heißt: Sie will die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien.“34 Die Auffassung Kelsens vom positiven Recht führte zu einer rein formalen Betrachtung des Rechts, der Gerechtigkeit sowie damit des Rechts- und Verfassungsstaates.35 In dieser formalen Sicht war daher für Kelsen auch jeder Staat mit seiner Rechtsordnung gerecht, der die formalen Bedingungen der Rechtsfindung und Rechtssetzung einhielt. Jegliches Wertdenken, das zu einer Be- und allenfalls auch Verurteilung eines Staates, seines Rechtes und seiner politischen Ordnung führen könnte, wurde daher von ihm ausgeschlossen. Als Hans Kelsen diese seine Reine Rechtslehre schrieb, die hernach ein weltweites Echo, wie auch immer in ihrer Beurteilung fand, wurden die Gesellschaft, die Demokratie und damit auch die Staaten immer pluralistischer. Die nach dem Ersten Weltkrieg erkennbare Entwicklung in verschiedenen Staaten zum Verhältniswahlrecht36 hatte natürlich vor allem bei einem parlamentarischen Regierungssystem, 31 Siehe etwa Hans Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Charlottenburg 1927. 32 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Wien 1934. 33 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre – mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, Zweite, vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Wien 1960. 34 Kelsen, a. a. O. S. 1. 35 Beachte Agostino Carrino, L’Ordine delle Norme – Politica e diritto in Hans Kelsen, II. Edizione, Napoli 1990.

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wie es z. B. auch in Österreich seit 1918 gegeben ist,37 verschiedene Konsequenzen. Auf Grund des starken Repräsentations- und geringen Integrationseffekts des Wahlrechtssystems, das man sich meist in Zeiten mit monarchischer Staatsform, wie z. B. in Deutschland und Österreich schon vor 1918, wünschte, ist die Folge, daß sich nur sehr schwer und selten absolute Mehrheiten nach Wahlen ergeben, weshalb Koalitionen bei Regierungsbildungen notwendig sind und damit Kompromisse die parlamentarische Staatswillensbildung und die Regierungspolitik begleiten. Das Verhältniswahlrecht, wie es auch in Österreich gleich nach Ausrufung der Republik schon in der Wahlordnung zur Wahl der konstituierenden Nationalversammlung von der provisorischen Nationalversammlung beschlossen wurde,38 hatte die Pluralität der politischen Landschaft zur Folge. Für eine solche mannigfaltig geistig, religiös, wirtschaftlich, sozial oder sonstwie begründete politische Pluralität ist eine derartige sogenannte Reine Rechtslehre, welche auf die Konstituierung einer Staatsordnung zur Anwendung kommt, sicher nicht ohne Bedeutung.39 Sie schließt nämlich Wertungsfragen aus, vermeidet so ein bestimmtes Maß an politischen Gegensätzlichkeiten sowie Streit und ist mehr oder weniger vor allem auf die Staatsorganisation bezogen. Auf diese Weise war es auch Hans Kelsen möglich, innerhalb der verhältnismäßig kurzen Zeit von zwei Jahren den Text eines 1920 beschlossenen Bundes-Verfassungsgesetzes40 für die Republik Österreich auszuarbeiten, vorzulegen und beschließen zu lassen.41

V. Wert und Recht In diesem österreichischen Verfassungsentwurf ist Hans Kelsen jeglichen Wertungsproblemen, welche über die Staatsorganisation hinausgingen, aus dem Weg gegangen. Er übernahm die Grundrechte durch Rezeption in Art. 149 B-VG aus dem Staatsrecht der Monarchie, nämlich das Staatsgrundgesetz über die allgemei36 Dazu Ferdinand A. Hermens, Demokratie oder Anarchie – Untersuchung über die Verhältniswahl, 2. Auflage, Köln und Opladen 1968 und derselbe, Zwischen Politik und Vernunft, gesammelte Aufsätze aus drei Welten, Berlin 1969, bes. S. 93 ff., S. 282 ff. und S. 317 ff. 37 Siehe Herbert Schambeck, Wahlrechtsordnung und Regierungssystem in Österreich, in: Festschrift für Adolf J. Merkl, hrsg. von Max Imboden u. a., München / Salzburg 1970, S. 335 ff. und derselbe, Das österreichische Regierungssystem – ein Verfassungsvergleich, Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 337, Opladen 1995. 38 StGBl. Nr. 115 / 1918. 39 Näher Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Rechtslehre Hans Kelsens, Juristische Blätter 1984, S. 126 ff. 40 StGBl. Nr. 450 / 1920 bzw. BGBl. Nr. 1 / 1920. 41 Dazu Georg Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung, Wien 1981 und Die österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen, Analysen und Materialien, hrsg. von Felix Ermacora unter Mitarbeit von Christiane Wirth, Wien 1982; siehe aber auch Hans Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, ein Grundriß entwicklungsgeschichtlich dargestellt, Tübingen 1923.

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nen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 14242 und drückte expressis verbis nur jene Begriffe aus, die neu im österreichischen Verfassungsrecht gebraucht wurden, wie die Staatsform der demokratischen Republik im Art. 1 B-VG und dem Staatsaufbau im Art. 2 B-VG; alles andere setzte Kelsen voraus, so fehlen im ganzen Text des B-VG bis heute Begriffe wie Demokratie (nicht eigenschafts-, sondern hauptwörtlich gebraucht!), Rechts- oder Gesetzesstaat, Freiheit und Würde des Menschen, Grundrechte, etc. oder auch die ausdrückliche Angabe von grundsätzlichen Staatszwecken oder sonstigen Staatszielen, von Detailangaben abgesehen.43 So sehr diese positivistische Rechtsbetrachtung, die übrigens bei Hans Kelsen sehr deutlich von einer Identität von Recht und Staat begleitet wurde und ihn in den Methoden der allgemeinen Staatslehre zum Monisten werden ließen,44 zu einer Minimierung von politischen Gegensätzen infolge einer Verringerung von Wertungsfragen beitragen ließen, so sehr führte diese seine Rechtslehre zur Auffassung einer reinen wertneutralen Rechtswegeverfassung, die für jeden Inhalt, der mit dem Verfassungstext vereinbar ist, auch offen ist. Eine Folge dessen ist auch die Handhabung des Verfassungsrechtes durch die Politik. Da der Verfassungsgerichtshof nicht zur Überprüfung des Verfassungsrechtes zuständig ist, kann das Parlament jeden Rechtssatz, den es der Überprüfung durch dieses Höchstgericht entziehen will, als Verfassungsrecht beschließen.45 Auch eine schleichende Aushöhlung von Verfassungsgrundsätzen, wie z. B. des Föderalismus, ist möglich.46 In letzter Zeit erfolgte durch die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes eine Hinwendung zu einer mehr materialen Rechts- und Verfassungsbetrachtung, welche sich in einem beachtenswerten Wandel der Grundrechtsinterpretation, besonders in einem Wandel von einer formellen zu einer mehr materiellen Sicht des Gesetzesvorbehaltes zeigt, wozu Karl Korinek als österreichischer Staatsrechtslehrer und Verfassungsrichter Bedeutendes an Wegweisung geleistet hat.47 42 Siehe Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980. 43 Beachte Herbert Schambeck, Von den Staatszwecken Österreichs, in: Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich, hrsg. von demselben, 1. Teilband, Berlin 1993, S. 3 ff. und derselbe, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation in Österreich, Juristische Blätter 1980, S. 225 ff. 44 Dazu Peter Badura, Die Methoden der neueren Allgemeinen Staatslehre, Erlangen 1959, bes. S. 32 ff. 45 Näher Herbert Schambeck, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit in Österreich, in: Festschrift für Klaus Stern, hrsg. von Joachim Burmeister, München 1997 (in Druck). 46 Dazu Herbert Schambeck, Zum Werden und zu den Aufgaben des österreichischen Föderalismus, in: Föderalismus und Parlamentarismus in Österreich, hrsg. von demselben, Wien 1992, S. 17 ff. 47 Siehe etwa Karl Korinek, Zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt bei Grundrechten, in: Festschrift für Adolf J. Merkl, S. 171 ff.; derselbe, Brigitte Gutknecht, Der Grundrechtsschutz, in: Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, S. 316 ff.; Herbert Schambeck, Zur Theorie und Interpretation der Grundrechte in Österreich, in: 70 Jahre Repu-

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Diese formelle mehr wertneutrale Rechtsbetrachtung Kelsens war einerseits konfliktvermeidend, weil sie keine Wertekonfrontation zuließ und dadurch in Österreich 1920 leichter und schneller einen Verfassungskompromiß, der sich übrigens bis heute fortsetzt, ermöglicht. Andererseits öffnete diese Reine Rechtslehre Kelsens in der Völkergemeinschaft jedem politischen System, welches diesen Rechtswegestaat zu nutzen versteht, das Tor. Kelsen selbst hat dies an autoritären und totalitären Regimen erlebt und die Flucht aus Europa in die USA angetreten, wo er bis zu seinem Heimgang 1973 sein Leben verbrachte. Was alles in dieser Zeit an Mißbrauch von Politik und Recht bei Herrschaft des Rechtspositivismus möglich ist, zeigte z. B. der Nationalsozialismus, welcher die Grundrechte als Aufstand des Egoismus gegen die Volksgemeinschaft bezeichnete. Hans Fehr hat eine solche Ideologie schon 1938 als das isolierte Naturrecht der totalitären Staaten bezeichnet.48 Der Kommunismus wieder bezeichnete Freiheit als Kenntnis der ökonomischen Gesetzmäßigkeit.49 Alle diese Ideologien – und noch viele weitere ließen sich nennen – nutzen das positive Recht in seiner wertneutralen Betrachtung und positivistischen Handhabung auf Kosten der Freiheit und Würde des Menschen. Adolf Merkl, ein Schüler Hans Kelsens und nach den eigenen Worten Kelsens ein Mitbegründer der Reinen Rechtslehre,50 hat diese Entwicklung erkannt und wie der Verfasser selbst, zunächst als sein Student und später als sein letzter Assistent, fast ständig ihn in seinen Lehrveranstaltungen sagen hören, daß es Zeiten gibt, in welchen es ehrenhafter ist, durch den Staat als für den Staat zu sterben!

blik Österreich – Grund- und Menschenrechte in Österreich, Grundlagen, Entwicklung und internationale Verbindungen, Kehl / Straßburg / Arlington 1991, S. 83 ff., bes. S. 89 ff. und derselbe, Entwicklungstendenzen der Demokratie und des Rechtsstaates heute, Wien 1994, bes. S. 21 ff. 48 Hans Fehr, Die Ausstrahlung des Naturrechts der Aufklärung in die neue und neueste Zeit; Vortrag, gehalten am internationalen Historikerkongreß in Zürich 1938, bes. S. 26 ff.; siehe dazu auch Herbert Schambeck, Idee und Lehren des Naturrechts, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner, hrsg. von Joseph Höffner u. a., Innsbruck / Wien / München 1961, S. 437 ff., bes. S. 443 ff. 49 Friedrich Engels, Anti-Dühring, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke (hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED) Band XX, Berlin 1962, S. 106; siehe dazu Herbert Schambeck, Von der Last der Freiheit im Recht und Staat des Westens und Ostens, in: Die Freiheit des Westens – Wesen, Wirklichkeit, Widerstände, hrsg. von Otto B. Reegele, Graz / Wien / Köln 1967, S. 483 ff. 50 Hans Kelsen, Adolf Merkl zu seinem siebzigsten Geburtstag am 23. März 1960, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht N.F. Band X, Heft 3 – 4, Adolf Merkl und Josef L. Kunz zum 70. Geburtstag gewidmet, Wien 1960, S. 313.

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VI. Beurteilungswürdigkeit der Demokratie Anders als Hans Kelsen, welcher neben dem Recht zwar auch die Eigenständigkeit der Moral, aber nicht in ihrer Relevanz für das Recht, anerkannte,51 worauf Merkl hinwies,52 hat Merkl deutlich in dem letzten Drittel seiner Lebensarbeit sich nicht mit der Unterscheidung von Recht und Moral zufrieden gegeben, sondern selbst deren Bezogenheit, nämlich den Anspruch der Moral auf das Recht ebenso betont53 wie er auch jenen Mißbrauch des Rechtsstaates „als Tarnung politischer Freiheit“54 angeprangert hat. An Hans Kelsen zu seinem 80. Geburtstag gerichtet, schrieb Merkl: „Recht und Moral haben möglicherweise und im größten Umfang dieselben Adressaten: sie fordern aber nicht dasselbe, sondern im größten Umfang verschiedenes Verhalten derselben Person. Schematisch ausgedrückt, verhalten sich Recht und Moral wie zwei einander schneidende Kreise: so ergeben sich Bereiche identischer und unterschiedlicher Forderungen der beiden normsetzenden Autoritäten an die Adresse desselben Menschen, von denen freilich nur jeweils eine als geltend anerkannt werden kann. Wie der Mensch, trägt auch die menschliche Gemeinschaft Staat die beiden Möglichkeiten in sich, sittlich, oder, was dasselbe ist, moralisch und amoralisch zu wollen und zu handeln“55 und betont: „Die Reine Rechtslehre ist gerade in ihrem Verdammungsurteil gegen die Einmengungen aus anderen normativen und explikativen Wissenschaften eine theoretische Notwendigkeit, ein Durchbruch zum Recht. Weil dieses aber als allzumenschliche Einrichtung zwischen dem Versuch und der Karikatur der Gerechtigkeit schwankt, bedarf die Rechtstheorie der Ergänzung durch eine Rechtsethik.“56 Es ist sehr interessant, wie sich mit Adolf Merkl ein Mitbegründer der Wiener Rechtstheoretischen Schule und der Reinen Rechtslehre nach dem vielfältigen Erleben des Mißbrauchs des positiven Rechts von der bloßen formalen Rechtsbetrachtung abwendet; nach der Betrachtung der Rechtssatzformen wandte er sich in den letzten Jahrzehnten seines Wirkens den Rechtsinhalten zu.57 So schrieb Merkl auch 51 Siehe Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1923, Neudruck Aalen 1960, S. 3 ff. und 33 ff. sowie derselbe, Was ist die Reine Rechtslehre?, in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 143 ff. 52 Adolf Merkl, Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens – Reine Rechtslehre und Moralordnung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht N.F. Band XI, Heft 3 – 4, Wien 1961, S. 293 ff., bes. S. 299. 53 Siehe besonders Merkl, Reine Rechtslehre und Moralordnung. 54 Adolf Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Demokratie und Rechtsstaat, S. 185 ff. 55 Merkl, Reine Rechtslehre und Moralordnung, S. 299. 56 Merkl, a. a. O. S. 313. 57 Dazu Wolf-Dietrich Grussmann, Adolf J. Merkl. Leben und Werk, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 13, Wien 1989, S. 44 f.; Herbert Schambeck, Leben und Wirken

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in einem Brief an Kelsen vom 7. Mai 1956, „durch die Erfahrung des christlichständischen Staates, des Dritten Reiches und auch der erneuerten demokratischen Republik“ erscheine ihm nun die Entsprechung der Gesetzesrechtslage gegenüber einer idealen Gesellschaftsordnung ungleich wichtiger – als die „reine Realisierung des positiven Rechts auf dem Weg der Vollziehung“ und spricht deshalb von einer „methodisch und inhaltlich gewandelten wissenschaftlichen Haltung“.58 Im Unterschied zu Merkl hat Kelsen bis zum Ende seines Wirkens konsequent an der Forderung nach Reinheit seiner Rechtslehre und damit an der Trennung von Recht und Moral festgehalten. Wenn er aber am Ende seiner Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ auf das Osterevangelium mit der Pilatusfrage und ihrer tragischen Beantwortung, die er aber aus seiner formaljuristischen Sicht nicht beurteilt, hinweist und dazu im Hinblick auf das 18. Kapitel des Evangelium Johannis erklärt: „Die schlichte in ihrer Naivität lapidare Darstellung gehört zu dem großartigsten, was die Weltliteratur hervorgebracht hat; und, ohne es zu beabsichtigen, wächst sie zu einem tragischen Symbol des Relativismus und der Demokratie“,59 dann läßt er doch seine Erkenntnis der Begrenztheit des positiven Rechts und damit auch die Beurteilungswürdigkeit der Demokratie erahnen. Von der Theologie herkommend hat Joseph Kardinal Ratzinger mit Recht auf die Problematik dieser Begrenztheit der Demokratie hingewiesen und er weist begründet auf die Unausweichlichkeit des Zynismus hin: „Wenn die Mehrheit – wie etwa im Fall des Pilatus – immer Recht hat, dann muß das Recht mit Füßen getreten werden. Dann zählt im Grunde zuletzt die Macht des Stärkeren, der die Mehrheit für sich einzunehmen weiß.“60 Vom positiven Recht ausgehend hat Hans Kelsen ebenso auf die Relativität des positiven Rechts auch bei demokratischer Staatswillensbildung hingewiesen, wie Joseph Kardinal Ratzinger aus der Sicht des Theologen; er geht aber einen Schritt weiter und verlangt eine auf der Anerkennung von Freiheit und Würde des Menschen fußende humane Ordnung im Staat durch das Recht und vertritt keine Wertneutralität gegenüber dem positiven Recht und die Demokratie, sondern im Gegenteil eine Erwartungshaltung für das Humane und Gute. Das verlangt die Erkenntnis der Gegebenheiten, Grenzen und Möglichkeiten des Staates, seiner Politik und seines Rechts, welche Menschen mit Gewissen gemeinwohlgerecht zu nutzen verstehen. Dies zeigt, wie der Staat, das Recht und die Politik, wollen sie nicht Selbst-

von Adolf Julius Merkl, Schriftenreihe Niederösterreichische Juristische Gesellschaft, Heft 55, Wien 1990, S. 21 ff. und derselbe, Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl, in: Adolf J. Merkl. Werk und Wirksamkeit, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 14, Wien 1990, S. 267 ff. 58 Unveröffentlichter Nachlaß Adolf Merkls, Mappe VII; siehe auch Adolf J. Merkl, Das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt im Lichte christlicher Ethik, in: Festschrift für Johannes Messner, S. 467 ff. 59 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 103. 60 Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht, S. 78.

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zweck zur Machtausübung sein, der Ergänzung durch Ethik und Theologie bedürfen. Für dieses Angebot im vielfältigen Wirken von Joseph Kardinal Ratzinger sei ihm gedankt. Joseph Kardinal Ratzinger ruft nämlich zum aufeinander Zugehen auf, das unsere Zeit braucht: „Das Zugehen auf die andere Macht entfremdet nicht, sondern es ist in Wirklichkeit die Voraussetzung dafür, daß wir gesunden und unsere Staaten gesunden. Denn wenn die Menschen nichts zu erwarten haben, als was ihnen diese Welt bietet und wenn sie dies alles vom Staat verlangen dürfen und müssen, zerstören sie sich selbst und jedwedes Gemeinwesen … Auf das Größere und Endgültige hoffend, dürfen und müssen wir Christen auch uns ins Vorläufige, in unsere Staatenwelt hinein Hoffnung tragen.“61 Wir schulden Dank Joseph Kardinal Ratzinger, daß er uns zu diesem Hoffen begründend Mut macht und wünschen dies noch: ad multos annos.

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Ratzinger, a. a. O. S. 92.

Glaube und Politik* Als Jurist und Politiker über die Bedeutung eines Priestergelehrten, der dazu noch einer der ersten Repräsentanten der Kirche ist, würdigend zu sprechen, mag als Verkennung der Zuständigkeit erscheinen. Sie ist wirklich eine Kompetenzüberschreitung, wenn die Unvereinbarkeit von Glaube und Politik angenommen wird. Eine solche Würdigung ist aber verständlich, wenn man bedenkt, daß Glaube und Politik den gleichen Bezugspunkt haben, nämlich den Menschen, der das Zeitliche durchschreitet, um auf dem Weg der Heilsfindung der Ewigkeit entgegenzugehen. I. Priester und Gelehrter Glaube und Politik begleiten bewußt oder unbewußt jeden Menschen, der das Leben bewältigen will und dabei sich nach dem Sinn seines Daseins fragt. Dieser Verantwortung des Menschen hat sich Joseph Kardinal Ratzinger in seiner Lebensarbeit gestellt: als Priester der sich Sorgen um die Seele seiner Mitmenschen machte, als Gelehrter, der sein Wissen in den Dienst der Heilsfindung der Menschen stellte, und als Autorität der Kirche, als solche wußte er sein Amt als Wegweisung zum Glauben, aber auch zur Erkenntnis deren Möglichkeiten und Grenzen zu nutzen. Dabei blieb er sich von Beginn seines Schaffens bis heute auch insofern selbst treu, als er sich stets bemühte, den einzelnen sowohl individual als auch sozial zu sehen. Beginnend mit seiner ersten Arbeit über die Ekklesiologie des hl. Augustinus bis zu seinen Beiträgen zu den Wegen des Glaubens im Umbruch der Gegenwart, hat er in Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt beigetragen und damit auch zum Verstehen des christlichen Sinns von Recht, Staat und Politik auch ganz im Sinne des II. Vatikanischen Konzils. Es verlangt ja ganz deutlich in seiner Konstitution Gaudium et spes, mit Freude und Hoffnung Kirche in der Welt von heute zu sein, aber es sei gleichzeitig betont, nicht die Welt von heute in der Kirche. Joseph Kardinal Ratzinger wußte dies immer klar zu unterscheiden und leistete damit Kirche und Welt stets einen Dienst. Sichere Brücken lassen sich ja auch nur über feste Ufer schlagen; diese Sicherheit ist auch für jedes, vor allem grenzüberschreitende Miteinander besonders in einer Zeit immer deutlicher werdender Verpolitisierung des Lebens von Wichtigkeit. * Vortrag anläßlich der Präsentation der Festschrift „Alla scuola della Verità“ für Joseph Kardinal Ratzinger am 22. Dezember 1997. Erschienen in: L’Osservatore Romana, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 13. Februar 1998 / Nr. 7, S. 11.

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So sehr Joseph Kardinal Ratzinger in Wort und Schrift zur Theologie des Politischen beizutragen wußte, hat er die Theologisierung der Politik ebenso abgelehnt wie die Verpolitisierung der Theologie. Er hat damit Glaube und Politik in gleicher Weise einen guten Dienst erwiesen: dem Glauben, weil gerade in einer Zeit wachsender Demokratisierung die Verbundenheit von christlichem Apostolat und politischer Verantwortung von Wichtigkeit ist, und der Politik, für welche es notwendig ist, die ethischen Grundlagen des Lebens, und zwar des privaten wie des öffentlichen Lebens, zu erkennen: beginnend mit der Freiheit, die keine wovon, sondern vielmehr wozu für den Einzelmenschen ist, über die Gesellschaft, die bei aller Pluralität es nötig hat, wenn sie für alle, Lebensbereiche Grundwerte anerkennt, von welchen eine integrierende Kraft ausgeht, bis zum Staat, für den es entscheidend ist, daß er christlich fundierte Werte anerkennt, die er selbst nicht erzeugen kann, die er, weil präpositiv, nur anerkennen sollte. An diesen Werten sollte auch die demokratische Staatswillensbildung ihre Grenzen erkennen, wie z. B. den Wert des Lebens und die Notwendigkeit seines Rechtsschutzes! II. Ethik und Politik Joseph Kardinal Ratzinger hat zu diesem ethischen Politikverständnis zeitlebens hingeführt. So warnt er mit Recht vor einer „Befreiung“, welche „auf der Abdankung des Ethos, d. h. auf der Abdankung der Verantwortlichkeit und der Freiheit, auf der Abdankung des Gewissens beruht“1 und betont, „daß der moderne Staat eine ‚societas imperfecta‘ ist – unvollkommen nicht nur in dem Sinn, daß seine Institutionen immer so unvollkommen bleiben wie seine Bewohner, sondern auch in dem anderen Sinn, daß er Kräfte von außerhalb braucht, um als er selbst bestehen zu können“.2 Joseph Kardinal Ratzinger weist in diesem Zusammenhang auch auf präpositives Recht, wie auf die Freiheit und Würde des Menschen, sowie auf die ihrem Schutz dienenden Menschenrechte hin und verdeutlicht die Bedeutung von Gewissen sowie Ethos, welcher „der praktischen Vernunft Inhalt und Wege“3 gibt. Für ihn ist „die eigentliche Gefahr unserer Zeit, der Kern unserer Kulturkrise, … die Destabilisierung des Ethos“4, und so spricht er sich für „die moralische Vernunft“5 aus, welche der praktischen Vernunft Inhalt und Weg sein kann; er weist auf die Bedeutung des Gewissens hin: „Für das Staatswesen heißt das, daß die Gesellschaft nie fertig ist, sondern immer wieder vom Gewissen her neu gebaut werden muß und nur von dorther gesichert werden kann.“6 1 Joseph Kardinal Ratzinger, Vom Wiederauffinden der Mitte, Grundorientierungen – Texte aus vier Jahrzehnten, Freiburg / Basel / Wien 1997, S. 235. 2 Ratzinger, a. a. O., S. 238 f. 3 Ratzinger, a. a. O., S, 244. 4 Ratzinger, a. a. O., S. 244. 5 Ratzinger, a. a. O., S. 245.

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Er verlangt eine moralische Erziehung und weist dort, wo diese fehlt, auf Mißstände wie Korruption und Auflösungserscheinungen des menschlichen Zueinanders, wie es die Ehe ist, und auf den mangelnden Schutz des ungeborenen Lebens hin. Die Menschen laufen nach Joseph Kardinal Ratzinger Gefahr, auf falschen Wegen, nämlich nach dem Verlust der Transzendenz in die Utopie, sich zu verlieren. Richtig betont er: „Ich bin überzeugt, daß die Zerstörung der Transzendenz jene eigentliche Amputation der Menschen ist, aus der alle anderen Krankheiten hervorquellen.“7 Sehr aktuell hat Joseph Kardinal Ratzinger schon 1987 in dieser Blickrichtung u. a. auf die „Herabstufung des Sexuellen zu einer Art von leicht erhältlichen Lustdroge“, auf den Kampf um das Kreuz in der Schule und auf die Feiertage hingewiesen. Brennend aktuell auch für unsere Tage hebt er in diesem Zusammenhang auch hervor: „Wenn wir nicht mehr die Kraft haben, solche Zeichen in ihrer Unverzichtbarkeit zu verstehen und festhalten, macht sich das Christentum verzichtbar, aber der Staat wird damit nicht pluralistischer und freier, sondern bodenlos. Der Staat braucht öffentliche Zeichen dessen, was ihn trägt … Deswegen muß das Christentum auf solchen öffentlichen Zeichen seiner Menschlichkeit bestehen. Aber es kann freilich nur darauf bestehen, wenn die Kraft öffentlicher Überzeugung sie trägt.“8 Hier stellt sich neben dem Priester dem Laien die große Verantwortung, sich für die Anerkennung der Werte des Glaubens und der Politik einzusetzen. Machen es aber nicht wir, machen es die anderen und die anders! Das verlangt das politische Engagement und das in Eigenverantwortung des einzelnen im öffentlichen Leben, wozu gerade auf verschiedenen Wegen, nämlich repräsentativer-parlamentarischer und plebiszitärer Natur, die Demokratie viele Gelegenheiten gibt. Voraussetzung hierfür ist aber, daß jeder in unserer Kirche die ihm zukommende Aufgabe erfüllt, wozu gerade in letzter Zeit die Laieninstruktion hinweist. Verantwortung kann ja jeder nur in dem Bereich ausüben, für den er zuständig ist; das läßt im Bereich von Glaube und Politik politisierende Geistliche ebenso ablehnen wie klerikalisierende Laien; in ergänzender Verantwortung sollten sie hingegen ihren Beitrag zur Arbeit am Weinberg erbringen. Hier läßt weder der Laie den Priester überflüssig werden noch der Priester den Laien, beide sind für unsere Kirche heute in einem Miteinander wichtig.

III. Kirche als Glaubensgemeinschaft In der Pluralität, welche heute die Gesellschaft und den Staat kennzeichnet und für welche christliches Denken zur Anerkennung grundlegender Rechte und Pflichten im privaten und öffentlichen Leben so wichtig ist, ist es aber erforderlich, daß sich unsere Kirche als Glaubens- und nicht als Diskussionsgemeinschaft erweist 6 7 8

Ratzinger, a. a. O., S. 245. Ratzinger, a. a. O., S. 238. Ratzinger, a. a. O., S. 248 f.

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und ihre Kräfte nicht zu sehr zur Auseinandersetzung mit sich selbst und zur Selbstdarstellung verwendet, sondern vielmehr zum Dienst für den Nächsten in der Welt. Im Miteinander für den Nächsten kann glaubhaft Überzeugung vertreten werden. Joseph Kardinal Ratzinger hat es schon zu sagen gewußt: „Wenn wir nicht überzeugt sind und nicht überzeugen können, haben wir kein Recht, Öffentlichkeit zu verlangen. Wir sind dann entbehrlich, und wir müssen es dann auch zugeben. Aber wir entziehen dann mit unserer Überzeugungslosigkeit der eigenen Gesellschaft das, was objektiv unentbehrlich ist für sie: die geistigen Grundlagen ihrer Menschlichkeit und ihrer Freiheit. Die einzige Kraft, mit der sich das Christentum öffentlich zur Geltung zu bringen vermag, ist letztlich die Kraft seiner inneren Wahrheit.“9 Diese innere Wahrheit vermag die Spannung von Glaube und Politik zu gestalten, damit nämlich Recht und Staat menschlicher und die Menschen gottesebenbildlicher werden.

IV. Wirken in Zeitverantwortung Es ist mehr als ein Zufall, es ist eine Fügung, daß uns die verdiente Ehrung von Joseph Kardinal Ratzinger dazu gerade jetzt in der Zeit des Advents Gelegenheit zur Besinnung auf diese innere Wahrheit gibt. Sie hat ihre Begründung durch die Menschwerdung des Gottessohnes erhalten, von dem zur Weihnacht alle Evangelisten nur das eine Evangelium verkünden, was auch ein wegweisendes Beispiel für unsere nachkonziliare Kirche sein kann. So sollten auch wir in der Verantwortung für unsere Zeit geschlossen für unseren Glauben und offen für die Anliegen der Menschen in der Politik unseren Beitrag zum „sentire cum ecclesia“ leisten. Die bevorstehende Weihnacht gibt uns dazu Gelegenheit. Joseph Kardinal Ratzinger hat es schon in seinen Besinnungen zu Advent und Weihnachten „Licht, das uns leuchtet“, 1978 betont: „Wir feiern an Weihnachten nicht irgendeinen Geburtstag eines großen Mannes, wie es deren viele gibt. Wir feiern auch nicht einfach das ‚Geheimnis des Kindseins …‘“10, der Grund unserer Freude ist: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (1,14). Der Advent und die Weihnacht lassen uns daher die Bedeutung der Zeit erneut erleben. Sie hob Papst Johannes Paul II. im Hinblick auf die immer mehr näherrückende Zeitenwende in seinem Apostolischen Schreiben Tertio millennio adveniente (Nr. 10) besonders hervor: „Im Christentum kommt der Zeit eine fundamentale Bedeutung zu. Innerhalb ihrer Dimension wird die Welt erschaffen, in ihrem Umfeld entfaltet sich die Heilsgeschichte, die ihren Höhepunkt in der Fülle der Zeit der Menschwerdung und ihr Ziel in der glorreichen Niederkunft des Gottessohnes am Ende der Zeiten hat. In Jesus Christus, dem fleischgewordenen Wort, wird die Zeit Ratzinger, a. a. O., S. 247 f. Joseph Kardinal Ratzinger, Licht, das uns leuchtet, Besinnungen zu Advent und Weihnachten, Freiburg i.Br. 1978, S. 42 f. 9

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zu einer Dimension Gottes, der in sich ewig ist. Mit dem Kommen Christi beginnt die Endzeit (vgl. Heb. 1,2), die ‚letzte Stunde‘ (vgl. Joh. 2,18), beginnt die Zeit der Kirche, die bis zu seiner Wiederkunft dauern wird. Aus diesem Verhältnis Gottes zur Zeit entsteht die Pflicht, sie zu heiligen.“ Wie diese Aufgabe, nämlich die Zeitverantwortung, erfüllt werden kann, hat Joseph Kardinal Ratzinger glaubwürdig vorgelebt, nämlich würdig zum Glauben und würdig den anderen den Weg zum Glauben zu weisen. Für dieses sein wegweisendes Wirken sei ihm heute gedankt mit dem Wunsch: ad multus annos.

Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus Ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikts XVI.* „Das Abendland geht … gar nicht zugrunde an den totalitären Systemen … und auch nicht an seiner materiellen Verarmung …, sondern an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Begriffen.“1 Diesen Satz hat vor Jahrzehnten in der Nachkriegszeit anläßlich der ersten Berliner Blockade der Schriftsteller und Arzt Gottfried Benn geschrieben. Er hat unabhängig vom Anlaß, aus dem er entstand, auch heute noch grundsätzliche Bedeutung und gilt ganz besonders für den Begriff der Demokratie!

I. Zur Problematik der Demokratie Fast kein Begriff wurde in all den Zeiten soviel ge- und mißbraucht wie der der Demokratie, und diese Tatsache hat zunehmend an Bedeutung gewonnen. In Übersetzung der beiden zusammengesetzten griechischen Worte „demos“, das Volk, und „kratein“, herrschen, bedeutet Demokratie Volksherrschaft. Der Begriff, welcher eine eigene Bedeutungsgeschichte hat, dürfte im Peloponnesischen Krieg entstanden sein.2 Unter Bezug auf den griechischen Stadtstaat wird diese Demokratie meist vorbildlich dargestellt mit der direkten, nämlich plebiszitären, Demokratie gleichgesetzt sowie als eine Identität von Herrscher und Beherrschten verstanden. Dabei wird aber meist übersehen, daß die Identität in der griechischen Polis, wie man bei Leopold Ranke nachlesen kann,3 nicht für alle Einwohner der Polis, sondern nur für den kleinen Teil der vollberechtigten Bürger gegeben war. Die griechische Demokratie war daher in Wahrheit eine Oligarchie auf teildemokratischer Basis. Jean Jacques Rousseau wollte nach eigener Aussage die Idee der Demokratie nur * Gastvorlesung gehalten am 17. März 2006 an der Päpstlichen Theologischen Fakultät in Wroclaw (Breslau), veröffentlicht in: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 12. Mai 2006, Nr. 19, S. 10 und 19. Mai 2006, Nr. 20, S. 9 f. 1 Gottfried Benn in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Walter Lennig, Rowohlt 1962, S. 135. 2 Thukydides, III, 82 und II, 65. 3 Leopold Ranke, Weltgeschichte, 1. Teil. Die älteste historische Völkergruppe und die Griechen, 3. Aufl., Leipzig 1883, S. 261 ff.

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auf einen Kleinstaat von der Größe Korsikas bezogen wissen. Er hat es aus diesem Grunde auch abgelehnt, nach seinen Ideen eine polnische Verfassung zu entwerfen.4 Die Problematik der Demokratie liegt, wie aus der politischen Geschichte ersichtlich ist, darin, daß diese Idee, die von Rousseau für einen Kleinstaat gedacht war, später auf einen großen Flächenstaat mit einer Massengesellschaft pluralistischer Prägung angewandt und nahezu unkritisch vom politischen Bereich auf andere Bereiche – wie Bildung, Kultur, Religion, Wirtschafts- und Sozialordnung – als Forderung übertragen wurde, wodurch Verzerrungen verschiedenster Art auftraten. Die Demokratie ist ein politisches Ordnungssystem, das eine Staatswillensbildung zum Inhalt hat, die vom Einzelmenschen zum Staat gehen soll, sie ist aber keine Staatsform5, wie die Monarchie und die Republik es sind; beide können von der Demokratie als politischem Ordnungssystem geprägt sein. Die Demokratie wird zum politischen Ordnungssystem durch das positive Recht, das auf dem Wege parlamentarischer Staatswillensbildung in Gesetzesform zustande kommt und durch Einrichtungen der direkten Demokratie – wie Volksbegehren, Volksbefragung und Volksabstimmung – ergänzt, aber nicht ersetzt werden kann; andernfalls würde keine Demokratisierung, sondern eine Jakobinisierung6 die Folge sein. Das Gesetz begründet die Zuständigkeit der Organe des Staates, schreibt den Inhalt ihres Handelns vor und läßt so auch Autorität entstehen, die mit und in der Demokratie auch gegenseitige Achtung verlangt!7 Der Demokratie liegt die Idee der Freiheit, Würde und Gleichheit der Menschen zugrunde. Diese Werte haben daher eine präpositive Bedeutung d. h. sie sind dem Staat vorgegeben, er hat sie vorgefunden. Ohne diese präpositiven Werte wäre eine Demokratie und damit eine Staatswillensbildung gar nicht möglich, denn sie ermöglichen erst – unter anderem – das für die Demokratie so wichtige Wahlrecht. Aufgrund dieser Vorgegebenheit bedürfen sie ihrer Anerkennung. Dies geschieht im Staat der Gegenwart durch das Verfassungsrecht. 4 Jean Jacques Rousseau, Considérations sur le gouvernement de Pologne, siehe dazu Winfried Martini, Das Ende aller Sicherheit, Stuttgart 1955, S. 41 u. 345, Fußnote 24 sowie Max Imboden, Rousseau und die Demokratie, Tübingen 1963, S. 21. 5 Siehe Herbert Schambeck, Der Staat und die Demokratie, in: Geschichte und Gesellschaft, Festschrift für Karl Stadler, hrsg. von Gerhard Botz u. a., Wien 1974, S. 419 ff., Neudruck in: Herbert Schambeck, Politik in Theorie und Praxis, hrsg. von Helmut Widder, Wien / Graz 2004, S. 101 ff. 6 Siehe Winfried Martini, Das Ende aller Sicherheit – eine Kritik des Westens, Stuttgart 1955, S. 42 ff. 7 Dazu Gerhard Möbius, Autorität und Disziplin in der Demokratie, Köln und Opladen 1959 sowie Rudolf Zorn, Autorität und Verantwortung in der Demokratie, Würzburg 1960.

