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German Pages 328 [329] Year 2019
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 96
Kinder im Recht Kinderrechte im Spiegel der Kindesentwicklung Herausgegeben von Arnd Uhle
Duncker & Humblot · Berlin
ARND UHLE (Hrsg.) Kinder im Recht
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 96
Kinder im Recht Kinderrechte im Spiegel der Kindesentwicklung
Herausgegeben von
Arnd Uhle
Duncker & Humblot · Berlin
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Vorwort Der Koalitionsvertrag vom 12. März 2018 dokumentiert den politischen Willen der Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD, besondere Kinderrechte in das Grundgesetz aufzunehmen.1 Beabsichtigt ist namentlich, ein neu zu schaffendes Kindergrundrecht in die Verfassung einzufügen, dessen Formulierung Bund und Länder in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe bis Ende 2019 erarbeiten sollen. Der Koalitionsvertrag führt hierzu aus, dass Kinder Grundrechtsträger seien, deren Rechte aus Sicht der Koalitionsparteien Verfassungsrang einnähmen.2 Die koalitionsvertragliche Begründung wie auch das Vorhaben einer Verfassungsänderung als solches sind nicht allein Anlass für eine Vergewisserung darüber, ob und wie bereits bislang die Grundrechtsträgerschaft sowie die Würde der Kinder durch das Grundgesetz anerkannt und gewährleistet werden.3 Vielmehr geben sie auch Anstoß zur Prüfung der darüber hinausgreifenden Frage, wie es der bestehenden Rechtslage zufolge gegenwärtig in Deutschland um die Sicherung des Kindeswohls und den Schutz der Kinderrechte bestellt ist. Zu diesem Zweck ist der gegenwärtige Stand dieses Schutzes im Spiegel der Kindesentwicklung nachzuzeichnen – vom Schutz des Lebensrechts noch ungeborener Kinder über die Sicherung kindlicher Bedürfnisse 1 Siehe hierzu: Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD (19. Legislaturperiode), S. 11 (Zeile 322 f.) und S. 21 (Zeile 801 ff.) im Internet abrufbar unter: https:// www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4 cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?down load=1. 2 Ebd., S. 21 (Zeile 802 f.). 3 Siehe hierzu aus der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur BVerfGE 24, 119 (Leitsatz 4 und 144); 45, 400 (417); 121, 69 (92 f.).
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und Rechte im Kleinkind- und im Schulalter bis hin zum Schutz der Interessen junger Menschen an einer generationengerechten Politikgestaltung und einem nachhaltigen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Angesichts dessen gilt es, sich zunächst mit der Frage auseinanderzusetzen, wie es gegenwärtig um den Schutz des Rechts auf Leben gerade bei den schutzbedürftigsten, noch nicht geborenen Kindern steht und wie das Recht auf Geburt, das nicht weniger als das entscheidende Basis- und Trägerrecht für alle in späteren Lebensphasen in Betracht zu ziehenden Kinderrechte ist, geschützt wird. Anzuknüpfen ist hierbei an die Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch, in deren Lichte insbesondere zu prüfen ist, ob die Diskussion um eine Reform bzw. Abschaffung von § 219a StGB, der seinerseits einen integralen Bestandteil des staatlichen Schutzkonzepts darstellt, die bundesverfassungsgerichtlich unterstrichenen Anforderungen an einen wirksamen Lebensschutz in ausreichendem Maße berücksichtigt. Ebenso bedeutsam erscheint der Schutz der Rechte von Kindern in der frühen Kindheit. Hier sind zunächst die aktuellen Erkenntnisse der Bindungsforschung über die Bindungsbedürfnisse von Kleinkindern in den Blick zu nehmen. Von ihnen aus ist aus der Sicht der Bindungstheorie nach dem Recht des Kindes auf die Entwicklung sicherer emotionaler Bindungen an verlässliche Bezugspersonen zu fragen, damit sich das Kleinkind insbesondere in den ersten drei Lebensjahren während der entscheidenden Reifungs- und Vernetzungsprozesse seines Gehirns gesund entwickeln kann. Zugleich gilt es, sich zu vergewissern, ob das staatliche Handeln, das in den vergangenen Jahren zunehmend die Fremdbetreuung in seinen Fokus gestellt hat, diesen Erkenntnissen und den aus ihnen resultierenden Anforderungen an die Kleinkindbetreuung hinreichend Rechnung trägt. Im Lichte der zu beobachtenden Gegenwartstendenz, staatlich einseitig die Vorzüge frühkindlicher Fremdbetreuung gegenüber denen der familiären Eigenbetreuung zu akzentuieren, erhebt sich aus rechtswissenschaftlicher Perspektive die Frage nach den Grenzen des Rechts, denen die staatliche Einflussnahme auf die
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Ausgestaltung der Kleinkindbetreuung zu genügen hat. Das gilt insbesondere, soweit diese Einflussnahme dem Konzept des sog. Nudgings folgt. Ein derartiges „Anstupsen“ kann sich an Eltern wie an Kinder richten. Soweit Nudgingadressaten die Eltern sind, erscheint vor allem klärungsbedürftig, ob eine staatliche Beeinflussung der elterlichen Betreuungsentscheidung, die auf die Ausnutzung menschlicher Verhaltensmuster zielt, einen ebenso rechtfertigungsbedürftigen wie -fähigen Grundrechtseingriff darstellt. Soweit demgegenüber Nudgingadressaten die Kinder selbst sind, finden weitere verfassungsrechtliche Schranken namentlich dort Aktualisierung, wo sie in öffentlichen Kindergärten und Kindertagesstätten einer Einflussnahme im Sinne des Konzepts der sog. „Sexualität der Vielfalt“ ausgesetzt werden sollen. Grundsatzfragen stellen sich für die Verwirklichung von Kinderrechten indes nicht nur in der Lebensphase vor der Geburt und in der frühen Kindheit, sondern auch dort, wo Kinder in das Schulalter hineinwachsen. Daher gilt es zunächst zu analysieren, welche Rechte ihnen in diesem Entwicklungsabschnitt nach der gegenwärtigen Rechtslage völkerrechtlich, europarechtlich, grundgesetzlich, landesverfassungsrechtlich sowie schulrechtlich verbürgt sind. Die Spannbreite der hier zu erörternden Aspekte reicht vom Recht auf Bildung bis zum bundesverwaltungsgerichtlich vor einigen Jahren neu justierten Anspruch auf Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen. Auf der Grundlage dieser Bestandsaufnahme können sodann die möglichen Folgen der grundgesetzlichen Positivierung eines Kindergrundrechts im Schulbereich vermessen werden. Hier gilt es insbesondere zu klären, wie sich ein Kindergrundrecht auf das Verhältnis von Elternrecht und staatlichen Erziehungsauftrag auswirken würde und inwiefern es den aktuellen Trend zur Zurückdrängung des Elternrechts im Schulbereich ggf. verstärken könnte. Aus der Perspektive Jugendlicher und junger Erwachsener erhebt sich zudem die Frage, ob ein Kindergrundrecht dazu geeignet ist, Gefährdungen ihrer Lebenschancen zu begegnen, die daraus resultieren, dass politische Weichenstellungen eher an deren kurzfristigen Auswirkungen als an deren langfristigen
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Konsequenzen ausgerichtet werden. Die Beispiele der Staatsverschuldung oder auch eine unzureichende Sicherung erworbener Rentenansprüche bzw. Rentenanwartschaften verdeutlichen die Brisanz derartiger Gefahren. Diesbezüglich ist zunächst klärungsbedürftig, welchen Schutz die bestehenden verfassungsrechtlichen Regelungen insofern vermitteln, um sodann der Frage nachzugehen, ob die Verbürgung eines Kindergrundrechts, ggf. auch einer Staatszielbestimmung „Generationengerechtigkeit“, effektiv dazu beitragen könnte, die angesprochenen Gefahren auszuschließen oder zu minimieren. In vergleichbarer Weise ist ferner zu prüfen, ob ein Kindergrundrecht einen Beitrag zur Nachhaltigkeit beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im Interesse künftiger Generationen zu leisten vermag. Im Anschluss an eine Analyse des völkerund europarechtlichen Status quo ist auch hier zunächst die normative Kraft geltender grundgesetzlicher und landesverfassungsrechtlicher Vorgaben zu erörtern. Vor dem Hintergrund dieser Prüfung lässt sich sodann die Frage nach Gestaltungsmöglichkeiten de lege ferenda und hier u. a. wiederum namentlich nach der Leistungsfähigkeit eines Kindergrundrechts beantworten. Damit ist die Frage nach Erfordernis, Regelungsziel und Auswirkungen der Aufnahme eines Kindergrundrechts in das Grundgesetz berührt. Diesbezüglich sind zunächst die in Betracht zu ziehenden verschiedenen Regelungsstrukturen und -inhalte sowie die möglichen Adressaten einer entsprechenden Bestimmung zu erörtern. Sodann gilt es im Wege einer Bestandsaufnahme zu prüfen, welchen Grundrechtsschutz das Grundgesetz Kindern de lege lata verbürgt. Auf dieser Grundlage wird im Anschluss die Beantwortung zahlreicher Fragen möglich: Weist das geltende Verfassungsrecht hinsichtlich kinderspezifischer Schutzgehalte Regelungslücken auf, die einen verfassungspolitischen Handlungsbedarf auslösen? Ist mit der Normierung eines Kindergrundrechts die Gefahr einer Abkehr von einem einheitlichen grundgesetzlichen Grundrechtsschutz und damit die Gefahr grundrechtssystematischer Brüche verbunden? Resultieren aus der Normierung eines Kindergrundrechts Verände-
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rungen von Art. 6 Abs. 2 GG, in deren Konsequenz eine Intensivierung der staatlichen Einflussnahme auf die Kindererziehung liegt, der ihrerseits ein Freiheitsverlust von Eltern und Familien korrespondiert? In engem sachlichen Zusammenhang mit den aufgeworfenen Fragestellungen steht schließlich das Erfordernis einer Prüfung, wie sich die Einbindung Deutschlands in das Netz international und supranational gewährleisteter Kinderrechte auf das Erfordernis eines grundgesetzlichen Kindergrundrechts auswirkt. Welche Gewährleistungen enthält zunächst namentlich die UNKinderrechtskonvention? Wie wirkt sich ihre Gewährleistung des Vorrangs des Kindeswohls bei allen Maßnahmen legislativer, exekutiver oder judikativer Art aus, die in ihrem Art. 3 Abs. 1 festgeschrieben ist? Welche Relevanz entfalten zudem die in Art. 24 der Europäischen Grundrechtecharta positivierten Kinderrechte? Und schließlich: Ist angesichts der internationalen und supranationalen Verbürgungen von Kinderrechten eher von einer ohnehin umfassenden Sicherung der Rechtsstellung des Kindes auszugehen, die eine zusätzliche grundgesetzliche Verbürgung obsolet erscheinen lässt oder sind umgekehrt grundgesetzliche Kinderrechte erforderlich, um bestehenden internationalen und supranationalen Verbürgungen Deutschlands zu entsprechen? Die nachfolgend abgedruckten Beiträge möchten zur Diskussion der aufgeworfenen Fragestellungen einladen und zu deren Beantwortung beitragen. Hervorgegangen sind sie aus Vorträgen, die am 28. und 29. September 2018 vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft auf deren Generalversammlung in Bamberg gehalten worden sind.4 Für die Publikation wurden sie überarbeitet sowie mit Anmerkungen versehen.
4 Tagungsbericht bei Jürgen Liminski, Tönerne Füße. „Kinder im Recht“: Eine Tagung der Görres-Gesellschaft betont das Recht auf Leben und warnt vor zu frühen staatlichen Eingriffen in die Kindeserziehung, in: Die Tagespost vom 4. Oktober 2018, Nr. 40, S. 26.
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Vielfältigen Dank für die Unterstützung bei der Durchführung der Sektionssitzung wie auch bei der redaktionellen Bearbeitung der hier veröffentlichten Abhandlungen schulde ich den Mitarbeitern meines Lehrstuhls, namentlich Herrn Hendrik Tietz und Herrn Pascal Sonntag LL.B. Für die Durchsicht der Druckfahnen bin ich Frau Sabine Dorn im Lehrstuhlsekretariat verbunden. Dem Geschäftsführer des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Dr. Florian Simon LL.M., danke ich herzlich für die freundliche Aufnahme des Bandes in die renommierte Reihe der „Wissenschaftlichen Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte“, für die angenehme Zusammenarbeit und für die hervorragende verlegerische Betreuung. Leipzig, im Januar 2019
Arnd Uhle
Inhaltsverzeichnis Das Recht auf Geburt. Aktuelle Fragen des Kinderschutzes am Lebensbeginn Von Dr. Barbara Rox, Braunschweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die Bedürfnisse der frühen Kindheit. Fremdbetreuung im Spiegel der aktuellen Erkenntnisse der Bindungsforschung Von Professor Dr. Karl Heinz Brisch, München/Salzburg . . . . . . 51 Die Bedürfnisse der frühen Kindheit. Staatliches Nudging bei der Kleinkindbetreuung und die Grenzen des Rechts Von Professor Dr. Christian Winterhoff, Hamburg/Göttingen . 103 Die Rechte der Schüler. Vom Recht auf Bildung bis zum Anspruch auf Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen Von Professor Dr. Jörg Ennuschat, Bochum . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Kinderrechte und Generationengerechtigkeit. Nullzinspolitik, Staatsverschuldung und die soziale Sicherheit kommender Generationen Von Professor Dr. Rainer Wernsmann, Passau . . . . . . . . . . . . . . . 175 Kinderrechte und Nachhaltigkeit. Künftige Generationen und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen Von PD Dr. Andrea Edenharter, Regensburg . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Kinderrechte in die Verfassung? Zur Aufnahme eines Kinder grundrechts in das Grundgesetz Von Professor Dr. Florian Becker, Kiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Kinderrechte auf internationaler und supranationaler Ebene. Bestandsaufnahme und Ausblick Von Professor Dr. Hans-Georg Dederer, Passau . . . . . . . . . . . . . 287 Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Das Recht auf Geburt. Aktuelle Fragen des Kinderschutzes am Lebensbeginn Von Barbara Rox I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 II. Grundlegung: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum „Recht auf Geburt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 III. Das strafrechtliche Verbot der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch nach § 219a StGB im Lichte des verfassungsrechtlich garantierten vorgeburtlichen Lebensschutzes . . . . . . 19 1. Der Stein des Anstoßes: Die Verurteilung einer Ärztin nach § 219a StGB durch das Amtsgericht Gießen . . . . . . . . . . . . 19 2. Der verfassungsrechtliche Horizont: § 219a StGB im Lichte von „Tabu“ und grundrechtlicher Freiheit . . . . . . . . . . . 22 3. Gesetzentwürfe als Reaktion auf die Gießener Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 a) Argumente der Gesetzentwürfe zur Aufhebung des § 219a StGB (SPD, Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen) 25 b) Gesetzentwurf zur Änderung des § 219a StGB (FDP) 26 4. Kritische Würdigung der Argumente der Reformdiskus sion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 a) Wertungswidersprüche durch Genese und weiten Anwendungsbereich des Werbeverbots? . . . . . . . . . . . . . . . 27 b) Zugang zu sachlichen Informationen über den Schwangerschaftsabbruch und ihr Stellenwert unter der Geltung der Beratungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 c) Rechtfertigungsfähiger Eingriff in die Berufsfreiheit der Ärzte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 5. § 219a StGB als Mittel für gesellschaftlichen Klimaschutz? 40 a) Von Mehrheitsansichten unabhängiger Zuschnitt grundrechtlicher Schutzgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 b) Wie mittelbar darf der Schutz durch Strafrecht sein? . . 42 IV. Zusammenfassung: Immunisierung gegen den Zeitgeist . . . . . 49
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I. Einführung Werbung für den Schwangerschaftsabbruch ist strafbar. Das wird offenbar gemeinhin als Zumutung empfunden. So jedenfalls liest sich die Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes anlässlich einer Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages: Entgegen der Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers, Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Bedingungen als tatbestandslos oder rechtmäßig anzusehen, würden mit Hilfe der Strafnorm Staatsanwaltschaften und Gerichte dazu missbraucht, „eine Rechtswirklichkeit durchzusetzen, für die man keine Mehrheiten hat“.1 Das Zitat bezieht sich auf die als misslich empfundene Situa tion, dass Abtreibungsgegner unter Berufung auf das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche nach § 219a StGB Strafanzeigen gegen Ärzte2 erstatten, die Abtreibungen vornehmen und dies auch öffentlich zu erkennen geben. Das Werbeverbot wird hier als atavistische Vorschrift im einsamen, schon auf verlorenen Posten gesehenen Kampf gegen die normative Kraft des Faktischen akzentuiert. Man möge doch
1 Maria Wersig/Ulrike Lembke, Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes e. V. (djb) für eine öffentliche Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 27. Juni 2018 zu den Gesetzentwürfen zur Änderung des Strafgesetz buches – Einschränkung bzw. Aufhebung des § 219a StGB – BTDrucks. 19/820 (Gesetzentwurf der Fraktion der FDP), BT-Drucks. 19/93 (Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke) und BT-Drucks. 19/630 (Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen), S. 19, im Internet abrufbar unter: https://www.bundestag.de/blob/561796/424295eac3 f0e125e1aeda4dcaf99e6c/lembke_djb-data.pdf. Vgl. auch Hasso Suliak, Reform des § 219a StGB steht still – Kommt Merkels Machtwort?, Legal Tribune Online vom 07.09.2018, im Internet abrufbar unter: https:// www.lto.de/recht/hintergruende/h/219a-stgb-schwangerschaftsabbruchwerbung-verbot-reform-koalition/. 2 Sofern im Folgenden nur von „Ärzten“ die Rede ist, sind damit stets auch Ärztinnen umfasst.
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bitte endlich die gesellschaftliche Realität akzeptieren und das Recht dementsprechend anpassen. Wer den Kontakt zur Realität verloren hat, wer scheinbar „aus der Zeit gefallen“ ist, muss gehen? Diametral zu dieser Position steht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: „[D]er verfassungsrechtliche Rang des Rechtsguts des ungeborenen menschlichen Lebens muß dem allgemeinen Rechtsbewusstsein weiterhin gegenwärtig bleiben (sog. positive Generalprävention).“3 Damit ist das Spannungsfeld angedeutet, welches im Folgenden eingehender vermessen wird. In einem ersten Schritt erfolgt dazu die kurze Rekapitulation der Kernaussagen zum Schutz des ungeborenen Lebens der beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch. Dieser Vergewisserung bedarf es zwingend, um die Strafnorm des § 219a StGB einordnen zu können. Im zweiten Schritt werden sodann Ausgestaltung und Anwendung des Werbeverbots in den Blick genommen. Anschließend sollen die Argumente der aktuellen politischen Diskussion für eine Abschaffung oder Reformierung des Werbeverbots einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Die aus diesen Vorüberlegungen zu entwickelnde These dieses Beitrages lautet: Das Werbeverbot ist im Zusammenhang mit den Wertungen des gesamten Schwangerschaftsabbruchsrechts (§§ 218 ff. StGB) zu sehen. In diesem Lichte ist es im Umfeld des sogenannten Beratungskonzeptes stimmig. Nachdenken könnte man über die Rolle von Ärzten. Eine ersatzlose Streichung der Norm hingegen schüttet das Kind mit dem Bade aus.
3 BVerfGE
88, 203 (272, ferner 278).
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II. Grundlegung: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum „Recht auf Geburt“ In seinem sogenannten zweiten SchwangerschaftsabbruchsUrteil4 erkennt das Bundesverfassungsgericht den Wechsel von der sogenannten Indikationenlösung hin zu dem Beratungskonzept als grundsätzlich mit der Verfassung vereinbar an.5 Das Beratungskonzept lässt einen Abbruch unter folgenden Voraussetzungen zu: (1) Die Schwangere verlangt ihn und kann einen Beratungsschein einer unabhängigen Beratungsstelle vorlegen, (2) der Schwangerschaftsabbruch wird von einem Arzt vorgenommen und (3) seit der Empfängnis sind nicht mehr als zwölf Wochen vergangen (§ 218a Abs. 1 StGB). Damit verzichtet das Beratungskonzept generell und ausnahmslos auf die Feststellung des Vorliegens der Indikation einer sozialen Notlage, um einen Schwangerschaftsabbruch zuzulassen.6 Es setzt vielmehr darauf, die Mutter durch Beratung für das Austragen des Kindes zu gewinnen.7 Das Bundesverfassungsgericht fordert, dass die Beratung durch eine unabhängige Stelle darauf ausgerichtet sei, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen.8 4 BVerfGE 88, 203–366; vgl. dazu statt vieler Christian Starck, Der verfassungsrechtliche Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens. Zum zweiten Abtreibungsurteil des BVerfG, JZ 1993, S. 816 ff.; Georg Hermes/Susanne Walther, Schwangerschaftsabbruch zwischen Recht und Unrecht. Das zweite Abtreibungsurteil des BVerfG und seine Folgen, NJW 1993, S. 2337 ff. 5 BVerfGE 88, 203 (264). 6 BVerfGE 88, 203 (271 f.). 7 BVerfGE 88, 203 (267). Kritisch dazu aber Hermes/Walther, Schwangerschaftsabbruch (Fn. 4), S. 2342, die meinen, dass das Schutzkonzept die schwangere Frau als Person missachte, indem es sie als „Verbündete“ des Staates bei der Wahrnehmung seiner Schutzaufgabe funktionalisiere und die Geltung ihres Achtungsanspruchs von der Erfüllung dieser Funktion abhängig mache. 8 BVerfGE 88, 203 (270 f., 281 ff.).
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Dieser Paradigmenwechsel im einfachen Recht hat aber keineswegs eine Lockerung der verfassungsrechtlichen Pflichten zur Folge. Bereits in seinem ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch hat das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG festgehalten, dass das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung stehe9. Den Schutz des ungeborenen Lebens hat es bereits damals in einem spannungsreichen Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau verortet. Den Vorrang hat es jedoch dem Lebensschutz der Leibesfrucht zuerkannt.10 Diese Prämisse ist zutreffend, wenn man zu akzeptieren bereit ist, dass das ungeborene Leben von Anfang an gleichwertig wie das geborene Leben am verfassungsrechtlichen Lebensschutz teilhat, also kein Leben „zweiter Klasse“ ist oder erst mit zunehmender Heranreifung wachsenden Schutz erfährt. Es entwickelt sich „als Mensch“ und „nicht erst zum Men schen“.11 Das ungeborene Leben befindet sich ganz in den Händen der Mutter, innerhalb der viel zitierten „Zweiheit in Einheit“12. Wenn die Mutter ihr Selbstbestimmungsrecht artikuliert und gegen das in ihr heranreifende menschliche Leben zu wenden gedenkt, hat das ungeborene Leben keinen anderen 9 BVerfGE 39, 1 (36). Zwar hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass auf den noch nicht geborenen Menschen – den nasciturus – Art. 2 Abs. 2 Satz 1 anwendbar sei. Es hat aber offen gelassen, „ob der nasciturus selbst Grundrechtsträger ist oder aber wegen mangelnder Rechts- und Grundrechtsfähigkeit ‚nur‘ von den objektiven Normen der Verfassung in seinem Recht auf Leben geschützt wird“, BVerfGE 39, 1 (41). Gegen die Grundrechtsträgerschaft des nasciturus etwa Jörn Ipsen, Der „verfassungsrechtliche Status“ des Embryos in vitro. Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte, JZ 2001, S. 989 ff. (991 f.); dafür: Ralf Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens. Eine verfassungs-, völker- und gemeinschaftsrechtliche Statusbetrachtung an der Schwelle zum biomedizinischen Zeitalter, 2007, S. 270 ff. 10 BVerfGE 39, 1 (42 ff.). 11 BVerfGE 88, 203 (252); vgl. auch BVerfGE 39, 1 (37). 12 BVerfGE 88, 203 (252 f.).
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Sachwalter seiner Interessen als den Staat. Von dieser Priorisierung zugunsten des ungeborenen Lebens macht die Entscheidung zum Beratungskonzept aus dem Jahre 1993 keine Abstriche.13 So heißt es dort: Die Frau müsse wissen, dass das Ungeborene auch ihr gegenüber auch im Frühstadium der Schwangerschaft ein „eigenes Recht auf Leben“ habe.14 Mit deutlichen Worten beharrt das Bundesverfassungsgericht darauf, dass der Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich strafbares Unrecht sei.15 Die diesbezügliche Überzeugung müsse der Staat auf allen Ebenen durchsetzen. Die Spannbreite ist denkbar weit: Sie reicht von „weichen“ Mitteln wie der Bewusstseinsbildung und des Eintretens für den Schutz des ungeborenen Lebens durch staatliche Organe16 und der Förderung einer kinderfreundlichen Gesellschaft, welche auch auf den Schutz des ungeborenen Lebens zurückwirke.17 Auf der anderen Seite könne der Gesetzgeber auf den Einsatz des Strafrechts zum Schutz eines so hochrangigen Rechtsgutes und im Falle der hier gegebenen elementaren staatlichen Schutzaufgabe nicht frei verzichten.18 Mit den Mindestvoraussetzungen eines rechtlichen Schutzes des ungeborenen Lebens sei es lediglich vereinbar, einen nach Beratung erfolgenden Schwangerschaftsabbruch aus dem Straftatbestand auszunehmen, nicht aber, ihn als „nicht rechtswidrig“ zu bewerten (wie es der Gesetzgeber des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes ursprünglich getan hatte)19. Rechtliche Verhaltensgebote müssten Schutz in zwei Richtungen entfalten: Einerseits bedürfe es präventiver und repressiver Schutzwirkungen im einzelnen Falle. Andererseits komme es 13 BVerfGE 88, 203 (253): „Das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes sind zwei untrennbar verbundene Elemente des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes.“ 14 BVerfGE 88, 203 (283). 15 BVerfGE 88, 203 (255). 16 BVerfGE 88, 203 (261). 17 BVerfGE 88, 203 (260). 18 BVerfGE 88, 203 (257 f.). 19 BVerfGE 88, 203 (261 f., 273 f.).
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aber auch auf die Bildung von Rechtsbewusstsein im Volke und die Vermittlung einer normativen Orientierung an.20 Die Argumentation des Gerichts verläuft also zweigleisig: Das Recht zum Schutz des Lebens muss effektiv sein und im einzelnen Fall reagieren. Die gesamte Rechtsordnung muss daneben die Grund entscheidung für den effektiven Schutz des ungeborenen Lebens als gleichwertigen menschlichen Lebens für den Bürger vor Augen führen. III. Das strafrechtliche Verbot der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch nach § 219a StGB im Lichte des verfassungsrechtlich garantierten vorgeburtlichen Lebensschutzes § 219a Abs. 1 StGB mit der Überschrift: „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ hat folgenden Wortlaut: „Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften […] seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise 1. eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs oder 2. Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, unter Hinweis auf diese Eignung anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
1. Der Stein des Anstoßes: Die Verurteilung einer Ärztin nach § 219a StGB durch das Amtsgericht Gießen Stein des Anstoßes für die gegenwärtige Diskussion über die Sinnhaftigkeit des Werbeverbots war die Entscheidung des Amtsgerichts Gießen Ende des letzten Jahres.21 Eine als Ärztin 20 BVerfGE
88, 203 (253). Online vom 25.11.2017, Schwangerschaftsabbruch. CSU besteht weiter auf Werbeverbot für Abtreibungen, im Internet abrufbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-11/csu-ab 21 Zeit
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für Allgemeinmedizin tätige Angeklagte wurde wegen verbotenen Werbens für den Schwangerschaftsabbruch nach § 219a StGB zu einer Geldstrafe verurteilt.22 Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Angeklagte hatte über ihre öffentlich zugängliche Praxis-Homepage ein Dokument mit allgemeinen Informationen zu Durchführung und Methoden des Schwangerschaftsabbruchs verlinkt. Sie hatte dabei unter Hinweis auf die Kostenübernahme durch Krankenkassen oder bei Privatzahlerinnen deutlich gemacht, dass sie die beschriebenen Methoden sämtlich in ihrer Praxis durchführe. Die Angeklagte vertrat die Rechtsansicht, dass eine sachliche Information über Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs erlaubt sei. Demgegenüber meinte das Amtsgericht, auch die aufklärende Information unterfalle dem Tatbestandsmerkmal des „Anbietens“, wenn sie – wie hier – mit dem Anbieten der Leistung verknüpft sei. Eines besonderen werbenden Charakters bedürfe es dafür nicht. Für ein Handeln „seines Vermögensvorteils wegen“ reiche es aus, dass die Angeklagte durch ihr Verhalten offenkundig Patientenakquise betrieben habe. treibungen-werbeverbot; Berliner Morgenpost online vom 12.12.2017, Bundesrat. Fünf Bundesländer wollen Werbeverbot für Abtreibungen kippen, im Internet abrufbar unter: https://www.morgenpost.de/poli tik/article212818921/Fuenf-Bundeslaender-wollen-Werbeverbot-fuerAbtreibung-kippen.html. 22 AG Gießen, Urteil vom 24.11.2017, NStZ 2018, 416 f., mit Praxiskommentar von Liane Wörner, NStZ 2018, S. 417 ff. Die Berufung der betroffenen Ärztin gegen dieses Urteil wurde im Oktober 2018 von dem Landgericht Gießen verworfen, vgl. dazu Kim Björn Becker, Information über Abtreibung. Ärztin verliert Prozess, gewinnt Sympathien, faz.net vom 12.10.2018, im Internet abrufbar unter: http://www.faz.net/ aktuell/politik/inland/landgericht-giessen-bestaetigt-urteil-wegen-ab treibungswerbung-15834458-p2.html. Gegen das Urteil des Landgerichts Gießen hat die Angeklagte Revision zum Oberlandesgericht Frankfurt eingelegt, Legal Tribune Online vom 20.11.2018, Wegen Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verurteilt. Kristina Hänel geht in Revision, im Internet abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/nach richten/n/aerztin-kristina-haenel-schwangerschaftsabbrueche-werbungurteil-revision-219a/.
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Das (nicht rechtskräftige) Urteil des Amtsgerichts Gießen ist in der Öffentlichkeit auf breite Resonanz gestoßen. Ein Grund dafür dürfte sein, dass das Werbeverbot bislang der weitgehenden forensischen Bedeutungslosigkeit anheimfiel.23 Öffentlich zugänglich ist lediglich eine weitere Verurteilung zu diesem Thema, und zwar die des Amtsgerichts Bayreuth in Verbindung mit dem Berufungsurteil des Landgerichts Bayreuth aus dem Jahre 2006.24 Auf den ersten Blick mag es kontraintuitiv erscheinen, dass die Bereitstellung einer sachlichen Information unter eine Strafvorschrift subsumiert werden kann, die mit Werbung überschrieben ist. Denn der Begriff „Werbung“ ruft Assoziationen des Empfehlens, Gutheißens und Anpreisens hervor. Jedoch: Die in der Vorschrift genannten Tathandlungen decken ein breiteres Spektrum ab, nämlich auch das „Anbieten“ und das „Ankündigen“. Die Subsumtion des Amtsgerichts Gießen liegt auf der Linie der bislang herrschenden Meinung25. Einschränkungen erfahren die Tathandlungsvarianten jedoch zum einen durch die beiden weiteren Tatbestandsmerkmale: „seines Vermögensvorteils wegen“ oder aber „in grob anstößiger Weise“. Zum anderen wird nur öffentliches Verhalten kriminalisiert. Bei einem Arzt ist das Merkmal des Handelns um seines Vermögensvorteils willen nach überwiegender Ansicht schon dann erfüllt, wenn er das reguläre ärztliche Honorar erwartet.26 23 Walter Gropp, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 3. Aufl. 2017, Vorbemerkung zu § 218 Rdnr. 88. Vgl. auch Jörg Kinzig, Tote Tatbestände, ZStW 2017, S. 415 ff. (421). 24 LG Bayreuth, Urteil vom 11.01.2006, ZfL 2007, 16 f., mit (zustimmender) Anmerkung von Nino Goldbeck, Zur Verfassungskonformität von § 219a StGB, ZfL 2007, S. 14 ff. 25 LG Bayreuth, ZfL 2007, 16 f.; Thomas Fischer, Strafgesetzbuch, 65. Aufl. 2018, § 219a Rdnr. 3; MüKoStGB/Gropp (Fn. 23), StGB § 219a Rdnr. 2, 6. 26 LG Bayreuth, ZfL 2007, 16 (16); Reinhard Merkel, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017, § 219a Rdnr. 15; Kristian Kühl, in: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch Kommentar, 29. Aufl. 2018, § 219a Rdnr. 4.
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Freilich ist im Einzelfall sorgfältig darauf zu achten, ob die Tatsachenfeststellung eine solche Verurteilung trägt. In Anmerkungen zu dem Urteil des Amtsgerichts Gießen wird vertreten, dass die Frage des Vermögensvorteils die Stellschraube dafür hätte sein können, eine Strafbarkeit der angeklagten Ärztin zu verneinen. Schließlich sei es ihr in erster Linie darum gegangen, Frauen in einer Notsituation aufzuklären und zu informieren.27 Zutreffend ist, dass dieses Tatbestandsmerkmal Bereicherungsabsicht im klassischen Sinne meint, das heißt: Der Täter muss aus dem Motiv heraus handeln, einen Vermögensvorteil zu erlangen, und dies mit dolus directus 1. Grades erstreben.28 2. Der verfassungsrechtliche Horizont: § 219a StGB im Lichte von „Tabu“ und grundrechtlicher Freiheit Über Fragen der Tatsachenfeststellung hinaus fordert das Urteil des Amtsgerichts Gießen jedoch die viel grundsätzlichere Frage heraus: Wie fügt sich dieses Ergebnis in die vom Grundgesetz konzipierte freiheitliche Rechtsordnung ein? In diese Richtung zielen kritische Stimmen, die das Werbeverbot insofern als Fremdkörper ansehen. So heißt es etwa: Die Norm sei „im Lichte des Grundrechts auf Meinungsfreiheit schwer erträglich“ und tabuisiere die Kommunikation über Schwangerschaftsabbrüche.29 27 Wörner, Praxiskommentar (Fn. 22), S. 418 f.; ähnlich kritisch: Michael Kubiciel, Reform des Schwangerschaftsabbruchsrechts?, ZRP 2018, S. 13 ff. (15). 28 Ralf Eschelbach, in: von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar zum Strafgesetzbuch, Stand der 39. Ed., StGB § 219a Rdnr. 15; MüKoStGB/Gropp (Fn. 23), StGB § 219a Rdnr. 12; Petra Wittig, Die Absicht der rechtswidrigen Bereicherung, JA 2013, S. 401 ff. (401). 29 NK-StGB/Merkel (Fn. 26), StGB § 219a Rdnr. 3.
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Ein „Tabu“ steckt nach herkömmlichem Verständnis einen Bereich des Unantastbaren ab, wobei es für die Unantastbarkeit keine sachliche Begründung gibt.30 Das Tabu „gilt, weil es gilt“31 – es ist geheimnisvoll und fordert Ehrfurcht ein. Für Tabus im so verstandenen Sinne ist im säkularen freiheitlichen Verfassungsstaat, in dem sich staatliche Gewalt für freiheitsbeschränkende Normen umfassend rechtfertigen muss, tatsächlich kein Raum.32 Grundrechtliche Freiheit bedeutet Kritik und Meinungskampf in einem Umfeld, in dem „nichts mehr heilig ist“33. Der Staat darf keine Denk- und Redeverbote errichten.34 Die Zusammenschau der von der Verfassung garantierten subjektiven Freiheitsrechte ergibt ein Menschenbild, das von einem Grundrechtsträger ausgeht, der insbesondere durch Kommunikation mit anderen in Beziehung tritt, der sich informiert und sich für seinen Freiheitsgebrauch vor dem Staat nicht zu rechtfertigen braucht.35 Irrational ist das Werbeverbot – aus der Perspektive des „Tabus“ gesehen – bei Weitem nicht. Denn es verfolgt zumindest mittelbar den Zweck, das ungeborene Leben zu schützen.36 Genau zu prüfen bleibt dann, ob die Vorschrift auch geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen, sowie ob sie erforderlich und angemessen ist. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Norm ist zu unterscheiden von der Frage, ob sie rechtspolitisch wünschenswert ist. 30 Josef Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat. Jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts, 2003, S. 13 ff. 31 Isensee, Tabu (Fn. 30), S. 9. 32 Isensee, Tabu (Fn. 30), S. 15. 33 Isensee, Tabu (Fn. 30), S. 36. 34 Sebastian Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat. Verfassungserwartungen und Verfassungsvoraussetzungen einer gefürchteten Freiheit, 2013, S. 16 ff. 35 Vgl. Paul Kirchhof, Menschenbild und Freiheitsrecht, in: Grote/Härtel/Hain/Schmidt/Schmitz/Folke/Schuppert/Winterhoff (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit. Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag, 2007, S. 275 ff. 36 BeckOK StGB/Eschelbach (Fn. 28), StGB § 219a Rdnr. 1.; a. A. NK-StGB/Merkel (Fn. 26), StGB § 219a Rdnr. 2 f.
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Dies sind die Bahnen, innerhalb derer sich die bisweilen emotional geführte Diskussion um das Werbeverbot aus rechtlicher Sicht rationalisieren lässt. 3. Gesetzentwürfe als Reaktion auf die Gießener Entscheidung Als Reaktion auf die Gießener Entscheidung haben mehrere Fraktionen des Deutschen Bundestages Gesetzentwürfe zur Abschaffung oder Reformierung des § 219a StGB vorgelegt.37 Die Gesetzentwürfe der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und der FDP hat der Bundestag in erster Lesung am 22. Februar 2018 debattiert und sodann an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz überwiesen.38 Dort fand am 27. Juni 2018 eine öffentliche Anhörung statt.39 Die Fraktion SPD hatte ihren Gesetzentwurf aus Rücksicht auf den Koalitionspartner nicht zur parlamentarischen Debatte gestellt.40 37 Vgl. dazu auch Michael Kubiciel, Streichung des § 219a StGB? erforderlich und angemessen?, jurisPR-StrafR 5/2018, Anmerkung Nr. 1; Eva Gschwendtner, Eingriff erlaubt, aber nicht darüber reden. Die Debatte um das Werbeverbot für den Schwangerschaftsabbruch nach § 219a StGB, Vorgänge 2018, S. 143 ff. 38 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Februar 2018, Stenografischer Bericht, Plenarprotokoll 19/14, S. 1221–1233. 39 Im Internet abrufbar unter: https://www.bundestag.de/dokumen te/textarchiv/2018/kw08-de-stgb-schwangerschaftsabbruch/542312. 40 Legal Tribune Online vom 14.03.2018, Reform des § 219a StGB. Doch kein Alleingang der SPD, im Internet abrufbar unter: https:// www.lto.de/recht/nachrichten/n/spd-vorstoss-reform-219a-stgb-zu rueckgezogen-grosse-koalition-gemeinsamer-vorschlag/. Im Dezember 2018 ließ die große Koaltion verlauten, dass man sich bei der Reform des § 219a StGB auf einen Kompromiss geeinigt habe: § 219a StGB bleibe bestehen, jedoch solle u. a. festgeschrieben werden, dass und auf welche Art und Weise Ärzte und Krankenhäuser die Möglichkeit haben, darüber zu informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Eine ausformulierte Ergänzung des § 219a StGB solle im Januar 2019 vorgelegt werden. Siehe dazu Hasso Suliak, Bundesregierung einig bei § 219a StGB. „Ein Misstrauensvotum gegenüber Ärzten“, Legal Tribune Online vom 13.12.2018, im Internet abrufbar unter:
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Die Gesetzentwürfe und die darin genannten Argumente werden im Folgenden kurz vorgestellt, um sie sodann einer kritischen Würdigung zu unterziehen. a) Argumente der Gesetzentwürfe zur Aufhebung des § 219a StGB (SPD, Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen) Die Gesetzentwürfe der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke sehen jeweils eine Aufhebung des Werbeverbots vor. Erklärtes zentrales Ziel der Entwürfe von Bündnis 90/Die Grünen und SPD ist es, Ärzten die sachliche Information über Methoden des Schwangerschaftsabbruchs zu ermöglichen. Handlungsdruck wird aufgrund von vermehrten Strafanzeigen durch engagierte Abtreibungsgegner gesehen. Dadurch trete eine nicht hinnehmbare Rechtsunsicherheit für Ärzte ein: Der Schwangerschaftsabbruch sei eine „medizinische Leistung“ für Frauen in einer Notlage.41 Deren Recht auf freie Arztwahl müsse gewahrt werden.42 Darüber hinaus trage das Werbeverbot einen Wertungswiderspruch in das geltende Recht der Beratungslösung. Zur Begründung zitieren die Entwurfsverfasser aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: „Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können.“43 Darauf aufbauend meinen auch die Grünen: Soweit das Werbeverbot Ärzte betrifft, die öffentlich darauf hinweisen, dass sie „legale Schwanhttps://www.lto.de/recht/hintergruende/h/219a-stgb-werbung-schwan gerschaftsabbruch-verbot-streichung-reform-beratung-aerzte/. 41 Vgl. dazu auch Johannes Fechner, Zehn Maßnahmen für einen bürgernahen sozialen Rechtsstaat, ZRP 2018, S. 63 ff. (64). 42 BT-Drucks. 19/630 vom 02.02.2018, Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, S. 4; BT-Drucks. 19/1046 vom 02.03.2018, Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, S. 1. 43 BVerfG, AfP 2006, 550 (553).
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gerschaftsabbrüche“ durchführen, fehlt es an einem Strafgrund.44 Die Linke ergänzt das Argument eines Wertungswiderspruchs unter Hinweis auf das Inkrafttreten der Vorschrift unter der Herrschaft der Nationalsozialisten im Jahre 1933. Die Norm habe zu Unrecht bereits die Reform des Schwangerschaftsabbruchsrechts 1976 überdauert, obwohl seither Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Voraussetzungen straflos seien.45 b) Gesetzentwurf zur Änderung des § 219a StGB (FDP) Der Gesetzentwurf der FDP-Fraktion betont, dass es im Umfeld des geltenden Schwangerschaftsabbruchsrechts nicht mehr zeitgemäß sei, die sachliche Information über Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe zu stellen. Angesichts des hohen Wertes des Schutzgutes ungeborenes Leben sei es jedoch nicht angemessen, auf diesem Gebiet völlig auf den Einsatz des Strafrechtes zu verzichten. Strafwürdig sei demnach „grob anstößige“ Werbung sowie – zusätzlich – Werbung für einen strafbaren Schwangerschaftsabbruch.46 4. Kritische Würdigung der Argumente der Reformdiskussion Sämtliche in den Gesetzentwürfen genannten Argumente hängen eng zusammen und laufen auf einen einzigen Fluchtpunkt zu: Wird anerkannt, dass das Bundesverfassungsgericht dem 44 BT-Drucks.
19/630, S. 1. 19/93 vom 22.11.2017, Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke, S. 1. Auch bei BeckOK StGB/ Eschelbach (Fn. 28), StGB § 219a Rdnr. 1 heißt es, die Vorschrift sei „historisch bemakelt“. Zur Gesetzgebungsgeschichte mit kritischen Anmerkungen: Monika Frommel, Das Verbot des „Anbietens“ von Diensten für den Schwangerschaftsabbruch nach § 219a Abs. 1 StGB. Bemerkungen zum Gesetzesentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag BT-Drucks. 19/630 vom 02.02.2018, JR 2018, S. 239 ff. (239 f.). 46 BT-Drucks. 19/820 vom 20.02.2018, Gesetzentwurf der Fraktion der FDP, S. 1 f. Da es jeder Werbung immanent sei, auf die Erlangung eines Vermögensvorteils gerichtet zu sein, könne das Tatbestandsmerkmal „seines Vermögensvorteils wegen“ entfallen, ebd., S. 5. 45 BT-Drucks.
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Lebensrecht des Ungeborenen den Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau zugesprochen hat – oder wird versucht, diese Vorrangentscheidung durch die Hintertür in Frage zu stellen?47 Dass sich die Diskutanten der parlamentarischen Debatte diesem höheren Zusammenhang – bewusst oder unbewusst – nicht gestellt haben, wird deutlich in wiederholten Einwürfen wie: „Jetzt reden Sie mal zu § 219a und nicht zu § 218!“ – heißt übersetzt: „Jetzt reden Sie mal zum Thema!“, wenn in einzelnen Beiträgen auf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum vorgeburtlichen Lebensschutz hingewiesen wurde.48 a) Wertungswidersprüche durch Genese und weiten Anwendungsbereich des Werbeverbots? Zum behaupteten Wertungswiderspruch: Ein solcher lässt sich nicht aus der Genese der Vorschrift herleiten. Denn der den Bindungen des Grundgesetzes unterworfene Gesetzgeber hat sich mehrfach mit der Norm auseinandergesetzt49 und die Existenzberechtigung des Werbeverbots rational wie folgt begründet: Es „will verhindern, daß der Schwanger-
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für ein deutliches Übergewicht des Selbstbestimmungsrechts der schwangeren Frau: Ulrike Lembke/Friederike Wapler/ Maria Wersig, Zugang zu sicherem und legalem Schwangerschaftsabbruch – Handlungsbedarf in Deutschland, Recht und Politik 2017, S. 505 ff. 48 Zwischenruf des Abgeordneten Stefan Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen, Plenarprotokoll 19/14 (Fn. 38), S. 1223, zum Redebeitrag des Abgeordneten Stephan Harbarth, CDU/CSU, ebd. Ähnlich die Zwischenrufe der Abgeordneten Ulle Schauws, Bündnis 90/Die Grünen, ebd., S. 1226, sowie Eva Högl, SPD, Daniela De Ridder, SPD, und Ulle Schauws, ebd., S. 1232, die drei zuletzt genannten zum Redebeitrag der Abgeordneten Silke Launert, CDU/CSU, ebd., S. 1231 f. 49 Zur Entwicklungsgeschichte des Abtreibungsstrafrechts: Albin Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 218 ff. Rdnr. 1–8.
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schaftsabbruch in der Öffentlichkeit als etwas Normales dargestellt und kommerzialisiert wird“50.51 Das genannte Zitat des Bundesverfassungsgerichts betrifft die zivilrechtliche Unterlassungsklage gegen einen Abtreibungsgegner52. Es gibt zur Frage eines Wertungswiderspruchs unmittelbar nichts her. Denn in diesem Kontext ging es um die Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Abtreibungsgegners einerseits und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Arztes andererseits. Letzterer müsse es nicht hinnehmen, dass über ihn verbreitet wird, er mache sich wegen der Durchführung von Abtreibungen in seiner Praxis permanent strafbar.53 Wohl aber taugt das Zitat aus der Entscheidung als Anstoß dafür, die Rolle von Ärzten im Zusammenhang mit dem Werbeverbot zu reflektieren. Darauf wird später noch zurückzukommen sein. Viel interessanter und ernsthaft bedenkenswert ist die Begründungsschiene, dass das Werbeverbot nicht zwischen unzweifelhaft verbotenen und solchen Schwangerschaftsabbrüchen differenziert, die nach § 218a StGB nach durchgeführter Beratung tatbestandslos oder – wegen einer Indikation – rechtfertigungsfähig sind54.55
50 BT-Drucks.
7/1981 (neu), S. 17. hier: Kubiciel, Reform (Fn. 27), S. 14. 52 Oben unter III.3.a), Fn. 43. 53 BVerfG, AfP 2006, 550 (553). 54 MüKoStGB/Gropp (Fn. 23), StGB § 219a Rdnr. 2, 4; LG Bayreuth, ZfL 2007, 16 f.; Fischer, StGB (Fn. 25), § 219a Rdnr. 3; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 49), StGB § 219a Rdnr. 1. 55 Für Wertungswiderspruch: Kriminalpolitischer Kreis, Stellungnahme zum Straftatbestand der Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft (§ 219a StGB), ZfL 2018, S. 31 f. (31); Reinhard Merkel, Stellungnahme für die öffentliche Anhörung zu § 219a Strafgesetzbuch am 27. Juni 2018 im Ausschuss des Deutschen Bundestages für Recht und Verbraucherschutz, S. 3 f., im Internet abrufbar unter: https://www.bun destag.de/blob/561798/6f95f886b06018ab273eeef86c6d7400/merkeldata.pdf. 51 Wie
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Nach geltendem Recht darf man also in keinem Fall öffentlich gegen Entlohnung einen Schwangerschaftsabbruch anbieten, selbst wenn am Ende etwa ein notstandsähnlicher Konflikt in Rede steht und der Abbruch wegen Gefährdung des Lebens der Mutter erlaubt – und nicht „nur“ tatbestandslos – ist. Gewichtige Stimmen meinen deshalb, dass zumindest im Rechtfertigungsfalle kein Strafgrund für das Werbeverbot bestehe.56 Und auch darüber hinaus muss man sich fragen: Darf man die Vorbereitung einer Handlung kriminalisieren, die die Rechtsordnung am Ende des Tages zulässt?57 Dieser Beitrag wagt die These, dass selbst in dem so konturierten weiten Anwendungsbereich der Vorschrift kein Wertungswiderspruch liegt. Denn dem Werbeverbot geht es zum einen nicht darum, die im Rahmen der Beratungslösung offen gelassene Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs nun an anderer Stelle doch zu beantworten. Und weitergehend: Auch wenn ein Schwangerschaftsabbruch am Ende sogar rechtfertigungsfähig sein mag, besteht trotzdem Anlass und Berechtigung dazu, Werbung dafür unter Strafe zu stellen. Diese These lässt sich anhand des zentralen Arguments der parlamentarischen Debatte begründen:
56 Tonio Walter, Was sollen und was dürfen Kriminalstrafen? Eine Antwort am Beispiel des § 219a StGB, ZfL 2018, S. 26 ff. (27 f.). Auch Helmut Satzger, § 219a StGB ist verfassungsrechtlich und strafrechtsdogmatisch nicht zu beanstanden, aber jedenfalls kriminalpolitisch zu überdenken!, ZfL 2018, S. 22 ff. (23), sieht das kritisch, meint aber, dass sich das Problem bereits durch eine restriktive Auslegung der Vorschrift aus der Welt schaffen lasse. 57 So argumentiert auch Katrin Höffler, Soll § 219a – Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft – abgeschafft werden? Pro: Keine „gesellschaftliche Klimapflege“ mit den Mitteln des Strafrechts, Recht und Politik 2018, S. 70 f. (70).
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b) Zugang zu sachlichen Informationen über den Schwangerschaftsabbruch und ihr Stellenwert unter der Geltung der Beratungslösung Alle Gesetzentwürfe sind sich darüber einig, dass die sachliche Information über Schwangerschaftsabbrüche möglich sein müsse. Sie behaupten gewissermaßen spiegelbildlich dazu, dass das Werbeverbot eine Art „Arkanbereich“ errichte. Illustriert wurde dieses Anliegen im Rahmen der parlamentarischen Debatte anhand der Rollen der beiden unmittelbar Beteiligten in diesem Konfliktfeld, Arzt und schwangere Frau. Erstens sei es sinnwidrig, dass es vor dem Hintergrund ihrer Fachkompetenz gerade Ärzten versagt werde, Frauen auch vor Aufsuchen einer Beratungsstelle mit sachlich gehaltenen Informationen über medizinische Fragen zu versorgen.58 Auf der anderen Seite wurde bemängelt, dass die Furcht vor der Verbreitung sachlicher Informationen durch Ärzte ein problematisches, nämlich naives Frauenbild offenbare, nach dem Motto: „Abtreibung ist ja gar nicht so schlimm, das mache ich mal eben“.59 Die Frage des Informationszugangs und auch die Frage der Zulässigkeit ihrer Form ist im Zusammenspiel mit dem Beratungsmodell zu sehen, welches der Gesetzgeber gewählt hat, um dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des ungeborenen Lebens gerecht zu werden. An dieser Stelle greifen mehrere Gesichtspunkte ineinander. Erstens: Das von dem Gesetzgeber mit der Beratungslösung 58 Redebeitrag der Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Ulle Schauws, Plenarprotokoll 19/14 (Fn. 38), S. 1221 f.; Redebeitrag der Abgeordneten Eva Högl, SPD, ebd., S. 1224; Redebeitrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Die Linke, ebd., S. 1228. 59 Redebeitrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Die Linke, Ple narprotokoll 19/14 (Fn. 38), S. 1228 f. Ähnlich auch Scarlett Jansen, Werbung für Schwangerschaftsabbruch auf ärztlicher Homepage. Anmerkung zu AG Gießen, Urteil vom 24.11.2017, 507 Ds 501 Js 15031/15, jurisPR-StrafR 7/2018, Anmerkung Nr. 2, S. 4; Höffler, Werbung (Fn. 57), S. 71.