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Das Verfassungsrecht8 ist die normative Grundordnung des Staates, welche die Staatsorganisation in der Ausübung der Staatsgewalt in den drei Staatsfunktionen der Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung einschließlich der Gewaltenteilung sowie das Verhältnis des Einzelnen zum Staat in den Grundrechten regelt. Beide Teile gehören zusammen. Die demokratische Staatswillensbildung ist getragen vom Wahlrecht der Einzelmenschen sowie der Verfassungsmäßigkeit und Gesetzesgebundenheit des gesamten Rechtslebens. Diese Bandbreite möglicher Staatstätigkeit verlangt in der heutigen Massengesellschaft pluralistischer Prägung als Voraussetzung für die demokratische Willensbildung das System des Parlamentarismus, verbunden mit der Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit. Auf diese Weise bestimmt die jeweilige Mehrheit im Parlament das Geschehen im Staat. Dieses Geschehen im demokratischen Staat ist von mannigfachen Verantwortlichkeiten begleitet. Sie beziehen sich auf die Wahl der Parteien und ihre Kandidaten, die Organisation in eigenen Verbänden organisierter Interessen, die Willensbildung mit Entscheidungsfindung in Gesetzesform im Parlament, auf die Ernennung weisungsgebundener Beamter und unabhängiger Richter sowie auf die politische, rechtliche und finanzielle Kontrolle der Verantwortlichen des Staates. Verantwortung tragen verlangt Antwortgeben, und dafür sind Wissen und Gewissen in einer Verbundenheit erforderlich, die sich wohl am besten durch das lateinische Wort „conscientia“ ausdrücken läßt. Auf diese Verantwortung nahm auch die „Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben“ der Kongregation für die Glaubenslehre Bezug, die noch vom damaligen Präfekten Joseph Kardinal Ratzinger am 24. November 2002, dem Hochfest Christkönig, unterzeichnet wurde. Auch das Kompendium der Soziallehre der Kirche hat sich auf „die moralischen Aspekte der politischen Vertretung“ bezogen und erklärt: „In diesem Zusammenhang bedeutet eine verantwortliche Autorität auch eine mit Hilfe der Tugenden praktische Autorität, die eine Machtausübung im Geist des Dienens9 begünstigen (Geduld, Bescheidenheit, Mäßigung, Liebe, Bereitschaft zum Teilen)“.10 II. Eigenverantwortung in der Demokratie Der große Umfang der Gesellschaft und die Mehrzweckverwendung des Staates, der heute sowohl im Dienst des Rechts- und Machtzwecks als auch des Kultur8 Dazu Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945, Neudruck Darmstadt 1971. 9 Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Christifideles laici, 42. 10 Kompendium der Soziallehre der Kirche, hgb. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Vatican 2004, Freiburg i. Br. 2006, 410.

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und Wohlfahrtszwecks steht, wodurch er auch zum Kultur- sowie zum Wirtschafts- und Sozialstaat wurde und das als Rechtsstaat sein soll, verlangen nach einer Repräsentation der Menschen und nach einer Integration der Staatsgewalt, was leider nur allzuoft auf Kosten der Ethik geht.11 Der Funktionalismus tritt in den Vordergrund, und populistische Interessenvertretung gefährdet das Gemeinwohl. Auf diese Weise kann es auch zur Verletzung und später auch zur Negierung präpositiver Werte kommen, wie der Verletzung der Freiheit und Würde des Menschen, beginnend mit dem existentiellsten aller Grundrechte, dem Recht auf Leben, durch die Abtreibung. So wie den Menschen oft eine Geschichtsvergessenheit eignet und sie bisweilen nicht wissen, woher sie kommen, und sich daher mit ihrer Gegenwartsbewältigung und ihren Zukunftserwartungen schwertun, so eignet ihnen auch oft eine Seinsvergessenheit. Papst Johannes Paul II. hat 1:998 in seiner Enzyklika Fides et ratio schon darauf hingewiesen, daß „die moderne Philosophie … die Frage nach dem Sein vernachlässigt. Daraus entstanden verschiedene Formen von Agnostizismus und Relativismus, die schließlich zur Folge hatten, daß sich das philosophische Suchen im Fließsand eines allgemeinen Skeptizismus verlor … Die legitime Pluralität von Denkpositionen ist einem indifferenten Pluralismus gewichen, der auf der Annahme fußt, alle Denkpositionen seien gleichwertig. Das ist eines der verbreitetsten Symptome für das Mißtrauen gegenüber der Wahrheit, das man in der heutigen Welt feststellen kann.“12 Dieser Weg geht auf Kosten der Wahrheit und bringt höchstens „provisorische Teilwahrheiten“13 hervor. Da der demokratische Staat der Gegenwart mit seinen politischen Parteien unter dem ständigen Zeitdruck der Legislaturperioden und in dem Handeln seiner Repräsentanten in Parlament und Regierung in unaufhörlicher Zustimmungsorientiertheit steht, stehen oft nicht wenige Politiker unter populistischem Einfluß von Zeitströmungen, wozu auch gruppenspezifische Interessen treten, welche das Parlament nicht selten als „Clearinghouse“ von Gruppeninteressen erscheinen lassen. Diese politische Entwicklung des öffentlichen Lebens wird leider nur allzuoft von Menschen begleitet, welchen eine Gelegenheitsmoral und Situationsethik eignet, was sich besonders in der Situation von Ehe und Familie zeigt.14 Eigenliebe verdrängt Nächstenliebe, anstelle der Solidarität des Miteinanders treten Neben- und Gegeneinander! Diese Entwicklung an Fragwürdigem im menschlichen und zwischenmenschlichen Bereich macht das verständlich, was Max Imboden schon 1962 in seiner Siehe Herbert Schambeck, Ethik und Staat, Berlin 1986. Papst Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio, 5. 13 Ebd. 14 Siehe dazu Herbert Schambeck, Zur Bedeutung von Ehe und Familie für Gesellschaft und Staat (ein österreichischer Beitrag), Familia et vita, 9. Jahrgang, Nr. 3 / 2004, 1 / 2005, S. 185 ff. 11

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Schrift „Die politischen Systeme“ feststellte: „Was sich im sozialen Gefüge als Struktur manifestiert, ist nur der Widerschein von Vorgängen, die sich im Inneren des Menschen vollziehen. Innen und Außen sind letztlich eins. Es gibt nur eine Wirklichkeit im sozialen Zusammensein der Menschen: die aus der Erfüllung der eigenen Persönlichkeit geschaffene Beziehung zum anderen.“15 Diese Bedeutung der Eigenverantwortung des Menschen auch für die Politik ist in keinem politischen System so groß wie in der Demokratie, die im Wahlrecht dem Einzelmenschen eine Mitwirkungsmöglichkeit in der Auswahl der Gesetzgeber bietet und, wie bereits erwähnt, durch Einrichtungen der direkten Demokratie – Volksbegehren, Volksabstimmung und Volksbefragung – die Freiheit des Mandats der Abgeordneten ergänzt.16 Nach den jeweiligen Wahlgängen bestimmt der Wähler die Zusammensetzung des Parlaments und dieses in der Demokratie durch Rechtsetzung die Ordnung des Staates sowie auch die Bedingungen und die Umstände des Lebens der Bürger. Die Verantwortung des einzelnen für das Parlament und die des Parlaments für die Demokratie ist daher sehr groß. Die Individual- und Sozialethik des Menschen ist dabei von ausschlaggebender Bedeutung. Neben der Verschiedenheit der politischen Einstellungen und den beruflichen Interessen ist dabei auch die Glaubenshaltung von Wichtigkeit. Kardinaldekan Joseph Ratzinger sagte einen Tag vor seiner Wahl zum Papst, am 18. April 2005, in der Predigt während der heiligen Messe Pro eligendo Romano Pontifice in der Petersbasilika: „Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in den letzten Jahrzehnten kennengelernt, … wie viele Denkweisen … Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem wagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter … Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ‚vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen‘, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten läßt.“17

Max Imboden, Die politischen Systeme, Basel und Stuttgart 1962, S. 12. Siehe Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, Heft III, Wien / Leipzig 1925, Neudruck in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Julius Merkl und Alfred Verdross, hrsg. von Hans R. Klecatsky, René Marcic und Herbert Schambeck, Bd. 2, Wien / Salzburg 1968, S. 1661 ff., bes. S. 1667 und Herbert Schambeck, Das Volksbegehren, Tübingen 1971, Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger, Wien 2002, S. 305 ff. 17 O.R. dt., Nr. 16, 22. 4. 2005, S. 3. 15 16

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III. Parlamentarismus und Relativismus Die wechselnden Mehrheitsverhältnisse in Volksvertretungen, die sich in Gesetzesbeschlüssen mit unterschiedlicher religiöser und ethischer Relevanz zeigen, dokumentieren geradezu seismographisch diese Diktatur des Relativismus. Diese findet ihre Rechtfertigung und Legitimation in einer formal verstandenen Demokratie und ihrem Parlamentarismus. Ihr liegt eine meist wertneutrale Verfassung zugrunde, welche oft nur die Rechtswege, aber keine Rechtsziele angibt, sie ist daher auch mit jedem politischen Ordnungssystem, sei es autoritär oder demokratisch begründet, vereinbar. Die Weltanschauung dieser Demokratie scheint der Relativismus zu sein, betont auch Hans Kelsen am Schluß seiner Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ und verweist auf das 18. Kapitel des Johannesevangeliums, in dem bekanntlich Pilatus auf seine Frage an das Volk, wen sie frei haben wollen, als Antwort „Barabbas“ bekam. „Der Chronist aber fügt hinzu“, hebt Kelsen hervor, „Barabbas war ein Räuber.“18 Joseph Kardinal Ratzinger hat sich mit dieser formal verstandenen Demokratie Kelsens und diesem Relativismus auseinandergesetzt.19 Für Ratzinger ist durch den Relativismus der Demokratie „der Begriff der Wahrheit … in die Zone der Intoleranz und des Antidemokratischen gerückt. Sie ist kein öffentliches, sondern nur ein privates Gut bzw. ein Gut von Gruppen, aber eben nicht des Ganzen“.20 Treffend erkennt er: „Demokratie wird demgemäß nicht inhaltlich, sondern rein formal definiert: als ein Gefüge von Regeln, die Mehrheitsbildung, Machtübertragung und Machtwechsel ermöglichen.“21 Dies führt dann auch für ihn zu einem Recht, bei dem „im Grunde zuletzt die Macht des Stärkeren“22 zählt. Der Weg hierzu führt vom Rationalismus über den Liberalismus und Positivismus zum Nihilismus, der von einem Zynismus begleitet wird.“23 „Freiheit“, hob Ratzinger hervor, „kann sich selbst aufheben, ihrer selbst überdrüssig werden, wenn sie leer geworden ist. Auch dies haben wir in unserem Jahrhundert erlebt, daß ein Mehrheitsentscheid dazu dient, die Freiheit außer Kraft zu setzen. Dieser Gefahr müssen wir entgegentreten, wenn es um die Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte geht.“24 Autoritäre und totalitäre Regime, wie der Kommunismus und der Nationalsozialismus haben Millionen Menschen auf diese Weise zunächst die Freiheit und herHans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 104. Siehe Joseph Kardinal Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht, Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, 3. Aufl., Freiburg im Breisgau 1993, S. 65 ff., bes. S. 70 ff. und Herbert Schambeck, Fede, Stato e Democrazia: un contributo sul confronto tra il Cardinale Joseph Ratzinger e Hans Kelsen, Alla Scuola della Verità, Settant’anni di Joseph Ratzinger, a cura di Josef Clemens e Antonio Tarzia, Torino 1997, S. 319 ff. 20 Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht, a. a. O., S. 67 f. 21 Ebd., S. 69 f. 22 Ebd., S. 79. 23 Vgl. ebd., S. 20. 24 Ebd. 18 19

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nach das Leben genommen.25 Dabei vergesse man nicht, wie viele dieser politischen Systeme unter Wahrung der Verfassungs- und Rechtskontinuität sowie oft im Namen der Demokratie zur Macht gelangt sind. Daraus gilt es zu lernen, um die Zielrichtung von Worten und die Wertigkeit von politischen Programmen zu beurteilen. Im Hinblick auf die Erfordernisse der Menschlichkeit, Freiheitssicherung und Gemeinwohlgerechtigkeit sei an das Apostolische Schreiben Octogesima adveniens26 Papst Pauls VI. von 1971 sowie an die Lehräußerungen Papst Johannes Pauls II. erinnert, von denen Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Deus caritas est als einer „Trilogie von Sozial-Enzykliken“27 spricht, nämlich Laborem exercens (1981), Sollicitudo rei socialis (1987) und Centesimus annus (1991), womit die Tradition des seligen Papstes Johannes XXIII. mit seinen Enzykliken Mater et magistra (1961) und Populorum progressio (1967) fortgesetzt wurde.28 Diese Sozialenzykliken sind besondere Sozialgestaltungsempfehlungen29 an die Verantwortlichen im Staat und damit besonders auch in der Demokratie an ihre Repräsentanten und Repräsentierten! Dabei betrachtet auch Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika „die Verfolgung der Gerechtigkeit und die „Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips“ als „Grundprinzip des Staates … und … Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung“.30 Man muß aber in der Ausführung von Grundprinzipien des Staates und bei der Beachtung der Sozialgestaltungsempfehlung der katholischen Soziallehre zur Kenntnis nehmen, daß nach den jeweiligen Umständen oft unterschiedliche Möglichkeiten für deren Konkretisierung gegeben sein können. Dazu hat bereits das II. Vatikanische Konzil in seiner Pastoralkonstitution Gaudium et spes festgehalten: „Oftmals wird gerade eine christliche Schau der Dinge ihnen eine bestimmte Lösung in einer konkreten Situation nahelegen. Aber andere Christen werden vielleicht, wie es häufiger, und zwar legitim, der Fall ist, bei gleicher Gewissenhaftigkeit in der gleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen“31 und dazu erklärt, es „müßte doch klar bleiben, daß in solchen Fällen niemand das Recht hat, die Autori25 Stéphané Courtois, Nicolas Werth, Jean-Louis Panne, Andrzei Paczkowski, Karel Bartosek, Jean-Louis Margolin, Das Schwarzbuch des Kommunismus, Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München / Zürich 1998; Franciszek Piper, Die Zahl der Opfer von Auschwitz, Oswiecim 1993; Täter-Opfer-Folgen, der Holocaust in Geschichte und Gegenwart, Heiner Lichtenstein, Otto R. Romberg (Hrsg.), 2. Aufl., Bonn 1997; Die Opfer der Diktaturen nicht vergessen, Erinnerungspolitische Arbeit der Friedrich Ebert-Stiftung, Bonn 3 / 2003. 26 Papst Paul VI., Enzyklika Octogesima adveniens 1971. 27 Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 27. 28 Siehe dazu Texte zur katholischen Soziallehre, die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Oswald von Nell- Breuning SJ. und Johannes Schasching SJ., Bornheim-Kevelaer 1992. 29 Beachte dazu Roland Minnerath, Pour une éthique sociale universelle, la Proposition catholique, Paris 2004. 30 Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, Nr. 26. 31 Gaudium et spes, 43.

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tät der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen“.32 Ohne einem falschen Relativismus zu verfallen, kommt es darauf an, in einer solchen Situation ausgewogen in der Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung zu einer politischen Entscheidung zu gelangen, die unter Erwägung der zeitlichen und örtlichen Umstände gemeinwohlgerecht und damit human in der Politik eine demokratische Entscheidung für das Recht findet, die als christlich bezeichnet werden kann. Staat und Kirche sowie Politik und Glaube bestehen nebeneinander, sie sind nicht ident und können es auch nicht sein, wohl aber können sie in gegenseitiger Beachtung und Ergänzung einen Dienst am Menschen leisten33. Die Kirche kann mittels des Glaubens zur Heilsfindung der Menschen sowie auch zu ihrer Persönlichkeitsentfaltung und der Staat mit seiner Politik zur Rechtssicherheit beitragen, die dem kulturellen Fortschritt, dem wirtschaftlichen Wachstum und der sozialen Sicherheit im Rahmen des ihm Möglichen zugute kommen können. Papst Benedikt XVI. kennt und nennt diese jeweilige Verantwortung: „Genau hier ist der Ort der Katholischen Soziallehre anzusetzen: … Sie will auch nicht Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Glauben zugehören, denen aufdrängen, die diesen Glauben nicht teilen. Sie will schlicht zur Reinigung der Vernunft beitragen und dazu helfen, daß das, was recht ist, jetzt und hier erkannt und dann auch durchgeführt werden kann“.34 Deutlich erklärt Papst Benedikt XVI.: „Die Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist. Und sie weiß, daß es nicht Auftrag der Kirche ist, selbst diese Lehre politisch durchzusetzen: Sie will der Gewissensbildung in der Politik dienen und helfen.“35 Mit dem Glauben und der Vernunft sucht die Kirche den Menschen den Weg zu weisen, um dem Relativismus zu begegnen und den Sinn des Lebens sowie die im Sein grundgelegte Ordnung erkennen zu lassen. Joseph Kardinal Ratzinger hat es schon betont, „daß die Kraft des Christentums, die es zur Weltreligion werden ließ, in seiner Synthese von Vernunft, Glaube und Leben bestand“36; sie vermag auch dem Relativismus zu begegnen, zu welchem Ratzinger feststellte, daß er „in gewisser Hinsicht geradezu die Religion des modernen Menschen geworden ist“.37

Ebd. Siehe Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 28 f. sowie u. a. Kirche und Staat, Fritz Eckert zum 65. Geburtstag, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1976, darin besonders: Heribert Franz Köck, Kirche und Staat – Zum Problem der Kompetenzabgrenzung in einer pluralistischen Gesellschaft, S.77 ff. und Herbert Schambeck, Kirche und Demokratie, S. 103 ff. 34 Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 28. 35 Ebd. 36 Joseph Kardinal Ratzinger, Glaube Wahrheit Toleranz, das Christentum und die Weltreligionen, 3. Aufl., Freiburg / Basel, 2004, S. 141. 37 Ebd., S. 69. 32 33

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IV. Wegweisungen der Kirche Dieser mit der Demokratie verbundene Relativismus ist trügerisch. Er scheint, wie viele annehmen, Freiräume der politischen Entscheidung anzubieten, aber nicht überall, sondern nur dort, wo sie mit der Freiheit, Würde und Gleichheit der Menschen im Rahmen des Möglichen vereinbar sind. Das gilt vor allem für die Rechts-, Sozial- und Wirtschaftssystem der einzelnen Staaten. Hier können die katholische Kirche mit ihrer Soziallehre im Allgemeinen und die päpstlichen Lehrmeinungen mit ihren Sozialgestaltungsempfehlungen im Besonderen wegweisend sein. Dabei darf aber die Kirche, wie Papst Benedikt XVI. feststellt, „nicht den politischen Kampf an sich reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft zu verwirklichen. Sie kann und darf nicht sich an die Stelle des Staates setzen. Aber sie kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben. Sie muß auf dem Weg der Argumentation in das Ringen der Vernunft eintreten, und sie muß die seelischen Kräfte wecken, ohne die Gerechtigkeit, die immer auch Verzichte verlangt, sich nicht durchsetzen und nicht gedeihen kann“.38 Wir wissen, daß Rechtlichkeit Gerechtigkeit und diese auch Menschlichkeit verlangt. Bereits Blaise Pascal, der bekanntlich ein bedeutender Mathematiker und gleichzeitig ein ebenso bedeutender Philosoph war, hat darauf hingewiesen, wie schon Alfred Verdross betonte, daß es neben dem messenden und wägenden Verstand auch das Herz („le cœur“) gibt; darunter versteht er nicht das bloße Gefühl, absondern das, was wir heute das Wertbewußtsein nennen“.39 In diesem Sinne erklärte Pascal im Fragment 282 seiner Pensées: „Wir erkennen die Wahrheit nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch das Herz. In der letzteren Form erkennen wir die ersten Prinzipien, und umsonst versucht die Überlegung der Vernunft, die an ihnen keinen Anteil hat, sie in Frage zu ziehen. Die Skeptiker haben kein anderes Ziel, aber sie mühen sich umsonst …“. Pascal unterschied bekanntlich auch zwei Betrachtungsweisen, nämlich den geometrischen Geist, der abstrakt logisch vorgeht, und den „esprit de finesse“. In diesem Sinne schrieb er auch im Fragment 277 „le cœur a ses raisons, que la raison ne connait point“. In der Rechtsphilosophie stand Pascal unter dem Einfluß des Jansenismus und war der Meinung, daß uns nur die Offenbarung, nicht aber auch die Vernunft eindeutige Rechtsgrundsätze zeige. In diesem Zusammenhang ist auch sein Ausspruch bekannt: „Vérité en deçà des Pyrénées, erreur au delà“.40 Alle diese Gedanken verdeutlichen, daß es zur Begründung einer menschengerechten Ordnung eines Grenzen beachtenden und, wo erforderlich, auch Grenzen überschreitenden Denkens bedarf. Dazu gehört auch der Begriff „Nächster“. Papst Benedikt XVI. weist in seiner Enzyklika konkret darauf hin: Es ist dies nicht bloß Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 28. Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau, 2. Aufl., Wien 1963, S. 135. 40 Zitiert nach Verdross, a. a. O., S. 136. 38 39

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ein „Volksgenosse“, sondern: „Jeder, der mich braucht und dem ich helfen kann, ist mein Nächster. Der Begriff ‚Nächster‘ wird universalisiert und bleibt doch konkret. Er wird trotz der Ausweitung auf alle Menschen nicht zum Ausdruck einer unverbindlichen Fernstenliebe, sondern verlangt meinen praktischen Einsatz hier und jetzt. Es bleibt Aufgabe der Kirche, diese Verbindung von Weite und Nähe immer wieder ins praktische Leben ihrer Glieder hinein auszulegen.“41 Dieses praktische Leben bringt jedoch bei seiner Bewältigung viele Probleme mit sich, welche Ausgewogenheit verlangen und im Konkreten Entscheidungen mit Rechtskraft. Dabei muß man vor allem zweierlei erkennen: zum einen, daß im Staat unsere Gesellschaft, solange sie eine freie ist, auch eine pluralistische Gesellschaft ist, in der es nicht möglich sein kann, alle Wertvorstellungen rechtlich, besonders grundrechtlich, zu schützen. Daher ist verstehende Toleranz dem Andersdenkenden gegenüber erforderlich, die aber keine Gleichgültigkeit sein darf. Weiters muß man erkennen, wie schon Karl Korinek hervorhob42, daß nicht alles, was grundrechtswürdig ist, auch grundrechtsfähig ist43; das heißt, daß nicht alles, was einem wesentlich ist, sich in Rechtsformen schützen läßt. Es gibt Werte, Wünsche und Vorstellungen, die zwar der Würde der Menschen entsprechen, sich aber nicht immer rechtlich einklagen lassen, z. B. sich auf einen Mitmenschen verlassen zu können oder nicht allein sein zu müssen. Aus eigener persönlicher Erfahrung weiß ich nämlich nur zu gut, daß Alleinsein noch lange kein bloßes Ruhe-Haben ist; erfährt doch der Mensch seine Persönlichkeitsentfaltung in der Ich-Du-Beziehung. Man beachte nur Die Schriften über das dialogische Prinzip von Martin Buber, in denen er schon zu Beginn feststellt: „Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare“, und ein Grundwort ist das „Wortpaar Ich-Du“44. Diese Ich-Du-Beziehung bedarf des gegenseitigen Verstehens, erlaubt aber keine wechselseitigen Egoismen, sondern verlangt vielmehr bisweilen auch den Schutz des Du des Nächsten vor dem eigenen Ich! In ähnlicher Weise können auch bei allem Schutz von Grundwerten durch Grundrechte Reibungspunkte entstehen, wie etwa der Reibungspunkt, der zwischen dem existentiellen Grundrecht auf Umweltschutz und dem wirtschaftlichen Grundrecht des Eigentums sowie der Unternehmerfreiheit besteht. Joseph Kardinal Ratzinger hat schon in diesem Zusammenhang sogar auf „konkurrierende Menschenrechte, etwa im Fall des Gegeneinanders zwischen Freiheitswillen der Frau und dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes“45 verwiesen. Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 15. Karl Korinek, in: Fragen des sozialen Lebens, 3. Band, Wien 1967, S. 97. 43 Beachte dazu Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Berlin 1970, S. 35 ff. 44 Martin Buber, Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954, S. 7. 45 Joseph Kardinal Ratzinger, Europa in der Krise der Kulturen, in: Marcello Pera, Joseph Ratzinger, Ohne Wurzeln – Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005, S. 70. 41 42

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V. Vermenschlichung der Staatsordnung Ausgewogenheit ist bei den Grundrechten und ihrem Rechtsschutz vor allem im Hinblick auf das ihnen gemeinsam zugrunde liegende Menschenbild und die Dimensionen der Freiheit, die es begleiten, von Wichtigkeit46. So sind die liberalen Grundrechte auf eine Freiheit vom Staat, die demokratischen Grundrechte auf eine Freiheit im Staat und die sozialen Grundrechte auf eine Freiheit durch den Staat gerichtet. Dazu ist es aber erforderlich, die einzelnen Grundrechte in der ihnen adäquaten Rechtsform zu schützen, wozu es vier Grundrechtsformen gibt, nämlich das subjektiv öffentliche Recht, den Programmsatz, die Organisationsvorschrift und die Einrichtungsgarantie47. Gerade bei der Mehrzweckverwendung des heutigen Staates, von dem in gleicher Weise kultureller Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit erwartet wird sowie das alles mit der möglichsten Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des demokratischen Rechtsstaates, der dabei also auch Kultur-, Wirtschaftsund Sozialstaat zugleich sein soll, kommt es immer darauf an, die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des Staates sowie seines positiven Rechts zu bedenken. Das verlangt im demokratischen Verfassungsstaat auch die Ausgewogenheit von Möglichkeiten der direkten und indirekten Demokratie: Plebiszitäre demokratische Verfassungseinrichtungen müssen die repräsentativen ergänzen und dürfen sie nicht ersetzen, denn dies würde, wie bereits betont, nicht zu einer Demokratisierung, sondern zu einer Jakobinisierung des Staates führen.48 In gleicher Weise kommt es bei der Mehrzweckverwendung des Staates darauf an, daß er nicht alle Aufgaben selbst erfüllt, die das Gemeinwohl für den einzelnen verlangt, sondern an dieser Aufgabenerfüllung neben Organen des Staates auch solche der Gesellschaft und Private teilnehmen läßt49. Auch Aufgabenteilung kann zur Vermenschlichung der Staatsordnung beitragen! Sie erlaubt auch ein Maß an Teil der Macht im Staat und ermöglicht damit eine weitere Kontrolle. Auch gemeinwohlgerechte Kontrolle kann der Diktatur des Relativismus begegnen! Dazu treten auch die Möglichkeiten der Teilung50 und der gegenseitigen Kontrolle der drei Staatsfunktionen, nämlich der Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und

46 Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Gedanken zur europäischen Sozialordnung, Berlin 1969, S. 17 ff. 47 Ebd., S. 95 ff. 48 Beachte Martini, a. a. O. 49 Siehe Hans Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben, Festschrift für Hans Carl Nipperdey, 2. Band, München / Berlin 1965, S. 877 ff. 50 Siehe Oskar Werner Kägi, Zur Entstehung Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips, Zürich 1937 und Herbert Schambeck, Zur Idee und den heutigen Formen der Gewaltenteilung im Staat, Zeitschrift für Schweizerisches Recht, N.F. Band 115, 1. Halbband, Heft 5, Band 137 der gesamten Folge, 1996, S. 423 ff., Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 141 ff.

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Verwaltung der Beamten und Politiker, des Parlaments, der Staatswillensbildung und der öffentlichen Meinungsbildung, der Staats- und Selbstverwaltung sowie im Bundesstaat die des Bundes und der Länder. Beim Föderalismus kommt es darauf an, daß er sich nicht in Partikularismus und Separatismus verliert51; er verlangt besonders die Beachtung der Hauptgrundsätze katholischer Soziallehre, nämlich der Solidarität und der Subsidiarität, auf die auch Joseph Kardinal Ratzinger immer wieder hingewiesen hat (vgl. auch Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est; Nr. 26). Diese Hinweise zeigen, daß die von der Kirche vertretenen Grundsätze nicht bloß christliche Sonderansichten sind, sondern auf vernünftige Einsichten in die Seinsordnung zurückgehen und allen Menschen zugute kommen. So erklärte Joseph Kardinal Ratzinger: „Und in der Tat – der Dekalog ist nicht ein Sonderbesitz der Christen oder der Juden. Er ist ein höchster Ausdruck moralischer Vernunft, der sich als solcher weithin auch mit der Weisheit der anderen Kulturen trifft“.52 Viele Grundrechte, wie die der Freiheit, Würde und Gleichheit der Menschen, sind das Ergebnis der Säkularisation alten Gedankengutes der Christen. Jürgen Habermas bezeichnet in diesem Zusammenhang „die Übersetzung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in die gleiche und unbedingt zu achtende Würde aller Menschen“ als „rettende Übersetzung. Sie erschließt über die Grenzen einer Religionsgemeinschaft hinaus den Gehalt biblischer Begriffe einem allgemeinen Publikum von Andersgläubigen und Ungläubigen“.53 Dies sollten auch Menschen, die nicht glauben, vermehrt anerkennen, da es ihnen doch auch zugute kommt. Habermas hat dies auch erkannt und sogar gefordert: „Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, daß sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen.“54 VI. Präambel als Wegweisung Eine solche Gelegenheit der Übersetzung der religiösen in die öffentlich zugängliche Sprache ist in einem Staat das Verfassungsrecht als normative Grundlage der 51 Dazu Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen des Föderalismus, in: Bundesstaat heute, hrsg. von Alois Mock und Herbert Schambeck, Wien 1983, S. 82 ff., insbes. S. 89 f. 52 Joseph Kardinal Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs – die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg / Basel / Wien 2005, S. 26. 53 Jürgen Habermaas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders., Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, Über Vernunft und Religion, Freiburg 2005, S. 32. 54 Ebd., S. 36.

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gesamten Rechtsordnung. Das Verfassungsrecht ist der normativrechtliche Ausdruck der Ordnung eines Staates sowie des Gewissens und der Verpflichtung eines Volkes55. Seinem Inhalt nach ist das Verfassungsrecht als Ergebnis der Staatswillensbildung eines sich konstituierenden Gemeinwesens kodifizierte Politik56. Bei dieser zur Verfassungsrechtssetzung führenden Staatswillensbildung ist die Möglichkeit gegeben, in Auseinandersetzung mit der Geschichte, Gegenwart und Zukunft eine Ordnung zu begründen, die nicht allein normiert, sondern auch den einzelnen im Staat motiviert. Dadurch können beim einzelnen Pflichten und Überzeugungen begründet werden, welche nötigenfalls auch Belastungen aushalten lassen, sowie ein Staats- und Rechtsbewußtsein entstehen lassen, das wetter- und standfest ist. Eine solche Verfassungsgesetzgebung verlangt eine Verantwortung, die bei Anerkennung der Demokratie vorausblickend auch der Gefahr einer etwaigen Diktatur des Relativismus begegnet. Einen solchen Schutz vor der Diktatur des Relativismus vermag in der Präambel einer Verfassung57 der Gottesbezug58 zu geben. Ein solcher Gottesbezug drückt die Verantwortung vor Gott und seiner Schöpfung aus. Johannes Rau sagte bereits, „daß es allen zumutbar ist, wahrzunehmen, daß wir unser Leben uns nicht selber verdanken. Das kann man in einer Verfassung mit dem Wort Gott ausdrücken. Ich halte das für richtig“59, und betont dazu, daß dies dem Denken der meisten Menschen in Europa entspricht. Präambeln haben einen Grundsatzcharakter und eine Symbolbedeutung. Sie stehen im engen Zusammenhang mit dem übrigen Verfassungstext, wenngleich sie nicht die normative Bedeutung haben wie eine verfassungsrechtliche Detailregelung. Sie vermögen aber Werte und Richtungen für das Rechtsdenken zu begründen. Sie stellen auch Sozialgestaltungsempfehlungen dar, die über das Verfassungsrecht hinaus in der übrigen Rechtsordnung auszuführen sind. Eine Präambel mit Gottesbezug drückt mit dem Schöpferglauben eine besondere Verantwortung aus, die einen präpositiven Bezug in das Verfassungsrecht aufnimmt, der die politische Willensbildung beschränkt und damit auch der Diktatur des Relativismus zu begegnen vermag. Derartiges ist der Fall beim Bonner Grundgesetz, dessen Präambel mit den Worten beginnt: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“.60 Mit dem Hinweis auf Gott wird die HöchstverBeachte dazu Paul Kirchhof, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 4. 1996, S. 6. Siehe Ulrich Scheuner, Verfassung, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, gesammelte Schriften, Berlin 1978, S. 173 sowie darin auch ders., Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen in der neueren Staatslehre, S. 45 ff. und Gesetzgebung und Politik, S. 525 ff. 57 Beachte dazu Peter Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Demokratie in Anfechtung und Gewährung, Festschrift für Johannes Broermann, hrsg. von Joseph Listl und Herbert Schambeck, Berlin 1982, S. 212 ff., bes. S. 231 ff. und ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., Berlin 1998, S. 951 ff. 58 Näher Herbert Schambeck, Gott und das Verfassungsrecht, in: O.R. dt., Nr. 3, 16. 1. 2004, S. 12. 59 Johannes Rau, Alles, was unser Leben ausmacht, Exklusivinterview, in: Unsere Kirche, evangelische Wochenzeitung für Westfalen und Lippe, Nr. 17, 20. – 26. 4. 2003, S. 11. 55 56

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antwortung betont, die jedem Menschen in bezug auf die Ordnung des privaten und öffentlichen Lebens zukommt, ohne daß, wie Alexander Hollerbach schon hervorhob, „die Bürger verpflichtet sind, an Gott zu glauben“.61 Auch Ungläubigen steht der Schutz durch diese „Invocatio Dei“ offen. Sehr deutlich wird dies in der Verfassung Polens von 1997, in deren Präamel sowohl diejenigen genannt werden, „die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten“.62 Im Hinblick auf das abendländische Rechtsdenken63 ist der Hinweis auf Gott in einer „Invocatio Dei“64 deshalb von einer grundlegenden Bedeutung, die über eine Deklaration hinausgeht, weil sie die Begründung der Menschenwürde ermöglicht, welche in der christlichen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit der Menschen gegeben ist.65 „Invocatio Dei“, „Imago Dei“ und „Dignitas humana“ stehen daher in einem engen Zusammenhang. Vorbildlich und wegweisend ist dies im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in dem bereits im Art. 1 „Die Würde des Menschen“ an den Beginn der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland nach der Präambel gesetzt wird. Er lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“ Diese Bestimmung zählt nach Art. 79(3) GG auch zu den Verfassungsbestimmungen Deutschlands, deren Änderung unzulässig ist. Eine solche Wertigkeit ist aber nicht gegeben, wenn eine Staatsrechtsordnung wie die Österreichs,66 von einem Rechtspositivismus gekennzeichnet ist, in dem zwar die Rechtswege, aber keine Rechtsziele und keine Werteaussagen enthalten sind. So beinhaltet das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) 1920 keinen eigenen Grundrechtskatalog; dieser wurde 1920 aus der sogenannten Dezemberverfassung 186767 aus dem Staatsrecht der Monarchie in das der neuen Republik Öster-

Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., München 2005, S. 57. Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Bd. VI, Heidelberg 1989, S. 518. 62 Herwig Roggemann (Hrsg.), Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, Einführung und Verfassungstexte mit Übersichten und Schaubildern, Berlin 1999, S. 675. 63 Siehe Verdross, a. a. O. 64 Beachte dazu Werner Weinholt, Gott in der Verfassung, Studien zum Gottesbezug in Präambeltexten der deutschen Verfassungstexte des Grundgesetzes und der Länderverfassungen seit 1945, Frankfurt am Main 2001. 65 Dazu Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung. Festschrift für Willi Geiger zum 68. Geburtstag, hrsg. von Gerhard Leibholz u. a., Tübingen 1974, S. 221 ff., Neudruck in: derselbe, Ethik und Gesellschaft, Aufsätze 1965 – 1974, Köln 1975, S. 13 ff. 66 Siehe u. a. Ludwig Adamovich, Bernd-Christian Funk, Gerhard Holzinger, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1: Grundlagen, Wien / New York 1997, Bd. 2: Staatliche Organisation, Wien / New York 1998, Bd. 3: Grundrechte, Wien / New York 2003. 60 61

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reich übernommen. Dieses Staatsgrundgesetz über allgemeine Rechte der Staatsbürger68 verwendet, wie auch später das B-VG, den Begriff Grundrecht und den der Würde des Menschen an keiner Stelle! Es gehen aber der Verfassungsgerichtshof und der Oberste Gerichtshof in Österreich davon aus, daß die Menschenwürde einen „ungeschriebenen ‚allgemeinen Wertungsgrund‘“69 in der österreichischen Rechtsordnung darstellen. Diese Verbundenheit von Gottesbezug, Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde kann die Grundlage für eine humane Ordnung des Staates durch das positive Recht bieten. Es wird nämlich dadurch an den Gesetzgeber ein begründeter Ordnungsanspruch durch die Verfassung gestellt, der mit diesem materialen Verfassungsverständnis70 in der Rechtsordnung dem Gesetzgeber für seine Rechtssetzung eine Abgestimmtheit von Gesetzmäßigkeit und Menschlichkeit vorgibt! Dadurch kann dem Relativismus in der Politik und somit auch der Diktatur des Relativismus durch den Parlamentarismus, dessen Wollen durch ein solches Verfassungsrecht Grenzen gesetzt werden, begegnet werden! Diese Hinweise sind nicht bloß von theoretischer, sondern vielmehr auch von praktischer Bedeutung, denn sie verlangen ein Mindestmaß an Rechtsschutz für den Menschen im Hinblick auf seine dann im Verfassungsrecht anerkannte und durch dieses geschützte Menschenwürde. Dies gilt für das ganze Leben vom ersten Augenblick der Empfängnis bis zum natürlichen Tod71 und verbietet die Abtreibung,72 das Klonen,73 die Todesstrafe und die aktive Sterbehilfe in gleicher Weise. Noch weitere aktuelle Beispiele ließen sich nennen, sie können alle zeigen, daß es sich um Rechtsgebiete handelt, die sich auf Rechtsgüter beziehen, die nicht bloß Gläubigen, sondern allen Menschen zugute kommen; ihnen allen kommt der Hinweis auf die Menschenwürde, ihre Erklärung und ihr Schutz zugute, ob sie diese in der Gottesebenbildlichkeit der Menschen gläubig anerkennen oder nicht. Auf diese Weise leis67 Die österreichischen Verfassungsgesetze; hrsg. von Edmund Bernatzik, 2. Aufl., Wien 1911, S. 390 ff. 68 RGBl. Nr. 142. 69 Vf.Slg. 13.635 / 1993; OGH 14.4.1994, 10 Ob 501 / 94, Juristische Blätter 1995, Heft 1, S. 46 ff.; Walter Berka, Lehrbuch Grundrechte, Wien / New York 2000, S. 80; siehe dazu Klaus Burger, Das Verfassungsprinzip der Menschenwürde in Österreich, Frankfurt am Main 2002 und Karl Heinz Auer, Das Menschbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, Wien 2005. 70 Beachte dazu Karl Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, Wien / New York 2000. 71 Papst Johannes Paul II., Botschaft an den Präsidenten der Päpstlichen Akademie für das Leben, in: O.R. dt., Nr. 9, 4. 3. 2005, S. 7. 72 Siehe Wolfgang Waldstein, Das Menschenrecht zum Leben, Beiträge zu Fragen des Schutzes menschlichen Lebens, Berlin 1982. 73 Beachte dazu Juan de Dios Vial Correa-Elio Sgreccia, The dignity of human procreation and reproductive technologies: anthropological and ethical aspects. Proceedings of the tenth assembly of the Pontifical Academy of Life, Vatikanstadt 2004 und Jens Kersten, Das Klonen von Menschen, eine verfassungs-, europa- und völkerrechtliche Kritik, Tübingen 2004.

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tet das Christentum mit seiner Lehre einen Beitrag, der allen Menschen von Wert und Nutzen ist! Man muß aber dabei bedenken, daß der Schutz der Menschenwürde zeit- und ortsbedingt ist sowie von Staat zu Staat verschieden sein kann. Das zeigt sich im Vergleich der Verfassungen und politischen Systeme in den verschiedenen Erdteilen und Staaten. Sie machen nämlich unterschiedliche kulturelle, politische, rechtliche, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen durch, die sich auch im Verfassungsrecht und mit diesem in der jeweiligen gesamten Rechtsordnung ausdrücken. Die jeweilige Schutzbedürftigkeit der Menschen verlangt einen entsprechenden Rechtsschutz sowie ein entsprechendes Rechts- und Verfassungsbewußtsein. Mit diesen kann dem Diktat des Relativismus begegnet werden; gleichzeitig mit diesen Möglichkeiten werden aber auch deren Grenzen sowie die Eigenverantwortung der Menschen aufgezeigt. VII. Erfüllte Zeitverantwortung Der Rechtsschutz der Menschenwürde läßt damit auch in unserer Zeit deren Grenzen erkennen. Sie sind für den Staat und sein Recht überall dort gegeben, wo das positive Recht zwar die Rechtswege aufzeigt und eröffnet, deren nützendes Beschreiten aber ein unfreiwilliges Beschreiten in Selbstverantwortung verlangt, wie etwa, was die Grundlagen der Gesellschaft und mit ihr des Staates betrifft, die Ehe als eine auf Dauer ausgerichtete Lebensgemeinschaft zweier Menschen verschiedenen Geschlechtes und die Familie.74 Diese Grundlagen sind vielerorts nicht mehr gegeben. Die Zahl der alleinerziehenden, alleinverdienenden, oft auch nur teilzeitbeschäftigten Mütter nimmt nämlich eben so zu wie die Zahl der Scheidungen und Lebenspartnerschaften auf Zeit und die Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Personen. Sie sind alle Zeichen einer Gelegenheitsmoral und Situationsethik! Zu dieser Zeitentwicklung, die zum Relativismus beiträgt, seien zwei Ehrendoktoren der Päpstlichen Theologischen Fakultät von Wroclaw zitiert, nämlich Papst Benedikt XVI. und Joachim Kardinal Meisner. Papst Benedikt XVI. erklärte am 27. Februar 2006 in seiner Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie für das Leben: „Wir haben unsere Kenntnisse enorm verbessert und die Grenzen unserer Unwissenheit zutreffender festgestellt; aber für den menschlichen Verstand scheint es schwierig geworden zu sein, sich klarzumachen, daß man beim Anblick der Schöpfung auf die Spur des Schöpfers trifft …“. Er sagt, „daß uns die Forschung über so tiefgründige Themen in die Lage versetzt, die Hand Gottes zu sehen, ja beinahe zu berühren“.75 74 Dazu Apostolat und Familie, Festschrift für Opillo Kardinal Rossi, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980; Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (1981) und Kardinal Alfonso López Trujillo, Die Familie: Geschenk und Verpflichtung. Hoffnung der Menschheit. 75 O.R. dt., Nr. 10, 10. 3. 2006, S. 8.

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Diese Eigenverantwortung beginnt beim einzelnen Menschen in der Gesellschaft, die, wie auch der Familienreport der Konrad-Adenauer Stiftung zeigte, immer individualisierter wird, und wozu am 8. März 2006 in seiner Predigt Joachim Kardinal Meisner während der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Berlin erklärte: „Achtung und Respekt … lassen sich nicht nur per Gesetz erzwingen oder verordnen. Wo sie fehlen, fehlen einer Gesellschaft auch die anderen Grundlagen des Zusammenlebens. Ehrfurcht will geübt werden.“76 Dieses Erfordernis zur Bewältigung der Zeitverantwortung verlangt aber kein Einfordern nur beim Nächsten, sondern vielmehr die Selbstbesinnung bei jedem einzelnen selbst. Dafür gilt die Wegweisung einer in Breslau (Wroclaw) geborenen Glaubenszeugin, die nicht mehr den Ehrendoktortitel der hiesigen Universität erhalten konnte, weil sie für ihren Glauben ihr Leben lassen mußte, nämlich Edith Stein: „Nur zu dem, was man selber übt, kann man andere führen.“77 Mit diesen Zitaten wird Geschichte zur Gegenwart, und erfahren wir die Richtigkeit dessen, was Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben Tertio millennio adveniente 1994 zur Vorbereitung des Jubeljahres 2000 uns sagte: „Im Christentum kommt der Zeit eine fundamentale Bedeutung zu. Innerhalb ihrer Dimension wird die Welt erschaffen, in ihrem Umfeld entfaltet sich die Heilsgeschichte … aus diesem Verhältnis Gottes zur Zeit entsteht die Pflicht, sie zu heiligen“.78 Papst Johannes Paul II. hat mit diesen seinen Worten über die Zeitenwende des Jahres 2000 eine Wegweisung gegeben, welche jeden von uns veranlaßt, den Lauf der Zeit und der Geschichte zu bedenken. Gerade an einer so berühmten und traditionsreichen Fakultät in einer auch leidgeprüften Stadt ist man zu dieser Geschichts- und Zeitbetrachtung geradezu aufgerufen. Für sie gilt auch der Hinweis, den Joseph Kardinal Ratzinger in seiner Ansprache aus Anlaß der Verleihung des Ehrendoktorats der Theologie an der Päpstlichen Fakultät in Wroclaw / Breslau am 27. November 2000 gab: „Es hat die Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen etwas Ermutigendes an sich: Sie läßt uns zuversichtlich werden, daß auf dem rechten Weg ist, wer dem Wort Gottes nachgeht. … Die Geschichte zeigt uns, daß das Denken mit dem Wort Gottes immer wieder Neues bereithält und nie langweilig, nie Leerlauf wird. Wer in die Geschichte schaut, schaut nicht bloß rückwärts. Er lernt auch besser, wo es vorwärts geht.“79

O.R. dt., Nr. 13, 31. 3. 2006. S. 11. Rudolf Stertenbrink, Neuer Tag neues Leben, Edith Stein – Ihr Leben, Ihre Botschaft für heute, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1999, S. 43. 78 Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Tertio millennio adveniente. 79 Joseph Kardinal Ratzinger, Glaube und Theologie, in: Weggemeinschaft des Glaubens, Kirche als Communio, Festgabe zum 75. Geburtstag, hrsg. vom Schülerkreis, Redaktion: Stephan Otto Horn und Vinzenz Pfnür, Augsburg 2002, S. 23. 76 77

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Deutschland im Jahr 1949 und Polen im Jahr 1997 haben mit ihren jeweiligen Verfassungen nach leidvollen und opferreichen Zeiten Beispiele für das mögliche Vorwärtsgehen in der Geschichtsbewältigung gegeben. Das kann auch eine Wegweisung für die Verfassung der neuen Ordnung des sich integrierenden Europas80 werden, in dem nicht die Diktatur des Relativismus, sondern Verbundenheit von christlichem Apostolat und politischer Verantwortung gegeben sein soll, damit auf diese Weise Humanität und Solidarität in Staat und Gesellschaft zum Tragen kommen. Die Lehre von Papst Benedikt VI. leitet uns dazu an.

80 Tomaso Stenico, Giovanni Paolo II. Padre dell’Europa, Dall’Atlantico agli Urali nel segno di Cristo, Vatikanstadt 2003; Joseph Ratzinger, Europa; I suoi fondamenti oggi e domani, Turin 2004; Herbert Schambeck, Europa – eine politische, ja mehr noch eine geistige Einheit, in: O.R. dt., Nr. 19, 7. 5. 2004, S. 11.

Nächstenliebe und Gerechtigkeit als Gebote des Glaubens sowie des Rechtes Gedanken zur Enzyklika von Papst Benedikt XVI. „Deus caritas est“* Die Erkenntnis des eigenen Ichs und des Du des Nächsten zählen zu dem existentiellen Erleben des menschlichen Seins. Sie werden bewußt oder unbewußt von der Erfahrung begleitet, daß die Persönlichkeitsentfaltung des einzelnen geradezu schicksalhaft von seiner Beziehung zum Nächsten bestimmt wird. Martin Buber hat es schon in seinen „Schriften über das dialogische Prinzip“ festgestellt: „Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du.“1 In dieser Ich-Du-Beziehung erfährt der Mensch seine Seinsfindung und gleichzeitig den Sinn der Gemeinschaft. Romano Guardini beschrieb es: „Darin bewegt ein Ich sich auf das andere zu. Es blickt von sich weg auf das andere hin. Es trägt sich jenem entgegen, öffnet sich ihm. So kann jenes, wenn es die Bewegung erwidert, im Herkommen dieses sich öffnende Ich mitvollziehen und darin verstehen – und wird eben darin Offen für das erste, und macht ihm den verstehenden Mitvollzug möglich. Das ist die Sympadeia, die Liebe in einer ihrer vielen Gestalten und Grade“.2

I. Liebe und Seinsfindung Liebe ist verstehende Seinsfindung in dem Miteinander der Menschen, das individual und sozial gesehen viele Dimensionen im privaten und öffentlichen Leben hat. In einer organisierten Form erleben wir Dimensionen des Mitmenschlichen überhaupt in Freundschaft, Ehe, Orten, Regionen, Ländern, Staaten und in der Völkergemeinschaft, Kontinente umgreifend und Kulturen umfassend. Diese Beziehungen,

* Vortrag gehalten bei der 13. Vollversammlung der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften am 27. April 2007 im Vatikan, erschienen in: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 18. Mai 2007, Nr. 20, S., 10 f. und in: Charity and Justice in the Relations among Peoples and Nations, edited by Mary Ann Glendon, Juan José Llach, Marolo Sanchez Sorondo, The Pontifical Academy of Social scienes, Acta 13, Vatican City 2007, S. 27 ff. 1 Martin Buber, Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954, S. 7. 2 Romano Guardini, Vom Sinn der Gemeinschaft, Graz / Wien / München 1952, S. 43 f.

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seien sie personalen oder territorialen Ursprungs, zeugen für die Ordnung der Schöpfung. Aristoteles sprach bekanntlich von der Entelechie, von dem Telos, dem Ziel, welches das Sein in sich trägt.3 In dieser Sicht ist vom Einzelmenschen her gesehen die Persönlichkeitsentfaltung eine Form der Seinsfindung, die in der IchDu-Beziehung sowie darüber hinaus eine soziale Ausgewogenheit verlangt, für welche Nächstenliebe und Gerechtigkeit zu verwirklichende Werte sind, die für eine humane Ordnung auf allen Ebenen des sozialen Lebens von Bedeutung sind. Der Mensch, welcher religiös an die Schöpfung als von Gott geschaffene Ordnung glaubt, findet in ihr die Begründung für seine Lebensaufgabe sowie in der Verbundenheit von Gottes- und Nächstenliebe seine Wegweisung. Papst Benedikt XVI. hat dies in seiner Enzyklika „Deus caritas est“ klargestellt und erklärt, „daß Liebe nicht bloß Gefühl ist. Gefühle kommen und gehen. Das Gefühl kann eine großartige Initialzündung sein, aber das Ganze der Liebe ist es nicht … Zur Reife der Liebe gehört es, daß sie alle Kräfte des Menschseins einbezieht, den Menschen sozusagen in seiner Ganzheit integriert.“4 Er bezieht sich auf „die Begegnung mit den sichtbaren Erscheinungen der Liebe Gottes“.5 In dieser Sicht ist das Gebot der Liebe in gleicher Weise auf die Bereiche des individuellen wie sozialen Lebens bezogen; die katholische Soziallehre gibt hierzu als Sozialgestaltungsempfehlung eine Wegweisung.6 Diese Wegweisung der Kirche bemüht sich um eine humane Ordnung der Menschen, deren Würde in der Gottesebenbildlichkeit7 begründet ist. Nächstenliebe und Gerechtigkeit können Mittel zur Wahrung dieser Würde sein. Die Erfordernisse hierzu sind so verschieden, wie die Lebensbereiche, die es zu erfassen gilt, wie z. B. das Verstehen zwischen befreundeten und verehelichten Menschen, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen intellektuell und manuell Tätigen, zwischen Ländern und ihrem Staat, zwischen einem Staat und seinen Nachbarn sowie zwischen den Kontinenten in der Völkergemeinschaft. Dabei gilt es Unterschiedlichkeiten auf eine solche Weise zu verkraften, daß sie nicht zu Gegensätzlichkeiten ausarten; so ist z. B. Selbstbewußtsein des Einzelnen erforderlich zur Selbstbehauptung und Leistungsbefähigung, aber kein Egoismus. In gleicher Weise ist das Nationalbewußtsein eines Volkes verständlich, nicht aber dessen ideologisierte Steigerung zu einem Nationalismus. Auf allen Ebenen des Lebens verlangen die Nächstenliebe und die Gerechtigkeit wechselseitiges Verstehen, vor allem auch die Einsicht, daß die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo die Freiheit des Nächsten Aristoteles, Metaphysik V 1021. Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 2006, Nr. 17. 5 Papst Benedikt XVI., a. a. O. 6 Siehe Roland Minnerath, Pour une éthique sociale universelle, la Proposition catholique, Paris 2004. 7 Gen 1,26 f., 5,3 und 9,6; Psalm 8,5 – 7; dazu auch Herbert Schambeck, Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hrsg. von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier, Band I, Heidelberg 2004, S. 349 ff., bes. S. 353 ff. 3 4

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beginnt.8 Die Persönlichkeitsentfaltung des „einzelnen soll sich mit wechselseitigem Sozialverständnis in Gesellschaft, Staat und Völkergemeinschaft verbinden. Dabei verlangt, was auch Papst Benedikt XVI. hervorhebt, die katholische Soziallehre die Unterscheidung von Kirche und Staat sowie die Anerkennung der „richtigen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“, was in der Pastoralkonstitution des II. Vatikanums über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes 36, ausgedrückt wurde.9

II. Kirche und Politik Kirche und Staat sowie Glaube und Politik werden in ihrer Eigengesetzlichkeit anerkannt und aufeinander bezogen. Papst Benedikt XVI. hat es betont: Die Kirche will sich nicht mit der katholischen Soziallehre „Macht über den Staat verschaffen; sie will auch nicht Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Glauben zugehören, denen aufdrängen, die diesen Glauben nicht teilen. Sie will schlicht zur Reinigung der Vernunft beitragen und dazu helfen, daß das, was recht ist, jetzt und hier erkannt und dann auch durchgeführt werden kann. Die Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt, von dem, was allen Menschen wesensgemäß ist“.10 In seiner Ansprache an die Teilnehmer des von der Lateranuniversität veranstalteten internationalen Kongresses über das Naturrecht am 23. Februar 2007 ist Papst Benedikt XVI. auf diese Frage des Naturrechts11 näher eingegangen und stellte fest: „Das Naturrecht ist die Quelle, aus der zusammen mit Grundrechten auch sittliche Gebote entspringen, deren Einhaltung verpflichtend ist. In der derzeitigen Ethik und Rechtsphilosophie sind die Postulate des Rechtspositivismus weit verbreitet. Die Folge davon ist, daß die Gesetzgebung häufig lediglich zu einem Kompromiß zwischen verschiedenen Interessen wird.“12

8 Dies zu tun, ist die Aufgabe des Rechts, welches nach der Kantschen Formel die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen unter einem allgemeinen Gesetz vereinbar zu machen hat. Dies gilt auch und insbesondere für die heutige, vom weltanschaulichen Pluralismus geprägte Gesellschaft. Vgl. dazu Heribert Franz Köck, Recht in der pluralistischen Gesellschaft. Grundkurs über zentrale Fragen von Staat und Recht, Wien 1998, S. 125 ff. und 164 f. 9 Beachte Karl Rahner / Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 2. Aufl., Freiburg / Basel / Wien 1966, S. 482 ff.; dazu auch Wolfgang Huber, Reinigung der Liebe – Reinigung der Vernunft; zur päpstlichen Enzyklika „Deus caritas est“, in: Benedikt XVI. Gott ist die Liebe. Die Enzyklika „Deus Caritas est“, ökumenisch kommentiert, Freiburg / Basel / Wien 2006, S. 103 ff. 10 Papst Benedikt XVI., a. a. O., 28. 11 Siehe dazu Johannes Messner, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 5. Aufl., Innsbruck 1966, Neudruck Berlin 1984, sowie das Neue Naturrecht, die Erneuerung der Naturrechtslehre durch Johannes Messner, Gedächtnisschrift für Johannes Messner, hrsg. von Alfred Klose, Herbert Schambeck, Rudolf Weiler, Berlin 1985.

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Schon vor seiner Wahl hat Joseph Kardinal Ratzinger in seiner Predigt während der heiligen Messe „Pro eligendo Romano Pontifice“ am 18. April 2005 erklärt: „Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten läßt. Wir haben jedoch ein anderes Maß, den Sohn Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des wahren Humanismus“.13 Die Wahrheit dieses Humanismus ist in der Begründung der Würde des Menschen durch seine Gottesebenbildlichkeit gegeben. Der Gesetzgeber des Staates hat die Möglichkeit, diesen präpositiven Bezug in seinem Verfassungsrecht anzuerkennen, schon beginnend mit dem Gottesbezug in der Präambel und der Anerkennung der Menschenwürde im Verfassungsrecht. Dies ist beispielgebend und für viele Staaten wegweisend durch das Grundgesetz Deutschlands 1949 erfolgt; beachtenswert unter späteren Staatsrechtsordnungen auch die Verfassung Polens 1997, in deren Präambel sowohl diejenigen genannt werden, „die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten“14.

III. Christentum für alle Diese mögliche Verbundenheit von Imago Dei, Invocatio Dei und Dignitas humana wird durch das Christentum in das abendländische Rechtsdenken eingebracht,15 ermöglicht die Grundrechte als Maßstab für den Rechtsstaat16 im Allgemeinen, die Verfassungsgerichtsbarkeit17, das Völkerrecht18, das öffentliche Recht und die politische Wissenschaft19 im Besonderen.

12 Papst Benedikt XVI., Probleme und Perspektiven des Naturrechts, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 23. Februar 2007, S. 9; siehe weiters: Die Wiederkehr des Naturrechts und die Neuevangelisierung Europas, hrsg. von Rudolf Weiler, Wien 2005. 13 L’O.R. dt., 22. April 2005, S. 3; siehe dazu Herbert Schambeck, Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus, ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikt XVI., L’O.R. dt., 12. Mai 2006. S. 10 f. und 19. Mai 2006, S. 9 f. 14 Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, Einführung und Verfassungstexte mit Übersicht und Schaubildern, hrsg. von Herwig Roggemann, Berlin 1999, S. 675. 15 Alfred Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie: ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau, 2. Auflage, Wien 1963, S. 257 ff. 16 Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, hrsg. von Gerhard Leibholz, Hans Joachim Faller, Paul Mikat, Hans Reis, Tübingen 1974, S. 221 ff., Neudruck in: derselbe, Ethik und Gesellschaft, Aufsätze 1965 – 1974, Köln 1975, S. 13 ff. 17 Karl Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, Wien / New York 2000. 18 Alfred Verdroß, Die Würde des Menschen und ihr völkerrechtlicher Schutz, Schriftenreihe Niederösterreichische Juristische Gesellschaft, Heft 3, St. Pölten / Wien 1975.

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In dieser Dreiheit Gottesebenbildlichkeit, Menschenwürde und Gottesbezug überschreitet das Recht im Dienste der Humanität seine Positivität und kommt auf diese Weise durch ihre Positivierung auch all denen zugute, die zwar nicht gläubig und religiös, wohl aber an einer humanen Ordnung im Staat und der Völkergemeinschaft interessiert sind. Auch für sie gilt das wegweisende Bekenntnis des früheren deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau, der evangelischer Christ war, „daß es allen zumutbar ist, wahrzunehmen, daß wir unser Leben nicht uns selber verdanken. Das kann man in einer Verfassung mit dem Wort Gott ausdrücken. Ich halte das für richtig“.20 Man kann es auch nicht oft genug betonen, daß die Anerkennung dieser Wirkkräfte des Christentums besonders deutlich auch die Nächstenliebe und die Gerechtigkeit allen, also auch nichtgläubigen Menschen, zugute kommen. In seinem Gespräch mit Joseph Kardinal Ratzinger wußte dies Jürgen Habermas schon 2004 hervorzuheben, als er erklärte: „Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, daß sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen.“21 Eine Wegweisung zu dieser humanen Ordnung vermag die katholische Soziallehre zu geben. Sie hat sich mit eigener Tradition in Etappen entwickelt. Papst Benedikt XVI. schrieb, sie „ist stetig in der Auseinandersetzung mit den je neuen Situationen und Problemen … gewachsen.“22 IV. Katholische Sozialverantwortung Der Weg der katholischen Soziallehre mehr oder weniger beginnend mit der Sozialenzyklika Rerum novarum von Papst Leo XIII. 1891, über Mater et magistra 19 Herbert Schambeck, Die Menschenwürde im öffentlichen Recht und in der politischen Wissenschaft in: Conceptualization of the Person in Social Sciences, edited by Edmund Malinvaud and Mary Ann Glendon, The Pontifical Academy of Social Sciences Acta 11, Vatican City 2006, S. 235 ff. 20 Johannes Rau, Alles, was unser Leben ausmacht, Exklusivinterview, Unsere Kirche, Evangelische Wochenzeitung für Westfalen und Lippe, Nr. 17, 20. – 26. 4. 2003, S. 11; Herbert Schambeck, Zur Gottesfrage als Verfassungsfrage in Österreich, in: Identität und offener Horizont; Festschrift für Egon Kapellari, hrsg. von Franz Lackner und Wolfgang Mantl, Wien / Graz / Klagenfurt 2006, S. 110 ff.; sowie derselbe, Gott und das Verfassungsrecht, L’O.R. dt., 16. Januar 2004, S. 12. 21 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: derselbe / Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, Über Vernunft und Religion, Freiburg / Basel / Wien 2005, S. 36; ebd., Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001. 22 Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 27; vgl. Papst Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus 1991, Nr. 59 und Kompendium der Soziallehre der Kirche 2004, Nr. 73.

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von Papst Johannes XXII. 1961 und Laborem exercens von Papst Johannes Paul II. 1981, um nur die wichtigsten Dokumente päpstlicher Lehräußerungen zur sozialen Frage zu nennen, war im Hinblick auf die 2000 Jahre katholische Kirche zeitlich verhältnismäßig kurz, lang aber die Zeit der Verantwortungen, in der die Lehre Christi mit der Heiligen Schrift die Menschen begleitet hat. Diese katholische Soziallehre ist in Prinzipien grundgelegt – die Freiheit und Würde des Menschen, die Grundsätze der Autorität, Subsidiarität, des Gemeinwohls und der partnerschaftlichen Ordnung seien besonders genannt23 –, sie ist offen im Hinblick auf die jeweils neu entstehenden Aufgaben- und Problemstellungen. Die Globalisierung unserer Tage ist eine solche neue Herausforderung für die Soziallehre der Kirche.24 Für diese für so viele Menschen in der Welt wichtige Notwendigkeit erklärte schon Roland Minnerath: „Zu arbeiten ist am Wunschbilds einer Globalisierung, die die Menschen aus den Fesseln der Armut und der Unbildung befreit, ohne daß sie damit sogleich in neue, ebenfalls überall drängende Abhängigkeiten kommen, wie etwa in den – als werte- und normenfrei geltenden – Nihilismus, in das Diktat des Marktes, in die verschwommene Sicht des Einheitsdenkens.“25 So wie es kein Einheitsdenken für alle Menschen auf Grund der Unterschiedlichkeit ihrer Fähigkeiten, Einstellungen, Erwartungen, Interessen und Voraussetzungen geben kann, kann es auch keine für alle und überall gleich gültige Regelungen in der Kultur-, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftspolitik geben, wohl aber auf eine menschengerechte Ordnung ausgerichtete Grundsätze, die einer jeweils zeit- und ortsbedingten Ausführung durch Laien in Eigenverantwortung bedürfen. Letztere betonte Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika, als er feststellte: „Die Kirche kann nicht und darf nicht den politischen Kampf an sich reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft zu verwirklichen. Sie kann und darf nicht sich an die Stelle des Staates setzen. Aber sie kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben. Sie muß auf dem Weg der Argumentation in das Ringen der Vernunft eintreten, und sie muß die seelischen Kräfte wecken, ohne die Gerechtigkeit, die immer auch Verzichte verlangt, sich nicht durchsetzen und nichts gedeihen kann. Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muß von der Politik geschaffen werden. Aber das Mühen um die Gerechtigkeit geht sie zutiefst an.“26 Dazu erinnert er: „Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte … Immer wird es Leid geben, das Tröstung und Hilfe braucht. Immer wird es Einsamkeit geben.“27 Dimensionen der Menschlichkeit werden von Papst Benedikt XVI. mit den Erfordernissen der Ordnung im Staat und durch das Recht in Verbindung gesetzt und Joseph Kardinal Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 8. Aufl., Kevelaer 1983. The Governance of Globalization, edited by Edmund Malinvaud und Louis Sabourin, The Pontifical Academy of Social Sciences Acta 9, Vatican City 2004. 25 Roland Minnerath, Die Globalisierung: neue Herausforderungen für die Soziallehre der Kirche, in: Identität und offener Horizont, S. 775. 26 Papst Benedikt XVI., a. a. O., Nr. 28. 27 Papst Benedikt XVI., a. a. O. 23 24

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damit auch die Verantwortung für die Verwirklichung der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit verdeutlicht. Auf diese Weise wird ein Gebot des Glaubens, nämlich die Nächstenliebe, mit dem des Rechtes, nämlich der Gerechtigkeit, in Verbindung gebracht.

V. Entwicklungshilfe Das Recht in normativer Form der Ordnung des Staates besteht in generell abstrakten Rechtssätzen, die im Stufenbau der Rechtsordnung28 auf dem Weg der Verfassungskonkretisierung in individueller Form für den einzelnen verwirklicht werden sollen. Das Gebot des Glaubens, nämlich die Nächstenliebe, macht daher durch das Recht auf dem Weg zum einzelnen eine Transformation durch. Vom Gesetzgeber generell gedacht, muß das Gebot der Nächstenliebe konkret verwirklicht werden. Das religiös begründete Gebot der Nächstenliebe soll im Bereich der öffentlichen Ordnung, der über den Bereich des Staates in den der Völkergemeinschaft reichen kann und muß, verwirklicht werden und auch dem einzelnen zugute kommen. Die Gerechtigkeit im formellen Sinn zu verwirklichen verlangt im Bereich positiven Rechts, verfassungs- und gesetzmäßig vorzugehen. Die Politiker in der Gesetzgebung und der Vollziehung haben hierzu die Verantwortung, auf dem Weg demokratischer Staatswillensbildung die Voraussetzungen zu schaffen. Wieweit in der konkreten Rechtsanwendung Nächstenliebe und Gerechtigkeit auch im materiellen Sinn verwirklicht werden können, verlangt eine Einzelentscheidung. Man denke daher auf weltweiter Ebene an die Entwicklungshilfe und an die wegweisende Enzyklika Populorum progressio von Papst Paul VI. 1967.29 So hat James D. Wolfensohn, der ehemalige Präsident der Weltbank, 2006 bei dem internationalen Kongreß von „Cor Unum“ über die christliche Nächstenliebe festgestellt: „Von den sechs Milliarden Menschen auf dem Planeten leben fünf Milliarden in Entwicklungsländern und diese fünf Milliarden verfügen nur über 20 Prozent des globalen Einkommens. … Wenn wir die Prognose noch um weitere 45 Jahre bis in das Jahr 2050 verlängern, stellen wir fest, daß unsere Welt dann nicht sechs Milliarden, sondern neun Milliarden Menschen haben wird: das sind zusätzlich drei Milliarden. Die Milliarde Menschen in den Industriestaaten der Welt wird sich in der Zwischenzeit um zirka 100 bis 200 Millionen, vielleicht auch um 50 oder 100 Millionen erhöhen. Aber die restlichen drei Milliarden stellen uns mit 28 Adolf Merkl, Prolegomena des rechtlichen Stufenbaues, in Gesellschaft, Staat und Recht; Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, hrsg. von Alfred Verdroß, Wien 1931, S. 252 ff., Neudruck in: derselbe, Gesammelte Schriften, hrsg. von Dorothea Mayer-Maly, Herbert Schambeck, Wolf-Dietrich Grussmann, 1. Band, Berlin 1993, S. 437 ff. 29 Herbert Schambeck, Populorum progressio und das Zweite Vatikanum, in: Soziale Verantwortung, Festschrift für Goetz Briefs, hrsg. von Johannes Broermann und Philipp HerderDorneich, Berlin 1968, S. 587 ff.

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den Problemen von Armut, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit vor eine humanitäre Herausforderung. Hier liegt die Herausforderung für die Kirche, die dann fünf bis acht Milliarden Seelen zählen wird, in den Entwicklungsländern.“30

VI. Nächstenliebe und Gerechtigkeit Diese Feststellungen, die Entwicklungen der Bevölkerung in der Welt betreffend, zeigen, wie mehrdimensional die Forderung nach Nächstenliebe und Gerechtigkeit ist. Konkret verlangen diese für so viele Bereiche, die über den Bereich des Persönlichen und Privaten hinausgehen, Verteilungsgerechtigkeit auch im staatlichen wie internationalen Leben. Auf den verschiedenen Ebenen sind jeweils in spezifischer Form Nächstenliebe und Gerechtigkeit zu vermitteln, denn unterschiedlich sind die Erfordernisse; man denke nur an die Hilfe für den Einzelmenschen, die für eine Bevölkerungsgruppe oder gar für eine Nation. In der Beurteilung nimmt das Individuelle ab und das Kollektive zu. Unterschiedlichkeit an Voraussetzungen und Verwirklichungen sind gegeben; sie verlangen in der Sozialarbeit auch ein spezifisches Miteinander von Kirche und Staat sowie, wo nötig, mit internationalen Organisationen. Die Caritas der Staaten und „Cor Unum“ sowie andere Organisationen, für Deutschland seien „Adveniat“ und „Misereor“ genannt, haben auf diesen Gebieten ihre spezifischen Wirkmöglichkeiten. Paul Josef Cordes spricht vom „dialogischen Austausch der jeweils spezifischen Beiträge von Kirche und Staat – weder unter Vermischung der Kompetenzen noch in einfacher Trennung der Vollzüge. Die Forderung nach Zusammenwirken ist somit unausweichlich. Welt und Heilsgeschichte durchdringen sich fortwährend. Die Kirche wirkt mit dieser Welt. Sie kann sich nicht manichäisch ins ‚Jenseits‘ verflüchtigen“.31 Sie tut es auch nicht, sei hinzugefügt. Die Liebesenzyklika Papst Benedikts XVI. sei ebenso genannt wie das Wirken von Mutter Teresa, die ich selbst zwei Mal in Kalkutta besuchte und die einmal in Wien mein Gast war. In ihrer Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Friedensnobelpreises am 11. Dezember 1979 in Oslo gab sie ein solches Beispiel konkreter Nächstenliebe und Gerechtigkeit, als sie sagte: „Bemühen wir uns …, daß jedes einzelne Kind, geboren und ungeboren, gewollt ist“. Ihr konkreter Beitrag hierzu, sie nannte ihn im gleichen Atemzug: „Wir bekämpfen Abtreibung durch Adoption. Wir haben tausende Leben gerettet, wir haben Nachrichten gesandt an alle Kliniken, an die Spitäler, Polizeistationen: bitte tötet kein Kind, wir nehmen das Kind …, und wir haben eine große Nachfrage von Familien, die keine Kinder haben, das ist Gottes Segen auf uns.“32 30 James D. Wolfensohn, Die Herausforderungen der Menschheit; in: Deus caritas est; Dokumentation des internationalen Kongresses über die christliche Nächstenliebe, hrsg. vom Päpstlichen Rat „Cor Unum“, Vatikan 2006, S. 22 f. 31 Paul Josef Cordes, Paradigmenwechsel für Agenturen der Nächstenliebe? Neue Akzente der Enzyklika „Deus caritas est“, in: Die neue Ordnung, 61. Jg., Heft 1, Februar 2007, S. 6 f.