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eingeführte Schutzkonzept ist selbst durchaus fragil und deshalb auf Stützen vielfältiger Art angewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat beim Übergang zu dieser Lösung einen wirksamen Lebensschutz durch gesetzliche Vorkehrungen eingefordert und dem Gesetzgeber daher auch eine Beobachtungs- und gegebenenfalls Nachbesserungspflicht auferlegt.60 An anderer Stelle hat das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben, dass die Wirksamkeit des Beratungskonzepts „entscheidend davon ab[hänge], daß alle einzelnen Elemente und die notwendigen Rahmenbedingungen aufeinander abgestimmt sind“61. Es ist also in Betracht zu ziehen, dass das Werbeverbot Rahmenbedingungen für das Gelingen der Beratungslösung schafft. In diesem Sinne sind Stimmen zu verstehen, die dafür plädieren, das Werbeverbot als unverzichtbaren Bestandteil der Beratungslösung anzusehen, durch dessen Abschaffung oder auch nur Aufweichung die gesamte Konstruktion der Beratungslösung ins Wanken zu geraten drohe.62 60 BVerfGE
88, 203 (269, 309 ff.). NJW 1999, 841 (843). 62 Dafür: Wörner, Praxiskommentar (Fn. 22), S. 417; Kubiciel, Reform (Fn. 27), S. 14; in diese Richtung auch Simone Weber, Anmerkung zu AG Gießen, Urteil vom 24.11.2017, FD-StrafR 2018, 402159 (beck-online). Weniger weitreichend (keine „Wirksamkeitsbedingung“ der Konfliktberatung, aber folgerichtiger Annex zu §§ 218 ff. StGB): Gloria Berghäuser, Streit um die Werbung ist (nicht) Streit um den Abbruch der Schwangerschaft. Zugleich eine Besprechung der Gesetzentwürfe zu einer Aufhebung oder Änderung des § 219a StGB, KriPoZ 2018, S. 210 ff. (214); Klaus Ferdinand Gärditz, Das strafrechtliche Verbot der Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft (§ 219a StGB). Anachronismus oder sinnvolle Schutzergänzung?, ZfL 2018, S. 18 ff. (20): „konsequenter Bestandteil dieses aufgefächerten Lebensschutzkonzepts“; Satzger, § 219a StGB (Fn. 56), S. 23. Dagegen: Michael Rahe, Strafbare Werbung bei Hinweis auf legalen Schwangerschaftsabbruch?, JR 2018, S. 232 ff. (234); Theresa Schweiger, Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche. Das nächste rechtspolitische Pulverfass?, ZRP 2018, S. 98 ff. (100); Frommel, Verbot (Fn. 45), S. 241; Merkel, Stellungnahme (Fn. 55), S. 5 f. 61 BVerfG,
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Entscheidend ist zunächst einmal folgendes: Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist Dreh- und Angelpunkt des neuen Lebensschutzkonzeptes die Beratung der schwangeren Frau durch eine unabhängige Beratungsstelle, die keine eigenen kommerziellen Interessen am Ergebnis der Beratung hat und die darauf verpflichtet ist, Überzeugungsarbeit für die Erhaltung des Lebens zu leisten.63 All dies soll der Frau eindringlich vor Augen führen, dass sie die Letztverantwortung für die Entscheidung trägt, und dass sie diese Verantwortung nicht abwälzen kann.64 Es geht also an erster Stelle um die Sensibilisierung der Frau für diese ethische Frage. So heißt es in der Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahre 1993: „Die Beratung im Schwangerschaftskonflikt bedarf der Zielorientierung auf den Schutz des ungeborenen Lebens hin. Eine bloß informierende Beratung, die den konkreten Schwangerschaftskonflikt nicht aufnimmt und zum Thema eines persönlich geführten Gesprächs zu machen sucht […] ließe die Frau im Stich und verfehlte ihren Auftrag.“65 Der Beratung kommt also eine Schlüsselfunktion zu. Der Gesetzgeber hat sich davon „ein Maximum an Lebensschutz erhofft, indem Verständnis, Ermutigung und offenes Gespräch die Verantwortungsbereitschaft der Frau stärken“66. Vor diesem Hintergrund ist das Argument zurückzuweisen, das Beratungsverfahren ziele darauf, der Frau „neutral“ durch umfassende Beratung und umfassende Aufklärung sämtliche Möglichkeiten aufzuzeigen – mit der Folge, dass auch Informationen aus anderen Quellen unbedenklich seien.67 Denn das Beratungsverfahren ist eben nicht neutral. Eines soll dabei nicht verschwiegen werden: Ob das Ziel der auf den Lebensschutz ausgerichteten Beratung in der Praxis tatsächlich durchgesetzt wird, ist durchaus zweifelhaft. Dies ergibt 63 BVerfGE
88, 203 (282). 88, 203 (270). 65 BVerfGE 88, 203 (282). 66 BVerfG, NJW 1999, 841 (847). 67 So aber Wörner, Praxiskommentar (Fn. 22), S. 418. 64 BVerfGE
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sich aus der Anerkennung von „pro familia“ als Beratungsstelle im Sinne des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, einer Organisa tion, die offensiv und transparent den Vorrang des Selbstbestimmungsrechts der Frau propagiert und für eine Freistellung des Schwangerschaftsabbruchs eintritt.68 Aber Mängel in der tatsächlichen Ausgestaltung ändern bekanntlich nichts am Inhalt der verfassungsrechtlichen Pflichten. Und: Das Beratungskonzept ist – zumindest der regulativen Idee nach – ganz und gar darauf angelegt, den Informationsfluss auf die unabhängigen Beratungsstellen zu kanalisieren. Warum? Es geht dem Gesetzgeber erklärtermaßen darum, der Verharmlosung dieses Eingriffs im öffentlichen Bewusstsein zu wehren. Dies ist in einem System wie dem geltenden, das im Falle der Beratung auf eine Indikationenlösung verzichtet und innerhalb dessen sich der Staat der Beurteilung eines Abbruchs als im strafrechtlichen Sinne gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt enthält, ein durchaus ernst zu nehmendes Anliegen. Das Werbeverbot flankiert dies, indem es andere Informationsquellen unter bestimmten Voraussetzungen – namentlich dann, wenn die Form bedenklich ist – ausscheidet. Es ist also nicht so, dass das Werbeverbot ein naives Frauenbild transportiert, sondern umgekehrt liegt das Augenmerk auf dem Schutz des ungeborenen Lebens. Andere Befindlichkeiten haben dahinter zurückzustehen. Auf der anderen Seite entsteht durch das Werbeverbot kein besorgniserregendes Informationsdefizit. Denn die Strafvorschrift verbietet nicht, altruistische Informationen über die Methoden des Schwangerschaftsabbruchs öffentlich zugänglich zu machen.69 Daneben sind Frauen ohnehin nicht gehindert, einen 68 Vgl. dazu auch Gloria Berghäuser, Das Ungeborene im Widerspruch. Der symbolische Schutz des menschlichen Lebens in vivo und sein Fortwirken in einer allopoietischen Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft, 2015, S. 641 ff., sowie dies., Streit (Fn. 62), S. 214 m. w. N. dort in Fn. 46 f. 69 Ebenso Gunnar Duttge, Recht auf öffentliche Werbung für Abtreibungen?, medstra 2018, S. 129 f. (129); Kubiciel, Streichung (Fn. 37), S. 2; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 49), StGB § 219a Rdnr. 8.
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Arzt um Auskunft zu bitten – denn das Werbeverbot stellt nur das „öffentliche“ Anbieten eines Dienstes zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs unter Strafe, nicht aber individuelle Angebote.70 Drittens: Auf die Kompetenz des Arztes gerade für medizinische Fragen wird auch beim Beratungskonzept nicht verzichtet. Ganz im Gegenteil: Der Arzt ist sogar integraler Bestandteil der Beratungslösung, nicht nur deshalb, weil nur ein ärztlich vorgenommener Schwangerschaftsabbruch zulässig ist. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet den Arzt als „weiteren Beteiligten“ des Beratungskonzeptes, der der Schwangeren – „nunmehr aus ärztlicher Sicht – Rat und Hilfe schuldet“71. Gerade im Einzelfall72 birgt dies Vorteile für den Schutz des ungeborenen Lebens, denn der Arzt wendet sich mit seiner Fachkompetenz der einzelnen Frau zu. Aber vom Ausgangspunkt des Vorrangs des Lebensschutzes her betrachtet treten medizinische Fragen erst an zweiter Stelle auf den Plan. Priorität eins ist und bleibt die ethische Sensibilisierung. Diese soll in erster Linie durch die unabhängigen Beratungsstellen erfolgen. Zu den Pflichten des Arztes gehört es aber auch nach Vorlage der Beratungsbescheinigung, dass er gegenüber seiner Patientin zur Sprache bringen muss, dass ein Abbruch menschliches Leben zerstört.73 Die ethische Frage wird also in keinem Stadium der Beratungslösung ausgeblendet, sondern behält stets ihre prominente Stellung – jedenfalls, wenn es nach dem Bundesverfassungsgericht geht. 70 MüKoStGB/Gropp (Fn. 23), StGB § 219a Rdnr. 7. Anders Schweiger, Werbeverbot (Fn. 62), S. 99, die meint, die „Absurdität“ der Strafnorm offenbare sich darin, dass ein Arzt zwar in einem individuellen Gespräch sachlich aufklären, am Ende aber nicht sich selbst für die Vornahme der Abbruchshandlung empfehlen dürfe. 71 BVerfGE 88, 203 (289). 72 Der Schutz des ungeborenen Lebens im Einzelfall ist ebenfalls eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, vgl. BVerfGE 88, 203 (252): „Die Schutzpflicht für das ungeborene Leben ist bezogen auf das einzelne Leben, nicht auf menschliches Leben allgemein.“ 73 BVerfGE 88, 203 (290).
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Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum der Gesetzgeber der öffentlichen Zurverfügungstellung von sachlichen medizinischen Informationen – unter bestimmten einschränkenden Voraussetzungen – mit Skepsis begegnet: Ihre ungefilterte Zugänglichmachung ohne die „ethische Einbettung“ droht den ethischen Konflikt zu verdunkeln bzw. zu verdrängen.74 Aber hier stellt die gesetzgeberische Konzeption wie dargelegt weniger für die sachliche Information an sich als für die bedenkliche Form Hürden auf. In diesem Lichte kann schließlich das Recht der schwangeren Frau auf freie Arztwahl nicht erfolgreich als Argument gegen das Werbeverbot in Stellung gebracht werden. Dieses Recht ist etwa in § 76 SGB V normiert und hat seine Grundlage in der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG, deren Funktion vor allem in dem Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe liegt.75 Das Recht auf freie Arztwahl beinhaltet aber nicht, sich aus allen möglichen Quellen ungehindert über das Leistungsspektrum von Ärzten unterrichten zu können. Als Instrument zur Förderung der Gleichberechtigung von Frauen taugt die Abschaffung des Werbeverbots – anders als der Deutsche Juristinnenbund meint76 – im Übrigen auch nicht. Es liegt auf der Hand, dass sich Gleichberechtigungsanliegen mit der vom Bundesverfassungsgericht getroffenen Vorrangentscheidung nicht vertragen, wenn es etwa ausführt, der Frau sei von Verfassungs wegen die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das Kind auszutragen77.78 74 In eine ähnliche Richtung Kubiciel, Reform (Fn. 27), S. 14: „Frauen sollen zunächst über Alternativen zur Abtreibung aufgeklärt werden, bevor die Modalitäten des Abbruchs erörtert werden“. A. A. Wörner, Praxiskommentar (Fn. 22), S. 418. A. A. auch Berghäuser, Streit (Fn. 62), S. 214, die allerdings vom Ausgangspunkt des einfachen Rechts her argumentiert, unter Hinweis auf § 5 Schwangerschaftskonfliktgesetz. 75 Heinz-Dietrich Steinmeyer, in: Bergmann/Pauge/Steinmeyer (Hrsg.), Gesamtes Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, SGB V § 76 Rdnr. 2. 76 Wersig/Lembke, Stellungnahme (Fn. 1), S. 13 f. 77 BVerfGE 88, 203 (253).
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c) Rechtfertigungsfähiger Eingriff in die Berufsfreiheit der Ärzte? Die Aufmerksamkeit78 der parlamentarischen Debatte konzentriert sich wie gesehen neben dem Informationsbedürfnis schwangerer Frauen ganz besonders auf die Rolle der Ärzte. Ihre Betroffenheit durch das Werbeverbot wirft die Frage auf, ob die Vorschrift der Rechtfertigungsprüfung des Art. 12 GG standhält. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterfällt die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen dem Schutzbereich der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG.79 Dazu gehört dann auch, dies als medizinische Leistung anzubieten. Beschränkungen der Berufsausübungsfreiheit sind verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn sie vernünftigen Zwecken des Gemeinwohls dienen und den Berufstätigen nicht übermäßig oder unzumutbar treffen.80 § 219a StGB dient mittelbar dem Schutz des ungeborenen Lebens, indem die Vorschrift dafür sorgt, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht kommerzialisiert und als etwas Alltägliches dargestellt werden.81 Die Eignung zur Erreichung dieses Zieles dürfte der Norm zu bescheinigen sein.82 Denn wenn etwas nicht ständig als gängige medizinische Leistung vor Augen geführt und mit ärztlichen Honoraransprüchen in Verbindung gebracht wird, so tritt auch kein „Gewöhnungseffekt“ ein. Umgekehrt trägt das strafrechtliche Unwerturteil, das über die Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verhängt wird, zur Sensibilisierung 78 Das Argument der Gleichberechtigung kommt vielmehr dort zum Tragen, wo es um die „weichen“ Mittel des präventiven Lebensschutzes geht, insbesondere auf dem Gebiet der Förderung einer kinderfreundlichen Gesellschaft, etwa durch Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, vgl. BVerfGE 88, 203 (260). 79 BVerfG, NJW 1999, 841 (842). 80 BVerfGE 85, 248 (259). 81 Oben Fn. 36 und 50. Siehe auch MüKoStGB/Gropp (Fn. 23), StGB § 219a Rdnr. 1; Kühl, in: Lackner/Kühl (Fn. 26), StGB § 219a Rdnr. 1. 82 Zweifelnd Jansen, Werbung (Fn. 59), S. 4.
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des Bürgers dafür bei, dass es hier offenbar um etwas Problematisches geht.83 Weitgehende Einigkeit besteht unter den Gesetzentwürfen und ausweislich der Redebeiträge im Parlament auch dahingehend, dass niemand die Verbreitung „reißerischer Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche wollen könne.84 Zur Verhinderung einer solchen Ausuferung der Informationsfreiheit seien jedoch mildere Mittel als das Strafrecht ausreichend, etwa berufsrechtliche Vorschriften oder die Ahndung von grob anstößiger Werbung im Wege des Ordnungswidrigkeitenrechts. Schließlich sei Ärzten das anpreisende Werben bereits berufsrechtlich untersagt (vgl. § 27 Abs. 3 der Musterberufsordnung für Ärztinnen und Ärzte) und könne mit Geldbußen – je nach Bundesland – im Höchstmaß zwischen 25.000 € und 250.000 € geahndet werden. Bei schwerwiegendem Fehlverhalten komme außerdem der Widerruf der Approbation in Betracht.85 Damit ist die Frage der Erforderlichkeit einer strafrechtlichen Regelung angesprochen. Ob berufsrechtliche Vorschriften das genannte Ziel in gleich effektiver Art und Weise zu erreichen vermögen, ist jedoch zweifelhaft. Die ärztliche Werbung regelnden berufsrechtlichen Vorschriften der Landesärztekammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts beruhen nicht auf landesgesetzgeberischer Vorgabe, sondern auf dem Satzungsrecht der Landesärztekammern.86 Norm83 Rahe,
Werbung (Fn. 62), S. 237. der Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Ulle Schauws, Plenarprotokoll 19/14 (Fn. 38), S. 1222; Redebeitrag des Abgeordneten Stephan Harbarth, CDU/CSU, ebd., S. 1223, Redebeitrag des Abgeordneten Stephan Thomae, FDP, ebd., S. 1227; Redebeitrag des Abgeordneten Johannes Fechner, SPD, ebd., S. 1231. 85 BT-Drucks. 19/1046, S. 4 f. Werbung für illegale Schwangerschaftsabbrüche bzw. das illegale Anbieten solcher Dienste sei zudem bereits nach § 111 StGB (Öffentliche Aufforderung zu Straftaten) strafbar (Fn. 42), S. 2. 86 Vgl. Karsten Scholz, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, 350. (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte, Vorbemerkung Rdnr. 2 f. 84 Redebeitrag
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zweck dieser Vorschriften ist es, Marktverhaltensregeln für Ärzte aufzustellen, um einer gesundheitspolitisch unerwünschten Kommerzialisierung des Arztberufes vorzubeugen.87 Zum einen ist bei dem Verweis auf berufsrechtliche Vorschriften nicht gewährleistet, dass ein Werbeverbot aufrechterhalten bleibt oder dass es auch nur bundesweit einheitlich umgesetzt wird. Insbesondere aber ist der Schutz des ungeborenen Lebens nicht der Normzweck. Bekanntermaßen ist es aber gerade selbiger, der einen wesentlichen Anhalt für die Normauslegung bietet. Fehlt speziell der Blickwinkel des Schutzes des ungeborenen Lebens, ist die Entstehung von Schutzlücken zu befürchten. Der Vorschlag, das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche in einen Ordnungswidrigkeitstatbestand zu überführen, räumt zwar die soeben geäußerten Bedenken aus.88 In diesem Zusammenhang sei jedoch das Postulat des Bundesverfassungsgerichts in Erinnerung gerufen, dass der Gesetzgeber beim Schutz eines so hochrangigen Rechtsgutes und zur Erfüllung einer so „elementare[n] staatlichen Schutzaufgabe“ nicht frei auf das Strafrecht verzichten könne.89 Dies bezieht sich freilich in erster Linie auf die Frage, ob das Recht ein Unwerturteil über die Handlung des Schwangerschaftsabbruchs an sich verhängen muss. Es lässt sich jedoch auch hören, bei im Vorfeld liegenden Fragen des Schutzes des ungeborenen Lebens ebenfalls eine Antwort des Strafrechts zu verlangen.90 Denn das Strafrecht 87 Spickhoff/Scholz
(Fn. 86), MBO § 27 Rdnr. 1. Praxiskommentar (Fn. 22), S. 418, meint unter Hinweis auf die unmittelbare Grundrechtsrelevanz für das ungeborene Leben, dass eine konsequente Verfolgung sichergestellt werden müsse, mit der Folge der Nichtanwendbarkeit von Opportunitätsvorschriften (§§ 153, 153a StPO). 89 BVerfGE 88, 203 (257). 90 So etwa Frommel, Verbot (Fn. 45), S. 240: Der Lebensschutz sei „insgesamt strafrechtlich zu regeln“. Vgl. auch die Einschätzung von Kubiciel, Streichung (Fn. 37), S. 2: „Eine vollständige Entkriminalisierung würde die vom BVerfG aufgestellten – ohnehin ausgedünnten – Mindestanforderungen an den Schutz des menschlichen Lebens und seiner Würde unterlaufen.“ Ebenso Daniel Enzensperger, Soll § 219a StGB – Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft – abgeschafft 88 Wörner,
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ist das Instrument, mit dem die unverzichtbaren Regeln des menschlichen Zusammenlebens und die Bedeutsamkeit der dort geschützten Rechtsgüter am wirksamsten vor Augen geführt werden.91 Letztlich wird man sagen müssen, dass sich die Regelung des § 219a StGB in puncto Erforderlichkeit innerhalb des dem Gesetzgeber zustehenden Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums92 hält.93 Das Werbeverbot muss schließlich auch als angemessen anzusehen sein, das heißt: Der verfolgte Zweck darf nicht außer Verhältnis zu den mit dem grundrechtlichen Eingriff verbundenen Nachteilen stehen. Der Eingriff auf Seiten des Arztes ist vorliegend, da er mit strafrechtlichen Mitteln erfolgt, als durchaus erheblich einzustufen. Andererseits werden Ärzte angesichts der Fragilität des Rechtsgutes ungeborenes Leben die mit dem Werbeverbot verbundenen Einschränkungen der Nicht-Kommunizierbarkeit ihres gesamten Leistungsspektrums hinnehmen können.94 Jedenfalls wird sich auch diese Entscheidung des Gesetzgebers innerhalb des ihm zustehenden Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums bewegen.95 werden? Contra: Schwangerschaftsabbruch darf nicht kommerzialisierbar sein!, Recht und Politik 2018, S. 72 f. (73), der eine Abschaffung des Werbeverbots vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht für das Leben für verfassungswidrig hält. 91 Ähnlich Gärditz, Anachronismus (Fn. 62), S. 19 f. 92 BVerfGE 88, 203 (262 f.). 93 Ebenso im Ergebnis Rahe, Werbung (Fn. 62), S. 237. Vgl. auch Kubiciel, Reform (Fn. 27), S. 15, der eine Überführung des Werbeverbots in einen Ordnungswidrigkeitentatbestand für verfassungsrechtlich möglich, aber für rechtspolitisch unklug hält. 94 Ebenso Schweiger, Werbeverbot (Fn. 62), S. 99. A. A. Rahe, Werbung (Fn. 62), S. 238; Monika Frommel, Haben Ärzte ein Recht zur Information über ihre Bereitschaft, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen?, ZfL 2018, S. 17 f. (18); Gärditz, Anachronismus (Fn. 62), S. 21. 95 Ebenso Nino Goldbeck, Die Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft. Eine Darstellung des § 219a StGB unter besonderer Berücksichtigung des Lauterkeitsrechts, ZfL 2005, S. 102 ff. (103); Schweiger,
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Den aktuellen Reformprozess kann der Gesetzgeber gleichwohl zum Anlass nehmen, die Rolle von Ärzten im Zusammenhang mit dem Werbeverbot zu überdenken. Denn diese sind wie dargelegt ohnehin in das geltende Lebensschutzkonzept eingebunden und dessen unverzichtbarer Bestandteil. Es mutet seltsam an, Ärzten in diesem Bereich eine tragende Rolle zuzuweisen, ihnen auf der anderen Seite aber Stillschweigen über ihre Beteiligung aufzuerlegen.96 Die Zulassung der Bereitstellung der bloßen sachlichen Information, dass in einer Praxis Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, kann daher erwogen werden.97 Freilich tritt dann schon die Situation ein, dass der Schwangerschaftsabbruch als eine medizinische Leistung unter vielen auftritt.98 Das mag den eigentlich ungewollten Normalisierungs- und Kommerzialisierungseffekt befördern.99 All dies wird der Gesetzgeber abzuwägen haben. Es handelt sich an dieser Stelle sozusagen um einen gesetzgeberischen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum par excellence. 5. § 219a StGB als Mittel für gesellschaftlichen Klimaschutz? Langsam schließt sich der Kreis zur eingangs zitierten Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes: Das Werbeverbot werde dazu „missbraucht“, „eine Rechtswirklichkeit durchzusetzen, für die man keine Mehrheiten hat“100. Werbeverbot (Fn. 62), S. 101; Walter, Kriminalstrafen (Fn. 56), S. 28, allerdings unter der Einschränkung, dass das Verbot des ärztlichen Anbietens von indizierten Schwangerschaftsabbrüchen kein legitimes Ziel sei. 96 Gärditz, Anachronismus (Fn. 62), S. 20; Gloria Berghäuser, Die Strafbarkeit des ärztlichen Anerbietens zum Schwangerschaftsabbruch im Internet nach § 219a StGB. Eine Strafvorschrift im Kampf gegen die Normalität, JZ 2018, S. 497 ff. (500 f.). 97 So auch Kubiciel, Streichung (Fn. 37), S. 4. 98 Vgl. das Beispiel in dem Redebeitrag der Abgeordneten Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU/CSU, Plenarprotokoll 19/14 (Fn. 38), S. 1229. 99 Ebenso Duttge, Recht (Fn. 69), S. 130. 100 Oben Fn. 1.
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Hier schwingt der Vorwurf mit, die Vorschrift schütze eigentlich kein Rechtsgut, sondern diene der Unterdrückung einer unliebsamen Ansicht, die nicht einmal mehrheitsfähig sei. Namentlich werfen Kritiker der Vorschrift vor, sie sei lediglich ein Mittel für „gesellschaftlichen Klimaschutz“: Mit ihrer Hilfe solle der befürchtete generelle Wahrnehmungsverlust gegenüber den mit dem Schwangerschaftsabbruch verbundenen ethischen Pro blemen bekämpft werden.101 Die zitierte Gesetzesbegründung räumt das Anliegen der Bekämpfung einer Normalisierung offen ein.102 Ist es bedenklich, das Strafrecht zu einem solchen Zweck zum Einsatz zu bringen? Zwar spricht das Bundesverfassungsgericht davon, dem Recht komme im Zusammenhang mit dem Schutz des ungeborenen Lebens die Funktion einer „normativen Orientierung“ über Recht und Unrecht103 zu. Ob § 219a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt104 an dieser Forderung legitimerweise teilhaben kann, ist diskussionswürdig. Diese Frage soll nun abschließend beleuchtet werden. a) Von Mehrheitsansichten unabhängiger Zuschnitt grundrechtlicher Schutzgüter Vorab: Wenn man anerkennt, dass das Werbeverbot mittelbar dem Schutz des ungeborenen Lebens zugutekommt, sind diesbezügliche Mehrheitsverhältnisse uninteressant. Grundrechte fungieren bekanntermaßen als Schutzschirme gegen demokratische Mehrheitsherrschaft105. Der bloße Wandel 101 NK-StGB/Merkel (Fn. 26), StGB § 219a Rdnr. 2 f.; Kriminalpolitischer Kreis, Stellungnahme (Fn. 55), S. 31. 102 Siehe Fn. 50. 103 BVerfGE 88, 203 (253). 104 MüKoStGB/Gropp (Fn. 23), StGB § 219a Rdnr. 1; BeckOK StGB/ Eschelbach (Fn. 28), StGB § 219a Rdnr. 1; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 49), StGB § 219a Rdnr. 1. 105 Josef Isensee, Kunstfreiheit im Streit mit Persönlichkeitsschutz, AfP 1993, S. 619 ff. (621).
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gesellschaftlicher Anschauungen – wobei der Beleg hierfür auf einem ganz anderen Blatt steht – vermag nicht den Zuschnitt verfassungsrechtlicher Rechtsgüter zu verändern.106 Mit anderen Worten: Sollte die Mehrheit der Bevölkerung der Ansicht sein, mit dem Schutz des ungeborenen Lebens müsse man es nicht so genau nehmen oder das Selbstbestimmungsrecht der Frau genieße – möglicherweise auch nur bis zu einem gewissen Entwicklungsstadium des ungeborenen Kindes107 – den Vorrang vor dem Lebensrecht des Ungeborenen, so setzt sich der verfassungsrechtliche Schutzauftrag gegen diese Mehrheitsansicht durch.108 b) Wie mittelbar darf der Schutz durch Strafrecht sein? Allerdings verdient die Frage der Mittelbarkeit des Schutzes durch die Schaffung eines abstrakten Gefährdungsdeliktes nähere Betrachtung. Ist hier der Abstand zwischen tatsächlich eintretender Rechtsgutsverletzung – der Tötung des ungeborenen Lebens – und der Kriminalisierung der Handlung zu ihrem Schutz – exemplarisch: Anbieten der Förderung des Schwangerschaftsabbruchs – schon 106 Starck,
Abtreibungsurteil (Fn. 4), S. 821. zu einem solchen Konzept etwa Horst Dreier, Stufungen des vorgeburtlichen Lebensschutzes, ZRP 2002, S. 377 ff.; umfassend und im Ergebnis ablehnend: Müller-Terpitz, Schutz (Fn. 9), S. 131 ff. 108 Vgl. dazu schon eindringlich BVerfGE 39, 1 (67): „Gegenüber der Allmacht des totalitären Staates […] hat das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet, die den einzelnen Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt aller seiner Regelungen stellt. Dem liegt, wie das Bundesverfassungsgericht bereits früh ausgesprochen hat (BVerfGE 2, 1 [12], die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt, der die unbedingte Achtung vor dem Leben jedes einzelnen Menschen, auch dem scheinbar sozial ‚wertlosen‘, unabdingbar fordert und der es deshalb ausschließt, solches Leben ohne rechtfertigenden Grund zu vernichten. […] Auch ein allgemeiner Wandel der hierüber in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen – falls er überhaupt festzustellen wäre – würde daran nichts ändern können.“ 107 Vgl.
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so groß, dass die Legitimität des Einsatzes des Strafrechts in Frage steht? Mit anderen Worten: Handelt es sich um problematische „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“? Letzteres Schlagwort geht zurück auf eine von Günther Jacobs vorgelegte Studie.109 Darin identifiziert Jacobs den gesetzgeberischen „Trend“, bei der Schaffung von Straftatbeständen nicht erst bei der Rechtsgutsverletzung, sondern bereits bei der Rechtsgutsgefährdung anzusetzen – insbesondere in solchen Bereichen, in denen der Schwerpunkt auf der Gefährlichkeit des Täters liegt. Die Bestrafung von Vorfeldhandlungen in Form von Versuch, Vorbereitung und abstrakter Gefährdung könne dann legitim sein, wenn der Täter dadurch zum Ausdruck bringe, dass er die Geltung der Normen für die Rechtsunterworfenen in Frage stelle. Legitim sei die Bestrafung von Vorfeldhandlungen also dann, wenn durch das inkriminierte Verhalten die Beeinträchtigung des Normvertrauens der Betroffenen drohe. In Rede stehe das bei Straftatbeständen, die auf den „öffentlichen Frieden“ Bezug nähmen.110 Die hier in Rede stehende Problematik ist weniger das, was Jacobs mit seinem Ansatz im Blick hatte. Freilich kann das Werben für Schwangerschaftsabbrüche in Teilen der Bevölkerung das Normvertrauen beeinträchtigen, nämlich dahingehend, dass ungeborenes Leben für weniger schützenswert gehalten werde als geborenes Leben – eine immerhin existenzielle Frage. Aber dasjenige, um dessen Existenz es ja geht, das Ungeborene, kann 109 Günther Jacobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, ZStW 1985, S. 751 ff. 110 Jacobs, Kriminalisierung (Fn. 109), S. 773 f., 775. Der Ansatz von Jacobs ist Gegenstand breit gefächerter Kritik geworden – insbesondere deshalb, weil er die Begründung eines „Feindstrafrechts“ ermögliche, die Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehrrecht und repressivem Strafrecht verwässere und uferlose Begründungsmöglichkeiten für Strafnormen eröffne. Vgl. dazu Bernd Heinrich, Die Grenzen des Strafrechts bei der Gefahrprävention. Brauchen oder haben wir ein „Feindstrafrecht“?, ZStW 2009, S. 94 ff. (101 ff., 123 ff.).
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noch nicht in seinem Normvertrauen erschüttert sein. Anders als nach dem Ansatz von Jacobs knüpft das Werbeverbot die Strafbarkeit auch nicht an die im privaten Bereich ausgelebte Gesinnung des Täters. Gerade dieser Bezugspunkt für sogenannte Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung am „forum internum“ macht die Vorverlagerung der Strafbarkeit so problematisch. Dass das bei § 219a StGB nicht so ist, verkürzt das „Vorfeld“ zur endgültigen Rechtsgutsverletzung – Tötung des ungeborenen Lebens – erheblich. Es geht nicht um täterzentriertes Gesinnungsstrafrecht, sondern um Handlungen, die extern, nämlich öffentlich Wirkung entfalten, und dadurch das Bewusstsein der Rezipienten unmittelbar zu beeinflussen vermögen. Der Blick auf die Wirkungen der inkriminierten Handlungen für das geschützte Rechtsgut – und dessen Stellenwert – ist der Schlüssel für die Frage, wie mittelbar der Schutz durch Strafrecht sein darf. Die Bedeutung der Gefahr für das geschützte Rechtsgut als Argument für die Strafwürdigkeit lässt sich an folgendem Beispiel veranschaulichen: Bei der Diskussion um die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) ist es sehr schwierig, das geschützte Rechtsgut zu identifizieren. Der Schutz des Lebens kann es nicht sein. Denn sobald der Suizidwillige freiwillig und wirksam auf sein Recht auf Leben verzichtet hat, besteht keine Legitimationsgrundlage mehr für den Staat, zum Schutz des Lebens einzugreifen. Als Strafgrund in Betracht kommt dann nur das gesellschaftspolitische Anliegen, einer Erhöhung der Anzahl freiverantwortlicher Suizide durch das öffentliche Angebot ihrer Förderung entgegenzutreten.111 Es geht hier also – ohne direkte Rückkoppelung an die staatliche Schutzpflicht für das menschliche Leben – um die Abwehr einer Normalisierung112 bestimmter Verhaltensweisen. In Bezug auf 111 Claus Roxin, Die geschäftsmäßige Förderung einer Selbsttötung als Straftatbestand und der Vorschlag einer Alternative, NStZ 2016, S. 185 ff. (186 f.). 112 Vgl. BT-Drucks. 18/5373, S. 2, 17.
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die Pönalisierung der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe wird von einer Form des „weichen Paternalismus“ gesprochen.113 All diese Kritikpunkte treffen auf das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche nicht zu. Zwar geht es um die Verhinderung einer Normalisierung, aber dies in Anbindung an das Recht auf Leben, da das Ungeborene sich nicht artikulieren kann.114 Bei dem Anliegen, auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung Einfluss zu nehmen, es zu stützen und zu stärken, geht es auch nicht um Paternalismus. Vielmehr wird positive Generalprävention betrieben.115 Dies ist eine dem Strafrecht unstreitig zukommende Aufgabe.116 Das Bundesverfassungsgericht sagt im Zusammenhang mit der Beratungslösung dazu: „Zum anderen sollen sie [rechtliche Verhaltensgebote] im Volke lebendige Wertvorstellungen und Anschauungen über Recht und Unrecht stärken und unterstützen und ihrerseits Rechtsbewußtsein bilden (vgl. BVerfGE 45, 187 [254, 256]), damit auf der Grundlage einer solchen normativen Orientierung des Verhaltens eine Rechtsgutsverletzung schon von vornherein nicht in Betracht gezogen wird.“117 Letzter Baustein in der Argumentation ist die Abgrenzung zwischen bloßem Klimaschutz und dem Schutz von Rechtsgütern. 113 Roxin, Selbsttötung (Fn. 111), S. 188 a. E. Vgl. auch Gloria Berghäuser, Der „Laien-Suizid“ gemäß § 217 StGB. Eine kritische Betrachtung des Verbots einer geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, ZStW 2016, S. 741 (758 f.); Gunnar Duttge, Die „geschäftsmäßige Sui zid assistenz“ (§ 217 StGB): Paradebeispiel für illegitimen Paternalismus!, ZStW 2017, S. 448 ff. 114 In diese Richtung auch Satzger, § 219a StGB (Fn. 56), S. 23; Duttge, Recht (Fn. 69), S. 129. 115 Ebenso Berghäuser, Strafbarkeit (Fn. 96), S. 500. 116 Dieter Dölling, Generalprävention durch Strafrecht: Realität oder Illusion?, ZStW 1990, S. 1 ff. (16); Berghäuser, Widerspruch (Fn. 68), S. 185. 117 BVerfGE 88, 203 (253).
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Zu diesem Thema hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zur Verfassungsmäßigkeit von Straftatbeständen zur Unterbindung von Volksverhetzung deutliche Worte gefunden. In dem sogenannten Wunsiedel-Beschluss zur Verfassungsmäßigkeit von § 130 Abs. 4 StGB, der die öffentliche Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft unter Strafe stellt, hat es das Tatbestandsmerkmal der Störung des „öffentlichen Friedens“ als „vorgelagerten Rechtsgüterschutz“ akzentuiert.118 Dies ist vor allem im Zusammenhang damit zu sehen, dass es um Einschränkungen der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG geht. In ihrem Lichte betont das Bundesverfassungsgericht, dass die „Vergiftung des geistigen Klimas“119 durch grob anstößige Äußerungen noch nicht die Strafbarkeitsschwelle überschreite. Vielmehr müsse im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung eine auch robust geführte Debatte so lange hingenommen werden, solange diese nicht in gewaltsame Auseinandersetzungen umschlage, also die Friedlichkeit nicht mehr gewährleistet sei. Mit anderen Worten: Legitim ist das Anliegen, Rechtsgutsverletzungen zu unterbinden, nicht aber, eine Meinungsäußerung allein aufgrund ihrer geistigen Wirkung zu verbieten.120 Auch vor dieser Folie wird deutlich, dass das Werbeverbot nicht auf einen diffusen Klimaschutz zielt.121 Die Vorschrift dient nicht der Einschränkung der öffentlichen Auseinandersetzung darüber, was von Schwangerschaftsabbrüchen zu halten sei. Daher ist der Vorwurf, die Vorschrift leiste einer Tabuisie118 BVerfGE 124, 300 (335). Aus strafrechtswissenschaftlicher Perspektive überwiegend zustimmend dazu: Tatjana Hörnle, Anmerkung, JZ 2010, S. 310 ff.; kritisch: Shu-Perng Hwang, Freiheitsverkürzung im Namen des Rechtsgüterschutzes: Kritische Bemerkungen zur materiellen Grundrechtsvorstellung durch die neueren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Strafgesetzgebung, ZStW 2013, S. 209 (221 ff., 228 ff.). 119 BVerfGE 124, 300 (334). 120 Zuletzt bestätigt durch BVerfG, NJW 2018, 2858 ff. und 2861 ff. 121 Ebenso Kubiciel, Reform (Fn. 27), S. 14.
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rung der öffentlichen Kommunikation über das Thema Schwangerschaftsabbruch Vorschub122, fehl am Platze. Was aber ist mit folgender These: „Auch das Interesse an einem effektiven Rechtsgüterschutz rechtfertigt nicht die Statuierung von sanktionsbewehrten Schweigegeboten über die Rechts lage“123? Das klingt vordergründig bestechend plausibel. Auf den zweiten Blick aber dann doch nicht. Denn das Werbeverbot hat zwar den Effekt, dass ein Arzt nicht sein vollständiges Leistungsspektrum öffentlich präsentieren darf. Dabei geht es aber wie dargelegt um die Verhinderung eines Gewöhnungseffekts an den Schwangerschaftsabbruch als eine medizinische Leistung unter vielen. Über die geltende Rechtslage darf jeder offen sprechen. Nach alledem ist die Unterbindung eines Gewöhnungseffekts in dem geltenden Beratungskonzept, welches den Schutz des ungeborenen Lebens zu favorisieren hat, stimmig. § 219a StGB flankiert die Regelungen des prozeduralen Lebensschutzmodells124 – und zwar nicht nur unter dem schon erwähnten Aspekt der Kanalisierung der Informationen auf die Beratungsstellen, sondern zusätzlich im Sinne der positiven Generalprävention125. Dies findet auch Anhalt im Urteil des Bundesverfassungsgerichts: „Das Konzept der Beratungsregelung kann die Mindestanforderungen an die staatliche Schutzpflicht nur dann erfüllen, wenn es auf die Erhaltung und Stärkung des Rechtsbewußtseins besonderen Bedacht nimmt. Nur wenn das Bewußtsein von dem Recht des Ungeborenen auf Leben wach erhalten wird, kann die unter den Bedingungen der Beratungsregelung von der Frau zu tragende Verantwortung an diesem Recht ausgerichtet und prin122 So NK-StGB/Merkel (Fn. 26), StGB § 219a Rdnr. 3. Ähnlich auch Gärditz, Anachronismus (Fn. 62), S. 20. 123 Christoph Sowada, Die Werbung für den Schwangerschaftsabbruch (§ 219a StGB) zwischen strafloser Information und verbietbarer Anpreisung, ZfL 2018, S. 24 ff. (25). 124 A. A. Schweiger, Werbeverbot (Fn. 62), S. 101. 125 Ebenso, allerdings nur in Bezug auf die positive Generalpräven tion: Berghäuser, Streit (Fn. 62), S. 213.
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zipiell geeignet sein, das Leben des ungeborenen Kindes zu schützen.“126 § 219a StGB stützt das grundsätzliche Rechtswidrigkeitsurteil über den Schwangerschaftsabbruch, welches am Ende des Beratungskonzepts rechtspraktisch durch Tatbestandslosigkeit abgeschwächt wird, indem es vor Augen führt: Beim Schwangerschaftsabbruch geht es grundsätzlich um eine rechtswidrige Handlung, und für eine solche sollte überhaupt nicht geworben werden dürfen.127 Um die Behauptung eines Wertungswiderspruchs wieder aufzugreifen und den Kreis zu schließen: Das gilt auch für den Fall, dass es nicht um einen beratenen, sondern wegen Vorliegens einer Indikation rechtfertigungsfähigen Abbruch geht. Zwar mag in diesem Fall die schwangere Frau „das Recht auf ihrer Seite“ haben128, aber ob sie trotz einer schwer wiegenden sozialen Notlage den Weg der Beendigung der Schwangerschaft geht, ist damit noch nicht entschieden. Die Sensibilisierung für den ethischen Konflikt und die Verhinderung der Normalisierung bleiben also weiterhin angezeigt.129 Zudem ist es auch in Fällen der Zulässigkeit etwa einer Spätabtreibung aus Respekt vor dem ungeborenen Leben sachgerecht, dass eine solche nicht zum Gegenstand etwa grob anstößiger Werbung gemacht werden kann.130 Das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert nach alledem nicht die Vorbereitung einer Haupttat, sondern eine von der Haupttat unabhängige Handlung.131 126 BVerfGE
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127 Kubiciel, Streichung (Fn. 37), S. 4; Berghäuser, Strafbarkeit (Fn. 96),
S. 500. 128 Walter, Kriminalstrafen (Fn. 56), S. 27. 129 Vgl. auch Tamina Preuß, Strafbare Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft, § 219a StGB. Unerlässlicher Schutz für das ungeborene Leben oder sachwidrige Kriminalisierung im Vorfeld eines erlaubten Verhaltens?, medstra 2018, S. 131 ff. (133). 130 So auch Sowada, Information (Fn. 123), S. 25. 131 Kubiciel, Reform (Fn. 27), S. 15; Schweiger, Werbeverbot (Fn. 62), S. 99. A. A. Eric Hilgendorf: in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Hrsg.), Strafrecht Besonderer Teil. Lehrbuch, 3. Aufl. 2015, § 5 Rdnr. 40.
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IV. Zusammenfassung: Immunisierung gegen den Zeitgeist Versucht das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche nach alledem also eine Rechtswirklichkeit durchzusetzen, für die es keine Mehrheiten mehr gibt? Antwort auf den ersten Teil der Frage: ja. Antwort auf den zweiten Teil: vielleicht. Das Werbeverbot hält das Bewusstsein für die hohe Bedeutung des Lebensschutzes in zulässiger Weise wach. Es stellt einen wichtigen Baustein im Gefüge des Beratungskonzepts dar, innerhalb dessen sich der Staat am Ende einer Beurteilung enthält und der Mutter das Letztentscheidungsrecht überträgt. Wie die Mehrheitsverhältnisse in Bezug auf die Frage der Favorisierung des Lebensschutzes von Ungeborenen tatsächlich sind ist ungewiss. Darauf kommt es aber auch nicht an. Die aus der Verfassung folgende Schutzpflicht für jegliches menschliches Leben immunisiert gegen den Zeitgeist.
Die Bedürfnisse der frühen Kindheit. Fremdbetreuung im Spiegel der aktuellen Erkenntnisse der Bindungsforschung Von Karl Heinz Brisch I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 II. Bindungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Konzept der Feinfühligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Bindungsqualität des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3. Vorteile einer sicheren Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 4. Ursachen von Bindungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 5. Diagnose der Bindungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 6. Bindung und Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 III. Der Einfluss von traumatischen Erfahrungen auf Funktion und Struktur des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 IV. Bindung und Fremdbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. Zeitliche Abstimmung der Betreuung zwischen Krippe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Unterschiede zwischen einer institutionellen Tagesbetreuung und der Betreuung in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3. Merkmale einer guten Qualität in Krippen . . . . . . . . . . . . 79 4. Strukturelle und prozessuale Merkmale einer guten Krippenqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 5. Gefährdungsmomente für eine gute Krippenqualität . . . . 82 6. Verlässliche Bezüge in Schlüsselsituationen . . . . . . . . . . . . 83 7. Sorgfältige Eingewöhnung und Bezugspersonensystem . . 83 8. Besondere Situationen bei der Eingewöhnung . . . . . . . . . 85 9. Kooperation zwischen Eltern und ErzieherInnen . . . . . . 86 10. Begleitung des Spiels und Anforderungen an die Gruppenpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 11. Verlässliche Bindungsbeziehungen durch ausreichend gute und sinnvolle Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
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12. Verlässliche Bindungsbeziehungen durch eine hohe Professionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 13. Kinder und Familien mit besonderen Bedürfnissen . . . . . 93 14. Kleinkinder mit Migrationshintergrund: Die Krippe als Übergangsort zwischen Familie und Umgebungskultur . 93 15. Kleinkinder aus Familien mit Risikokonstellationen: Förderung und Wertschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 16. Kleinkinder aus Familien mit psychischen Belastungen: Kontinuität im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 17. Kinder mit besonderen Entwicklungsbedürfnissen: Anregung und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 18. Prävention: Kompensatorische Betreuung als Chance . . . 97 19. Qualität der Fremdbetreuung in Deutschland: die NUBBEK-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 V. Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 VI. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
I. Einleitung Die Bindungstheorie stellt einen wissenschaftlichen, fundierten Rahmen dar, um wesentliche Aspekte einer gesunden körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung eines Kindes zu verstehen und kindgerechte Entscheidungen im Kontext von Fremdbetreuung zu finden. Der englische Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby begründete in den 50er Jahren die Bindungstheorie.1 Diese besagt, dass der Säugling im Laufe des ersten Lebensjahres auf der Grundlage eines biologisch angelegten Verhaltenssystems eine starke emotionale Bindung zu einer Hauptbezugsperson entwickelt. Das Bindungsverhalten drückt sich insbesondere darin aus, dass der Säugling nach der Bindungsperson sucht, dass er weint, ihr nachläuft, sich an ihr festklammert. Es wird durch Trennung von der Bindungsperson sowie durch äußere oder innere Bedrohung und Gefahr aktiviert. Ist die Hauptbindungsperson nicht erreichbar, so können statt ihr ersatzweise auch 1 John Bowlby, Über das Wesen der Mutter-Kind-Bindung, Psyche 1958, S. 415 ff.
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andere sekundäre Bezugspersonen aufgesucht werden, wie etwa der Vater, die Großmutter oder die Tagesmutter. Für das unselbstständige menschliche Neugeborene und Kleinkind ist die Schutzfunktion durch eine Bezugsperson von lebenserhaltender Bedeutung. Die Pflegeperson bietet als zuverlässige Bindungsperson in Gefahrensituationen einen „sicheren Hafen“. Dorthin kann sich der menschliche Säugling retten und Schutz und Hilfe erwarten.2 Das Bindungssystem, das sich im ersten Lebensjahr entwickelt, bleibt während des gesamten Lebens aktiv. Deshalb suchen auch Erwachsene in Gefahrensituationen die Nähe zu anderen Personen auf, von denen sie sich Hilfe und Unterstützung erwarten.3 Werden diese Bedürfnisse befriedigt, so wird das Bindungssystem beruhigt, und es kann als Ergänzung zum Bindungssystem das System der „Exploration“ aktiviert werden. Ein Säugling, der sich sicher und geborgen fühlt, kann z. B. von der Mutter als „sicherem Hafen“ aus seine Umwelt erforschen. Droht ihm dort aber Gefahr, kann er jederzeit auf seine Mutter als „sichere emotionale Basis“ zurückgreifen. Ohne sichere emotionale Bindung ist keine offene, uneingeschränkte Exploration möglich. II. Bindungsforschung 1. Konzept der Feinfühligkeit Durch intensive entwicklungspsychologische Forschungsarbeiten und Längsschnittstudien konnten verschiedene Konzepte der Bindungstheorie empirisch validiert werden (für einen umfassenderen Überblick siehe Karin Grossmann / Klaus E. Gross mann).4 Hier soll das Konzept der Feinfühligkeit näher dargestellt werden. 2 John Bowlby, Bindung als sichere Basis. Grundlagen und Anwendungen der Bindungstheorie, 2008. 3 Karl-Heinz Brisch (Hrsg), Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie, 15. Aufl. 2018. 4 Karin Grossmann/Klaus E. Grossmann (Hrsg), Bindung – das Gefüge psychischer Sicherheit, 5. Aufl. 2012.
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Als Mitarbeiterin von John Bowlby untersuchte Mary Ainsworth die Bedeutung des feinfühligen Pflegeverhaltens der Bindungsperson.5 Sie fand heraus, dass Säuglinge sich an diejenige Pflegeperson binden, die ihre Bedürfnisse in einer feinfühligen Weise beantworten. Letzteres bedeutet, dass die Pflegeperson die Signale des Säuglings richtig wahrnimmt und sie ohne Verzerrungen durch eigene Bedürfnisse und Wünsche auch richtig interpretiert. Weiterhin muss die Pflegeperson die Bedürfnisse angemessen und prompt – entsprechend dem jeweiligen Alter des Säuglings – beantworten. Je älter der Säugling wird, umso länger können auch die Zeiten sein, die ihm bis zur Bedürfnisbefriedigung zugemutet werden. Der Sensibilität der Mutter für die Signale ihres Säuglings sowie ihrer emotionalen Verfügbarkeit entspricht eine intrapsychische Repräsentation, die auch als „internal model of caregiving“ bezeichnet wird.6 Wenn Mütter oder Väter in Interviews über ihr potenzielles Verhalten in bindungsrelevanten Situationen befragt werden, so schildern sie – abhängig von ihrer eigenen Bindungshaltung –, wie sie in solchen Situationen voraussichtlich gegenüber ihrem Kind reagieren würden. In der täglichen Pflege- und Spielerfahrung einer Mutter oder eines Vaters mit dem Kind werden aber auch Erinnerungen und Gefühle aus der eigenen Kindheit und den Bindungserfahrungen mit den eigenen Eltern wachgerufen. Die damit verbundenen angenehmen sowie emo tional belastenden Gefühle und Bilder können durch Projektionen die Feinfühligkeit und das Verhalten gegenüber dem eigenen Kind bereichern oder auch erheblich behindern. Im schlimmsten 5 Mary D. Ainsworth, Feinfühligkeit versus Unfeinfühligkeit gegenüber Signalen des Babys, in: Grossmann (Hrsg.), Entwicklung der Lernfähigkeit in der sozialen Umwelt. 1997, S. 98 ff.; Mary D. Ainsworth, Feinfühligkeit versus Unfeinfühligkeit gegenüber den Mitteilungen des Babys, in: Grossmann/Grossmann (Hrsg.), Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. 2003, S. 414 ff. 6 Carol George/Judith Solomon, Internal working models of care- giving and security of attachment at age six, Infant Mental Health Journal 1989, S. 222 ff.
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Fall werden Erfahrungen – etwa eine Missbrauchs- oder eine Verlassenheitserfahrung – mit dem eigenen Kind wiederholt.7 Forschungen aus jüngerer Zeit haben das Konzept der elterlichen Feinfühligkeit in der Interaktion mit dem Säugling um die Bedeutung der Sprache ergänzt sowie auch auf den Einfluss von Rhythmus und Zeit in der Interaktion aufmerksam gemacht. Die Ergebnisse von Jaffe et al.8 weisen darauf hin, dass ein mittleres Maß an rhythmischer Koordination in der zeitlichen Abfolge von Interaktionen zwischen Mutter und Säugling für eine sichere Bindungsentwicklung besonders förderlich ist. Bemerkenswert ist, dass das Ziel nicht eine perfekt synchrone Kommunikation ist, die sich offensichtlich auf die sichere emotionale Entwicklung weniger entwicklungsfördernd auswirkt. Im Gegenteil könnten sich wahrgenommene und korrigierte Missverständnisse geradezu beziehungsfördernd auf die Bindungsentwicklung auswirken, sofern sie nicht so ausgeprägt sind, dass die Interaktion vollständig abbricht oder auseinanderdriftet. Analysen der sprachlichen Interaktion zwischen Mutter und Säugling konnten eine sichere Bindungsentwicklung des Kindes vorhersagen, wenn die Mutter aufgrund ihrer Empathie in der Lage war, die affektiven Zustände ihres Säuglings angemessen zu verbalisieren.9 Diese Ergebnisse sind bemerkenswert, weil sie 7 Karl
Heinz Brisch, Die Weitergabe von traumatischen Erfahrungen von Bindungspersonen an die Kinder, in: Rauwald (Hrsg.), Vererbte Wunden. Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen, S. 38 ff. Marianne Rauwald/Sophia Becke/Lorena Hartmann/Karl Heinz Brisch, Prävention transgenerationaler Weitergabe von Traumatisierungen – SAFE®-Kurse für traumatisierte Mütter, in: Rauwald (Hrsg.), Vererbte Wunden. Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen, 2013, S. 149 ff. 8 Joseph Jaffe/Beatrice Beebe/Stanley Feldstein/Cynthia L. Crown/ Michael D. Jasnow/Philippe Rochat/Daniel N. Stern, Rhythms of Dialogue in Infancy. Coordinated Timing in Development, Monographs of the Society for Research in Child Development, 2001. 9 Elizabeth Meins, Sensitive attunement to infants’ internal states: operationalizing the construct of mind-mindedness, Attachment & Human Development 2013, S. 524 ff.
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darauf hinweisen, wie die Säuglinge nicht nur auf einer Verhaltensebene in der konkreten Pflege die Feinfühligkeit ihrer Bezugspersonen wahrnehmen und sich an diese sicher binden, sondern sich auch durch die empathische Verbalisation von Affektzuständen verstanden fühlen, auch wenn sie entwicklungsbedingt den deklarativen Inhalt der Worte der Mutter noch gar nicht verstehen können. Es muss also mehr um die Aufnahme von prosodischen Inhalten (etwa Tonfall, Melodie, Rhythmus, Lautstärke) in der Sprache der Mutter gehen, Inhalte, die den inneren und äußeren Zustand des Säuglings erfassen und diesem widerspiegeln, so dass er sich feinfühlig verstanden fühlt. In diesem Zusammenhang weisen die Forschungsergebnisse von Fonagy et al.10 darauf hin, dass eine sichere Bindungsentwicklung auch die Fähigkeit des Säuglings zu einer selbstreflexiven mentalen Funktion fördert. Diese Fähigkeit ermöglicht dem Kind in zunehmendem Ausmaß, in einer empathischen Weise über sich, andere und die Welt nachzudenken und diesen Gedanken nachzuspüren. Darin könnte ein wesentlicher Vorteil einer sicheren Bindung liegen. 2. Bindungsqualität des Kindes Werden die Bedürfnisse des Säuglings in dieser von Ainsworth geforderten feinfühligen Art und Weise von einer Pflegeperson beantwortet, so besteht eine relativ große Wahrscheinlichkeit, dass der Säugling zu dieser Person im Laufe des ersten Lebensjahres eine sichere Bindung (Typ B) entwickelt. Dies bedeutet, dass er diese spezifische Person bei Bedrohung und Gefahr als „sicheren Hort“ und mit der Erwartung von Schutz und Geborgenheit aufsuchen wird. Wird die Pflegeperson eher mit Zurückweisung auf seine Bindungsbedürfnisse reagieren, so besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass der Säugling sich an diese Pflegeperson mit einer 10 Peter Fonagy/Howard Steele/Miriam Steele, Maternal representations of attachment during pregnancy predict the organization of infantmother attachment at one year of age, Child Development 1991, S. 891 ff.
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unsicher-vermeidenden Bindungshaltung (Typ A) bindet. Ein unsicher-vermeidend gebundenes Kind wird etwa nach einer Trennungserfahrung die Bindungsperson eher meiden oder nur wenig von seinen Bindungsbedürfnissen äußern. Es hat sich an die Verhaltensbereitschaften seiner Bindungsperson angepasst: Nähewünsche werden vom Säugling erst gar nicht wirklich intensiv geäußert, da er ja weiß, dass sie von seiner Bindungsperson auch nicht entsprechend intensiv mit Bindungsverhalten im Sinne von Nähe, Schutz und Geborgenheit gewähren beantwortet werden. Dies führt aber zu einer größeren inneren Stressbelastung des Säuglings, die an erhöhten Werten für das Hormon Cortisol gemessen werden kann.11 Allerdings reagieren solche unsicher-vermeidend gebundenen Kinder bei extremer Aktivierung ihres Bindungssystems, wie etwa durch einen schweren Unfall, indem sie ihre Bindungsvermeidung aufgeben und sich hilfe- und schutzsuchend an ihre Mütter wenden. Auch die Mütter können in diesen Situationen großer Bedrohung und Angst ihre Reserviertheit aufgeben und ihre Säuglinge schützen. Das Beispiel soll verdeutlichen, dass bei solchen „vermeidenden“ Mutter-Kind-Paaren die „Schwelle“ für Bindungsverhalten sowohl bei den Kindern als auch bei ihren Müttern höher liegt als bei Mutter-Kind-Paaren, die auf einer sicheren Bindungsbasis interagieren. Werden die Signale manchmal zuverlässig und feinfühlig, ein anderes Mal aber eher mit Zurückweisung und Ablehnung beantwortet, so entwickelt sich eine unsicher-ambivalente Bindungsqualität (Typ C) zur Bindungsperson, z. B. zur Mutter. Diese Säuglinge mit einer unsicher-ambivalenten Bindung reagieren auf eine Trennung von ihrer Hauptbindungsperson mit einer intensiven Aktivierung ihres Bindungssystems, indem sie lautstark weinen und sich intensiv an die Bindungsperson klammern. Nach einer kurzen Trennung – wenn diese überhaupt ge11 Gottfried Spangler, Emotional and adrenocortical responses of infants to the Strange Situation. The differential function of emotional expression, International Journal of Behavioral Development 1998, S. 681 ff.
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lingt – und der baldigen Rückkehr der Mutter sind sie für längere Zeit kaum zu beruhigen und können zum neugierigen Erkundungsspiel in einer ausgeglichenen emotionalen Verfassung fast nicht mehr zurückkehren. Während sie sich einerseits an die Mutter klammern, zeigen sie andererseits aber auch aggressives Verhalten. Wenn sie etwa bei der Mutter auf dem Arm sind, strampeln sie und treten mit den Füßchen nach der Mutter, während sie gleichzeitig mit ihren Ärmchen klammern und Nähe suchen. Dieses Verhalten wird als Ausdruck ihrer Bindungsambivalenz interpretiert. Erst später, nach den beschriebenen Mustern, wurde noch ein weiteres Bindungsmuster gefunden, das als desorganisiertes und desorientiertes Muster (Typ D) bezeichnet wurde.12 Eine solche desorganisierte Bindung, wie sie bereits bei 12 Monate alten Säuglingen beobachtet werden kann,13 ist insbesondere durch motorische Sequenzen von stereotypen Verhaltensweisen gekennzeichnet. Oder aber die Kinder halten im Ablauf ihrer Bewegungen inne und erstarren für die Dauer von einigen Sekunden, ein Verhalten, das auch als „Einfrieren“ bezeichnet wird. Diese tranceartigen Zustände des Einfrierens erinnern an dissoziative Phänomene. Nach einer Trennung von der Mutter laufen manche desorganisierten Kinder bei der Wiederbegegnung mit der Mutter auf diese zu, halten auf halbem Weg inne, drehen sich plötzlich um, laufen von der Mutter weg und „oszillieren“ so in ihrem motorischen Verhalten „vor und zurück“. Bei wieder anderen zeigen sich vorwiegend nonverbal deutliche Zeichen von Angst und 12 Carol George/Judith Solomon, Attachment disorganization at age six: Differences in doll play between punitive and caregiving children, Mills College Oakland, 1998 (unveröffentlichtes Manuskript); Carlo Schuengel/Marian J. Bakermans-Kranenburg/Marinus H. Van IJzendoorn, Unresolved loss and infant disorganisation. Links to frightening maternal behaviour, in: George (Hrsg.), Attachment disorganisation, 1999, S. 291 ff. 13 Erik Hesse/Mary Main, Disorganized infant, child, and adult attachment. Collapse in behavioral and attentional, Journal of the American Psychoanalytic Association 2000, S. 1097 ff.
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Erregung, wenn sie mit ihrer Bindungsperson wieder zusammenkommen.14 Einander emotional widersprechenden Bindungserfahrungen könnten zu den desorientierten Bindungsverhaltensweisen des Kindes führen, die somit Ausdruck eines desorganisierten „inneren Arbeitsmodells“ der Bindung zur spezifischen Bindungsperson sind. Die Mutter wurde für dieses Kind dann nicht nur zu einem sicheren emotionalen Hafen, sondern auch manchmal zu einer Quelle der Angst und Bedrohung, weil sie sich etwa in Bindungssituationen aggressiv und damit ängstigend bzw. auch selbst sehr ängstlich gegenüber ihrem Kind verhielt. Ein solches ängstliches Verhalten der Mutter kommt in ihrer Gestik und Mimik zum Ausdruck. Es könnte vom Kind in der Interaktion registriert werden und wiederum sein Verhalten gegenüber der Mutter beeinflussen.15 3. Vorteile einer sicheren Bindung Aus vielen Längsschnittstudien ist bekannt, dass ein sicheres Bindungsmuster ein Schutzfaktor für die weitere kindliche Entwicklung ist.16 Sicher gebundene Kinder reagieren mit einer größeren psychischen Widerstandskraft („resilience“, Resilienz) auf emotionale Belastungen, wie etwa eine Scheidung der Eltern. 14 Mary
Main/Erik Hesse, The insecure disorganized/disoriented attachment pattern in infancy. Precursors and sequelae, in: Greenberg/ Cicchetti/Cummings (Hrsg.), Attachment during the preschool years. Theory, research, and intervention, University of Chicago Press, 1990, S. 161 ff. 15 Karen Lyons-Ruth/Jean-Francois Bureau/Zsofia Nemoda/Maria Sasvari-Szekely, Qualität der frühen Zuwendung, Trauma und genetische Vulnerabilität als Prädiktoren von Merkmalen einer BorderlinePersönlichkeitsstörung. Eine prospektive Längsschittanalyse, in: Brisch (Hrsg.), Bindung und frühe Störungen der Entwicklung, 2011, S. 136 ff. 16 Karl E. Grossmann/Karin Grossmann/Everett Waters (Hrsg.), Attachment from infancy to adulthood. The major longitudinal studies, 2005; Emmy E. Werner, Resilienz. ein Überblick über internationale Längsschnittstudien, in: Opp/Fingerle (Hrsg.), Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz, 2. Aufl. 2000, S. 311 ff.
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Eine unsichere Bindungsentwicklung dagegen ist ein Risikofaktor, so dass bei Belastungen leichter ein psychischer Zusammenbruch droht oder Konflikte in einer Beziehung weniger sozial kompetent geklärt werden. So zeigen etwa Kinder mit unsicheren Bindungsmustern schon im Kindergartenalter in Konfliktsituationen weniger prosoziale Verhaltensweisen und eher aggressive Interpretationen des Verhaltens ihrer Spielkameraden.17 Im Jugendalter sind sie eher isoliert, haben weniger Freundschaftsbeziehungen und schätzen Beziehungen insgesamt als weniger bedeutungsvoll für ihr Leben ein.18 4. Ursachen von Bindungsstörungen Wenn pathogene Erfahrungen des Kindes – wie Deprivation, Misshandlung, Verlust, Gewalt – nur vorübergehend oder phasenweise auftreten, können sie häufig mit desorganisiertem Bindungsverhalten assoziiert sein. Sind sie dagegen das vorherrschende frühe Interaktionsmuster mit den Bindungspersonen und wurden die pathogenen Bindungserfahrungen über mehrere Jahre gemacht, können hieraus Bindungsstörungen resultieren. Selbst nach Milieuwechsel, etwa durch Adoption, und unter besseren emotionalen familiären Bedingungen können diese Störungen weiter bestehen bleiben und eine hohe Belastung für die neue Adoptiveltern-Kind-Beziehung darstellen.19 Bindungsstö17 Gerhard Suess/Klaus E.Grossmann/L. Alan Sroufe, Effects of infant attachment to mother and father on quality of adaptation in preschool. From dyadic to individual organization of self, International Journal of Behavioral Development 1992, S. 43 ff. 18 Peter Zimmermann/Elisabeth Fremmer-Bombik/Gottfried Spangler/Klaus E. Grossmann, Attachment in adolescence. A longitudinal perspective, in: Koops/Hoeksma/van den Boom (Hrsg.), Development of interaction and attachment. Traditional and non-traditional approaches, 1997, S. 281 ff. 19 Michael Rutter/Thomas G. O’Connor/the ERA Study Team, Are there biological programming effects for psychological development? Findings from a study of Romanian adoptees, Developmental Psychology 2004, S. 81 ff.
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rungen lassen oftmals wegen der extremen Verzerrungen in der Art des Verhaltens die verborgenen Bindungsbedürfnisse der Kinder nicht mehr erkennen und können sich im schlimmsten Fall zu überdauernden psychopathologischen Mustern einer schweren Persönlichkeitsstörung verfestigen.20 Die längsschnittlichen Untersuchungen über die emotionale Entwicklung von Säuglingen und Vorschulkindern, die unter den Bedingungen schwerer früher Deprivation in rumänischen Heimen aufgewachsen waren und dann von englischen und kanadischen Familien adoptiert wurden, sind für das Verständnis der Entwicklung von Bindungsstörungen von großer Bedeutung. Diese Kinder litten teilweise auch Jahre nach der Adoption noch an den Symptomen von ausgeprägten reaktiven Bindungsstörungen mit zusätzlichen Störungen der Aufmerksamkeit und mit Überaktivität (ADHS=Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung). Weiterhin zeigten sie solche Verhaltensstörungen, die Symptomen aus dem autistischen Erkrankungsspektrum ähnelten.21 Obwohl sich bei 20 % der Kinder im weiteren Entwicklungsverlauf eine Tendenz zur emotionalen Normalisierung zeigte, fand sich insgesamt eine hohe Stabilität für die pathologische Symptomatik der ADHS, und zwar auch unter den emo tional günstigeren Adoptionsbedingungen.22 Je länger die Erfahrung der frühen Deprivation unter Heimbedingungen gewesen war, desto ausgeprägter waren die Symptome der ADHS. Es bestand ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Aus prägung der ADHS-Symptomatik und den Symptomen einer Bindungsstörung. Die gefundenen Effekte konnten nicht durch 20 Karl Heinz Brisch (Hrsg.), Bindung und frühe Störungen der Entwicklung, 2011. 21 Robert Kumsta/Edmund Sonuga-Barke/Michael Rutter, Adolescent callous-unemotional traits and conduct disorder in adoptees exposed to severe early deprivation, The British Journal of Psychiatry 2012, S. 197 ff. 22 Thomas G. O’Connor/Robert S. Marvin/Michael Rutter/Jeffrey T. Olrick/Preston A. Britner/the English and Romanian Adoptees Study Team, Child-parent attachment following severe early institutional deprivation, Development and Psychopathology 2003, S. 19 ff.
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schlechte Ernährung, niedriges Geburtsgewicht oder kognitive Defizite der Kinder erklärt werden.23 Diesen Befunden entspricht auch die klinische Erfahrung, dass Kinder mit Bindungsstörungen extreme traumatische Erfahrungen in Bindungsbeziehungen durchgemacht haben. 5. Diagnose der Bindungsstörungen In der klinisch psychotherapeutischen Arbeit sehen wir Kinder und auch Jugendliche, die ausgeprägte Störungsvarianten in ihrem Bindungsverhalten aufweisen, die als Psychopathologie diagnostiziert werden. Zwei extreme Formen der reaktiven Bindungsstörung können auch nach der in Deutschland angewendeten International Classification of Diseases – ICD Version 10, nach der auch psychiatrische Erkrankungen diagnostiziert werden, klassifiziert werden: eine Form mit Hemmung (ICD-10 Code: F 94.1) und eine mit Enthemmung (ICD-10 Code: F 94.2) des Bindungsverhaltens. Nur bei der Diagnose Bindungsstörungen – als einzige Ausnahme bei den psychiatrischen Diagnosen – werden im ICD-10 Ursachen für die Entstehung der Störung angegeben. Ausdrücklich werden Erfahrungen im Zusammenhang mit schwerer Deprivation, Missbrauch und Misshandlung als unmittelbarer Grund für die Entwicklung von psychopathologischen Symptomen einer Bindungsstörung aufgeführt. Eine Bindungsstörung mit Symptomen einer „Enthemmung“ mit indifferentem Pseudo-Bindungsverhalten gegenüber unbekannten Personen wird als Folge von vielfach wechselnden Betreuungssystemen in den ersten Lebensjahren gesehen. Auch Gedeih- und Wachstumsstörungen als Ausdruck einer schweren psychosomatischen Erkrankung können nach ICD-10 in diesem Zusammen-
23 Jenalee R. Doom/Michael K. Georgieff/Megan R. Gunnar, Institutional care and iron deficiency increase ADHD symptomology and lower IQ 2.5-5 years post-adoption, Developmental Science 2015, S. 484 ff.; Jana M. Kreppner/Thomas G. O’Connor/Michael Rutter/English and Romanian Adoptees Study Team, Can inattention/overactivity be an institutional deprivation syndrome?, Journal of Abnormal Child Psychology 2001, S. 513 ff.
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hang gefunden werden, die hier aber nicht als ein eigenständiger Typus einer Bindungsstörung klassifiziert werden. Eine Bindungsstörung sollte – wegen der in diesem Alter bekannten „Fremdenangst“, einer entwicklungsbedingten Durchgangsphase – allerdings nicht vor dem 8. Lebensmonat diagnostiziert werden. Die psychopathologischen Auffälligkeiten sollten mindestens über einen Zeitraum von 6 Monaten und in verschiedenen Beziehungssystemen beobachtet worden sein, um von einer Bindungsstörung sprechen zu können. Es gibt es eine breite Diskussion über die methodischen Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Diagnostik von Bindungsstörungen und der Erfassung von zusätzlichen Typologien oder Kategorien, die über die jetzigen Möglichkeiten der ICD-10-Diagnostik hinausgehen. Da Bindungsstörungen als Folge von frühen traumatischen Erfahrungen des Kindes auftreten können – besonders wenn diese in der Beziehung zu Bindungspersonen erlebt wurden –, könnten sie auch als eine spezifische Form der Posttraumatischen Belastungsstörung angesehen werden, die nach Traumaerfahrungen in psychopathologischen Auffälligkeiten zum Ausdruck kommt, wenn das Bindungssystem in bindungsrelevanten Kontexten aktiviert wird.24 Weitere, in den internationalen Klassifikationssystemen bisher nicht erfasste Formen von Bindungsstörungen können sich nach Brisch25 klinisch dadurch äußern, dass Kinder kein Bindungsverhalten (Typ I) zeigen. Auch in Bedrohungssituationen wenden sie sich an keine Bezugsperson, in Trennungssituationen zeigen sie keinen Trennungsprotest. Eine andere Form ist durch undifferenziertes Bindungsverhalten (Typ II a) gekennzeichnet (vgl. auch die Diagnose „Bindungsstörung mit Enthemmung“ im 24 Karl Heinz Brisch/Catherina Hilmer/Lukas Oberschneider/Ludwig Ebeling, Bindungsstörungen, Monatsschrift Kinderheilkunde 2018, S. 533 ff. 25 Karl Heinz Brisch, Klassifikation und klinische Merkmale von Bindungsstörungen, Monatsschrift für Kinderheilkunde 2002, S. 140 ff.; Brisch, Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie (Fn. 3).
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ICD-10). Solche Kinder zeigen eine soziale Promiskuität: sie verhalten sich undifferenziert freundlich gegenüber allen Personen, denen sie begegnen, gerade auch gegenüber fremden Menschen. Sie suchen in Stresssituationen zwar Trost, ohne aber eine bestimmte Bindungsperson zu bevorzugen. Jeder, der sich in ihrer Nähe befindet, kann sie auf den Arm nehmen und trösten, auch eine absolut fremde Person. Andere Kinder neigen zu einem deutlichen Unfallrisikoverhalten (Typ II b): In Gefahrensituationen suchen sie nicht eine sichernde Bindungsperson auf, sondern begeben sich vielmehr durch zusätzliches Risikoverhalten in unfallträchtige Situationen. Auf diese Weise mobilisieren sie das Fürsorgeverhalten etwa ihrer Eltern, die nur angesichts der massiven Unfallbedrohung oder realen Verletzung ihres Kindes adäquates Bindungsverhalten zeigen. Eine weitere Form der Bindungsstörung drückt sich durch übermäßiges Klammern (Typ III) aus. Diese Kinder sind, obwohl schon im Vorschulalter, nur in absoluter, fast körperlicher Nähe zu ihrer Bezugs- und Bindungsperson wirklich ruhig und zufrieden. Sie sind aber damit in ihrem freien Spiel und in ihrer Erkundung der Umgebung entsprechend eingeschränkt, weil sie immer auf die Anwesenheit der Bindungsperson angewiesen sind. Sie wirken insgesamt sehr ängstlich und können sich kaum von ihrer Bindungsperson trennen, so dass sie in der Regel keinen Kindergarten besuchen bzw. außerhalb des familiären Rahmens nicht bei anderen Kindern spielen können. Sie haben somit selten Freunde und wachsen von Gleichaltrigen sozial isoliert auf. Unvermeidlichen Trennungen setzen sie massiven Widerstand entgegen und reagieren mit größtem Stress und panikartigem Verhalten. Andere Kinder wiederum sind im Beisein ihrer Bindungsperson übermäßig angepasst und in ihrem Bindungsverhalten gehemmt (Typ IV) (vgl. auch die Diagnose „Bindungsstörung mit Hemmung“ im ICD-10). Sie reagieren in Abwesenheit der Bezugsperson weniger ängstlich als in deren Gegenwart und können ihre Umwelt in der Obhut von fremden Personen besser erkunden als in Anwesenheit ihrer vertrauten Bindungs- und Bezugsperson. Auf diese Art und Weise reagieren besonders
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Kinder etwa nach körperlicher Misshandlung und bei Erziehungsstilen mit körperlicher Gewaltanwendung oder -androhung. Bei einer weiteren Art der Bindungsstörung verhalten sich Kinder oft aggressiv (Typ V), wenn sie Angst haben, ihr Bindungsbedürfnis dadurch aktiviert ist und sie mit anderen Menschen Kontakt aufnehmen wollen. Solche Kinder haben zwar eine mehr oder weniger bevorzugte Bindungsperson, aber sowohl mit dieser als auch mit anderen Menschen nehmen sie über aggressive Interaktionsformen sowohl körperlicher als auch verbaler Art Kontakt auf. Dies führt dann in der Regel zur Zurückweisung, da ihr versteckter Bindungswunsch nicht gesehen wird. Auf diese Weise entsteht schnell ein Teufelskreis, durch den die zugrundeliegenden emotionalen Bedürfnisse nach Nähe und Sicherheit nicht erkannt werden. Manchmal ist die Bindungsstörung dadurch gekennzeichnet, dass es zu einer Rollenumkehr (Typ VI) kommt. Solche Kinder müssen dann für ihre Eltern, die z. B. körperlich erkrankt sind oder an Depressionen – mit Suizidabsichten und Ängsten – leiden, als sichere Basis dienen. Diese Kinder können ihre Eltern nicht als „Hort der Sicherheit“ benutzen, vielmehr müssen sie selbst diesen die notwendige emotionale Sicherheit geben. Dies hat zur Folge, dass die Ablösungsentwicklung der Kinder gehemmt und verzögert wird und eine große emotionale Verun sicherung besteht: Diese Kinder wenden sich etwa in Gefahren situationen, in denen sie sich befinden, und in psychischer Not nicht an ihre Bindungsperson, da sie von dieser keine Hilfe erwarten können, weil sie mit sich und ihren eigenen Bedürfnissen ganz beschäftigt ist und den Kindern vielmehr noch Anlass zur Sorge gibt. Im Rahmen von Bindungsstörungen kann es auch zur Ausbildung von psychosomatischen Störungen kommen, etwa mit Schrei-, Schlaf- und Essproblemen im Säuglingsalter, oder auch zu ausgeprägten psychosomatischen Reaktionen im Kleinkind alter, wie etwa zur psychogenen Wachstumsretardierung bei emotionaler Deprivation oder zu multiplen somatoformen Störungen (Typ VII).
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6. Bindung und Trauma Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen desorganisierten Bindungsmustern der Kinder und ungelösten Traumata der Eltern gibt.26 Solche Eltern haben in der eigenen Kindheit Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung erlebt. Sie mussten Verluste wichtiger Bezugspersonen verkraften oder erlitten andere schwere Traumata. Das Verhalten des eigenen Kindes, etwa das Schreien eines Säuglings, „triggert“ das einst erlebte Trauma, da es etwa an das eigene Weinen und den eigenen Schmerz erinnert. Dadurch können bei der Mutter oder dem Vater dissoziative oder auch traumaspezifische und das Kind ängstigende Verhaltensweisen ausgelöst werden.27 Dies könnte auch erklären, warum Eltern, deren Kinder stationär zur körperlichen Behandlung in der Kinderklinik aufgenommen worden waren, selbst mehr Traumata erlebt hatten und warum ihre Kinder mehr Bindungsstörungen und Verhaltensstörungen zeigten als eine Vergleichsgruppe von Kindern, die nicht stationär pädiatrisch behandelt wurden.28 26 Deborah Jacobvitz/Kimberly Leon/Nancy Hazen, Does expectant mothers’ unresolved trauma predict frightened/frightening maternal behavior? Risk and protective factors, Development and Psychopathology 2006, S. 363ff.; Karlen Lyons-Ruth, From infant attachment disorganization to adult dissociation, Paper presented at the 1. Bi-Annual Conference European Society for Trauma and Dissociation (ESTD), Amsterdam 2008; Karlen Lyons-Ruth/Claudia Yellin/Sharon Melnick/Gewendolyn Atwood, Childhood experiences of trauma and loss have different relations to maternal unresolved and hostile-helpless states of mind on the AAI, Attachment & Human Development 2003, S. 330 ff.; Allan N. Schore, Early relational trauma, disorganized attachment, and the devel opment of a predisposition to violence, in: Solomon/Siegel (Hrsg.), Healing trauma. Attachment, mind, body, and brain, 2003, S. 107 ff. 27 Erik Hesse/Mary Main/Kelley Yost Abrams/Anne Rifkin, Unresolved states regarding loss or abuse can have „second generation“ effects: Disorganization, role inversion, and frightening ideation in the offspring of traumatized, non-maltreating parents, in: Solomon/Siegel (Hrsg.), Healing trauma. Attachment, mind, body, and brain, 2003, S. 57 ff. 28 Sibylle Kroesen/Christina Kügel/Dominik Thaler/Stefanie Wörle/ Karl Heinz Brisch, Traumaerfahrungen und posttraumatische Belastun-
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In einer prospektiven Längsschnittstudie29 zeigte sich, dass Frühgeborene, die neurologisch erkrankt sind, signifikant häufiger eine unsichere Bindung an ihre Mutter entwickeln als neurologisch gesund entwickelte Frühgeborene, ganz unabhängig von der mütterlichen Bindungsrepräsentation. Dieses Ergebnis – die unsichere Bindung – fand sich nicht mehr, wenn die Eltern an einer psychotherapeutischen Intervention teilgenommen hatten. Für die Bindungsentwicklung von Kindern mit besonderen somatischen Risiken, wie etwa Frühgeborene oder pädiatrisch erkrankte Kinder, oder für Kinder mit Traumaerfahrungen könnten außer der elterlichen Bindungsrepräsentation auch die elterlichen Bewältigungsfähigkeiten und das Ausmaß der sozialen Unterstützung von Bedeutung sein, die die Eltern bzw. die Bezugspersonen des Kindes erfahren haben.30 Die Situation des Kindes könnte sich also so darstellen, dass es dieselbe Person, die es etwa durch sein Verhalten oder seine Erkrankung ängstigt, gleichzeitig als Trostspender braucht. Die Bindungsperson steht ihm aber emotional nicht ausreichend konstant zur Verfügung, da die Eltern, etwa wegen der Erkrankung des Kindes, mit ihren eigenen Ängsten und Bewältigungsversuchen beschäftigt sind. Von hierher gesehen, wird das rasch wechselnde, desorganisierte
gen bei Kindern in stationärer pädiatrischer Behandlung, in: Lehmkuhl (Hrsg.), Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Von den Therapieschulen zu störungsspezifischen Behandlungen, 2003, S. 35 ff.; Christina Kügel/Sibylle Kroesen/Dominik Thaler/Stefanie Wörle/Karl Heinz Brisch, Bindungsstörungen bei Kindern in stationärer pädiatrischer Behandlung, in: Lehmkuhl (Hrsg.), Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Von den Therapieschulen zu störungsspezifischen Behandlungen, 2003, S. 35–36. 29 Karl Heinz Brisch/Doris Bechinger/Suzanne Betzler/Hilde Heinemann, Early preventive attachment-oriented psychotherapeutic intervention program with parents of a very low birthweight premature infant. Results of attachment and neurological development, Attachment & Human Development 2003, S. 120 ff. 30 Brisch/Bechinger/Betzler/Heinemann, Early preventive attachment-oriented psychotherapeutic intervention program with parents of a very low birthweight premature infant (Fn. 29).
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Annäherungs- und Vermeidungsverhalten der Kinder mit desorganisierter Bindung gut nachvollziehbar.31 Eine Metaanalyse aus 80 Studien mit 6282 Eltern-Kind-Dyaden und 1285 Kindern, die als desorganisiert gebunden klassifiziert worden waren, führte zu folgenden Ergebnissen32: In nichtklinischen Stichproben beträgt der Anteil an Kindern mit desorganisiertem Bindungsmuster 15 %, wobei er in niedrigeren sozialen Schichten je nach Messinstrument zwischen 25 und 34 % variiert. In klinischen Stichproben zeigen Kinder mit neurologischen Auffälligkeiten zu 35 % desorganisierte Bindungsmuster und Kinder von alkohol- oder drogenabhängigen Müttern zu 43 %. Die meisten desorganisiert gebundenen Kinder, nämlich 48 %–77 %, hatten misshandelnde Eltern. Faktoren wie Konstitution und Temperament oder das Geschlecht hatten keinen signifikanten Einfluss auf die Entwicklung eines desorganisierten Bindungsmusters. Der stärkste Prädiktor für eine desorganisierte Bindung ist die Kindesmisshandlung.33 Am zweitstärksten wirkten sich erlebte Traumata der Eltern auf die Entwicklung desorganisierter Bindung des Kindes aus. Traumatisierungen und damit einhergehendes dissoziatives, ängstigendes Verhalten der Erziehungsperson beeinflussen die Entwicklung einer desorganisierten Bindung mehr als Scheidung der Eltern oder Depression. Als Folge des organisierter Bindung fanden sich bei diesen Kindern – im Vergleich zu Kindern mit einer sicheren Bindung – signifikant häu31 Karlen Lyons-Ruth/Sharon Melnick/Elisa Bronfman, Desorganisierte Kinder und ihre Mütter – Modelle feindselig-hilfloser Beziehungen, in: Brisch/Grossmann/Grossmann/Köhler (Hrsg.), Bindung und seelische Entwicklungswege – Grundlagen, Prävention und klinische Praxis, 2002, S. 249 ff. 32 Marinus H. van IJzendoorn/Carlo Schuengel/Marian J. Bakermans-Kranenburg, Disorganized attachment in early childhood. Metaanalysis of precursors, concomitants and sequelae, Development and Psychopathology 1999, S. 225 ff. 33 Karlen Lyons-Ruth/Deborah Block, The disturbed caregiving system. Relations among childhood trauma, maternal caregiving, and infant affect and attachment, Infant Mental Health Journal 1996, S. 257 ff.
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figer dissoziative Symptome und externalisierende Verhaltensstörungen.34 Es gibt Studien, die einen Zusammenhang zwischen frühen Verhaltensproblemen – besonders bei Jungen – und unsicherdesorganisierter Bindung feststellen konnten.35 Es wurde eine Verbindung zwischen ungelösten Traumata der Eltern bzw. desorganisierten Bindungsmustern der Kinder und aggressiven Verhaltensproblemen und Defiziten sprachlicher Fertigkeiten bei diesen Kindern gefunden.36 Wenn traumatische Erfahrungen 34 Jonathan Green/Ruth Goldwyn, Attachment disorganisation and psychopathology. New findings in attachment research and their potential implications for developmental psychopathology in childhood, Journal of Child Psychology and Psychiatry 2002, S. 835 ff. 35 Mark T. Greenberg/Matthew L. Speltz/Michelle Deklyen, The role of attachment in the early development of disruptive behavior problems, Development and Psychopathology 1993, S. 191 ff.; Matthew L. Speltz/ Michelle Deklyen, M./Mark T. Greenberg, Attachment in boys with early onset conduct problems, Psychopathology 1999, S. 269 ff. 36 Jean Francois Bureau/M. Ann Easlerbrooks/Karlen Lyons-Ruth, Attachment disorganization and controlling behavior in middle childhood. Maternal and child recursors and correlates, Attachment & Human Developemt 2009, S. 265 ff.; Karlen Lyons-Ruth, Contributions of the mother-infant relationship to dissociative, borderline, and conduct symptoms in young adulthood, Infant Mental Health Journal 2008, S. 203 ff.; Lyons-Ruth/Bureau/Nemoda/Sasvari-Szekely, Qualität der frühen Zuwendung, Trauma und genetische Vulnerabilität als Prädiktoren von Merkmalen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Eine prospektive Längsschittanalyse – siehe Fn. 15. Karlen Lyons-Ruth/Deborah Jacobvitz, Attachment disorganization. Genetic factors, parenting contexts, and develomental transformation from infancy to adulthood, in: Cassidy/Shaver (Hrsg.), Handbook of attachment. Theory, research, and clinical applications, 2008, S. 666 ff. Marije L. Verhage/R. Pasco Fearon/Carlo Schuengel/Marinus H. van IJzendoorn/Marian J. Bakermans-Kranenburg/Sheri Madigan/ . . . /The Collaboration on Attachment Transmission Synthesis, Examining Ecological Constraints on the Intergenerational Transmission of Attachment Via Individual Participant Data Meta-analysis, Child Development 2018, im Internet abrufbar unter: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/ full/10.1111/cdev.13085.
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der Eltern und/oder der Kinder Prädiktoren für die Entwicklung einer desorganisierten Bindung sind und desorganisierte Bindung wiederum ein Prädiktor für externalisierende Verhaltensstörungen ist – wozu Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen gehören –, liegt die Hypothese nahe, dass Traumata des Kindes oder der Eltern in einem Zusammenhang mit der Entstehung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) stehen könnten. Dieser Zusammenhang wurde allerdings bisher nicht ausreichend untersucht. Das Bindungsmuster fungiert möglicherweise als vermittelnde Variable, wobei man annehmen kann, dass desorganisierte Bindung ein Vulnerabilitätsfaktor und sichere Bindung ein Schutzfaktor ist. Im Tierversuch mit Ratten führten Unterschiede in der Fürsorge der Mutter bei den Jungtieren zu Unterschieden im Verhalten und in der endokrinen Antwort auf Stress. Fürsorgliche Rattenmütter hatten weniger ängstlichen Nachwuchs, bei dem in Stresssituationen die Reaktionen der hormonellen Stressregulation zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde (HPA-Achse) angemessener waren. Zudem zeigte sich der gut umsorgte weibliche Rattennachwuchs seinen eigenen Jungen gegenüber ebenfalls fürsorglich. Die Studie zeigte, dass die Art der Aufzucht und nicht die Abstammung das spätere Fürsorgeverhalten der weiblichen Ratte und die Stressregulation determiniert. Die Effekte blieben über drei Generationen hinweg nachweisbar.37 Es wurde beobachtet, dass eine „Behandlung“ (kurzes Streicheln der Tiere) das Fürsorgeverhalten der weniger fürsorglichen Rattenmütter positiv beeinflusste.38 Sogar die molekulargenetischen Strukturen der behandelten Nachkommen hatten sich während der Behandlung so stark verändert, dass sie von denen 37 Darlene Francis/Josie Diorio/Dong Liu/Michael J. Meaney, Nongenomic transmission across generations of maternal behavior and stress responses in the rat, Science 1999, S. 1155 ff. 38 Michael J. Meaney/David H. Aitken/Chayann van Berkel/Seema Bhatnagar/Robert M. Sapolsky, Effect of neonatal handling on agerelat ed impairments associated with the hippocampus, Science 1988, S. 766 ff.; Michael J. Meaney, Epigenetics and the biological definition of gene x environment interactions, Child Development 2010, S. 41 ff.
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der nicht behandelten Nachkommen der stark fürsorglichen Rattenmütter nicht mehr signifikant zu unterscheiden waren. Die Autoren interpretieren diese Ergebnisse in dem Sinne, dass das Fürsorgeverhalten sowie die Stressregulation durch einen Interaktionseffekt aus genetischer Vulnerabilität und unterschiedlicher Fürsorge (Umweltfaktor) auf die nächste Generation vererbt werden.39 Bisherige Studien bei Menschen zeigen auch, dass frühe Erfahrungen der weiblichen Säuglinge mit ihren Müttern einen großen Einfluss auf ihr späteres Fürsorgeverhalten gegenüber dem eigenen Nachwuchs haben. Offenbar besteht ein psychobiologischer Mechanismus, in dem intergenerational das Fürsorgeverhalten und die Feinfühligkeit der Mutter auf die Töchter übertragen werden.40 Den Schlussfolgerungen von Francis et al.41, nämlich 39 Jörg Bock/Stefan Breuer/Gerd Poeggel/Katharina Braun, Early life stress induces attention-deficit hyperactivity disorder (ADHD)-like behavioral and brain metabolic dysfunctions. functional imaging of me thylphenidate treatment in a novel rodent model, Brain Structure and Function 2017, S. 765 ff. Jörg Bock/Tamar Wainstock/Katharina Braun/Menahem Segal, Stress In Utero. Prenatal Programming of Brain Plasticity and Cognition, Biological Psychiatry 2015, S. 315 ff. Francis/Diorio/Liu/Meaney, Nongenomic transmission across generations of maternal behavior and stress responses in the rat (Fn. 37); Darlene Francis/Michael J.. Meaney, Maternal care and the development of stress responses, Current Opinion in Neurobiology 1999, S. 128 ff.; Darlene Francis/Larry J. Young/Michael J. Meaney/Thomas R. Insel, Naturally occurring differences in maternal care are associated with the expression of oxytocin and vasopressin (V 1 a) receptors. gender differences, Journal of Neuroendocrinology 2002, S. 349 ff. 40 Alison S. Fleming/Danton H. O’Day/Gary W. Kraemer, Neurobiology of mother-infant interactions. Experience and central nervous system plasticity across development and generations, Neuroscience and Biobehavioral Reviews 1999, S. 673 ff.; Robin C. Silverman/Alicia F. Lieberman, Negative maternal attributions, projective identification, and the intergenerational transmission of violent relational patterns, Psychoanalytic Dialogues 1999, S. 161 ff. 41 Francis/Diorio/Liu/Meaney, Nongenomic transmission across generations of maternal behavior and stress responses in the rat (Fn. 37).
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eine veränderte Stressregulation, die an veränderten Werten für das Stresshormon Cortisol gemessen werden konnte, fand sich auch bei den Kindern aus rumänischen Kinderheimen, die extreme frühe Deprivationserfahrungen gemacht hatten.42 Die Interaktion zwischen nature und nurture findet auf der Bindungsebene statt, wobei die primäre Bindungsperson als psychobiologischer Regulator bzw. Dysregulator der Hormone des Kindes wirkt, welche die direkte Gentranskription steuern. Der Cortisolspiegel im Gehirn des Säuglings – das Hormon Cortisol ist für die Reaktion auf akuten und chronischen Stress verantwortlich – wird durch die Mutter-Kind-Interaktion signifikant beeinflusst. Aus alldem geht hervor, dass Neurotransmitterstörungen nicht angeboren sein müssen, sondern durch psychologische Variablen auf die frühe Entwicklung beeinflusst werden können.43 III. Der Einfluss von traumatischen Erfahrungen auf Funktion und Struktur des Gehirns Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre öffnen die Tür zu einem Denken, welches das Erleben eines seelischen Traumas 42 Megan R. Gunnar/Sara J. Morison/Kim Chisholm/Michelle Schuder, Salivary cortisol levels in children adopted from Romanian orphan ages, Developmental Psychopathology 2001, S. 611 ff. 43 Bock/Breuer/Poeggel/Braun, Early life stress induces attention-deficit hyperactivity disorder (ADHD)-like behavioral and brain metabol ic dysfunctions. Functional imaging of methylphenidate treatment in a novel rodent model (Fn. 39). Bock/Wainstock/Braun/Segal, Stress In Utero. Prenatal Programming of Brain Plasticity and Cognition (Fn. 39). Katharina Braun/Carina Helmeke/Jörg Bock, Bindung und der Einfluss der Eltern-Kind-Interaktion auf die neuronale Entwicklung präfrontaler und limibischer Regionen. Tierexperimentelle Befunde, in: Brisch/ Hellbrügge (Hrsg.), Wege zu sicheren Bindungen in Familie und Gesellschaft. Prävention, Begleitung, Beratung und Psychotherapie, 2009, S. 52 ff.; Nicole Gröger/Emmanuel Matas/Tomasz Gos/Alexandra Lesse/ Gerd Poegge/Katahrina Braun/Jörg Bock, The transgenerational transmission of childhood adversity. Behavioral, cellular, and epigenetic correlates, Journal of Neural Transmission 2016, S. 1037 ff.
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mit der Entwicklung von Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns verknüpft. Teicher44 kam in seinen Studien an der Harvard Medical School zu neuen Forschungsergebnissen: Opfer von Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit wiesen im Erwachsenenalter im Vergleich mit nicht missbrauchten Kontrollprobanden strukturelle Veränderungen mit Volumenverminderungen in sehr spezifischen Gehirnregionen auf (z. B. im Bereich Hippocampus, dem Corpus Callosum und der Amygdala). Perry et al.45 stellten bei der Schilderung ihrer Untersuchungen dar, wie sich das Gehirn in Abhängigkeit von den Umwelterfahrungen und damit auch den Interaktionserfahrungen mit seinen Bindungspersonen entwickelt: Das sich entwickelnde Gehirn organisiert und internalisiert neue Informationen entsprechend den neuen Erfahrungen. Je mehr das Kind aber emotional übereregt (Hyperarousal) oder aber emotional abgeschaltet ist (Dissoziation), desto mehr wird es nach einer traumatischen Erfahrung neuropsychiatrische Symptome in Richtung einer posttraumatischen Belastungsstörung (posttraumatic stress disorder, PTSD) entwickeln. Der momentane Zustand der neuronalen Aktivierung und der humoralen Stressreaktion kann als Anpas44 Martin H. Teicher, Frühe Misshandlungs- und Missbrauchs erfahrungen. Gene, Gehirn, Zeit und Pathologie, in: Brisch (Hrsg.), Bindung und frühe Störungen der Entwicklung, 2001, S. 105 ff.; Martin H. Teicher/Jacqueline A. Samson/Ann Polcari/Susan L. Andersen, Length of time between onset of childhood sexual abuse and emergence of depression in a young adult sample. A retrospective clinical report, The Journal of Clinical Psychiatry 2009, S. 684 ff.; Martin H. Teicher/ Akemi Tomoda/Susan L. Andersen, Neurobiological consequences of early stress and childhood maltreatment. Are results from human and animal studies comparable?, Annals of the New York Academy of Sciences 2006, S. 313 ff. 45 Bruce D. Perry, The neurodevelopmental impact of violence in childhood, in: Schetky/Benedek (Hrsg.), Textbook of Child and Ado lescent Forensic Psychiatry, 2001, S. 221 ff.; Bruce D. Perry/Ronnie A. Pollard/Toi L. Blakley/William L. Baker/Domenico Wigilante, Childhood trauma, the neurobiology of adaptation and use dependant development of the brain. How states become traits, Infant Mental Health Journal 1995, S. 271 ff.
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sung an die überfordernden traumatischen Situationen persistieren und zu einer Fehlanpassung führen. Als Folge kann das Individuum auf spezifische Erfordernisse der sozialen Umwelt nicht adäquat reagieren. Im sich entwickelnden Gehirn hängen die noch undifferenzierten neuronalen Systeme von Schlüsselreizen der Umwelt und der Mikroumwelt ab (etwa von Neurotransmittern und Neurohormonen, zu denen auch das Cortisol und das neuronale Wachstumshormon zählen), um sich von ihren undifferenzierten, unreifen Formen zu ihren vorgesehenen Funktionen entwickeln zu können. Das Fehlen dieser kritischen Schlüsselreize oder eine Störung innerhalb dieser sensiblen Phasen kann zu anormalen neuronalen Teilungen und Synapsenentwicklungen führen. Nach Perry et al.46 ist die Wirkung früher kindlicher Interaktionserfahrungen in einem Entwicklungsmodell der gebrauchsabhängigen Ausformung neuronaler und organischer Hirnstrukturen zu konzeptualisieren.47 Ein ähnlicher Einfluss – insbesondere auf die Reifung der orbito-frontalen Hirnregion, die für die Steuerung, Integration und Modulation von Affekten zuständig ist – kann auch für andere traumatische Erfahrungen im Kindesalter während der Reifungszeit des kindlichen Gehirns angenommen werden. Misshandlung bzw. Trauma in der frühen Kindheit verändern auch stark die Entwicklung der rechten nonverbalen Gehirnhälfte, die für verschiedene Aspekte von Bindung und Affektregulation verantwortlich ist.48 46 Perry/Pollard/Blakley/Baker/Wigilante, Childhood trauma, the neurobiology of adaptation and use dependant development of the brain. How states become traits (Fn. 45). 47 Manfred Spitzer, Das hast Du von der Mutter – aber nicht geerbt. Nichtgenetische Weitergabe von Charaktereigenschaften über mehrere Generationen im Tierexperiment, Nervenheilkunde 2000, S. 48 ff. 48 Meaney, Epigenetics and the biological definition of gene x environment interactions (Fn. 38); Desiree Y. Phua/Michelle K. Z. L. Kee/ Dawn X. P. Koh/Anne Rifkin-Graboi/Mary Daniels/Helen Chen/. . ./ Michael J. Meaney, Positive maternal mental health during pregnancy associated with specific forms of adaptive development in early childhood. Evidence from a longitudinal study – CORRIGENDUM, Devel opment and Psychopathology 2018, S. 1.
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IV. Bindung und Fremdbetreuung49 Das Bindungsbedürfnis des Säuglings ist ein starkes motivationales Entwicklungssystem im Kontext mit anderen motivationalen Systemen. Dabei ist die sichere Bindungsentwicklung im Bezug zu einer Bindungsperson nicht durch die genetische Verwandtschaft bedingt, sondern durch das feinfühlige Verhalten derjenigen Personen, die den Säugling pflegen. Dies macht es möglich, dass sich ein Säugling über einen längeren Bindungsprozess an Personen binden kann, die ihm zunächst vollkommen fremd sind, wie etwa Pflege- oder Adoptiveltern sowie ebenso an Erzieherinnen, Erzieher und Tagesmütter/-väter in der Fremdbetreuung. Die sichere Bindungsentwicklung ist für das körperlich und seelisch gesunde Kind grundsätzlich mit jeder Person möglich, die feinfühlig die Signale des Kindes erkennt, diese richtig interpretiert und angemessen und prompt darauf reagiert, sich in die Innenwelt des Kindes empathisch hineinversetzt und durch dialogischen Blickkontakt, Sprache und Berührung eine Bindungsbeziehung aufbaut. Dies ist der Hintergrund, warum soziale und emotionale Elternschaft möglich wird. Genauso können auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Krippen und Kitas sichere Bindungspersonen für Kinder werden, wenn sie diese über einen längeren Zeitraum unter den obengenannten Bedingungen begleiten. 1. Zeitliche Abstimmung der Betreuung zwischen Krippe und Familie Zur Berücksichtigung basaler Bedürfnisse von Kleinkindern gehört zwingend eine dem Alter des Kindes angepasste individu49 Die folgenden Ausführungen zur Fremdbetreuung sind Teil einer umfangreicheren Publikation mit dem Titel: Karl Heinz Brisch/Maria Mögel/Heidi Simoni/Barbara von Kalckreuth/Katharina Kruppa, Responsibility for children under the age of three years. Recommendations of the German-Speaking Association for Infant Mental Health (GAIMH) for the care and teaching of infants and toddlers in daycare centers, Perspectives in Infant Mental Health 2012, S. 1–4, deutsche Version unter https://www.gaimh.org.
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elle zeitliche Abstimmung der Betreuung in der Familie und in der Krippe. So hat sich das zeitliche Ausmaß der Betreuung außerhalb der Familie in einer Untersuchung, die rund 1400 Kinder berücksichtigt hat, als kritische Größe erwiesen (vgl. dazu die NICHD-Studie, u. a: Belsky et al., 2007).50 Die diesbezüglichen Erfordernisse sind eng mit den altersabhängigen Bedürfnissen von Kindern, dem frühen Beziehungsaufbau in der Familie und den besonderen Anforderungen an die Betreuung von Kindergruppen verbunden. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder später tendenziell umso mehr problematisches Verhalten zeigen, je mehr Zeit sie seit ihrer Geburt insgesamt in familienergänzender Kinderbetreuung verbracht haben.51 Die festgestellten Zusammenhänge spiegeln sich statistisch in kleinen Korrelationswerten wieder und verweisen außerdem nicht auf schwerwiegende psychische oder soziale Probleme der Kinder. Sie sind allerdings stabil und bleiben selbst dann bestehen, wenn die institutionelle Betreuungsqualität, der familiäre Hintergrund und die mütterlichen Kompetenzen berücksichtigt werden. Es scheint also ein Dosis-Wirkungs-Verhältnis zwischen dem Ausmaß früher Betreuung außerhalb der Familie und einer tendenziell ungünstigen Wirkung derselben zu geben. Die Ergebnisse sind leicht nachvollziehbar und gleichzeitig bemerkenswert. Zum Aufbau von sicheren und tragfähigen Beziehungen sind Eltern und Kinder insbesondere während des ersten Lebensjahres auf ausreichend gemeinsame Zeit angewiesen. Diese Feststellung unterstreicht die Bedeutung einer „Elternzeit“, die es Müttern und Vätern erlaubt, in der ersten Lebensphase mit dem Kind vertraut zu werden und es verlässlich und verfügbar durch seine Kindheit zu begleiten. Außerdem dürfte gerade 50 Jay Belsky/Deborah Lowe Vandell/Margaret R. Burchinal/K. Al sion Clarke-Stewart/Kathleen McCartney/Margaret Tresch. Owen/The NICHD Early Child Care Research Network, Are There Long-Term Effects of Early Child Care?, Child Development 2007, S. 681 ff. 51 NICHD (Early Child Care Research Network, National Institute of Child Health Human, Development), Does Amount of Time Spent in Child Care Predict Socioemotional Adjustment During the Transi tion to Kindergarten?, Child Development 2003, S. 976 ff.
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während des ersten Lebensjahres eine ausgedehnte institutionelle Betreuung den Bedürfnissen des Babys entgegenstehen und seine Kompetenzen – ebenso wie diejenigen seiner Eltern und Erzieherinnen – überfordern (vgl. dazu: EKFF, 2004).52 2. Unterschiede zwischen einer institutionellen Tagesbetreuung und der Betreuung in der Familie Wer kleine Kinder professionell betreut, übernimmt eine anspruchsvolle und verantwortungsvolle Aufgabe, deren Erfüllung von liebevoller und bedürfnisbezogener Zuwendung zu den Kleinen bestimmt sein sollte. In dieser Hinsicht kann die institutionelle durchaus mit der elterlichen, familialen Betreuung verglichen werden. Sie unterscheidet sich aber auch in vielen Aspekten von der Betreuung und Erziehung durch die Eltern, Großeltern oder andere Personen in der Familie. Im Gegensatz zu Familienbeziehungen mit ihren typischen lebenslangen Bezügen in Dyaden und Gruppen sowie intergenerationellen Beziehungen und Verpflichtungen sind die Interaktionen und Beziehungsmuster in einer Kindertageseinrichtung „stärker gruppen- als individuumsbezogen“.53 Pädagogische Fachkräfte müssen nicht „nur“ dem einzelnen Kind ein verlässliches Gegenüber sein, sondern den Kindern auch als Gruppe begegnen. Ein kleines Kind braucht aber auch in der Krippe eine hochindividualisierte Begleitung, die u. a. seinen spezifischen Bedürfnissen nach Anregung und Erholung gerecht wird. Deshalb ist für das kleine Kind in der Krippe eine verlässliche, vertraute und sichere Bindung zu seiner Bezugsperson essenziell und wichtig. Dieser Bezug ist im Kontext von Gruppe und Institution für das Kind einzigartig und bedeutsam, aber nie so umfassend wie eine gute, feinfühlige Eltern-Kind-Beziehung. Die Trauer eines Kin52 EKFF (Hrsg.), Zeit für Familien. Beiträge zur Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsalltag aus familienpolitischer Sicht. EKFF – Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen, 2004. 53 Liselotte Ahnert, Bindungsbeziehungen außerhalb der Familie. Tagesbetreuung und Erzieherinnen-Kind-Bindung, in: Ahnert (Hrsg.), Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung, 2004, S. 256 ff.
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des um eine Bezugsperson, z. B. bei deren Kündigung oder beim Gruppenwechsel, wird zwar vielerorts im Krippenalltag wie von Seiten der Eltern zu wenig gewürdigt, entspricht jedoch nicht dem Verlust von Mutter oder Vater. Ebenfalls zu wenig beachtet werden das Interesse von Kleinkindern am sozialen Austausch mit anderen Kindern und die Bedeutung, die sie diesen Beziehungen geben. So entstehen in Krippen dauernde Kinder- und manchmal auch Familienfreundschaften unter „Wahlgeschwistern“ und eine Verbundenheit des Kindes mit „seiner Gruppe“ und „seiner Krippe“. Im Rahmen einer stabilen Peer-Gruppe „ko-konstruieren kleine Kinder Aspekte ihrer eigenen Iden tität“.54 Solche früh erworbenen sozialen Kompetenzen, die über den familialen Beziehungsraum hinausgehen, helfen den Kindern, sich später in Peergruppen und schulischen Institutionen zurechtzufinden. Krippen können bereits kleinen Kindern sehr bereichernde Erfahrungen ermöglichen, sind aber – im Vergleich zu familialen Kontexten – relativ komplexe Gruppensettings. Damit kleine Kinder sich in ihren Krippengruppen zurechtfinden und wohlfühlen können, sind sie darauf angewiesen, dort in einem ihnen entsprechenden Maß Alltag zu erleben und vertrauten Menschen zu begegnen. Verschiedene Untersuchungen sprechen dafür, dass Kinder unabhängig von ihrer familialen Herkunft – wenn auch in unterschiedlicher Weise – von einer qualitativ guten Tagesbetreuung außerhalb der Familie profitieren können. Sie zeigen auf, dass eine hohe Qualität familienergänzender Betreuung einen positiven Einfluss auf die soziale und kognitive Entwicklung von Kindern hat und damit nachhaltig zu einem größeren Bildungserfolg beiträgt (vgl. den Überblick dazu bei Rossbach, 2005).55 54 Susanne Viernickel/Heidi Simoni, Frühkindliche Erziehung und Bildung, in: EKFF (Hrsg.), Familien – Erziehung – Bildung, EKFF – Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen, 2008, S. 22 ff. 55 Hans-Günther Roßbach, Effekte qualitativ guter Betreuung, Bildung und Erziehung im frühen Kindesalter auf Kinder und ihre Familien, in: Sachverständigenkommission, Zwölfter Kinder- und Jugendbe-
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3. Merkmale einer guten Qualität in Krippen Es ist heute üblich, bezüglich der Qualität institutioneller Kinderbetreuung zwischen kulturellen, strukturellen und prozessualen Merkmalen zu unterscheiden.56 Zu ersteren gehören die Orientierung und die Werthaltung einer Institution. Zu den strukturellen Merkmalen zählen die materielle Ausstattung einer Einrichtung, die Größe und Zusammensetzung der Kindergruppe sowie das Verhältnis zwischen der Zahl der Kinder und der der Erwachsenen. Zu den prozessualen Merkmalen schließlich gehören die pädagogische Prozessqualität und innerbetriebliche Abläufe. Auch wenn die familienergänzende Tagesbetreuung verschiedenen Interessen der Erwachsenen dient, sollten Bemühungen um eine gute Qualität in erster Linie den Interessen des Kindes und damit einer hohen pädagogischen Qualität verpflichtet sein. Entscheidend ist dabei, ob das, was das einzelne Kind in der Krippe erlebt, den Bedürfnissen seiner individuellen und sozialen Entwicklung zugutekommt. Eine hohe pädagogische Qualität entspricht im Kern einer guten pädagogischen Prozessqualität, lässt sich jedoch nicht darauf reduzieren. Fähigen, erfahrenen und motivierten Pädagoginnen und Pädagogen mag es durchaus auch unter ungünstigen Umständen gelingen, Kinder individuell und als Gruppe zu fördern. Die Forschung zeigt jedoch, dass mit der Verschlechterung der strukturellen Bedingungen, sprich: mit zu knappen personellen Ressourcen, erhebliche Risiken verbunden sind: Die Kinder sind stärker gestresst, können sich schlechter konzentrieren und sich weniger aufeinander einlassen. Mängel in richt (Hrsg.), Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern unter sechs Jahren (Materialien zum Zwölften Kinder- und Jugendbericht, Bd. 1), 2005, S. 55 ff. 56 Jeremy Hellmann, Qualität in Krippen, 2002, im Internet abrufbar unter: https://www.mmi.ch/fachbeitraege/kita-qualitaet.html; Jeremy Hellmann, Zur Entwicklung von Instrumenten für die interne und externe Qualitätsentwicklung von Tageseinrichtungen für kleine Kinder, in: Peterander/Speck (Hrsg.), Qualitätsmanagement in sozialen Einrichtungen, 2004, S. 252 ff.; Wolfgang Tietze/Susanne Viernickel (Hrsg.), Pädagogische Qualität in Tageseinrichtungen für Kinder. Ein nationaler Kriterienkatalog, 2. Aufl. 2003.
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der pädagogischen Leitung wirken sich negativ auf die Sensitivität der Betreuungspersonen aus und beeinträchtigen die Elternarbeit.57 Oder anders gesagt: Qualitativ gute Bedingungen auf allen Ebenen – wie ausreichende strukturelle Voraussetzungen oder ein durchdachtes Leitbild – garantieren noch keine hohe pädagogische Qualität. Sie erhöhen jedoch deren Wahrscheinlichkeit. 4. Strukturelle und prozessuale Merkmale einer guten Krippenqualität Als wichtige Voraussetzungen für eine hohe pädagogische Qualität können folgende Kriterien gelten (vgl. dazu den Überblick bei Rossbach, 2005; Bensel/Haug-Schnabel, 2007; Hellmann et al., 2003)58: − ein Umfang, eine Zusammensetzung und eine Kontinuität der Kindergruppe(n), die es dem einzelnen Kind ermöglichen, mit den anderen Kindern vertraut zu werden und persönliche Beziehungen einzugehen; − ein professionelles Selbstverständnis der Fachkräfte, zu dem Beobachten, Dokumentieren, Reflektieren und Austauschen als zentrale Bestandteile gehören; − ein Verhältnis zwischen der Anzahl der Bezugspersonen und der der Kinder, das es den PädagogInnen ermöglicht, sich auf die einzelnen Kinder einzulassen, achtsam zu handeln, Gruppensituationen zu begleiten und die eigene Arbeitsweise wahrzunehmen und auszuwerten. Im Interesse einer hohen Interaktionsqualität und ausreichenden Reflexion sind dabei die folgenden numerischen Größen für spezifische Alter wegleitend: Wache Säuglinge und Kinder in den ersten beiden 57 Denis
Mellier (Hrsg.), L’inconscient à la crèche, Èrès, 2010. Effekte qualitativ guter Betreuung, Bildung und Er ziehung im frühen Kindesalter auf Kinder und ihre Familien (Fn. 55). Joachim Bensel/Gabriele Haug-Schnabel, Kinder unter 3 – Bildung, Erziehung und Betreuung von Kleinstkindern, 3. Aufl. 2007; Jeremy Hellmann/Jeannine Schälin/Heidi Simoni/Heinrich Nufer, Entwick lungsbedürfnisse von Kindern und die Gruppenstruktur in Krippen, 2003. 58 Roßbach,
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Lebensjahren beanspruchen 0,4 % der Betreuungskapazität einer erwachsenen Bezugsperson, Kinder im dritten Lebensjahr 0,25 % und Kinder im vierten bis sechsten Lebensjahr 0,2 %. Je nach Alterszusammensetzung in der konkreten Situation ergeben sich verschiedene Richtgrößen für das Verhältnis zwischen der Anzahl der Bezugspersonen und der der Kinder. Wären alle Kinder im dritten Lebensjahr, ergäbe dies ein Zahlenverhältnis von 1:4; im vierten bis sechsten Lebensjahr ein Betreuungsverhältnis von einer PädagogIn zu fünf Kindern. Bei zwei Kindern unter 24 Monaten und einem Kind zwischen 24 und 35 Monaten wäre das Zahlenverhältnis 1:3. Diese Zahlen beziehen sich auf die tatsächliche Anwesenheit von erwachsenen Bezugspersonen und Kindern im konkreten Alltag. In Bezug auf die mögliche Über- oder/und Unterstimulationen und Stress (vgl. dazu Ergebnisse der NICHD-Studie: Watamura et al., 2003)59 – und damit für das Wohl des Kindes – ist es nämlich entscheidend, dass sich die oben angegebenen Zahlenverhältnisse auf die tatsächliche Anwesenheit von erwachsenen Bezugspersonen und Kindern im konkreten Alltag beziehen und nicht auf monatliche Durchschnittsgrößen. Da Krippen in der Regel 10 Stunden und länger geöffnet sind, vorwiegend Säuglinge und Kleinkinder betreut werden und die Bezugspersonen wegen Ferien, Krankheit, Weiterbildung, Vorbereitung und Besprechungen ihre Zeit nicht immer mit den Kindern verbringen, ist der generelle Betreuungsschlüssel, d. h. das Verhältnis zwischen der Anzahl der PädagogInnen und der der Betreuungsplätze, eher bei 1:2 als bei 1:3 anzusetzen. Nur so können die oben genannten Zahlenverhältnisse auch wirklich im Alltag realisiert werden können. Der genaue Stellenplan hängt von der Tages- und Jahresöffnungszeit, von der Altersverteilung der Kinder sowie den weiteren Aufgaben der Krippe ab;
59 Sarah E. Watamura/Bonny Donzella/Jan Alwin/Megan R. Gunnar, Morning-to-Afternoon Increases in Cortisol Concentrations for Infants and Toddlers at Child Care. Age Differences and Behavioral Correlates, Child Development 2003, S. 1006 ff.