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Nächstenliebe und Gerechtigkeit

Das Beispiel von Mutter Teresa zeigt, wie sehr christliches Apostolat wegweisend für Mitmenschlichkeit sein kann und diese Nächstenliebe sowie Gerechtigkeit verwirklicht, da ja jeder Mensch ein Recht auf das Leben hat!33 VII. Grenzen des Rechts Nicht immer kann aber ein solcher menschlicher Anspruch auf Nächstenliebe und Gerechtigkeit in allen einzelnen Erfordernissen normativ erfaßt werden; es gibt auch Grenzen des Rechts, es ist auch nicht alles, was rechtswürdig ist, auch rechtsfähig, das heißt befähigt zu einem Inhalt, der in einem positiven Rechtssatz geltend gemacht werden kann; etwa als Mensch Verständnis zu finden und beachtet zu werden. Der Staat, vor allem der soziale Rechtsstaat, kann nämlich ohne den mit ihm mitfühlenden, mit beschließenden und mit vollziehenden Einzelmenschen gar nicht bestehen. Dazu stellte schon vor langem der frühere Präsident des Deutschen Bundesverwaltungsgerichtshofes Fritz Werner fest, „daß Erbarmen, Liebe, Barmherzigkeit, Demut und manches andere rechtlich nicht zu Fassende unser Leben gestalten, ist eine Vorstellung, die mehr und mehr entschwindet.“34 Bischof Egon Kapellari, der zuerst Jurist war und dann Theologe wurde, setzt sich mit dieser Entwicklung auseinander, als er in Gedanken über „Recht und Unrecht in philosophisch-theologischer Sicht“ feststellte: „Vom Dekalog reicht eine direkte geistige, wenn auch geschichtlich oft vergessene und verlassene Spur zur Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte und in Verfassungen heutiger demokratischer Staaten, auch dann, wenn diese keinen Gottesbezug in den Verfassungspräambeln aufweisen. Aus der Begegnung mit Jesus Christus ergeben sich … auch Grundhaltungen, die das rechtliche Gefüge der Gesellschaft ergänzend tragen. Man kann Verzeihen und Versöhnung nicht dekretieren – aber keine humane Gesellschaft, gleich welcher Größe, könnte ohne diese menschlichen Gesten auskommen. Es gibt, um ein weiteres Beispiel zu nennen, auch keinen Rechtsanspruch darauf, nicht einsam zu sein, aber die Bereitschaft vieler, sich vereinsamten und vergessenen Menschen aus freien Stücken zuzuwenden, sichert nachhaltig den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Miteinander der Generationen. Gelebte, christliche Barmherzigkeit leistet in Europa einen wertvollen Beitrag gegen die mancherorts drohende Erosion humanitärer Fundamente demokratischer Rechtsstaatlichkeit.“35 32 Mutter Teresa, Durch Liebe zum Frieden, in: Apostolat und Familie, Festschrift für Opilio Kardinal Rossi zum 70. Geburtstag, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. XV f. 33 Wolfgang Waldstein, Das Menschenrecht zum Leben, Beiträge zu Fragen des Schutzes menschlichen Lebens, Berlin 1982. 34 Fritz Werner, Wandelt sich die Funktion des Rechts im sozialen Rechtsstaat? in: Die moderne Demokratie und ihr Recht, Festschrift für Gerhard Leibholz, hrsg. von Karl Dietrich Bracher, Christopher Dawson, Willi Geiger, Rudolf Smend, II. Band, Tübingen 1966, S. 162. 35 Egon Kapellari, Recht und Unrecht in philosophisch-theologischer Sicht, Statement beim Symposion „Recht und Unrecht“ der katholischen Medienakademie am 18. November 2006 im Schottenstift, Wien, Manuskript S. 2.

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VIII. Menschliche Ordnung Diese menschliche Form der Ordnung an Stelle des Neben- zu einem Miteinander der Menschen in der Gesellschaft, dem Staat und der Völkergemeinschaft verlangt eine sich geradezu bedingende bedingte Gegenseitigkeit auf vielen Gebieten unserer heutigen Verantwortungen, die in der Verbundenheit von Individualität, Humanität und Solidarität auszuüben wäre. Beispielsweise nichts vom anderen zu verlangen, was man selbst nicht zu tun Willens ist; bereit zum Brot teilen zu sein; auch zu erkennen, daß das Ende des Kommunismus noch nicht die endgültige Beantwortung der sozialen Frage für immer ist; sie begleitet uns vielmehr weiter und das in neuer Form, so beispielsweise, sich um Ausgewogenheit in Unternehmen von Personalkosten und Kapitalgewinn zu bemühen. Nächstenliebe und Gerechtigkeit verlangen, neben den Möglichkeiten der Betriebswirtschaft auch die Erfordernisse der Volkswirtschaft zu beachten! Weiters ist es erforderlich, die industrielle Produktion mit den Erfordernissen des Umweltschutzes im Rahmen des Möglichen zu verbinden, damit unter Außerachtlassung des Kyoto-Abkommens36 keine Klimaveränderung Platz greift, helfendes Verständnis für Flüchtlinge in Not zu haben, aber von diesen zu erwarten, daß sie sich als Gäste benehmen, weiters zur Sicherung des Menschen dem Terrorismus zu begegnen, wobei aber die Grundrechte auch für Häftlinge zu achten sind. Es gilt letztlich, ein Miteinander von Menschen, Nationen, Staaten und Kulturen zu erreichen und zu sichern. Die allgemeine Anerkennung so vieler Werte des privaten und öffentlichen Lebens als möglich kann ein Weg dazu sein. Nächstenliebe und Gerechtigkeit als Gebote des Glaubens und des Rechtes geben mit dazu Gelegenheit, sie zu verwirklichen, verlangt nicht allein die Diskussion über sie, sondern die Aktion für sie! Johannes Rau hat es schon 1982 erklärt und mit ihm lassen Sie mich schließen: „Im Nächsten will Gott sichtbar werden: im Gegner und im Feind, im Bekannten und im Fremden, in dem, der mir lästig wird und in dem, nach dem ich mich sehne.“37

36 Protokoll von Kyoto vom 11. 12. 1997 zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen. 37 Johannes Rau, Was meinem Leben Richtung gab, Beitrag von 1982, in: derselbe, Wer hofft, kann handeln, Predigten hrsg. von Matthias Schreiber, 2. Aufl., Holzgerlingen 2006, S. 21.

IV.

Katholische Soziallehre und Solidarität der Generationen* Die Soziallehre der Kirche ist ein wegweisendes Mittel der Glaubensverkündigung.1 In ihr drückt sich die Verbundenheit der Offenbarung mit der menschlichen Natur und daher auch von Glaube und Vernunft2 besonders aus. Der junge Mensch ist die Personifikation dieser Verbundenheit. Das Werden und die Entwicklung des Menschen beginnend mit der Zeugung, der Geburt, von Jugend über das Erwachsensein zum Alter bis zum Heimgang sind Zeichen einer in der Schöpfungsordnung grundgelegten Entelechie, in der für den gläubigen Menschen Seins- und Persönlichkeitsentfaltung sowie Heilsfindung eins werden können. I. Die existentielle Situation vom Ich und Du Gleich der katholischen Soziallehre, die, wie es schon Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Centesimus Annus ausdrückte, „im Schnittpunkt des christlichen Lebens und Bewusstseins mit den Situationen der Welt“3 liegt, befindet sich auch der Mensch selbst beginnend mit seiner Geburt. Individuelle und soziale Umstände bestimmen sein Schicksal, das gilt schon für die Zeit seines Werdens, beginnend mit der Zeugung bis zur möglichen Geburt. Diese ist nämlich in vielen Staaten der Welt durch die Möglichkeit der Abtreibung gefährdet. Kardinal Alfonso López Trujillo hat es bereits festgestellt: „Es ist erschütternd, wenn man mit ansehen muss, wie viel versprechende Prozesse auf einem bestimmten Gebiet wieder erstickt werden. Es sah so aus, als würde dem Kind nicht mehr nur ein peripherer und nebensächlicher, sondern ein zentraler Platz zuerkannt. Nun schwebt es allerdings bereits im Mutterschoß in Lebensgefahr, wenn die Parlamente zu einem Ort werden, wo das ungerechteste Todesurteil ausgesprochen wird“.4 * Vortrag gehalten auf der 12. Plenartagung der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften vom 28. April bis 2. Mai 2006 im Vatikan, erschienen in: „Vanishing youth? Solidarity with children and young People in an Age of Turbulence“, Acta 12, Pontifical Academy of Social Sciences, Acta 12, Vatican City 2006, S. 507 ff. 1 Papst Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus Annus, Nr. 54 und Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 66. 2 Siehe Papst Johannes Paul II., Enzyklika Fides et Ratio. 3 Papst Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus Annus, Nr. 59 und Kompendium Nr. 73. 4 Kardinal Alfonso López Trujillo, Die Familie: Geschenk und Verpflichtung, Hoffnung der Menschheit, Vaticano. J., S. 26.

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In dieser Sicht befindet sich der Mensch schon in seinem Werden, im Hinblick auf die Vielzahl an Abtreibungen in einem Risiko und in der Gefahr, „das Licht der Welt“ im wahrsten Sinne des Wortes nicht „zu erblicken“. Schon in diesem seinem Werden steht der Mensch zur Disposition und erfährt auch die Folgen der „Diktatur des Relativismus“, auf welche am 18. April 2005 Kardinaldekan Joseph Ratzinger in seiner Predigt in der Heiligen Messe „Pro eligendo Romano Pontifice“ hingewiesen hat. Er sagte: „Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt“.5 Bei einer solchen Einstellung wird in vielen Staaten unabhängig von Glaube und Moral durch den Gesetzgeber viel Mögliches auch zum Zulässigen erklärt, sogar das Ja und Nein zum Leben selbst! Das Ja zum Leben wird in und außerhalb der Ehe in Frage gestellt, entweder von Mann und Frau als auch von einem der beiden alleine. In vielen Fällen gehört viel Mut, besonders von der Frau dieses Ja zum Leben Wirklichkeit werden zu lassen. Kardinal Franz König hat dies auch 1980 aus der Sicht der Kirche betont und gefordert: „Vor allem gegenüber den unehelichen Müttern wird die Kirche heute mitfühlendes Verständnis, Hilfe und Respekt aufbringen müssen, weil sie trotz gesellschaftlicher Verfeindung nicht den bequemen Weg der Abtreibung gegangen sind“.6 Das Werden des Menschen mit seinem Weg zur Geburt ist der Beginn jener Verantwortung in der existentiellen Situation von Ich und Du, die gemeinschaftsbegründend sein kann und nach der göttlichen Schöpfungsordnung in die Ehe und Familie eingebettet sein sollte; Papst Benedikt XVI. hat es vor kurzem auch betont: „Jede Hoffnung auf eine Erneuerung der Gesellschaft, die nicht an Gottes Plan für Ehe und Familie festhält, ist zum Scheitern verurteilt, denn dies ist der Ort, wo die gottgegebene Würde jedes Menschen ihre erste Verwirklichung findet und wo das Selbstvertrauen, das notwendig ist, um im Erwachsenenalter reife Beziehungen aufbauen zu können, zuerst erfahren und genährt wird (vgl. Apostolisches Schreiben Familiaris Consortio, 3)“.7 Das mögliche Werden menschlichen Lebens, das Schicksal des geborenen Menschen von Jugend an bis ins Alter, ist begleitet von der Einstellung zum Du des Mitmenschen, das in der Ehe und Familie die segenvollste dauerndste Form menschli-

5 Kardinaldekan Joseph Ratzinger, L’Osservatore Romano, Sonderausgabe in deutscher Sprache, 2005, S. 20: dazu Herbert Schambeck. Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus, ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikt XVI., L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache 12. Mai 2006, Nr. 19, S. 10 f. und 19. Mai 2006, Nr. 20, S. 9 f. 6 Kardinal Franz König, Ehe und Familie, Die angemessene Lebensform, in: Apostolat und Familie, Festschrift ihr Opilio Kardinal Rossi, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. 325. 7 Papst Benedikt XVI., An Ehe und Familie festhalten, Ansprache am 1. Dezember 2005, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 20. Januar 2006, Nr. 3, S. 9.

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chen Miteinanders finden kann, nämlich in Verständnis, Entgegenkommen, Annahme und letztlich in der Zuneigung, die im bleibenden Zu- und Füreinander gipfelt. Wohl am schönsten drückt es der Satz, der älteren Eheleuten zugeschrieben wird, aus: „Ich liebe dich mehr als gestern, aber weniger als morgen“. In seiner Enzyklika Deus Caritas Est hat Papst Benedikt XVI. es hervorgehoben: „Der Eros verweist von der Schöpfung her den Menschen auf die Ehe, auf eine Bindung, zu der Einzigkeit und Endgültigkeit gehören“.8

II. Ehe und Familie in Österreich Dieses Ideal- und Wunschbild begleitet leider die Tatsache, dass alles Zwischenmenschliche auch mit einem „ungedeckten Wechsel“ vergleichbar ist und die heutige Zeit nicht allein die von Glauben und Moral begleitete und geprägte eheliche und familiäre Gemeinschaft kennt, sondern auch u. a. die Lebensgemeinschaft, Lebenspartnerschaft auf Zeit, Ehebruch, und Scheidung. Sie führen neben ehelichen auch zu unehelichen Geburten, neben ehelichen auch zu unehelichen Muttern sowie neben häuslichen, auch zu allein erziehenden und allein verdienenden Müttern, die Beachtenswertes leisten. Sie sind mit ihren Kindern ein besonderer pastoraler Auftrag! Auf diese Situation sei beispielsweise in Österreich verwiesen.9 So sind in Österreich 43% der Paare kinderlose Ehepaare bzw. Lebensgemeinschaften; von 8,1 Mill. Einwohnern haben wir in Österreich 248.000 allein erziehende Mütter und 45.000 allein erziehende Väter. Nur 14,1% der Familien mit Kindern haben drei oder mehr Kinder. Die Erwerbsquote liegt bei Frauen (15 bis 59 Jahre alt) mit Kindern bei Alleinerzieherinnen mit 73,3% höher als bei Ehefrauen mit 68,1%. Diese Zahlen geben zum Bedenken Anlass! Die Rechtspflicht zur Aufrechterhaltung der Ehe und Familie begleitet vorangehend der Gewissensanspruch, der aber nicht erzwungen werden kann, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu begründen. Ehe und Familie sind in ihrer präpositiven Bedeutung Teil der natürlichen Ordnung des Menschseins. Gerade bei Ehe und Familie zeigt sich, wie Gewissensanspruch und Rechtspflicht sich ergänzen sollten, aber leider es oft nicht entsprechend tun. Es erweist sich nämlich nur allzu oft, dass nicht alles, was der Ordnung würdig ist, auch des Rechtes fähig ist, wie z. B. sich auf einen Mitmenschen verlassen zu können, auf Liebe zu Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus Caritas Est, Nr. 11. Siehe Herbert Schambeck, Zur Bedeutung von Ehe und Familie für Gesellschaft und Staat (ein österreichischer Beitrag), Familia et Vita, Anno LX, Nr. 3, 2004 / 1 2005, S. 185 ff. und Rudolf Karl Schipfer, Familien in Zahlen / 2005, Statistische Informationen zu Familien in Österreich und der EU, Österreichisches Institut für Familienforschung, Wien, 2005. 8 9

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vertrauen und ein Ja zum Kind in der Ehe und Familie zu sagen. Dies ist auch in Österreich in nicht ausreichendem Maß der Fall. So wurden 18.727 Ehen durch staatliche Gerichte rechtskräftig geschieden; das sind 43 von 100 geschlossenen Ehen. Die Gesamtscheidungsrate war mit 60,08 % in Wien am höchsten. 88% aller dieser Scheidungen erfolgten im beiderseitigen Einvernehmen. Ein Drittel dieser geschiedenen Ehen waren kinderlos geblieben; das sind 36,6%. Gleich der Privatrechtsautonomie als Freiheit im privaten Recht gibt es auch eine Dispositionsfreiheit in Bezug auf das Eingehen von Ehe und Begründen einer Familie. Diese Freiheit soll aber nicht als Freiheit vom liebenden Miteinander weg zu einer Situationsethik mit Gelegenheitsmoral für einen Partnertausch auch auf Kosten des Kindes und Gefährdung der Familie missbraucht werden, sondern als Freiheit zu lebenslanger Treue und einem gegenseitigen Miteinander in Freud und Leid möglichst im Schutz der gesunden Gesellschaft und des Sakramentes der Ehe genutzt werden. Die Achtung von Ehe und Familie drückt eine Verantwortung aus und Verantwortung tragen verlangt Antwort geben! III. Das Beispielgeben der Generationen Diese Verantwortung stellt sich für den jungen Menschen selbst sowie seine Umund Mitwelt. Der heranwachsende Mensch sollte die Gelegenheit haben, sich an älteren Mitmenschen in seiner Familie und darüber hinaus ein Vorbild zu nehmen soweit diese ein Beispiel geben. Diese können Wege weisen, besonders wenn die Jugend von der Liebe einer Mutter begleitet ist, die Autorität des Vaters verständnisvoll erfahren und die Verbundenheit mit Geschwistern erleben. Wo dies aber nicht der Fall ist, kann die Folge später Lieblosigkeit gegenüber einem anderen Eheteil, Ablehnung gegenüber Autoritäten in Staat und Gesellschaft sowie Unkollegialität gegenüber Mitmenschen im Beruf sein. In dieser Sicht kann die Familie die erste und beste Schule für das Leben sein, welches die Eltern spenden und zu der Geburt des neuen Lebens, wie es schon Kardinal Alfonso López Trujillo ausdrückte, „die Ehe … der angemessenste und erhabenste Ort“10 ist; er bezeichnet auch „die Kinder als wertvolles Geschenk der Ehe“.11 Es gibt aber auch andere Situationen, wenn es keinen sich bekennenden, ehelichen, unehelichen oder geschiedenen Vater gibt. In diesem Fall sprach Kardinal Franz König von „der unvollständigen Familie“12 und Johannes Schasching S. J. von der „vaterlosen Gesellschaft“.13 10 11 12 13

López Trujillo, a. a. O., S. 17. López Trujillo, a. a. O. König, a. a. O., S. 325. Johannes Schasching S. J., Vaterlose Gesellschaft?, in: Apostolat und Familie, S. 437 ff.

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Die Folgen solcher Entwicklungen können tragisch werden, so wurde von einem Staat berichtet, in dem über 70 % der männlichen Jugendlichen im Gefängnis aus Familien ohne Vater stammen.14 Weiters ist es hervorhebenswert, dass etwa 10% der Kinder von weißen und 14% der Kinder von schwarzen Eltern im ersten Jahr nach der Trennung ihrer Eltern in Armut geraten. 45 % der Familien mit Kindern unter 18 Jahren, deren Erziehung allein der Mutter zufällt, sind arm. Im Gegensatz dazu ist in nur 7% der Familien mit Kindern die Erziehung Aufgabe verheirateter Eltern.15 Neben den Elternteilen sind auch andere ältere Menschen von Bedeutung für die Jugend, „denn“ wie auch das Kompendium der Soziallehre der Kirche feststellte, „sie können Werte und Traditionen vermitteln und das Wachstum der Jüngeren fördern, die auf diese Weise lernen, nicht nur das eigene Wohl, sondern auch das der anderen anzustreben“.16 Papst Benedikt XVI. hat auf diese Aufgabe, die ich als eine Gemeinwohlverpflichtung der Generationen bezeichnen möchte, hingewiesen, wenn er in seiner Enzyklika Deus Caritas Est feststellte: „Das Erbauen einer gerechten Gesellschafts- und Staatsordnung, durch die jedem das Seine wird, ist eine grundlegende Aufgabe, der sich jede Generation neu stellen muss“.17 Auf diese Weise kann auch eine intergenerationelle Solidarität zum Tragen kommen, durch welche die ältere Generation für die Jugend eine beispielgebende Wegweisung und später die Jugend dem Alter Hilfe sowie Beistand geben kann. Die Entwicklung verläuft aber nicht immer und überall konsequent und aufeinander zu führend ergänzend. Gleich der vielfältigen Pluralität der Gesellschaft gibt es auch eine solche Pluralität der Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit mit einer Formlosigkeit, die nur eine „milde Form des Terrors“ ist und sich auch im Verhalten einzelner Menschen in einem Rauditum äußert.

IV. Offenheit für Höheres Allgemein kann man aber wohl feststellen, dass der Mensch in der Kindheit geradezu unverdorben und unbelastet das Höhere empfindet und auch erfragt. Erst kürzlich sagte mir am Dienstag nach Ostern diesbezüglich der Moraltheologe der katholischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag Georg Skoblik, dass er gerade von Kindern die berührendsten Fragen zur Religion bekommt, was ich selbst er14 Don Browning, In che modo negli Stati Uniti la famiglia è divenuta un ‚tema liberale‘, in Concilium 2 / 1996, 54. 15 Don Browning, a. a. O., 52 f. 16 Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 222. 17 Papst Benedikt XVI. Enzyklika Deus Caritas Est, Nr. 28.

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lebte; so fragte mich am Ostermontag ein sechsjähriger Richard am Friedhof meiner Geburtsstadt Baden bei Wien: „Wie viele Jesu Christi gibt es?“, da es so viele Kreuze mit ihm gibt; ich antwortete ihm: einen, der alle Kreuze trägt. Auch meine achtjährige Enkelin Fiona stellte mir vor Ostern eine ähnliche Frage, nämlich sie wisse, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist, aber nicht wer die Eltern von Gott sind. Sie fügte dann hinzu, sie wäre erst in der 2. Klasse, die Frage wäre sicher für ihr Alter jetzt zu schwer, deshalb erwarte sie sich erst eine Antwort in zwei Jahren in der 4. Klasse. Diese mit der Erfahrung der Lebensentfaltung durch den Heranwachsenden verbundene Offenheit für Höheres zeigt sich später oft bei jüngeren Menschen in einem besonderen Idealismus, so neben dem Sport in dem Engagement für soziale und religiöse Anliegen, wie für die Entwicklungshilfe und die Mission. Ein besonderes Kennzeichen war auch der von nahezu einer Million Menschen besuchte Weltjugendtag 2005 in Köln,18 bei dem aus vielen Erdteilen angereist die Jugend begeistert eine Spiritualität erleben ließ, an der sich viele Erwachsene ein Beispiel nehmen könnten. Allgemein kann aber, wie erst kürzlich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu lesen war, ein wachsendes Interesse an Glaube und Kirche festgestellt werden. So betonte dort Renate Köcher in ihrem Artikel über „Die neue Anziehungskraft der Religion“: „Die Überzeugung, dass der christliche Glauben ungebrochen aktuell ist, stieg Anfang 2005 auf 52% und hält sich seither … Der Anteil, der aus den Glaubensüberzeugungen Kraft zieht, hat sich seit der Mitte der neunziger Jahre in der Altersgruppe zwischen 16 und 29 Jahren von 18 auf 26% erhöht, bei jenen zwischen 30 und 44 Jahren von 27 auf 34 % … Die Bindungen an die Kirche haben zugenommen, überdurchschnittlich vor allem in der Altersgruppe zwischen 30 und 44 Jahren“.19 Konkret auf Österreich bezogen glauben laut einer im März 2006 veröffentlichten Studie 47 % der Österreicher an Gott, 16% auch daran, dass er die Welt in sechs Tagen erschaffen hat, 40 % bereiten sich auf ein Leben nach dem Tod vor, ein knappes Viertel auf die Wiedergeburt. 28 % stellen sich einen Himmel vor, während 20% glauben, dass es Hölle und Teufel gibt. Diese Umfrage zeigte auch, dass für sie die Familie das größte Glück ist und sie kinderfreundlich sind.20 Dieses Ideal ist aber in der Wirklichkeit wie die Zahl der Eheschließungen und Scheidungen sowie der Kinder zeigt, mit vielen Kompromissen und Ausnahmen begleitet.21 Neben dieser Mitmenschlichkeit in und außerhalb der Eltern und Familien sind für die Persönlichkeitsentfaltung des jungen Menschen auch die Schule und die Medien von Bedeutung, die Schule vor allem für die Wissensvermittlung und 18 Siehe L’Osservatore Romano, Sonderausgabe, Weltjugendtag 2005 in Köln, mit Jugendlichen auf den Spuren der Heiligen Drei Könige. 19 Renate Köcher, Die neue Anziehungskraft der Religion, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. April 2006, Nr. 87, S. 5. 20 Kleine Zeitung, 11. März 2006, S. 10 f. 21 Siehe Statistisches Jahrbuch Österreichs 2006, besonders S. 70 ff.

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Gewissensbildung sowie die Medien für die Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung.22

V. Vorgegebenheiten der Gesetzgebung Die katholische Kirche kann mit ihrer Glaubenslehre sowie Individual- und Sozialmoral, auf letztgenanntem Gebiet besonders durch die katholische Soziallehre, Wegweisungen für die Entscheidungen geben, in welchen sich christliches Apostolat und politische Verantwortung verbinden. In dieser Verbundenheit ist es wichtig, dass die Freiheit und Würde des Menschen sowie die Grundrechte,23 beginnend mit dem existentiellen Recht auf Leben und weiters Ehe und Familie24 als Vorgegebenheiten jeglicher Gesetzgebung25 in dieser präpositiven Bedeutung Anerkennung finden.26 Auf diese Weise können Maßstäbe für eine humane Ordnung durch die Politik und das Recht gesetzt werden. Kardinal Joseph Ratzinger hatte auch deshalb vor der „Zuflucht zu Scheinhoffnungen“27 gewarnt und vielmehr darauf hingewiesen, dass das Christentum immer bemüht war, „das Politische in der Sphäre der Rationalität und des Ethos zu belassen“.28 Er spricht sich daher auch für eine „moralische Erziehung“29 und für einen Beitrag der Kirche als einer „Überzeugungsgemeinschaft“30 aus. Das Bemühen um die Jugend gibt hierzu Anlass und zeugt auch erneut für die „Bedeutung des Glaubens für den Staat und die Demokratie“,31 für welche die heranwachsende Generation Voraussetzung, Grundlage und Zukunft ist. 22 Dazu Papst Benedikt XVI., Die Medien ein Netzwerk für Kommunikation, Gemeinschaft und Kooperation, Botschaft zum 40. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 5, vom 3. Febr. 2006, S. 9 und derselbe, Der Einfluss der Medien zum Wohl der ganzen Menschheit nutzen, Ansprache am 17. Mai 2006, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 13 vom 31. März 2006, S. 5. 23 Siehe Herbert Schambeck, Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hrsg. von Detlef Merten und Hans Jürgen Papier, Band I, Heidelberg 2004, S. 349 ff. 24 Beachte Wolfgang Waldstein, Das Menschenrecht zum Leben, Beiträge zu Fragen des Schutzes menschlichen Lebens, Berlin 1982. 25 Näher Joseph Kardinal Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht. Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, 3. Aufl., Freiburg / Basel / Wien 1993, S. 7 und 17 ff. 26 Beachte Herbert Schambeck, Der Schutz der Familie in den Grundrechten, in: Apostolat und Familie, S. 393 ff. und derselbe, Die Verantwortung des Politikers für den Schutz der Rechte der Familie, in: La famiglia, Vaticano 1998, S. 135 ff. 27 Joseph Kardinal Ratzinger, Kirche, Ökumene und Politik, Einsiedeln 1987, S. 189. 28 Ratzinger, a. a. O., S. 193. 29 Ratzinger, a. a. O., S. 195. 30 Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht, S. 24. 31 Herbert Schambeck, Fede, Stato e Democrazia: un contributo sul confronto tra il Cardinale Joseph Ratzinger e Hans Kelsen, in: ‚Alla Scuola della Verità. I settanta anni di Joseph Ratzinger‘, a cura di Josef Clemens e Antonio Tarzia, Milano 1997, S. 319 ff.

Die Verantwortung des Politikers für die Verteidigung der Rechte der Familie* I. Die natürliche Ordnung der Familie Es ist die Aufgabe jedes Politikers, sich in die Gemeinschaft einzubringen. Dies erfordert, ethische, kulturelle, rechtliche, soziale und wirtschaftliche Bedingungen jedes Einzelnen für die Entwicklung seiner Persönlichkeit, für die Gesellschaft zur Solidarität der Bürger und für den Staat zur Erreichung seiner Vorsätze und Ziele zu beachten. Wie immer das öffentliche Leben im Generellen und der Staat im Speziellen organisiert sind, die Familie muss genau betrachtet werden, klar und anerkannt, sonst kann sie nicht die Basis jeder Gemeinschaft sein. Nichtsdestoweniger kann kein Staat und keine Politik an der Familie vorbeigehen. Die Familie ist viel älter als jeder Staat! Sie beinhaltet eine Ordnung, die natürlich ist! Sie basiert auf einer Du-

* Rede gehalten am 3. Oktober 1997 auf dem internationalen Kongress des Päpstlichen Rates für die Familie in Rio de Janeiro, veröffentlicht in: La Famiglia: Dono e Impegno speranza Dell’Umanità, Pontificio consiglio per la Famiglia, Liberia editrice Vaticana 00120 Città del Vaticano 1998, S. 135 ff.; Siehe dazu Herbert Schambeck, Die Grundrechte und die Familie, familie – Österreichische Zeitschrift für Familienpolitik, 16. Jg., Heft 5, 1967, S. 1 ff.; derselbe, Familien zwischen christlicher und materialistischer Weltanschauung, Die Quelle, Heft 1 / 1974, S. 7 ff.; derselbe, Familie im Sog der Industriegesellschaft, Ehe und Familie, 10 / 1974, S. 16 f.; derselbe, Der Schutz der Familie in den Grundrechten, in: Apostolat und Familie, Festschrift für Opilio Kardinal Rossi zum 70. Geburtstag, hrsg. von demselben, Berlin 1980, S. 393 ff.; derselbe, Aus der Familie wächst der Friede für die Menschheitsfamilie, Wiener Blätter zur Friedensforschung, Nr. 78, März 1 / 1994, S. 2 ff.; derselbe, La Familia en el derecho constitutional, in: Los Derecho de la Familia en los Umbrales del Tercer Milenio, Caracas 1994, S. 73 ff.; derselbe, The Significance of the family from the perspective of natural law and constitutional law, in: Familia: Cuore della civiltà dell’ amore, Atti del Congresso Internazionale, Roma 6 – 8 Ottobre 1994, Pontificio Consiglio per la Famiglia, Città del Vaticano 1995, p. 81 ff.; derselbe, Die Bedeutung der Familie aus der Sicht des Naturrechtes und des Verfassungsrechtes, Österreichische Monatshefte 5 – 6 / 1995, S. 33 ff; derselbe, Activities for the family and developments of the family in Europa, Familia et Vita-Rivista quadrimestrale del Pontificio Consiglio per la Famiglia, Anno 2, No 1, Vaticano 1997, S. 91 ff.; derselbe, Die Verpflichtung des Politikers zur Verteidigung der Rechte der Familie, Österreichische Monatshefte, 7 – 8 / 97, S. 21 ff.; derselbe, The Family in European Legislation, Familia et Vita-Rivista quadrimestrale del Pontificio Consiglio per la Famiglia, Anno 4, No 1, Vaticano 1999, S. 15 ff.; derselbe, Die Familie im Verfassungsrecht, Familia et Vita-Rivista quadrimestrale del Pontificio Consiglio per la Famiglia, Anno VI, No 1 – 2, Citta del Vaticano 2001, S. 107 ff. sowie derselbe, The Family in Constitutional Law, in: Globalization, Economics and the Family, Città del Vaticano 2001, S. 105 ff.

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und-Ich-Beziehung des Individuums. Sie ist eine grundlegende Form der menschlichen Solidarität. Die Familie ist die eine, natürlich existierende Ordnung, in der Leben funktioniert, in der das Individuum sein Heim finden sowie das Erlebnis sozialen Verständnisses und die Vorbereitung auf die Aufgaben in Staat und Gesellschaft finden kann. Der Politiker, der die Verantwortung für die Schaffung und die Erhaltung der Ordnung im Staat innehält, muss ein spezielles Interesse für die Akzeptanz und die Sicherheit der Familie haben. Aber diese Verpflichtung sollte bestimmt werden durch die Verteidigung und die Unterstützung der natürlichen Ordnung der Familie und nicht durch parteipolitische Vorherrschaft der Familie basierend auf Ideologien von autoritären und totalitären Regimen wie dem Nationalsozialismus, dem Faschismus, Marxismus und Kommunismus. Daher ist der Schutz der Unabhängigkeit der Familie, mit ihren Persönlichkeiten, die die Familie aufbauen und harmonisieren, ein sehr wichtiges Thema. Es erfordert die Akzeptanz von Verfassungs- und Menschenrechten, die die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit garantieren.

II. Das Recht auf Leben All diese Verfassungs- und Menschenrechte wären zahnlos ohne das fundamentale Recht: nämlich das Recht auf Leben. Dieser Schutz des Lebens ist die wichtigste und signifikanteste Verpflichtung eines Politikers für die Familie. Daher sollte der Politiker all seine Möglichkeiten nutzen, die ihm dargeboten werden, seien es Reden, Aktivitäten und Entscheidungen für die Politik, die der Familie dienen und die dafür verantwortlich sind. Leider muss man zugeben, dass die Aussicht zugunsten der Familie oft vergessen wird in Zeiten des sogenannten Wohlfahrtstaates, und Länder mit sozialen Konflikten, wie zum Beispiel Indien, dokumentieren mehr Familiensinn als erfolgreiche Industriestaaten. In vielen reichen Ländern steigt die Zahl der Abtreibungen, der Scheidungen und wilden Ehen wie auch der alleinstehenden Frauen mit Kindern. Auch ist die Zahl der wilden Ehen, zwei- oder gleichgeschlechtlich, steigend. Ein sozialer, speziell neutraler und wertfreier Blick die Familie betreffend gewinnt immer mehr an Boden. In der Gesellschaft gibt es eine Unterscheidung zwischen dem Verlangen der Menschen nach einer glücklichen Familie, und was sie in der Realität bekommen. In Österreich zum Beispiel ist die Zahl der Kinder kleiner, als die Menschen wollen. Offensichtlich muss diese Entwicklung auf die Umstände bezogen werden. Die sozialen Bedingungen unterstützen nicht das Verlangen nach Familie, die Familie muss gegen den Zeitgeist ankämpfen. Das führt zu Überforderung und am Ende zu Frustration und der Erfahrung des Scheiterns. Daher sollte die Politik gegen diese

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Die Verantwortung des Politikers für die Rechte der Familie

Gleichgültigkeit, ob Individuen die Verantwortung für Kinder übernehmen, ankämpfen. Der Staat und die Politik agieren niemals neutral. Natürlich kann es nicht die Aufgabe des Politikers sein, in einer pluralistischen Gesellschaft zu moralisieren, aber umgekehrt würde es missbilligt werden, wenn der Staat die Demoralisierung der Gesellschaft vorantriebe durch eine wertefreie Einstellung. Je unterschiedlicher, mannigfaltiger und pluralistischer die Gesellschaft eines Staates ist, desto wichtiger ist die Stabilität dieser Gesellschaft, eine generelle Akzeptanz von Grundwerten und Verfassungs- und Menschenrechten auch auf Gesetzesebene eines Staates zu erreichen. Ein Aspekt ist besonders und zuallererst der Schutz des Lebens, beginnend mit dem Schutz des ungeborenen Lebens bis zum Verbot von Euthanasie, genauso wie der Akzeptanz von Ehe und Familie. Politiker sollten Ehe und Familie unter einen speziellen Schutz der staatlichen Ordnung stellen, auch was Scheidungen betrifft oder Ehebruch. Außerdem sollte die Kindererziehung als ein natürliches Recht und eine Verpflichtung der Eltern angesehen werden.