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− altersgemischte Kleingruppen, welche den Kindern Sicherheit, Wohlbefinden und ein positives soziales Klima gewähren – je nach Alterszusammensetzung 6 bis 8 Kinder; − eine Strukturierung der Betreuungsfrequenz und Stellenpensen, welche es den Kindern ermöglicht, kontinuierliche Beziehungen zu vertrauten anderen Kindern und vertrauten Bezugspersonen einzugehen. Eine Mindestpräsenz des Säuglings oder Kleinkindes von zwei bis drei Tagen pro Woche ist empfehlenswert; ausschlaggebend für den Umfang der Betreuungsfrequenz sind die spezifischen Bedürfnisse des Kindes und Gegebenheiten von Krippe und Familie. Eine Vermischung von kleinen mit großen Betreuungspensen in derselben Kindergruppe ist zu vermeiden; − drei miteinander verbundene Gruppenräume, in denen konzentriertes Spielen, laute Aktivität, grobmotorische Bewegung und erholsamer Rückzug bzw. Schlaf gleichzeitig möglich sind und in denen vielfältig gestaltete Spielorte den Kindern ein anregendes Aktivitätsfeld anbieten. Leicht zugängliche Außenräume ergänzen die Gruppenräume. 5. Gefährdungsmomente für eine gute Krippenqualität Als Gefährdungsmomente für das Gelingen einer familienergänzenden institutionellen Betreuung können einzeln oder kumulierend folgende Merkmale gelten: − häufige Wechsel der Institution, der Gruppe, der Zusammensetzung der Gruppe, der Betreuungspersonen, − Eltern und/oder Kind fühlen sich in der Atmosphäre der Krippe nicht wohl, − eine generell hohe Irritabilität des Kindes, − das Eingewöhnungsprozedere berücksichtigt nicht die individuellen Bedürfnisse, − zu lange Aufenthaltszeiten in der Krippe pro Tag, schlechte Vereinbarkeit von Familie und Krippe, − es ist keine Integration in den Alltag der Gruppe möglich,
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− Mehrfachbetreuung (z. B. durch Krippe, Tagesmutter, Großeltern, Eltern). 6. Verlässliche Bezüge in Schlüsselsituationen Pädagogische (Prozess-)Qualität lässt sich aus der Perspektive des Kindes gut in sogenannten „Schlüsselsituationen“ beschreiben und erfassen. Dazu gehören die Eingewöhnung in die Krippe, die Übergabe des Kindes zwischen Eltern und Erzieherinnen am Morgen und am Nachmittag/Abend, die erste und die letzte Stunde im Krippenalltag, die Essenszeiten, das freie Spiel sowie der Umgang mit der Individualität der Kinder und ggf. mit Konflikten in der Kindergruppe. Die Art und Weise, wie Alltags- oder Konfliktsituationen vom Kind, seinen Eltern und ErzieherInnen gestaltet und gemeistert werden, hängt nicht nur von deren individueller Verfassung und ihren Kompetenzen ab. Sie wird entscheidend von einer guten Qualität auf allen institutionellen Ebenen der Institution positiv beeinflusst, d. h. von stimmigen Betreuungskonzepten, von ausreichenden materiellen und räumlichen Ressourcen, von gut ausgebildetem Personal und ebensolcher Leitung, von der selbstverständlichen Reflexion der Alltagserfahrungen und der Inanspruchnahme von Fachberatung und Supervision. Diese Rahmenbedingungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit systematisch, dass dem Kind vertraute, engagierte und Halt gebende Bezugspersonen zur Verfügung stehen und die Alltagsgestaltung seinen persönlichen und entwicklungsbedingten Bedürfnissen angepasst ist. 7. Sorgfältige Eingewöhnung und Bezugspersonensystem Kleinkinder unter 3 Jahren sind auf die ständige Anwesenheit einer vertrauten, verlässlichen und verfügbaren Bezugsperson angewiesen. Deren Fehlen löst beim Kind Überforderung und massive Ängste aus. Trotzdem ist die generelle Gleichsetzung von früher Trennungserfahrung mit Traumatisierung falsch. Eine frühe familienergänzende Betreuung kann im Gegenteil helfen, gute Erfahrungen im Umgang mit Trennung zu machen. Dafür müssen allerdings folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
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− In jedem Fall empfiehlt sich eine sorgfältige individuelle Beratung von Eltern und Kleinkind als Vorbereitung auf diese Erweiterung des familiären Bindungs- und Beziehungsraums. – Eltern sollten auf die Bedeutung von Trennungserfahrungen für ein kleines Kind hingewiesen werden und Anleitung für die Eingewöhnung und die Gestaltung der Übergaben erhalten. – Jedes Kind braucht in der Krippe seine persönliche Bezugsund Bindungsperson, die sich für sein Wohlbefinden und seine Entwicklung in der Krippe verantwortlich fühlt. – Gleichzeitig und mit Hilfe dieser neuen Bindungsbeziehung müssen Eltern und Kind sich im Rhythmus des Kindes mit der neuen örtlichen und sozialen Umgebung und ihren Abläufen vertraut machen können. – Damit Eltern und Erzieher sich der Eingewöhnung wirklich widmen können, müssen sie sicher sein können, dass auch Arbeitgeber, öffentliche Institutionen und die Trägerschaften der Krippen selbst die Bedeutung der Eingewöhnungszeit für das Kind und seine Eltern respektieren und verstehen. Eltern und Erzieherin tauschen sich in der Eingewöhnungszeit besonders intensiv über die Entwicklung des Kindes, seine Kontaktnahme mit der neuen Umgebung, über mögliche Ängste, Vorlieben, seine Stärken und Unsicherheiten aus. So lernen sie einander und auch das Kind kennen, erleichtern diesem die Orientierung und schaffen das Fundament für ihre zukünftige Kooperation. Unregelmäßige Aufenthalte oder eine zu geringe Aufenthaltsdauer (unter drei halben Tagen) verlängern nicht nur die Eingewöhnungszeit, sondern machen es dem Kind außerordentlich schwer, sowohl ein Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe wie eine tragfähige Beziehung zu seiner Bezugsperson aufzubauen. Die Abwesenheit der neuen Bindungsperson, ebenso wie Ferien oder Krankheit des Säuglings/Kleinkinds können ebenfalls sehr verunsichern und eine individuelle Wiedereingewöhnung erforderlich machen.
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8. Besondere Situationen bei der Eingewöhnung Bei der Eingewöhnung von Säuglingen genügt es nicht, die Trennung und damit verbundene Ängste in der Beziehung Eltern – Baby durch ein möglichst „korrektes“ Trennungs- bzw. Eingewöhnungsprozedere zu managen. Eine gut ausgebildete Krippenleiterin oder eine erfahrene Fachperson, welche die Eingewöhnung begleitet, sollte die Ängste der Eltern vor der Trennung, ihre Gefühle der Trauer, Konkurrenz und Schuld ebenso wie die entsprechenden bei der Erzieherin ausgelösten Gefühle auffangen, so dass die Verfassung des Babys und seine Bedürfnisse ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken können (mündliche Mitteilung: A. von Ditfurth, 2009).60 Auf diese Weise wird das Kind vor Überforderung und die Beziehung zwischen Eltern und Bezugsperson in der Krippe vor Missverständnissen geschützt, und die entstehende Vertrauensbeziehung zwischen Erziehern, Eltern und Kind wird gesichert. Kinder, die während der Eingewöhnungsphase bei der Trennung von Mutter oder Vater keine Signale von Angst und Stress äußern, erfordern besondere Aufmerksamkeit. Sie zeigen ein Trennungsverhalten, das einem vermeidenden Bindungsverhalten entspricht und meist mit großem Stress einhergeht, den das Kind nicht äußern und manchmal selber kaum wahrnehmen kann. Diese Situationen verlangen eine sorgfältige Arbeit mit den Eltern, um diesen die Notwendigkeit ihrer Anwesenheit in der Eingewöhnungsphase zu vermitteln und sie im Wissen um ihre Bedeutung für das Kind zu bestärken. Dass bereits Kleinkinder im zweiten Lebensjahr großes Inte resse an anderen Kindern zeigen,61 kann zu einer vordergründig schnellen Anpassung führen und über Trennungsängste hinwegtäuschen. Dann ist es wichtig, dass sich Eltern und Bezugspersonen in der Krippe auf „nachträgliche“ oder „verspätete“ Tren60 Anna von Ditfurth, Verlust und Trauer in Übergangssituationen begleiten, und Kinder 2009, S. 57 ff. 61 Celia A. Brownell/Geetha B. Ramani/Stephanie Zerwas, Becoming a Social Partner With Peers. Cooperation and Social Understanding in One- and Two-Year-Olds, Child Development 2006, S. 803 ff.
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nungsängste und Sicherheitsbedürfnisse des Kindes einstellen können. In der Phase der „Wiederannäherungskrise“ (ca. 18.– 20. Lebensmonat) kann die Eingewöhnung in die Krippe durch die dann oft heftigen Trennungsängste und Ambivalenzkonflikte in der Eltern-Kind-Beziehung erheblich erschwert oder gar verhindert werden. Es lohnt sich, entweder ein, zwei Monate mit der Eingewöhnung zu warten oder die Zeit für ein allmähliches Kennenlernen der Krippe durch häufige, aber kurze gemeinsame Aufenthalte von Kind und Mutter/Vater in der Krippe zu nutzen. Belastete Familien und Kinder mit besonderen Bedürfnissen sowie deren Bezugspersonen werden in der Eingewöhnungszeit in der Krippe von einer zusätzlichen Begleitung durch externe Fachpersonen profitieren. Erziehungsberatung, heilpädagogisches Wissen oder Supervision für das Erzieherteam können, je nach der Problematik des Kindes oder seiner Familie, bei der Gestaltung der neuen Beziehungen vor unangemessenen Erwartungen oder einer Wiederholung traumatischer früher Beziehungserfahrungen schützen. 9. Kooperation zwischen Eltern und ErzieherInnen Eltern brauchen mehr als nur Informationen über Abläufe der Krippenbetreuung. Sie sollen erfahren, an welchem Leitbild sich die Krippe orientiert und wie die Erziehungsstile von Elternhaus und Einrichtung verhandelt und aufeinander abgestimmt werden können. Entscheidend ist die Aufklärung der Eltern und des Personals darüber, dass Kind und Eltern in der Krippe langfristige, bedeutsame und prägende Beziehungen eingehen, die nicht beliebig abgebrochen werden können. Es ist deshalb auch wichtig, dass Krippen den Eltern gegenüber Gastfreundschaft signalisieren und ihnen auch einen Ort zum Verweilen zur Verfügung stellen. Im Alltag soll die Bezugsperson des Kindes auch die Hauptansprechpartnerin für die Eltern sein und diesen wenigstens bei der Begrüßung des Kindes am Morgen und – wenn es der Dienstplan ermöglicht – auch bei der Übergabe des Kindes zurück an die Eltern für Rückmeldungen und Informationen zur
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Verfügung stehen. Sie sollte zusammen mit dem Kind den abholenden Eltern von den Tagesgeschehnissen berichten können. Dies erleichtert es Eltern und Bezugspersonen, das Kind bei der Verarbeitung und Integration seiner Erfahrungen zu begleiten und an seinen wichtigen Entwicklungsschritten teilzuhaben. Auf jeden Fall müssen Eltern von Kleinkindern rechtzeitig über die Abwesenheit der vertrauten Bezugs- und Bindungsperson ihres Kindes informiert werden. Die enge Zusammenarbeit zwischen den Eltern und der Bezugsperson des Kindes bietet Raum, um die Freude am Kind zu teilen, Raum für die Beobachtung seiner Entwicklungsschritte und für seine frühen Beziehungserfahrungen in einem Gruppenkontext.62 Es gehört zu den Aufgaben einer erfahrenen und kompetenten Krippenleitung, eventuelle Spannungen, Ängste und Konkurrenz in der Beziehung zwischen Eltern und Bezugspersonen zu erkennen und aufzufangen oder, falls nötig, für eine geeignete Supervision zu sorgen. 10. Begleitung des Spiels und Anforderungen an die Gruppenpädagogik Spielen ist für die Entwicklung von Symbolisierungsfähigkeit, Sprache und kultureller Integration wichtig und trägt mit seiner adaptiven Funktion Wesentliches zur gesunden Entwicklung in der frühen Kindheit bei.63 Das vom Säugling und Kleinkind selbst initiierte Spiel ermöglicht es ihm, Erfahrungen zu vertiefen und zu integrieren.64 Erzieherinnen in Kindertagesstätten sollten daher frühkindliche Spielformen erkennen, respektieren (nicht 62 Ahnert, Bindungsbeziehungen außerhalb der Familie. Tagesbetreuung und Erzieherinnen-Kind-Bindung (Fn. 53). Fernanda Pedrina, Babys in Gruppen. Frühe Formen des sozialen Austauschs und ihr Beitrag für die kindliche Entwicklung, Kinderanalyse 2010, S. 28 ff. 63 Mechthild Papoušek/Alexander von Gontard (Hrsg.), Spiel und Kreativität in der frühen Kindheit, 2003. 64 Hanus Papoušek, Spiel in der Wiege der Menschheit, in: Papoušek/ Gontard (Hrsg.), Spiel und Kreativität in der frühen Kindheit, 2003, S. 17 ff.
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stören!), schützen und wo nötig unterstützen und anregen. Bereits kleine Kinder können sich – wenn auch erst für kurze Zeitspannen – konzentrieren und ins eigene Spiel vertiefen. Sie sind dafür jedoch auf einen sicheren Rahmen durch die Anwesenheit ihrer Vertrauenspersonen und auf ein klares Gruppensetting angewiesen. In der institutionellen Tagesbetreuung finden wichtige Erfahrungen sozialen Austauschs zum großen Teil in der Kindergruppe statt65: miteinander spielen, etwas voneinander lernen, streiten, kooperieren, erforschen. Bereits ganz kleine Kinder erfahren in einvernehmlichen wie in konflikthaften Situationen Wichtiges über sich selbst, die anderen und über soziale Beziehungen.66 Neben der Größe der Gruppe und der geeigneten Altersdurchmischung beeinflussen auch die Stabilität der Gruppe und der Umgang mit Veränderungen, d. h. eine entwicklungsförderliche Balance aus regelhaften Abläufen und kreativen Spielmöglichkeiten, das Wohlbefinden der Kinder. So gesehen stellt sich nicht nur die Frage, ob ein bestimmtes Kind bereit für die familienergänzende Betreuung ist, sondern auch, ob eine Kindergruppe zu diesem Zeitpunkt in der Lage ist, ein neues Mitglied aufzunehmen. Die Leitung einer Säuglings- und Kleinkindgruppe mit ihren mehrheitlich vorsprachlichen gruppendynamischen Prozessen ist anspruchsvoll und auf Reflexionsräume im Mitarbeiterteam oder in der Supervision angewiesen.67
65 Colwyn Trevarthen, Intrinsic motives for companionship in understanding. Their origin, development, and significance for infant mental health, Infant Mental Health Journal 2003, S. 95 ff.; Hellmann, Qualität in Krippen (Fn. 56). Hellmann/Schälin/Simoni/Nufer, Entwicklungsbedürfnisse von Kindern und die Gruppenstruktur in Krippen (Fn. 58). 66 Susanne Viernickel (Hrsg.), Spiel, Streit, Gemeinsamkeit. Einblicke in die soziale Kinderwelt der unter Zweijährigen, 2002; Heidi Simoni/ Judith Herren/Silvana Kappeler/Batya Licht, Frühe soziale Kompetenz unter Kindern, in: Malti/Perren (Hrsg.), Entwicklung und Förderung sozialer Kompetenzen in Kindheit und Adoleszenz, 2008, S. 15 ff. 67 Mellier, L’inconscient à la crèche (Fn. 57).
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11. Verlässliche Bindungsbeziehungen durch ausreichend gute und sinnvolle Strukturen Die Entwicklungsbedürfnisse und -aufgaben der Kinder, die Forschung in Kindertagesstätten und die Praxiserfahrung geben unmissverständliche Anhaltspunkte, wie die Betreuungsstrukturen gestaltet sein müssen, damit eine familienergänzende, institutionelle Kinderbetreuung nicht zum Risiko für die Entwicklung und seelische Gesundheit der Kinder wird. Zur sogenannten Strukturqualität gehören die Kindergruppengröße und -zusammensetzung, die Anzahl der Kinder pro Betreuungsperson (Betreuungsschlüssel), die räumliche, materielle Ausstattung der Einrichtung und die Arbeitsbedingungen. Eine gute Strukturqualität ist eine Voraussetzung für eine gute pädagogische Prozessqualität, garantiert sie jedoch nicht. Der richtige Betreuungsschlüssel hängt vom Alter der Kinder ab und davon, ob die Erzieherinnen zusätzliche Aufgaben außerhalb der Gruppe übernehmen. Er muss dem einzelnen Kind eine ausreichend sichere Basis und individuelle Begleitung in der Gruppe ermöglichen. Auf jeden Fall ist die ständige Anwesenheit einer ausgebildeten Erzieherin zu gewährleisten, welche die Kinder gut kennt und ihnen emotionale Sicherheit bieten kann, weil sie von den Kindern als Bindungsperson akzeptiert ist.68 Die GAIMH rät davon ab, in Krippen altershomogene Säuglingsgruppen einzurichten, mit dem Wunsch, dem Baby „Babyatmosphäre“ zu verschaffen und so die Ängste der Eltern zu beruhigen.69 Ein Wechsel von der Säuglingsgruppe in eine An68 Karl Heinz Brisch/Theodor Hellbrügge (Hrsg.), Wege zu sicheren Bindungen in Familie und Gesellschaft. Prävention, Beratung, Begleitung und Psychotherapie, 2009; Karl Heinz Brisch, Bindung, Psychopathologie und gesellschaftliche Entwicklungen, in: Brisch/Hellbrügge (Hrsg.), Wege zu sicheren Bindungen in Familie und Gesellschaft. Prävention, Begleitung, Beratung und Psychotherapie, 2009, S. 350 ff.; Karl Heinz Brisch, Die frühkindliche außerfamiliäre Betreuung von Säuglingen und Kleinstkindern aus der Perspektive der Säuglingsforschung, Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie (AKJP) 2009, S. 143 ff. 69 AJB (Hrsg.), Betreuung von bis 18 Monate alten Kindern in Krippen. Aspekte einer angemessenen Betreuung von Kleinstkindern. Bil-
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schlussgruppe würde einen Beziehungsabbruch nach sich ziehen, der in der sensiblen Phase des Identitäts- und Beziehungsaufbaus der ersten Lebensjahre irritierend und belastend für die Kinder und die ErzieherInnen ist. Ein Praxisbeispiel: Eine Erzieherin, die mit einer Säuglingsgruppe arbeitet, fragt auf einer Fortbildungsveranstaltung, was sie falsch mache: Die Kleinkinder, mit denen sie eine Bindungsbeziehung aufgebaut hatte, als sie Säuglinge waren, und die mit 18 Monaten wie üblich in eine Anschlussgruppe kamen, rennen noch jetzt, als Dreijährige, bei Sichtkontakt auf sie zu, klammern sich an sie und wollen nicht zurück zu ihrer „neuen“ Gruppe. Altershomogene Gruppen mit Säuglingen laufen Gefahr, die Entwicklung der Kleinkinder und die Entwicklungsperspektive der Erzieherinnen einzuschränken, während altersgemischte Gruppen vielfältige Erfahrungen für alle ermöglichen. Selbstverständlich muss konzeptuell und alltäglich auf die individuellen und altersspezifischen Bedürfnisse der Kinder sorgsam geachtet werden. Nicht nur Babys, auch die größeren Kinder müssen vor Reizüberflutung und Überforderung, ebenso wir vor Monotonie, Langeweile und Unterforderung geschützt werden. 12. Verlässliche Bindungsbeziehungen durch eine hohe Professionalität Als Dreh- und Angelpunkt der verschiedenen Qualitätsdimensionen erweist sich das professionelle Niveau von Betreuungspersonen. Dabei scheinen Aus- und Weiterbildung der pädagogischen Fachkräfte im gleichen Maße bedeutsam zu sein wie die Kompetenz und Stringenz, mit der das pädagogische Team seine Arbeit reflektiert. „Jungen Mädchen seine Kinder anzuvertrauen war damals ein Unerhörtes, und der wichtige Posten einer Kinderfrau wurde nur von erfahrenen Personen ausgefüllt, die nachmals, wie unsedungsdirektion Kanton Zürich, Amt für Jugend- und Berufsberatung AJB, 2003; Hellmann/Schälin/Simoni/Nufer, Entwicklungsbedürfnisse von Kindern und die Gruppenstruktur in Krippen (Fn. 58).
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re Kasche eben auch, als Glieder der Familie, der sie treu gedient hatten, bis an ihr Ende in Ehren gehalten wurden“.70 Um den vielschichtigen und anstrengenden Aufgaben gerecht zu werden und nicht in kurzer Zeit auszubrennen, brauchen pädagogische Fachkräfte, die kleine Kinder betreuen, grundlegende Kenntnisse in der Entwicklungspsychologie der frühen Kindheit, in frühkindlicher Pädagogik und familienergänzender Betreuung sowie in Gruppenpädagogik und Elternarbeit nach den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Insbesondere Erzieherinnen von Kleinkindern sollten mit der Bindungstheorie so weit vertraut sein, dass sie Bindungsbedürfnisse und Signale nach Hilfe bei der Regulation von Affekten sowie Vermeidungsverhalten von kleinen Kindern erkennen und adäquat darauf reagieren können.71 Die Ausbildung von pädagogischen Fachkräften muss nicht zuletzt deshalb praxisbegleitend eine Selbsterfahrung ermöglichen, weil die Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern nicht verarbeitete, belastende Kindheitserfahrungen und Traumatisierungen reaktivieren kann. Wenn diese Prozesse und die entsprechenden Gefühle nicht reflektiert werden, können sie den Kindern, ihren Eltern und den Erziehern schaden.72 Neben dem Erfüllen der umfangreichen organisatorischen und betriebswirtschaftlichen Anforderungen ist es die Aufgabe der Leitung, zusammen mit den einzelnen Gruppenteams eine anregende, tragfähige und zuversichtliche Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Kinder mit ihren Familien willkommen und innerhalb ihrer Gruppen wohlfühlen. Die Leitung einer Krippe 70 Jürgen
Schlumbohn (Hrsg.), Kinderstuben, dtv, 1983. SAFE®-Programm (Brisch 2007) wird jetzt in einer Spezialvariante für Erzieherinnen, insbesondere Krippenerzieherinnen, angeboten, damit diese es für die Arbeit mit Eltern und Säuglingen anwenden können (www.safe-programm.de). 72 Maria Mögel, Fallsupervision als Teamentwicklung mit einem Krippenteam, IEF Zürich, 2006 (Unveröffentlichte Diplomarbeit); Brisch, Die frühkindliche außerfamiliäre Betreuung von Säuglingen und Kleinstkindern aus der Perspektive der Säuglingsforschung (Fn. 68). 71 Das
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ist für die Qualität des Managements73 ebenso wie für das Management der Qualität verantwortlich. Deshalb gehören zur Ausbildung von Leitungskräften auch die Vertiefung pädagogischer Kenntnisse sowie eine Selbsterfahrung als Grundvoraussetzung für eine beziehungs- und bindungsorientierte Arbeit mit dem Team, mit den anvertrauten Kindern und mit deren Eltern. In der Aus- und Weiterbildung für Leitungskräfte muss außerdem berücksichtigt werden, dass es zu den Aufgaben einer kompetenten Krippenleitung gehört, frühe Gefährdungen der seelischen Entwicklung, Situationen, in denen es um den Schutz des Kindes geht, sowohl in der Institution selbst wie in der Herkunftsfamilie der Kinder zu erkennen und geeignete Hilfen einzuholen. Zur Professionalität gehören Methoden zur Sicherung der pädagogischen Prozessqualität im Praxisalltag, wie etwa die Dokumentation der pädagogischen Arbeit, Kinderbesprechungen, Supervision und vernetztes interdisziplinäres Arbeiten im Team, mit den Eltern und bei Bedarf mit Fachkräften außerhalb der eigenen Institution. Neben Instrumenten zur Erfassung und Beschreibung individueller Entwicklungsprofile der Kinder (z. B. „Beller Tabellen“, Beller 2000/2005)74 stehen zeitgemäße Verfahren zur systematischen Beobachtung, Dokumentation und Kommunikation von kindlichen Entwicklungs- und Bildungsprozessen zur Verfügung.75 73 EKFF (Hrsg.), Familien- und schulergänzende Kinderbetreuung. Eine Bestandsaufnahme der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen. EKFF – Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen, 2009. 74 E. Kuno Beller/Simone Beller, Kuno Bellers Entwicklungstabelle. Modifizierte Fassung vom Juli 2000, 5. Aufl. 2005. 75 Helen May/Margaret Carr/Val Podmore, Te Whäriki. Neuseelands frühpädagogisches Curriculum 1991–2000, in: Fthenakis/Oberhueme (Hrsg.), Frühpädagogik international. Bildungsqualität im Blickpunkt, 2004, S. 175 ff.; Hans-Joachim Laewen/Beate Andres, Das infans-Konzept der Frühpädagogik, in: Neuss (Hrsg.), Bildung und Lerngeschichten im Kindergarten. Konzepte – Methoden – Beispiele, 2007, S. 73 ff.; Hans R. Leu/Katja Flämig, Bildungs- und Lerngeschichten – ein Pro-
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13. Kinder und Familien mit besonderen Bedürfnissen Eine qualitativ gute institutionelle Tagesbetreuung hat eine präventive Wirkung auf die Entwicklungschancen aller Kinder, denn sie erlaubt Zugehörigkeit. Für Kinder und Familien mit besonderen Bedürfnissen bieten soziale Vernetzung und die Zugehörigkeit zu Peers die Chance auf eine möglichst gesunde Entwicklung. Ihre Integration in Krippen ist jedoch mit Herausforderungen verbunden, die im Folgenden dargestellt werden sollen. 14. Kleinkinder mit Migrationshintergrund: Die Krippe als Übergangsort zwischen Familie und Umgebungskultur Die familienergänzende Betreuung kann – je nach den strukturellen Gegebenheiten der Herkunftskultur – bei der späteren schulischen Integration von Kindern mit einem Migrationshintergrund eine positive Rolle spielen.76 Eine Voraussetzung für die gelingende familienergänzende Betreuung von Kleinkindern ist die Wertschätzung gegenüber der Herkunftskultur der Familie, die auch im Krippenalltag ihren Ausdruck findet, wenn Lieder aus beiden Kulturkreisen gelernt, bedeutungsvolle Feste und gemeinsame kulturelle Ereignisse gefeiert werden. Die Beteiligung von Kulturvermittlern, aber auch die Verankerung der Krippe im Stadtteil/Quartier schlägt Brücken zwischen der Lebenswelt der Familie des Kindes und der Krippe. Integration basiert auf vertrauensvollen Beziehungen, in denen eine kultur übergreifende gemeinsame Perspektive für das Kind und seine Entwicklungsbedürfnisse geschaffen wird. Im Rahmen der familienergänzenden Betreuung kann so ein transitorischer Raum jekt des Deutschen Jugendinstituts, in: Neuss (Hrsg.), Bildung und Lerngeschichten im Kindergarten. Konzepte – Methoden – Beispiele, 2007, S. 55 ff. 76 Andreas Lanfranchi, Zusammenarbeit mit den Eltern. Zentrales Element für den Schulerfolg von Migrantenkindern, in: Ochsner/Kenny/Sieber (Hrsg.), Vom Störfall zum Normalfall. Kulturelle Vielfalt in der Schule, 2000, S. 183 ff.
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entstehen, in dem Zugehörigkeit zu den Normen und Chancen der Umgebungskultur vermittelt und die Festschreibung auf stereotype Kulturmerkmale vermindert wird.77 In der Phase der Eingewöhnung können die Trennungsängste von Kind und Eltern durch die familiale Migrationserfahrung von Verlust und Fremdheit besonders heftig und in ihrer Weise dem Krippenpersonal unverständlich sein. Kulturunterschiede können die Wahrnehmung „normaler“ Entwicklungskrisen oder individueller Entwicklungsbedürfnisse erschweren. Krippen brauchen deshalb ein Konzept zur Integration kultureller Vielfalt und zusätzliche Ressourcen für eine partizipative Eltern arbeit, z. B. mit Kulturvermittlern oder für Vernetzungen mit weiteren relevanten Institutionen. 15. Kleinkinder aus Familien mit Risikokonstellationen: Förderung und Wertschätzung Kinder aus risikobelasteten Familien erleben zusammen mit ihren Eltern häufig Stress, Beziehungsabbrüche, Umgebungswechsel und soziale Entwertung.78, 79 Für viele dieser Kinder ist die familienergänzende Betreuung eine notwendige Korrektur dieser familiären und sozialen Erfahrungen. In der Krippenbetreuung erleben sie Anregung, Schutz vor Vernachlässigung und soziale Integration. Die institutionelle Betreuung entlastet die Eltern-Kind-Beziehung, indem sie eine soziale und ökonomische Integration der Familie unterstützt und die Erziehungskompetenz der Eltern fördert. Sie wirkt dadurch Vernachlässigung und den Risikofaktoren für Misshandlung entgegen. Im Rahmen einer tragfähigen 77 May/Carr/Podmore, Te Whäriki. Neuseelands frühpädagogisches Curriculum, 1991–2000 (Fn. 75). 78 Zur Wirkung sozialer Benachteiligung vgl. auch die Ergebnisse der KiGGs Studie in Deutschland, z. B: Schlack, Umweltmedizin in Forschung und Praxis, 2008, S. 245 ff. 79 Sabine Walper, Armut und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern, in: Schlippe/Lösche/Hewellek (Hrsg.), Frühkind liche Lebenswelten und Erziehungsberatung, 2001, S. 151 ff.
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interdisziplinären Zusammenarbeit mit weiteren Fachstellen und mit einer klaren Fallführung kann die hochfrequente Betreuung des Kindes in einer Krippe u. U. eine Alternative zur Fremdunterbringung sein und damit die Ressourcen der Eltern-Kind-Beziehung würdigen. In der Betreuung von Kindern aus Familien mit Risikokonstellationen kann sich die Elternarbeit für das Krippenpersonal als besondere Herausforderung erweisen, da die Eltern oft selbst nur ungenügende förderliche soziale Erfahrungen gemacht haben. Ratschläge, Erfolge des Kindes in der Krippe oder Meinungsverschiedenheiten können von den Eltern als Entwertung erlebt und mit Rückzug aus der Beziehung beantwortet werden. Gefährdungen des Kindeswohls und die damit verbundenen Konflikte zwischen Familie und Institution sind in der Betreuung dieser Kinder und ihrer Familien häufig. Zur Handhabung dieser komplexen und verantwortungsvollen Situationen ist die Krippenleitung auf eine gute interdisziplinäre Vernetzung mit Einrichtungen der Jugendhilfe, auf spezifische Kenntnisse und ein pädagogisches Konzept angewiesen. Dieses sollte das Vorgehen, die Grenzen und Möglichkeiten der Institution definieren und vom Träger der Krippe und dem Team mitgetragen werden. Das folgende Praxisbeispiel zeigt, unter welchen Voraussetzungen Krippen die Erfordernisse von Risikobelastungen in ihr Konzept und Angebot integrieren können. In Deutschland kann die Wahlfreiheit zwischen Betreuungsgeld und bezahlter Krippe, obwohl gut gemeint, zur Konkurrenz für eine gute institutionelle Betreuung der Kinder werden, die sie und ihre Eltern entlastet und beider Kompetenzen fördert. 16. Kleinkinder aus Familien mit psychischen Belastungen: Kontinuität im Alltag Die emotionalen und sozialen Aufgaben der Elternschaft in der frühen Kindheit können psychisch kranke Eltern, die oft als Alleinerziehende zusätzlich herausgefordert sind, besonders belasten. Dadurch wird das Risiko für Stress und Unsicherheit in der Eltern-Kind-Beziehung deutlich erhöht. Die psychosoziale Unterstützung der Familie und ihre Einbettung in ein Netzwerk
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zeigen dagegen eine protektive Wirkung. Die familienergänzende Betreuung sollte diesen Eltern und ihren Kindern daher Gelegenheit zur Entlastung und für alternative Beziehungserfahrungen bieten. Damit die geteilte Betreuung für die Kinder und ihre Eltern zu einer stärkenden Beziehungserfahrung werden kann, muss in solchen Betreuungssettings in besonderem Maße auf die Konstanz in den Beziehungen zu den Betreuern und auch zur Kindergruppe und der Institution als Ganzes geachtet werden. Phänomene wie ein desorganisiertes Bindungsverhalten des Kindes oder unverständliches und impulsives Verhalten der Eltern können den Krippenalltag belasten. Doch auch die Kinder und ihre Eltern müssen vor einer Überflutung mit Ängsten oder Projektionen durch das Umfeld geschützt werden. Supervision und Selbsterfahrung sind deshalb zur Begleitung solcher verletzlichen Familien auch für gut ausgebildete Erzieherinnen und eine erfahrene Krippenleitung unverzichtbare Instrumente. Sie geben Orientierung im pädagogischen Handeln, helfen, entwicklungsgefährdende Situationen zu erkennen, die genauere Abklärung verlangen, und unterstützen die anspruchsvolle Elternarbeit sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit psychotherapeutischen und anderen Fachstellen. 17. Kinder mit besonderen Entwicklungsbedürfnissen: Anregung und Integration Kinder mit besonderen Entwicklungsrisiken profitieren – sofern es ihr gesundheitlicher Zustand erlaubt und sie in heilpädagogischen Einrichtungen unterfordert wären – in der Krippe von den pädagogischen Anregungen und altersnahen Peers, wenn die Kinder und die Gruppe, in der sie integriert sind, vor Reizüberflutung geschützt werden. Eine solche Integration ist aber nur mit einer zusätzlichen personellen Ausstattung der Tageseinrichtungen durch weitere erzieherische Fachkräfte möglich. Voraussetzung hierfür ist ein System von interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Frühförderstellen, Erziehungsberatung und (kinder-) psychotherapeutischen Fachstellen, in das die Krippe je nach den individuellen Bedürfnissen des Kindes und seiner Familie eingebunden ist. Entsprechende personelle Ressourcen müssten den
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Tageseinrichtungen entsprechend der Meldung ihres Bedarfs zur Verfügung gestellt werden. 18. Prävention: Kompensatorische Betreuung als Chance Die Bereitstellung von allen Familien zugänglichen, guten familienergänzenden Betreuungsangeboten für Säuglinge und Kleinkinder ist ein wesentlicher Beitrag zur primären und sekundären Prävention von Misshandlung und Vernachlässigung. Als Praxisbeispiel für ein beeindruckendes Angebot, das Entlastung für die Eltern, Förderung für das Kind und Integrationshilfe für die ganze Familie beinhaltet, sei hier auf das Programm „Early Head Start“ für Multi-Risikofamilien in den USA verwiesen. Die oft adoleszenten, alleinerziehenden Mütter werden zur Unterstützung der Mutter-Kind-Beziehung mit in das Setting der Krippe integriert. So finden z. B. neben der Begleitung von Mutter und Kind auch Gruppenaktivitäten der Mütter und Abendveranstaltungen mit den Vätern statt. Die Krippenbetreuung ist dabei ein Baustein in einem Gesamtkonzept mit professionellen sozialen Hilfen bei der Betreuung weiterer Familien zur Integration dieser jungen Familien.80 Für Eltern mit Mehrfachbelastungen und Kinder mit besonderen Bedürfnissen bietet die sorgfältige Betreuung in Tageseinrichtungen zusätzliche Entwicklungschancen und Entlastung, wenn der Förderbedarf des Kindes oder die Integrationsbedürfnisse der Familie mit den entsprechenden personellen, konzeptuellen und materiellen Ressourcen und der notwendigen interdisziplinären Vernetzung beantwortet werden. Die Integration von Eltern und Kindern mit besonderem Unterstützungsbedarf in bestehende familienergänzende Einrichtungen ohne zusätzliche Ressourcen (Personal, Schulung, Gruppengröße und Ressourcen für die konzeptuelle Arbeit) oder die 80 Supporting Infants and Toddlers in the Child Welfare System. The Hope of Early Head Start, Technical Assistance Paper No. 9, U.S. Department of Health and Human Services 2005, im Internet abrufbar unter: http://ehsnrc.org/PDFfiles/TA9.pdf.
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gezielte Schaffung von Einrichtungen mit einer Selektion von nur hochbelasteten Familien und Kindern, ohne dass weitere Mittel zur Förderung der Integration der Kinder und ihrer Familien zur Verfügung stünden, wird von der GAIMH als nicht entwicklungsfördernd und für die Kinder schädlich abgelehnt. 19. Qualität der Fremdbetreuung in Deutschland: die NUBBEK-Studie In einer großen, sehr differenzierten, repräsentativen Studie zur Qualität der frühen Fremdbetreuung wurden viele verschiedene Settings der Fremdbetreuung in Deutschland untersucht. Diese Studie umfasste z. B. Krippen für Kinder im Alter von 0–3 Jahren, Tagespflege, und auch gemischte Gruppen mit einer Altersspanne von 0–6 Jahren, sowie auch Kindergärten für Kinder im Altern von 3–6 Jahren. Die Ergebnisse zeigen, dass nur ein sehr kleiner Prozentsatz von ca. 6 % der Krippen die Kriterien einer sehr guten Krippenbetreuung für den Altersbereich 0–3 Jahren erfüllte. Besonders schlecht schnitten altersgemischte Settings ab, denn hier erhielten nur 0,8–1,6 % eine Gesamtwertung von gute bis ausgezeichnete Qualität. Dagegen waren ca. 7 % der untersuchten Krippen und Tagespflegeeinrichtungen von ganz unzureichender Qualität und im Bereich der akuten Kindeswohlgefährdung. Die große Mehrheit der Krippen (ca. 87 %) war zwar durch eine „mittlere“ Qualität gekennzeichnet, allerdings reicht diese sog. mittlere Qualität nicht aus, um eine gesunde Entwicklung von Kindern bedenkenlos auf den Weg zu bringen und Kinder entsprechend ihren Entwicklungsvoraussetzungen zu betreuen und pädagogisch zu fördern. Dies bedeutet im Fazit, dass die allermeisten Krippen und Tagespflegesettings keine entwicklungsfördernde Qualität für Säuglinge und Kleinkinder zu Verfügung stellen, sondern teilweise durch deprivatorische Kennzeichen geprägt waren. Da inzwischen eine sehr große Anzahl von Kindern – teilweise je nach Bundesland 40 % und mehr aller Säuglinge und Kleinkinder im Alter von 0–3 Jahren – in Krippen und Tagespflegebetreuung versorgt werden, die für die Förderung und die gesunde Entwicklung dieser Kinder keine ausreichende Qualität
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aufweisen. Diese Befunde sind für Deutschland repräsentativ! Aus diesem Grunde ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren viel mehr Kinder als bisher schon im Kindergartenalter wegen emotionaler und sozialer Verhaltensstörungen auffallen werden. Da es nicht genügend ambulante Behandlungsplätze, etwa für Kinderpsychotherapie, gibt, werden viele dieser Kinder ohne Behandlung in das Schulalter wechseln; im schlimmsten Fall wird ihre Störung so gravierend sein, dass diese Kinder – ohne psychopharmakologische Dauerbehandlung – nicht beschulbar sein werden. Bis heute wissen wir aber noch nicht, wie sich die Langzeitgabe von Psychopharmaka auf das sich entwickelnde und reifende Gehirn dieser dann 6–10-jährigen Kinder auswirken wird. Zeigen die Gehirne dieser Kinder vermutlich schon im Kindergartenalter Reifungsdefizite, die in den Verhaltensstörungen zum Ausdruck kommen, so könnten diese Defizite im Schulalter – ohne Psychotherapie – noch größer werden, denn eine psychopharmakologische Behandlung unterdrückt die Verhaltenssymptome dieser Kinder, fördert aber die neuronalen Reifungsprozesse nicht. Kinder mit einem Migrationshintergrund und/oder emotional und sozial sehr belasteten Eltern werden eine besondere Form der Fremdbetreuung benötigen, da sie in der Regel besonders vulnerabel für ihre weitere Entwicklung sind. Hier wird die Qualität des Angebotes der Fremdbetreuung, die Ausbildung der ErzieherInnen, die kontinuierliche Supervision sowie ein niedriger Betreuungsschlüssel Erzieherin zu Kind von 1:2 von besonders großer Bedeutung sein. Andernfalls werden sich die negativen Folgen einer schlechten Qualität der Fremdbetreuung gerade bei diesen Kindern noch gravierender auswirken.81
81 Wolfgang Tietze/Fabienne Becker-Stoll/Joachim Bensel/Andrea Eck hardt/Gabriele Haug-Schnabel/Bernhard Kalicki/Heidi Keller, Heidi/ Birgit Leyendecker (Hrsg.), Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit (NUBBEK), 2013.
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V. Prävention Es wäre wünschenswert, dass Kinder in der Beziehung mit ihren leiblichen Eltern keine traumatischen Erfahrungen machten und es nicht mehr nötig wäre, Kinder aus ihren Ursprungsfamilien herauszunehmen. Viele Eltern, die ihre Kinder traumatisieren, haben selbst in unterschiedlichem Ausmaß schwerwiegende Formen von Gewalt erlebt und haben sich geschworen, ihren Kindern nie anzutun, was sie selbst schmerzlich erlebt haben. Die Realität zeigt aber, dass unverarbeitete Traumaerfahrungen der Eltern mit den eigenen Kindern reinszeniert und auf diese Weise von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die Kinder selbst können traumatische Erfahrungen bei ihren Eltern „triggern“ und die Eltern auf diese Weise etwa dazu bringen, erneut – entgegen besseren bewussten Vorsätzen – gewalttätig zu werden. Insbesondere sollten sich Angebote der Fremdbetreuung von Säuglingen und Kleinkindern durch die allerhöchste Qualität auszeichnen. Aus diesem Grund haben wir mit einem Präventionsprojekt SAFE – Sichere Ausbildung für Eltern – begonnen, das Eltern ab der 20. Schwangerschaftswoche und bis zum Ende des ersten Lebensjahres ihres Kindes in Gruppen begleitet. Ziel dieser Gruppen ist es, dass die Eltern unterstützt werden und lernen sollen, eine sichere Bindungsentwicklung ihres Kindes zu fördern. Weiterhin werden Eltern mit traumatischen Vorerfahrungen einzelpsychotherapeutisch betreut, damit sie ihre schmerzlichen Erfahrungen verarbeiten können und diese nicht an ihre Kinder weitergeben. Somit ist SAFE ein Projekt zur Förderung einer sicheren Bindungsentwicklung von Kindern und zur Vorbeugung gegen deren Traumatisierungen, wie die Ergebnisse unserer Längsschnittstudie zeigen.82 Dieses Programm wird auch als ein spezielles Schulungsprogramm „SAFE – Sichere Ausbildung für ErzieherInnen und Eltern in Krippen“ erfolgreich 82 Isabelle Walter/Swinde Landers/Julia Quehenberger/Elizabeth Carlson/Karl Heinz Brisch, The efficacy of the attachment-based prevention program SAFE®. A randomized control trial including mothers and fathers, Attachment and Human Development, im Druck.
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durchgeführt, um auf diese Weise die Ressourcen zu nutzen, die in einer bindungssicheren frühen Fremdbetreuung – besonders von Risikokindern – liegen können, und um die Risiken durch Qualitätsmängel und die Fremdbetreuung an sich zu verringern, oder im besten Fall sogar diesen als Ressource entgegen zu wirken. VI. Ausblick Die Bindungstheorie ist sehr gut geeignet, um den Aufbau von gesunden Bindungsbeziehungen zu erklären und zu beschreiben. Gleichzeitig kann aber auch die Entwicklung von Bindungsstörungen diagnostiziert und als Folge von traumatischen Erfahrungen – besonders auch durch emotionale Vernachlässigung – in Bindungsbeziehungen, wie etwa mit leiblichen Eltern oder mit ErzieherInnen und Tagesmüttern/-vätern in der Fremdbetreuung, erklärt werden. Die Traumatisierung eines Kindes besonders im Säuglingsund Kleinkindalter durch Bindungspersonen – etwa auch durch emotionale Vernachlässigung während seiner Fremdbetreuung – bedeutet immer auch eine Gefährdung des Kindeswohls, so dass die Herausnahme eines Kindes aus einem solchen Lebenskontext und seine Versorgung durch feinfühlige Bindungspersonen immer eine Maßnahme zum Schutz des Kindes darstellt, die ihm, entsprechend der Bindungstheorie, in der Regel neue äußere sowie innere emotionale Sicherheit gibt. Es wäre wünschenswert, dass alle Maßnahmen und Entscheidungen zum Wohle des Kindes eine eindeutige Orientierung an der Bindungstheorie nähmen. Hierzu sollte ein kontinuierliches, externes Qualitätsmonitoring in allen (!) Einrichtungen der Frühbetreuung der vom Staat geforderte und auch finanzierte Standard werden. In diesem Beitrag wurde das Entwicklungsrecht des Kindes auf eine sichere emotionale Bindung und damit auf eine gesunde körperliche und emotionale Entwicklung somit sehr hoch bewertet. Kinder als die eindeutig Schwächsten haben ein primäres und übergeordnetes Recht auf Schutz und auf einen „sicheren
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emotionalen Hafen“ durch Bindungspersonen sowie auf die allerbeste Qualität der Betreuung in jeder Beziehung, damit sie sich besonders in ihren frühen Jahren während der entscheidenden Reifungs- und Vernetzungsprozesse des kindlichen Gehirns im Alter von 0–3 Jahren gesund entwickeln können.
Die Bedürfnisse der frühen Kindheit. Staatliches Nudging bei der Kleinkindbetreuung und die Grenzen des Rechts Von Christian Winterhoff I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 II. Was ist Nudging? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 III. Anwendungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Nudging: Anwendungsbeispiele aus der Erwachsenenwelt 109 2. Nudging: Anwendungsbeispiele aus dem Bereich der Betreuung von Klein- und Vorschulkindern . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Eltern als Zielgruppe staatlichen Nudgings . . . . . . . . . . 111 b) Kinder als Zielgruppe staatlichen Nudgings . . . . . . . . . 116 IV. Rechtlicher Rahmen für staatliches Nudging . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Allgemeine Rechtmäßigkeitsanforderungen . . . . . . . . . . . . . 118 a) Formelle Rechtmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Materielle Rechtmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Rechtmäßigkeit von Nudging im Bereich der Betreuung von Klein- und Vorschulkindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 a) Eltern als Zielgruppe staatlichen Nudgings . . . . . . . . . . 121 b) Kinder als Zielgruppe staatlichen Nudgings . . . . . . . . . 124 V. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
I. Einleitung Bundesgesundheitsminister Spahn hat Anfang September 2018 eine Debatte zum Thema Organspende initiiert. Nach bisheriger Rechtslage ist eine Organentnahme nur zulässig, wenn der Organspender oder dessen nächster Angehöriger der Organentnahme zustimmt.1 Dieser Regelungsansatz wird als Zustimmungslö1 Vgl. im Einzelnen §§ 3, 4 des Gesetzes über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen und Geweben (Transplantationsgesetz – TPG) vom 4. September 2007, BGBl. I S. 2206.
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sung bezeichnet. Der Minister plädiert dafür, stattdessen die sog. Widerspruchslösung einzuführen. Danach wäre eine Organentnahme künftig auch ohne Zustimmung des Spenders bzw. nächsten Angehörigen erlaubt. Rechtswidrig wäre die Organentnahme nur dann, wenn entweder der Spender selbst oder der nächste Angehörige widerspricht (sog. doppelte Widerspruchslösung).2 Der geneigte Leser wird sich nun fragen: Was hat das mit dem Thema dieses Beitrags zu tun? Dieser soll doch von staatlichem Nudging bei der Kleinkindbetreuung und den Grenzen des Rechts handeln, und nicht das durchaus komplexe Thema Organspende betreffen. Letzteres ist zwar richtig, gleichwohl sind wir aber schon in medias res. Denn die von Bundesminister Spahn angeregte Widerspruchslösung ist eine Form staatlichen Nudgings. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, soll zu Beginn der Ausführungen zunächst ganz allgemein das Konzept des Nudging vorgestellt werden (II.). Danach werden, damit der theoretische Ansatz des Nudging anschaulicher wird, einige Anwendungsbeispiele aus der Erwachsenenwelt wie auch aus dem Bereich der Kinder- und Kleinkindbetreuung präsentiert (III.). Im Anschluss daran werden der rechtliche Rahmen und die rechtlichen Grenzen für staatliches Nudging insbesondere im Bereich der Kleinkindbetreuung aufgezeigt (IV.), bevor der Beitrag mit einem Resümee über die gewonnenen Erkenntnisse endet (V.). II. Was ist Nudging? Zunächst also zu der Frage: Was ist eigentlich Nudging? Nudging bedeutet wörtlich übersetzt „anstoßen“, „anstupsen“ bzw. „sanft schubsen“. Es geht darum, Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen, ihnen gewissermaßen einen Stups in die richtige Richtung zu geben.3 Das Konzept des Nudging
2 Vgl. etwa Jens Spahn, Organspende – eine nationale Aufgabe, im Internet abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gastbeitrag-von-gesundheitsminister-jens-spahn-zur-organspende-157730 53.html.
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beruht dabei auf der 3Grundannahme, dass Menschen häufig verfehlte Entscheidungen treffen und ihnen deswegen dabei geholfen werden sollte, Fehlentscheidungen zu vermeiden. Der Begriff des Nudging wurde maßgeblich geprägt durch den amerikanischen Professor für Verhaltensökonomie Richard H. Thaler, der für seine Theorie im Jahr 2017 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekommen hat,4 und durch den amerikanischen Rechtswissenschaftler Cass R. Sunstein. Thaler und Sunstein beschreiben die Situation, von der der Nudging-Ansatz ausgeht, in ihrem im Jahr 2008 erschienenen Buch „Nudging – wie man kluge Entscheidungen anstößt“ dahingehend, dass „Menschen in vielen Situationen ziemlich schlechte Entscheidungen treffen – Entscheidungen, die sie nicht treffen würden, wenn sie richtig aufgepasst hätten, umfassend informiert wären und unbegrenzte kognitive Fähigkeiten sowie absolute Selbstkontrolle besäßen“.5 3 Vgl. einführend zum Konzept des Nudging aus der nichtjuristischen Literatur außer dem Wikipedia-Artikel zum Stichwort Nudge (https://de.wikipedia.org/wiki/Nudge) etwa Stefan Piasecki, „Schubs mich nicht!“ – Nudging als politisches Gestaltungsmittel, im Internet abrufbar unter: https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/ 258946/schubs-mich-nicht-nudging-als-politisches-gestaltungsmittel; Nico Kuhlmann, Der sanfte staatliche Schubs in die „richtige“ Richtung, in Legal Tribune Online vom 20. Januar 2015, im Internet abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/nudging-regierung-mer kel-verhaltenskonomie-rechtsschutz/; Kathrin Burger, Nur ein kleiner Anstoß, TAZ vom 23. August 2016, im Internet abrufbar unter: http:// www.taz.de/!5326067/. 4 Vgl. etwa den Bericht der F.A.Z. „Wirtschaftsnobelpreis geht an Richard Thaler“, vom 9. Oktober 2017, im Internet abrufbar unter: http:// www.faz.net/aktuell/wissen/nobelpreise/wirtschaftsnobelpreis-geht-anrichard-thaler-15238055.html. 5 Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein, Nudging – wie man kluge Entscheidungen anstößt, 12. Aufl. 2017, S. 15; eine Übersicht über systematische Fehler und Urteilsverzerrungen bei der menschlichen Entscheidungsfindung („biases“) findet sich u. a. bei Kai Purnhagen/Lucia Reisch, „Nudging Germany“? Herausforderungen für eine verhaltensbasierte Regulierung in Deutschland, ZEuP 2016, S. 629 ff. (637 f.); Franziska Weber/Hans-Bernd Schäfer, „Nudging“, ein Spross der Verhaltens ökonomie, Der Staat 2017, S. 561 ff. (569 ff.).