III. Hilfen für junge und alte Menschen Gegen den Willen der Eltern oder, wenn diese nicht existieren, von anderen rechtlich Verantwortlichen, sollten Kinder nur durch Gesetz in staatlichen Gewahrsam genommen werden, nämlich wenn die rechtlich Verantwortlichen versagen oder die Kinder verwahrlosen. Unverheiratete Frauen in Not sollten staatliche Unterstützung erhalten und uneheliche Kinder sollten Hilfe ohne Diskriminierung erhalten, wenn sie die brauchen. Hilfe für Kinder und Familien in Not sollte als fundamentales soziales Recht akzeptiert werden. Jede Maßnahme, die ein Politiker für den Schutz von Müttern und ihren Kindern wie auch für den Erhalt der Familien ergreift, dient auch dem Staat und den Familienmitgliedern sowie dem Wohl der Gemeinschaft! Soziale Beiträge der Familie, auch bezogen auf alte Menschen, sind unersetzlich und wären viel teurer, wenn sie vom Staat gestellt werden würden. Zurzeit leben wir in einer Situation, in der die Kosten der familiären Aktivitäten von diesen alleine getragen werden. Die Folge daraus ist ein Ungleichgewicht in der Belastung der Familien. Staat und Gesellschaft sollten ihren Anteil dazu beitragen, um die finanziellen Verpflichtungen der Familie in den Budgetgrenzen zu erfüllen. Familien sind eine der Säulen von Staat und Gesellschaft, sie hängen von den Familien ab sowohl sozial als auch kulturell. Denkt man nur an die Zinsen und Steuern, die später von Mitgliedern von Familien gezahlt werden. Es ist ein Generationenvertrag, der von den Politikern ausgetragen wird. Es benötigt einen Ausgleich der familiären Belastungen in einem finanziellen Rahmen, denn ihre Arbeit sollte auch akzeptiert und vom Staat finanziell gefördert werden. Daher sollte ein steuerfreier Mindestbeitrag

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für jedes Kind ein Akt der Gerechtigkeit in der Steuergesetzgebung sein. Man sollte ein Mindestentgelt von der Steuer im Hinblick auf die Anzahl der Kinder abziehen. Darüber hinaus könnte man auch einen Abzug bedenken für den Familienerhalter, den dieser von seiner Steuer abziehen kann.

IV. Möglichkeiten der Politiker Als weitere Möglichkeiten der Politiker für Familien sei angedacht: ärztliche Versorgung vor der Geburt des Kindes, der Schutz der Mutterschaft einschließlich dem Schutz vor ungesetzlichem Abbruch, Unterstützung von Kindergärten und Kindertagesstätten, wenn die Eltern es sich nicht leisten können, finanzielle Unterstützung für das Großziehen der Kinder daheim, die Anrechnung der Zeit der Kindererziehung auf die Pension, die Möglichkeit des Daheimbleibens im Fall der Krankheit eines Kindes wie auch das Recht auf Teilzeitarbeit und die Unterstützung bei Wiedereinstieg in das Berufsleben. Im Bereich des sozialen Wohnens ist es für Politiker wichtig zu kontrollieren, dass familientaugliche Wohnungen gebaut werden, die auch leistbar zu mieten oder zu erwerben sind. Die einzelnen familiären sozialen Situationen sind genauso unterschiedlich wie Staat und Gesellschaft unterschiedlich sind. In den Fällen, in denen das familiäre Einkommen nicht ausreicht, ist das Einkommen der Mütter oft nötig oder gewünscht; daher muss der Politiker die Frage der Teilzeitbeschäftigung für Mütter stellen. Durch die grundlegende Wichtigkeit der Familie müssen sich die Politiker dem Schutz der Rechte der Familie stellen. Aber man darf nicht vergessen, dass ein Politiker – gerade in einer Demokratie – nur insoweit Aktivitäten für die Familie setzen kann, als er dazu legitimiert ist durch den Wähler. Das heißt, er ist abhängig von der Anerkennung der Bürger bezogen auf seine Arbeit im Staat. Diese Stimmen sind extrem wichtig für die Politiker. Daher muss der Politiker auf der einen Seite einen politischen Willen, bestimmt durch Grundwerte und Prinzipien, in denen die Familie eine wichtige Rolle spielt, verfolgen und den richtigen Weg weisen, auf der anderen Seite muss er jede Anstrengung wahrnehmen, für seine Arbeit in der Familienpolitik und Familiengesetzgebung Stimmen zu bekommen, sonst kann er seine Arbeit als Politiker nicht fortsetzen! Es besteht daher eine gegenseitige Verbindung von demokratischer Politik, Staat und Gesellschaft, die von der öffentlichen Meinung abhängt. Es ist ziemlich klar, dass die Kirche entscheidend in dem Prozess des Bewusstseins und des Willens durch Worte und Werke einwirken kann. Die Kirche kann für Familien das tun, was der Apostolische Nuntius in Österreich, Erzbischof Donato Squicciarini, unlängst in seinem Buch empfohlen hat, nämlich „einen Dialog zu führen in Wahrheit und Liebe“. In diesem Sinne wollen wir den Blick auf die

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Die Verantwortung des Politikers für die Rechte der Familie

Worte der Bibel richten als eine Warnung, wenn wir lesen bei Johannes 2,14: „Meine Brüder, was bringt es, den Glauben zu bekennen, ohne ihn zu leben?“. Die Verständigung über die Familie hat diesen Ursprung. Einen Ausdruck von Papst Johannes Paul II. verwendend ist die Akzeptanz der „Kultur des Lebens“ eine eigene Bedingung. In diesem Zusammenhang hat Kardinal Alfonso López Trujillo über dieses Welttreffen festgestellt: „Man darf nicht die Familie von ihrem ursprünglichen Einsatz für das Leben trennen, der klar von dem Konzil (vergleiche GS 50,1) festgeschrieben ist und unterstrichen von der üblichen Dozentur und pastoralen Familienfürsorge. Ehe und Liebe in einer Ehe sind klar zur Zeugung und Erziehung von Kindern bestimmt. Die Familie hat eine solche allumfassende, direkte und alles umschließende Beziehung zum Leben wie keine andere Institution. Alle Menschen sollen das Leben ehren und verteidigen.“

V. Das Evangelium des Lebens hörbar machen Besonders im heutigen Staat mit seinen Mehrzweckverwendungen sollte der politische Wille und seine Arbeit für den Schutz des Lebens und der Familie nicht durch andere Ziele verlorengehen. Wie unser Heiliger Vater in seiner Enzyklika „Evangelium Vitae“ (n. 20): „In diesem Sinn widerspricht die Demokratie ihren eigenen Prinzipien und bewegt sich hin zu einer Form von Totalitarismus.“ In seiner Rede an Politiker am 28. März 1997 hob er hervor: „Daher gehört es zu den vorrangigsten Aufgaben eines christlichen Politikers, das Evangelium des Lebens hörbar zu machen in allen Straßen der Welt.“ Lassen sie mich an diese Hoffnung an die Worte von Papst Johannes Paul II. anschließen, dass in der Erfüllung des Wunsches des Heiligen Vaters, wir einen entscheidenden Beitrag zum Schutz der Familie und als Folge auch einen wichtigen Beitrag zur Kirche in der heutigen Zeit in Zusammenarbeit zwischen Priestern und Laien durch diesen aktuellen internationalen Kongress hier in Rio de Janiero, der sorgfältig vom Pontifical Council der Familie unter der Präsidentschaft Seiner Eminenz Kardinal López Trujillo vorbereitet wurde, leisten sollen.

Zur Bedeutung von Ehe und Familie für Gesellschaft und Staat (Ein österreichischer Beitrag)* Ehe und Familie haben im Hinblick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, damit auch die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen sowie die Ordnung des privaten und öffentlichen Lebens eine besondere Bedeutung für die Gesellschaft und den Staat. Sie verlangen deshalb auch den Schutz durch das Recht. Viele Möglichkeiten gibt es dazu durch den Staat auch für die Gesellschaft. Ein solcher Hinweis auf die Bedeutung von Ehe und Familie ist in dem Verfassungsrecht eines Staates, beginnend mit der Präambel und den Staatszielbestimmungen ebenso möglich, wie in den Kompetenzbestimmungen und sozialen Grundrechten. Sie verlangen schon den Schutz auch des ungeborenen Lebens und soziale und wirtschaftliche Bedingungen für Ehe und Familie, etwa in der Einkommensverteilung und der Steuerpolitik. Sie sind für die Gesellschaft und den Staat selbst von Wichtigkeit. Der Bestand der Ehe und die Ordnung der Familie bieten mit entscheidend Grundlagen für die Gesellschaft und den Staat. Ehe und Familie sind der Gesellschaft und dem Staat vorgeordnet und diese mitbegründend. Sie sind Teil der göttlichen Schöpfungsordnung und Ausdruck der IchDu-Beziehung der Menschen. Sie haben in dieser Sicht einen präpositiven Charakter. Der Wille zur Eheschließung und zur Gründung einer Familie ist freiwillig und kann vom Staat mit seinem Recht nicht befohlen werden, nur die Rechtswege können hierzu angeboten werden. Leider ist es so, dass von diesem Angebot des Staates in der Gesellschaft nicht immer ausreichend Gebrauch gemacht wird. Bedauernswerterweise sind Lebensgemeinschaften auf Dauer und Lebenspartnerschaften auf Zeit neben geschlossenen Ehen in großer Zahl ebenso üblich geworden wie neben der Geburt in einer Ehe uneheliche Geburten und damit neben ehelichen auch uneheliche Mütter sowie neben häuslichen auch allein erziehende, allein verdienende Mütter. Sie alle sind auch ein pastoraler Auftrag!

* Vortrag gehalten am 19. November 2004 auf der 16. Plenarversammlung des Päpstlichen Rates für die Familie in der Synodenaula des Vatikans, erschienen in: Familia Et Vita, Vatikan, Anno IX, No. 3 2004 / 1 2005, S. 205 ff.

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Zur Bedeutung von Ehe und Familie

Laut letzter Umfragen sind in Österreich 43% der Paare kinderlose Ehepaare bzw. Lebensgemeinschaften; von 8,1 Mill. Einwohnern haben wir in Österreich 243.000 allein erziehende Mütter und 48.000 allein erziehende Väter. Nur 14,4% der Familien mit Kindern haben drei oder mehr Kinder. Die Erwerbsquote liegt bei Frauen (15 bis 59 Jahre alt) mit Kindern bei Alleinerzieherinnen mit 83% höher als bei Ehefrauen mit 74%. Diese Zahlen geben zum Bedenken Anlass! Die Rechtspflicht zur Aufrechterhalten der Ehe und Familie begleitet vorangehend der Gewissensanspruch, der aber nicht erzwungen werden kann, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu begründen. Ehe und Familie sind in ihrer präpositiven Bedeutung Teil der natürlichen Ordnung des Menschseins. Ich freue mich dies in Anwesenheit des Ehepaares Michael und Susie Waldstein zu sagen, die mit ihrer Ehe und mehrköpfigen Familie ein wegweisendes Beispiel geben, wobei schon der Großvater der acht Waldsteinkinder, der Professor des römischen Rechts ist, mein Freund Wolfgang Waldstein, Bedeutendes zur Erkenntnis des Naturrechts von der Antike her geleistet hat. Gerade bei Ehe und Familie zeigt sich, wie Gewissensanspruch und Rechtspflicht sich ergänzen sollten, aber leider es oft nicht entsprechend tun. Es erweist sich nämlich nur allzu oft, dass nicht alles, was der Ordnung würdig ist, auch des Rechtes fähig ist, wie z. B. sich auf einen Mitmenschen verlassen zu können, auf Liebe zu vertrauen und ein Ja zum Kind in der Ehe und Familie zu sagen. Dies ist auch in Österreich in nicht ausreichendem Maß der Fall. So wurden 2003 18.727 Ehen durch staatliche Gerichte rechtskräftig geschieden; das sind 43 von 100 geschlossenen Ehen. Die Gesamtscheidungsrate war 2003 mit 53,2% in Wien am höchsten. 88% aller dieser Scheidungen erfolgten im beiderseitigen Einvernehmen. Ein Drittel dieser geschiedenen Ehen waren kinderlos geblieben; das sind 36,6 %. Gleich der Privatrechtsautonomie als Freiheit im privaten Recht gibt es auch eine Dispositionsfreiheit in Bezug auf das Eingehen von Ehe und Begründen einer Familie. Diese Freiheit soll aber nicht als Freiheit vom liebenden Miteinander weg zu einer Situationsethik mit Gelegenheitsmoral für einen Partnertausch auch auf Kosten des Kindes und Gefährdung der Familie missbraucht werden, sondern als Freiheit zu lebenslanger Treue und einem gegenseitigen Miteinander in Freud und Leid möglichst im Schutz der gesunden Gesellschaft und des Sakramentes der Ehe genutzt werden. Die Achtung von Ehe und Familie drückt eine Verantwortung aus und Verantwortung tragen verlangt Antwort geben! So sehe ich auch die Aufgabe dieses Päpstlichen Rates für die Familie, womit die Kirche zur Heilsfindung der Menschen und zur Ordnung der Gesellschaft sowie des Staates beitragen kann. Denn wer die Autorität des Vaters erlebt, wird später verständnisvoll auch Autoritäten in Gesellschaft und Staat entsprechend anerkennen, wer die Liebe einer Mutter erfährt, diese später auch seinem Ehepartner zuteil werden lassen und wer die Verbundenheit mit seinen

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Geschwistern erfährt, diese hernach im übrigen Leben auch des Berufs und der Politik anderen vermitteln. In dieser Sicht haben Ehe und Familie eine grundlegende Bedeutung sowohl für das private wie das öffentliche Leben und können sich Gewissenanspruch und Rechtspflicht ergänzen. In diesem möglichen liebenden und verstehenden Miteinander von Frau, Mann und Kinder können sie in Ehe und Familie, wie es Papst Paul VI. im Anschluss an Johannes Chrysostomus einmal sagte: „eine Kirche im kleinen sein“. Möge es uns möglich sein, mit dem Päpstlichen Rat für die Familie hierzu vielen diesen Weg segensreich zu weisen.

V.

Die christlichen Wurzeln in der europäischen Verfassungsidee* I. Der Friede ein Anliegen der Integration Für das Christentum ist der Anlass, sich mit der Idee einer Verfassung Europas und einer darin eingeschlossenen Grundrechtecharta auseinanderzusetzen, in dem Anliegen des Friedens gegeben. Wie schon Aurelius Augustinus feststellte, ist der Friede die Ruhe der Ordnung.1 Das Mit- und nicht Neben- und Gegeneinander der Staaten war daher das Anliegen von Christen, besonders in Europa,2 weil von diesem Kontinent viele Gegensätzlichkeiten ausgingen, die von politischen Interessenkonflikten zu militärischen Auseinandersetzungen und letztlich zu zwei Weltkriegen führten, die von Europa ausgehend die ganze Völkergemeinschaft Kontinente übergreifend erfassten. Europa trifft daher eine große Bringschuld an die Staatengemeinschaft! Geradezu die Gefährdung des Friedens vorausahnend hat schon Papst Leo XIII. in seinem Apostolischen Schreiben „Praeclara gratulationis“ auf die Sendung des christlichen Europas hingewiesen3. In diesem Zusammengang seien auch die beiden Friedensbotschaften Papst Benedikt XV. vom 28. Juni 1915 und 1. August 19174 sowie der vom 25. Mai 1920 enthaltene Aufruf an die Völker Europas, sich zu vereinigen, genannt.5 Dieser Gedanke wird auch unmittelbar nach Beginn des 2. Welt* Gastvorlesung, gehalten am 19. April 2005 an der Rechtsfakultät der Universität Trnave, Slovakei, erschienen in: Acta Universitatis Juridica II, Trnave 2005, S. 304 ff. 1 Aurelius Augustinus, De Civitate Dei, XIX, 11 – 15, 14; siehe dazu auch: Dem Krieg zuvorkommen, christliche Friedensethik und Politik, hrsg. von Ernst Josef Nagel, Freiburg / Basel / Wien 1984, darin besonders Ernst Josef Nagel, Friedensförderung im Gesamtkontext der kirchlichen Friedenslehre, S. 7 ff., Norbert Glatzl, Friedensförderung in der neueren päpstlichen Friedenslehre, S. 39 ff. und Bernhard Sutor, Chancen politischer Innovation durch die kirchliche Friedenslehre, S. 60 ff. 2 Siehe Roland Minnerath, Die Kirche und die Europäischen Gemeinschaften, in: Richard Puza und Abraham P. Kusterman (Hrsg.), Staatliches Religionsrecht im Europäischen Vergleich, Freiburg / Schw. 1993, S. 115 ff. und Herbert Schambeck, Katholische Kirche und europäische Integration – Gedanken vor der Beschlussfassung des EU-Verfassungsvertrages, in: Festschrift für Georg Ress zum 70. Geburtstag am 21. Januar 2005, hrsg. von Jürgen Bröhmer u. a., Köln / Berlin / München 2005, S. 773 ff. 3 Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, Dokumente, hrsg. von Emil Marmy, Freiburg in der Schweiz 1945, S. 938 f. 4 Acta Apostolicae Sedis 7, 1915, 364 – 377 und 9, 1917, 417 – 420. 5 Acta Apostolicae Sedis 12, 1920, 209 – 218.

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kriegs von Papst Pius XII. am Beginn seines Pontifikats in seiner Enzyklika „Summi Pontificatus“ vom 20. Oktober 19596 dargelegt. Papst Pius XII. hat Europa als Auftrag noch während des 2. Weltkriegs besonders herausgestellt, so in seiner Rundfunkbotschaft vom 1. September 19447 und konkreter werdend am 11. November 1948 in seiner Rede an dem II. Internationalen Kongress der Europäischen Union der Föderalisten8. Er hat bei dieser Gelegenheit erstmals den Begriff Europäische Union verwendet, der am 7. Februar 1992 im Vertrag von Maastricht zur Rechtsbezeichnung der Form europäischer Integration wurde,9 worauf Papst Johannes Paul II. selbst ausdrücklich aufmerksam machte.10 Nach Beendigung des 2. Weltkriegs betont Papst Pius XII. den christlichen Glauben als die gemeinsame Grundlage für die neue Ordnung Europas, besonders am 18. September 1947 zum 1.400 Todestag des Hl. Benedikt.11 Die Einberufung einer Europäischen parlamentarischen Versammlung12, die Gründung des Europarates im Mai 194913, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Mai 195014 und die Unterzeichnung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten am 4. November 195015 waren Meilensteine auf dem Weg zu einer neuen Ordnung Europas, die vom Hl. Stuhl begrüßt wurden16, sich aber vorerst nur auf den nicht kommunistischen Teil Europas und zwar auf Westeuropa bezog. In gleicher Weise positiv begrüßte der Hl. Stuhl die Römischen Verträge 195717, wodurch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde. Am 13. Juni 1957 hatte Papst Pius XII. konkret bezogene Vorstellungen zur Europaischen Integration, auch was die Tätigkeit der Institutionen betrifft18, und begrüßt in diesem Zusammenhang Föderationsbestrebungen19, zumal der Föderalismus dem christlichen Verständnis des Gemeinwohls und der kirchlichen Soziallehre entspricht. Acta Apostolicae Sedis 31, 1939, 413 – 453. Acta Apostolicae Sedis 36, 1944, 249 – 258. 8 Acta Apostolicae Sedis 40, 1948, 507 – 510. 9 Art. A Vertrag von Maastricht vom 7.2.1992. 10 L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 2. April 2004, S. 8. 11 Acta Apostolicae Sedis 39, 1947, 452 – 456. 12 Acta Apostolicae Sedis 40, 1948, 247 – 254. 13 Acta Apostolicae Sedis 41, 1949, 283 – 286. 14 Acta Apostolicae Sedis 44, 1952, 818 – 823. 15 Siehe Karel Vasak, La convention européenne des droits de L’homme, Paris 1964. 16 Siehe Jürgen Schwarz, Katholische Kirche und Europa, Dokumente 1945 – 1979, München 1980 und schon vorher Otto B. Roegele, Was geht uns Christen Europa an?, Osnabrück 1964. 17 Beachte Minnerath, Die Kirche und die Europäischen Gemeinschaften, S. 115 ff., bes. S. 118 ff. 18 Acta Apostolicae Sedis 49, 1957, 629 – 632. 19 Acta Apostolicae Sedis 49, 1957, 966 – 969. 6 7

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II. Christentum und Integration Europas Mit und neben der Frage der Organisation der neuen Ordnung Europas war die Anerkennung der Menschenrechte und mit ihnen der Schutz der Freiheit und Würde der Menschen grundlegend für die christliche Wurzel in der europäischen Verfassungsidee, zu der die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 des Europarates ein grundlegender und wegweisender Beitrag war. Für die weitere Entwicklung der Menschenrechte auch auf eine neue Verfassungsordnung Europas hin war die 1972 begonnene Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa20 (KSZE) bestimmend. Ihr Erfolg zeigte sich 1975 in den Schlussakten der europäischen Sicherheitskonferenz, welche im Korb 3 die Grundrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit für alle unterzeichnenden Staaten verpflichtend und ihre Geltendmachung durch andere Staaten nicht als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten erklärte. Die Teilnehmerstaaten umfassten damals nicht nur die freien westlichen Demokratien, sondern auch die östlichen so genannten Volksdemokratien. Eine Folge dessen war die Dissidentenbewegung, die mit entscheidend zum Ende des Kommunismus und damit der Teilung Europas sowie zur Erweiterung der freien Welt auf dem europäischen Kontinent beitrug. Sie war mit ein wichtiger Grund, dass die Zahl der Mitglieder des Europarates und der heutigen Europäischen Union zunehmen konnte. Dieser Weg zur neuen Ordnung Europas war durch Jahrzehnte von Christen begleitet, die christliches Apostolat und politische Verantwortung miteinander verbunden haben und unter Gefährdung ihres Lebens sowie ihrer Freiheit sich für die Demokratie und den Rechtsstaat einsetzten. Sie gingen unter Existenzgefährdung an die Öffentlichkeit und setzten eine neue politische Ordnung durch. Diese Vorgänge, die zu einer politischen Wende in Europa führte, ist sowohl ein Zeichen lebendiger Subsidiarität, die von den einzelnen Menschen ausging und sich auf die Gesellschaft, den Staat und die Völkergemeinschaft übertrug, als auch für die Wirksamkeit des Naturrechtes, nämlich eines Rechtes mit dem der Mensch geboren wird und das ihm bewusst und begrifflich deutlich oder nicht, wegweisend bestimmt, während ihm das positive Recht eine solche Negativhaltung gegenüber der öffentlichen Ordnung im Staat verbieten würde. Auf diese Weise finden die aus ideologischen Gründen geteilten Teile Europas, vor allem mit dem Westen und Süden auch die Mittel- und Osteuropas wieder zueinander. Sehr deutlich dokumentiert sich dies in der katholischen Kirche, in der Papst Paul VI. den Hl. Benedikt 20 Dazu Helmut Liedermann, Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), in: Pro Fide et Iustitia, Festschrift für Agostino Kardinal Casaroli zum 70. Geburtstag, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1984, S. 489 ff. sowie Agostino Kardinal Casaroli, Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in: derselbe, Wegbereiter zur Zeitenwende, letzte Beiträge, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1999, S. 35 ff.

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1964 zum Schutzpatron Europas21 und Papst Johannes Paul II. 1980 Kyrillos und Methodius zu Mitpatronen ernannt hatten.22 Auch repräsentativ und institutionell hat sich das Christentum und das über die katholische Kirche mit dem Hl. Stuhl hinaus auf europäischer Ebene dokumentiert, um zur Meinungs-, Urteils- und Willensbildung das Notwendige und Mögliche beizutragen.23 Sind doch auch etwa 80% der Unionsbürger religiös und davon überwiegend katholische und evangelische Christen. Die katholische Kirche ist in zweifacher Weise gegenüber den EU-Einrichtungen präsentiert: durch den Hl. Stuhl,24 der die Anliegen auch aus der Sicht der Weltkirche vertritt und im Hinblick auf die Interessen der jeweiligen Diözesen die Kommission der Nationalen Bischofskonferenzen (COMECE). Dazu haben auch manche bedeutende große katholische Orden eigene Vertretungen in Brüssel. Die evangelischen Kirchen und andere christliche Kirchen, wie die Orthodoxen, sind entweder durch die Konferenz der Europäischen Kirchen (KEK), eine Vereinigung von 126 Kirchen und Konfessionen und / oder durch eigene Büros vertreten, beispielsweise die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD), oder entsenden spezielle Repräsentanten, wie zum Beispiel die Lutherischen Kirchen Schwedens und Finnlands. Die Orthodoxen Kirchen sind in Brüssel darüber hinaus u. a. durch die ständigen Missionen des ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, der griechisch-orthodoxen Kirche und der russisch-orthodoxen Kirche präsent. Neben der Unterschiedlichkeit in Europa an Kirchen und Religionsgemeinschaft sei nicht übersehen, dass es auch eine Unterschiedlichkeit in den Beziehungen von Kirchen und Staat gibt. So gibt es in den 25 EU-Mitgliedsländern weit mehr als 50 unterschiedliche staatskirchenrechtliche Systeme, die in drei Gruppen eingeteilt werden können, nämlich in das System des Staatskirchentums (wie etwa in England), der Trennung von Kirche und Staat (wie in Frankreich) und der Kooperation (wie in den übrigen EU-Staaten). Die Zusammenarbeit in Abstimmung auf die jeweiligen Aufgabenbereiche von Kirche und Staat kann wahrscheinlich am wirkungsvollsten zum Gemeinwohl beitragen. Auf diese unterschiedlichen Verhältnisse von Kirche und Staat in Europa sei im Zusammenhang mit der EU auch deshalb hingewiesen, weil die Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht in die Kompetenz der EU, sondern die der

Papst Paul VI., Apostolisches Schreiben Pacis nuntius vom 24. Oktober 1964. Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Egregiae virtutis vom 31. Dezember 1980. 23 Siehe Michael Weninger, Einige der wesentlichen religionsrechtlichen und kirchenpolitischen Aspekte des EU-Verfassungsvertrages, öarr österr. archiv für recht und religion 2003, heft 1, 50. Jahrgang, S. 96 ff., bes. S. 101 ff. 24 Beachte Heribert Franz Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls, Berlin 1975. 21 22

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jeweiligen Staaten fallen. Sie werden entsprechend Art. I-52 des Verfassungsvertrages bzw. der Deklaration Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam von der EU respektiert. Es ist erfreulich und dankenswert, dass das Wirken dieser Repräsentanten des Christentums in Europa zu einer Interessenvertretung des Religiösen gegenüber der EU geführt haben, aber schon vorher zu Dokumenten, welche konstruktive Beiträge zu dem Bemühen um die neue Ordnung Europas darstellen. In diesem Zusammenhang sei auf die Erste Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa „Damit wir Zeugen Christi sind, der uns befreit“, 28. November bis 15. Dezember 1991 und die Zweite Bischofssynode für Europa „Jesus Christus, der in seiner Kirche lebt – Quelle der Hoffnung für Europa“, 1. bis 25. Oktober 1999 verwiesen sowie vor allem auf das nachsynodale Schreiben „Ecclesia in Europa“ vom 28. Juni 2003. In diesem drückte Papst Johannes Paul II. bezüglich der künftigen europäischen Verfassung den Wunsch aus, dass drei ergänzende Elemente Anerkennung finden: „das Recht der Kirchen und der religiösen Gemeinschaften, sich frei und entsprechend ihrer eigenen Statuten und Überzeugungen zu organisieren, die Berücksichtigung der spezifischen Identität der Glaubensgemeinschaften und Maßnahmen zur Einrichtung eines strukturierten Dialogs zwischen der Europäischen Union und eben diesen Glaubensgemeinschaften; die Achtung des rechtlichen Status, den die Kirchen und religiösen Institutionen schon jetzt in den Mitgliedstaaten genießen“,25 und betonte: „Erklärtes Ziel der europäischen Institutionen ist der Schutz der Rechte der menschlichen Person“.26 Auch die Konferenz europäischer Kirchen (KEK) der die meisten orthodoxen, reformatorischen, anglikanischen, freikirchlichen und altkatholischen Kirchen in Europa angehören und der Rat der europäischen Bischofskonferenzen der katholischen Kirche haben in der am 22. 4. 2001 in Straßburg unterzeichneten Charta Oecumenica Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa beschlossen. Sie sprechen sich in Europa u. a. für den ökumenischen Dialog, für das Mitgestalten der Christen in Europa, die Anerkennung gemeinsamer Werte und der Vielfalt regionaler, nationaler, kultureller und religiöser Traditionen, für Versöhnung und Demokratisierung in Europa, die soziale Gerechtigkeit in und unter allen Völkern sowie für die Versöhnung und die Bewahrung der Schöpfung aus.27

25 Vgl. Papst Johannes Paul II., Ansprache beim Neujahrsempfang des Diplomatischen Korps (19. Januar 2003) in: L’Osservatore Romano, 13. / 14. Januar 2005, S. 6. 26 Nachsynodales Schreiben Ecclesia in Europa von Papst Johannes Paul II. 2003, Vatikanstadt 2005, Nr. 115, S. 133. 27 Charta Oecumenica, Straßburg, 22. April 2001, II f.

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III. Das Christentum in der europäischen Leitkultur Die europäische Verfassungsidee hat in dem am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichneten Vertrag über eine Verfassung für Europa Gestalt angenommen.28 Es handelt sich nicht um einen Verfassungsvertrag im eigentlichen Sinn, sondern um einen völkerrechtlichen Vertrag mit verfassungsähnlichem Inhalt. Im Vergleich zu der Verfassungsordnung eines Staates besteht insofern eine Ähnlichkeit, als neben dem Organisationsteil auch eine Grundrechteordnung gegeben ist, welche neben den klassischen, nämlich demokratischen und liberalen Grundrechten auch solche Grundrechte beinhaltet, die sich auf das Sozialleben, den Minderheiten- und Umweltschutz beziehen. Im Unterschied zu den Verfassungen der Staaten, von denen weltweit von 191 Verfassungen 143 eine Präambel haben, hat dieser Verfassungsvertrag zwei Präambeln, je eine vor dem organisationsrechtlichen und vor dem grundrechtlichen Teil. Sowohl die Präambel am Beginn des Verfassungsvertrages als auch die der Grundrechtecharta lassen unterschiedlichen Formulierungen und Feststellungen die EU auch als Rechts- und Wertegemeinschaft erkennen. Die Präambel des Verfassungsvertrages beginnt mit der Feststellung „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen wie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben, …“. Die Präambel der EU-Grundrechtecharta ist hingegen im Vergleich zu der des Verfassungsvertrages mehr allgemein und weniger deutlich gehalten. Sie betont auch das Bewusstsein, und zwar „ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes“29, in dem sich „Die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“ gründet. Sie druckt auch das Beruhen „auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit“ aus. Die Präambel der Grundrechtecharta gibt u. a. auch den Hinweis auf die Freiheiten der EU sowie auf die Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie der Europarat in der EMRK und die EU in den Sozialchartas beschlossen hat. Beim Vergleich beider Präambeln fällt auf, dass in beiden der Gottesbezug und die ausdrückliche Nennung des christlichen Erbes fehlen. Das ist zutiefst den christlichen Wurzeln der europäischen Verfassungsidee widersprechend, wie sie vorherstehend aufgezeigt wurden. 28 Vertrag über eine Verfassung für Europa, Amtsblatt der Europäischen Union C 310, Ausgabe in deutscher Sprache, Mitteilungen und Bekanntmachungen, 47. Jahrgang, 16. Dezember 2004. 29 Diese Formulierung stellt auf französische Intervention hin einen sprachlichen Kompromiss dar; in den anderen Sprachfassungen ist nämlich lediglich von spirituellem Erbe (z. B. patrimoine spirituel, spiritual heritage) die Rede.

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In beiden Präambelformulierungen wird in eigenschaftswörtlicher Verwendung das Wort Religion beim Verfassungsvertrag im Hinblick auf das Erbe Europas nach der Kultur und vor dem Humanismus sowie in der Präambel der Grundrechtecharta nach dem geistigen und vor dem sittlichen Erbe, auf dem sich die Union gründet, genannt. Da die EU auf der Anerkennung der Nationen und Völker ihrer Staaten sowie, oft und oft betont, auf der Anerkennung ihrer Identität beruht und zu dieser Identität das Christentum in Europa zählt, ist es falsch, die ausdrückliche Nennung des Christentums in der Präambel zu unterlassen. Dementsprechend warnend hatte auch bereits 1991 Joseph Kardinal Ratzinger hingewiesen auf „das zunehmende Absinken der europäischen Idee in eine bloß ökonomische Arithmetik, die zwar Europas wirtschaftliche Macht in der Welt immer mehr steigerte, aber die großen ethischen Ziele immer mehr auf Besitzvermehrung reduziert und in die reine Logik des Marktes einebnet.“30 Ersten Repräsentanten des integrierten Europas war und ist dieses Erfordernis auch bewusst. So sprach auch Jacques Delors von der Notwendigkeit, „das Gewissen Europas zu formen“31 und erklärte: „Wenn es uns in den nächsten zehn Jahren nicht gelingt, Europa eine Seele, Spiritualität und Bedeutung zu gehen, dann ist das Spiel aus“32 und es anerkannte Jacques Santer die Kirchen als „bevorzugte Partner“ der EU-Kommission, besonders im Sozialbereich und bei der Entwicklungshilfe.33 Auch Romano Prodi betonte die Wichtigkeit der Religion für den künftigen Weg Europas und stellte fest: „Im Laufe der Geschichte war die Religion oft Ursache von Konflikten, ja sogar von großen Kriegen. Aber sie war auch immer eine Quelle der Hoffnung, der Kreativität und Weisheit. Religion kann und muss einen wesentlichen Beitrag leisten zu den Zielen, die wir alle teilen: zukünftige Freiheit von Furcht, friedlicher Fortschritt zum Wohle aller und Verteidigung der menschlichen Werte gegen Gewalt, Hass und Diskriminierung.“34 Bei der Präambel zum EU-Verfassungsvertrag wäre die besondere Gelegenheit gewesen, durch den Gottesbezug und den Hinweis auf das Christentum als das schon durch 2000 Jahre prägende Erbe besonders die Bedeutung der Religion und die EU auch als Wertegemeinschaft35 bewusst zu machen und erleben zu lassen. Das ist ein klassischer Fall für das Verschweigen der Geschichte! 30 Joseph Kardinal Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Freiburg 1991, S. 84. 31 Jacques Delors, Réconcilier l’idéal et la nécessité, Rede vor dem College d’Europe in Brügge am 17. Oktober 1989, S. 1: Beachte auch die Ansprache von Vaclav Havel, gehalten am Trinity College in Dublin am 28. Juni 1996. 32 Jacques Delors, Ansprache in Brüssel an die vertretenen Kirchen am 14. April 1992. 33 Jacques Santer, Ansprache bei der Generalversammlung der Europäischen Kommission für Kirche und Gesellschaft (EECCS) im August 1998 in Brüssel, zitiert nach Kathpress-Tagesdienst vom 21. / 22. September 1998, S. 18. 34 Romano Prodi, Speech „Why dialogue is important“, EU Institutions press releases, Brüssels, March 20th, 2002, DN: Speech / 02 / 114, page 3.

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Dabei zählt, wie Bischof Egon Kapellari betonte, das Christentum entscheidend und bleibend zur „europäischen Leitkultur“. Er erklärte: „Wer die humane und kulturelle Prägung Europas durch das Christentum verschweigen will, der übersieht den wesentlichen Beitrag, den das Christentum für den Wertehaushalt europäischer Gesellschaften nach wie vor im großen Maße leistet … Dieses christliche Erbe Europas sollte daher gerechterweise als einer der stärksten Quellen der kulturellen und ethischen Identität Europas neben anderen wichtigen Quellen auch in der Präambel zur künftigen Verfassung der EU benannt werden. Ein Verschweigen … wäre keineswegs eine notwendige Konsequenz von Toleranz gegenüber Nicht- oder Andersgläubigen, die uns Christen heute ja selbstverständlich sein müssten, sondern eine Intoleranz gegenüber tragenden Elementen der Identität einer Mehrheit der Bevölkerung in den meisten EU-Ländern“.36 Nicht von der Theologie sondern vom Staatsrecht her kommend und auch die Geschichte heranziehend erklärte Klaus Stern, dass „dieser Verweis“ auf das allgemein formuliert Religiöse „herzlich wenig für ein Europa“37 ist, „dessen Wurzeln unstreitig neben anderen Prägefaktoren nun einmal christlich sind. Man denke an die Abwehrschlacht der christlichen, erstmals Europaeenses genannten Ritter in der Schlacht von Tours und Poitiers 732 gegen die Mauren“.38 Er bemerkt: „Es will mir nicht einleuchten, dass ein Verweis auf die Verantwortung vor ‚Gott‘ wie im Grundgesetz oder in der Schweizer Bundesverfassung oder anderen europäischen Verfassungen ein verfassungspolitisches Sakrileg ist und andere Religionen als die christliche ausgegrenzt würden. Menschenwerke, und dazu gehören auch Verfassungen, geschehen allemal im Angesicht einer höheren Instanz, ob und wie auch immer man an sie glaubt. Mehr denn je nach den Katastrophen und Unrechtstaten des vergangenen Jahrhunderts ist es vonnöten, dass die Rechenschaftspolitik und Verantwortlichkeit allen politischen Handelns vor einer höheren Instanz erkannt und normativ verankert wird. Wer anders soll diese höhere Instanz sein als Gott?“39 Stern verlangt: „Wenn wir daran festhalten wollen, dass eine Präambel Ausdruck der Verfassungskultur der Verfassungs35 Näher Herbert Schambeck, Über die Seele und das Gewissen Europas, in: derselbe, Zu Politik und Recht, Ansprachen, Reden, Vorlesungen und Vorträge, hrsg. von den Präsidenten des Nationalrates und des Bundesrates, Wien 1999, S. 253 ff.; derselbe, Europa – eine politische, ja mehr noch, eine geistige Einheit, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 7. Mai 2004, S. 11 sowie derselbe, Über Grundsätze, Tugenden und Werte für die neue Ordnung Europas, in: Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, hrsg. von Klaus Stern u. a., Heidelberg 2005, S. 377 ff. 36 Egon Kapellari, Gibt es eine christliche Leitkultur in Europa? Eine Nachlese zum Mitteleuropäischen Katholikentag 2004, Vortrag bei den Reichersberger Pfingstgesprächen am 31. Mai 2004, S. 9; siehe auch derselbe, Die Christen auf dem Bauplatz Europa, in: derselbe, Begegnungen unterwegs, eine Nachlese, Graz 2005, S. 289 ff. 37 Klaus Stern, Polens Aufgabe für den Schutz der EU-Grundrechte-Charta, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 7. Mai 2004, S. 12. 38 Stern, a. a. O. 39 Stern, a. a. O.