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Der normale Mensch denke nicht wie Albert Einstein, speichere Informationen nicht wie IBMs Supercomputer Big Blue und habe keine Willenskraft wie Mahatma Gandhi: „Echte Menschen haben ohne Taschenrechner Schwierigkeiten mit der Division, vergessen manchmal den Geburtstag ihres Ehepartners und haben am Neujahrsmorgen einen Kater.“6
Aus diesem Grunde sei es legitim, „das Verhalten der Menschen zu beeinflussen, um ihr Leben länger, gesünder und besser zu machen. Anders gesagt, wir sind dafür, dass private Institutionen, Behörden und Regierungen bewusst versuchen, die Entscheidungen der Menschen so zu lenken, dass sie hinterher besser dastehen – und zwar gemessen an ihren eigenen Maßstäben“.7
Besondere Bedeutung kommt im Rahmen dieser Konzeption sog. Entscheidungsarchitekten zu, also Menschen, die das Umfeld organisieren, in dem andere Menschen Entscheidungen treffen. Solche Entscheidungsarchitekten können im privaten Bereich tätig sein (z. B. der Arbeitgeber), ebenso kann es sich aber auch um den Staat handeln, der dem Einzelnen ein bestimmtes Tableau an Entscheidungsbedingungen vorgibt.8 Vor diesem Hintergrund definieren Thaler und Sunstein den Begriff des Nudge wie folgt: „Unter Nudge verstehen wir (…) alle Maßnahmen, mit denen Entscheidungsarchitekten das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern können, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen oder wirtschaftliche Anreize stark zu verändern. Ein Nudge muss zugleich leicht und ohne großen Aufwand zu umgehen sein. Er ist nur ein Anstoß, keine Anordnung.“9
Wie sich in diesem Zitat widerspiegelt, ist die Methode des Nudging mit dem Ansatz eines libertären Paternalismus verknüpft. Während das Nomen Paternalismus dabei die verhaltensbeeinflussende Wirkung des Nudging in den Blick nimmt, Thaler/Sunstein, Nudging (Fn. 5), S. 16. Thaler/Sunstein, ebd., S. 14 f. 8 Vgl. Thaler/Sunstein, ebd., S. 11, 15 f., 23 ff., 118 ff. 9 So Thaler/Sunstein, ebd., S. 15. 6 So 7 So
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lenkt das Adjektiv libertär die Aufmerksamkeit darauf, dass die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gewahrt bleiben soll: „Libertäre Paternalisten wollen es den Menschen leicht machen, ihren eigenen Weg zu gehen; sie möchten niemanden daran hindern, von seinen Freiheitsrechten Gebrauch zu machen.“10
Ein Problem stellt allerdings dar, dass der Betroffene häufig gar nicht weiß, dass er in eine bestimmte Richtung gestupst wird, und deswegen auch keinen Anlass hat, seine Entscheidung unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Einflussnahme Dritter zu hinterfragen.11 Wie wird nun „genudged“, d. h. welche Methoden des Nudging gibt es? Von den zahlreichen in Betracht kommenden Instrumenten12 seien vor allem die folgenden Nudgingmechanismen kurz aufgezählt: − Nudging durch das Setzen von Standardvorgaben; − soziale Nudges; − Nudging durch Bereitstellung von Informationen. Auf die genannten Methoden soll kurz eingegangen werden, bevor dann einige konkrete Anwendungen der Nudging-Methode vorgestellt werden. 10 So Thaler/Sunstein (Fn. 5), S. 14; vgl. zum Grundansatz des libertären Paternalismus auch Jan Schnellenbach, Respektiert eine Politik des „weichen“ Paternalismus die Autonomie individueller Konsumenten?, 2016, S. 17 ff., im Internet abrufbar unter: http://prometheusinstitut.de/ wp-content/uploads/2016/05/Schnellenbach-Studie-Nudging-Prome theus.pdf; Hans-Bernd Schäfer/Claus Ott, Homo Oeconomicus, Ver haltensökonomik und liberaler Paternalismus, in: Mehde/Ramsauer/ Seckelmann (Hrsg.), Staat, Verwaltung, Information, Festschrift für Hans-Peter Bull zum 75. Geburtstag, 2011, S. 301 ff. (312 ff.). 11 Kritisch bezüglich des libertären Charakters von Nudging deswegen etwa Schnellenbach (Fn. 10), S. 20 f.; ders., Unvollständige Rationalität ist keine hinreichende Begründung für paternalistisches Eingreifen, in: Wirtschaftsdienst 2014, S. 778 (779); siehe in diesem Kontext auch Martin Holle, Rechtliche Rahmenbedingungen für den Einsatz des Nudging als staatliches Steuerungsinstrument, ZLR 2016, S. 596 ff. (598). 12 Zu weiteren Nudging-Techniken vgl. überblickshalber den in Fn. 3 zitierten Wikipedia-Artikel sowie ferner Schnellenbach (Fn. 10), S. 18 ff.
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Was bedeutet Nudging durch Setzen von Standardvorgaben? Hintergrund dieses Ansatzes ist die Tendenz des Menschen, gegebene Situationen beizubehalten. Anders ausgedrückt: Der Mensch ist oft zu träge, etwas zu ändern.13 Diese Tendenz kann genutzt werden, um ein gewünschtes Verhalten wahrscheinlicher zu machen, indem gezielt entsprechende Standardvorgaben festgelegt werden.14 Soziale Nudges gehen davon aus, dass sich der Mensch durch Worte und Taten anderer beeinflussen lässt und dass soziale Normen und sozialer Druck eine Wirkung auf sein Verhalten haben. Deswegen können Hinweise auf das Verhalten der Mehrheit sowie eine personalisierte Ansprache des sich in einer Entscheidungssituation befindenden Menschen eine verhaltensbeeinflussende Wirkung entfalten.15 Als Form des Nudging wird schließlich auch die unmittelbare oder mittelbare Bereitstellung von Informationen verstanden. Hier geht es darum, das Entscheidungsumfeld durch die Bereitstellung relevanter Informationen zu beeinflussen.16 Nudging ist ein Instrument, das nicht nur im privaten Bereich häufig eingesetzt wird.17 Auch die Regierungen verschiedener Länder bedienen sich zunehmend der Technik des Nudging, um 13 Vgl. Johanna Wolff, Eine Annäherung an das Nudge-Konzept nach Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein aus rechtswissenschaftlicher Sicht, RW 2015, S. 194 ff. (200); siehe ferner Thaler/Sunstein (Fn. 5), S. 55 ff. 14 Vgl. Wolff (Fn. 13), S. 200; Lisa V. Bruttel/Florian Stolley, Ist es im Interesse der Bürger, wenn ihre Regierung Nudges implementiert?, Wirtschaftsdienst 2014, S. 767. 15 Vgl. Thaler/Sunstein (Fn. 5), S. 79 ff.; Wolff (Fn. 13), S. 201 f. 16 Vgl. Wolff (Fn. 13), S. 202 ff.; Lisa V. Bruttel/Florian Stolley (Fn. 14), S. 768, 770. 17 Ein Beispiel ist die Platzierung von Waren in Supermärkten oder Kantinen: Durch eine geschickte Platzierung von Waren, deren Verkauf gefördert werden soll, lässt sich deren Absatz erhöhen, während umgekehrt eine schlechtere oder unbequemere Erreichbarkeit von Waren die Verkaufszahlen sinken lässt; siehe dazu Thaler/Sunstein (Fn. 5), S. 9 ff.; vgl. auch Helen Schiek, So bringt man Kinder dazu, Obst zu essen, Welt vom 30. Mai 2016, im Internet abrufbar unter: https://www.welt.
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auf die Bürgerinnen und Bürger einzuwirken. In der Bundesrepublik Deutschland wurde etwa von der Bundesregierung eine Arbeitsgruppe „Wirksam regieren“ eingesetzt,18 und auch die Europäische Union finanziert ein mehrere Millionen Euro teures Forschungsprojekt namens „Nudge it“.19 Dies zeigt, dass wir es mit einem zunehmend allgegenwärtigen Phänomen zu tun haben. III. Anwendungsbeispiele Nachdem damit das theoretische Konzept des Nudging zumindest in groben Zügen umrissen ist, soll durch einige Anwendungsbeispiele verdeutlicht werden, wo im Alltag Formen von Nudging verbreitet sind (1.). Danach wird auf Nudging speziell im Bereich der Betreuung von Klein- und Vorschulkindern eingegangen (2.). 1. Nudging: Anwendungsbeispiele aus der Erwachsenenwelt An den Rändern deutscher Autobahnen stehen großformatige Plakate mit Aussagen wie „Papi, fahr vorsichtig!“. Dabei handelt es sich eine Form des sozialen Nudging.20 Auf sozial-emotionaler Ebene wirken auch Schockfotos, sei es auf den besagten Ver de/gesundheit/article155738050/So-bringt-man-Kinder-dazu-Obst-zuessen.html. 18 Vgl. dazu den Artikel „Wirksam regieren“ – wie das Kanzleramt den Bürger erforscht, im Internet abrufbar unter: https://www.zdf.de/ nachrichten/heute/wie-das-kanzleramt-den-buerger-erforscht-100.html; siehe ferner die schriftliche Frage der Abgeordneten Haßelmann an die Bundesregierung nebst Antwort der Bundesregierung in BT-Drucks. 18/4856, S. 1 f. 19 Die Zielrichtung des Forschungsvorhabens wird beschrieben auf der projektbegleitenden Internetseite: https://www.nudge-it.eu/; vgl. zu diesem Thema auch Kathrin Burger, Nudging: Anstupsen für den guten Zweck, im Internet abrufbar unter: https://www.spektrum.de/news/ nudging-darf-ein-staat-seine-buerger-zu-gesuenderem-verhalten-ver helfen/1349983. 20 Vgl. etwa Kuhlmann (Fn. 3); zum Nudging durch Schilder im Straßenverkehr auch Thaler/Sunstein (Fn. 5), S. 88 f.
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kehrserziehungsplakaten,21 sei es auf Zigarettenpackungen.22 Ein Informations-Nudge liegt beispielsweise vor, wenn sich auf Lebensmitteln Angaben zu Inhaltsstoffen und Nährwerten finden oder wenn durch eine Lebensmittelampel die gesundheitlichen Wirkungen des Produkts bewertet werden.23 Gleiches gilt für die Kennzeichnung von Hausgeräten mit Energieverbrauchslabeln.24 Hier sollen Verbraucher durch die für die Hersteller verpflichtend vorgegebenen Angaben zu einer verantwortungsbewussten Entscheidung veranlasst werden. Schließlich zurück zum Thema Organspende: Im Rahmen des geltenden Rechts sind u. a. die gesetzlichen Krankenkassen dazu verpflichtet, die Bevölkerung über die Möglichkeiten der Organund Gewebespende und deren Nutzen für kranke Menschen aufzuklären.25 Die entsprechenden Schreiben der Krankenkassen dienen dem Ziel, die Spendenbereitschaft zu erhöhen, und lassen sich daher als Informations-Nudge einordnen.26 Sollte die von Bundesgesundheitsminister Spahn favorisierte Widerspruchslösung eingeführt werden, handelte es sich demgegenüber um ein Nudging durch Setzen von Standardvorgaben, weil jeder, der keine gegenteilige Entscheidung träfe, kraft Gesetzes zum Organspender würde.27 21 Vgl. etwa die Motive der Kampagne des Deutschen Verkehrssicherheitsrates „Runter vom Gas“ in den Jahren vor 2010, im Internet abrufbar unter: https://www.dvr.de/presse/plakate/archiv/. 22 Vgl. dazu Anhang II der delegierten Richtlinie 2014/109/EU der Kommission vom 10. Oktober 2014 zur Änderung von Anhang II der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zwecks Einrichtung der Bibliothek mit bildlichen Warnhinweisen, die auf Tabakerzeugnissen zu verwenden sind, ABl. L 360 S. 22 ff. 23 Vgl. Wolff (Fn. 13), S. 204; Holle (Fn. 11), S. 607 f.; Piasecki (Fn. 3); Schnellenbach (Fn. 10), S. 18, 23; Bruttel/Stolley (Fn. 14), S. 770. 24 Vgl. Wolff (Fn. 13), S. 204; Burger (Fn. 3). 25 Vgl. im Einzelnen § 2 Abs. 1 Satz 1 TPG. 26 Vgl. Wolff (Fn. 13), S. 203. 27 Vgl. zum Thema Organspende/Widerspruchslösung und dessen Einordnung in die Kategorien des Nudging Thaler/Sunstein (Fn. 5), S. 240 ff.; Wolff (Fn. 13), S. 200; Schnellenbach (Fn. 10), S. 19; Kuhlmann
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2. Nudging: Anwendungsbeispiele aus dem Bereich der Betreuung von Klein- und Vorschulkindern Damit ist der Blick auf das staatliche Nudging im Bereich der Betreuung von Klein- und Vorschulkindern zu richten. Dabei soll mit Thaler und Sunstein von einem weiten, typologischen Verständnis28 von „Nudging“ ausgegangen werden. Bei der Suche nach Beispielen ist also maßgeblich, wo der Staat als Entscheidungsarchitekt versucht, das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise zu verändern, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen oder wirtschaftliche Anreize stark zu verändern.29 Dieses weite Nudging-Verständnis trägt dem Umstand Rechnung, dass eine Abgrenzung des Nudging von hergebrachten Instrumenten staatlicher Verhaltenssteuerung ohnehin nicht immer eindeutig möglich ist.30 Bei den Menschen, deren Verhalten in dem uns interessierenden Bereich beeinflusst werden soll, kann es sich zum einen um die Eltern der Kinder, zum anderen auch aber um die Kinder selbst handeln. Insoweit ist also zu differenzieren. a) Eltern als Zielgruppe staatlichen Nudgings Zunächst zu den Eltern als Nudging-Adressaten: Wie sieht die Entscheidungsarchitektur aus, wenn Eltern darüber befinden, wie ihre Klein- und Vorschulkinder betreut werden?
(Fn. 3); Bruttel/Stolley (Fn. 14), S. 770; Steven Bosworth/Simon Bartke, Implikationen von Nudging für das Wohlergehen von Konsumenten, Wirtschaftsdienst 2014, S. 774 ff. (776); Sascha Lobo, Du willst es doch auch. Oder?, Spiegel Online vom 11. Oktober 2017, im Internet abrufbar unter: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/nudging-sascha-loboueber-das-prinzip-nudging-im-digitalen-zeitalter-a-1172423.html. 28 Vgl. zur Unterscheidung zwischen begrifflichen und typologischen Ansätzen Christian Winterhoff, Verfassung, Verfassunggebung, Verfassungsänderung, 2006, S. 56 ff. 29 Siehe im Text oben bei Fn. 9. 30 So auch Schnellenbach (Fn. 10), S. 18.; siehe auch Holle (Fn. 11), S. 598.
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Zunächst ist das Augenmerk insoweit auf den rechtlichen Rahmen für die Kinderbetreuung als solche zu richten. Dieser Rahmen wird durch das Achte Buch des Sozialgesetzbuchs betreffend die Kinder- und Jugendhilfe31 und durch die Kindertagesstättengesetze der Länder gezogen. Grob skizziert haben Kinder gemäß § 24 Abs. 1 bis Abs. 3 SGB VIII regelmäßig ab Vollendung des ersten Lebensjahres einen Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Der Umfang der Betreuung wird landesgesetzlich konkretisiert und beläuft sich beispielsweise in Niedersachen auf mindestens vier Stunden an fünf Vormittagen pro Woche.32 Je nach Bedarf sollen auch Ganztagsbetreuungsplätze oder Betreuungszeiten von wenigstens sechs Stunden an fünf Wochentagen angeboten werden.33 Weiterhin wird das Entscheidungsumfeld der Eltern hinsichtlich der Kinderbetreuung durch verschiedene finanzbezogene Regelungen geprägt. Zu nennen sind insoweit zum einen die Bestimmungen über das Elterngeld, das bis zur Vollendung des 14. Lebensmonats des Kindes gezahlt werden kann und voraussetzt, dass der bezugsberechtigte Elternteil keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt.34 Seit dem Jahr 2015 besteht darüber hinaus die Möglichkeit, das sog. Elterngeld Plus in Anspruch zu nehmen, das bis zu 28 Monate lang gewährt wird, aber auch nur die Hälfte des regulären Elterngeldes ausmacht. Dadurch 31 Sozialgesetzbuch, Achtes Buch – Kinder und Jugendhilfe – in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012, BGBl. I S. 2022 ff. (SGB VIII). 32 Vgl. § 8 Abs. 2 Satz 1 des Niedersächsischen Gesetzes über Tageseinrichtungen für Kinder in der Fassung vom 7. Februar 2002 (KiTaG Nds.), Nds. GVBl. 2002, S. 57 ff. 33 Vgl. § 8 Abs. 2 Satz 2 KiTaG Nds. 34 Vgl. dazu im Einzelnen §§ 1, 4 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Januar 2015, BGBl. I S. 33 ff. (BEEG) sowie das Informationsangebot des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Thema Elterngeld und ElterngeldPlus, im Internet abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/ themen/familie/familienleistungen/elterngeld/elterngeld-und-elterngeld plus/73752.
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sollen Eltern begünstigt werden, die sich nach der Geburt eines Kindes für einen schnellen beruflichen Wiedereinstieg entscheiden.35 Zum anderen ist auf die Kosten für die Inanspruchnahme von Kindertageseinrichtungen einzugehen. Immer mehr Länder sehen von der bundesgesetzlich eröffneten Möglichkeit zur Gebührenerhebung36 ab. Beispielsweise haben in Niedersachsen seit dem 1. August 2018 Kinder vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zur Einschulung einen Anspruch auf einen kostenfreien Kindergartenplatz im Umfang von maximal acht Stunden täglich.37 U. a. Berlin und Hamburg gehen noch darüber hinaus und gewährleisten Beitragsfreiheit für die gesamte Zeit zwischen Geburt und Einschulung.38 Schließlich ist unter dem Stichwort Entscheidungsarchitektur ein Blick auf das umfassende staatliche Informationsangebot zum Thema Kinderbetreuung zu werfen, das etwa auf der Internetseite des zuständigen Bundesministeriums vorgehalten und durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit bekannt gemacht wird. So gibt es etwa ein Informationsblatt zum Bundesprogramm „Kita-Einstieg: Brücken bauen in frühe Bildung“,39 das wie folgt beginnt: „Der Besuch von Angeboten der Kindertagesbetreuung wirkt sich positiv auf die Start- und Bildungschancen von Kindern aus.“ 35 Vgl. zum ElterngeldPlus und zu dem insoweit möglichen sog. Partnerschaftsbonus § 4 Abs. 3 und Abs. 4 BEEG; vgl. zu der erwähnten Zielsetzung des Elterngeldes Plus die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 18/2583, S. 1 f. 36 Vgl. § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII. 37 Vgl. § 21 KiTaG Nds. 38 Vgl. dazu die Informationsartikel betreffend Berlin (Beitragsfreiheit seit 1. August 2018), im Internet abrufbar unter: https://www.ber lin.de/sen/jugend/familie-und-kinder/kindertagesbetreuung/kostenbe teiligung/ und Hamburg (Beitragsfreiheit seit 1. August 2014), https:// www.hamburg.de/elternbeitrag/4264448/beitragsfreiheit-ab-august2014/. 39 Im Internet abrufbar unter: https://kita-einstieg.fruehe-chancen. de/fileadmin/PDF/Fruehe_Chancen/Kita-Einstieg/Infoblatt_zum_ Bundesprogramm_Kita-Einstieg.pdf.
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Auch die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend persönlich äußert sich positiv zur frühkindlichen Bildung: „Deshalb möchte ich mit unserem erfolgreichen Programm ‚KitaEinstieg‘ Kindern und ihren Familien eine Brücke in die frühkindlichen Regelangebote wie Kitas und Kindertagespflege bauen. Damit es auch wirklich jedes Kind packt!“40
Wenn man dies alles vor seinem geistigen Auge Revue passieren lässt, wie sieht dann das Entscheidungsumfeld aus, in dem Eltern sich bewegen, wenn sie darüber befinden, ob und ggf. ab wann und wie lange sie ihr Kind von Dritten betreuen lassen? Die Eltern sehen, dass das Angebot von Kinderbetreuungseinrichtungen immer weiter ausgebaut wird und dass sie sogar einen Anspruch auf Kinderbetreuung haben. Sie sehen, dass die Kinderbetreuung zunehmend gebührenfrei angeboten wird, so dass sie quasi etwas verschenken, wenn sie dieses Angebot nicht annehmen – wobei der schnelle Wiedereinstieg in den Beruf gleichzeitig durch die Ausgestaltung des Elterngeldes gefördert wird. Und sie hören nicht zuletzt aus dem Mund der zuständigen Ministerin, dass frühkindliche Betreuung gut für ihre Kinder sei. Man kann nun lange darüber sinnieren, ob bzw. inwieweit es sich bei den vorgestellten Mechanismen um solche handelt, die als Nudging (in einem weiteren Sinne) einzustufen sind. Bei dem staatlichen Informationsangebot ist dies sicher der Fall, bei der Einräumung eines Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz eher weniger. Die finanzbezogenen Mechanismen wie Elterngeld und Beitragsfreiheit schaffen ökonomische Anreize, so dass von Nudging bei Zugrundelegung der Definition von Thaler/Sunstein nur dann die Rede sein könnte, wenn diese Anreize gegenüber dem status quo ante nicht zu stark verändert worden wären.41 40 So die Äußerung der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend anlässlich des Besuches einer Kindertageseinrichtung am 17. Juli 2018, im Internet abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/ themen/familie/mit-frueher-bildung-zu-gleichen-chancen-fuer-alle-kin der-/127178. 41 Dass bezüglich der Frage, wann wirtschaftliche Anreize so erheblich verändert werden, dass nicht mehr von Nudging die Rede sein
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Fakt ist jedenfalls, dass der Staat als Entscheidungsarchitekt durch die Kombination der verschiedenen Mechanismen „das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern“ kann, nämlich zugunsten einer zunehmenden Inanspruchnahme frühkindlicher Betreuungsangebote. Und dass dieses Ziel erreicht wird, hat das Ministerium im Hinblick auf Kinder unter drei Jahren nicht ohne Stolz schon wiederholt bekanntgegeben: „Die Betreuungsquote hat sich im Bundesdurchschnitt seit März 2006 von 13,6 Prozent auf 32,7 Prozent im März 2016 erhöht.“42
Und diese Tendenz setzt sich fort: „Demnach wurden am Stichtag 1. März 2017 bundesweit 762.300 Kinder unter drei Jahren und damit 42.800 mehr als im Vorjahr in einer Kita oder in der Kindertagespflege betreut. Die Betreuungsquote stieg auf 33,1 Prozent. 2016 lag sie bei 32,7 Prozent. Bei den Kindern im Alter von drei Jahren bis sechs Jahren ist die Zahl im Vergleich zum Vorjahr um 41.500 auf knapp 2,4 Millionen gestiegen. Das entspricht einer Betreuungsquote von 93,6 Prozent.“43
Durch die Verbreitung dieser Informationen wird wiederum ein sozialer Nudge eingesetzt, der daran anknüpft, dass Menschen ihr Verhalten von demjenigen ihrer Mitmenschen abhängig machen. Wenn nun aber immer mehr Eltern ihre Kinder immer früher und länger in Kindertageseinrichtungen betreuen lassen, stupst das noch zweifelnde Eltern unterbewusst just in diese Richtung. Das Narrativ von den Vorzügen frühkindlicher Fremdbetreuung wird dadurch immer mehr zum Gegenstand einer self fullfilling prophecy – auch wenn der Staat für seine Politik durchaus auch andere, aber weniger offensichtliche Motikann, präzise Maßstäbe fehlen, merkt auch Holle (Fn. 11), S. 598 kritisch an. 42 So die Feststellung in der Hintergrundmeldung „Gute Kinderbetreuung“ vom 22. März 2018, im Internet abrufbar unter: https://www. bmfsfj.de/bmfsfj/themen/familie/kinderbetreuung/gute-kinderbetreu ung/73518. 43 So die Pressemitteilung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 20. Juni 2018, im Internet abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/kitaund-hort--zahl-der-betreuten-kinder-waechst/126720.
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ve hat. Auszug aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage: „Wenn Eltern ihre Kinder zu Hause betreuen und deshalb keiner oder einer im Umfang reduzierten Erwerbstätigkeit nachgehen, fällt die deutsche Wertschöpfung geringer aus. Auch für den Fiskus ist dies kurz- und langfristig mit Mindereinnahmen und ggfs. Mehrausgaben für Transferleistungen verbunden.“44
b) Kinder als Zielgruppe staatlichen Nudgings Können auch kleine Kinder selbst staatlich genudged werden? Vermutlich schon, nämlich dann, wenn es um die Bildungsinhalte in Kindertageseinrichtungen geht. Haben Sie schon einmal von der Kindergartenbox „Entdecken, schauen, fühlen!“ gehört? Diese ist – so wörtlich die Internetseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die jene Box vertreibt – „ein Medienpaket zur Sexualerziehung für Kinder im Vorschulalter und unterstützt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren bei der Vermittlung von Themen der Sexualerziehung“.45
Teil dieser Box sind die Puppen Lutz und Linda, Lutz ausgestattet mit Hoden und Penis und Linda mit einer dazu passenden Scheide. Darüber hinaus gibt es Handreichungen für Erzieherinnen und Erzieher etwa zum Thema „Körpererfahrung und Se xualerziehung im Kindergarten“, herausgegeben von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der Landeszen trale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz.46 In dieser Broschüre lernen Erzieher u. a., dass Babys im ersten Lebensjahr „erste lustvolle Erlebnisse durch Berühren der Haut und/oder der Geschlechtsorgane“
44 So
BT-Drucks. 19/2621, Seite 7. die Beschreibung der Kindergartenbox in der Rubrik Infomaterialien der Internetseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, im Internet abrufbar unter: https://www.bzga.de/infomaterialien/ sexualaufklaerung/kindergartenbox-entdecken-schauen-fuehlen/. 46 Im Internet abrufbar unter: https://www.lzg-rlp.de/files/LZGShop/Gesundheit %20von %20Kindern %20und %20Jugendlichen_ Download/BZgA_Koerpererfahrung_Kindergarten.pdf. 45 So
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hätten und dass Kleinkinder im zweiten Lebensjahr nicht nur die Afterzone „als Lustquelle“ entdeckten, sondern auch Folgendes könnten: „Kinder können sich selbst stimulieren und angenehme Lustgefühle verschaffen“.47
Die Erzieherinnen und Erzieher werden dazu angehalten, „auf angemessene Weise und auch mit Freude mit den Kindern über sexuelle Themen zu reden“48
und sollen dies durch Gruppenarbeit erlernen, etwa durch eine Diskussion über folgende These: „Die Kuschelecke im Kindergarten ist Intimsphäre der Kinder und darf nicht einsehbar sein.“49
Ist eine Kinderbetreuung, die mit Lutz und Linda und auf Basis eines solchen Konzepts erfolgt, nicht auch Nudging? Setzt hier nicht der Entscheidungsarchitekt Staat durch Instrumente wie die Kindergartenbox im Zusammenspiel mit einer entsprechenden Weiterbildung von Erziehern Anstöße in Richtung einer möglicherweise altersunangemessenen Frühsexualisierung der Kinder? Wird hier nicht auch deren Verhalten in vorhersagbarer Weise beeinflusst – allerdings mit dem wichtigen Akzent, dass die Einflussnahme für die Kinder noch weniger durchschaubar ist als für Erwachsene, so dass sie praktisch keine Chance haben, sich der Beeinflussung zu entziehen? Zumindest in einem weiteren Sinne wird man daher auch in diesem Zusammenhang sagen können, dass wir es mit einem Fall von staatlichem Nudging zu tun haben. IV. Rechtlicher Rahmen für staatliches Nudging Wie ist Nudging nun rechtlich einzuordnen, und darf der Staat Eltern und Kinder so anstupsen, wie das eben beschrieben worden ist? Zur Klärung dieser Fragen sollen zunächst die allge47 So
jeweils S. 6 der erwähnten Broschüre (Fn. 46), S. 26. (Fn. 46), S. 20. 49 Ebd. (Fn. 46), S. 28. 48 Ebd.
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meinen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen erörtert werden (1.), um dann die exemplarisch angeführten Nudging mechanismen aus dem Bereich der Betreuung von Klein- und Vorschulkindern einordnen zu können (2.). 1. Allgemeine Rechtmäßigkeitsanforderungen Darf der Staat nudgen? Wenn man die Rechtmäßigkeit staat lichen Nudgings prüfen will, dann sollte man ebenso vorgehen wie bei der Beurteilung anderer staatlicher Maßnahmen und zwischen formellen und materiellen Aspekten unterscheiden.50 a) Formelle Rechtmäßigkeit In formeller Hinsicht stellt sich zunächst die Frage, ob der Staat bzw. das jeweils agierende Staatsorgan überhaupt zuständig ist. Aufschlussreich ist insoweit ein Vergleich mit den Rechtmäßigkeitsanforderungen an staatliches Informationshandeln, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil der Staat gerade auch durch die Bereitstellung von Informationen nudgen kann. Diesbezüglich ist anerkannt, dass staatliches Informationshandeln nur zulässig ist, soweit sich die jeweils agierende öffentlichrechtliche Stelle im Rahmen ihres Aufgaben- und Zuständigkeitsbereichs hält.51 Dabei gilt der Grundsatz, dass in der Aufgabenzuweisung auch eine Ermächtigung zum Informationshandeln liegt.52 Fraglich ist, ob man diesen Grundsatz pauschal auch auf das Instrument des Nudge übertragen kann oder ob insoweit nicht eine – über eine bloße Aufgabenzuweisung hinausgehende – gesetzliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich ist. Zwar wird im Falle staatlicher Informationstätigkeit ein Grundrechtseingriff 50 Zur Einordnung des Nudging-Konzepts in die Kategorien der allgemeinen Verwaltungsrechtslehre vgl. Wolff (Fn. 13), S. 205 ff.; siehe ferner Gregor Kirchhof, Nudging – zu den rechtlichen Grenzen informalen Verwaltens, ZRP 2015, S. 136 f. (137). 51 Vgl. grundlegend BVerfGE 44, 125 (147 ff.). 52 Vgl. etwa BVerfGE 105, 252 (268).
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unter der Voraussetzung der inhaltlichen Richtigkeit der Informationen verneint, so dass der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt nicht greift.53 Bei Zugrundelegung dieser Rechtsprechung dürfte daher auch für reine Informationsnudges keine gesetzliche Grundlage erforderlich sein. Etwas anderes wird aber dann zu gelten haben, wenn der Staat Informationen im Sinne einer gezielten Verhaltensbeeinflussung selektiv oder wertend veröffentlicht54 oder wenn – wie beim Nudging durch Setzen von Standardvorgaben – Entscheidungen unter Ausnutzung bekannter menschlicher Verhaltensmuster gezielt55 und vor allem unterbewusst56 in eine bestimmte Richtung gelenkt werden sollen. Da das Grundgesetz vom Bild des eigenverantwortlich und unbeeinflusst vom Staat handelnden Menschen ausgeht und sich dieses Menschenbild auch in den Grundrechten vor allem aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG manifestiert, sprechen gute Gründe dafür, zumindest jeder das menschliche Verhalten unterbewusst beeinflussenden gezielten Nudgingmaßnahme Eingriffsqualität beizumessen, so dass inso53 Vgl. BVerfGE 105, 252 (265 ff.); siehe ferner Holle (Fn. 11) S. 614; Wolff (Fn. 13), S. 216; Ulrich Smeddinck/Basil Bornemann, Verkehr, Mobilität, Nudging, DÖV 2018, S. 513 ff. (519). 54 Vgl. allgemein BVerfGE 105, 252 (273), wonach staatlicher Informationstätigkeit Eingriffsqualität beizumessen ist, wenn sie in der Zielsetzung und ihren Wirkungen Ersatz für eine staatliche Maßnahme ist, die als Grundrechtseingriff zu qualifizieren wäre; siehe ferner OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. Juni 2014, Az.: OVG 5 N 2.13, juris Rdnr. 8; Holle (Fn. 11), S. 614; a. A. wohl Wolff (Fn. 13), S. 217. 55 Vgl. zur Relevanz des Kriteriums der Zielgerichtetheit für das Vorliegen eines Grundrechtseingriffs (sowohl bei Zugrundelegung des klassischen als auch des modernen Eingriffsbegriffs), BVerfGE 105, 279 (299 f.); 116, 202 (222); Udo Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand der 82. Erg.-Lfg., Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 49; Michael Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 8. Aufl. 2018, vor Art. 1 Rdnr. 81, 86; Holle (Fn. 11), S. 610 f. 56 Dass Grundrechte im Falle einer unbemerkten Manipulation der Entscheidungssituation besonders intensiv beeinträchtigt werden, hebt auch Holle (Fn. 11), S. 600, 611 f. zu Recht hervor; siehe ferner Kirchhof (Fn. 50), S. 137.
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weit der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt aktiviert wird.57 Dies gilt nicht zuletzt auch deswegen, weil der unterbewusst angesprochene Nudging-Adressat mangels Transparenz des Nudges regelmäßig keine Möglichkeit hat, dem „staatlichen Stups“ auszuweichen und sich bewusst abweichend zu verhalten.58 Nudgingmaßnahmen, die über eine rein sachliche und vollständige Bereitstellung von Informationen hinausgehen, bedürfen deswegen nach meiner Auffassung einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, wofür eine bloße Aufgabenzuweisung nicht ausreicht. b) Materielle Rechtmäßigkeit In materieller Hinsicht stellt sich die Frage, ob Nudging mit den Grundrechten des jeweils Betroffenen vereinbar ist. Soweit der Eingriffscharakter bejaht wird, was insbesondere bei solchen Maßnahmen angezeigt ist, bei denen der Betroffene nicht bemerkt, dass er genudged wird, stellt sich die Frage einer möglichen Rechtfertigung dieses Eingriffs am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Insoweit ist vom Staat die Verfolgung eines legitimen Ziels zu verlangen, das durch Nudging in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise realisiert werden kann. Eine erste Hürde kann bereits das Vorliegen eines legitimen Ziels sein. Denn es erscheint als durchaus fraglich, ob der Staat bei Vorliegen mehrerer rechtlich zulässiger Verhaltensalternativen überhaupt definieren darf, welches die beste dieser Alternativen ist. Dies wird im Zweifel nur dann der Fall sein, wenn Grundrechte Dritter oder Allgemeinwohlinteressen eine entsprechende Vorgehensweise legitimieren.59 Soweit ein legitimes Ziel verfolgt und die Geeignetheit des Nudges zur Erreichung dieses Ziels bejaht wird, ist bei der Beurteilung der Erforderlichkeit zu be57 Ebenso Holle (Fn. 11), S. 600 ff., 610 ff. und zusammenfassend S. 613; Kirchhof (Fn. 50), S. 137; vgl. auch Purnhagen/Reisch (Fn. 5), S. 646 ff., 655. 58 Vgl. auch Wolff (Fn. 13), S. 215; Holle (Fn. 11), S. 611; Weber/Schäfer (Fn. 5), S. 589. 59 In diesem Sinne auch Wolff (Fn. 13), S. 218 f.; Holle (Fn. 11), S. 601.
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denken, dass sich der Staat zur Erreichung seines Ziels grundsätzlich auch klassischer Handlungsinstrumente (z. B. Gebot oder Verbot) bedienen könnte, denen gegenüber ein bloßer Stups durchaus als das mildere Mittel erscheinen kann.60 Daher wird sich die Rechtfertigungsprüfung auf die Angemessenheitsebene zu konzentrieren haben. Das Prüfungsergebnis wird insoweit davon abhängen, welches Gewicht dem vom Staat verfolgten Regelungsziel zukommt (z. B. ob es seinerseits Verfassungsrang hat) und wie stark der zu beurteilende Nudgingmechanismus in die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen eingreift, insbesondere ob dieser in zumutbarer Weise erkennen kann, dass er in Richtung einer bestimmten Entscheidung genudged werden soll. 2. Rechtmäßigkeit von Nudging im Bereich der Betreuung von Klein- und Vorschulkindern Was folgt nun aus diesen rechtlichen Maßstäben für die hier in den Blick genommenen Maßnahmen im Bereich der Kinderbetreuung? Insoweit soll zunächst auf das Entscheidungsumfeld eingegangen werden, in dem Eltern darüber befinden, wie ihre Klein- und Vorschulkinder betreut werden, danach dann auf die Erziehungsinhalte im Bereich der frühkindlichen Sexualerziehung. a) Eltern als Zielgruppe staatlichen Nudgings Zur Erinnerung: Das elterliche Entscheidungsumfeld wird geprägt durch das Bestehen eines Anspruchs auf einen Kindergartenplatz spätestens ab Vollendung des ersten Lebensjahrs, durch das Elterngeld, das Anreize für eine frühe Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit setzt, und durch die kontinuierlich ausgedehnte Kostenfreiheit der Kinderbetreuung in staatlichen 60 Darauf aufmerksam machend auch Smeddinck/Bornemann (Fn. 53), S. 518; Purnhagen/Reisch (Fn. 5), S. 651; auf der anderen Seite ist freilich zu beachten, dass heimliche (und damit auch unterbewusst wirkende Nudging-)Maßnahmen gegenüber unverdeckten Maßnahmen eine höhere Eingriffsintensität aufweisen, vgl. BVerfGE 120, 274 (321); kritisch aus diesem Grund auch Weber/Schäfer (Fn. 5), S. 589.
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Einrichtungen. Flankierend dazu besteht ein staatliches Informationsangebot, das die Vorteile einer möglichst frühen Betreuung in Kindertageseinrichtungen herausstellt und die immer weiter steigenden Betreuungsquoten als Erfolg feiert. Was die im Rahmen der Rechtmäßigkeitsprüfung zuerst zu beantwortende Zuständigkeitsfrage angeht, so ist diese eindeutig zu bejahen. Der Bund ist gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG, der eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für den Bereich der öffentlichen Fürsorge begründet, für den Erlass der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen (SGB VIII, BEEG) zuständig. Auch darf das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend über die angebotenen Betreuungsleistungen informieren. Ebenso wenig dürfte die Schwelle zu einem rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtseingriff überschritten werden. Dies liegt bezüglich des Anspruchs auf einen Kindergartenplatz und hinsichtlich der Gebührenfreiheit der Kinderbetreuung auf der Hand, weil es insoweit an jeder Belastungswirkung fehlt. Die bloße Schaffung eines Umfeldes, das die Entscheidung zugunsten staatlicher Kinderbetreuung fördert, greift nicht in Grundrechte ein. Und selbst wenn ein Grundrechtseingriff vorläge, könnte dieser prinzipiell durch das legitime Ziel, zahlreichen wirtschaftlich darauf angewiesenen Elternteilen eine baldige Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit zu ermöglichen, gerechtfertigt werden. Es bleiben allerdings zwei Aspekte, die es genauer in den Blick zu nehmen gilt: die zum Teil unterbewusste Wirkung des staatlichen Stupsers und die Frage, ob die Fremdbetreuung kleiner Kinder auch Nachteile in sich birgt. Um mit Letzterem zu beginnen: Herr Professor Brisch hat in seinem Vortrag „Die Bedürfnisse der frühen Kindheit. Fremdbetreuung im Spiegel der aktuellen Erkenntnisse der Bindungsforschung“61 davon gesprochen, dass der in Deutschland praktizierte massive Ausbau der frühkindlichen Fremdbetreuung einem „Großexperi61 Karl Heinz Brisch, Die Bedürfnisse der frühen Kindheit. Fremdbetreuung im Spiegel der aktuellen Erkenntnisse der Bindungsforschung, in diesem Band, S. 51 ff.
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ment“ gleiche – vor allem deshalb, weil der notwendige Betreuungsschlüssel (1:2 bis 1:3 bei Kindern unter drei Jahren) nicht annähernd erreicht werde und es zu häufig zu Betreuerwechseln komme. Die Bundesregierung vertritt demgegenüber die Auffassung, eine Gefährdung der Kindesentwicklung durch Fremdbetreuung „kann auf Grundlage aktueller Forschungsergebnisse klar verneint werden“.62
Studien u. a. aus den USA, die zu gegenteiligen Ergebnissen kommen, seien aufgrund anderer Rahmenbedingungen nicht auf die Verhältnisse in Deutschland übertragbar. Vielmehr belegten zahlreiche weitere Studien die Vorteile frühkindlicher Fremdbetreuung.63 Sofern dies zutrifft, was der Autor mangels eigener Expertise nicht beurteilen kann, wird man es insbesondere unter Berücksichtigung der bestehenden Einschätzungsprärogative von Legislative und Exekutive wohl nicht beanstanden können, wenn der Staat von einem positiven Gesamtpotential frühkindlicher Betreuung ausgeht. Die diesbezügliche Informationspolitik des Bundesministeriums wäre unter diesen Vorzeichen ebenso wenig zu beanstanden wie die erkennbaren Zielsetzungen des Gesetzgebers. Etwas anderes gälte nur dann, wenn die Annahmen insbesondere der Bundesregierung wissenschaftlich eindeutig widerlegbar wären64 – etwa unter Hinweis auf den bisher unzureichenden Betreuungsschlüssel. Dies leitet über zu der Frage, ob eine andere Beurteilung angesichts der möglicherweise unbewussten Beeinflussung der Eltern bei der Entscheidung über die Inanspruchnahme der staatlichen Betreuungsangebote angezeigt ist. Doch schon die Prämisse einer unterbewusst wirkenden Einflussnahme des 62 So
BT-Drucks. 19/2621, S. 2. BT-Drucks. 19/2621, S. 2 ff. 64 Vgl. zu dieser Grenze der Einschätzungsprärogative u. a. BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 2002, Az.: 1 BvR 1676/01, juris Rdnr. 14 m. w. N. zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 63 Vgl.
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Staates muss in Frage gestellt werden: Die über das Angebot von Betreuungsmöglichkeiten, dessen tatsächliche Inanspruchnahme und über die Vorteile frühkindlicher Fremdbetreuung verbreiteten Informationen beeinflussen die elterliche Entscheidung in ganz offener und keineswegs verdeckter Art. Gleiches gilt hinsichtlich der kontinuierlich verbesserten rechtlichen Rah menbedingungen frühkindlicher Betreuung. Unbewusst wirkt daher allenfalls der soziale Nudge, der mit der öffentlichen Kundgabe stets weiter steigender Betreuungsquoten eingesetzt wird. Dies allein reicht jedoch nicht aus, um von der Rechtswidrigkeit des staatlichen Maßnahmenpaketes insgesamt ausgehen zu können. b) Kinder als Zielgruppe staatlichen Nudgings Nun zu den Bildungsinhalten und damit vor allem zu den Puppen Lutz und Linda – und zur Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die die besagte Kindergartenbox vertreibt. Insoweit ist schon die Zuständigkeit der Bundeszentrale zweifelhaft. Diese stützt65 ihre Kompetenz in Sachen Sexualerziehung auf das Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz), dessen § 1 Abs. 1 der Bundeszentrale die Aufgabe zuweist, „zum Zwecke der gesundheitlichen Vorsorge und der Vermeidung und Lösung von Schwangerschaftskonflikten Konzepte zur Sexualaufklärung, jeweils abgestimmt auf die verschiedenen Alters- und Personengruppen“ zu erstellen.
Die nachfolgenden Absätze 1a und 2 verdeutlichen, was damit gemeint ist: Abs. 1a betrifft „Informationsmaterial zum Leben mit einem geistig oder körperlich behinderten Kind und dem Leben von Menschen mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung“,
65 Vgl. dazu die Charakterisierung der Aufgaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, im Internet abrufbar unter: https:// www.bzga.de/die-bzga/aufgaben-und-ziele/ sowie https://www.bzga. de/themenschwerpunkte/sexualaufklaerung-familienplanung/.
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Abs. 2 erwähnt „die bundeseinheitlichen Aufklärungsmaterialien, in denen Verhütungsmethoden und Verhütungsmittel umfassend dargestellt wer den“.66
Da zumindest Kinder im Krippen- und Kindergartenalter kaum in Schwangerschaftskonflikte geraten und vor die Notwendigkeit eines Einsatzes von Verhütungsmitteln gestellt werden dürften, bestünde eine Zuständigkeit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nur dann, wenn die Maßnahmen „zum Zwecke der gesundheitlichen Vorsorge“ erfolgten – was zumindest für mich nicht ersichtlich ist. Daher dürfte es bereits an einer Zuständigkeit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung für Maßnahmen im Bereich der frühkindlichen Sexualerziehung fehlen. Selbst wenn es eine Zuständigkeit der Bundeszentrale gäbe, wäre weiter zu klären, ob der Staat überhaupt zu frühkindlicher Sexualerziehung berechtigt ist. Dagegen spricht Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, wonach Pflege und Erziehung das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht sind. Über ihre Betätigung – so Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG – wacht die staatliche Gemeinschaft. Dieses Grundrecht gewährleistet den Eltern das Recht, die Pflege und Erziehung ihrer Kinder grundsätzlich nach ihren eigenen Vorstellungen frei und mit Vorrang vor anderen Erziehungsträgern zu gestalten.67 Anders als im Bereich der schulischen Erziehung, den Art. 7 Abs. 1 GG in den Blick nimmt und für den ein staatlicher Erziehungs- und Bildungsauftrag anerkannt ist, kann der Staat hinsichtlich der Kindergartenerziehung keinen mit dem Elternrecht gleichrangigen Erziehungsauftrag für sich reklamieren.68 Vielmehr dürfen Kin66 Vgl. dazu BT-Drucks. 12/2605, S. 19, wo es heißt, Verhütungsmethoden und Verhütungsmittel seien inhaltliche Schwerpunkte des in Abs. 1 in Bezug genommenen Informationsmaterials. 67 Vgl. u. a. BVerfGE 31, 194 (204 f.); 47, 46 (69 f.). 68 Vgl. in diesem Kontext auch Christian von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 6 Rdnr. 54, 72, 76 ff. m. w. N.
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dertageseinrichtungen nur die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützen und ergänzen.69 Deswegen kommt eine frühkindliche Sexualerziehung in Kindertageseinrichtungen allenfalls mit Zustimmung der Eltern in Betracht, keinesfalls aber durch möglicherweise ohne deren Wissen eingesetzte NudgingMethoden. V. Resümee Nach alledem können die gewonnenen Erkenntnisse wie folgt zusammengefasst werden: 1. Unter Nudging sind alle Maßnahmen zu verstehen, mit denen das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer, oft unterbewusster Weise verändert werden kann, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen oder wirtschaftliche Anreize stark zu verändern. Wichtige Nudgingmethoden sind das Setzen von Standardvorgaben, die von vielen Menschen trotz entsprechender Möglichkeit nicht abgeändert werden, Hinweise auf das Verhalten anderer Menschen sowie das Nudging durch Bereitstellung entscheidungserheblicher Informationen. Die Abgrenzung von klassischen Formen staatlichen Handelns ist dabei nicht immer eindeutig. 2. Im Bereich der Betreuung von Klein- und Vorschulkindern können Nud ging adres saten sowohl die Eltern als auch die Kinder selbst sein. Gegenüber den Eltern erfolgt – zumindest in einem weiteren Sinne – staatliches Nudging durch ein Bündel von Maßnahmen, die bewirken, dass immer mehr Kinder immer früher und länger in Kindertageseinrichtungen betreut werden. Zu diesen Maßnahmen zählen die Schaffung eines Anspruchs auf einen Kindergartenplatz, dessen zunehmend gebührenfreie Bereitstellung, das Elterngeld und eine staatliche Informationspolitik, die die Vorzüge frühkindlicher Kinderbetreuung und deren wachsende Inanspruchnahme herausstellt. Kinder sind etwa dann Nudgingbetroffene, wenn staatliche Stellen wie z. B. durch den Vertrieb einer Kindergar69 So
§ 22 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII.
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tenbox mit den Puppen Lutz und Linda die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sexualitätsbezogene Themen schon im Kindergarten selbstverständlich werden. 3. In rechtlicher Hinsicht setzt Nudging stets eine Zuständigkeit der handelnden Stelle voraus. Wenn der Staat Informationen im Sinne einer gezielten Verhaltensbeeinflussung selektiv oder wertend veröffentlicht oder wenn Entscheidungen unter Ausnutzung bekannter menschlicher Verhaltensmuster gezielt und unterbewusst in eine bestimmte Richtung gelenkt werden sollen, liegt ein Grundrechtseingriff vor, der einer gesetzlichen Grundlage bedarf und verfassungsrechtlich gerechtfertigt, d. h. insbesondere verhältnismäßig sein muss. 4. Für Nudges im Bereich der Kleinkindbetreuung folgt daraus: Die Schaffung eines rechtlichen und informatorischen Umfeldes, das die Entscheidung zugunsten einer immer früheren und längeren Fremdbetreuung fördert, wäre rechtlich nur zu beanstanden, wenn valide wissenschaftliche Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls vorlägen. Demgegenüber ist staatliches Nudging mit dem Ziel, Kinder bereits in Krippe und Kindergarten mit dem Thema Sexualität in Berührung zu bringen, mangels Zuständigkeit der insoweit maßgeblich agierenden Bundeszenrale für gesundheitliche Aufklärung und aufgrund des Vorrangs des elterlichen Erziehungsrechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) rechtswidrig.
Die Rechte der Schüler. Vom Recht auf Bildung bis zum Anspruch auf Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen Von Jörg Ennuschat I. Einleitung: Vor der Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1. Hervorhebung der Kinder im Grundgesetz als eigenständige Rechtssubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 2. Begrifflichkeiten: Kindesrechte, Rechte der Kinder, Schülerrechte, Rechte der Schülerinnen und Schüler . . . . . . . . . 134 II. Bestandsaufnahme Nr. 1: vorgeschlagene Inhalte von Kinderrechten im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. Kindeswohl und Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2. Recht auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit 135 3. Recht auf Bildung und Chancengleichheit . . . . . . . . . . . . . . 135 4. Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 5. Zwischenfazit: grundgesetzliche Kinderrechte müssten sich insb. im Schulbereich bewähren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 III. Bestandsaufnahme Nr. 2: gegenwärtige Rechte der Schülerinnen und Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Rechte der Schülerinnen und Schüler im Völkerrecht . . . . 136 a) Kindeswohl und Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 b) Recht auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 c) Recht auf Bildung und Chancengleichheit . . . . . . . . . . . 137 d) Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 e) Weitere Kindesrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 f) Unsicherheiten hinsichtlich der unmittelbaren Geltung innerhalb der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . 139
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aa) Allgemeine Voraussetzungen der unmittelbaren Geltung völkervertraglicher Regelungen . . . . . . . . . 139 bb) Konsequenzen für die unmittelbare Geltung der Regelungen der UN-KRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 (1) Innerstaatlicher Anwendungsbefehl . . . . . . . . . 140 (2) Self executing-Charakter der UN-KRK . . . . . 141 (3) Nur objektiv- oder auch subjektiv-rechtlicher Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 g) UN-KRK als Auslegungsdirektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 h) Kritik unzureichender Umsetzung der völkerrechtlichen Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. Rechte der Schülerinnen und Schüler im Europarecht . . . . 144 a) Kindeswohl und Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 b) Recht auf Bildung und Chancengleichheit . . . . . . . . . . . 144 c) Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 d) Weitere Rechte von Schülerinnen und Schülern . . . . . . 145 e) Zur Bedeutung der europarechtlichen Kindesrechte innerhalb der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . 146 3. Rechte der Schülerinnen und Schüler im Grundgesetz . . . 147 a) Kindeswohl und Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 b) Recht auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 c) Recht auf Bildung und Chancengleichheit . . . . . . . . . . . 149 d) Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 e) Weitere Rechte der Schülerinnen und Schüler . . . . . . . . 152 aa) Meinungsfreiheit für Schülerinnen und Schüler, Art. 5 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 bb) Religionsfreiheit für Schülerinnen und Schüler, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 (1) Grundsätzlich keine Befreiung von der Schulpflicht oder von einzelnen Schulveranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 (2) Religionsausübung in der Schule . . . . . . . . . . . 155 cc) Verdrängung der Religion aus der Schule zur Wahrung des Schulfriedens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 dd) Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit für Schülerinnen und Schüler, Art. 8 f. GG . . . . . . . . . . . . . . 157
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ee) Schutz der Privatsphäre und der Ehre von Schülerinnen und Schülern, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 4. Rechte der Schülerinnen und Schüler in den Landesverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 a) Kindeswohl und Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 b) Recht auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 c) Recht auf Bildung und Chancengleichheit . . . . . . . . . . . 161 d) Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 e) Weitere Rechte der Schülerinnen und Schüler . . . . . . . . 163 5. Rechte der Schülerinnen und Schüler im Schulrecht . . . . . 163 a) Kindeswohl und Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 b) Recht auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 c) Recht auf Bildung und Chancengleichheit . . . . . . . . . . . 164 d) Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 e) Weitere Schülerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 6. Zwischenfazit: umfassende Verbürgung der Rechte von Schülerinnen und Schülern im geltenden Recht . . . . . . . . . 167 IV. Mögliche Auswirkungen einer Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz im Schulbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1. Wer hat die Interpretationskompetenz für das Kindeswohl? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Grundsatz: elterlicher Erziehungsprimat . . . . . . . . . . . . 169 b) Ausnahme: Gleichordnung von staatlichem Erziehungsund Bildungsauftrag und Elternrecht, aber faktischer Vorrang der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Veränderung des Verhältnisses von Elternrecht und staatlichem Erziehungsauftrag durch Kinderrechte im Grundgesetz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 a) Zwar: völkerrechtliche Anerkennung des elterlichen Erziehungsprimats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 b) Dennoch: Kinderrechte als Einfallstor für gewisse Zurückdrängung des elterlichen Erziehungsprimats, z. B. durch Verschiebung der Darlegungslasten? . . . . . . . . . . 171 3. Aktueller Trend zur Zurückdrängung des Elternrechts im Schulbereich unter Berufung auf das Kindeswohl . . . . . . . 172
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a) Einheitsschule vs. Eltern[wahl]rechte . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Wahl der nicht-optimalen Schulform . . . . . . . . . . . . . . . 173 V. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
I. Einleitung: Vor der Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz? Im Koalitionsvertrag CDU, CSU und SPD vom 12.3.2018 heißt es:1 „Wir werden Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich verankern. Kinder sind Grundrechtsträger, ihre Rechte haben für uns Verfassungsrang. Wir werden ein Kindergrundrecht schaffen. Über die genaue Ausgestaltung sollen Bund und Länder in einer neuen gemeinsamen Arbeitsgruppe beraten und bis spätestens Ende 2019 einen Vorschlag vorlegen.“
1. Hervorhebung der Kinder im Grundgesetz als eigenständige Rechtssubjekte Noch ist ungewiss, wie der Vorschlag der Bund-Länder-Arbeitsgruppe aussehen und in welche Richtung sich die verfassungspolitische Diskussion entwickeln wird.2 Absehen lässt sich 1 Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode (12.3.2018), S. 21, im Internet abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blo b/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-ko alitionsvertrag-data.pdf?download=1. 2 Zur verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Diskussion siehe die Zusammenstellung bei Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, Kinderrechte im Grundgesetz, 7.12.2017, WD 3-3000242/17; ferner z. B. Elisabeth Rossa, Kinderrechte, 2014, S. 101 ff.; Friederike Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015, S. 499 ff.; dies., Kinderrechte ins Grundgesetz, 2017, S. 13 ff.; Günter Benassi, NDV 2012, 97 ff.; ders., ZRP 2015, 24 ff.; ders., DVBl. 2016, 617 ff.; ders./Reinald Eichholz, DVBl. 2017, 614 ff.; Wolfram Höfling, ZKJ 2017, 354 ff.; Rainer Hofmann/Philipp B. Donath, Gutachten bezüglich einer ausdrücklichen Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz nach Maßgabe der Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention, 2017; Christine
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immerhin, dass eine etwaige Aufnahme von Kinderrechten hervorheben soll, dass Kinder als eigenständige Rechtssubjekte im Grundgesetz erkennbar werden.3 Kinder sollen fortan nicht mehr nur als Objekte elterlicher Erziehungsrechte wahrgenommen werden.4 Im Folgenden soll zunächst mittels einer ersten Bestandsaufnahme kurz umrissen werden, welche Kinderrechte für das Grundgesetz gegenwärtig vorgeschlagen und diskutiert werden. Diese möglichen Kinderrechte bilden dann den Orientierungsrahmen für eine zweite Bestandsaufnahme: Welche Rechte haben Schülerinnen und Schüler schon heute? In einem abschließenden dritten Schritt soll bedacht werden, welche Auswirkungen eine Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz auf den Schulbereich haben könnte.
Hohmann-Dennhardt, Kinderrechte ins Grundgesetz – warum?, FÜR 2012, 185 ff.; Gregor Kirchhof, Kinderrechte in der Verfassung – zur Diskussion einer Grundgesetzänderung, ZRP 2007, 149 ff.; ders., Die Kinderrechte des Grundgesetzes, NJW 2018, 2690 ff.; Renate Künast, Kinderrechte in die Verfassung! Was sonst?, FÜR 2008, 478 ff.; Verfassungsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins, Kinderrechte ins Grundgesetz? Ja, aber …, AnwBl. 2011, 170 ff. – Zum Verfassungsvergleich siehe Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, Kinderrechte in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 25.3.2014, WD 3-3000-049/14. 3 MinPräs Hannelore Kraft (NRW), BR-PlProt. 956/2017 vom 31.3.2017, S. 162 B: „Lassen Sie uns alle dafür sorgen, dass aus unseren Worten Taten werden und Kinder zu eigenständigen Rechtssubjekten im Grundgesetz werden! So abstrakt die juristische Begrifflichkeit klingt, es macht ganz praktisch einen Unterschied, ob ich Grundrechte auf ein Kind anwende oder ob es eigene Grundrechte bekommt.“ 4 Min. Kristin Alheit (SH), BR-PlProt. 956/2017 vom 31.3.2017, S. 163 B: „Deshalb ist es auch keine Nebensächlichkeit, ob Kinder als Subjekte aus eigener Bedeutung in das Grundgesetz aufgenommen werden oder ob sie, wie bisher, lediglich als Objekte elterlicher Erziehungsrechte vorkommen.“
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2. Begrifflichkeiten: Kindesrechte, Rechte der Kinder, Schülerrechte, Rechte der Schülerinnen und Schüler Vorab eine kurze Bemerkung zu den Begrifflichkeiten: Kindesrechte/Kinderrechte (i. e. S.) sind solche, die im Normtext ausdrücklich Kinder als Rechteinhaber benennen. Entsprechendes gilt für den Begriff „Schülerrechte“. Vielfach sind Normen einschlägig, die jedermann berechtigen, darunter auch Kinder oder Schüler. Diese Rechte könnte man als Rechte der Kinder bzw. Rechte der Schüler bezeichnen, ggf. auch als Kinderrechte bzw. Schülerrechte i. w. S. Bei den folgenden Überlegungen soll Begrifflichkeiten jedoch kein allzu großes Gewicht beigemessen werden. II. Bestandsaufnahme Nr. 1: vorgeschlagene Inhalte von Kinderrechten im Grundgesetz Sichtet man die in der bisherigen Diskussion genannten Vorschläge und Entwürfe für Kinderrechte im Grundgesetz, lassen sich insb. vier mögliche Inhalte von Kinderrechten herausfiltern: (1) Kindeswohlprinzip, (2) Recht auf Entwicklung und Entfaltung, (3) Recht auf Bildung und (4) ein Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Kindesmeinung. 1. Kindeswohl und Schutz Beispielhaft für den Vorschlag, das Kindeswohlprinzip noch eingehender im Grundgesetz zu verankern, ist ein Entwurf des Landes NRW für einen neuen Art. 6 Abs. 5 S. 1 und 2 GG-E:5 „Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte und das Wohl des Kindes und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen. Bei allem staatlichen Handeln, das Kinder betrifft, ist das Wohl des Kindes maßgeblich zu berücksichtigen.“
5 BR-Drs.
234/17 vom 22.3.2017.
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2. Recht auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit Vorgeschlagen wird ferner die Aufnahme eines Kindesrechts auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit. Genannt sei etwa ein aktueller Entwurf der Fraktion Die Linke für einen neuen Art. 2a Abs. 1 GG:6 „Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Förderung ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten sowie zur Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit…“
3. Recht auf Bildung und Chancengleichheit Eine Entschließung des Bundesrates vom 25.11.2011 geht noch etwas weiter und schlägt eine Prüfung vor, wie7 „das Recht auf Bildung und bestmögliche Förderung zur Erreichung von Chancengleichheit und das Recht auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit normiert werden können.“
Hier wird also das Recht auf Bildung explizit angeführt und in einen engen Kontext zur Chancengleichheit gestellt. 4. Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung des Kindes Der eingangs genannte Entwurf aus NRW sieht schließlich Beteiligungsrechte des Kindes vor (Art. 6 Abs. 5 S. 3 GG-E):8 „Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte betreffen, einen Anspruch auf Gehör und auf Berücksichtigung seiner Meinung entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“
Ein Vorschlag der Fraktion Die Linke ergänzt das Beteiligungsrecht um eine kollektive Dimension:9 „Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Beteiligung an den sie betreffenden Entscheidungen und an den gesellschaftlichen Prozessen.“ 6 BT-Drs.
18/10860 vom 17.1.2017. 386/11, Anlage (Beschluss). 8 BR-Drs. 234/17 vom 22.3.2017. 9 BT-Drs. 18/10860 vom 17.1.2017. 7 BR-Drs.
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5. Zwischenfazit: grundgesetzliche Kinderrechte müssten sich insb. im Schulbereich bewähren Der Bereich Schule steht augenscheinlich nicht im Zentrum der Diskussion um Kindesgrundrechte im Grundgesetz. Dementsprechend zielen die bisherigen Vorschläge und Entwürfe nicht auf eine Änderung von Art. 7 GG, des Schulartikels des Grundgesetzes. Vielmehr sollen die neuen Regelungen eher in einen systematischen Zusammenhang mit dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gem. Art. 2 Abs. 1 GG oder dem Elternrecht gem. Art. 6 Abs. 2 GG gestellt werden. Dennoch wäre Schule ein Anwendungsfeld neuer Kindesgrundrechte, was besonders deutlich wird, wenn ein ausdrückliches Recht auf Bildung im Grundgesetz verankert würde. Aber auch im Übrigen müssten sich das Kindeswohlprinzip sowie Entwicklungs-, Entfaltungs- und Beteiligungsrechte insb. im Schulbereich bewähren. III. Bestandsaufnahme Nr. 2: gegenwärtige Rechte der Schülerinnen und Schüler Bevor mögliche Konsequenzen einer Verankerung von Kindesrechten im Grundgesetz auf den Schulbereich bedacht werden, soll im Wege einer Bestandsaufnahme geklärt werden, welche (Kindes-)Rechte Schülerinnen und Schülern bereits de lege lata zustehen. 1. Rechte der Schülerinnen und Schüler im Völkerrecht Das Völkerrecht kennt verschiedene Kindesrechte, welche zugleich die Regelungsvorbilder für etwaige Kindesrechte im Grundgesetz darstellen. a) Kindeswohl und Schutz Im Mittelpunkt stehen das Kindeswohl und der Schutz des Kindes. Schon Art. 24 Abs. 1 IPbpR von 1966 enthält das Recht jedes Kindes „auf diejenigen Schutzmaßnahmen durch seine Familie, die Gesellschaft und den Staat, die seine Rechtsstellung als
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Minderjähriger erfordert“. Sodann fordert Art. 3 Abs. 1 UNKRK, dass „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, … das Wohl des Kindes [best interests] ein Gesichtspunkt [ist], der vorrangig zu berücksichtigen ist“.10 Art. 3 Abs. 2 UN-KRK verpflichtet die Vertragsstaaten, allen Kindern Schutz und Fürsorge zu gewährleisten. Kinder müssen insb. vor Gewaltanwendung, Misshandlung und Verwahrlosung geschützt werden (Art. 19 UN-KRK). Hinsichtlich des Kindeswohls ist – insb. mit Blick auf den Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 UN-KRK – Folgendes hervorzuheben: Das Wohl des Kindes ist ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Das Kindeswohl genießt also keinen absoluten Vorrang.11 b) Recht auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit Schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 gibt an, dass Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit gerichtet sein soll – bezogen nicht nur auf Kinder, sondern auf alle Menschen. c) Recht auf Bildung und Chancengleichheit Das Völkerrecht hat mehrfach das (Menschen-)Recht auf Bildung formuliert, so bereits in Art. 26 Abs. 1 S. 1 AEM, dort nicht speziell mit Blick auf Kinder, sondern auf jeden Menschen. Ähnliches gilt für Art. 13 Abs. 1 IPwskR („Recht eines jeden auf Bildung“). Art. 24 Abs. 1 UN-BRK stellt klar, dass das Recht auf Bildung auch Menschen mit Behinderung zukommt, und zwar „ohne Diskriminierung und auf der Grundlage von Chancengleichheit“. 10 Das gilt gem. Art. 7 Abs. 2 UN-BRK gleichermaßen bei Kindern mit Behinderung. 11 Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 2), S. 245; Günter Benassi, Deutsche Rechtsprechung vs. UN-Kinderechtskonvention? – Zur Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 KRK für die Verwirklichung der Kinderrechte, DVBl. 2016, 617 (619); siehe aber Hendrik Cremer, Kinderrechte und der Vorrang des Kindeswohls, AnwBl. 2012, 327 (328): prinzipieller Vorrang des Kindeswohls.
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Als spezifisches Kindesrecht ausgestaltet ist das Recht auf Bildung in Art. 28 Abs. 1 UN-KRK. Dort finden sich einige Konkretisierungen, etwa die Unentgeltlichkeit des Grundschulunterrichts, der Zugang zu weiterführenden Schulen und die Wahrung der Schuldisziplin in menschenwürdiger Weise. Art. 29 UN-KRK benennt Bildungsziele, insb. die volle Entfaltung der Persönlichkeit, Begabung und geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes. Art. 28 Abs. 1 UN-KRK stellt das Recht auf Bildung in einen engen Zusammenhang mit der Chancengleichheit. Dabei geht es zum einen um Chancengleichheit in der Schule, d. h. der schulische Erfolg soll nur von den Anlagen und Befähigungen des Kindes und nicht von seiner sozialen oder ethnischen Herkunft abhängen. Zum anderen soll Schule dazu beitragen, dass die späteren Lebenschancen der jungen Generation einigermaßen gleich verteilt sind, sodass allen der Aufstieg durch Bildung offensteht (Chancengleichheit durch Schule). Die Chancengleichheit hat indessen eine große offene Flanke: die Eltern, und zwar nicht nur wegen ihrer unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Stellung, sondern wegen ihrer Erziehungsentscheidungen. Das anerkennt letztlich auch die UNKRK, indem sie in Art. 5 UN-KRK ausdrücklich das Elternrecht respektiert. In der Literatur sind die Konsequenzen pointiert formuliert worden: Die Erziehungsautonomie der Eltern sei ein enormes Hindernis für Chancengleichheit.12 Versuche, die Chancengleichheit in der Schule und durch die Schule zu vergrößern, zielen deshalb vielfach auf eine Zurückdrängung des elterlichen Einflusses, z. B. durch Ganztagsschulen. d) Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung Art. 12 UN-KRK normiert ein Kindesrecht auf Beteiligung und Berücksichtigung seiner Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten (ebenso Art. 7 Abs. 3 UN-BRK). Dieser Anspruch auf rechtliches Gehör13 bildet quasi die prozedura12 Wapler, 13 Stefanie
Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 2), S. 560. Schmahl, KRK, 2013, Art. 12 Rn. 11.
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le Dimension der Subjektstellung des Kindes und bringt diese in besonderer Weise zum Ausdruck.14 e) Weitere Kindesrechte Erwähnt sei, dass die UN-KRK weitere Kindesrechte anführt, so die Meinungsfreiheit (Art. 13 KRK), die Religionsfreiheit (Art. 14 KRK), die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 15 KRK) und den Schutz der Privatsphäre und der Ehre (Art. 16 KRK). Diese Rechte sind auch für den Schulbereich bedeutsam (näher unten III. 5.). f) Unsicherheiten hinsichtlich der unmittelbaren Geltung innerhalb der deutschen Rechtsordnung Können sich Kinder und Jugendliche auf diese Rechte berufen? Hier ist eine gewisse Vorsicht angezeigt. aa) Allgemeine Voraussetzungen der unmittelbaren Geltung völkervertraglicher Regelungen Völkerrechtliche Verträge verpflichten zunächst die Bundesrepublik als Vertragspartei gegenüber ihren Vertragspartnern. Unmittelbare innerstaatliche Geltung – relevant dann für jeden Rechtsanwender, insb. Behörden und Gerichte – können die Verträge unter bestimmten Voraussetzungen erlangen: (1) Nötig ist ein innerstaatlicher Anwendungsbefehl. Dieser ist zumeist dem Zustimmungsgesetz zu entnehmen.15 (2) Unmittelbare Geltung erlangen die Vertragsregelungen nur dann, wenn die einzelne Bestimmung hinreichend bestimmt ist, sodass sie aus sich heraus und ohne weitere Rechtsakte anwendbar ist (self executing). Das muss für jede Norm gesondert ermittelt werden.16 (3) Schließlich muss nach dem Rechtscharakter der Norm unter14 Cremer,
Kinderrechte (Fn. 11), AnwBl. 2012, 327 (328). BVerfGE 111, 307 (316 f.); Andreas von Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl. 2016, Rn. 508. 16 LSG Berlin-Bbg., Urteil vom 26.4.2018 – L 33 R 964/15, juris Rn. 55; Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 15. Aufl. 2018, 15 Z. B.
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schieden werden: Verpflichtet sie nur (objektiv) den Staat oder ist sie nach ihrem Wortlaut, Zweck und Inhalt darauf gerichtet, dem Einzelnen subjektive Rechte zu verschaffen?17 bb) K onsequenzen für die unmittelbare Geltung der Regelungen der UN-KRK Was folgt aus diesen Einsichten für die unmittelbare Geltung der völkerrechtlichen Kinderrechte, insb. aus der UN-KRK? (1) Innerstaatlicher Anwendungsbefehl Der UN-KRK zugestimmt hat zunächst der Bundesgesetzgeber (Art. 59 Abs. 2 GG).18 Das Zustimmungsgesetz des Bundes begründet eine gesamtstaatliche Verpflichtung. Der Bund ist außenrechtlich seinen Vertragspartnern gegenüber dafür verantwortlich, dass die Gliedstaaten den Vertrag erfüllen.19 Nach in der Rechtsprechung verbreiteter Auffassung verschafft das Zustimmungsgesetz des Bundes einem völkerrechtlichen Vertrag nur in dem Umfang innerstaatliche Geltung, wie die Bundesgesetzgebungskompetenz für die inhaltlichen Regelungen reicht.20 Art. 59 Rn. 18; Rudolf Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 59 Rn. 68; Rossa, Kinderrechte (Fn. 2), 2014, S. 62. 17 LSG Berlin-Bbg., Urteil vom 26.4.2018 – L 33 R 964/15, juris Rn. 55; Streinz, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 59 Rn. 69; Dirk Heinz, Die Vorgaben der UN-Behindertenkonvention und deren praktische Bedeutung bei der Wahrnehmung der Ansprüche behinderter Menschen, ZFSH/SGB 2016, 7 (11). 18 Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens über die Reche des Kindes vom 10.7.1992, BGBl. II 1992, S. 990. 19 Stefanie Schmahl, Die völkerrechtsdogmatische Einordnung internationaler Menschenrechtsverträge, JuS 2018, 737 (739). 20 BVerwG, Beschluss vom 18.1.2010 – 6 B 52/09, juris Rn. 4; HessVGH, Beschluss vom 12.11.2009 – 7 B 2763/09, juris Rn. 7 ff., insb. 17 f. (= NVwZ-RR 2010, 602 [603]); OVG Nds., Beschluss vom 2.10.2012 – 8 LA 209/11, juris Rn. 13 und Beschluss vom 16.9.2010 – 2 ME 278/10, juris Rn. 13; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 21.4.2010 – 4 K 3823/08, juris Rn. 67; offen lassend: BVerwG, Urteil vom 29.7.2015 – 6 C 35/14,
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Legt man diese Auffassung zugrunde, bedeutet dies: Soweit es um schulbezogene Regelungen geht, ist ein Landesgesetz nötig, um die entsprechenden Regelungen des völkerrechtlichen Vertrages in das innerstaatliche (Schul-)Recht zu transformieren. (2) Self executing-Charakter der UN-KRK Ursprünglich hatte Deutschland die Ratifikation der UNKRK mit dem ausdrücklichen Vorbehalt verknüpft, dass die Bestimmungen innerhalb Deutschlands nicht unmittelbar anwendbar seien (BGBl. II 1992, S. 990). Diesen Vorbehalt hat Deutschland am 15.7.2010 zurückgezogen (vgl. Art. 51 Abs. 3 UNKRK).21 Soweit der self executing-Charakter bejaht werden kann, wäre unmittelbare Anwendbarkeit deshalb gegeben.22 In der Literatur gibt es Stimmen, welche die unmittelbare Anwendbarkeit der UN-KRK in weitem Umfang annehmen.23 Andere Literaturstimmen und die Rechtsprechung sind indessen eher zurückhaltend, was die unmittelbare Anwendbarkeit betrifft, haben diese etwa für Art. 3 Abs. 2 UN-KRK (Gewährleistung von Schutz und Fürsorge),24 Art. 6 Abs. 2 (Entwicklung des Kindes),25 Art. 22 UN-KRK (Kinder als Flüchtlinge)26 oder Art. 28 f. UN-KRK (Recht auf Bildung)27 verneint. juris Rn. 39 (= NVwZ 2016, 541 [544]); a. A. Markus Krajewski/Thomas Bernhard, in: Welke (Hrsg.), UN-BRK, 2012, Art. 24 Rn. 9. 21 BGBl. II 2011, 600; dazu z. B. Rossa, Kinderrechte (Fn. 2), 2014, S. 34 ff. 22 VG Saarland, Urteil vom 4.11.2016 – 3 K 921/15, juris Rn. 36. 23 Siehe etwa Schmahl, KRK (Fn. 13), Einl. Rn. 26: „zahlreiche Bestimmungen“ (aber wohl zurückhaltend beim Recht auf Bildung, vgl. Art. 28/29 Rn. 5: lediglich progressiv zu erfüllende Verpflichtung). 24 OVG Nds., Beschluss vom 2.10.2012 – 8 LS 209/11, juris Rn. 17, 25; VG Saarland, Urteil vom 4.11.2016 – 3 K 921/15, juris Rn. 39; a. A. Rossa, Kinderrechte (Fn. 2), 2014, S. 68. 25 OVG Nds., Beschluss vom 2.10.2012 – 8 LS 209/11, juris Rn. 20, 25. 26 OVG Nds., Beschluss vom 2.10.2012 – 8 LS 209/11, juris Rn. 22, 25. 27 Wapler, Kinderrechte ins Grundgesetz (Fn. 2), 2017, S. 21.
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(3) Nur objektiv- oder auch subjektiv-rechtlicher Charakter Selbst im Falle einer Vertragsbestimmung mit self executingCharakter wäre zu klären, ob diese Norm auch subjektive Rechte begründen soll. So hat die Rechtsprechung etwa die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 UN-KRK (vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls) bejaht, dieser Norm aber keinen subjektiv-rechtlichen Charakter zuerkannt.28 g) UN-KRK als Auslegungsdirektive Festzuhalten ist deshalb, dass Schüler sich vielfach nicht unmittelbar auf Bestimmungen der UN-KRK oder ähnliche völkervertragsrechtliche Vorschriften berufen können. Selbst wenn eine Berufung im Einzelfall möglich sein sollte, wäre dies immer mit Unsicherheiten behaftet. Allerdings bleiben völkerrechtliche Kinderrechte zumindest als Auslegungsdirektive bedeutsam. Wegen des Grundsatzes der völkerrechtsfreundlichen Auslegung erfolgen Auslegung und Anwendung einer deutschen Rechtsnorm stets auch im Lichte der UN-KRK.29 Dies gilt auch für Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes.30 h) Kritik unzureichender Umsetzung der völkerrechtlichen Vorgaben Nach Art. 43 UN-KRK überwacht ein Ausschuss für die Rechte des Kindes die Fortschritte, welche die Vertragsstaaten 28 OVG Nds., Beschluss vom 2.10.2012 – 8 LA 209/11, juris Rn. 31 f.; VG Saarland, Urteil vom 4.11.2016 – 3 K 921/15, juris Rn. 39; a. A. Benassi, Rechtsprechung (Fn. 11), DVBl. 2016, 617 (621); Cremer, Kinderrechte (Fn. 11), AnwBl. 2012, 327 (329): subjektives Recht. 29 BVerfG, NJW 2015, 3366 (3367 Rn. 15); Beschluss vom 22.1.2018 – 1 BvR 2616/17, juris Rn. 7 (= FamRZ 2018, 593); Arnauld, Völkerrecht (Fn. 15), Rn. 520 ff.; Schmahl, KRK (Fn. 13), Einl. Rn. 25. 30 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 1.2.2018 – 1 BvR 1379/14, juris Rn. 14; Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15, juris Rn. 88 (= NJW 2017, 53); BVerwG, Urteil vom 23.1.2018 – 5 C 9/16, juris Rn. 16 (= NVwZRR 2018, 621). Näher mit Blick auf die UN-KRK Wapler, Kinderrechte ins Grundgesetz (Fn. 2), S. 20.
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bei der Erfüllung der Verpflichtungen aus der UN-KRK machen. Dieser Ausschuss würdigt in seinem Bericht von 2014, dass die meisten Bundesländer Kinderrechte in ihren Landesverfassungen verankert haben, zeigt sich indessen besorgt, dass die UN-KRK innerhalb Deutschlands nur auf Ebene einfachen Bundesrechts gilt. Er hat Deutschland aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Kinderrechte einen höheren Rang in der Normenhierarchie erhalten und regt insb. die Aufnahme in das Grundgesetz an.31 Mit Blick auf den Schulbereich kritisiert der Ausschuss das föderal zersplitterte Schulrecht, die Trennung des Schulsystems in mehrere Zweige weiterführender Schulen und die schulischen Nachteile für Kinder mit Migrationshintergrund.32 In einem früheren Bericht hat der Ausschuss eine Stärkung der Mitwirkungsmöglichkeiten für Kinder in der Schule empfohlen.33 Der Ausschuss für die Rechte des Kindes hat allerdings kein Mandat zur verbindlichen Interpretation der UN-KRK.34 Seinen Feststellungen kommt deshalb zwar eine beträchtliche Signalwirkung zu, jedoch keine rechtsverbindliche Wirkung.
31 Committee of the Rights of the Child, Concluding observations on the combined third and fourth periodic reports on Germany, 25.2.2014, CRC/C/DEU/CO/3-4, Tz. 9. 32 Committee of the Rights of the Child, Concluding observations on the combined third and fourth periodic reports on Germany, 25.2.2014, CRC/C/DEU/CO/3-4, Tz. 66. 33 Committee of the Rights of the Child, Concluding observations on Germany, 30.1.2004, CRC/C/15/add. 226, Tz. 28 f. 34 Vgl. BVerfG, Urteil vom 24.7.2018 – 2 BvR 309/15, juris Rn. 91 (= NJW 2018, 2619); Robert Uerpmann-Wittzack, Die UN-Behindertenrechtskonvention in der Praxis des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, AVR 54 (2016), 181 (211).
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2. Rechte der Schülerinnen und Schüler im Europarecht Auf europäischer Ebene gibt es Kindes- und Schülerrechte (i. e. S. oder i. w. S.; oben 1. 2.) im Recht des Europarates und im Unionsrecht. a) Kindeswohl und Schutz Nach dem Vorbild von Art. 3 Abs. 2 UN-KRK verschafft Art. 24 Abs. 1 S. 1 EU-GRC Kindern einen Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Art. 24 Abs. 2 EU-GRC ergänzt – wie Art. 3 Abs. 1 UNKRK –, dass das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung bei allen Kindern betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen sein muss. b) Recht auf Bildung und Chancengleichheit Soweit ersichtlich, kennen weder das Recht des Europarates noch das Unionsrecht ein explizites Recht des Kindes auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit. Art. 2 1. ZP-EMRK und Art. 14 EU-GRC haben immerhin das Recht auf Bildung verankert, nicht als Kindesrecht, sondern als ein Recht, das jeder Person zusteht bzw. niemandem verwehrt werden darf. Art. 2 1. ZP-EMRK wird als subjektives Teilhaberecht verstanden,35 begründet also keinen Anspruch auf die Schaffung nicht vorhandener Bildungseinrichtungen.36 Der Staat ist allerdings zur Vorhaltung eines Bildungswesens verpflichtet, das dem Minimalstandard einer modernen Gesellschaft genügt.37 35 Felix Hanschmann, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 2 ZP Rn. 8; Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, EMRK, 6. Aufl. 2016, § 22 Rn. 88, 91. 36 Hanschmann, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK (Fn. 35), Art. 2 ZP Rn. 10. 37 Hanschmann, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK (Fn. 35), Art. 2 ZP Rn. 10; Wolfgang Mantl, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, VVDStRL 54 (1995), 75 (83).
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Der Aspekt der Chancengleichheit wird in den einschlägigen Normen nicht ausdrücklich angeführt. Der Chancengleichheit dient aber z. B. die Klarstellung in Art. 14 Abs. 2 EU-GRC, dass das Recht auf Bildung die Möglichkeit umfasst, unentgeltlich am Pflichtschulunterricht teilzunehmen. Darüber hinaus wirken die Diskriminierungsverbote in Art. 21 EU-GRC und in Art. 14 EMRK in Richtung Chancengleichheit,38 zumal auch mittelbare Diskriminierungen unzulässig sind. Der EGMR hat etwa – bezogen auf die Tschechische Republik – die vielfach ungerechtfertigte Einschulung von Roma-Kindern in Sonderschulen als Verstoß gegen Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 2 1. ZP-EMRK gewertet.39 c) Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung Im Recht des Europarates kennt das Europäische Übereinkommen über die Ausübung von Kinderrechten vom 25.1.1996, dessen Art. 3 ein Recht des Kindes normiert, in Verfahren Auskunft zu erhalten und seine Meinung zu äußern. Nach Art. 24 Abs. 1 S. 2 EU-GRC wird die Meinung der Kinder in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt. Diese Bestimmungen ähneln der völkerrechtlichen Vorgabe in Art. 12 UNKRK. d) Weitere Rechte von Schülerinnen und Schülern Schülerinnen und Schülern stehen die Grundrechte der EMRK zu. Der EGMR hat sich etwa bereits mit der Religionsfreiheit von Schülern befasst und ihnen z. B. einen Anspruch auf Befreiung von der Teilnahme an religiös geprägten Unterrichtsveranstaltungen zuerkannt.40
38 Vgl. Friederike Wapler, Religiöse Kindererziehung: Grenzen des Rechts, RdJB 2015, 420 (438). 39 EGMR, Urteil vom 13.11.2007 – 57325/00, juris Os. 1 und 2 (= NJW 2008, 533). 40 EGMR, NVwZ 2008, 1327 (1329) – Aleviten.
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e) Zur Bedeutung der europarechtlichen Kindesrechte innerhalb der deutschen Rechtsordnung Inwieweit Art. 24 EU-GRC unmittelbar anwendbar ist, ist gar nicht so einfach zu beantworten. Die EU-Grundrechte-Charta verpflichtet in erster Linie die Unionsgewalt und die Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung des Unionsrechts (Art. 51 Abs. 1 EU-GRC). Der EuGH dehnt den Anwendungsbereich der EU-Grundrechte-Charta zwar immer weiter aus.41 Der Schulbereich ist dem Zugriff der Union aber weitgehend entzogen, sodass Art. 24 EU-GRC (Schutz und Kindeswohl) insoweit nicht unmittelbar anwendbar sein dürfte.42 Unmittelbare Wirkkraft entfaltet das Recht auf Bildung gem. Art. 2 1. ZP-EMRK.43 Die genannten Normen erlangen überdies mittelbare Bedeutung für die deutsche Rechtsordnung. Art. 24 EU-GRC beeinflusst als Ausdruck einer europäischen Werteordnung die Auslegung und Anwendung deutschen Rechts.44 Letzteres gilt im Ergebnis auch für das Europäische Übereinkommen über die Ausübung von Kinderrechten. Auch und vor allem die EMRK hat die Kraft, die Auslegung des gesamten deutschen Rechts, einschließlich des Grundgesetzes, zu dirigieren.45
etwa EuGH, NVwZ 2013, 561 Tz. 21 – Åkerberg Fransson. Anwendung kommt aber für das Aufenthaltsrecht in Betracht, so Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 2), S. 243. 43 Die EMRK gilt unmittelbar innerhalb der deutschen Rechtsordnung; siehe etwa Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim, in: MeyerLadewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, 4. Aufl. 2017, Einl. Rn. 18. 44 Jörg Ennuschat, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRC, 2016, Art. 24 Rn. 27. 45 Näher z. B. BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 (= BVerfGE 111, 307), juris Rn. 30 ff.; BVerfG, Beschluss vom 26.3. 1987 – 2 BvR 589/79 (= BVerfGE 74, 358), juris Rn. 35; Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK (Fn. 43), Einl. Rn. 19. 41 Siehe
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3. Rechte der Schülerinnen und Schüler im Grundgesetz Wenn das Grundgesetz Kinder oder Jugendliche in den Blick nimmt, dann sind diese in aller Regel Bezugspunkte von Pflege, Erziehung oder Schutz. Sie werden hingegen nicht explizit als eigenständige Rechtssubjekte benannt. Dennoch stehen ihnen grundsätzlich alle Grundrechte des Grundgesetzes zu, wie das BVerfG in einer Entscheidung von 1968 prägnant ausgeführt hat:46 „Das Kind ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG.“ Die Grundrechte gelten in vollem Umfang auch in der Schule. Das Schulrechtsverhältnis ist kein besonderes Gewaltverhältnis, das den Grundrechtsschutz reduziert.47 Wie wirken sich die Grundrechte der Kinder und Jugendlichen im Schulbereich aus? a) Kindeswohl und Schutz Wie erwähnt, gibt Art. 3 Abs. 1 UN-KRK vor, dass das Kindeswohl ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig berücksichtigt werden muss. Welche grundgesetzlichen Parallelen gibt es? Das Kindeswohl ist kein ausdrücklicher Verfassungsbegriff, stellt gleichwohl den Zentralbegriff für das Verständnis von Elternrecht und staatlichem Wächteramt gem. Art. 6 Abs. 2 GG dar. Schule fördert die freie Entfaltung der Persönlichkeit der Kinder und dient damit dem Kindeswohl.48 Dementsprechend zählt der Schulbesuch zu den in § 1666 Abs. 3 BGB genannten Maßnahmen, die das Familiengericht bei Gefährdung des Kindeswohls anordnen kann.49 Das Kindeswohl kann auch schulische Ent46 BVerfGE 24, 119 (144). – Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob das Kind bereits in der Lage ist, selbst seine Grundrechte geltend zu machen oder ob es hierzu einer Unterstützung insb. durch seine Eltern bedarf; dazu z. B. Kirchhof, Kinderrechte (Fn. 2), ZRP 2007, 149 (150). 47 Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 2), S. 229 f. 48 VG Lüneburg, Urteil vom 25.10.2016 – 4 A 90/15, juris Rn. 17. 49 BGH, Beschluss vom 17.10.2007 – XII ZB 42/07, Ls. 1, Rn. 13 (= FamRZ 2008, 45); ebenso OLG Köln, FamRZ 2015, 675 (676); OLG
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scheidungen konkret beeinflussen, etwa die Entscheidung, ob ein Kind einer Förder- oder eine Regelschule zugewiesen werden soll.50 Trotz grundsätzlicher Informationspflichten gegenüber den Eltern können diese u. U. unterbleiben, wenn sonst das Kindeswohl gefährdet wäre.51 Art. 3 Abs. 2 UN-KRK verpflichtet Deutschland, Kindern Schutz und Fürsorge zu gewährleisten. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen ist ohnehin ein Verfassungsanliegen, wie sich insb. aus Art. 5 Abs. 2, 6 Abs. 2 und 3, 11 Abs. 2 oder 13 Abs. 7 GG ergibt. Konkrete staatliche Schutzpflichten folgen im Übrigen aus der objektiv-rechtlichen Wirkungsdimension der Grundrechte. Bezogen auf die Schule hat die Rechtsprechung etwa die Schutzpflicht zugunsten der Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) zur Rechtfertigung eines Rauchverbotes an Schulen herangezogen.52 Die Schule muss ferner die Religionsfreiheit der Schüler vor Angriffen anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen schützen.53 Diese Schutzpflicht reicht aber nicht so weit, Schüler vor der Konfrontation mit anderen Glaubensüberzeugungen zu bewahren.54
Frankfurt a. M., FamRZ 2014, 1857; OLG Brandenburg, NJW 2006, 235; ähnlich OLG Dresden, FamRZ 2015, 676 Ls. 1. – Das bedeutet nicht, dass etwa Homeschooling per se als Gefährdung des Kindeswohls einzustufen ist, vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.10.2014 – 2 BvR 920/14, Rn. 25 (= FamRZ 2015, 27 [30]). In diesem Sinne auch Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 2), S. 559: Schulbesuch sei nicht pauschalabstrakt unverzichtbare Bedingung für das Kindeswohl. 50 OVG Nds., Beschluss vom 7.8.2014 – 2 ME 272/14, juris Ls. 1, das dabei u. a. auf die UN-BRK abstellt. 51 BVerfGE 59, 360 (386 f.). 52 VG Berlin, Urteil vom 16.6.2010 – 26 A 205.08, juris Rn. 26. 53 OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 27.5.2010 – OVG 3 B 29.09, juris Rn. 36. 54 BVerwG, Urteil vom 30.11.2011 – 6 C 20/10, juris Rn. 30 (= BVerw GE 141, 223).
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b) Recht auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit Das Grundgesetz kennt kein explizites Recht des Kindes auf Entwicklung und freie Entfaltung der Persönlichkeit. Selbstverständlich greift das Jedermann-Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gem. Art. 2 Abs. 1 GG. Im Blick zu behalten ist ferner Art. 6 Abs. 5 GG: Dort wird ausdrücklich die „leibliche und seelische Entwicklung“ genannt, und zwar bezogen auf uneheliche Kinder. Diese sollen durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen erhalten wie die ehelichen Kinder. Art. 6 Abs. 5 GG begründet zum einen eine objektive Schutzpflicht des Staates, zum anderen ein spezielles Gleichheitsrecht.55 Indirekt wird man Art. 6 Abs. 5 GG deshalb entnehmen können, dass den Staat eine Schutzpflicht für die leibliche und seelische Entwicklung aller Kinder trifft. Unabhängig von Art. 6 Abs. 5 GG hat das BVerfG unter Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG klargestellt, dass jedes Kind ein Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und freie Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft hat; diesem Recht korrespondiert ein Schutzanspruch.56 c) Recht auf Bildung und Chancengleichheit Art. 28 Abs. 1 UN-KRK anerkennt ein Kindesrecht auf Bildung. Eine vergleichbare Bestimmung findet sich im Grundgesetz nicht. Die Frage, ob dem Grundgesetz dennoch ein Recht auf Bildung entnommen werden kann, gehört zu den Evergreens des Schulverfassungsrechts. Das BVerfG lässt diese Frage explizit offen.57 Es nimmt immerhin das in Art. 2 Abs. 1 ZP-EMRK 55 Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Fn. 16), Art. 6 Rn. 77a. 56 BVerfGE 24, 119 (144); Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 2), S. 99 f.; dies., Kinderrechte ins Grundgesetz (Fn. 2), S. 30. 57 Zuletzt BVerfG, Beschluss vom 27.11.2017 – 1 BvR 1555/14, juris Os. 1a.
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verankerte Recht auf Bildung zur Kenntnis und bezieht dieses in die Auslegung und Anwendung grundgesetzlicher Bestimmungen ein – so im Juni 2018 mit Blick auf das Streikverbot für verbeamtete Lehrer.58 Lässt sich dem Grundgesetz ein Recht auf Bildung ent nehmen?59 Zur freien Entfaltung der Persönlichkeit i. S. d. Art. 2 Abs. 1 GG zählt die freie Entfaltung der Anlagen und Befähigungen.60 Art. 2 Abs. 1 GG verbürgt so zumindest Teilelemente eines Rechts auf Bildung.61 Zu nennen ist ferner das in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Recht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte. Zu den Ausbildungsstätten zählen auch die Sekundarstufe II (also die gymnasiale Oberstufe)62 sowie berufliche Schulen. Manche fassen darunter sogar alle weiterführenden Schulen.63 Welche Rechte folgen aus diesen Teilelementen eines Rechts auf Bildung? Besondere Zurückhaltung gilt hinsichtlich eines originären Leistungsanspruchs. Ein solcher kann sich allenfalls auf einen Minimalstandard richten.64 Im Übrigen verschaffen Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG – i. V. m. Art. 3 Abs. 1, 7 Abs. 1, 20 58 BVerfG,
Urteil vom 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12, juris Rn. 182. BVerwGE 47, 201 (206); 56, 155 (158). 60 BVerfGE 96, 288 (306). 61 Johannes Rux, Schulrecht, 6. Aufl. 2018, Rn. 185 ff.; Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 2), S. 229; dies., Kinderrechte ins Grundgesetz (Fn. 2), S. 49; dies., Kindererziehung (Fn. 38), RdJB 2015, 420 (423, 438); Manuel Kamp, in: Heusch/Schönenbroicher (Hrsg.), LV NRW, 2010, Art. 8 Rn. 3; Jörg Ennuschat, Grundrecht auf Lebenslanges Lernen? – Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für das lebenslange Lernen, RdJB 2005, 193 (196). 62 BVerfGE 58, 257 (273); Thomas Mann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 89. 63 Joachim Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 12 Rn. 47; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 34. Aufl. 2018, Rn. 949; a. A. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Fn. 16), Art. 12 Rn. 94. 64 Rux, Schulrecht (Fn. 61) Rn. 185; Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 2), S. 511 („Bildungsexistenzminimum“); ähnlich BVerfG, Beschluss vom 27.11.2017 – 1 BvR 1555/14, juris Rn. 25: wenn der Gesetzgeber evident seine Pflichten verletzt; siehe auch OVG LSA, Be59 Bejahend
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Abs. 1 GG – nur einen derivativen Teilhabeanspruch, d. h. einen Anspruch auf Teilhabe an den tatsächlich vorhandenen öffent lichen Bildungseinrichtungen und deren tatsächlichen Ange boten.65 Der Belang der Chancengleichheit findet seine Verankerung in Art. 3 Abs. 1 GG sowie im Sozialstaatsprinzip. Ohnehin folgt schon aus dem Rechtscharakter als Teilhaberecht ein Anspruch auf chancengleiche Teilhabe. d) Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung Art. 12 UN-KRK schafft ein Kindesrecht auf Beteiligung und Berücksichtigung seiner Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten. Eine explizite Parallele im Grundgesetz fehlt. Anhörungsrechte sowie das Recht, dass die eigene Sichtweise in die Ermessensausübung einfließt, können gleichwohl unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Anknüpfungspunkte bieten nicht nur das Rechtsstaatsprinzip und die objektiv-rechtlichen Wirkungen der materiell betroffenen Grundrechte („Grundrechtsschutz durch Verfahren“),66 sondern auch die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG):67 Niemand soll zum bloßen Objekt staatlicher Entscheidungen werden. Für gerichtliche Verfahren greift überdies Art. 103 Abs. 1 GG. Diese verfassungsunmittelbaren Verfahrensrechte gelten nicht nur für Erwachsene, sondern gleichermaßen für Kinder und Jugendliche68 und auch für Schülerinnen und Schüler. schluss vom 8.6.2018 – 3 M 178/18, juris Rn. 23, zu quantitativen Untergrenzen der öffentlichen Bildungsvorsorge. 65 Rux, Schulrecht (Fn. 61), Rn. 190; OVG LSA, Beschluss vom 8.6.2018 – 3 M 178/18, juris Rn. 15, 22. 66 OVG NRW, NVwZ 1987, 606 (607); Dieter Kallerhoff/Thomas Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 28 Rn. 4; Dirk Herrmann, in: BeckOK-VwVfG, Stand: 1.7.2018, § 28 Rn. 1. 67 Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG (Fn. 66), § 28 Rn. 4 f.; Herrmann, in: BeckOK-VwVfG (Fn. 66), § 28 Rn. 1. 68 Siehe z. B. AG Mönchengladbach, FamRZ 1985, 389 (390).
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e) Weitere Rechte der Schülerinnen und Schüler Die UN-KRK verbürgt einige allgemeine Grundrechte speziell für Kinder, so die Meinungsfreiheit (Art. 13 KRK), die Religionsfreiheit (Art. 14 KRK), die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 15 KRK) und den Schutz der Privatsphäre und der Ehre (Art. 16 KRK). Das Grundgesetz gewährleistet diese Grundrechte ohnehin, wenngleich ohne besonderen Fokus auf Kinder. Kinder, insb. Schüler, fallen gleichwohl in den persönlichen Schutzbereich dieser Grundrechte, die in sachlicher Hinsicht zahlreiche Berührungspunkte zum Schulwesen aufweisen. aa) M einungsfreiheit für Schülerinnen und Schüler, Art. 5 Abs. 1 GG Art. 13 KRK normiert die Meinungs- und Informationsfreiheit, sieht zugleich Schranken dieser Freiheit vor. Grundgesetzlich ist die Meinungs- und Informationsfreiheit durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt. Sie gilt auch für Schüler, auch im Unterricht und sonst innerhalb der Schule. Der gesetzlich normierte Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule (z. B. § 2 SchulG NRW) setzt als allgemeines Gesetz i. S. d. Art. 5 Abs. 2 GG der Meinungsfreiheit Schranken,69 welche der Schulgesetzgeber durch weitere Bestimmungen konturiert hat (z. B. § 45 SchulG NRW), etwa mit Blick auf Schülerzeitungen. Schüler können ihre Meinung im Rahmen des Unterrichts, aber auch „bei Gelegenheit“ des Schulbesuchs äußern. Klassiker der 70er und 80er Jahre waren die Stoppt Strauß- oder AntiAtomkraft-Plaketten. Manche Schulen hatten dies anfangs untersagt, ehe die Rechtsprechung klarstellte, dass die Meinungsfreiheit hier regelmäßig den Vorrang genießt.70 Heute geht es vermehrt um Meinungsäußerungen in sozialen Medien.71 Die 69 VG
Augsburg, Urteil vom 14.7.2015 – Au 3 K 15.349, juris Rn. 59. DVBl. 1982, 457; VGH BW, DVBl. 1976, 638 (639). 71 Ein außerschulisches Verhalten (hier: Chatten) kann zu Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen führen, wenn es sich innerschulisch 70 BayVGH,
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Rechtsprechung billigte etwa anonyme Schülerbewertungen von Lehrern auf Internetplattformen („Spickmich“).72 Wenn die Plattform aber zum Forum für Ehrverletzungen wird, kann der Schüler, der sie betreibt, Adressat schulrechtlicher Maßnahmen werden.73 Antisemitische Äußerungen in einer WhatsAppGruppe können ebenfalls zu Ordnungsmaßnahmen führen, sogar zum vorübergehenden Unterrichtsausschluss.74 bb) Religionsfreiheit für Schülerinnen und Schüler, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Art. 14 KRK verbürgt die Religionsfreiheit als Kinderrecht. Grundgesetzliche Parallele ist die Religionsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. In der Schule stoßen Kinder, Eltern und Lehrer mit teils völlig unterschiedlichen religiös-weltanschaulichen Überzeugungen auf engem Raum aufeinander. So überrascht es nicht, dass es immer wieder Konflikte gibt, die von der Rechtsprechung entschieden werden müssen. (1) Grundsätzlich keine Befreiung von der Schulpflicht oder von einzelnen Schulveranstaltungen Manche Eltern, oft christlich-fundamentalistisch geprägt, wehren sich im vollen Umfang gegen die Schulpflicht ihrer Kinder und wollen diese zuhause und selbst unterrichten. Bislang auswirkt, insb. die Erfüllung des Erziehungs- und Bildungsauftrages der Schule gefährdet; dazu näher BayVGH, Urteil vom 10.3.2010 – 7 B 09.1906, juris Ls. 2; Kurt Faßbender/Tilmann Herbrich, Rechtliche Anforderungen an schulische Ordnungsmaßnahmen wegen Fehlverhaltens im Internet, DVBl. 2016, 216 (221); Felix Hanschmann, Schulische Ordnungsmaßnahmen und die Nutzung moderner Aufzeichnungs- und Kommunikationstechniken, NVwZ 2008, 1295 (1298). 72 BGH, Urteil vom 23.6.2009 – VI ZR 196/08, juris Rn. 27, 43; OLG Düsseldorf, Urteil vom 6.10.2010, juris Rn. 54 ff., 59. 73 BayVGH, Urteil vom 10.3.2010 – 7 B 09.1906, juris Rn. 33 ff., 37. 74 VG Sigmaringen, Beschluss vom 14.11.2016 – 4 K 4895/16, juris Rn. 31, 46.
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hat die Rechtsprechung die Schulpflicht verteidigt und das Homeschooling für unzulässig erklärt.75 Anders ist dies in Österreich und der Schweiz, wo es schon von Gesetzes wegen gewisse Spielräume für das Homeschooling gibt.76 Andere Eltern akzeptieren die Schulpflicht dem Grunde nach, wollen ihre Kinder aber punktuell von ihr befreit wissen, um nicht in Konflikt mit ihren religiösen Überzeugungen zu geraten. Sie lehnen etwa einzelne Unterrichtsinhalte ab, z. B. Sexualkunde oder den Film „Krabat“. Oder sie wollen nicht, dass ihr Kind – meistens die Tochter – an bestimmten Schulveranstaltungen teilnimmt, etwa nicht am gemeinsamen Schwimm- und Sportunterricht oder an Klassenfahrten. Hier neigte die Rechtsprechung anfänglich dazu, Ansprüche auf Unterrichtsbefreiung zu bejahen, jedenfalls dann, wenn es um muslimische Eltern und Töchter ging.77 In jüngerer Zeit betont sie aber die integrative Bedeutung dieser Unterrichtsveranstaltungen und lehnt eine Befreiung vielfach ab,78 insb. dann, wenn es zumutbare Kompromisse gibt, z. B. die Nutzung des sog. Burkinis im Schwimmunterricht.79 Aber auch dann, wenn ein Konflikt unausweichlich ist, setzt sich die Integrationsfunktion der Schule gegenüber der einzelnen Glaubensüberzeugung vielfach durch, so entschieden etwa für die Pflicht zur Teilnahme 75 Siehe jüngst EGMR, Urteil vom 10.1.2019 – 18925/15, Rn. 42, 50 f.; ferner etwa BVerfG, FamRZ 2015, 27 (30); FamRZ 2006, 1094 (1095). – Umfassend zum Homeschooling Carola Meents, Homeschooling im deutschen Recht, 2018. 76 Näher Meents, Homeschooling im deutschen Recht (Fn. 75), S. 151 ff. (zur Schweiz) und S. 235 ff. (zu Österreich). 77 Z. B. BVerwG, NVwZ 1994, 578; OVG Bremen, InfAuslR 1992, 269; HessVGH, NVwZ 1988, 951; AG Berlin-Tiergarten, KirchE 24, 113 (114). – BVerwG, DVBl. 1994, 168 (169) versagte hingegen einem christlichen Mädchen die Befreiung vom gemeinsamen Schwimmunterricht. 78 Zustimmend z. B. Arnd Uhle, Integration durch Schule. Die Urteile des BVerwG in den Verfahren „Burkini“ und „Krabat“ (BVerwG 6 C 25/12 und BVerwG 6 C 12/12), NVwZ 2014, 541 (548). 79 Siehe zum Schwimmunterricht („Burkini“) BVerfG, NVwZ 2017, 227 Ls. 4; BVerwG, NVwZ 2014, 81 Ls. 2.
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an einer Klassenfahrt80 oder an einer Vorführung des Films „Krabat“.81 Will ein Kind hingegen an besonderen religiösen Veranstaltungen teilnehmen, ist eine punktuelle Unterrichtsbefreiung möglich, etwa um den Bezirkskongress der Zeugen Jehovas zu besuchen.82 (2) Religionsausübung in der Schule Schüler haben das Recht, sich in der Schule zu ihrer Religion zu bekennen, z. B. durch das Kopftuch eines muslimischen Mädchens.83 Bei einer Vollverschleierung wäre hingegen die Funk tionsfähigkeit des Unterrichts beeinträchtigt, weil die nonverbale Kommunikation zwischen Lehrer und Schülerin erheblich gestört wäre.84 cc) Verdrängung der Religion aus der Schule zur Wahrung des Schulfriedens? Vor einigen Jahren gab es in Berlin einen Rechtsstreit anlässlich des Wunsches eines muslimischen Schülers, während der Schulpause sein Gebet in der Schule zu praktizieren. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte eine Entscheidung der Schullei80 OVG
Bremen, Urteil vom 19.11.2013 – 1 A 275/10, juris Rn. 50. NVwZ 2014, 237 Ls. 2. 82 HessVGH, Beschluss vom 27.7.2015 – 7 A 1034/14.Z, juris Os. 3; VG Bremen, Urteil vom 30.6.2014 – 1 K 881/13, juris Rn. 30. 83 Hermann Avenarius, in: Avenarius (Hrsg.), Schulrecht, 8. Aufl. 2010, Tz. 5.264; Rux, Schulrecht (Fn. 61), Rn. 671; Martin Thormann, Kreuz, Kopftuch und Bekenntnisschule, DÖV 2011, 945 (948); LutzRainer Reuter, Schulrecht für Schüler nichtdeutscher Erstsprache, ZAR 2001, 111. – Zur möglichen Unvereinbarkeit des Tragens eines Kopftuches einer Schülerin beim Besuch einer Privatschule mit religiös und weltanschaulich neutralem Profil LG Bonn, Urteil vom 20.3.2015 – 1 O 365/14, juris Rn. 41. 84 Im Ergebnis ebenso BayVGH, NVwZ 2014, 1109; VG Regensburg, Beschluss vom 25.11.2013 – 1 S 13.1842, juris Rn. 34 ff, a. A. zum Gesichtsschleier VG Osnabrück, Beschluss vom 26.8.2016 – 1 B 81/16, juris Rn. 38 f. 81 BVerwG,
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tung, welche das Gebet verbot.85 Begründet wurde diese Entscheidung in der Hauptsache mit der Gefährdung des Schulfriedens an der konkreten Schule.86 Die tatsächlichen Feststellungen, die das Gericht hierbei zugrunde legte, waren in der Tat bedrückend. In der Urteilsbegründung heißt es hierzu: „Auf Grund dieser heterogenen Zusammensetzung der Schülerschaft sind unter den Schülern teilweise sehr heftige Konflikte ausgetragen worden, die von Vorwürfen gegen Mitschüler ausgingen, diese seien nicht den Verhaltensregeln gefolgt, die sich aus einer bestimmten Auslegung des Korans ergäben, wie beispielsweise dem Gebot, ein Kopftuch zu tragen, Fastenvorschriften einzuhalten, Gebete abzuhalten, kein Schweinefleisch zu verzehren, „unsittliches Verhalten“ und „unsittliche Kleidung“ sowie persönliche Kontakte zu „unreinen“ Mitschülern zu vermeiden. Aus derartigen Anlässen sei es etwa zu Mobbing, Beleidigung, insbesondere mit antisemitischer Zielrichtung, Bedrohung und sexistischen Diskriminierungen gekommen. … [D]ie Schule habe in der Vergangenheit schon einmal einen gemeinsamen Gebetsraum eingerichtet, der wieder habe geschlossen werden müssen, nachdem es zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen Schülerinnen, die ein Kopftuch getragen hätten, und anderen, die dies nicht getan hätten, gekommen sei, und nachdem die Jungen es abgelehnt hätten, gemeinsam mit Mädchen zu beten.“ Das Bundesverwaltungsgericht akzeptiert daher die Sichtweise der Vorinstanz, dass ein rituelles Mittagsgebet dieses Schülers die Konflikte in der Schule nur noch anheizen würde, ohne dass der Schule pädagogische Möglichkeiten zur Verfügung stünden, die Konflikte anders zu lösen.87 85 BVerwG,
NVwZ 2012, 162 ff. NVwZ 2012, 162 (166); zust. Friedhelm Hufen, Grundrechte: Religionsfreiheit in der Schule, JuS 2012, 663 (665); Stefan Muckel, Verbot des rituellen Gebets in der Schule, JA 2012, 235 (237); krit. Guy Beaucamp, Öffentliches Beten als Gefährdung des Schulfriedens?, LKV 2013, 537 (542); Enders, Anmerkung zu BVerwG 6 C 20.10, JZ 2012, 363 (365 f.); Kirsten Wiese, Herausforderung für den Schulalltag: Muslimisches Gebet in der Pause, NordÖR 2012, 436 (439 f.). 87 BVerwG, NVwZ 2012, 162 (167 f.). 86 BVerwG,
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Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist nicht frei von Bedenken. So betont das Gericht, dass der Einzelne um des Schulfriedens willen auf ein an sich erlaubtes Verhalten verzichten müsse, ohne dass es darauf ankomme, ob er selbst den Schulfrieden schuldhaft verletze.88 Dem Gericht ist allerdings zugute zu halten, dass es in diesem Fall von einer ultima ratio ausgeht.89 Letztlich dürfte es sich um eine Konstellation handeln, die der aus dem Polizeirecht bekannten Rechtsfigur des Nichtstörers gleicht, der u. U. dennoch in Anspruch genommen werden kann. Bemerkenswert ist noch eine weitere Aussage des Bundesverwaltungsgerichts: Es hält es für möglich, dass der Gesetzgeber im Sinne einer „distanzierenden Neutralität“ ein Gesetz erlässt, das religiöse Bezüge aus der Schule fernhalten soll.90 Einer solchen distanzierenden Neutralität im Schulbereich stünde nicht nur die Religionsfreiheit des Grundgesetzes, sondern vielfach auch die Landesverfassung entgegen, wenn diese – wie z. B. in NRW – die „Ehrfurcht vor Gott“ als Erziehungsziel benennt (Art. 7 Abs. 1 LV NRW).91 dd) Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit für Schülerinnen und Schüler, Art. 8 f. GG Art. 15 UN-KRK verschafft Kindern die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Grundgesetzliche Parallele sind Art. 8 Abs. 1 und 9 Abs. 1 GG, welche beide auch Schüler schützen. Außerhalb des Unterrichts steht es Schülern völlig frei, sich an Demonstrationen zu beteiligen. Kollidiert eine Demonstration zeitlich mit dem Unterricht, greift die Schülerpflicht zur Unterrichtsteilnahme, sodass ein Besuch der Demonstration pflichtwidrig wäre.92 Etwas anderes gilt, wenn zuvor eine Unterrichts88 BVerwG,
NVwZ 2012, 162 (168). NVwZ 2012, 162 (168). 90 BVerwG, NVwZ 2012, 162 (166). 91 Näher Jörg Ennuschat, in: Löwer/Tettinger (Hrsg.), LV NRW, 2002, Art. 7 Rn. 36. 92 VG Hamburg, Urteil vom 4.4.2012 – 2 K 3422/10, juris Ls. 1. 89 BVerwG,
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befreiung eingeholt worden ist.93 Bei der Entscheidung, ob die Unterrichtsbefreiung gewährt wird oder nicht, muss die Schule das Gewicht der Versammlungsfreiheit berücksichtigen.94 Schülerstreiks sind unzulässig.95 Schüler können sich ungehindert zu Schülervereinigungen zusammenschließen. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob die Vereinigung sich auf dem Schulgelände oder im Schulgebäude betätigen, z. B. eine Diskussionsveranstaltung durchführen darf.96 Die Schulgesetze sehen die unentgeltliche Überlassung von Räumen an Schülergruppen vor (z. B. § 45 Abs. 4 S. 3 und 4 SchulG NRW). In der Schulpraxis scheint es hier keine nennenswerten Probleme zu geben – es gibt jedenfalls kaum einschlägige Rechtsprechung. ee) S chutz der Privatsphäre und der Ehre von Schülerinnen und Schülern, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG Art. 16 UN-KRK zielt auf den Schutz der Privatsphäre und der Ehre. Das völkerrechtliche Verständnis von Privatsphäre ist weit gefasst und umfasst alle Erscheinungsformen des Auslebens, des Ausdrucks und der Kundgebung von Privaten.97 Grundgesetzliche Parallelen bilden u. a. die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG). Letzteres wird unter dem Gesichtspunkt des Datenschutzes auch für den Schulbereich immer relevanter. Der Schutz der Ehre wird grundgesetzlich ebenfalls durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet.98 Er bildet zu93 Rux,
Schulrecht (Fn. 61), Rn. 646, 648. Hamburg, Urteil vom 4.4.2012 – 2 K 3422/10, juris Ls. 1. 95 Rux, Schulrecht (Fn. 61), Rn. 649. 96 Rux, Schulrecht (Fn. 61), Rn. 651. 97 Schmahl, KRK (Fn. 13), Art. 16 Rn. 2; ähnlich mit Blick auf Art. 8 EMRK Meyer-Ladewig/Netesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/ von Raumer (Hrsg.), EMRK (Fn. 43), Art. 8 Rn. 7; Grabenwarter/Pabel, EMRK (Fn. 35), § 22 Rn. 6. 94 VG
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gleich eine Schranke der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 2 B. GG. Gefährdet werden Ehre98 und Persönlichkeitsrecht z. durch Mobbing unter Schülern, insb. in den sozialen Medien. Selbst wenn die entsprechenden Äußerungen z. B. im Klassenchat via WhatsApp außerhalb der Schule gefallen sein sollten, wirken sie ganz massiv in den Schulbereich ein. Sie können deshalb zu schulrechtlichen Ordnungsmaßnahmen führen.99 4. Rechte der Schülerinnen und Schüler in den Landesverfassungen Das Schulrecht ist nach der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung (Art. 70 GG) den Ländern zugewiesen. Deshalb enthält das Grundgesetz nur wenige schulverfassungsrechtliche Vorgaben. Viel beredter sind die Landesverfassungen. Das betrifft nicht nur Schüler, sondern allgemein die Rechte und den Schutz von Kindern und Jugendlichen. Fast alle Landesverfassungen enthalten spezifische Kinderrechte.100 Manche Landesverfassungen stellen klar, dass Kinder und Jugendliche selbst Träger von Rechten sind.101 Zu nennen ist etwa Art. 27 Abs. 1 LV Bbg.: „Kinder haben als eigenständige Personen das Recht auf Achtung ihrer Würde.“ Nach Art. 6 Abs. 1 LV NRW hat jedes Kind ein Recht auf Achtung seiner Würde als eigenständige Persönlichkeit. Die Regelung in NRW versteht sich als Beitrag zur Umsetzung der UN-KRK.102
98 Udo Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand: Aug. 2018, Art. 2 Abs. 1 Rn. 148. 99 VG München, Urteil vom 14.2.2017 – M 3 K 15.979, juris Rn. 31, 38 ff. 100 Schmahl, KRK (Fn. 13), Art. 4 Rn. 16: Ausnahmen seien Hamburg und Hessen. 101 So z. B. Art. 10 Abs. 3 LV SH, Art. 14 Abs. 4 LV MV. 102 Ralf Müller-Terpitz, in: Löwer/Tettinger, LV NRW, 2002, Art. 6 Rn. 4.