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geber und der von ihnen Repräsentierten ist, dann darf im Grundgesetz für Europa die ‚invocatio Dei‘ nicht fehlen“.40 In der Frage nach Gott und dem Verfassungsrecht41 verbinden sich Transzendenz und Immanenz sowie Glaube und Politik. Beide berühren den Menschen, der, wenn gläubig, sich um seine Heilsfindung bemüht, und, wenn zugehörig zu einem Gemeinwesen, dessen Ordnung zu beachten hat. Nach Religionszugehörigkeit wird es verschiedene Gottes-Verständnisse geben. Diese Verschiedenheit schließt aber den grundsätzlichen Gottesbezug nicht aus, der die Menschen von absoluten Atheisten abgesehen, auch in einer pluralistischen Demokratie begleitet! Der Gottesbezug und das christliche Erbe ist bewusst oder nicht über die Bereiche des Christlichen hinaus allen Menschen in den Staaten mit Grundrechteordnungen zugute gekommen, denn die Grundrechte sind Ausdruck der Menschenwürde und diese ist in der Lehre des Christentums von der Gottesebenbildlichkeit der Menschen begründet.42 Joachim Kardinal Meisner hat es schon festgestellt: „Nirgends ist der Mensch in seiner Würde deshalb höher definiert, als im Christentum. Die orthodoxen Kirchen haben sogar den Mut von der Gottwerdung des Menschen durch die Menschwerdung Gottes zu sprechen.“43 Die Lehre des Christentums von der Gottesebenbildlichkeit hat die Würde des Menschen metaphysisch begründet; sie zählt entscheidend mit zu den Voraussetzungen, von denen Ernst Wolfgang Böckenförde im Hinblick auf den freiheitlich säkularisierten Staat erklärte, „die er selbst nicht garantieren kann“.44 Sie sind vorausgesetzt. Was für den Staat gilt, gilt auch für den Staatenverbund der EU! Gerade für einen europäischen Verfassungsvertrag wäre ein solcher Gottesbezug begrüßenswert und begründbar, weil diese europäische Gemeinschaft von einer christlichen Tradition getragen ist, die auf Jahrhunderte mit mannigfachen Zeugnissen zurückgeht. Man übersehe auch nicht, dass die Staatsmänner, welche der Integration Europas den Weg gewiesen haben, nämlich Robert Schuman, Alcide De Gasperi, Konrad Adenauer und Joseph Bech, alle bekennende Katholiken waren. Das Christentum hat auch sie so wie viele Nationen und Staaten geprägt, die heute Mitglieder der EU sind, und seinen Niederschlag in der Völkerrechtslehre gefunden.45

Stern, a. a. O. Näher dazu Herbert Schambeck, Gott und das Verfassungsrecht, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 16. Januar 2004, S. 12. 42 Beachte Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Form, 2. Aufl., Wien 1965, S. 257 ff. und Leo Scheffczyk, Walter Leisner, Das Ebenbild Gottes im Menschen – Würde und Freiheit, in: Staatsethik, hrsg. von Walter Leisner, Köln / Bonn 1977, S. 77 ff. 43 Joachim Kardinal Meisner, Identität und Werte beim Internationalen Treffen der Communité di Sant’Egidio in Aachen am 8. September 2003, S. 3. 44 Ernst Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1976, S. 60. 40 41

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Der Gottesbezug und der Hinweis auf das christliche Erbe würden daher auch der historischen Wahrheit entsprechen! Treffend hat bereits Michael Weninger erklärt: „Es gibt also ein geistiges, ein geistliches, ein spirituelles, ein religiöses Erbe Europas. Ob das Gegner anerkennen wollen oder nicht, ist nebensächlich, es ist ein Faktum. Ein Faktum, das man nicht negieren kann … Würden wir vom Europa des Jahres 2003 alles, was es an religiösem Erbe hat, in der Musik, in der Literatur, in jeder Form der Kulturschöpfung, auch in der Politik, in der Lehre, in der Wissenschaft abziehen, das entweder christlich fundiert oder überhaupt christlich ist, was würde da übrig bleiben? Ein kümmerlicher Rest.“46 Für Böckenförde ist auch nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel47 „zu fragen, ob nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Sendungskräften leben muss, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt“.

IV. Der religiöse Bezug der EU Deutliche Worte fand auch Papst Johannes Paul II. für das Fehlen des Gottesbezuges: „Man schneidet nicht die Wurzeln ab, aus denen man gewachsen ist“,48 und in der Stellungnahme des Heiligen Stuhls vom 19. Juni 2004. In ihr wird Zufriedenheit und auch Bedauern über den europäischen Verfassungsvertrag geäußert.49 Neben den Gedanken über das Fehlen des Gottesbezugs in dem europäischen Verfassungsvertrag kann in einer allerdings Unterschiedlichkeit an Wertung der einzel45 Siehe dazu vor allem Alfred Verdross, Die Entstehung der christlichen Völkerrechtslehre und ihre Entfaltung durch die Päpste sowie durch das Zweite Vatikanische Konzil, in: Der Einfluss des katholischen Denkens auf das positive Recht, hrsg. von Theodor Tomandl, Wien 1970, S. 9 ff. 46 Siehe Michael Weninger, Der EU-Dialog mit den Religionen und Kirchen, Kathpress-Tagesdienst vom 22. August 2005, S. 2 f. 47 Georg Wilhelm Hegel, Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1830, § 552. 48 L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 34. Jg., Nr. 26, 25. Juni 2004, S. 1. Beachte auch Tommaso Stenico, Giovanni Paolo II., Padre dell’Europa, Dall’Atlantico agli Urali nel segno di Christo, Libreria Editrice Vaticano 2003 und J. H. H. Weiler, Ein christliches Europa, Erkundigungsgänge mit einem Vorwort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Salzburg / München 2004. 49 L’Osservatore Romano, a. a. O. In gleicher Weise auch die Stellungnahme des EKDRatsvorsitzenden Bischof Wolfgang Huber und des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Karl Kardinal Lehmann zur Einigung über den europäischen Verfassungsvertrag, Hannover / Bonn, 19. Juni 2004 sowie die Erklärung des Exekutivausschusses der COMECE zum Verfassungsvertrag für die Europäische Union, Rom, 25. Juni 2004, der Vortrag des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Karl Kardinal Lehmann, Zur Zukunft der Europäischen Verfassung, Perspektiven aus christlicher Sicht, am 27. September 2004 in Berlin, US 2747 / 2004, S. 2 ff. und die Erklärung der Ständigen Vertretung des Ökumenischen Patriarchats in Brüssel am 25. Jänner 2005.

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nen Formulierungen an verschiedenen Stellen ein Bezug auf die Religionen, Kirchen und Religionsgemeinschaften in dem EU-Verfassungsvertrag festgestellt werden. So heißt es in der Präambel nach dem ersten Absatz, dass die Union „aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“ schöpft. Diese Anerkennung ist ein Fortschritt im Vergleich zur Präambel der Grundrechtecharta. Sie betont die Bedeutung des Beitrags der Religionen und ihrer Werte für das Europa von heute. Der Art. I-52 verleiht der Erklärung Nr. 11 im Anhang des Vertrages von Amsterdam Verfassungsrang und garantiert damit, dass die Europaische Union den Status achtet, den Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen. „In Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrages“ sieht dieser Artikel einen „offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“ mit den Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften vor und anerkennt somit die Bedeutung und Eigenart dieser Kirchen und Gemeinschaften auf nationaler Ebene ebenso wie auf europäischer Ebene; Gemäß Abs. 2 der Präambel der Grundrechtecharta ist sich die Union „ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes“ bewusst; Art. II-70 garantiert die Religionsfreiheit in ihrer individuellen und kollektiven Dimension, indem sie den gleichen Wortlaut wie Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention übernimmt. Gemäß Art. II-112 Abs. 3 muss die Religionsfreiheit von den Institutionen der Union in derselben Weise gewährleistet werden, wie nach der EMRK. Gemäß der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg umfasst Art. 9 EMRK implizit auch die institutionelle Dimension der Religionsfreiheit. Allerdings kann die Union auch einen weitergehenden Schutz gewähren; Art. II-74 achtet gemäß den einzelstaatlichen Gesetzen das Recht auf Bildung und die Freiheit, Lehranstalten zu gründen, sowie das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen; Art. II-81 Abs. 1 verbietet jede Diskriminierung auf Grund einer religiösen Überzeugung und Art. II-82 dekretiert, dass die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen achtet. Hinsichtlich des Dialogs der Union mit den Religionen und Kirchen kennt die Verfassung drei verschiedene Formen eines solchen, die alle dem Ansatz der so genannten partizipativen Demokratie folgen, nämlich: den Dialog der Europäischen Institutionen mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft gemäß Art. I-47 (2) zu welchen selbstverständlich auch die religiösen Verbände zu zählen

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sind, weiter den Dialog zwischen den Sozialpartnern (Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen), zu denen auch kirchliche gehören, gemäß Art. I-48 und schließlich den Dialog der Union mit den Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gemäß Art. I-52 (3). Bedeutsam ist die Abgrenzung des Dialogs mit den Religionen und Kirchen von jenem mit der Zivilgesellschaft. Diese Unterscheidung wird durch Art. I-52 (3) gestützt, demzufolge sich dieser Dialog mit den Kirchen „in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrages“ vollzieht. Diese Unterscheidung findet ihre Grundlage im Weißbuch über das Europäische Regieren: „Die Zivilgesellschaft spielt eine wichtige Rolle, den Belangen der Bürger eine Stimme zu geben und Dienste zu erbringen, die den Bedürfnissen der Menschen entsprechen. Kirchen und Religionsgemeinschaften haben hier einen besonderen Beitrag zu leisten.“50 Die Verfassung konkretisiert nun diese Überlegungen, indem sie die Religionen und Kirchen in „Das demokratische Leben der Union“51 einbezieht, ohne sie allerdings mit den Akteuren der Zivilgesellschaft gleichzusetzen. Damit trugen die Verfassungsgeber dem Selbstverständnis und der spezifischen Identität der Religionen und Kirchen Rechnung, denen zufolge sie sich aufgrund ihrer religiösen Fundierung, ihres universalen Ansatzes, ihrer spezifischen Anthropologie und Soziallehre sowie der daraus resultierenden Beiträge zur politischen Diskussion wesenhaft von Akteuren der Zivilgesellschaft unterscheiden, wobei es kirchlichen Akteuren selbstverständlich unbenommen bleibt, an den Tätigkeiten der Zivilgesellschaft aktiv mitzuwirken. Über die Zielsetzungen eines solchen Dialogs enthält der europäische Verfassungsvertrag keine Angaben. Hingegen können unter Beachtung der bisherigen Praxis des bereits geführten Dialoges seitens der Europäischen Kommission mit den Religionen und Kirchen sowie des bisherigen Engagements der Partner mindestens vier Ziele ausgemacht werden: Beiträge zur Diskussion um die Grundwerte der Europäischen Union, ein Engagement für das europäische Gemeinwohl in den verschiedenen Politikfeldern, ein Bemühen um die Verwirklichung der korporativen Religionsfreiheit auf EU-Ebene und nicht zuletzt Beiträge zur Vertiefung und Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses im Allgemeinen.

V. Die EU auch als Rechts- und Wertegemeinschaft Diese Beiträge der Kirchen im Dialog mit der EU haben über den Bereich der Religion hinaus Bedeutung, weil sie eine ständige Quelle für ein Denken von und zu 50 Europäisches Regieren – Ein Weißbuch, Brüssel, 25. 7. 2001, KOM (2001) 428 endgültig, S. 19. 51 Vertrag über eine Verfassung für Europa, Titel VI.

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Werten sein können. Sie können zu den christlichen Wurzeln hinführen, die Basis für wertende Antwort geben lassen, welche gerade in der EU die Verantwortung vor allem für Menschenwürde, Menschenrechte, soziale Marktwirtschaft, Fortschritt, Familie, Solidarität, Subsidiarität und Partnerschaft verlangen. Hervorhebenswert sind in diesem werteorientierten Grundrechtsdenken in Art. II-63 das Rechtjedes Menschen auf körperliche und geistige Unversehrtheit sowie das Verbot des reproduktiven Klonens. Die EU-Grundrechte lassen aber auch Fragen offen, beginnend mit dem Recht auf Leben in Art. II-62 (1). Hier stellt sich schon die Frage nach dem Beginn des Lebens. Nach dem Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 8. Juli 2004 liegt diese Feststellung im Ermessen der einzelnen Staaten;52 das Gleiche gilt auch neben der grundsätzlichen Anerkennung für Ehe und Familie im Art. II-67. Auch die Ablehnung der Diskriminierung wird mehr abstrakt formuliert als konkret ausgeführt.53 Den Rahmen für all diese notwendigen Bemühungen, welche die EU sowohl als Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft, als auch als Rechts- und Wertegemeinschaft zum Ziel haben, geben die im Art. I (2) des Verfassungsvertrages genannten Werte an, auf die „sich die Union gründet“; dies „sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“. Diese Werte sind im abendländischen Rechts- und Staatsdenken erkennbar größtenteils das Ergebnis einer Säkularisation traditionsreichen christlichen Glaubens- und Gedankengutes. Bei ihrer Verwirklichung im Rahmen der EU wird es sicher nicht genügen, auf den allgemeinen Pluralismus und auf die betreffende einzelstaatliche Gesetzgebung hinzuweisen, sie verlangen vielmehr die Präzisierung und Fundierung zentraler Grundrechte und Grundwerte der EU-Verfassungsordnung sowie, wie es Karl Kardinal Lehmann auch ausdrückte „klarere Umschreibungen der kulturellen Identität des neuen Europa“54. Der EU-Verfassungsvertrag verbindet diese im Art. I (2) genannten Werte mit der Anerkennung und Wahrung von „Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung“;55 alles Ziele, die neben dem Normieren auch ein Motivieren sowie neben dem institutionellen Rechtsleben auch die praktizierte Rechtserziehung verlangen, das Christentum könnte hierzu mit einer Brüderlichkeit, die ökumenisch56 und ökonomisch57 zugleich ist, einen wegweisenden Beitrag für die

EGMR 8. 7. 2004, VO gegen Frankreich, News Letter 2004 / 4, S. 180 ff. Art. 1-4 (2) und Art. III-123 f. 54 Lehmann, Zur Zukunft der Europäischen Verfassung, S. 5. 55 Vertrag über eine Verfassung für Europa, Titel I, Artikel 2. 56 Siehe Papst Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis vom 30. Dezember 1987, Nr. 47, derselbe, Enzyklika Centesimus annus vom 1. Mai 1991, Nr. 60 und derselbe, Enzyklika Fides et ratio vom 14. September 1998, Nr. 104. 52 53

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Zukunft eines integrierten Europa von Morgen und dieses beispielgebend für die Völkergemeinschaft des 21. Jahrhunderts leisten.58

57 Näher Herbert Schambeck, Subsidiarität und Souveränität in Zeiten der Globalisierung, in: The Governance of Globalisation, edited by Edmond Malinvaud and Louis Sabourin, Vatican City 2004, S. 129. 58 Siehe Egon Kapellari, Das Christentum in einem künftigen Europa, Fürstenfeld 2003, S. 9 f.

Edith Stein und die neue Ordnung des integrierten Europa* „Unser europäisches Selbstbewusstsein erwächst zwar im Bild dessen, was war, aber entscheidend ist es durch unsere gegenwärtige Existenz. Wir dürfen nicht in Masken der Vergangenheit, nicht als Gespenster des Gewesenen operieren. Wir können die Wahrheit des Vergangenen nur ergreifen, wenn wir sie in Erscheinung verwandeln“1. Diese Feststellung traf Karl Jaspers im Herbst 1946 in seinem Vortrag im Rahmen der „Rencontres internationales“ in Genf und fügte die Frage hinzu: „Woraus kann die Verwandlung geschehen? Nur aus dem ursprünglichen Glauben, aus dem schon die Bibel hervorgegangen ist, aus dem Ursprung, der zu keiner Zeit war, sondern immer ist, dem ewig Wahren: Mensch und Gott, Existenz und Transzendenz“2. Dieses Zitat ist nicht allein aus der Sicht des Philosophen von Bedeutung, sondern für jeden, der nach den Kräften fragt, die für die Ordnung im Menschen und zwischen den Menschen bestimmend ist sowie zur Beantwortung letzter Fragen der Existenz des Menschen führen kann. Aus diesem Grund hat es Bedeutung auch für die Philosophie des Rechts, und zwar auch in Bezug auf das positive Recht; dieses bedarf nämlich zu dem Bestand seiner Geltung3 der Wirksamkeit4 und diese neben dem Normieren in seiner Rechtssetzung auch des Motivierens für die Rechtsanwendung. Diese Gemeinsamkeit von Normieren und Motivieren bedarf auch nach dem Reformvertrag von Lissabon5 die neue Ordnung des sich integrierenden Europas, damit sich Heimat-, Staats- und Europabewusstsein wechselseitig ergänzen und bei* Vortrag gehalten an der Päpstlichen Theologischen Fakultät in Wroclaw (Breslau) am 30. Januar 2012, erschienen in: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 2. März 2012, Nr. 9, S. 10 ff. und Wokół myśli Edyty Stein św. Teresy Benedykty od Krzyża, Szkice filozoficzne, Redakcja naukowa: Jerzy Machnacz, Monika Malek, Krzysztof Serfin, Krakow 2012, S. 153 ff. 1 K. Jaspers, Europa der Gegenwart, Wien 1947, S. 48. 2 K. Jaspers, a. a. O., S. 51. 3 Beachte H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig und Wien 1934, S. 7 ff. und S. 69 f. und H. Schambeck, Ordnung und Geltung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Wien 1961, Festnummer für Hans Kelsen, Band XI (Neue Folge), S. 470 ff. 4 Dazu. H. Schambeck, Ethik und Staat, Schriften zum öffentlichen Recht, Band 500, Berlin 1986, S. 88 ff. 5 Siehe der Vertrag von Lissabon, EU-Vertrag, Vertrag über die Arbeitsweise der EU – Konsolidierte Fassungen, 3. Aufl., Heidelberg 2010.

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spielgebend sowie wegweisend zum Frieden in der Völkergemeinschaft beitragen. Europa, von dem im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege mit Millionen Menschenopfern ausgegangen sind, hat nämlich eine uns über die Zeitenwende begleitende Bringschuld, zu deren Erfüllung Edith Stein Richtung gebend ist.

I. Edith Stein und das jüdisch-christliche Erbe Dieser Weg Edith Steins zu ihrer Epochen überschreitenden Heiligkeit und zu einer urbi et orbi von unübersehbarer Egregia im wahrsten Sinne des Wortes führte durch eine schwere Zeit, die in den 51 Jahren ihres Erdendaseins Hosianna und Cruzifige dicht neben- sowie miteinander sein ließen. Bei seinem ersten offiziellen Besuch in Polen wies schon Papst Johannes Paul II.6 am 7. Juni 1979 in Birkenau beim KZ Ausschwitz, wo Edith Stein am 9. August 1942 vergast ihr Ende fand, auf die furchtbare Unmenschlichkeit dieser Zeit hin. Schon vor seiner Wahl zum Petrus-Nachfolger war er oft an dieser Stätte der Unmenschlichkeit gewesen, von der er mir selbst später bei einer mir gewährten Privataudienz sagte, dass es so tragisch wäre, dass sein eigener Geburtsort Wadowice diesem KZ als Ort des Grauens so nahe liegt. Der Lebens-, Bildungs- und Glaubensweg von Edith Stein hat das jüdisch-christliche Erbe des Abendlandes besonders deutlich mit ihrem Übertritt vom mosaischen zum römisch-katholischen Glauben und der Taufe am 1. Jänner 1922 zum Tragen gebracht. Sie hat in dieser Katholizität zur Spiritualität gefunden, mit der sie in Freud und Leid bis zu ihrem Tod in der Gaskammer von Auschwitz am 9. August 1942, gläubig Jesus Christus entgegen ging. Sie suchte das Wissen und den Glauben zu verbinden, weil sie wusste, dass der Glaube nach Erkenntnis sucht. Fides et Ratio waren auch Anliegen des Pontifikats Papst Johannes Pauls II7. Edith Stein ging es um die Erkenntnis des Menschen als Person ganz im Sinne des lateinischen Wortes personare, was hindurch tönen bedeutet; man beachte auch, dass mit prosopon die Göttemiaske im griechischen Kult bezeichnet wurde. In dem Bemühen um Erkenntnis als Wahrheitsfindung ging es Edith Stein um die Einsicht in das Wesen der Sachen, also um „objektive Wahrheit“8 vor allem in der Phänomenologie und beim Menschen um die Einsicht sowie Beachtung seiner in der Gottesebenbildlichkeit begründeten Freiheit und Würde. Kennzeichnend hierfür ist, dass Edith Steins Doktorarbeit aus 1916, die Edmund Husserl mit Auszeichnung bewertet hat, einfach dem Thema „Zum Problem der Einfühlung“ gewidmet war. 6 Papst Johannes Paul II., Predigt am 7. 6. 1979 in Birkenau aus L’Osservatore Romano 8.6.1979, deutsche Fassung 22. 6. 1979. 7 Siehe Papst Johannes Paul II., Enzyklika Fides et Ratio vom 14. September 1998. 8 P. Secretam, Erkenntnis und Aufstieg, Einführung in die Philosophie von Edith Stein, Innsbruck / Würzburg 1992, S. 24.

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Philibert Secretam betonte dazu, es „zeigt sich, dass ‚Einfühlung‘ zu den Themen gehörte, über die man versuchte, das streng naturalistisch-positivistische Kausaldenken zu überwinden und den Geisteswissenschaften eigene Grundkategorien abzugewinnen. Die Phänomenologie hatte das einsichtige Denken rehabilitiert; es ginge aber noch weiter darum bei Edith Stein, Einfühlung neben Einsicht so einzuordnen, dass dem Fühlen auch ein Erkenntniswert zuerkannt werden kann“9. Diese Denk- und Erkenntnisweise, um die sich Edith Stein auch auf ihrem Glaubensweg bemühte, erinnert mich an Gabriel Marcel und sein Werk „Geheimnis des Seins“, dem ich meine erste Publikation nach meiner Matura als Neunzehnjähriger „Das Sein im Lichte christlicher Existenzphilosophie“10 gewidmet hatte. So sehe ich Edith Stein auch von Bedeutung für die christliche Existenzphilosophie. Der christliche Glaube war ihre Erkenntnisquelle in der Philosophie11: besonders als sie im Sommer 1921 die Autobiographie der Heiligen Theresia von Avilla, an deren Grab in Alba de Torme ich kürzlich nach meiner Gastvorlesung an der Universität Salamanca geweilt habe, las. Edith Stein berichtete dazu: „Von diesem Augenblick an war der Karmel mein Ziel“12. Am 14. Oktober 1933 trat sie in den Kölner Karmel ein und nahm am 15. April 1934 bei ihrer Einkleidung den Namen Teresia Benedicta a Cruce an: am 31. Dezember 1938 verabschiedete sie sich von diesem infolge der NS-Herrschaft in Deutschland und übersiedelte in den Karmel Echt in Holland am 31. Dezember 1938, in dem als Terziarin seit Juli 1939 bereits ihre Schwester Rosa lebte; mit ihr erfolgte bekanntlich im Karmel Echt am 2. August 1942 die Verhaftung durch die Gestapo, die Internierung im Sammellager Westerbork in Holland und am 7. August 1942 die Deportation nach Ausschwitz, wo beide am 9. August 1942 in Auschwitz vergast wurden. II. Martyrium und Confessio Im Leben und Schicksal von Edith Stein folgte der Confessio das Martyrium, das sie mit ihrer Schwester auf sich nahm. Sie sah sich, wie es Reiner Wimmer ausdrückte, als gesegnet im Kreuz Jesu. Als Edith Stein am 15. April 1934 das Kleid empfängt, erhält sie auch den gewünschten Ordensnamen Benedicta a Cruce – die vom Kreuz Gesegnete. Sie stellt sich bewusst unter das Kreuz, will sich dem Leiden ihres Volkes nicht entziehen!13 So soll auch Edith Stein auf ihrem letzten Weg bei ihrer Verhaftung im Karmel Echt zu ihrer Schwester Rosa noch gesagt haben:

P. Secretam, Erkenntnis …, S. 46. H. Schambeck, Das Sein im Lichte christlicher Existenzphilosophie, Neue Wege, Jänner 1954, S. 30 ff. 11 Siehe R. Wimmer, Edith Stein, in: Vier jüdische Philosophinnen, 2. Aufl., Leipzig 1999, S. 277. 12 J. Schlafke, Edith Stein, Dokumente zu ihrem Leben und Sterben, Köln 1980, S. 6. 13 R. Wimmer, Edith Stein, S. 272. 9

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„Komm, wir gehen für unser Volk“. „Gemeint war“, wie schon Bischof Egon Kapellari hervorhob, „das jüdische Volk“14. Edith Stein hat dies bereits am 9. Juni 1939 in ihrem handschriftlichen Testament deutlich ausgedrückt: „Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter seinem heiligsten Willen, mit Freuden entgegen. Ich bitte den Herrn, dass er mein Leben und Sterben annehmen möchte zu seiner Ehre und Verherrlichung …“15. Diese Haltung Edith Stein zeigte sich nicht bloß schriftlich festgehalten, sondern auch vorgelebt, so als sie am 2. August 1942 aus der Abendbetrachtung im Chor aus dem Karmel im holländischen Echt von SS-Leuten mit ihrer Schwester Rosa weggeholt wurde, sie den Chor still mit den Worten verließ: „Bitte beten, Schwestern“ und beide den letzten Segen der Mutter Oberin entgegen nahmen. Noch vor ihrem Tod ging sie im KZ tröstend und beruhigend umher und nahm sich aller wie ein Engel an16. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes im zweifachen Sinne glaubwürdig: selbst würdig zum Glauben und würdig, auch anderen den Weg zum Glauben zu weisen! Die Feststellung doppelter Glaubwürdigkeit gilt für Edith Stein wie für P. Maximilian Kolbe, der auch in Ausschwitz umgekommen sein Zeugnis als Märtyrer gab. Von beiden sagte Kardinal Karol Wojtyla am 24. September 1978 in seiner Predigt im Münchner Liebfrauendom: „Wenn die Kirche einmal Schwester Benedicta vom Kreuz zur Ehre der Altäre erheben wird, … so werden sie beide, Maximilian Kolbe und Edith Stein, uns allen, Polen und Deutschen, zurufen von demselben Ort des Märtyrertodes, den sie erlitten haben, ohne voneinander zu wissen: ‚Vor allem aber lebt … so, wie es dem Evangelium Christi entspricht‘ (Phil 1, 27).“17 Als er zum Nachfolger Petri gewählt bei seinem ersten offiziellen Besuch in Polen als Papst Johannes Paul II. im KZ Birkenau am 7. Juni 1979 war, sprach er von „diesem Ort, wo die Würde des Menschen auf so schreckliche Weise mit Füßen getreten wurde, – der Sieg eines Menschen durch Glaube und Liebe möglich wurde“18. Gleichzeitig verwies er auf „unveräußerliche Rechte, die so leicht mit Füßen getreten und zunichte gemacht werden können … durch den Menschen! Es genügt, ihn in eine andere Uniform zu stecken, ihm einen Gewaltapparat und Vernichtungsmittel zur Verfügung zu stellen, es genügt, ihm eine Ideologie umzuhängen, in der die Rechte des Menschen den Erfordernissen des Systems unterworfen werden, so vollständig, dass sie faktisch nicht existieren.“19

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E. Kapellari, Und dann der Tod. Sterbe-Bilder, Graz / Wien 2005, S. 67. J. Schlafke, Edith Stein, S. 9. J. Schlafke, a. a. O., S. 25. J. Schlafke, a. a. O., S. 37. J. Schlafke, a. a. O., S. 39. J. Schlafke, a. a. O., S. 40.

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Dieser Unmenschlichkeit, die Millionen ihr Leben kostete20, stellte Edith Stein wie auch Maximilian Kolbe das Beispiel ihrer Heiligkeit in ihrem Märtyrertum entgegen. „Was haben diese Heiligen gemeinsam?“ fragte kürzlich, nämlich am 24. September 2011, Papst Benedikt XVI. in seiner Predigt während der Heiligen Messe auf dem Domplatz von Erfurt: „Wie können wir das Besondere ihres Lebens beschreiben und doch verstehen, dass es uns angeht und in unser Leben hineinwirken kann? Die Heiligen zeigen uns zunächst, dass es möglich und gut ist, in der Beziehung zu Gott zu leben und diese Beziehung radikal zu leben, sie an die erste Stelle zu setzen, nicht irgendwo auch noch ein Eckfeld auszusparen. Die Heiligen verdeutlichen uns die Tatsache, dass seinerseits Gott sich uns zuerst zugewandt hat. Wir könnten nicht zu ihm hinreichen, uns irgendwie ins Unbekannte hinein ausstrecken, wenn er nicht zuerst uns geliebt hätte, wenn er nicht zuerst uns entgegen gegangen wäre. Nachdem er schon den Vätern in den Worten der Berufung entgegen gegangen war, hat er sich uns in Jesus Christus selbst gezeigt und zeigt sich uns immerfort in ihm. Christus kommt auch heute auf uns zu, er spricht jeden einzelnen an, wie er es eben im Evangelium getan hat und lädt jeden von uns ein, ihm zuzuhören, ihn verstehen zu lernen und ihm nachzufolgen. Diesen Anruf und diese Chance haben die Heiligen genutzt, den konkreten Gott haben sie anerkannt, ihn gesehen und gehört und sind auf ihn zugegangen, mit ihm gegangen; sie haben sich innen her sozusagen von ihm anstecken lassen und haben sich ausgestreckt auf ihn – in der beständigen Zwiesprache des Gebets – und von ihm das Licht erhalten, das ihnen das wahre Leben erschließt.“21 III. Christliche Wegweisungen Diese Beispiele der Glaubenstreue sind nicht nur Merkmale im wahrsten Sinne des Wortes als Leuchtsterne in finsterer Nacht, sie sind auch Wegweiser zur Gegenwartsbewältigung und Zukunftsgestaltung gerade auch in der Zeit der neuen Ordnung des sich integrierenden Europa. Aus diesem Grund hat bereits Papst Johannes Paul II. „zu immerwährenden Gedenken“ mit der Heiligen Brigitta von Schweden, der Heiligen Katharina von Siena, auch die Heilige Teresia Benedicta vom Kreuz neben den Heiligen Brüdern Cyrill und Methodus und als Pioniere der Evangelisierung Osteuropas sowie den Heiligen Benedikt zu Mitpatroninnen Europas im Apostolischen Schreiben vom 1. Oktober 1999 in Form eines „Motu proprio“ ernannt22. Papst Johannes Paul II. erkannte deutlich, vor dem Problem zu stehen: „Europa eine neue Ordnung zu geben, die dem alten Kontinent helfen soll, sich durch Besei20 Dimension des Völkermordes; die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, hrsg. von Wolfgang Benz, München 1991. 21 L’Osservatore Romano, deutsche Wochenausgabe Nr. 39 vom 30. September 2011, S. 14. 22 Apostolisches Schreiben Papst Johannes Paul II., L’Osservatore Romano, deutsche Wochenausgabe Nr. 42 vom 15. Oktober 1999, S. 7 ff.

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tigung des traurigen Erbes der Vergangenheit die Reichtümer seiner Geschichte zunutze zu machen, um mit einer in den besten Traditionen verwurzelten Originalität auf die Erfordernisse der sich wandelnden Welt zu antworten“23. Heilige, „die auf ihre Weise besonders repräsentativ für ihre Geschichte sind“24, wie Edith Stein, die, wie Papst Johannes Paul II. schrieb, die „Heiligkeit mit weiblichem Antlitz“25 besaß, erlangen gerade auch in unserer Zeit große Bedeutung. „Ihr Weg christlicher Vervollkommnung“ vollzog sich „nicht nur im Zeichen der menschlichen Solidarität mit ihrem Volk, sondern auch in einer echten geistlichen Teilhabe an der Berufung der Kinder Abrahams, die das Zeichen des Geheimnisses der Berufung und der ‚unwiderruflichen Gaben‘ Gottes in sich tragen (vgl. Rom 11, 29)“26. Papst Johannes Paul II. rief alle in einem neuen Europa auf, „sich über die ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinaus zu verstehen und anzunehmen, um eine wahrhaft geschwisterliche Gemeinschaft zu bilden. Europa soll also wachsen“27! Europa soll in dieser seiner neuen Form nicht nur eine Wirtschaftsund Währungsgemeinschaft sondern auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft sein28. Schon Kardinal Joseph Ratzinger beklagte „das zunehmende Absinken der europäischen Idee in eine bioökonomische Arithmetik, die zwar Europas wirtschaftliche Macht in der Welt immer mehr steigerte, aber die großen ethischen Ziele immer mehr auf Besitzvermehrung reduzierte und in die Logik des Marktes einebnete“29. Als Papst Benedikt XVI. forderte er, „dass die Europäische Gemeinschaft des dritten Jahrtausends nicht das Erbe der kulturellen und religiösen Werte ihrer Vergangenheit verliert. Denn nur unter diesen Voraussetzungen wird man mit fester Hoffnung eine Zukunft der Solidarität und des Friedens aufbauen können“30. Ersten Repräsentanten des integrierten Europas war und ist dieses Erfordernis auch bewusst. So sprach auch Jaques Delors 1989 von der Notwendigkeit, „das Gewissen Europas zu forApostolisches Schreiben Papst Johannes Paul II., a. a. O., S. 7. Apostolisches Schreiben Papst Johannes Paul II., a. a. O., S. 7. 25 Apostolisches Schreiben Papst Johannes Paul II., a. a. O., S. 7. 26 Apostolisches Schreiben Papst Johannes Paul II., a. a. O., S. 9. 27 Apostolisches Schreiben Papst Johannes Paul II., a. a. O., S. 9. 28 Dazu u. a. H. Schambeck, Das integrierte Europa als Wertegemeinschaft, „Jean Monnet“ European Module „History of the European idea, civilization and construction Ref 07 / 0120, Agreement nr. 2007-1400 / 001-001 lea Jean, European Union’s History, culture and citizenship, 1* edition, April 19 – 20“1 2008, S. 20 ff. sowie derselbe, Die Verfassung der Staaten und die neue Ordnung des sich integrierenden Europa, Disputationes Societatis Scientiarum Bohemiae 1, Praha 2011. 29 J. Kardinal Ratzinger, Europa – Hoffnungen und Gefahren, in: derselbe, Wendezeit für Europa, Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Freiburg 1991, S. 84. 30 Papst Benedikt XVI., Ein vereintes und solidarisches Europa ins Leben rufen, Ansprache am 16. Juni, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 24. Juni 2005, S. 10. 23 24

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men“ und erklärte: „Wenn es uns in den nächsten zehn Jahren nicht gelingt, Europa eine Seele, Spiritualität und Bedeutung zu geben, dann ist das Spiel aus“31. Auch Romano Prodi betont 2002 die Wichtigkeit der Religion für den künftigen Weg Europas und stellte fest: „Im Land der Geschichte war die Religion oft Ursache von Konflikten, ja sogar von großen Kriegen. Aber sie war auch immer eine Quelle der Hoffnung, der Kreativität und Weisheit. Religion kann und muss einen wesentlichen Beitrag leisten zu den Zielen, die wir alle teilen: zünftige Freiheit von Furcht, friedlicher Fortschritt zum Wohle aller und Verteidigung der menschlichen Werte gegen Gewalt, Hass und Diskriminierung“32. In der Verteidigung menschlicher Werte und dem Bemühen um das Bekenntnis zu Christus auch in unserer Zeit kann Edith Stein wegweisend sein. Papst Johannes Paul II. hat darauf in seinem Apostolischen Schreiben zur Erklärung auch ihrer als Mitpatronin Europas verwiesen, als er auf ihre „Empathie“, ihr Einfühlungsvermögen hervorhob; sie hatte ja schon ihrer Doktorarbeit bei Husserl dem Thema“„Einfühlung“ gewidmet. Papst Johannes Paul II. betonte: „In dieser Spannung des Hinhörens traf sie sich einerseits mit den Zeugnissen der christlichen spirituellen Erfahrung, wie sie die Heilige Theresa von Avilla und andere Mystiker boten, deren Jüngerin und eifrige Nachahmerin sie wurde. Andererseits berührte sie damit die alte Überlieferung des christlichen Denkens, die im Thomismus ihre feste Form erhalten hatte!“33. Papst Johannes Paul II. hob dazu hervor: „Wenn heute Edith Stein zur Mitpatronin Europas erklärt wird, soll damit auf dem Horizont des alten Kontinent ein Banner gegenseitiger Achtung, Toleranz und Gastfreundschaft aufgezogen werden, das Männer und Frauen einlädt, sich über ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinaus zu verstehen und anzunehmen, um eine wahrhaft geschwisterliche Gemeinschaft zu bilden. Europa soll also wachsen. Es soll wachsen als Europa des Geistes auf dem Weg seiner besseren Geschichte, die gerade in der Heiligkeit ihren erhabensten Ausdruck findet“34. Papst Johannes Paul II. forderte daher in diesem seinen Apostolischen Schreiben, „die große Herausforderung, eine Kultur und eine Ethik der Einheit aufzubauen, anzunehmen. Denn wenn diese fehlen, ist jede Politik der Einheit früher

31 J. Delors, Reconsillier I’idöals et la neccessite, Rede vor dem College d’Europe in Brügge am 1. Oktober 1989, S. 1, beachte auch derselbe, Wir müssen die Seele Europas retten! Christ und Welt, Wochenzeitung für Glaube, Geist und Gesellschaft, Ausgabe 01 / 2012 sowie die Ansprache von Vaclav Havel, gehalten am Trinity College in Dublin am 28. Juni 1996. 32 R. Prodi, Speech „Why dialogue is important“, EU Institutions press releases, Brüssel, March 20, 2002, DN: Speech / 02 / 114, page 3. 33 Apostolisches Schreiben von Papst Johannes Paul II. in Form eines „Motu propio“ zur Erklärung der Heiligen Birgitta von Schweden, der Heiligen Katharina von Siena und der Heiligen Teresia Benedicta a Cruce zu Mitpatroninnen Europas, L’Osservatore Romano, deutsche Ausgabe, 29. Jahrgang, Nr. 42, 15. Oktober 1999, S. 8. 34 Apostolisches Schreiben, a. a. O., S. 9.