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a) Kindeswohl und Schutz Eine explizite Parallelregelung zu Art. 3 Abs. 1 UN-KRK (zur vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen) findet sich, soweit ersichtlich, in keiner Landesverfassung. Vielfach wird jedoch – wie in Art. 3 Abs. 2 UN-KRK – der Schutz von Kindern und Jugendlichen verankert. Die meisten Landesverfassungen gestalten dies als objektiv-rechtlichen Schutzauftrag aus, siehe etwa Art. 126 Abs. 3 S. 1 LV Bayern: „Kinder und Jugendliche sind durch staatliche und gemeindliche Maßnahmen und Einrichtungen gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige und körperliche Verwahrlosung und gegen Misshandlung zu schützen.“ Ähnliche Formulierungen finden sich z. B. in Art. 14 Abs. 1 und 3 LV MV,103 Art. 6 Abs. 2 S. 2 LV NRW,104 Art. 9 Abs. 2 SächsLV105 oder Art. 10 Abs. 1 LV SH.106 Manche Landesverfassungen wählen einen Wortlaut, der einen individuellen Schutzanspruch nahelegt, z. B. Art. 6 Abs. 1 LV NRW („Recht auf besonderen Schutz von Staat und Gesellschaft“) oder Art. 6 Abs. 2 S. 1 LV NRW („Recht auf … Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung“). Aber selbst wenn man einen Leistungsanspruch auf Schutz bejahen sollte,107 103 „(1) Kinder und Jugendliche genießen als eigenständige Personen den Schutz des Landes, der Gemeinden und Kreise vor körperlicher und seelischer Vernachlässigung. Sie sind durch staatliche und kommunale Maßnahmen und Einrichtungen gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige und körperliche Verwahrlosung und gegen Misshandlung zu schützen. … (3) Kinder und Jugendliche sind vor Gefährdung ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung zu schützen.“ 104 „Staat und Gesellschaft schützen sie [= Kinder und Jugendliche] vor Gefahren für ihr körperliches, geistiges und seelisches Wohl.“ 105 „Die Jugend ist vor sittlicher, geistiger und körperlicher Gefährdung besonders zu schützen.“ 106 „Kinder und Jugendliche stehen unter dem besonderen Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände sowie der anderen Träger der öffentlichen Verwaltung.“ 107 In diesem Sinne Müller-Terpitz, in: Löwer/Tettinger, LV NRW (Fn. 102), Art. 6 Rn. 11.
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wären die staatlichen Gestaltungsspielräume so groß, dass in aller Regel keine konkreten Schutzmaßnahmen verlangt und durchgesetzt werden könnten.108 Im Ergebnis würde auch der Individualanspruch wie ein objektiver Schutzauftrag wirken. b) Recht auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit Mehrere Landesverfassungen gewährleisten das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit, so z. B. Art. 9 Abs. 1 SächsLV:109 „Das Land erkennt das Recht eines jeden Kindes auf eine gesunde seelische, geistige und körperliche Entwicklung an.“ c) Recht auf Bildung und Chancengleichheit Einige Landesverfassungen nennen ausdrücklich das Recht auf Bildung. Manche Länder nehmen dabei alle Menschen in den Blick, so z. B. Art. 29 Abs. 1 LV Bbg. oder Art. 7 Abs. 1 SächsLV. Andere stellen speziell auf Kinder und Jugendliche ab, etwa Art. 10 Abs. 3 S. 2 LV SH110 oder Art. 8 Abs. 1 S. 1 LV NRW: „Jedes Kind hat Anspruch auf Erziehung und Bildung.“111 108 So auch Müller-Terpitz, in: Löwer/Tettinger, LV NRW (Fn. 102), Art. 6 Rn. 11. 109 Ähnlich Art. 124 Abs. 1 S. 2 LV Bayern, Art. 6 Abs. 2 LV NRW, Art. 24 LV RP, Art. 10 Abs. 3 LV SH. – In Rheinland-Pfalz wird dieses Recht zudem nicht nur für Kinder (dazu Art. 24 LV RP), sondern für jeden Menschen verbürgt, und dies mit Signalwirkung in Art. 1 Abs. 1 LV RP: Der Mensch „hat ein natürliches Recht auf die Entwicklung seiner körperlichen und geistigen Anlagen und auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit innerhalb der durch das natürliche Sittengesetz gegebenen Schranken.“ 110 „Sie [= Kinder und Jugendliche] haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, auf Bildung, auf soziale Sicherheit und auf die Förderung ihrer Entwicklung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten.“ 111 Unter „Kind“ fallen hier auch Jugendliche; so Ennuschat, in: Löwer/Tettinger, LV NRW (Fn. 91), Art. 8 Rn. 9; Kamp, in: Heusch/Schönenbroicher (Hrsg.), LV NRW (Fn. 61), Art. 8 Rn. 7 f.
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Welchen Rechtscharakter hat das landesverfassungsrechtliche Recht auf Bildung? Die Antwort muss für jede Landesverfassung gesondert ermittelt werden. Art. 7 Abs. 1 SächsLV stuft es ausdrücklich als Staatsziel ein. In NRW112 oder Brandenburg113 ist der Anspruch auf Erziehung und Bildung subjektiv-rechtlich zu verstehen, allerdings nur als derivatives Teilhaberecht. Das Recht auf Bildung verschafft also keinen Anspruch auf Schaffung oder Erhaltung bestimmter Bildungskapazitäten und -einrichtungen, weder in Bezug auf Schulformen noch einzelne Schulen. Das Recht auf Bildung garantiert insb. nicht den Bestand und die ständige Schaffung neuer Eingangsklassen einer bestimmten Schule. Zu einem Leistungs- und Verschaffungsanspruch erstarkt das Recht auf Bildung allenfalls dann, wenn das notwendige Minimum für die Wahrnehmung des Rechts auf Bildung fehlt. Die objektiven Rechtswirkungen reichen weiter: Art. 8 Abs. 1 S. 1 LV NRW verpflichtet das Land zur Optimierung des Schulbetriebes. Wenngleich diese Pflicht unter dem Vorbehalt des Möglichen steht, wird man Art. 8 Abs. 1 S. 1 LV NRW das Staatsziel entnehmen können, ein leistungsfähiges Schulwesen zu errichten und zu unterhalten.114 Der Aspekt der Chancengleichheit ist den Landesverfassungen teils sehr wichtig. So verlangt etwa Art. 10 Abs. 1 S. 4 LV NRW, dass für die Aufnahme in eine Schule Anlage und Neigung des Kindes maßgebend sein sollen, nicht aber die wirtschaftliche Lage und gesellschaftliche Stellung der Eltern. Ganz generell erwächst darauf die Verfassungsforderung, dass die Entfaltung der Anlagen und Befähigungen und damit der Schulerfolg nicht von der sozialen Herkunft abhängig sein sollen. 112 Zu Art. 8 Abs. 1 LV NRW siehe Ennuschat, in: Löwer/Tettinger (Hrsg.), LV NRW (Fn. 91), Rn. 8, 12 f.; ebenso Kamp, in: Heusch/Schönenbroicher (Hrsg.), LV NRW, 2010, Art. 8 Rn. 4 f. 113 OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 10.9.2018 – 3 S 45.18, juris Rn. 3. 114 Ennuschat, in: Löwer/Tettinger (Hrsg.), LV NRW (Fn. 91), Art. 8 Rn. 8, 14; ders., Verfassungsrechtliche Bemerkungen zur Reform der Schulaufsicht – Warum Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt jeder Reformdiskussion stehen müssen, NWVBl. 2018, 89 (91).
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d) Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung Eine ausdrückliche Parallelnorm zu Art. 12 UN-KRK, wonach das Kind seine Meinung in allen es berührenden Angelegenheiten äußern darf, findet sich im Landesverfassungsrecht wohl nicht. Es gibt aber durchaus landesverfassungsrechtliche Aussagen, welche den Schutzgehalt von Art. 12 UN-KRK abbilden können. Beispielhaft genannt sei Art. 27 Abs. 4 LV Bbg.:115 „Kindern und Jugendlichen ist durch Gesetz eine Rechtsstellung einzuräumen, die ihrer wachsenden Einsichtsfähigkeit durch die Anerkennung zunehmender Selbständigkeit gerecht wird.“ Die „Rechtsstellung“ i. S. d. Art. 27 Abs. 4 LV Bbg. kann sowohl materielle Rechte umfassen als auch prozedurale, deshalb auch das Recht des Kindes zur Stellungnahme in allen es betreffenden Angelegenheiten. e) Weitere Rechte der Schülerinnen und Schüler Viele Landesverfassungen enthalten einen eigenen Grundrechtskatalog oder inkorporieren die Grundrechte des Grundgesetzes. Kinder und Jugendliche werden vom persönlichen Schutzbereich der landesverfassungsrechtlichen Grundrechte erfasst. Das könnte z. B., wie erwähnt, relevant werden für die Meinungs- oder Religionsfreiheit. 5. Rechte der Schülerinnen und Schüler im Schulrecht Im Schulrecht werden die Schülerinnen und Schüler durchgängig als eigenständige Rechtspersönlichkeiten angesprochen. Das betrifft einerseits Rechte und Ansprüche, wie z. B. den Anspruch auf Aufnahme in die nächstgelegene Grundschule (§ 46 Abs. 3 SchulG NRW). Andererseits werden Schülern zahlreiche Pflichten auferlegt, so die Verpflichtung, regelmäßig am Unter115 Eine ähnliche Bestimmung findet sich in Art. 14 Abs. 4 S. 1 LV MV: „Kinder und Jugendliche sind Träger von Rechten, deren Ausgestaltung die Persönlichkeit fördert und ihren wachsenden Fähigkeiten und Bedürfnissen zu selbstständigem Handeln entspricht.“
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richt teilzunehmen (z. B. §§ 42 Abs. 3 S. 2, 43 Abs. 1 SchulG NRW) oder die Schulordnung einzuhalten (§ 42 Abs. 3 S. 3 SchulG NRW). a) Kindeswohl und Schutz Das Kindeswohl ist eine zentrale Direktive für den gesamten Schulbereich. Bisweilen finden sich schulrechtliche Normen, die auf das Kindeswohl abstellen, so z. B. § 42 Abs. 6 SchulG NRW:116 „Die Sorge für das Wohl der Schülerinnen und Schüler erfordert es, jedem Anschein von Vernachlässigung oder Misshandlung nachzugehen. Die Schule entscheidet rechtzeitig über die Einbeziehung des Jugendamtes oder anderer Stellen.“ b) Recht auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit Der schulische Bildungs- und Erziehungsauftrag ist auf die Förderung der freien Entfaltung der Person und der Selbstständigkeit ihrer Entscheidungen und Handlungen gerichtet (vgl. z. B. § 2 Abs 4 S. 2 SchulG NRW). c) Recht auf Bildung und Chancengleichheit Die Schulgesetze normieren durchgängig ein Recht auf schulische Bildung (z. B. § 1 Abs. 1 SchulG NRW). Art. 28 Abs. 1 UN-KRK nennt noch einige Rahmenbedingungen für die Verwirklichung des Rechts auf Bildung, so etwa die Schulpflicht und die Unentgeltlichkeit mindestens der Grundschulen, möglichst auch der weiterführenden Schulen. Die Schulgesetze und teils auch die Landesverfassungen geben die Schulpflicht sowie die Unentgeltlichkeit des Schulunterrichts vor (siehe zur Schulpflicht z. B. Art. 8 Abs. 2 LV NRW, §§ 34 f. SchulG NRW; zur Unentgeltlichkeit z. B. Art. 9 Abs. 1 LV NRW, § 92 Abs. 4 116 Ähnlich z. B. Art. 31 Abs. 1 S. 2 BayEuG: „Sie [Die Schulen] sollen das zuständige Jugendamt unterrichten, wenn Tatsachen bekannt werden, die darauf schließen lassen, dass das Wohl einer Schülerin oder eines Schülers ernsthaft gefährdet oder beeinträchtigt ist und deshalb Maßnahmen der Jugendhilfe notwendig sind.“
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SchulG NRW). Nach Art. 28 Abs. 2 UN-KRK muss die Diszi plin in der Schule in einer Weise gewahrt werden, die der Menschenwürde des Kindes entspricht. In allen Bundesländern ist z. B. körperliche Züchtigung ausdrücklich untersagt, teils durch Schulgesetz (z. B. Art. 86 Abs. 3 Nr. 1 BayEUG), im Übrigen durch Verwaltungsvorschrift.117 Art. 29 UN-KRK führt zudem verschiedene Bildungsziele auf,118 u. a. Menschenrechte, Toleranz, Gleichberechtigung der Geschlechter, Frieden, Umweltschutz. Vergleichbare Kataloge von Erziehungszielen enthalten viele Landesverfassungen (z. B. Art. 7 LV NRW) sowie die Schulgesetze (z. B. § 2 SchulG NRW).119 Die Herstellung und Wahrung von Chancengleichheit ist ein zentraler Belang des Schulrechts (siehe z. B. § 4 Abs. 2 S. 2 SchulG Berlin: „Die Schule ist so zu gestalten, dass … Chancengleichheit hergestellt [wird].“). Eine offene Flanke der Chancengleichheit ist, wie bereits erwähnt, in den Eltern zu sehen. Das erkennt auch das Schulrecht; siehe etwa § 1 Abs. 2 S. 1 SchulG NRW: „Die Fähigkeiten und Neigungen des jungen Menschen sowie der Wille der Eltern bestimmen seinen Bildungsweg.“ Versuche, die Chancengleichheit in der Schule und durch die Schule zu vergrößern, zielen deshalb zum einen vielfach auf eine gewisse Zurückdrängung des elterlichen Einflusses, z. B. durch Ganztagsschulen. Zum anderen wird versucht, die Eltern in die schulische Förderung einzubeziehen, Eltern sollen aktiviert werden, z. B. in Form der Elternmitwirkung. Bisweilen sollen Eltern er117 Näher Hans-Peter Füssel, in: Avenarius (Hrsg.), Schulrecht, 8. Aufl. 2010, Tz. 22.33. 118 Siehe auch die Bildungsziele in Art. 26 Abs. 2 AEM: „Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben. Sie soll Verständnis, Duldsamkeit und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen fördern und die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des Friedens begünstigen.“ 119 Zur weitgehenden Deckungsgleichheit der Erziehungsziele in Art. 29 KRK und im Schul(verfassungs)recht der Länder siehe auch Schmahl, KRK (Fn. 13), Art. 28/29 Rn. 31.
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tüchtigt werden, z. B. durch Sprachkurse für Flüchtlingseltern, die an der Schule angesiedelt werden, etwa in Kombination mit einem Eltern-Café. d) Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung Die Schulgesetze kennen zahlreiche Bestimmungen, welche Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte vorsehen. Grundlegend bestimmt etwa § 42 Abs. 2 SchulG NRW: „Schülerinnen und Schüler haben das Recht, im Rahmen dieses Gesetzes an der Gestaltung der Bildungs- und Erziehungsarbeit der Schule mitzuwirken und ihre Interessen wahrzunehmen. Sie sind ihrem Alter entsprechend über die Unterrichtsplanung zu informieren und an der Gestaltung des Unterrichts und sonstiger schulischer Veranstaltungen zu beteiligen.“ Dabei kann zwischen individueller und kollektiver Beteiligung bzw. Mitwirkung unterschieden werden. Auf die Beteiligung des einzelnen Schülers zielen Informations- und Beratungspflichten der Schule z. B. hinsichtlich der individuellen Lern- und Leistungsentwicklung (§ 44 Abs. 2 SchulG NRW) sowie in Fragen der Erziehung, der Schullaufbahn und des weiteren Bildungsweges (§ 44 Abs. 5 SchulG NRW). Ordnungsmaßnahmen werden erst nach Anhörung des Schülers verhängt (§ 53 Abs. 6 SchulG NRW). Kollektiv ausgerichtet sind Informationspflichten in allen grundsätzlichen und wichtigen Schulangelegenheiten (§ 44 Abs. 1 SchulG NRW) sowie die Rechte im Rahmen der Schülermitwirkung. So sind Schüler etwa auch Mitglieder der Schulkonferenz, der einige Entscheidungen über das Schulleben zustehen (näher z. B. §§ 65 f., 74 SchulG NRW). e) Weitere Schülerrechte Die Schulgesetze sehen weitere Schülerrechte vor, z. B. die Meinungsfreiheit (§ 45 SchulG NRW), das Recht, Schülerzeitungen herauszugeben und auf dem Schulgrundstück zu verbreiten (§ 45 Abs. 3 SchulG NRW), das Recht, sich zu Schülergruppen zusammenzuschließen (§ 45 Abs. 4 SchulG NRW), ab Religions-
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mündigkeit das Recht, über die Teilnahme am Religionsunterricht zu bestimmen (§ 31 Abs. 6 SchulG NRW) oder datenschutzrechtliche Einsichtsrechte (§ 120 Abs. 7 SchulG NRW). 6. Zwischenfazit: umfassende Verbürgung der Rechte von Schülerinnen und Schülern im geltenden Recht Eine Bestandsaufnahme des geltenden Rechts ergibt mithin, dass die Rechte der Schülerinnen und Schüler auf vielen Ebenen der Normenhierarchie umfassend verbürgt sind. Den einschlägigen völker- und unionsrechtlichen Normen dürfte zwar zumeist die unmittelbare Wirkung innerhalb Deutschlands fehlen. Größere Wirkkraft kommt den Verbürgungen der EMRK zu. Diejenigen Kindesrechte, die im Zentrum der verfassungspolitischen Diskussion stehen, können im Wege der Auslegung schon jetzt dem Grundgesetz entnommen werden. Spezifische Gewährleistungen von Kindes- und Schülerrechten in den Landesverfassungen und im Schulrecht treten hinzu. Größere Schutzlücken sind deshalb schon im geltenden Recht nicht zu verzeichnen. Gleichwohl sind in der Praxis Defizite bei der Wahrung des Kindeswohls zu registrieren. Trauriges Beispiel ist ein Beschluss des BVerfG vom 23.4.2018, wo im Tatbestand Folgendes berichtet wird: Eine Grundschule wies das Jugendamt auf die Verwahrlosung einer Schülerin hin, das dann den Kontakt zu den Eltern suchte. Dann endete die Grundschulzeit – und das Mädchen besuchte einige Zeit überhaupt keine Schule, weil die Eltern keine Entscheidung über die weitere Schullaufbahn getroffen hatten. Hier wurde ein Mädchen zeitweilig von allen Seiten im Stich gelassen, von seinen Eltern, aber auch vom Jugendamt und der Schulbehörde.
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IV. Mögliche Auswirkungen einer Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz im Schulbereich Solche eklatanten Versäumnisse könnten wohl auch Kinderrechte im Grundgesetz nicht sicher verhindern. Welche Auswirkungen auf den Schulbereich hätten Kinderrechte im Grundgesetz denn überhaupt? 1. Wer hat die Interpretationskompetenz für das Kindeswohl? Die Kinderrechte der UN-KRK zielen auf die Stärkung des Kindeswohls. Auch das Elternrecht gem. Art. 6 Abs. 2 GG ist treuhänderisch auf das Kindeswohl bezogen.120 Schließlich dient auch die Schule dem Kindeswohl.121 Im Zentrum steht mithin das Kindeswohl. Dann fragt sich, was das Kindeswohl ausmacht122 und wie dieses geschützt und gefördert wird – vor allem fragt sich, wer die Interpretations- und Entscheidungskompetenz hat. 120 BVerfGE 121, 69 (92); Peter Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand: Aug. 2018, Art. 6 Rn. 109; Frauke BrosiusGersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 142; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Fn. 16), Art. 6 Rn. 45; Gerhard Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Stark (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 6 Abs. 2 Rn. 145; kritisch zur Bezeichnung als treuhänderisches Recht: Martin Burgi, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Stand: Sep. 2018, Art. 6 Rn. 123. 121 So mit Blick auf die Schulpflicht OLG Köln, FamRZ 2014, 675 Ls. 1; VG Lüneburg, Urteil vom 25.10.2016 – 4 A 90/15, juris Rn. 17; zur Teil-Sorgerechtsentziehung bei Verweigerung der Beschulung BGH, FamRZ 2008, 45 Ls. 1; OLG Bbg., NJW 2006, 235 Ls. 1; OLG Frankfurt, FamRZ 2014, 1857. 122 Zum Kindeswohl i. S. d. UN-KRK: Das Kindeswohl ist immer auf den Einzelfall und das konkrete Kind auszulegen, so Cremer, Kinderrechte (Fn. 11), AnwBl. 2012, 327 (328). Der Maßstab soll nach Auffassung des UN-Ausschusses für die Rechte der Kinder im Übrigen aus der UN-KRK selbst gewonnen werden, ohne Berücksichtigung der jeweiligen vertragsstaatlichen Besonderheiten; näher Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 2), S. 237 f.
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a) Grundsatz: elterlicher Erziehungsprimat Die Antwort des Grundgesetzes ist – bislang – eindeutig: Die Interpretationskompetenz liegt bei den Eltern: Pflege und Erziehung der Kinder sind die zuvörderst den Eltern obliegende Pflicht. Aus Art. 6 Abs. 2 GG folgt ein elterlicher Erziehungsprimat.123 b) Ausnahme: Gleichordnung von staatlichem Erziehungsund Bildungsauftrag und Elternrecht, aber faktischer Vorrang der Schule Allerdings verschafft Art. 7 Abs. 1 GG dem Staat ein originäres Erziehungsmandat für den Schulbereich.124 Er ist dort – im Schulbereich – also nicht etwa nur verlängerter Arm der elterlichen Erziehung, kann vielmehr eigene Vorstellungen zur Verwirklichung des Kindeswohls entwickeln.125 Wenn innerhalb des Schulbereichs staatliches Erziehungsmandat und Elternrecht kollidieren sollten, stehen sie sich nach der Rechtsprechung des BVerfG im Ansatz gleichgeordnet gegenüber.126 Nun gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Elternvorstellungen zum Kindeswohl, während der Staat eine Vielzahl von Kindern in einer Schule und einer Klasse zusammenfassen muss. Aufgrund der Notwendigkeit zur Vereinheitlichung kommt dem staatlichen Mandat des123 Allg. Auffassung; siehe z. B. Badura, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Fn. 120), Art. 6 Abs. 2 Rn. 130, 137; Chris tian von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 71; Wolfram Höfling, HdbStR VII, 3. Aufl. 2009, § 155 Rn. 48. 124 BVerfGE 98, 218 (244); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Fn. 16), Art. 7 Rn. 1, 6; Thiel, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 7 Rn. 22; Stern, HdbStR IV/1, 2006, S. 601. 125 Bodo Pieroth, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, DVBl. 1994, 949 (956); Jörg Ennuschat, Völker-, europa- und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der Schulpflicht, RdJB 2007, 271 (274). 126 BVerfGE 98, 218 (244); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Fn. 16), Art. 7 Rn. 6; Höfling, HdbStR VII (Fn. 123), § 155 Rn. 55; Wapler, Kindererziehung (Fn. 38), RdJB 2015, 420 (437).
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halb ein gewisser faktischer Vorrang zu. Dies führt schon jetzt zu weitreichenden Gestaltungsspielräumen des Staates innerhalb des Schulwesens.127 2. Veränderung des Verhältnisses von Elternrecht und staatlichem Erziehungsauftrag durch Kinderrechte im Grundgesetz? Wie würde sich die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz innerhalb des Koordinatensystems aus Elternrecht und staatlichem Erziehungsauftrag auswirken?128 a) Zwar: völkerrechtliche Anerkennung des elterlichen Erziehungsprimats Die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz wäre im Lichte der einschlägigen völker- und europarechtlichen Vorgaben zu sehen. Das Völkerrecht anerkennt den elterlichen Erziehungsprimat. Schon in Art. 26 Abs. 3 AEM heißt es: „Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll.“129 Ähnlich stellt Art. 18 Abs. 1 S. 2 UN-KRK Folgendes klar: „Für die Erziehung und Entwicklung des Kindes sind in erster Linie die Eltern oder gegebenenfalls der Vormund verantwortlich. Dabei ist das Wohl des Kindes ihr Grundanliegen.“130 Auch die UN-KRK verschafft den Eltern mithin den Interpretationsprimat.131 Diese Vorrang127 Ennuschat,
Rahmenbedingungen (Fn. 125), RdJB 2007, 271 (279). zur Auswirkung von Kinderrechten im DreiecksVerhältnis Eltern-Kind-Staat z. B. bei Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, Fragen zum Thema „Kinderrechte in die Verfassung“, 7.3.2007, WD 3-073/07, S. 7 ff. 129 „Parents have a prior right to choose the kind of education that shall be given to their children.“ 130 „Parents or, as the case may be, legal guardians, have the primary responsibility for the upbringing and development of the child. The best interests of the child will be their basic concern.“ 131 Benassi/Eichholz, Grundgesetz und Kinderrechte (Fn. 2), DVBl. 2017, 614 (618). 128 Überlegungen
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stellung der Eltern bei der Erziehung der Kinder soll sogar zu den wesentlichen Grundprinzipien der UN-KRK zählen.132 Das erinnert alles sehr an die Wertungen in Art. 6 Abs. 2 GG.133 b) Dennoch: Kinderrechte als Einfallstor für gewisse Zurückdrängung des elterlichen Erziehungsprimats, z. B. durch Verschiebung der Darlegungslasten? Dennoch stellt sich die Frage, ob Kinderrechte zum Einfallstor werden, durch das der Staat das elterliche Erziehungsprimat zurückdrängen kann. Ein Hebel könnte eine Verschiebung der Darlegungslasten sein. Gegenwärtig gilt mit gewisser Vergröberung Folgendes: Den Eltern steht ein Interpretationsprimat für das Kindeswohl zu. Das staatliche Wächteramt aus Art. 6 Abs. 2 GG ermöglicht staatliche Eingriffe erst dann, wenn die elterliche Erziehung dem Kindeswohl evident zuwiderläuft.134 Das Wächteramt ist also gewissermaßen auf die Gewährleistung eines Minimalschutzes reduziert.135 Die Anforderungen des BVerfG an die Darlegung der Kindeswohlgefährdung sind recht streng: Die drohenden Schäden müssen ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret belegt werden.136 Schmahl, KRK (Fn. 13), Art. 5 Rn. 5. zur Ähnlichkeit von Art. 18 Abs. 1 UN-KRK und Art. 6 Abs. 2 GG Schmahl, KRK (Fn. 13), Art. 18 Rn. 9; Wapler, Kindererziehung (Fn. 38), RdJB 2015, 420 (423). 134 BVerfG FamRZ 2008, 492 (492 f.); von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 123), Art. 6 Rn. 72; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/ Stark (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 120), Art. 6 Abs. 2 Rn. 243; Höfling, HdbStR VII (Fn. 123), § 155 Rn. 49; Klaus Stern, HdbStR IV/1, 2006, S. 592. 135 Vgl. Burgi, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Fn. 120), Art. 6 Rn. 157; Michael Coester, in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2009, § 1666 Rn. 85; Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 2), S. 137. 136 BVerfG, FamRZ 2018, 1084 (1086); Thomas Alexander Heiß, Elternrechte contra Kinderrechte – Paradigmenwechsel in der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG?, NZFam 2015, 532 (536). 132 So
133 Siehe
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Die Stärkung von Kinderrechten könnte dazu führen, diese Anforderungen an die staatlichen Darlegungslasten zu lockern – im Sinne von „im Zweifel für das Kindeswohl“. 3. Aktueller Trend zur Zurückdrängung des Elternrechts im Schulbereich unter Berufung auf das Kindeswohl Diejenigen, welche Vorschläge für die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz aufnehmen, betonen zwar zumeist, dass sie die Gewichte im Dreieck Eltern-Kind-Staat nicht verschieben wollen.137 Dennoch ist durchaus ein aktueller Trend zu beobachten, unter Berufung auf das Kindeswohl das Elternrecht im Schulbereich noch weiter zurückzudrängen. Zwei Beispiele seien im Folgenden angeführt. a) Einheitsschule vs. Eltern[wahl]rechte Im Schulbereich setzt sich, wie erwähnt, trotz formaler Gleichordnung in den meisten Fällen der staatliche Erziehungsauftrag gegenüber dem Elternrecht durch. Bedeutungslos ist das Elternrecht dennoch nicht. Deutlich heißt es etwa in Art. 8 Abs. 1 S. 2 LV NRW, dass das natürliche Recht der Eltern, die Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen, die Grundlage des Erziehungs- und Schulwesens bildet. Da die Elternwillen sich unterscheiden, muss es ein vielfältiges Schulwesen geben (so auch ausdrücklich Art. 10 Abs. 1 S. 3 LV NRW). Vor diesem Hintergrund ist Folgendes bemerkenswert: Gem. Art. 43 UN-KRK überwacht ein UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes die Fortschritte bei der Umsetzung der Kinderrechtskonvention. Dieser Ausschuss kritisiert das gegliederte Schulwesen in Deutschland und die damit verbundene frühe Trennung der Bildungswege.138 Unter Berufung auf das von ihm definierte 137 Siehe näher Wapler, Kinderrechte ins Grundgesetz (Fn. 2), S. 24 unter Hinweis auf BT-Drs. 17/10118; BT-Drs. 17/11650; BT-Drs. 17/13223. 138 Committee of the Rights of the Child, Concluding observations on the combined third and fourth periodic reports on Germany, 25.2.2014, CRC/C/DEU/CO/3-4, Tz. 66.
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Kindeswohl ignoriert er damit den weit verbreiteten Elternwillen nach einem gegliederten Schulwesen. b) Wahl der nicht-optimalen Schulform Das Elternrecht wirkt sich innerhalb des Schulwesens insb. dahingehend aus, dass die Eltern entscheiden, welche weiterführende Schule ihr Kind besuchen soll.139 Das Grundgesetz vertraut also in erster Linie darauf, dass die jeweiligen Eltern ihre Kinder am besten kennen, daher deren individuelle Bedürfnisse am besten erkennen und deshalb diejenigen Entscheidungen treffen, die das Kindeswohl am effektivsten fördern – auch mit Blick auf die Bildungsinteressen des Kindes. Das staatliche Wächteramt garantiert nur einen Grundstock an Bildung.140 Das Grundgesetz nimmt deshalb hin, dass das Kind durch die Eltern entscheidung für oder gegen eine Bildungseinrichtung gewisse Nachteile erleiden mag, die im Rahmen einer objektiven Begabungsförderung vielleicht vermeidbar gewesen wären.141 Dementsprechend berechtigt das Wächteramt in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG den Staat nicht zum Eingreifen im Interesse eines (vermeintlichen) Erziehungsoptimums.142 Wenn Eltern für ihr begabtes Kind „nur“ die Realschule wählen, könnte der Staat dies nicht verhindern.143 Würde sich das ändern, wenn der Staat im Lichte der UNKRK ein Kinderrecht auf Bildung schaffen würde? Ausgeschlossen ist das nicht: So gibt es immer mehr Stimmen in der Literatur, welche es im Lichte der UN-BRK für stets/regelmäßig kindes139 BVerfGE
34, 165 Ls. 2. Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 2), S. 479. 141 Ähnlich von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 123), Art. 6 Rn. 72; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Fn. 16), Art. 6 Rn. 56. 142 Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (Fn. 120), Art. 6 Abs. 2 Rn. 139; Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 2), S. 136; Thomas Alexander Heiß, Elternrechte contra Kinderrechte? Die Stellung von Eltern und Kind in der Judikatur des BVerfG, NZFam 2015, 491 (493). 143 Füssel, in: Avenarius (Hrsg.), Schulrecht (Fn. 117), Tz. 18.211. 140 Wapler,
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wohlwidrig halten, wenn Eltern für ihr Kind eine Förderschule und nicht die inklusive Beschulung in der Regelschule wünschen.144 Auch hier wird unter Berufung auf das selbstdefinierte Kindeswohl das Elternrecht verkürzt. Ein derartiger Trend könnte sich auch bei der Umsetzung der UN-KRK einstellen. V. Fazit und Ausblick Betrachtet man die Rechte der Schüler auf den einzelnen Ebenen der Normenhierarchie, wird man wohl keine größeren rechtlichen Schutzlücken identifizieren, die geschlossen werden müssten. Wenn es Schutzdefizite gibt, dürfte es sich meist um ein Ressourcenproblem handeln. Nun könnten Kindesrechte im Grundgesetz eine Signalwirkung entfalten, die im politischen Prozess hilft, z. B. die nötigen Ressourcen für die Schulen oder die Jugendhilfe bereitzustellen. Dann muss aber sorgsam geklärt werden, ob die Aufnahme von Kinderrechten zu einer Neujustierung der Gewichte im Dreieck Eltern-Kind-Staat führt. Und man muss eine ehrliche Antwort auf die Frage geben, ob man die Gewichte zwischen Staat und Eltern verschieben will oder nicht.
144 Z. B. Frauke Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar (Fn. 120), Art. 7 Rn. 66; Angelika Siehr/Michael Wrase, Das Recht auf inklusive Schulbildung als Strukturfrage des deutschen Schulrechts – Anforderungen aus Art. 24 BRK und Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, RdJB 2014, 161 (179).
Kinderrechte und Generationengerechtigkeit – Nullzinspolitik, Staatsverschuldung und die soziale Sicherheit kommender Generationen Von Rainer Wernsmann I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 II. Staatsverschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 1. Verfassungsrechtliche Kreditbegrenzungen 1949–1969 . . . 180 2. Verfassungsrechtliche Kreditbegrenzungen 1969–2009 . . . 180 3. Verfassungsrechtliche Kreditbegrenzungen seit 2009 . . . . . 182 4. Sog. Goldene Regel der Finanzpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 III. Generationengerechtigkeit und demokratische L egitimation – Staatsverschuldung als Demokratieproblem? . . . . . . . . . . . . . . 184 1. Legitimation von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2. Normunterworfenheit (Normbetroffenheit) und Mitwirkung am demokratischen Willensbildungsprozess . . . . . . . 189 IV. Soziale Sicherheit, insbesondere Renten und Pensionen . . . . . 191 V. Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank . . . . . . . . . . . . . 192 VI. Verfassungspolitischer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
I. Einleitung Der aktuelle Koalitionsvertrag sieht vor, Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich zu verankern.1 Gleichzeitig stellt er zutreffend fest: „Kinder sind Grundrechtsträger, ihre Rechte haben für uns Verfassungsrang. Wir werden ein Kindergrund1 Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD (19. Legislaturperiode), Zeile 802, im Internet abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975 226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koali tionsvertrag-data.pdf?download=1.
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recht schaffen.“ Wenn – wie richtig festgestellt wird – Kinder schon Grundrechtsträger sind (nicht nur „für uns“, sondern auch schon nach dem Grundgesetz), warum soll dann noch ein eigenes Kindergrundrecht geschaffen werden? Und mit welchem Inhalt? Ein solches Kindergrundrecht kann nur dann eine sinnvolle Ergänzung des schon bestehenden Grundrechtskatalogs (Art. 1 ff. GG) sein, soweit Kinder besonderen Gefahren oder Beeinträchtigungen von Rechten oder Lebenschancen ausgesetzt sind, die sich von denjenigen erwachsener Grundrechtsträger unterscheiden, und soweit die bisherige Rechtslage keinen ausreichenden Schutz bietet. Diskutiert man über die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz, bedarf unter diesem Blickwinkel auch die Generationengerechtigkeit der Erörterung. Es stellt sich die Frage, wie gesichert werden kann, dass die heute Jungen später einmal ähnlich gut leben können oder zumindest ähnlich gute Rahmenbedingungen vorfinden können wie die heute Älteren. Freilich ist dabei vorauszuschicken, dass die Lebenschancen, die sich einem Menschen bieten, in hohem Maße immer davon abhängen, in welche Zeit er hineingeboren wird und welche (staatlichen oder privaten) Rahmenbedingungen er vorfindet. So hängt die Realisierbarkeit von Lebenschancen etwa davon ab, ob ein Student seine Examina in einem Zeitpunkt ablegt, in dem zahlreiche Stellen zu besetzen sind oder nur wenige mit der Folge, dass er schlechtere berufliche Aufstiegschancen erhält? Insofern können heute Lebende bessere oder schlechtere Rahmenbedingungen vorfinden als früher Lebende oder Angehörige einer Alterskohorte können bessergestellt sein als Angehörige einer anderen Alterskohorte. Gesetze können für die Zukunft geändert werden. Dies ist Ausdruck des demokratischen Prinzips. Die Mehrheit kann Prio ritäten und Ausgabeentscheidungen ändern und andere Entscheidungen treffen als eine frühere Mehrheit oder auch neuen Erkenntnissen folgen. Gleichheitsrechtlich ist es im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG kaum problematisch, wenn frühere Fälle anders behandelt werden als heutige Fälle. Auch Stichtagsregelungen bei der Umstellung komplexer Regelungssysteme
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sind weitgehend unproblematisch im Hinblick auf den Gleichheitssatz.2 Jedenfalls politisch und moralisch diskussionsbedürftig ist es aber, wenn heutige Generationen auf Kosten künftiger Generationen leben würden – wenn alle Ressourcen ausgebeutet würden und für künftige Generationen nichts mehr verbleibt, wenn die Umwelt zerstört würde oder wenn künftige staatliche Finanzspielräume durch das Anhäufen nicht mehr tragbarer Schulden beseitigt würden. Das dahinterstehende Problem könnte darin liegen, dass die Wahlberechtigten der Zukunft das hinzunehmen hätten, was sie vorfinden aufgrund von Entscheidungen, die die Wahlberechtigten von heute getroffen haben. Hier stellt sich die Frage, was fair ist und wie Fairness gesichert werden kann. Anhand dreier Beispiele möchte ich in meinem heutigen Vortrag behandeln, welche rechtlichen Grenzen der Staat einem Leben auf Kosten künftiger Generationen setzt oder ggf. – de constitutione ferenda – setzen sollte, sei es durch Grundrechte, sei es durch Staatszielbestimmungen, sei es durch verbindliche Vorgaben. Näher betrachten werde ich die Themenfelder − Staatsverschuldung, − soziale Sicherheit kommender Generationen, insbesondere die Altersversorgung, sowie − Nullzinspolitik der EZB (die faktisch auch eng mit der Staatsverschuldung einiger EU-Staaten zusammenhängt). Auch wenn über den Gleichheitssatz die Ungleichbehandlungen von Älteren und Jüngeren kaum in den Griff zu bekommen sind, so hält das höherrangige Recht zum Teil besondere Schutzvorkehrungen für die jüngeren Generationen bereit. Indem sie der Entscheidung durch gegenwärtige „einfache“ Mehrheiten entzogen sind, schützt die Verfassung die nachwachsenden Generationen und trägt zur Generationengerechtigkeit bei. Soweit Begrenzungen aus primärem Unionsrecht folgen, besteht ebenfalls eine erhöhte Änderungsfestigkeit, da Vertragsänderungen nur im Konsens aller Mitgliedstaaten zustande kommen. 2 BVerfGE
87, 1 (47); 117, 272 (301); st. Rspr.
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Im Folgenden werde ich zunächst exemplarisch die Entwicklung der verfassungsrechtlichen Grenzen der Staatsverschuldung unter der Geltung des Grundgesetzes darstellen, die zweimal fundamental geändert worden sind (II.). Anschließend werde ich ausgehend von diesem Themenfeld auf die grundsätzliche Frage eingehen, ob in der Verlagerung von finanziellen Verpflichtungen auf künftige Steuerzahler ein Demokratieproblem liegt und insbesondere ob Normbetroffenheit zum Erfordernis der Mitwirkung am Entscheidungsprozess führen muss oder sollte (III.). Schließlich werde ich – aus Raumgründen recht kurz – die strukturell vergleichbaren Fragen der sozialen Sicherheit und der Nullzinspolitik ansprechen (IV., V.) und mit einem Ausblick enden (VI.). Ich werde mich dabei beim Thema Staatsverschuldung im Wesentlichen auf die verfassungsrechtliche Perspektive konzentrieren und das Unionsrecht ausgeblendet lassen.3 II. Staatsverschuldung Schaut man auf die Zwecke, die der Staat mit der Aufnahme von Krediten verfolgt, so kann es um die Finanzierung von Ausgaben oder den Ausgleich von Einnahmeausfällen (durch Senkung von Steuern oder anderen Abgaben) gehen. Entsprechen die staatlichen Einnahmen nicht den staatlichen Ausgaben, so ermöglicht die Aufnahme von Krediten den Haushaltsausgleich, der sonst nur über Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen erreicht werden könnte. Gleichzeitig wird – jedenfalls in Phasen, in denen der Zins nicht bei 0 % liegt – der Haushaltsausgleich in späteren Haushaltsjahren erschwert, da dann Ausgaben für Zinsen und ggf. Tilgung erfolgen, falls eine solche erfolgen soll. Staatsverschuldung führt also zur Umverteilung finanzieller Mittel von späteren in frühere Haushalte; gegenwärtige Ausgaben werden durch künftige Einnahmen gedeckt4, weshalb auch vom Zeitmaschinen-Effekt gesprochen wird. 3 Zu den unionsrechtlichen Grenzen der Staatsverschuldung s. etwa Henning Tappe/Rainer Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht, 2. Aufl. 2019, Rdnr. 485 ff. m. w. N. 4 Vgl. – auch zum Folgenden – Henning Tappe/Rainer Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht, 2. Aufl. 2019, Rdnr. 410, 412 m. w. N.
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Finanzierung von gegenwärtigen Ausgaben durch spätere Steuerzahler macht das Leben den heutigen Entscheidungsträgern einfacher im Hinblick auf den Haushaltsausgleich. Isensee hat die Staatsverschuldung im Hinblick auf diese Bequemlichkeit daher sehr treffend als „Opium des Staatshaushalts“ bezeichnet.5 Andererseits kann es aber auch jenseits dieses Bequemlichkeitsmotivs darum gehen, konjunkturelle Impulse zu setzen, indem der Staat Ausgaben tätigt, wenn die Nachfrage durch Private in einer schwierigen Wirtschaftslage niedrig ausfällt. Wie auch immer die verfassungsrechtlichen Begrenzungen der Staatsverschuldung ausgestaltet waren, gemeinsam war ihnen in irgendeiner Form immer, dass der Verschuldung ein Zukunftsnutzen gegenüberstehen musste. Nur so kann das schlechte Gewissen, künftige Generationen zur Finanzierung heranzuziehen, legitimerweise beruhigt werden. Umgekehrt wurde es als ungerecht angesehen, Maßnahmen zum Ausbau der Infrastruktur (Brücken, Straßen, Kanäle, Eisenbahn, Flughäfen) ausschließlich mit Steuergeldern der jetzigen Generation zu finanzieren, obwohl doch künftige Generationen aus diesen ebenfalls Nutzen ziehen konnten. Musgrave hat hierfür den Begriff „pay as you use“ formuliert6 – ähnlich wie Abschreibungen für Abnutzung, die die Anschaffungs- oder Herstellungskosten auf die Zeiträume der Nutzungsdauer eines Gegenstands verteilen.7 Welche Grenzen zieht die Verfassung der Staatsverschuldung? Aufschlussreich ist die historische Entwicklung der Begrenzungen der Staatsverschuldung im Grundgesetz. Daran wird deutlich, wie sich die Einschätzungen mehrfach geändert haben, un5 Josef Isensee, Schuldenbarriere für Legislative und Exekutive. Zu Reichweite und Inhalt der Kreditkautelen im Grundgesetz, in: Wendt/ Höfling/Karpen/Oldiges (Hrsg.), Staat – Wirtschaft – Steuern. Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, 1996, S. 705 (708). 6 Richard A. Musgrave, Finanztheorie, 2. Aufl. 1969, S. 523. 7 Vgl. Henning Tappe, Das Haushaltsgesetz als Zeitgesetz. Zur Bedeutung der zeitlichen Bindungen für das Haushalts- und Staatsschuldenrecht, 2008, S. 254 f.
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ter welchen Voraussetzungen eine Lastenverschiebung in die Zukunft gerechtfertigt werden kann.8 1. Verfassungsrechtliche Kreditbegrenzungen 1949–1969 In seiner ursprünglichen Fassung sah Art. 115 GG – wie zuvor schon Art. 73 RV und Art. 87 WRV – vor, dass im Wege des Kredites Geldmittel nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken und nur auf Grund eines Bundesgesetzes beschafft werden durften. Grenzen sah die Verfassung also in dreierlei Hinsicht vor: (1) ein außerordentlicher Bedarf, der eine besondere Ausnahmesituation voraussetzte, (2) werbende Zwecke (in der Regel), also Ausgaben für produktive Investitionen und (3) eine parlamentsgesetzliche Ermächtigung. Diese Voraussetzungen mussten kumulativ erfüllt sein. Die sehr strengen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen führten dazu, dass sich die Staatsverschuldung in der Zeit von 1949 bis 1969 sehr moderat entwickelte.9 Kredite für die reguläre Staatsfinanzierung kamen damit nicht in Betracht.10 2. Verfassungsrechtliche Kreditbegrenzungen 1969–2009 Die Finanzreform von 1969 führte auch zu Änderungen des Art. 115 GG, der die Staatsverschuldung des Bundes regelt. Ein außerordentlicher Bedarf war nunmehr nicht mehr erforderlich, erhalten blieb aber die grundsätzliche Kopplung der Neuver8 Zur Entwicklung der finanzwissenschaftlichen Theorien etwa Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen, 2007, S. 31 ff. 9 Siehe das Schaubild und die Nachweise bei Henning Tappe/Rainer Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht, 2. Aufl. 2019, Rdnr. 424, 426. 10 Wolfram Höfling/Stephan Rixen, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der 106. Erg.-Lfg., Art. 115 Rdnr. 1 ff.
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schuldung an die Investitionen. Einnahmen aus Krediten waren nur noch zulässig bis zur Höhe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen. Ausnahmen waren (nur) zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Im Jahr der Verfassungsänderung 1969 sah der verfassungsändernde Gesetzgeber die Grenze sehr großzügig bemessen, da die Staatsverschuldung zuvor stets weit unterhalb der Grenze der Investitionen gelegen hatte. Der verfassungsändernde Gesetzgeber ging offensichtlich davon aus, dass die Regelgrenze der Neuverschuldung ohnehin nicht erreicht werden würde.11 In den Jahren zwischen 1991 und 2009 wurde diese Grenze aber immerhin achtmal überschritten12 und der Schuldenstand des Bundes stieg steil von 23 Mrd. Euro im Jahr 1969 auf 940 Mrd. Euro im Jahr 2008 an. Durchbrochen werden konnte die Investitionsgrenze bei Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.13 Damit wurden Ideen des Ökonomen John M. Keynes aufgenommen14, der im Interesse der Konjunkturstabilisierung eine antizyklische Steuerung befürwortete. In Zeiten des Konjunkturabschwungs sollte nicht auch noch der Staat seine Investitionen reduzieren müssen und damit den Abschwung verstärken. Das Staatsschuldenrecht diente damit seit der Finanzreform von 1969 nicht mehr nur dem fiskalischen Zweck der Bedarfsdeckung, sondern zugleich dem wirtschaftspolitischen Zweck der Konjunktursteu11 Vgl.
BVerfGE 119, 96 (145) m. w. N. das Schaubild und die Nachweise bei Henning Tappe/Rainer Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht, 2. Aufl. 2019, Rdnr. 424, 432. 13 Das Grundgesetz definiert den Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bewusst nicht, um ihn für künftige Fortentwicklungen der ökonomischen Erkenntnis offen zu halten, BVerfGE 79, 311 (338). Der verfassungsändernde Gesetzgeber hatte aber die Elemente vor Augen, die im gleichzeitig erlassenen § 1 StabG benannt wurden: Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum. 14 Vgl. auch BVerfGE 119, 96 (138). 12 Siehe
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erung.15 In der Praxis kam es dann aber nicht zum zweiten Schritt, den Keynes vorgesehen hatte: Die Staatsschulden wurden im wirtschaftlichen Aufschwung nicht zurückgeführt, auch weil das Verfassungsrecht dieses nicht zwingend verlangte.16 Zusammenfassend: Kredite kamen nun auch für die reguläre Staatsfinanzierung in Betracht – grundsätzlich zwar nur bis zur Summe der Investitionen, bei Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts17 aber sogar noch darüber hinaus. 3. Verfassungsrechtliche Kreditbegrenzungen seit 2009 Nachdem der hohe Stand der Staatsschulden zunehmend als Problem angesehen wurde, wurde zu Beginn der Finanz- und Staatsschuldenkrise im Jahr 2009 im Zuge der Föderalismusreform II das Staatsschuldenrecht des Grundgesetzes erneut reformiert. Nunmehr sind (nach Ablauf einer Übergangsfrist, vgl. Art. 143d GG) nach Art. 109 und 115 GG die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen, wobei diesem Grundsatz für den Bund bereits entsprochen ist, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten. Ausnahmen sind zulässig bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen (Art. 115 15 BVerfGE 79, 311 (331); Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, 1966, S. 17 Rdnr. 58. 16 Dies bemängelnd auch BVerfGE 119, 96 (142). Insoweit ebenso Sondervotum Udo Di Fabio/Rudolf Mellinghoff, BVerfGE 119, 96 (172), die aber „nur ein solches Verhalten“ (der Rückführung von Schulden im Aufschwung) für verfassungsgemäß hielten, was aber nach damaliger Verfassungsrechtslage nicht vorgesehen war. 17 Hinsichtlich der Fragen, ob eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorlag oder unmittelbar drohte und ob eine erhöhte Kreditaufnahme zu deren Abwehr geeignet war, kam dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu, mit dem aber eine Darlegungslast im Gesetzgebungsverfahren korrespondierte, BVerfGE 119, 96 (140 f.).
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Abs. 2 Satz 6 GG) sowie bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung (Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG), wobei nunmehr auch der zweite Schritt von Keynes – die konjunkturgerechte Rückführung der Schulden im Aufschwung – gewährleistet werden soll (Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG). Die Aufnahme der Kredite bedarf weiter einer parlamentsgesetzlichen Ermächtigung (Art. 115 Abs. 1 GG) und bei Abweichungen unter Berufung auf Naturkatastrophen sogar der sog. Kanzlermehrheit (Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG). Zusammenfassend: Kredite sind für die Länder grundsätzlich nicht mehr erlaubt und für den Bund grundsätzlich nur noch bis zur Grenze dessen, was im Hinblick auf die Wirtschaftsentwicklung finanzpolitisch nach Ansicht des verfassungsändernden Gesetzgebers vertretbar erscheint. Durchbrechungen sind – in Anlehnung an Keynes – zulässig, aber müssen symmetrisch wieder zurückgeführt werden. 4. Sog. Goldene Regel der Finanzpolitik Nach der sog. Goldenen Regel der Finanzpolitik, die das Verfassungsrecht zwischen 1969 und 2009 aufgegriffen hatte, kann eine investitionsorientierte Verschuldung die gleichmäßige Beund Entlastung über verschiedene Generationen hinweg gewährleisten. Investitionen werden dabei als zukunftsbegünstigende18 Maßnahmen verstanden, die die Produktionsmittel der Volkswirtschaft erhalten, vermehren oder verbessern. Die Bezugnahme auf die (Brutto-)Investitionen ließ freilich außer Acht, dass auch bei Sachinvestitionen Wertverzehr eintritt und künftige Generationen auch Ausgaben für die Werterhaltung zu tragen haben.19 Zudem hätte ein noch weiteres Verständnis der Zukunftsinvestitionen, wie es teils von einer Mindermeinung auch vertreten wurde, ohnehin kaum Grenzen aufzuzeigen vermocht, wenn man etwa auch Aufwendungen für Bildung (Lehrergehälter usw.) als Investitionen eingeordnet hätte. 18 BVerfGE
79, 311 (334); 119, 96 (138). zu den verfassungspolitischen Defiziten der alten Regelung auch BVerfGE 119, 96 (143 ff.). 19 Vgl.