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oder später zum Scheitern verurteilt. Um das neue Europa auf solide Grundlagen zu stellen, genügt es sicher nicht, nur an die wirtschaftlichen Interessen zu appellieren, die manchmal zusammenführen und dann wieder spalten. Vielmehr gilt es, die für Europa authentischen Werte zu betonen, deren Fundament das in das Herz eines jeden Menschen eingeschriebene Sittengesetz ist“35.

IV. Die europäische Leitkultur Der Reformvertrag von Lissabon und auch die Grundrechtscharta der EU36 drücken zwar in ihren Präambeln nicht das Christentum expressis verbis aus, trotzdem zählt es, wie es Bischof Eon Kapellari treffend ausdrückt, zur „europäischen Leitkultur“ und erklärte: „Wer die humane und kulturelle Prägung Europas durch das Christentum verschweigen will, der übersieht den wesentlichen Beitrag, den das Christentum für den Wertehaushalt europäischer Gesellschaften nach wie vor im großen Maße leistet“37. Der Reformvertrag von Lissabon betont in seiner Präambel allgemein die Entwicklung, „schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit universelle Werte“38. Auch die Charta der Grundrechte der EU betont allgemein das „Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes“ gründend auf „die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“39. Diese EU-Grundrechtecharta anerkennt nach der Präambel in Titel I Würde des Menschen, Titel II Freiheiten, Titel III Gleichheit, Titel IV Solidarität, Titel V Bürgerrechte, Titel VI justizielle Rechte, liberale, demokratische sowie soziale Grundrechte, und gewährt in einem Diskriminierungsverbot40 einen Minderheitenschutz und einen Datenschutz41. Diese Werteordnung schützt im integrierten Europa mit dem Verbot der Todesstrafe, der Folter und Sklaverei die Würde des Menschen, sichert die Freiheit der Apostolisches Schreiben, a. a. O., S. 9. ABl. Nr. 290 / 1 und ABl. 2007 C 303 / 1. 37 E. Kapellari, Gibt es eine christliche Leitkultur in Europa? Eine Nachlese zum mitteleuropäischen Katholikentag 2004, Vortrag bei den Reichersberger Pfingstgesprächen am 31. Mai 2004, S. 9; siehe auch derselbe, Die Christen auf dem Bauplatz Europas, in: derselbe, Begegnungen unterwegs, eine Nachlese, Graz 2003, S. 289 ff. 38 Der Vertrag von Lissabon, 3. Aufl., hrsg. von Rolf Schwartmann, Heidelberg 2010, EUV I, Präambel, S. 3. 39 Der Vertrag von Lissabon, 4 GRCh, Präambel, S. 3. 40 Art. 21 GRCh 4. 41 Art. 16 AEUV2. 35 36

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Privatsphäre, die Familie und den Datenschutz, gewährt Glaubens-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, verlangt im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes die Gleichheit von Mann und Frau, die Gleichbehandlung von jungen, älteren und behinderten Menschen, schreibt demokratische Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit vor und sucht wirtschaftliche sowie soziale Grundrechte, wie die Unternehmensfreiheit, Schutz des Eigentums und Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit, einschließlich Gesundheitsschutz, das Recht auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie das Recht auf Kollektivverhandlungen zu gewähren. Wenngleich das Christentum nicht expressis verbis anerkannt wird und es keinen Gottesbezug im EU-Recht gibt42, achtet die EU im Art. 17 Lissaboner Reformvertrag „(1) den Status, den Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen und beeinträchtigt ihn nicht. (2) Die Union achtet in gleicher Weise den Status, den weltanschaulichen Gemeinschaften nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genießen. (3) Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“43. Die EU-Grundrechtecharta, wie sie in der Charta vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt ist, und mit die Verträge, damit auch der Reformvertrag, nehmen rechtlich gleichen Rang an. Die EU tritt auch der europäischen Menschenrechtskonvention bei; deren Grundrechte sind mit denen, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionrechtes. Der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin können Grundrechtsverletzungen direkt einklagen, nunmehr außer bei dem Verfassungsgerichtshof des jeweiligen Mitgliedslandes sowohl beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg als auch beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Der vom letzteren geleistete Rechtsschutz erstreckt sich freilich nur so weit, wie die Charta selbst reicht. Sie gilt nur für die Organe der Europäischen Union und für die Organe der Mitgliedstaaten in Anwendung des Unionsrechts.

V. Leidensweg als Mahnung Zusammenfassend kann festgestellt werden: in der EU enthält die neue Ordnung des integrierten Europa Rechte, welche Werte schützen, die das Christentum grundgelegt haben; ihre Anerkennung und ihr Schutz kann dazu beitragen, dass diese neue Ordnung in Europa fortschreitend nicht nur normiert durch auferlegte Rechts42 Siehe dazu H. Schambeck, Präambel und Gottesbezug, in: Kölner Gemeinschaftskommentar zur europäischen Grundrechte-Charta, hrsg. von P. J. Tettinger und K. Stern, München 2006, S. 199 ff. 43 Art. 17AEKV2.

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pflichten, sondern auch motiviert durch Rechtsüberzeugungen, die den Menschen die Frage nach dem Warum und Wozu beantwortet durch die Begründung in seiner Freiheit und Würde, die im Lissaboner Reformvertrag und der EU-Grundrechtecharta anerkannt und geschützt werden. Diese neue Ordnung des integrierten Europa gilt es nicht allein zu beschließen, sondern in einem Für- und Miteinander von Glaubens- und Rechtsüberzeugung, mit Heimat-, Staats- und Europabewusstsein mit Leben zu erfüllen. Auf diese Weise könnte jener Friede möglich sein, den Aurelius Augustinus in der Ruhe der Ordnung44 gegeben sah, nämlich einem Frieden, der nicht im Gleichgewicht des Schreckens begründet ist, sondern in einer vom Glauben, den auch Edith Stein vorgelebt hat, getragenen Solidargemeinschaft. Wenn dieser Auftrag, zu dem das Beispiel und Vorbild von Edith Stein mahnt, gelingt, dann haben wir den Auftrag erfüllt, der eineinhalb Kilometer von der katholischen Universität Lublin entfernt, wo der spätere Papst Johannes Paul II. und nach ihm Professor Dr. Tadeusz Styczen den Philosophischen Lehrstuhl inne hatten, mahnend auf einer Gedenkstätte des Konzentrationslagers Majdanek für über 300.000 Vergaste, vor allem Juden, zu lesen steht: „Unser Leidensweg sei Euere Mahnung“. Zu dieser Mahnung ruft uns auch Edith Stein auf!

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Aurelius Augustinus, De civitate Dei, XIX, 11 – 13, 14.

VI.

Die Gläubigen vereint im Aufbau des Friedens* I. Der Friede – eine Sehnsucht der Menschen Vom Frieden zu sprechen, bedeutet eine Sehnsucht der Menschen auszudrücken; eine Sehnsucht, die der einzelne Mensch bewußt oder unbewußt, ausgesprochen oder unausgesprochen, immer mit sich trägt. Es ist die Sehnsucht nach einem Leben ohne Zwang und Gewalt, in menschlicher Würde und persönlicher Freiheit, in sozialer Gerechtigkeit und einer intakten Umwelt. Der Friede scheint auch das Ziel aller Staaten zu sein, wobei aber oft nur die Verfolgung der staatlichen Interessen mit anderen Mitteln als militärischer Gewalt gemeint ist. Und letztlich ist der Friede auch das Ziel der Völkergemeinschaft, die sich in der Charta der Vereinigten Nationen dazu bekennt, die künftigen Generationen von der Geisel des Krieges zu bewahren.

II. Schicksalsgemeinschaft Menschheit Je mehr sich die Menschen und Staaten auch auf Grund der technischen Entwicklung einander nähergekommen sind, ja noch mehr voneinander abhängig wurden, desto mehr wurde die Erfüllung der Friedenssehnsucht des einen vom Vorhandensein der Friedenswilligkeit des anderen abhängig, erweist sich die Menschheit auf Erden auch in dieser Sicht als eine Schicksalsgemeinschaft. Diese gegenseitige schicksalshafte Bezogenheit der Menschheit zeigte sich in diesem Jahrhundert besonders in zwei Weltkriegen, aber auch in vielen anderen Konflikten, die zwar regional bedingt waren, jedoch weltweite Auswirkungen hatten; es sei in diesem Zusammenhang u. a. an den jüngsten Golfkonflikt (1990 / 91) erinnert. Neben militärischen Auseinandersetzungen gibt es auch Gefährdungen für den Frieden anderer Natur, etwa durch die Technik, deren Fortschritt das notwendige Wachstum der Wirtschaft herbeiführen kann, damit auch Arbeitsplätze schafft und der sozialen Sicherheit dient; andererseits kann aber eine falsch eingesetzte und ethisch nicht kontrollierte Technik die Umwelt gefährden und damit auch die Existenz von Menschen. Tschernobyl bleibt in diesem Zusammenhang ebenso in Erin* Vortrag, gehalten am 22. Jänner 1992 in der UNO-City in Wien im Rahmen der Feier der Ständigen Vertretung des Heiligen Stuhls bei den Internationalen Organisationen in Wien anläßlich des 25. Päpstlichen Weltfriedenstages, erschienen in: Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Paul II., eingeleitet und herausgegeben von Donato Squicciarini, Berlin 1992, S. 309 ff.

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nerung wie viele andere umweltgefährdende Katastrophen. Nicht unerwähnt seien aber auch die Gefährdungen des Amazonas sowie Grönlands und die Größe des Ozonlochs, deren Folgen über die unmittelbare territoriale Region hinausreichen. Viele weitere Beispiele ließen sich nennen, welche zeigen, daß die Menschheit heute wie vielleicht noch nie zuvor über die Grenzen der Kontinente in der Sicherung ihrer Existenz und des Friedens aufeinander angewiesen ist. Über alle Grenzen der Staaten und Kontinente erfahren sich die Menschen als Teile der einen Schöpfungsordnung, die ihnen zur Wahrung des Friedens aufgetragen ist und welche die gläubigen Menschen als besonderen Gewissensauftrag ansehen sollten.

III. Ein Vierteljahrhundert Päpstlicher Weltfriedenstag Es ist deshalb anerkennens- und dankenswert, daß seit 25 Jahren die Kirche durch die Stimmen des jeweiligen Nachfolgers Petri diesen Friedensauftrag der Menschheit in jährlichen Weltfriedensbotschaften in Erinnerung, ja noch mehr, in das Gewissen ruft. Diese 25 päpstlichen Friedensbotschaften verpflichten zu ihrer Beachtung zwar primär die Katholiken, sie sind aber als eine Einladung zu einem gemeinsamen Bemühen um den Frieden an alle Menschen gerichtet. Papst Johannes Paul II. hat 1992 besonders alle Menschen, die nach ihren religiösen Überzeugungen leben, aufgerufen, eine Friedensgemeinschaft zu werden und als „Gläubige vereint im Aufbau des Friedens“ zu wirken. Das Motto dieses 25. päpstlichen Weltfriedenstages kann im Zusammenhang mit der am 1. Mai 1991 erfolgten Verkündigung der neuen Sozialenzyklika Centesimus annus und der am 13. Dezember 1991 zu Ende gegangenen Europäischen Bischofssynode mit ihren Beschlüssen gesehen werden. In allen drei Dokumenten, also der neuen Sozialenzyklika, den Beschlüssen der Europäischen Bischofssynode sowie dieser 25. päpstlichen Weltfriedensbotschaft, geht es um eine weltweite Brüderlichkeit, die auch zugleich sozial ist. Jede dieser bisherigen 25 päpstlichen Weltfriedensbotschaften hat einen eigenen Aspekt des Bemühens um den Frieden angesprochen, jede dieser Botschaften ist aber auch im Hinblick auf die jeweilige Situation der Zeit zu betrachten. So war die 1. Weltfriedensbotschaft 1968 durch Papst Paul VI., noch zur Zeit des politischen West / Ost-Gegensatzes, der Konfrontation der Machtblöcke und vor allem auch der Teilung Europas verkündet worden. Mit der sogenannten vatikanischen Geopolitik, die schon als Notwendigkeit Papst Pius XII. erkannte, Papst Johannes XXIII. initiierte und die in ihrer ersten Ausführung mit dem Namen des späteren Kardinalstaatssekretärs Agostino Casaroli verbunden bleibt, suchte der Heilige Stuhl diesen Gegensatz zu mildern und zur Wahrung der Menschenrechte, insbesondere der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit beizutragen. Der Heilige Stuhl konnte dies später in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa fortset-

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zen – und wie wir heute auch feststellen können – erfolgreich, was der Korb III der Schlußakte von Helsinki zeigt, auf deren Formulierung nicht zuletzt auch der österreichische Botschafter Dr. Helmut Liedermann Einfluß genommen hat. IV. Heutige Bedrohung des Friedens Heute nach 25 Jahren ist dieser Gegensatz von West nach Ost weggefallen. Die Mauer in Berlin und der Eiserne Vorhang, der auch einen Großteil der österreichischen Grenzen ausmachte, wurden beseitigt. Die Teilung in einen freien Westen und einen kommunistischen Osten Europa sowie der Gegensatz der ideologischen Machtblöcke in der Welt existieren nicht mehr. Diese erfreuliche Entwicklung in der Politik heißt aber noch lange nicht, daß es keinen Gegensatz unter den Menschen mehr gibt und der Friede eingezogen wäre. Friedlosigkeit und sehr schmerzliche Unterschiede, ja Konfrontationen bestehen weiter unter den Menschen. Ich meine die Unterschiede in Staaten mit verschiedenen Nationalitäten und ethnischen Minderheiten in Gegensätzlichkeit und solche Staaten, wo derartige Konfrontationen nicht gegeben sind; ich meine die Unterscheidung in reichere und ärmere Staaten sowie in Staaten mit einem verständnisvollen Miteinander der einzelnen Länder und Regionen und solche des bürgerkriegsähnlichen Kampfes, wie z. B. im Bereich des früheren Jugoslawien, vergessen wir aber auch nicht den Unterschied zwischen Staaten, deren Bevölkerung das Weite sucht und solchen Staaten, deren Bevölkerung diese Heimatlosigkeit erspart bleibt. V. Wegweisungen des Papstes Diese erlebbare und überprüfbare Zeitsituation gilt es zu bedenken, wenn Papst Johannes Paul II. seine Weltfriedensbotschaft 1992 an alle Menschen, besonders an die, welche einen Glauben besitzen, richtet. Er will uns auch den Wert des Friedens erneut als Ziel vor Augen halten, denn er weiß aus seinem eigenen Leben, was Unfreiheit und Unmenschlichkeit bedeuten. Papst Johannes Paul II. will die Menschen zu Pilgern für den Frieden und die Welt zu einem Haus des Friedens machen. Der Friede kann gerade in einer Zeit sogenannten technischen Fortschritts niemals das endgültige Ergebnis einer Art vollkommener Technologie, auch nicht der Diplomatie sein, von der bekanntlich die hl. Katharina von Siena sagte, die Diplomatie sei „die Kunst, Frieden zu schaffen“. Der Friede muß vielmehr das Ziel ständiger und umfassender Bemühungen aller sein; er verlangt, wie Papst Johannes Paul II. erklärte, „die solidarische Mitwirkung aller: der Politiker, der Leiter internationaler Organisationen, Gruppen und der privaten Bürger“.1 Es kommt darauf an, 1 Botschaft Papst Johannes Paul II. zur Feier des 25. Weltfriedenstages am 1. Januar 1992, Deutsche Ausgabe, Vatikanische Druckerei, S. 5.

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„ohne jede Diskriminierung Beziehungen herzustellen, die von Achtung, Verständnis, Wertschätzung und Liebe bestimmt sind“.2 Papst Johannes Paul II. spricht sich auf diesem Weg zum Frieden für interreligiöse Beziehungen aus: sie verlangen einen „Weg des gegenseitigen Kennenlernens … des hochherzigen Verzeihens, der brüderlichen Versöhnung, der Zusammenarbeit auch in begrenzten oder Sekundärbereichen“.3 Dies verlangt jedem ein Beispiel ab, damit auch er ein „Baumeister des Friedens“4 werden kann, nämlich ein Beispiel an Gelassenheit, Ausgeglichenheit, Verzeihen und Hochherzigkeit.5

VI. Wesen und Voraussetzungen des Friedens Friede ist für Papst Johannes Paul II. nicht die Stille der sogenannten Grabesruhe, die jede eigenständige Meinungs- und Willensäußerung des Menschen unmöglich macht. Papst Johannes Paul II. spricht sich für einen Frieden aus, der auf Gerechtigkeit baut. Wörtlich erklärt er: „Der Friede ist ein grundlegendes Gut, das mit der Achtung und Förderung der wesentlichen Werte des Menschen verbunden ist: mit dem Recht auf das Leben in allen Phasen seiner Entwicklung; mit dem Recht auf Anerkennung unabhängig von Rasse, Geschlecht und religiöser Überzeugung; mit dem Recht auf die für das Leben notwendigen materiellen Güter; mit dem Recht auf Arbeit und die gerechte Verteilung ihrer Früchte für ein geordnetes und solidarisches Zusammenleben.“6 Zu diesem Zweck fordert Papst Johannes Paul II. „die öffentlichen Autoritäten jeden Ranges auf, sich mit wachsamem Verantwortungsbewußtsein darum zu bemühen, Kriegen und Konflikten zuvorzukommen, das Recht und Gerechtigkeit triumphieren zu lassen und gleichzeitig eine Entwicklung zu fördern, die allen und an erster Stelle denen zum Besten gereicht, die von den Ketten des Elends, des Hungers und des Leidens gefesselt sind“.7 Der Friede hat für Papst Johannes Paul II. eine politische, internationale, aber auch kulturelle, soziale und wirtschaftliche Seite. Er ist für ihn ein Weg, den Menschen Hunger und Durst zu nehmen, ihnen einen gesicherten Lebens- und Arbeitsplatz zu schaffen und auf diese Weise in Anerkennung der Würde der Arbeit, die Papst Johannes Paul II. in seinen Sozialenzykliken „Sollicitudo rei socialis“ und „Centesimus annus“ betonte, die Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen, zu der die Arbeit als Leistungserbringung beitragen kann, zu ermöglichen.

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25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 7. 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 10. 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 10. 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 10. 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 11. 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 13.

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VII. Solidarität als Grundlage des Friedens Dieser Aufruf zu weltweiten Sicherung eines derartigen Friedens, der das politische, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Leben in gleicher Weise erfaßt, ist gerade in unserer Zeit von größter Aktualität, in der man sich in verschiedenen Erdteilen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und anderer autoritärer sowie totalitärer Regime bemüht, den Weg zu einer neuen Demokratie in Mittel- und Osteuropa zu finden, in welcher der einzelne Mensch nicht bloß Objekt der Machtausübung, sondern Subjekt der Staatswillensbildung sein soll. Alle Gläubigen sollten in weltweiter Solidarität an der Schaffung dieser neuen Demokratie in Mittel- und Osteuropa mitwirken. Die Verantwortung hierfür ist groß und der Weg hierzu ist schwierig. Wir erleben es besonders in der Entwicklung der politischen Verhältnisse in Mittel- und Osteuropa, vor allem auch in unserer südlichen Nachbarschaft. Nach dem Wegfall der Zwangsherrschaft, einer Herrschaftsideologie wie die des Kommunismus, entstehen alte ethnische und sonst territorial bedingte Gegensätzlichkeiten neu und führen bis zu bürgerkriegsähnlichen kämpferischen Auseinandersetzungen. Man hat manchmal den begründeten Eindruck von dem mangelnden Willen, aus der Geschichte von gestern für den Weg ins Morgen etwas dazulernen zu wollen. In einer solchen Zeit des Umbruchs kommt es darauf an, daß die frühere ideologisch bedingte Zwangsherrschaft nicht von einer neuen Diktatur entweder einer Einzelperson oder einer Politikerclique abgelöst wird, sondern von einer demokratischen Ordnung! Die in ihr gewährten Freiheiten und Grundrechte werden aber von einzelnen Menschen danach beurteilt werden, ob sie ihnen auch die materiellen Bedingungen für ihr Leben, also schlicht und einfach die menschliche Existenzgrundlage zu verschaffen und zu sichern vermögen. Man kann nämlich, auch dafür gibt es viele Beispiele, in Freiheit verhungern, in Freiheit erfrieren oder sonstwie in Freiheit verkommen. Die bloße Ankündigung der Vorteile der Marktwirtschaft auch mit sozialem Charakter allein genügt nicht, es wird am Weg hierzu die Caritas notwendig sein, nämlich die mitmenschliche Hilfe, die dem einzelnen Menschen sein Leben sichert, und es wird von den bisherigen Staaten mit freier Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft erforderlich sein, den Staaten mit neuen Demokratien ihre Erfahrungen in Theorie und Praxis mit allen Vor- und Nachteilen zur Verfügung zu stellen, sowie ihnen im Übergang auch materiell und sozial zu helfen. Je schneller dies geschieht, desto eher kann der Bewegung der Sozial- und Wirtschaftsflüchtlinge begegnet werden; denn es ist zweckdienlicher, den in Not geratenen Menschen in ihrer Heimat zu neuen Wegen zu helfen, damit sie ihre Heimat nicht verlassen müssen, als ihnen als Flüchtlinge und damit als Heimatlose Beistand zu leisten. Es wäre traurig, wenn das Ende dieses Jahrhunderts und Jahrtausends weiter von einer neuen Völkerwanderung auch in Europa geprägt sein würde.

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VIII. Redlichkeit und Toleranz Dieses heute erlebbare Erfordernis des gegenseitigen Helfens, beginnend mit dem Aufeinanderzugehen, Verstehen und Teilen, könnte eine neue Form der Mitmenschlichkeit entstehen lassen. Die Europäische Bischofssynode nannte sie in ihrem Schlußdokument, verabschiedet am 13. Dezember 1991, „eine ursprüngliche Geschwisterlichkeit der Menschen als Prinzip solidarischen Zusammenlebens in der Verschiedenheit der Menschen und Völker“.8 Dies verlangt nicht ein Negieren und Nivellieren der Unterschiedlichkeit, sondern deren Tolerieren und Koordinieren. Die Europäische Bischofssynode hat es schon hervorgehoben: „Wahre Gemeinschaft entsteht nur dann, wenn jeder die eigene Würde des Nächsten und die Unterschiedenheit als Reichtum wahrnimmt, ihm dieselbe Würde ohne Gleichmacherei zuerkennt und bereit ist, die eigenen Fähigkeiten und Gaben mitzuteilen“.9 Dieses Aufeinander zugehen, das nicht auf ein Bewältigen des anderen, sondern auf ein verstehendes Miteinander gerichtet ist, verlangt eine Ablehnung jeder Form des Fundamentalismus und Fanatismus. Der interreligiöse Dialog kann auch nicht darin bestehen, daß die einen offen entgegenkommen und die anderen fundamentalistisch starr ablehnend bleiben! Papst Johannes Paul II. warnt in dieser 25. Weltfriedensbotschaft besonders vor diesen Extremismen und vor der Rechtfertigung von Kämpfen und Konflikten mit anderen, auch religiösen Motivierungen,10 Papst Johannes Paul II. betont vielmehr: „Wenn es einen Kampf gibt, der des Menschen würdig ist, dann der gegen die eigenen unmäßigen Leidenschaften, gegen jede Art von Egoismus, gegen die Versuche von Veruntreuung auf Kosten des anderen, gegen jede Art von Haß und Gewalt: mit einem Wort gegen all das, was also das genaue Gegenteil von Frieden und Versöhnung ist.“11 Wer diese Zielvorstellungen Papst Johannes Paul II. mit dem heute von uns im privaten und öffentlichen Leben Erfahrbaren vergleicht, der muß leider zumeist das Gegenteil des gewünschten feststellen: lieblose Berechnung und eiskalte Macht bestimmen zumeist das Leben. Ihnen sollte man mit einer Kultur des Glaubens, des Herzens, des Verstehens und des Helfens begegnen. Jeder Kontinent ist in der Lage, das Seine zum Entstehen einer neuen Menschlichkeit zu leisten, die weltweit wegweisend sein könnte. Ich denke z. B. an das unvergeßliche Beispiel von Mahatma Gandhi an Friedensliebe und Versöhnungsbereitschaft. Viele Eigenschaften von Völkern verschiedener Erdteile ließen sich nennen, die ein Beispiel sind, welche gemeinsam in einer weltweiten Verbundenheit aller Menschen guten Willens einen neuen Frieden und mit ihm eine neue, wirksame Form an Humanität begründen lassen. Jeder kann jederzeit bei sich mit seinem Nächsten, in seinem Vaterland und mit diesem in der Völkergemeinschaft beginnen. Deutsche Ausgabe des Schlußdokuments der Europäischen Bischofskonferenz, S. 5. Deutsche Ausgabe des Schlußdokuments, S. 8. 10 25. Weltfriedenshotschaft, a. a. O., S. 12. 11 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 12. 8 9

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IX. Ziel: Menschen lieber glücklich machen! Zur Erreichung dieses Zieles, das keiner internationalen Konferenzen und Proklamationen, sondern der verstehenden mitmenschlichen Haltung jedes Einzelnen bedarf, wünsche ich Ihnen die Verwirklichung der Empfehlung einer Frau, die vor wenigen Jahren aus gleichem Anlaß hier an der gleichen Stelle gestanden ist, einer Frau, die wir alle verehren und die uns unvergeßlich bleibt, nämlich Mutter Teresa, die mich bei meinem ersten Besuch bei ihr in Calcutta, es war im Herbst 1979 anläßlich der Generalversammlung der IAEO in New Dehli, mit dem Wunsch verabschiedete, mit welchem auch ich nun schließe: „Lasse nie zu, daß ein Mensch nach der Begegnung mit Dir nicht glücklicher geworden ist!“ Wenn wir im Sinne dieser Worte uns ständig bemühen, wo jeder steht, die Menschen glücklicher zu machen, dann haben wir auch im Sinne Papst Johannes Paul II. und der 25 Weltfriedensbotschaft die Chance, das Unsere zu leisten, um als Gläubige vereint zum Aufbau des Friedens beizutragen.

Friede und Menschlichkeit* Jeder geht seinen Weg nach Kevelaer. Mein Weg nach Kevelaer geht auf den letzten Wunsch der ehrwürdigen Mutter Pascalina Lehnert1 zurück, einen Sammelband zum Gedenken an Papst Pius XII. herauszugeben, wozu in Kevelaer in verdienstvoller Weise der Verlag Butzon & Bercker bereit war.2 Diese Verlagsbesprechung führte mich erstmals an diese Gnadenstätte und hat eine Verbundenheit zustande kommen lassen, die mir viel bedeutet. Auch mein Heimatland Österreich besitzt viele Marienwallfahrtsstätten, die in den einzelnen Bundesländern die Tradition der Verehrung der Gottesmutter bewahren. Ich erinnere u. a. vor allem an Mariazell in der Steiermark, Loreto im Burgenland und Maria Roggendorf in Niederosterreich. Im Unterschied zu meinen Vorrednern komme ich nicht aus dem Bereich Europas, der militärisch in der NATO oder wirtschaftlich in der EWG organisiert ist. Ich komme aus Österreich, das sich in einem Bundesverfassungsgesetz am 26. Oktober 19553 freiwillig für dauernd neutral erklärt hat. Wie es in diesem Bundesverfassungsgesetz heißt, erklärt Österreich aus freien Stücken zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes seine immerwährende Neutralität. „Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrecht erhalten und verteidigen.“ Österreichs Neutralität4 ist daher eine militärische Neutralität, woraus sich bestimmte Konsequenzen ergeben. Mit dieser Neutralitätserklärung Österreichs ist aber keine Einstellung des Wertindifferentismus und Gesinnungsneutralismus verbunden, welche zu einer Gleichgültigkeit der Gesinnung führt. Beginnend mit Julius Raab5 als Bundeskanzler und Leopold Figl6 als Außenminister, die beide übrigens große Ma* Vortrag gehalten im Rahmen des 17. Marianischen Weltkongresses am 17. September 1987 in Kevelaer, erschienen in: Dokumentation des Rahmenprogramms zum 17. Marianischen Weltkongreß Maria Mutter der Glaubenden, Herausgeber: German Rovira, im Auftrag des Internationalen Mariologischen Arbeitskreises Kevelaer e.V., zusammengestellt und bearbeitet von: German Rovira, Gunther Maria Michel, unter Mitarbeit von Norbert Debernitz, Martina Instinsky-Anrieh, Karola Waddey, Essen 1989, S. 294 ff. 1 Beachte Pascalina Lehnert, Ich durfte ihm dienen, Würzburg 1982. 2 Pius XII. – Friede durch Gerechtigkeit, hrsg. von Herbert Schambeck, Kevelaer 1986. 3 BGBl. Nr. 211 / 1955. 4 Siehe Alfred Verdross, Die immerwährende Neutralität der Republik Österreich, Wien 1958. 5 Dazu Julius Raab, Verantwortung für Österreich, Wien 1961, bes. S. 39 f. 6 Beachte Leopold Figl, Reden für Österreich, Wien 1965, bes. S. 133 ff.

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rienverehrer waren, haben seit 1955 alle Spitzenrepräsentanten Österreichs immer wieder betont, daß Österreich, wie es im Art. 1(2) dieses Bundesverfassungsgesetzes heißt, „zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten nicht zulassen“ wird, daß Österreich sich aber unabhängig davon nach wie vor der freien Welt westlicher Prägung zugehörig fühlt. Verbunden mit diesem Bekenntnis, war Österreich stets bestrebt, eine Brücken- und Mittlerfunktion zu erfüllen und bei Krisen in seinen Nachbarländern schon 1956 bezüglich Ungarn, später 1968 gegenüber der Tschechoslowakei und 1982 gegenüber Polen, u. a. Flüchtlingen Asyl gewährend, zu helfen. Als Mitglied der UNO und des Europarates hat sich Österreich immer für die Wahrung der politischen Freiheit und damit auch der Menschenrechte eingesetzt. Wenngleich also Österreich, etwa zum Unterschied von anderen europäischen Staaten, bestimmten Staatenbündnissen im Hinblick auf seine dauernde Neutralität nicht angehören kann, besteht doch über die Grenzen derartiger Organisationen hinaus eine Gemeinschaft, die in der abendländischen Kultur Europas7 begründet ist, zu welcher unser Glaube zählt, der auch das Gebot des Friedens mitumfaßt. Wie sagte es doch der HERR selbst: „Den Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch! Nicht wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch.“ (Joh. 14,27)

I. Gebrauch und Mißbrauch des Wortes Friede Kaum ein Wort ist in unseren Tagen soviel gebraucht und mißbraucht worden wie das Wort Friede. Es begleitet, ausgesprochen und unausgesprochen, die Geschichte der Menschheit und drückt unsere Sehnsucht aus. Wenn wir in diesen Tagen des Marianischen und Mariologischen Weltkongresses hier in Kevelaer Einkehr halten, bei der Mutter unseres HERRN und damit auch der Mutter der Kirche überhaupt, ist es in einer Zeit vielfacher Formen der Auseinandersetzung und des Streites verständlich, daß dieser Wunsch und diese Sehnsucht nach dem Frieden Ausdruck findet. Der Friede zahlt dreizehn Jahre vor der Zeitenwende des Jahres 2000 zu jenen Zielen und Werten, die wir aus einer Geschichtserfahrung in einer Gegenwartsverantwortung und im Hinblick auf unsere Zukunftserwartung in gleicher Weise bedenken, erfassen und weitergeben sollten! So faszinierend das Wort Friede ist, so gefährlich kann seine utopische Verwendung werden. So hat Agostino Kardinal Casaroli erklärt: „Zweifellos gibt es eine Rhetorik des Friedens. Schlimmer noch, es ist schon zu oft in der Geschichte vorgekommen – und die Gefahr besteht immer –, daß die Friedenssehnsucht der Völker mißbraucht wird, um das Unrecht leichter durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. 7

Näher Joseph Ratzinger, Christlicher Glaube und Europa, München o.J.

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Dennoch bleibt der Name des Friedens einer der edelsten, und noch edler sind seine Bedeutung und die Verpflichtung, die er birgt. Wer also dem Frieden dienen will, setzt sich ebenso leicht Lob wie Tadel, Dankbarkeit wie Argwohn aus, er wird großherzig gefeiert oder als Dummkopf verspottet.“8 Vom Frieden zu sprechen, verlangt daher Besinnung und Mut sowie Ausdauer und Realismus. Ohne geduldige Nüchternheit würden die Erfordernisse und der Gehalt des Friedens nicht erkannt werden können. Der Friede läuft nämlich wie selten ein anderer Begriff Gefahr, sich zu einer Leerformel zu verlieren. Dieser Gefahr kann aber dadurch begegnet werden, daß man den Frieden in Beziehung zu den Lebensbereichen setzt, in welchen er sich zu bewähren und zu verwirklichen hat; etwa im Frieden zu Gott, zu sich selbst, zu den Mitmenschen, in der Ehe, der Familie, der Nachbarschaft, der Gemeinde, im Staat, in der Kirche, in der Gesellschaft und in der Völkergemeinschaft. In negativer Form bedeutet Friede Nicht-Krieg und in positiver Prägung die Verwirklichung von Werten. Diese positive Prägung meint das alte hebräische Wort „schalom“, das die Bibel gebraucht. Auch das II. Vatikanische Konzil hat diese positive Form gemeint, als es in Nr. 78 der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ feststellte: „Der Friede besteht nicht darin, daß kein Krieg ist. Er läßt sich auch nicht bloß durch das Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte sichern; er entspringt ferner nicht dem Machtgebot eines Starken; er heißt vielmehr mit Recht und eigentlich ein Werk der Gerechtigkeit (Is. 32, 17). Er ist die Frucht der Ordnung, die ihr göttlicher Gründer selbst in die menschliche Gesellschaft eingestiftet hat und die von den Menschen durch stetes Streben nach immer vollkommenerer Gerechtigkeit verwirklicht werden muß.“

II. Wege zum Frieden Der Weg zu diesem Frieden im Sinne des HERRN und des Evangeliums ist kein kurzer, sondern ein langer, er besteht nicht allein im Verzicht auf Gewalt und der Koexistenz, sondern verlangt wechselseitiges Verständnis und Entgegenkommen. Er setzt nicht Angst voraus, sondern Vertrauen. Friede in dieser positiven Sicht besteht nicht in einem Gleichgewicht angedrohten Schreckens, sondern sollte ein Werk der Gerechtigkeit sein. In dieser Sicht hat Papst Pius XII., in dessen Pontifikat von 1939 bis 1958 auch der 2. Weltkrieg mit sehr vielen Friedensbemühungen und stillen Rettungsaktionen für Verfolgte und die Zeit des sogenannten „Kalten Krieges“ fiel, die Worte „Opus iustitiae pax“, der Friede ist das Werk der Gerechtigkeit, treffend als Wappenspruch gewählt. 8 Agostino Kardinal Casaroli, Der Heilige Stuhl und die Völkergemeinschaft, Reden und Aufsätze, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1981, S. 26.

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Auch den folgenden Päpsten war der Friede ein Hauptanliegen ihres Wirkens. Johannes XXIII. erließ 1963 eigens die Friedensenzyklika „Pacem in terris“, die einen wegweisenden modernen Grundrechtskatalog an Gerechtigkeitsmaßstäben beinhaltet, und Papst Paul VI. begann mit jährlichen Weltfriedenstagen, die Papst Johannes Paul II. fortsetzt, der sich darüber hinaus besonders auch auf seinen Pastoralreisen jeweils für Friedensanliegen engagiert. Johannes Paul II. hat besonders den Dialog in den Dienst des Friedens gestellt. Der Friede ist dabei einerseits ein Anliegen geblieben, die Kriegsgefahr zu vermeiden, andererseits aber auch ein Erfordernis geworden, Gerechtigkeit auf den einzelnen Sachgebieten des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, staatlichen und internationalen Lebens herzustellen; auf diesem Weg mehrdimensionaler Gerechtigkeitserfordernisse und somit, Friedensverwirklichungsmöglichkeiten sind auch neue Dimensionen erkennbar geworden. So erklärte Paul VI. 1967 in seiner Enzyklika „Populorum progressio“ „Entwicklung ist der neue Name für Friede“ (Nr. 76). Die Hilfe für notleidende Völker verschiedener Erdteile ist ebenso zum Friedens- und Gerechtigkeitspostulat unserer Zeit geworden, wie die Sozialhilfe für Behinderte und all die Einsamen in unserer Welt. Wer wollte leugnen, daß nicht auch die Verteilung des Volkseinkommens, das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie der Generationen untereinander und heute besonders die Beziehung von Ökonomie und Ökologie Fragen und Probleme des Frieden und der Gerechtigkeit geworden sind. Sicher sind alle diese Friedens- und Gerechtigkeitsanliegen begleitet von solchen der Wehrpolitik; denn immer noch gilt der Satz „Jeder Staat hat eine Armee, entweder die eigene oder eine andere“. Auch das II. Vatikanische Konzil hat die Wehrfähigkeit zur Selbstbehauptung anerkannt, alles andere wäre auch unreal und utopisch. Es kommt nur darauf an, ein friedliches Gleichgewicht der Kräfte zu erreichen, das jede Hegemonialpolitik verhindert und jene wechselseitige Abrüstung ermöglicht, die den Krieg unmöglich macht. In seinem beachtenswerten Buch „Vom Frieden“ hat der ehemalige bundesdeutsche Verteidigungsminister Georg Leber festgestellt: „Krieg zwischen zivilisierten Völkern ist in unserer Zeit keine Alternative zum Frieden. Unter den heute gegebenen Voraussetzungen ist Krieg auch nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Mit dem, was die technische Entwicklung den industriellen Mächten an Mitteln der Zerstörung in die Hände gegeben hat, wäre Krieg zwischen ihnen das Ende nicht nur der Politik. Deshalb muß unser Hauptinteresse der Sicherung des Friedens und dem Leben in Frieden gelten. Der Friede, um den es geht, der bedeutet weder im Inneren der Völker noch in den Beziehungen zwischen ihnen ein Leben in windstiller Atmosphäre. Soweit sie die Möglichkeit dazu haben, findet in ihrem Inneren vielmehr ein ständiges Ringen der von der Freiheit entfachten und freigesetzten Kräfte statt. Wenn daraus etwas Gutes werden soll, muß dieser Auseinandersetzung immer auch der Wille zum Miteinander beigegeben sein. Das gilt auch für das Zusammenleben der Völker.“9

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III. Ordnungsprinzipien für den Frieden Dieser Friede im Miteinander, sei es im Bereich des Mitmenschlichen, sei es im Staat und in der Völkergemeinschaft, setzt die Beachtung bestimmter Ordnungsprinzipien für die Entwicklung der Friedensordnung voraus. Es sind dies, wie es bereits die päpstliche Soziallehre verdeutlichte: die Liebe im Sinne tätiger Solidarität, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und die Freiheit. Niemals kann durch Terror und Gesinnungsdruck Friede auf Kosten der Menschenrechte begründet werden, dies wäre die Stille der Grabesruhe, die in der Politik abzulehnen ist. Wo die Grundrechte verletzt werden, sind alle Friedensappelle unglaubwürdig, denn allen Menschen, nicht nur den Mächtigen, kommt die gleiche Würde zu, die von allen zu achten ist. Eine Friedenssicherung auf Kosten der Freiheit ist daher für Christen unannehmbar. Der Friede muß nämlich auf gegenseitiger Achtung aufbauen. Der Friede darf sich nicht, wie schon Papst Paul VI. hervorhob, auf Selbstinteresse und eigenen Ehrgeiz beschränken10, denn der Friede ist weder genußhungriger Egoismus noch gleichgültige Interessenlosigkeit11. Schon Papst Pius XII. hat die erforderlichen Eigenschaften für diesen wahren Frieden genannt: „Den Sieg über das Mißtrauen zwischen rivalisierenden Nationen, den Sieg über den Mythos der Macht sowie den Sieg über den Geist kalter Selbstsucht.“12 Diese Forderungen für die Sicherung des Friedens gelten sowohl für das öffentliche wie für das private Leben und für das zwischen- wie innerstaatliche Leben der Völker. Anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat 1958 Karl Jaspers in seiner Rede dazu erklärt: „Der Friede beginnt im eigenen Haus. Der Weltfriede beginnt mit dem inneren Frieden der Staaten. Im innenpolitischen geistigen Kampf um die Herrschaft muß die Gesinnung der Friedlosigkeit, die die Gewalt wollen würde, wenn sie nur könnte, verschwinden. Denn die Friedlosigkeit in der Innenpolitik macht auch den Frieden in der Außenpolitik unmöglich.“13

IV. Der Einzelne als Friedensstifter In dieser wichtigen Sicht muß daher der, der den Frieden in der Welt will, bei sich selbst beginnen. Er muß in und mit sich selbst Friedensstifter sein, dies in seiGeorg Leber, Vom Frieden, Stuttgart 1979, S. 9. Herder Korrespondenz, 20. Jg., S. 75. 11 Herder Korrespondenz, 20. Jg., S. 50. 12 Herder Korrespondenz, 1. Jg., S. 472; dazu Heinrich B. Streihofen, Wolfgang Ockenfels, Diskussion um den Frieden, Stuttgart 1974, bes. S. 35 ff. und S. 80 f. 13 Karl Jaspers, Wahrheit und Bewährung, München / Zürich 1983, S. 159 f. 9

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ner Familie und seinen sonstigen Gemeinschaften fortsetzen. Was man von anderen verlangt, soll man selbst tun. Daher schreibt Karl Jaspers zu Recht: „Die Frage des Friedens ist nicht zuerst eine Frage an die Welt, sondern für jeden an sich selbst.“14 Dieser an den Einzelnen gerichtete Friedensappell verlangt nicht bloß vom Frieden zu reden, sondern für ihn zu handeln. Rudolf Kirchschläger hat dies im Anschluß an die Forderung von Karl Jaspers betont, als er einmal verlangte: „Friedfertig zu sein, dadurch die Art des Lebens, die Überzeugung zu vermitteln, daß Friede möglich ist, die Standhaftigkeit im Grundsätzlichen mit dem Respekt vor dem Andersdenkenden zu vereinen und immer aufs neue zu versuchen, der Gerechtigkeit zu dienen, dies alles heißt zum Frieden erziehen.“15 Den Hinweis auf die Ziele dieser Ichbezogenheit des Friedens16 vermag das Christentum zu geben. Das Leben Jesus Christi und seine Lehre waren ein Aufruf zum Einsatz für den Frieden im Dienste der Gerechtigkeit; daher auch im Dienste der Armen, Behinderten, Verfolgten, Hungernden, Rechtlosen und Mißverstandenen. Dieser Friede erschöpft sich nicht in der Entspannung, sondern in der Anspannung für den Nächsten. In dieser Sicht verlangt Friede nicht Zurückhaltung, sondern Engagement. Klar hat dies Franz Alt in seinem Buch „Friede ist möglich – die Politik der Bergpredigt“ geschrieben: Die Lehre Jesu Christi „ist keine Vertröstungsideologie, sondern eine Seligpreisung der Friedensstifter, ein Angebot für eine bessere Welt“.17

V. Friede im Miteinander Diese bessere Welt wäre im Dienste des Friedens erreichbar, wenn das Verständnis anstelle von Mißtrauen zwischen Menschen und Staaten Platz greift, wenn dafür die Gelder des Weltbudgets immer mehr in das Kultur-, Wirtschafts- und Sozialbudget wandern, vermehrte Bildungschancen eröffneten, Technologien verbesserten, Umweltschutz vervollkommneten und Arbeitsplätze gesichert würden. Dieser äußre Friede ist aber nicht erreicht, solange der Einzelne nicht erkennt, daß seine Freiheit dort endet, wo die Freiheit des Nächsten beginnt. Nur in einem Miteinander der einzelnen Freiheitsräume ist Friede möglich. Die Entscheidung hierfür trifft der Einzelne für sich selbst und damit auch für den Frieden der Welt.

Jaspers, a. a. O., S. 171. Rudolf Kirchschläger, Der Friede beginnt im eigenen Haus, Gedanken über Österreich, Wien / München / Zürich / Innsbruck 1980, S. 20. 16 Kirchschläger, a. a. O., S. 18. 17 Franz Alt, Friede ist möglich – die Politik der Bergpredigt, München / Zürich 1986, S. 25; siehe dazu auch Anton Vögtle, Was ist Frieden?, Orientierungshilfen aus dem Neuen Testament, Freiburg 1983, bes. S. 109 ff. 14 15

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Einen Hinweis auf den Zugang zu diesem Weg des Friedens hat mir 1979 anläßlich meines ersten Besuches in Kalkutta Mutter Teresa gegeben, als sie zum Abschied folgende Worte zu mir sagte, mit welchen ich jetzt auch schließen möchte: „Lasse nie zu, daß ein Mensch nach der Begegnung mit dir nicht glücklicher geworden ist.“ Wir sind zu dieser Begegnung nach Kevelaer gekommen, um Maria zu erleben. Möge die Begegnung mit ihr uns den inneren und äußeren Frieden näher bringen und uns dadurch glücklicher werden lassen.

Anerkennung weltweiter Verantwortung für eine globale Humanität* I. Der Gehalt der Autorität Das Miteinander der Menschen verlangt Ordnung, und die Ordnung bedarf zu ihrer Begründung der Autorität. Der Gehalt des Begriffs Autorität verdeutlicht sich schon aus der Herkunft vom lateinischen Wort „auctoritas“ und dieses von „auctor“, das sich vom Zeitwort „augere“ herleiten läßt; dies bedeutet fördern, wachsen, zunehmen und vermehren. Von „augere“ kommt auch das Wort „Auxilium“, das auf deutsch Hilfe bedeutet. Eine weitere Ableitung von „augere“ führt zu dem aus der antiken Geschichte geläufigen Titel Augustus, der zunächst Mehrer und Schöpfer, dann auch erhaben, heilig und anbetungswürdig bedeutet. Der Begriff der „Auctoritas“ wird mannigfach verwendet; in den Schriften des Augustinus kommt er an 1164 Stellen vor. Gleich den Verschiedenheiten an Ordnungen gibt es Verschiedenheiten an Erfordernissen und Begründungen von Ordnungen sowie damit auch an Autorität. Von einer solchen Autorität in der Welt und für die Welt hat Papst Benedikt XVI. in seiner Sozialenzyklika Caritas in veritate gesprochen. In dieser Enzyklika verlangte Papst Benedikt XVI. 2009: „Um die Weltwirtschaft zu steuern, die von der Krise betroffenen Wirtschaften zu sanieren, eine Verschlimmerung der Krise und sich daraus ergebenden Ungleichgewichten vorzubeugen, um eine geeignete vollständige Abrüstung sowie Ernährungssicherheit und Frieden zu verwirklichen, den Umweltschutz zu gewährleisten und Migrationsströme zu verwirklichen, ist das Vorhandensein einer echten politischen Weltautorität … nötig. Eine solche Autorität muß sich dem Recht unterordnen, sich auf konsequente Weise an die Prinzipien der Subsidiarität und Solidarität halten, auf die Verwirklichung des Gemeinwohls hin geordnet sein, sich für die Verwirklichung einer echten ganzheitlichen menschlichen Entwicklung einsetzen, die sich von den Werten der Liebe in der Wahrheit inspirieren läßt. Darüber hinaus muß diese Autorität von allen aner-

* Vortrag gehalten bei der 16. Plenartagung der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften im Vatikan am 3. Mai 2010, erschienen in: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 14. Mai 2010, Nr. 19, S. 14 f., und in: Crisis in an global Economy – Re-Planning the Journey, edited by José T. Raga, Mary Ann Glendon, The Pontifical Academy of Social Sciences, Acta 16, Vatican City 2011, S. 392 ff.

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kannt sein, über wirksame Macht verfügen, um für jeden Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Rechte zu gewährleisten“ (Nr. 67). Die Forderung nach Autorität hat in päpstlichen Lehräußerungen eine Tradition: besonders sei auf die Enzyklika Immortale Dei (Nr. 25) Papst Leos XIII. 1885, die Weihnachtsbotschaft 1944 Papst Pius’ XII. (U-G 3480 / 3481), die Enzykliken Pacem in terris 1963 Papst Johannes’ XXIII. (Nr. 46 f.) und Populorum progressio Papst Pauls VI. 1967 (Nr. 78) verwiesen. Auch das Kompendium der Soziallehre der Kirche 2004 verlangt „eine im Rahmen der internationalen Gemeinschaft ausgeübte politische Autorität“, sie soll „das Recht befolgen, das Gemeinwohl anstreben und das Subsidiaritätsprinzip achten“ (Nr. 441). Dieses Kompendium schließt sich ebenso wie Papst Benedikt XVI. der Forderung des Zweiten Vatikanischen Konzils an, das in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes im Zusammenhang mit der absoluten Ächtung des Krieges gefordert hat, „daß eine von allen anerkannte öffentliche Weltautorität eingesetzt wird, die über wirksame Macht verfügt, um für alle Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Rechte zu gewährleisten“ (Nr. 82). II. Verlangen nach Weltautorität Die Forderung nach einer Weltautorität ist aus dem Streben der Menschen nach einer Ordnung im Rahmen des Möglichen erklärlich. Das beginnt bereits im individuellen Bereich des Menschen, der in der Ich-Du-Beziehung die Entfaltung seiner Persönlichkeit erfährt. Aristoteles hat schon vom Einzelnen als „zoon politikon“ geschrieben, und im 20. Jahrhundert hat Martin Buber „Die Schriften über das dialogische Prinzip“ verfaßt. Auf allen Ebenen des Lebens, und zwar des individuellen und sozialen, ist ein Ordnungsstreben gegeben und wird gleichzeitig auch die Unvollkommenheit des Friedens erlebt und die Unerreichbarkeit eines vollkommenen Friedens deutlich. Geradezu in klassischer Formulierung betitelte Immanuel Kant sein Werk „Zum ewigen Frieden“. Rückblickend wissen wir aber: dieser ewige Frieden ist unerreichbar und ist auch global nicht möglich. Die Geschichte lehrt uns dies. Diese Geschichte reicht vom Herrscher, der religiöse und weltliche Macht in der Antike zu vereinen sucht, über das Nebeneinander von Papst und Kaiser im Mittelalter mit seinem Streben nach einem universalen christlichen Reich bis zu dem Bemühen im politischen Bereich, zu einer weltumspannenden Autorität zu gelangen, wie sie mit dem Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg versucht wurde und mit den Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren Möglichkeiten und Grenzen gegeben ist. Je umfassender die Ansprüche auf Ordnung sind, desto mehr verdeutlicht sich die Unterschiedlichkeit dieser Ansprüche, die sich bisweilen zu Gegensätzlichkeit steigern. Je globaler der Beziehungsbereich ist, um so spannungsvoller werden die

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Ordnungserfordernisse und die Möglichkeiten des Für-, Mit-, Neben- und Gegeneinanders. Jede weltumspannende Organisation, daher auch die UNO, hat mit der Verschiedenheit individueller Einstellungen, persönlicher Wünsche, gesellschaftlicher Interessen, staatlicher Zwecke, vor allem aber auch religiöser Glaubenshaltungen und kultureller Einstellungen zu rechnen. An Hand dieses aktuellen Beispiels zeigt sich, daß eine Weltautorität ein bestimmtes Ausmaß an Grundkonsens, basierend auf einer ausreichenden Gemeinsamkeit an Werten und normativer Sicherung im positiven Recht sowohl in der Ordnung der Staaten wie der Völkergemeinschaft, voraussetzt.

III. An Autorität gestellte Anforderungen Jede Autorität, auch die globalbezogene Autorität, hat eine normative und motivierende Seite. Die normative Seite der Autorität stellt die Begründung einer Rechtsbeziehung gegenüber den einzelnen Normadressaten dar; das kann im Staat eine Einzelperson oder ein Staat selbst in der Völkergemeinschaft sein. Der Ordnungsanspruch der normativen Seite der Autorität ist die positiv-rechtliche Geltung,1 ihr Bestand hängt von der Wirksamkeit ab, welche wieder von der Rechtsanwendung durch die Normsetzungsorgane und vom Rechtsgehorsam durch die Normadressaten bestimmt wird. Dieser Rechtsgehorsam ist zwar positivrechtlich begründet, in seiner Wirksamkeit ist er aber von Bedingungen und Umständen abhängig, welche den positivrechtlichen Bereich übersteigen, wie es Glaubenshaltungen, weltanschauliche Überzeugungen und ideologische Einstellungen sind. Solche Haltungen können auch mögliche konträre sein und führen dann zu dem Widerstand, von dem Adolf Merkl, ein Mitbegründer der Wiener Rechtstheoretischen Schule, dessen letzter Assistent ich war, einmal sagte: „Es gibt Zeiten, in denen es ehrenwerter sein kann, durch den Staat, als für den Staat zu sterben.“ Die volle Anerkennung einer Autorität verlangt nicht allein die Akzeptanz auf deren normierender, sondern auch auf der motivierenden Seite. Auf diese Weise kann bei einer rechtlich begründeten Autorität zum Rechtsgehorsam auch die Rechtsüberzeugung treten und so die Geltung nicht allein eine normative, sondern auch eine motivierende sein. Die an eine Autorität gestellten Anforderungen sind vielfältig. Papst Benedikt XVII. selbst weist in seiner Sozialenzyklika auf die „mehrwertige Bedeutung“ der „politischen Autorität“ (Nr. 41) hin. Aufgrund dieses Hinweises des Papstes auf die „mehrwertige Bedeutung“ der politischen Autorität kann angenommen werden, daß er sich der jeweils differenziert gesehenen Sachbezogenheit der Autorität bewußt war. Er weist geradezu in 1 Näher Herbert Schambeck, Ethik und Staat; Schriften zum öffentlichen Recht, Band 500, Berlin 1986, S. 64 ff.

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seiner Sozialenzyklika in bezug auf die „mehrwertige Bedeutung“ der „politischen Autorität“ darauf hin, daß sie auf dem Weg zur Verwirklichung einer neuen sozialverantwortlichen und nach dem Maß des Menschen ausgerichteten, wirtschaftlichproduktiven Ordnung nicht vergessen werden darf (Nr. 41). Er betont auch, daß „eine verteilte und auf verschiedenen Ebenen wirkende politische Autorität gefördert werden“ (Nr. 41) muß und spricht sich bezüglich der zusammengewachsenen Wirtschaft für eine engere Zusammenarbeit der Regierungen aus. Im Zusammenhang mit der erforderlichen internationalen Hilfe „sollte“ sie „gerade im Rahmen eines solidarischen Plans zur Lösung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme die Festigung der Verfassungs-, Rechts- und Verwaltungssysteme in den Ländern, die sich dieser Güter noch nicht vollkommen erfreuen, eher fördern“ (Nr. 41). Papst Benedikt XVI. hat auf „die dem Rechtsstaat eigenen Garantien“ (Nr. 41) hingewiesen, einschließlich der Einhaltung der Menschenrechte und erkennt: „Der Staat muß nicht überall dieselben Ausprägungen haben: die Unterstützung zur Stärkung der schwachen Verfassungssysteme kann auf hervorragende Weise von der Entwicklung anderer politischer Akteure neben dem Staat begleitet werden, die kultureller, sozialer, regionaler und religiöser Art sind“ (Nr. 41). „Um die wirtschaftliche Globalisierung lenken zu können“, weist Papst Benedikt XVI. auf die Subsidiarität hin; sie ist nämlich für „die Gliederung der politischen Autorität auf lokaler Ebene, auf der Ebene der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft und auf der Ebene der übernationalen und weltweiten Gemeinschaft … einer der Hauptwege“ (Nr. 41). Ergänzend sei hinzugefügt, daß alle diese Entfaltungen der Autorität auf verschiedenen Ebenen zu ihrer Wirksamkeit sowohl die normierende wie die motivierende Geltung verlangen. Diese Geltung ist vor allem, was ihre motivierende Seite betrifft, von der Entwicklung der Ordnungen bestimmt; waren diese Ordnungen früher hierarchische und in Positionen begründet, so sind diese in unserer Zeit mehr auch partnerschaftliche geworden, deren Begründung nicht allein in der Position, sondern in der Argumentation grundgelegt ist. In unserer Zeit sind Autoritäten notwendig, die befragbar und der Antwort fähig sind. Diese auch partnerschaftlich begründbare Autorität verlangt Zeitverständnis.

IV. Aufgaben internationaler Friedenssicherung Dieses Zeitverständnis zur Autorität- und Ordnungsbegründung ist in einer Entwicklung nicht leicht, in welcher Transparenz auch von Unterschiedlichkeit immer deutlicher und Globalisierung immer stärker werden. Das Christentum mit seiner Glaubenslehre und Werteordnung hat sicher zur Humanisierung von Gesellschaft und Staat über den Kreis der Kirche hinaus zunächst in Europa und später mehr oder weniger freiwillig angenommen auch in der Völkergemeinschaft beigetragen. Vor allem die Lehre von den Menschenrechten war dazu wegweisend. Die Mehrdi-

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mensionalität der Menschenrechte, welche über den Kreis der Christgläubigen der Menschheit zu Gute gekommen ist, hat dies gefördert. Dies wurde auch im letzten Pontifikat in dem bemühten Hinweis auf die Erfordernisse ökumenischer Brüderlichkeit und sozialer Partnerschaft durch Papst Johannes Paul II. und jetzt durch Papst Benedikt XVI. fortgesetzt. In einer globalisierten Welt kommt es darauf an, daß alle Beteiligten unter Wahrung ihrer Identität, bei Staaten unter Wahrung ihrer Souveränität, in freier selbstverantwortender Weise kooperieren. Grenzüberschreitende Probleme und Aufgaben, wie z. B. das Wachstum der Bevölkerung und der Umweltschutz zählen beispielgebend dazu. Regierungen können auf Grund ihrer verfassungs- und völkerrechtlichen Legitimation auch vertragsrechtlich zusammenwirken; in vielen Bereichen, wie z. B. in bezug auf die Menschenrechte erweist es sich auch als wertvoll, daß Regierungen und Nichtregierungsorganisationen (sogenannte NGOs) kooperieren. In diesem Fall ist ihre demokratische Legitimation unterschiedlich und der Minderheitenschutz nicht immer entsprechend gegeben. Daneben gibt es auch Schwierigkeiten und Problemstellungen mit weltweiten Organisationen, also solchen, die eine globale Bedeutung haben, wie z. B. die UNO, in der einzelne Staaten als Großmächte ein Vetorecht haben und die keine obligatorische Gerichtsbarkeit kennt. Auch die UNO kann daher ihrer Aufgabe zur friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten und zur Friedenssicherung durch kollektive Sicherheitsmaßnahmen nur unvollkommen nachkommen. So haben auch die USA 2003 den Irakkrieg ohne Autorisierung durch den Sicherheitsrat der UNO und entgegen den Mahnungen von Papst Johannes Paul II. begonnen; Ähnliches bis Gleiches gilt bezogen auf Papst Paul VI. und den Vietnamkrieg und schon vorher für Papst Pius X. und Papst Benedikt XV. betreffend den Ersten Weltkrieg und Papst Pius XII. in bezug auf den Zweiten Weltkrieg. Noch viele weitere Stimmen ließen sich zitieren, etwa in bezug auf den Irakkrieg, den die in unserer Akademie bestens bekannten früheren Präsidenten des Päpstlichen Rates „Iustitia et Pax“, Roger Kardinal Etchegaray, und Renato Kardinal Martino auch verurteilt haben, ein Krieg, als dessen Folge es den Christen in dieser Region allgemein und den Katholiken im besonderen mit schwersten Verlusten katastrophal ergeht! In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, was schon am 23. März 2003 der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, in einem RAI-Interview sagte, nämlich es dürfe der Namen Gottes nicht verwendet werden, „um Gewalt zu rechtfertigen“. Er fand diesen Sprachgebrauch „traurig“ und nahm damit auf die sowohl in Washington als auch in Bagdad betriebene Inanspruchnahme des göttlichen Willens für eigene Ziele Bezug. Kardinal Ratzinger erklärte damals im Pontifikat Papst Johannes Paul II.: „Der Papst hat so oft betont, daß Gewalt niemals im Namen Gottes angewendet werden darf. Denn Gott ist die Versöhnung und der Garant des Friedens. Wir müssen Gott als den sehen, der uns vereint und nicht als den, der trennt und die Gewalt rechtfertigt.“2 2

Kathpress, Wien 23. 3. 2003, S. 1 f.

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Anerkennung weltweiter Verantwortung für eine globale Humanität

Auf Gott ist aber Bezug zu nehmen im Zusammenhang mit den Menschenrechten!

V. Rechtsstaatlichkeit in globaler Verantwortung Diese Menschenrechte sind Inhalt der UNO-Menschenrechtsdeklaration, die alle Mitglieder der UNO anerkannt haben. Sie könnten eine Basis für eine weltautoritative Bedeutung der UNO sein. Trotz dieser allgemeinen Anerkennung erleben wir aber die Mißachtung dieser Menschenrechte unter anderem auch durch die Volksrepublik China und die Russische Föderation. Auch im Verhältnis zu den USA, die mit Europa an sich die gleiche Wertebasis teilen, hat sich – etwa am Beispiel der Diskussion zu Guantanamo unter der früheren US-Administration oder in der Frage der Todesstrafe – gezeigt, daß es auf beiden Seiten des Atlantik in der Frage des Schutzes der Menschenrechte manchmal substantielle Auffassungsunterschiede gibt; diese dürfen aber nie vergessen lassen, was die Welt so viel den USA sonst an Vorbild in der Entwicklung zum demokratischen Verfassungsstaat3 durch mehr als zwei Jahrhunderte und im 20. Jahrhundert Entscheidendes zur Bewältigung zweier Weltkriege sowie nach 1945 durch Jahrzehnte in der Konfrontation mit dem Kommunismus zur Sicherung der Demokratie und Freiheit zu danken hat. Neben der in manchen Fällen fehlenden und zumindest mangelnden ausreichenden Beachtung der Menschenrechte gibt es auch solche der Außerachtlassung der zu deren Schutz gegründeten internationalen Einrichtungen, wie z. B. des internationalen Strafgerichtshofes. Das Statut dieses Gerichtshofes wurde von bedeutenden, weil mächtigen Staaten wie China, Indien und den USA gar nicht erst ratifiziert. Dazu haben die USA sogar 35 Staaten die militärische Unterstützung entzogen, die sich weigerten, ein Abkommen zu unterzeichnen, in dem sie sich verpflichten, US-Bürger, die wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt sind, an die USA zu überstellen und nicht an den Internationalen Strafgerichtshof. Leider muß man daher feststellen, daß gleich dem Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg die UNO nach dem Zweiten Weltkrieg nicht immer ausreichend die globale Autorität geworden ist, die weltweit Ordnung schafft und sichert. Besonders zeigte sich dies u. a. während des Jugoslawienkrieges, in Ruanda und Osttimor. Auf die meisten globalen Herausforderungen unserer Zeit wie den Klimawandel, die internationale Kriminalität und den internationalen Drogenhandel kann es nur eine globale Antwort geben – und hier gibt es zu den Vereinten Nationen als universelles Forum keine brauchbare Alternative. Im Angesicht großer humanitärer Katastrophen wie zuletzt in Haiti ist die UNO ein unverzichtbarer Koordinator für inter3 Siehe Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von Herbert Schambeck, Helmut Widder und Marcus Bergmann, 2. Aufl., Berlin 2007.

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nationale Hilfeleistungen. Außerdem ist der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die einzige internationale Instanz, die nach dem Völkerrecht berechtigt ist, militärische Zwangsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit zu beschließen. Natürlich ist die UNO in Konfliktsituationen immer wieder blockiert; dies liegt aber nicht notwendigerweise an der Handlungsschwäche der Organisation als solcher, sondern am mangelnden Willen ihrer Mitglieder, vor allem der fünf Vetomächte des Sicherheitsrates, in Krisensituationen an einem Strang zu ziehen. Andererseits sorgen UNO-Blauhelme gerade auch in jenen Konfliktregionen, die (wie der vielgeprüfte afrikanische Kontinent) nicht immer im Fokus der Weltpolitik stehen, oft unter schwierigsten Bedingungen und unbedankt für den Schutz vieler Menschen, vor allem von Frauen und Kindern, die von Tod, Gewalt, Hunger und Vertreibung bedroht sind. Trotz dieser erwiesenen Mängel im internationalen Rechtsschutzsystem, die immer wieder in Konfliktsituationen offenkundig werden, bedarf es der Anerkennung weltweiter Verantwortung für eine globale Humanität. Diese hat auch Papst Benedikt XVI. in seiner Sozialenzyklika mit seiner Forderung nach einer echten politischen Weltautorität gemeint. Für diese sollten sich in einem Für- und Miteinander die Staaten Kontinente übergreifend einsetzen. Die UNO war und ist eine solche Autorität. Papst Benedikt XVI. hatte schon am 18. April 2008 in seiner Rede vor der UNO betont, daß sie „ein privilegierter Ort“ ist, „an dem die Kirche bemüht ist, ihre über Jahrhunderte zwischen den Völkern aller Rassen und Kulturen entwickelte Erfahrung ‚der Menschlichkeit‘ einzubringen und sie allen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen“. In diesem Zusammenhang sei auch nicht vergessen, daß zur gleichen Zeit, als sich die Souveränität der Staaten entwickelte, sich auch in der katholischen Völkerrechtslehre Francisco De Vitoria am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert die Lehre vom Weltgemeinwohl, dem „bonum commune humanitatis“, entwickelte. Die UNO mit ihren Spezialorganisationen, aber auch Staatenverbände wie z. B. die Europäische Union, die von kontinentaler Bedeutung sind, können in einem Für- und Miteinander zu diesem Weltgemeinwohl beitragen und eine weltweite Autorität zum Tragen bringen, die dem Recht dient. So hat auch Österreich die Rechtsstaatlichkeit („Rule of Law“) zu einem der Themenschwerpunkte seiner Arbeit im Sicherheitsrat gemacht und schon im Rahmen seiner Bewerbung um einen Sicherheitsratssitz eine von vielen sehr positiv beurteilte Initiative zu „The Rule of Law and the UN-Security Council“ gesetzt. Kernaussage dieser Arbeiten, die auch mit zentrales Anliegen Österreichs als Mitglied und vorsitzführendes Land im Sicherheitsrat ist, ist, daß auch der Sicherheitsrat selbst an die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit gebunden ist. Dies spielt insbesondere auch in der Beurteilung von Sanktionsverfahren des Sicherheitsrates eine wichtige Rolle! Das Recht hat nämlich auch eine Mittlerfunktion und die Menschheit verschiedene Optionen! Hans-Dietrich Genscher hat es vor kurzem in Rom gesagt: „Wir stehen heute als Menschheit vor drei Optionen: Das eine ist die Chaos-Option, wenn wir alles laufenlassen, wie es läuft. Wohin das führt, haben wir bei der Finanzkrise schmerzlich

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erfahren müssen. Das andere ist die Vorherrschaftsoption, das ist der Irrtum, die Annahme, daß ein Land stark genug sei, allen anderen vorzugeben, was zu tun und was zu unterlassen ist. Und schließlich die Kooperation, die wir in Europa aus geschichtlicher Erfahrung gelernt haben. Ja, Europa kann ein Beispiel geben, nämlich, daß man aus der Geschichte lernen kann … Das ist das Erfolgsgeheimnis der europäischen Einigung“.4 Auch in diesem Zusammenhang hat bereits Erzbischof Roland Minnerath in seiner „Ethik in Zeiten der Globalisierung“ gegen den Verfall des Sozialen für eine Weltinstanz, „welche die Zusammenarbeit zwischen den Staaten regulieren soll“, vier Kriterien genannt: „sie muß an strikte Rechtsnormen gebunden sein – unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips, mit klaren Kompetenzgrenzen und unter demokratischer Kontrolle im Gleichgewicht der Mächte und Verantwortlichkeiten“.5 Eine solche rechtlich er- und gefaßte Autorität ist in globaler Dimension aber nur möglich bei wechselseitiger Akzeptanz von Kulturen und Religionen, begleitet von allgemein anerkannten Grundwerten des privaten und öffentlichen Lebens sowie Grundrechten. Dieses Ziel wird nicht immer und überall von allen erkannt und anerkannt. Aber so, wie der Frieden angestrebt, aber nicht immer auf Dauer erreicht wird, sollte diese Idee von einer Weltautorität als Motivationsgrund die Politik begleiten und das nicht nur durch die Repräsentanten der Politik, sondern möglichst von vielen, wenn nicht allen im öffentlichen Leben. Bischof Egon Kapellari hat über diese Wege von Ideen treffend gesagt und damit will ich schließen: „Viele Wege führen durch die Landschaft des menschlichen Lebens. Es sind Reisewege, auf denen man sich physisch von einem Ort zu einem anderen bewegt, oder auch nur Denkwege, die ohne Ortsveränderung begangen werden.“6 Gedanken über „Global Authority“ sind solche Denkwege, welche die Menschheit in ihrer Entwicklung voranbringen können.

4 L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 19. März 2010, Nr. 11, S. 12. 5 Roland Minnerath, Gegen den Verfall des Sozialen, Ethik in Zeiten der Globalisierung, Freiburg / Basel / Wien 2007, S. 119. 6 Egon Kapellari, Begegnungen unterwegs, eine Nachlese. Graz 2003, S. 9.

Schriften zu Kirche und Recht von Herbert Schambeck Als Autor Kirche – Staat – Gesellschaft. Probleme von heute und morgen. Konfrontationen Bd. 1. Herder, Wien / Freiburg / Basel 1967. Kirche, Politik und Demokratie. Ein Grundthema der katholischen Soziallehre. Duncker & Humblot, Berlin 1992.

Als Herausgeber Kirche und Staat. Festschrift für Fritz Eckert zum 65. Geburtstag. Duncker & Humblot, Berlin 1976. Pius XII. zum Gedächtnis. Duncker & Humblot, Berlin 1977. Apostolat und Familie. Festschrift für Opilio Kardinal Rossi zum 70. Geburtstag. Duncker & Humblot, Berlin 1980. Pro Fide et Iustitia. Festschrift für Agostino Kardinal Casaroli zum 70. Geburtstag. Duncker & Humblot, Berlin 1984. Agostino Kardinal Casaroli, Der Heilige Stuhl und die Völkergemeinschaft. Reden und Aufsätze. Duncker & Humblot, Berlin 1981. Agostino Kardinal Casaroli, Glaube und Verantwortung. Ansprachen und Predigten. Duncker & Humblot, Berlin 1989. Agostino Kardinal Casaroli, Wegbereiter zur Zeitenwende. Letzte Beiträge. Duncker & Humblot, Berlin 1999. Diplomatie im Dienst der Seelsorge. Festschrift zum 75. Geburtstag von Nuntius Erzbischof Donato Squicciarini. Styria Verlag. Graz 2002 (zusammen mit Egon Kapellari).