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III. Generationengerechtigkeit und demokratische Legitimation – Staatsverschuldung als Demokratieproblem? Wegen der vor 2009 stetig angewachsenen Kreditaufnahme und des immer weiter angestiegenen Gesamtschuldenstands wurde die Staatsverschuldung lange Zeit auch als Demokratieproblem angesehen. Der künftige Steuerzahler, der für die Rückzahlung der aufgenommenen Kredite aufkommen müsse, sei noch nicht wahlberechtigt bei den Wahlen der Abgeordneten, die jetzt über die Aufnahme von Krediten entscheiden. Demokratie (Art. 20 GG) bedeute Macht auf Zeit und der aktuelle Gesetzgeber dürfe nur über die endgültigen Einnahmen seiner Legislaturperiode entscheiden, nicht aber auf künftige Einnahmen nach Ablauf seiner Amtszeit vorgreifen und über deren Verwendung bestimmen.20 Bei näherer Betrachtung vermag das Demokratie-Argument freilich nicht durchzugreifen. Die Forderung nach einer nachhaltigen öffentlichen Finanzpolitik ist berechtigt und es ist sehr zu begrüßen, dass das Problem der Staatsverschuldung – jedenfalls in Deutschland – gebremst werden konnte. Allerdings kennt das Grundgesetz keine Betroffenendemokratie, nach der alle von den Auswirkungen parlamentarischer Entscheidungen Betroffenen auch mitwirken können müssten. Ein praktikabler und verbindlicher Schutz künftiger Generationen kann nur über präzise verfassungsrechtliche Bestimmungen nach Art der Art. 109 Abs. 3 und 115 GG erfolgen, die die Staatsverschuldung begrenzen und die den Interessen künftiger Generationen Rechnung tragen. Dies werde ich im Folgenden darlegen. 1. Legitimation von Gesetzen Es stellt sich die Frage, inwieweit Gruppen, deren Belange im politischen Prozess nicht genügend oder noch gar nicht be20 Vgl. zur Auseinandersetzung mit dieser Argumentation auch Henning Tappe/Rainer Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht, 2. Aufl. 2019, Rdnr. 421.
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rücksichtigt werden, durch verfassungsrechtliche Sicherungen hinreichend geschützt sind, ob also z. B. Grundrechte und das übrige Verfassungsrecht etwaige Schwächen in der politischen Fähigkeit, Mehrheiten zu organisieren oder an der Entscheidung mitwirken zu können, ausgleichen können. Staatliches Handeln muss einerseits demokratisch, andererseits grundrecht lich (oder darüber hinaus materiell verfassungsrechtlich) legitimiert sein21. Legitimation heißt: den Grund dafür schaffen, dass ein Sein, ein Sollen oder ein Wollen rechtliche Anerkennung verdient22. Das Grundgesetz kennt zwei Legitimationsquellen: einerseits den Willen des Volkes, auf den sich gem. Art. 20 Abs. 2 GG alle Staatsgewalt zurückführen lassen muss, andererseits materiell-rechtliche Inhaltsvorgaben wie vor allem die Grundrechte, denen jedes Staatshandeln genügen muss (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG)23. Die „formale Legitimation“ begründet nach den Spielregeln der Demokratie der Mehrheitswille, während das Staatshandeln materiell dann legitimiert ist, wenn auch den berechtigten Belangen der im demokratischen Willensbildungsprozess unterlegenen oder nicht oder noch nicht repräsentierten Gruppen Rechnung getragen wird24. In diesem Sinn enthält die Verfassung vielfältige Sicherungen. Schon früh hat das BVerfG entschieden, dass die Mehrheitsherrschaft unter dem Grundgesetz formell und materiell beschränkt ist25. So dienen die Grundrechte auch und gerade dem Minderheitenschutz, also dem Schutz derjenigen Gruppen, denen es schwerfällt, im politischen Prozess Mehrheiten für ihre Anliegen zu organisieren. In diesem Sinne schützen die Grundrechte nach heutigem Verständnis nicht nur den Einzelnen vor 21 Vgl. Christian Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 33 Rdnr. 2. 22 Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie. Die polare Demokratie im grundgesetzlichen Gemeinwesen, 1981, S. 8. 23 Vgl. Isensee, Grundrechte und Demokratie (Fn. 22), S. 8. 24 Vgl. auch Josef Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 15 Rdnr. 185. 25 BVerfGE 2, 1 (13); 5, 85 (197 ff.); vgl. ferner etwa Paul Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 21 Rdnr. 95.
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dem Staat, sondern auch die Minderheit vor der Mehrheit26. So hat das BVerfG etwa zum Steuerrecht die Gefahr hervorgehoben, dass eine Parlamentsmehrheit übermäßige und ungerechte Steuern einer Minderheit auferlegt oder Lasten etwa im Wege übermäßiger Staatsverschuldung auf künftige Generationen verschiebt27. Die Verankerung des Steuereingriffs in der demokratischen Repräsentation bedeutet nur einen beschränkt wirksamen Schutz gegenüber unmäßigen Eingriffen28, der Vorbehalt des Gesetzes und das Erfordernis einer parlamentsgesetzlichen Grundlage für den Steuereingriff führen also allein nicht mehr dazu, dass die Interessen aller Wahlberechtigten ausreichend geschützt werden. Unmittelbar durch den Willen des Volkes legitimiert ist das Parlament. Innerhalb des Parlaments entscheidet wiederum die Mehrheit29 (Art. 42 Abs. 2 GG). Das Grundgesetz bindet aber auch den unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgeber an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) und die übrigen Verfassungsnormen (Art. 20 Abs. 3 GG). Verstößt ein Gesetz gegen Grundrechte oder sonstiges Verfassungsrecht, so reicht der Mehrheitswille zur verfassungsrechtlichen Legitimation des Gesetzes ausnahmsweise nicht aus. Klaus Stern, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 9, 3. Aufl. 2011, § 184 Rdnr. 48; ders., Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 611; Fritz Ossenbühl, Die Interpretation der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1976, S. 2100 ff. (2106); Rainer Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz – Rechtsfolgen und Rechtsschutz, 2000, S. 206 f. 27 BVerfGE 63, 343 (367 f.). – Ähnliche Probleme stellen sich auf bundesstaatlicher Ebene. So weist Roman Herzog, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 57 Rdnr. 7 darauf hin, dass die vergleichsweise finanzschwachen Länder seit je die Mehrheit der Stimmen im Bundesrat stellen. Dies führe dazu, dass die Verteilung der Finanzmassen den politischen Leistungen oder Fehlleistungen, die der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder auch zugrunde lägen, wenig gerecht werde. 28 Vgl. auch – in anderem Zusammenhang – BVerfGE 63, 343 (368 f.). 29 Art. 42 Abs. 2 GG verlangt grundsätzlich die Mehrheit der abgegebenen Stimmen für einen Beschluss des Bundestages; vgl. zu verschiedenen Ausgestaltungen des Mehrheitsprinzips im Grundgesetz etwa Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 7 Rdnr. 59 ff. 26 Vgl.
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Das Grundgesetz enthält bereits jetzt mehr oder weniger starke Sicherungen zugunsten der nachwachsenden Generationen. In diesen Fällen kann sich auch eine Parlamentsmehrheit nicht über die materiellen Vorgaben der Verfassung hinwegsetzen. Genannt seien das Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG) sowie vor allem die Obergrenzen für die Staatsverschuldung (Art. 109 Abs. 3, 115 GG).30 Art. 109 Abs. 3 und 115 GG verbieten bzw. begrenzen die Aufnahme neuer Kredite von Bund und Ländern. Art. 115 Abs. 1 GG dient ebenfalls in erster Linie31 dem Schutz der Nachwachsenden, also künftiger Steuerzahler32. Denn Kredite müssen verzinst und zurückgezahlt werden und belasten damit Haushalte künftiger Rechnungsjahre. Nach Art. 20a GG schützt der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Diese Staatszielbestimmung verweist als Zweck des Umwelt- und Tierschutzes ausdrücklich „auch“ auf die „Verant30 Einen Zusammenhang herstellend Rudolf Wendt, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 115 Rdnr. 11 m. w. N. 31 Daneben kann eine zu hohe Kreditnachfrage der öffentlichen Hand auch die Zinsen in die Höhe treiben und damit gegenwärtige private Investitionen erschweren. 32 BVerfGE 79, 311 (328 ff., 334); VerfGH NW, NWVBl. 2003, 419 ff. (423); Hermann Pünder, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 123 Rdnr. 33 ff.; Paul Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 4, 2. Aufl. 1999, § 88 Rdnr. 293 ff.; Lerke Osterloh, Staatsverschuldung als Rechtsproblem?, NJW 1990, S. 145 ff.; Ferdinand Kirchhof, Der notwendige Ausstieg aus der Staatsverschuldung, DVBl. 2002, S. 1569 (1571); Markus Heintzen, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl. 2003, Art. 115 Rdnr. 1, 13; Werner Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 115 Rdnr. 7; Josef Isensee, Staatsverschuldung im Haushaltsvollzug, DVBl. 1996, S. 173 ff.; Gunnar Folke Schuppert, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2002, Art. 115 Rdnr. 23; Klaus Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 1980, S. 1278 ff.; Klaus Vogel, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 4, 2. Aufl. 1999, § 87 Rdnr. 81; Rudolf Wendt/Michael Elicker, Staatsverschuldung und intertemporäre Lastengerechtigkeit, DVBl. 2001, S. 497 ff.
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wortung für die künftigen Generationen“. Art. 20a GG bedarf zwar der Konkretisierung durch den Gesetzgeber und ist auch nur hinsichtlich der Zielsetzung verfassungsrechtlich verbindlich33. Dennoch verkörpert er jedenfalls eine objektive Wertentscheidung und kann als solche auch in verfassungsrechtliche Abwägungen eingestellt werden. Das Grundgesetz sichert bestimmte Bereiche auch gegen den Mehrheitswillen ab. Allerdings enthalten etwa die Grundrechte nur äußerste Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen verfügt der Gesetzgeber über zahlreiche Handlungsoptionen. Die grundrechtlichen und sonstigen verfassungsrechtlichen Vorgaben verhindern also nicht, dass Belange der im politischen Prozess unterrepräsentierten oder noch gar nicht repräsentierten Gruppen schwächer berücksichtigt werden als solche Belange, die der Mehrheit „am Herzen liegen“. Dem Gesetzgeber bleibt trotz der Sicherungen des Grundgesetzes zugunsten der nachwachsenden Generationen ein weiter Gestaltungsspielraum. Demokratie kennt keine dem politischen Prozess vorgegebene politische „Richtigkeit“34. Der demokratische Prozess setzt Ergebnisoffenheit voraus. Auch die Grundrechte und das übrige Verfassungsrecht lassen dem Gesetzgeber im Regelfall eine Vielzahl gleichermaßen verfassungskonformer Handlungsalternativen. Dies zeigt gleichzeitig, dass Grundrechte oder das übrige Verfassungsrecht – jedenfalls soweit es keine verbindlichen Regeln vorsieht und diese gerichtlich durchsetzbar macht – faktisch eingeschränkte Mitwirkungsmöglichkeiten von nicht am gegenwärtigen politischen Prozess Mitwirkenden oder auch Minderheitengruppen nur begrenzt kompensieren können. Kennt das Grundgesetz allerdings verbindliche Regeln, die abwägungsfest sind, wie etwa die Regeln zur Begrenzung der Kreditaufnahme, so sind die Belange der künftigen Generationen dadurch – sofern diese auch durchgesetzt werden können – hinreichend geschützt. 33 Vgl. Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 15. Aufl. 2018, Art. 20a Rdnr. 1, 18; Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 6 Rdnr. 9 ff. 34 Peter Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 25 Rdnr. 31.
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2. Normunterworfenheit (Normbetroffenheit) und Mitwirkung am demokratischen Willensbildungsprozess Demokratie bedeutet Volksherrschaft. Das in Art. 20 Abs. 1 GG festgeschriebene Demokratieprinzip präzisiert Art. 20 Abs. 2 GG dahingehend, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und von diesem in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Das Volk ist das demokratische „Legitimationssubjekt“35. Wer aber ist das Volk? Auch in einem demokratisch verfassten Staat ist es denkbar, dass die Normunterworfenen und Normbetroffenen – also diejenigen, die die Gesetze beachten müssen und auf die sich die Gesetze auswirken – keinerlei Einfluss auf die Wahl derjenigen haben, die über das Zustandekommen der Gesetze entscheiden. Beispielhaft für diesen Zusammenhang sei nur erwähnt, dass etwa die in Deutschland lebenden Ausländer nicht an den Wahlen zum Bundestag und zu den Landtagen teilnehmen dürfen.36 Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Dabei ist unter dem Volk das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland, d. h. eine zur Einheit verbundene Gruppe von Menschen, zu verstehen.37 Die Auffassung, dass Art. 20 Abs. 2 35 BVerfGE
83, 60 (74). EU-Ausländer sind gem. Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG berechtigt, an den Kommunalwahlen teilzunehmen. Die Erstreckung des Kommunalwahlrechts hat das BVerfG im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG für verfassungsrechtlich zulässig erachtet, vgl. BVerfGE 83, 37 (59). 37 BVerfGE 83, 37 (50 f.); 83, 60 (76, 81). Ebenso Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 24 Rdnr. 28; Dirk Ehlers, Die Staatsgewalt in Ketten, in: Faber/Frank (Hrsg.), Demokratie in Staat und Wirtschaft. Festschrift für Ekkehart Stein zum 70. Geburtstag, 2002, S. 125 (130 f.); Klaus Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 10 II 8; a. A. Hans Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 46 Rdnr. 7 f., der für einen offenen Volksbegriff plädiert und grundsätzlich dem Bundes- bzw. den Landesgesetzgebern die Definition des Volks überlassen will, soweit nicht die Landesverfassungen ausdrücklich das Wahlrecht an die deutsche Staatsangehörigkeit anknüpfen. 36 Lediglich
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Satz 1 GG eine Legitimation von Entscheidungen der Staatsgewalt durch die jeweils Betroffenen verlange, hat das BVerfG ausdrücklich zurückgewiesen38. Es hat zwar die „Vorstellung, es entspreche der demokratischen Idee, insbesondere dem in ihr enthaltenen Freiheitsgedanken, eine Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzu stellen“39, als im Ausgangspunkt zutreffend bezeichnet, gleichwohl aber ausgeführt, dass ein solcher Weg durch das Grundgesetz versperrt sei40. Zur Begründung verweist es in systematischer Auslegung auf die Präambel, Art. 33 Abs. 1 und 2, 56 und 146 GG, die Verfassungstradition, die Verknüpfung von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt sowie den Verbandscharakter des demokratischen Staats41. Das Grundgesetz gewährleistet also keine „Identität von Regierenden und Regierten“42, und es erfüllt auch nicht die 1765 38 BVerfGE 83, 37 (51). – Klaus Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 10 II 8 begründet den Ausschluss der Ausländer vom Wahlrecht hingegen damit, dass ein Ausländer „weder wie ein Staatsangehöriger betroffen“ sei noch sich „für den fremden Staat gleich verantwortlich“ fühle, und verweist als Beispiel auf die Wehrpflicht. Ähnlich ErnstWolfgang Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 24 Rdnr. 27. 39 Hervorhebung nur hier. – Dies befürwortend etwa Brun-Otto Bryde, in: Dreier/Graf/Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1994, S. 305 ff. 40 BVerfGE 83, 37 (52). 41 Ebenso Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 24 Rdnr. 26 ff.; Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rdnr. 90; Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 7 Rdnr. 23 f.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Verwaltungslegitimation als Rechtsbegriff, AöR 1991, S. 329 (351). 42 Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, 5. Auflage 1970, S. 234. Dazu ablehnend auch Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rdnr. 63; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rdnr. 131.
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von den amerikanischen Kolonisten erhobene Forderung „No taxation without representation“43. Denn die Pflicht zur Zahlung von Steuern richtet sich in Deutschland nicht nach der Staatsangehörigkeit, sondern nach Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt44 oder nach dem Vorliegen inländischer Einkünfte45 oder nach dem Ort des Verbrauchs. Auf kommunaler Ebene sind beispielsweise die Inhaber von Zweitwohnungen oder Hotelgäste typischerweise nicht an der Entscheidungsfindung über die Erhebung der kommunalen Zweitwohnung- oder Hotelübernachtungsteuer beteiligt. IV. Soziale Sicherheit, insbesondere Renten und Pensionen Hinsichtlich der sozialen Sicherheit kommender Generationen vermittelt Art. 14 Abs. 1 GG zwar einen Schutz der Rentenanwartschaften, da diese auf eigener Leistung beruhen. Das Umlageverfahren, dem die gesetzliche Rentenversicherung folgt, stößt aber insoweit an Grenzen, als entweder die Beiträge zu erhöhen oder die Lebensarbeitszeiten zu verlängern oder die Bundeszuschüsse aus Steuermitteln anzuheben sind, wenn im Umlageverfahren das Beitragsaufkommen sinkt und/oder das Ausgabevolumen ansteigt. Wenn und soweit ein Rentenanspruch oder eine Anwartschaft auf eine Rente aus eigener Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung auf eigenen Leistungen beruht und der Existenzsicherung dient, ist diese von der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG geschützt.46 Ungeachtet der gesetzgeberischen Gestaltungsspielräume und der Tatsache, dass die Sozialversicherungsrenten nicht allein am Versicherungsprinzip, sondern auch am Gedanken des sozialen Ausgleichs orientiert sind47, 43 Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 16. Aufl. 2017, Rdnr. 21. 44 Vgl. z. B. § 1 Abs. 1 EStG i. V. m. §§ 8, 9 AO – sog. unbeschränkte Steuerpflicht. 45 Vgl. z. B. § 1 Abs. 4 EStG – sog. beschränkte Steuerpflicht. 46 Vgl. BVerfGE 117, 151 (180 f.) m. w. N.; st. Rspr. 47 Vgl. BVerfGE 117, 151 (182 f.) m. w. N.; st. Rspr.
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ergeben sich Grenzen für Rentenkürzungen künftiger Generationen aus der Eigentumsgarantie.48 Art. 33 Abs. 5 GG verpflichtet den Dienstherrn, den Beamten und seine Familie lebenslang angemessen zu alimentieren. Auch insoweit verfügt der Gesetzgeber über Gestaltungsspielräume, das Bundesverfassungsgericht hat insoweit aber auch hier dem Gesetzgeber, der vor der Herausforderung der Finanzierung zunehmender Gehalts- und Versorgungslasten steht, zuletzt engere Grenzen für die Beurteilung der Angemessenheit der Alimentation der Beamten und Pensionäre gezogen.49 V. Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank Die Europäische Zentralbank ist unabhängig und muss sich daher – verfassungs- und unionsrechtlich im Hinblick auf das Demokratieprinzip zulässig50 – nicht parlamentarisch verantworten. Unterschiedliche Zinssätze zu unterschiedlichen Zeiten und damit entgehende Zinseinnahmen bestimmter Generationen sind als solche wiederum rechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere gewährleistet der Gleichheitssatz keine Gleichbehandlung zu unterschiedlichen Zeiten. Rechtlicher Überprüfung unterliegen aber die kompetenziellen Grenzen des Handelns der EZB (handelt es sich noch um Währungspolitik gem. Art. 119, 282 AEUV mit lediglich mittelbaren Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik?) und das Verbot der Umgehung des Art. 123 AEUV, der eine monetäre Staatsfinanzierung ausschließt. Der EuGH verneint die Gefahr einer Umgehung des Art. 123 AEUV bei Einhaltung folgender Kriterien51: 48 Ausführlich etwa Hans Jürgen Papier/Foroud Shirvani, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand der 83. Erg.-Lfg., Art. 14 Rdnr. 246 ff. m. w. N. 49 Vgl. im Überblick Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 15. Aufl. 2018, Art. 33 Rdnr. 67–76 m. w. N. 50 Vgl. BVerfGE 89, 155 (208 f.). 51 EuGH, Rs. C-62/14, Rdnr. 106 f., 112 ff., 116 ff. Referierend BVerfG, BVerfGE 142, 123 (226 f. Rdnr. 199). Auf diese vom EuGH entwickelten Kriterien erneut abstellend BVerfG, BVerfGE 146, 216
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− Ankäufe dürfen nicht angekündigt werden. − Das Volumen der Ankäufe ist zu begrenzen. − Zwischen der Emission des Schuldtitels und seinem Ankauf durch das ESZB muss eine im Voraus festgelegte Mindestfrist liegen, damit die Emissionsbedingungen nicht verfälscht werden (und sich ein Marktpreis bilden kann). − Es dürfen nur Schuldtitel von Mitgliedstaaten erworben werden, die einen Zugang zum Anleihemarkt haben. − Erworbene Schuldtitel dürfen nur ausnahmsweise bis zur Endfälligkeit gehalten werden. − Ankäufe müssen begrenzt oder eingestellt werden und erworbene Schuldtitel müssen wieder dem Markt zugeführt werden, wenn eine Fortsetzung der Intervention oder ein weiteres Halten der Schuldtitel zur Verwirklichung der geldpolitischen Ziele nicht erforderlich ist. Freilich ist nicht zu verkennen, dass der EuGH der EZB hier deutlich größere Entscheidungsfreiräume zuerkennt als das BVerfG. Das BVerfG hat in seinem Urteil zwar Kritik an dem Urteil des EuGH geübt52, sieht aber in den angegriffenen Maßnahmen in der vom EuGH vorgenommenen Auslegung noch keine „offensichtliche“ Kompetenzüberschreitung. Nach der Rspr. des BVerfG ist aber Voraussetzung für ein Einschreiten des BVerfG aufgrund des Ultra-vires-Kontrollvorbehalts eine evidente Kompetenzüberschreitung durch Unionsorgane.53 Die Kompetenzen von Unionsorganen ergeben sich aus dem Unionsrecht. Die Wahrung der Zuständigkeitsgrenzen überwacht damit in erster Linie der EuGH, der die „Gültigkeit“ und damit auch Kompetenzgemäßheit von Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union (Art. 5 Abs. 2 EUV) zu prüfen hat (vgl. z. B. Art. 267 Abs. 1 lit. b Alt. 1 AEUV) und (264 ff. Rdnr. 78 ff.) – Vorabentscheidungsersuchen PSPP. EUGH v. 11.12.2018, C-493/17, Rs. Weiss, hat die unionsrechtlichen Bedenken des BVerfG erneut zurückgewiesen. 52 BVerfGE 142, 123 (217 ff. Rdnr. 181 ff.). 53 BVerfGE 142, 123 (221 ff. Rdnr. 190 ff., 197 ff.).
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dessen Entscheidungen das BVerfG nur bei evidenten Kompetenzüberschreitungen nicht respektiert54 mit der Begründung, dass in diesen Fällen der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl durch den Mitgliedstaat nach Art. 23 Abs. 1 GG nicht erteilt worden sei. Dass die Nullzinspolitik faktisch auch Folge der Staatsverschuldung einiger EU-Mitgliedstaaten ist, für das die Zinslasten sonst nicht mehr tragfähig wären, ist allerdings anzunehmen. Die Auswirkungen der Nullzinspolitik jedenfalls auf kapitalgedeckte Alterssicherungssysteme sind ebenfalls ohne Weiteres erkennbar. So bestätigt sich der Satz, dass im Finanzrecht alles mit allem zusammenhängt55 – und Gleiches gilt für die Finanzpolitik. VI. Verfassungspolitischer Ausblick Was bedeutet das Gesagte für den Schutz der Belange der nachwachsenden Generationen und insbesondere der heutigen Kinder? In der Demokratie entscheidet die Mehrheit der Wahlberechtigten, wobei die Minderheit durch die Grundrechte geschützt wird, die dem Gesetzgeber – ungeachtet der ihm zukommenden Entscheidungsspielräume – äußerste Grenzen setzt. Die Grundrechte können jedoch mangelnde Mitwirkungsprozesse bestimmter Bevölkerungsgruppen im politischen Prozess nicht vollständig ausgleichen, da die Grundrechte die Handlungsoptionen des Gesetzgebers im Regelfall nicht auf eine einzige Handlungsmöglichkeit verengen. Spezifische Gefahren für die Lebenschancen jüngerer Menschen können sich im Hinblick auf die Generationengerechtigkeit ergeben. Die heute Wahlberechtigten können geneigt sein, ihre Wahlentscheidungen an gegenwärtigen Vorteilen auszurichten und künftige Auswirkungen heutiger politischer Entscheidungen zu vernachlässigen. Eine Verfassung, der Fairness und Nachhaltigkeit am Herzen liegt, sollte also die Generationengerechtigkeit berücksichtigen. 54 BVerfGE
142, 123 (204 f. Rdnr. 157). M. Hettlage, Die Finanzverfassung im Rahmen der Staatsverfassung, VVDStRL 1956, S. 2 ff. (21). 55 Karl
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Wie kann Generationengerechtigkeit am besten abgesichert werden? Staatszielbestimmungen nach Art eines Programmsatzes („Wir wünschen uns gesunde Staatsfinanzen auch in der Zukunft“) erscheinen nicht als das Mittel der Wahl. Staatszielbestimmungen sind zwar hinsichtlich ihres Ziels, nicht aber hinsichtlich der Mittel verbindlich und vermitteln dem Einzelnen keine subjektiven Rechte. Hinsichtlich der Wahl der Mittel verfügt der Gesetzgeber über einen großen Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum. Soweit Handlungsbedarf besteht, erscheinen verbindliche Regeln vorzugswürdig. Exemplarisch versucht das Grundgesetz der Generationengerechtigkeit im Bereich der Staatsverschuldung (Art. 109 Abs. 3, 115 GG) durch verbindliche Regeln Rechnung zu tragen. Auch diese Regeln vermitteln freilich keine subjektiven Rechte. Denkbar ist allenfalls ein „Anspruch auf Demokratie“56 aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG, der heutigen Wahlberechtigten gewährleistet, dass auch künftigen Parlamenten noch substantielle Entscheidungsspielräume (und damit finanzielle Handlungsmöglichkeiten) verbleiben. Das Bundesverfassungsgericht hält die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU unter diesem Aspekt für überprüfbar im Verfahren der Verfassungsbeschwerde, da Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG – der dem Einzelnen das aktive Wahlrecht zum Deutschen Bundestag gewährleistet – auch das Recht einräume, an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitwirken zu dürfen und auf deren Ausübung Einfluss nehmen zu dürfen.57 Zudem ist nach der Rechtsprechung des BVerfG unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG im Verfahren der Verfassungsbeschwerde rügefähig, dass der Bundestag nicht mehr seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung wahrnehmen könne.58 Der Deutsche Bundestag entäußert sich seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung, wenn er oder zukünftige Bundestage das 56 Vgl.
BVerfGE 142, 123 (193 Rdnr. 133). BVerfGE 142, 123 (190 Rdnr. 126) m. w. N. 58 BVerfGE 123, 267 (340); 129, 124 (177); 132, 195 (239 Rdnr. 106 ff.); 135, 317 (399 Rdnr. 161 ff.); 142, 123 (178 Rdnr. 94). 57 Zuletzt
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Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben können.59 Freilich war in der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG nur eine unions- und völkerrechtliche Stoßrichtung erkennbar, indem der Gesetzgeber seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen dürfe.60 Auch die Angriffe auf das Handeln der EZB konnten über den prozessualen Hebel des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG im Wege des Individualrechtsschutzes dem BVerfG zur Überprüfung gestellt werden. Wertungsmäßig müsste diese Rechtsprechung auch auf (jedenfalls gravierende) Verstöße gegen die Art. 109 Abs. 3, 115 GG (sog. Schuldenbremse) übertragen werden, da auch insoweit die Handlungsspielräume künftiger Haushaltsgesetzgeber erheblich eingeengt oder gar beseitigt werden können.61 Freilich rückt ein derartiges Verständnis den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz in die Nähe einer Popularklage, wenn kein echtes „Grundrecht auf tragbare Staatsverschuldung“ geschaffen wird. Insofern hat das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der unionalen Dimensionen etwaiger Kompetenzüberschreitungen auch zu Lasten künftiger Generationen schon jetzt den Rechtsschutz sehr weitgehend versubjektiviert. Im Ergebnis ist die Berücksichtigung der Generationengerechtigkeit ein wichtiges Anliegen, das eine gute Verfassung im 59 BVerfGE
129, 124 (177); 132, 195 (239 Rdnr. 106). BVerfGE 132, 195 (240 Rdnr. 108). 61 BVerfGE 79, 311 (343) formulierte hingegen noch abweichend von diesen neueren Entscheidungen, dass der Demokratie der Gedanke der Herrschaft auf Zeit und „die Achtung der Entscheidungsfreiheit auch künftiger Generationen“ entspreche. Es gehöre aber ebenso „zu den Aufgaben des demokratischen Gesetzgebers, über die Amtsperiode hinauszusehen, Vorsorge für die dauerhafte Befriedigung von Gemeinschaftsinteressen zu treffen und damit auch die Entscheidungsgrundlagen nachfolgender Amtsträger inhaltlich vorauszubestimmen.“ Die Schuldengrenze nach Art. 115 GG habe insoweit das Demokratieprinzip „verfassungskräftig konkretisiert“. Aus dem Demokratieprinzip und seiner subjektiv-rechtlichen Ausprägung des aktiven Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG kann bei Zugrundelegung dieser Vorstellung kein Individualrechtsschutz folgen. 60 Vgl.
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Blick haben sollte. Das Grundgesetz trägt diesem Anliegen durch modernisierte Grenzen der Staatsverschuldung (Art. 109 Abs. 3, 115 GG) Rechnung. Die Absicherung im Alter ist bei beitragsfinanzierten Systemen (insbesondere den umlagefinanzierten Sozialversicherungsrenten) über Art. 14 Abs. 1 GG geschützt, bei den Pensionen der Beamten und Richter über Art. 33 Abs. 5 GG. Faktische Schwierigkeiten werden hier eher in der Einlösung der verfassungsrechtlichen Versprechen zu erwarten sein.62 Äußerste Grenzen zeigt der EZB auch der AEUV in seinen Bestimmungen über die Zuständigkeiten und das Verbot der monetären Staatsfinanzierung auf. Bedarf für die Aufnahme darüber hinausgehender Kinderrechte ins Grundgesetz (die der EZB ohnehin keine Grenzen setzen könnten) besteht nicht.
62 Vgl. auch Rudolf Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 115 Rdnr. 12.
Kinderrechte und Nachhaltigkeit – Künftige Generationen und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen Von Andrea Edenharter I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 II. Rechtsphilosophische und rechtstheoretische Grundlagen . . . 203 III. Rechte künftiger Generationen – dogmatische Konstruktionsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 1. Subjektive Rechte noch nicht geborener und gezeugter Individuen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 2. Kollektive Rechte der künftigen Generationen als solcher 209 3. Rechte der Natur als solche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 IV. Völkerrechtliche und europarechtliche Grundlagen . . . . . . . . . 214 V. Verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . 217 1. Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 a) Art. 20a GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 b) Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 c) Art. 20 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2. Landesverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 VI. Rechtsvergleichende Aspekte: Situation in der Schweiz . . . . . 227 1. Bundesverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 2. Kantonale Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 VII. Gestaltungsmöglichkeiten de constitutione ferenda . . . . . . . . . 236 1. Einführung eines Art. 20b GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2. Neufassung des Art. 20a GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 3. Aufnahme spezifischer Kinderrechte ins Grundgesetz . . . . 243 4. Institutionelle Absicherung der Belange künftiger Generationen im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 VIII. Gestaltungsmöglichkeiten der (Verfassungs-)Rechtsprechung 246 IX. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
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I. Einführung „Wir müssen ein für alle Mal beschließen, unseren Nachkommen mehr als nur Atomgefahren und Klimawandel zu hinterlassen. […] Um das zu befördern, sollten die Rechte künftiger Generationen im Grundgesetz verankert werden.“1 Mit diesen deutlichen Worten äußerte sich der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011. Man könnte auf den ersten Blick meinen, es handele sich bei dieser Aussage um einen übertriebenen Alarmismus, doch weit gefehlt! Jüngste Studien belegen einen dramatischen Rückgang von über 75 % bei Fluginsekten in Deutschland in den letzten 27 Jahren.2 Das Insektensterben wiederum führt zu einem Vogelsterben, welches sich durch einen Verlust von rund 12,7 Millionen Vogelbrutpaaren in Deutschland in nur zwölf Jahren auszeichnet.3 Aber auch der Mensch bleibt von Umweltzerstörung und Klimawandel nicht verschont, sondern er wird immer öfter Opfer von Naturkatastrophen wie Dürren, Überschwemmungen und Erdrutschen, die in erster Linie auf den von ihm betriebenen Raubbau an der Natur zurückzuführen sind. Zudem ist davon auszugehen, dass sich die Folgen von Umweltzerstörung und Klimawandel in Zukunft noch wesentlich stärker zeigen und künftige Generationen sogar in ihrer Existenz bedrohen werden. Daher stellt sich heute mehr denn je die Frage, wie der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung mit rechtlichen Mitteln bewerkstelligt werden kann, so dass unsere Erde für unsere Kinder und Kindeskinder noch bewohnbar und lebenswert ist. In 1 Hans Joachim Schellnhuber, „Diktatur des Jetzt“, Spiegel Online vom 21.03.2011, im Internet abrufbar unter: http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-77531589.html. 2 Caspar E. Hallmann et al., More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas, 18. Oktober 2017, im Internet abrufbar unter: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0185 809. 3 Naturschutzbund Deutschland e. V., Über zwölf Millionen Vogelbrutpaare weniger in Deutschland, 19. Oktober 2017, im Internet abrufbar unter: https://www.nabu.de/news/2017/10/23284.html.
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diesem Zusammenhang wird gegenwärtig auch über die Ergänzung des Grund gesetzes um Rechte von Kindern diskutiert, wobei der geltende Koalitionsvertrag4 zwischen CDU, CSU und SPD eine solche Grundgesetzänderung ausdrücklich vorsieht. Bereits im Jahr 2006 war ein Gesetzentwurf zur Verankerung des Staatsziels „Generationengerechtigkeit“ im Grundgesetz einge bracht worden.5 Dieser Entwurf ist aber letztlich gescheitert.6 Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind jedoch nicht primär die gegenwärtig bereits lebenden Kinder, sondern vielmehr die künftigen Generationen, da gerade im Hinblick auf den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen weiter in die Zukunft gedacht werden muss. Unter dem Begriff „künftige Generationen“ sind die heute noch nicht geborenen Menschen, d. h. diejenigen zu verstehen, die gegenwärtig mangels Existenz noch keine eigenen Rechte geltend machen können.7 Im Kontext des Begriffs der künftigen Generationen wird häufig auch das Schlagwort „Nachhaltigkeit“ angeführt, das längst zu einem Modewort im täglichen Sprachgebrauch geworden ist8 und das laut Duden das Prinzip beschreibt, wonach nicht mehr verbraucht werden
4 Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD (19. Legislaturperiode), S. 11 u. 21, im Internet abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/ 975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koa litionsvertrag-data.pdf?download=1. 5 BT-Drucks. 16/3399, S. 1 ff.; ausführlich dazu Gerhard Deter, „Nationale Nachhaltigkeitsstrategie“ und Grundgesetz, ZUR 2012, S. 157 ff. (159 ff.). 6 Näher dazu Michael Kleiber, Der grundrechtliche Schutz künftiger Generationen, 2014, S. 39 f. 7 Wolfgang Kahl, Staatsziel Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit, DÖV 2009, S. 2 ff. (7); Kleiber, Schutz künftiger Generationen (Fn. 6), S. 13; Jörg Tremmel, Generationengerechtigkeit – Versuch einer Definition, in: Stiftung für die Rechte künftiger Generationen (Hrsg.), Handbuch Generationengerechtigkeit, 2. Aufl. 2003, S. 27 ff. (31 f.). 8 Zur Begriffsentwicklung s. Andreas Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 42 ff.
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darf, als jeweils nachwachsen, sich regenerieren bzw. künftig wieder bereitgestellt werden kann.9 Nach dem sog. Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung ist eine Entwicklung nachhaltig, die den Bedürfnissen der heutigen Generationen entspricht, ohne die Möglich keiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.10 Aus diesem Postulat wird, unter dem maßgeblichen Einfluss der Rio-Deklaration aus dem Jahr 1992,11 ein Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit abgeleitet, welches die ökologische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung gleichrangig berücksichtigt.12 Der folgende Beitrag untersucht den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zum Wohle künftiger Generationen und ihrer Mitglieder durch das Grundgesetz. Zunächst sollen die rechtsund moralphilosophischen und rechtstheoretischen Grundlagen des Schutzes der Belange künftiger Menschen und Generationen beleuchtet werden (II.), bevor auf die Möglichkeiten einer dogmatischen Ausgestaltung der Rechte künftiger Generationen und ihrer Mitglieder eingegangen wird (III.). Darauf aufbauend wird 9 Duden
Online, Die Deutsche Rechtschreibung, im Internet abrufbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Nachhaltigkeit#Be deutung2b. 10 Volker Hauff (Hrsg.), Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, 1987, S. 46 ff. 11 United Nations Conference on Environment and Development – UNCED, Rio de Janeiro, 3.–14. Juni 1992; die Erklärung ist abgedruckt im Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 1993, S. 411 ff. 12 Zum Drei-Säulen-Konzept s. Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 2002, BT-Drucks. 14/8792, Rdnr. 30 f.; Wilfried Berg, Nachhaltigkeit und Umweltstaat, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S. 425 ff. (430 f.); Wolfgang Kahl, Einleitung. Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S. 1 ff. (6 ff.); Hans-Joachim Menzel, Die Verankerung von Generationengerechtigkeit im Grundgesetz, ZRP 2000, S. 308; ders., Das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“ – Herausforderung an Rechtssetzung und Rechtsanwendung, ZRP 2001, S. 221 ff. (223 f.).
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kurz der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im Völkerrecht und im Unionsrecht beleuchtet (IV.). Anschließend wird der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen durch das Grundgesetz (V.) und die Schweizer Bundesverfassung (VI.) analysiert und es werden etwaige Schutzlücken identifiziert, bevor der abschließende Teil des Beitrags Möglichkeiten aufzeigt, wie der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu Gunsten unserer Kinder und Kindeskinder durch das Grundgesetz de constitutione ferenda (VII.) bzw. durch die Rechtsprechung (VIII.) gewährleistet werden kann. II. Rechtsphilosophische und rechtstheoretische Grundlagen Bevor über die konkrete Ausgestaltung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen zum Wohle künftiger Generationen überhaupt gesprochen werden kann, muss untersucht werden, ob rechts- und moralphilosophisch ein Verhalten, das dem Schutz künftiger Generationen dienen soll, überhaupt geboten bzw. erforderlich ist. Einen prominenten Entwurf zur Begründung der Notwendigkeit des Schutzes künftiger Generationen lieferte Hans Jonas,13 wonach ein „Prinzip Verantwortung“ gegenüber zukünftigen Menschen als zentrale Gerechtigkeitsnorm, als kategorischer Imperativ in zeitlicher Dimension,14 existiere, da die Existenz von Menschen belege, dass es auch Menschen geben solle. Dage gen kann man freilich einwenden, dass die Existenz des Menschen noch nichts darüber aussagt, ob es tatsächlich Menschen geben soll.15 Auch die von John Rawls entwickelte „Theorie der Gerech tigkeit“16 lässt sich insoweit fruchtbar machen. Danach sind alle Individuen, die zu irgendeiner Zeit auf der Erde lebten bzw. le13 Hans
Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979, S. 35 ff. Mückl, „Auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/Axer (Hrsg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 183 ff. (185). 15 So Felix Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit, 2. Aufl. 2016, S. 289. 16 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 322 f. 14 Stefan
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ben werden, in einem fiktiven Urzustand vertreten. Keiner der rationalen Akteure im Urzustand wisse, unter welchen Bedingungen er effektiv leben werde (sog. „Schleier des Nichtwissens“), was dazu führe, dass bei einer Entscheidung über ein gerechtes Gesellschaftssystem sich die Individuen für eine in hohem Maße gerechte Gesellschaft entschieden. Das vertragstheoretische Modell von Rawls lässt sich auf die intergenerationelle Gerechtigkeit dergestalt übertragen, dass der Schleier des Nichtwissens um die zeitliche Herkunft erweitert wird, so dass kein Individuum weiß, welcher Generation es angehören wird.17 Müsste nun eine Vereinbarung darüber getroffen werden, wie allen Generationen ein angemessener Gewinn zu gewähren sei, wäre das Ergebnis ein allgemeiner Spargrundsatz (just savings principle), der – weiter gedacht – jeder Generation ein gleichwertiges Zugangsrecht zu den natürlichen Lebensgrundlagen dieser Erde einräumen würde.18 Gegen die Anwendung der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie auf das Verhältnis zwischen den Generationen ließe sich vorbringen, dass es insoweit an der für die Verwirklichung der Gerechtigkeitstheorie erforderliche Reziprozität fehle, nachdem sich das Handeln der gegenwärtigen Generationen zwangsläufig auf die Lebensumstände der künftigen Generationen auswirkt, während dies umgekehrt nicht der Fall ist, so dass die künftigen Generationen nicht Teil einer gerechtigkeitsbasierten Gesellschaft sein könnten.19
17 Vgl. Dana Burchardt, Zukünftige Generationen – Träger kollektiver Rechte?, in: Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht e. V. (Hrsg.), 52. Assistententagung Öffentliches Recht, Kollektivität, 2012, S. 187 ff. (189). 18 Edith Brown Weiss, In Fairness To Future Generations. International Law, Common Patrimony and Intergenerational Equity, 1989, S. 24. 19 Vgl. Steve Vanderheiden, Atmospheric Justice. A Political Theory of Climate Change, 2008, S. 119; s. dazu auch Burchardt, Zukünftige Generationen (Fn. 17), S. 190; krit. zur Heranziehung des Rawls’schen Konzepts zum Aufbau einer Verfassungsordnung auch Max-Emanuel Geis, Das revidierte Konzept der „Gerechtigkeit als Fairneß“ bei John Rawls – materielle und prozedurale Gerechtigkeitstheorie?, JZ 1995, S. 324 ff. (331).
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Nach dem Konzept der Diskursethik20 schließlich sind die natürlichen Ressourcen nur so zu nutzen, dass den Menschen auch in Zukunft noch die Bildung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft möglich ist, wobei die noch nicht lebenden Menschen gegenwärtig nicht Akteure des Diskurses sein könnten. Dementsprechend könne heute lediglich ihr Interesse am Erhalt der natürlichen Ressourcen Gegenstand von Diskursen sein.21 Damit gebietet auch die Diskursethik, ebenso wie die beiden ande ren genannten Ansätze, die Berücksichtigung der Belange künftiger Generationen, trifft jedoch eben falls keine abschließende Entscheidung für oder gegen die Rechtssubjektivität künftiger Individuen oder Generationen, so dass die Frage unter rechtstheoretischen Gesichtspunkten zu entscheiden ist. In diesem Zusammenhang wird teilweise vertreten, dass noch nicht existierende Menschen keine Rechte geltend machen könnten.22 Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass in anderen Zusammenhängen, insbesondere beim Schutz des ungeborenen Lebens23 sowie beim postmortalen Persönlichkeitsschutz24, das 20 Ausführlich zur Diskursethik, s. Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, 1991, S. 119 ff.; dazu auch Carl Friedrich Gethmann, Langzeitverantwortung als ethisches Problem, 1993, S. 1 ff. 21 Vgl. Herwig Unnerstall, Rechte zukünftiger Generationen, 1999, S. 302 f. 22 So etwa Wilfred Beckerman, Intergenerational Justice, Intergenerational Justice Review 4/2 (2004), S. 1 ff.; dagegen etwa Andrea Heubach, Generationengerechtigkeit – Herausforderung für die zeitgenössische Ethik, 2008, S. 115. 23 Vgl. Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 2 Rdnr. 47; Wolfgang Rüfner, Grundrechtsträger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, Allgemeine Grundrechtslehren, 3. Aufl. 2011, § 196 Rdnr. 7; Dietrich Murswiek/Stephan Rixen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 Rdnr. 146; offen gelassen hingegen in BVerfGE 39, 1 (41) u. 88, 203 (251), wobei vieles für die Anerkennung der Grundrechtsfähigkeit des Nasciturus durch das Bundesverfassungsgericht spricht, vgl. Wolfgang Rüfner, Grundrechtsträger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, Allgemeine Grundrechtslehren, 3. Aufl. 2011, § 196 Rdnr. 4.
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Innehaben von Rechten durch24 noch nicht oder nicht mehr lebende Menschen diskutiert bzw. zumindest eine entsprechende Schutzpflicht gegenüber dem Nasciturus und gegenüber Verstorbenen bejaht wird.25 Dementsprechend spricht Felix Ekardt im Zusammenhang mit der Diskussion über einen intertemporalen Menschenrechtsschutz von der „Vorwirkung“ der zukünftigen Rechte der zukünftigen Menschen,26 was darauf hindeutet, dass er die potentielle künftige Rechtsträgerschaft von künftigen Individuen bejaht. Gegen eine derartige rechtstheoretische Konzeption spricht jedenfalls nicht das sog. Parfit’s Paradox27, wonach die potentiellen Rechte von künftigen Individuen schon nicht durch einen extensiven Verbrauch der natürlichen Lebensgrundlagen verletzt werden könnten, weil sie unter diesen Umständen gar nicht als solche zur Existenz gelangen würden, da die Individuen im Falle der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen andere sind als bei Bewahrung der Ressourcen (sog. Nicht-Identitätsproblem).28 Es ist nämlich für die Begründung von Achtungsansprüchen zukünftiger Menschen grundsätzlich ausreichend, dass es irgendwelche Zukunftsrechtsträger geben wird,29 so dass der Umstand, dass die Identität der künftigen Menschen heute noch nicht feststeht, die gegenwärtigen Generationen nicht von ihrer moralischen Verantwortung entbindet,30 jedenfalls, soweit es um die grundsätzliche Achtung des Lebensinteresses der künftigen Menschen geht. Nachdem es sehr wahrscheinlich ist, dass es auch in Zukunft Menschen geben wird, die 24 S. dazu BVerfGE 30, 173 (194); Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 15. Aufl. 2018, Art. 1 Rdnr. 10. 25 BVerfGE 30, 173 (194); 39, 1 (41); 88, 203 (251 ff.); vgl. Ivo Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, 2005, S. 74; Murswiek/ Rixen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 23), Art. 2 Rdnr. 146; näher dazu unten, III. 1. 26 Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit (Fn. 15), S. 295 ff.; s. auch Unnerstall, Rechte zukünftiger Generationen (Fn. 21), S. 52 ff. u. 126 ff. 27 Derek Parfit, Reasons and Persons, 1986, S. 351 ff. 28 S. dazu auch Burchardt, Zukünftige Generationen (Fn. 17), S. 195. 29 So auch Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit (Fn. 15), S. 305. 30 Vgl. Kleiber, Schutz künftiger Generationen (Fn. 6), S. 49.
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Träger von Rechten sein werden,31 greift auch der Einwand nicht, dass gegenüber künftigen Generationen bzw. deren Mitgliedern mangels Inhaberschaft von Rechten keine Pflichten der heutigen Generation bestehen könnten,32 zumal auch künftigen Generationen selbst wiederum gegenüber den dann aus ihrer Perspektive künftigen Generationen entsprechende Pflichten obliegen.33 Insgesamt lässt sich daher sagen, dass rechts- und moralphilosophisch jedenfalls eine Pflicht der heutigen Generation zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen besteht,34 mit der rechtstheoretisch Vorwirkungen der künftigen Rechte künftiger Menschen korrespondieren, unabhängig davon, wie genau diese aussehen sollen. III. Rechte künftiger Generationen – dogmatische Konstruktionsmöglichkeiten Schwieriger als die bloße rechtsphilosophische und rechtstheoretische Begründung der Notwendigkeit des Schutzes der Interessen künftiger Generationen als solches erweist sich die dogmatische Konstruktion von Rechten künftiger Generationen.
Axel Gosseries, Constitutionalizing Future Rights?, Intergenerational Justice Review 4/2 (2004), S. 10 f. (10); zu dem Problem auch ders., On Future Generations’ Future Rights, The Journal of Political Philosophy 2008, S. 446 ff. (450 ff.). 32 S. dazu Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge (Fn. 25), S. 75; Edward E. Page, Climate Change, Justice and Future Generations, 2006, S. 103 ff.; Joachim Tepperwien, Nachweltschutz im Grundgesetz, 2009, S. 113. 33 Vgl. Kleiber, Schutz künftiger Generationen (Fn. 6), S. 58. 34 So etwa Dietrich Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 207; Michael Kloepfer, Langzeitverantwortung im Umweltstaat, in: Gethmann/Kloepfer/Nutzinger, Langzeitverantwortung im Umweltstaat, 1993, S. 22 (28 ff.); vgl. auch Dieter Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, 1988, S. 98 ff.; s. dazu auch Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge (Fn. 25), S. 74 f. 31 Vgl.
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1. Subjektive Rechte noch nicht geborener und gezeugter Individuen Ein möglicher Ansatzpunkt ist die Ausgestaltung der Interessen künftiger Generationen als subjektive Rechte noch nicht geborener und gezeugter Individuen. Für eine derartige Konzeption spricht, dass sie in einer gewissen Kontinuität stünde mit der geltenden Rechtsordnung, die sukzessive den Kreis der möglichen Schutzobjekte der Menschenwürde auf bereits gezeugte, aber noch nicht geborene Menschen ausgeweitet hat35 und auch gegenüber Verstorbenen eine nachwirkende Schutzpflicht anerkennt.36 In der Literatur werden Verstorbenen teilweise sogar subjektive Rechte zuerkannt.37 Ähnliches gilt für den Nasciturus.38 Vor diesem Hintergrund erschiene es folgerichtig, nunmehr auch noch nicht geborene und noch nicht einmal gezeugte Individuen schon jetzt aktuell als Träger von Grundrechten zu behandeln. Allerdings besteht zwischen dem Nasciturus bzw. Verstorbenen einerseits und noch nicht einmal gezeugten Menschen andererseits ein entscheidender Unterschied. Während erstere ohne Weiteres individualisierbar sind, fehlt es bei künftigen Menschen an dieser Möglichkeit, was das bereits erwähnte NichtidentitätsProblem impliziert.39 Diese Hürde könnte allenfalls dadurch überwunden werden, dass man die Rechte der künftig lebenden Menschen gegenwärtig als subjektlose Rechte versteht, die zu einem bestimmten Zeitpunkt x in der Zukunft einen Rechtsträger haben werden.40 Dagegen spricht jedoch, dass gerade beim 35 Vgl.
BVerfGE 39, 1 (41); 88, 203 (251 f.). 30, 173 (194); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Fn. 24), Art. 1 Rdnr. 10. 37 Vgl. Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 6. Aufl. 2012, Art. 1 Rdnr. 15; s. dazu auch Unnerstall, Rechte zukünftiger Generationen (Fn. 21), S. 107 ff. 38 Ausführlich dazu Murswiek/Rixen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 23), Art. 2 Rdnr. 146 m. w. N. 39 S. dazu oben, II. 40 Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit (Fn. 15), S. 298. 36 BVerfGE
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im Zusammenhang mit der Bewahrung natürlicher Lebensgrundlagen besonders wichtigen Recht auf Leben kaum vorstellbar ist, worauf sich ein gegenwärtiges Recht eines zukünftigen Menschen genau beziehen sollte, wenn dieser Mensch in seiner konkreten Ausgestaltung überhaupt noch nicht bekannt ist.41 Denkbar ist jedoch, von bereits heute zu beachtenden Vorwirkun gen der zukünftigen Rechte zukünftiger Menschen zu sprechen.42 Im Übrigen werden Vorwirkungen der Menschenwürde für die Zeit zwischen Befruchtung und Nidation bereits heute bejaht, wobei es sich insoweit freilich nicht um einen subjektiv-rechtlichen Schutz handelt.43 Dieser Ansatz sollte als Ausgangspunkt für die Ausgestaltung der Vorwirkung etwaiger künftiger Rechte künftiger Menschen dienen, mit der Folge, dass auch insoweit ein Schutz allein über die Menschenwürde vorgenommen und ausschließlich deren objektiv-rechtliche Dimension aktiviert wird. Gegen die Annahme eines sol chen Achtungsgebots zu Gunsten der künftigen Rechte künftiger Menschen spricht auch nicht die fehlende Individualisierbarkeit zukünftiger, noch nicht gezeugter Menschen, da zumindest höchst wahrscheinlich ist, dass es künftig irgendwelche Menschen geben wird, die Rechtsträger sein werden und im Übrigen auch im Falle der extrakorporalen Befruchtung vor der Nidation noch keine Individuation erfolgt. 2. Kollektive Rechte der künftigen Generationen als solcher Fraglich ist, ob neben den Vorwirkungen der künftigen Rechte künftiger Menschen auch kollektive Rechte der künftigen Generationen als solcher auf Schutz der natürlichen Lebens 41 Ekardt,
ebd., S. 298. zu dieser Konstruktion s. Unnerstall, Rechte zukünftiger Generationen (Fn. 21), S. 52 ff.; Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit (Fn. 15), S. 297 f.; s. oben, II. 43 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Fn. 24), Art. 1 Rdnr. 9; Friedhelm Hufen, Staatsrecht II, 6. Aufl. 2017, § 10 Rdnr. 25; Udo Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand der 83. Erg.Lfg., Art. 2 Abs. 2 Rdnr. 28. 42 Ausführlich
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grundlagen denkbar sind. Die Konstruktion kollektiver Rechte ist dem Grundgesetz gegenwärtig zumindest auf den ersten Blick fremd. Dies ist aber nur die halbe Wahrheit. So beinhaltet Art. 9 Abs. 3 GG ein kollektives subjektives Recht zu Gunsten von Koalitionen.44 Auch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berechtigen die Religions gemeinschaften als solche,45 während Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV sogar nur den Religionsgemeinschaften als solchen das Recht auf Selbstbestimmung gewährt.46 Freilich handelt sich bei den genannten Gruppen jeweils um klar abgrenzbare Kollektive, die zudem noch über eine organisatorische Binnenstruktur verfügen, wohingegen Rechtsträger eines Rechts auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen die künftigen Generationen als solche, d. h. die unbestimmt große Gruppe der künftigen Menschen wäre,47 wobei immerhin die Gefahr gegensätzlicher Entscheidungen innerhalb dieser Gruppe von vornherein ausgeschlossen werden könnte.48 Eine Abgrenzung der Gruppe der künftigen Generationen könnte allenfalls dadurch erreicht werden, dass man sämtliche künftige Gene rationen zum Kollektiv der künftigen Menschen zählt.49 Eine solche Abgrenzung allein spricht aber noch nicht gegen die Anerkennung von Rechten künftiger Generationen, da im deutschen Recht auch lose organisierte Einheiten mitunter geschützt werden. So findet sich in Art. 25 Abs. 1 S. 1 der Landesverfassung von Brandenburg eine Vorschrift, wonach „das Recht des sorbischen/wendischen Volkes auf Schutz, Erhaltung und Pflege 44 BVerfGE 93, 352 (357 f.); 116, 202 (217); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (Fn. 24), Art. 9 Rdnr. 33. 45 BVerfGE 42, 312 (332); 137, 273 Rdnr. 83; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (Fn. 24), Art. 4 Rdnr. 19. 46 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, (Fn. 24), Art. 140, Art. 137 WRV Rdnr. 3. 47 Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit (Fn. 15), S. 297. 48 Burchardt, Zukünftige Generationen (Fn. 17), S. 199. 49 Für die Möglichkeit einer Grundrechtsberechtigung von Kollektiven im Rahmen eines Umweltgrundrechts auch Michael Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, 1978, S. 26, dort aber wohl im Hinblick auf Umweltverbände o. Ä.
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seiner nationalen Identität und seines angestammten Siedlungsgebietes […] gewährleistet [wird]“. Das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg hat in seiner Horno-Entscheidung aus dem Jahr 1998 zwar ausdrücklich offen gelassen, ob es sich auch für den Fall, dass sich eine Maßnahme direkt gegen die Sorben richte, um ein subjektives Recht oder um ein Staatsziel handle,50 die Formulierung des Gerichts legt es aber nahe, dass es sich im Falle der Annahme eines subjektiven Rechtes um ein Recht der Minderheit der Sorben als solcher, mithin um ein kollektives Recht handeln muss.51 Dafür lässt sich im Übrigen auch anführen, dass Leitsatz Nr. 3 des fraglichen Urteils vom „Recht des sorbischen Volkes“ spricht. Schließlich gewährt das brandenburgische Gesetz zur Ausgestaltung der Rechte der Sorben/Wenden im Land Brandenburg (SWG) dem sorbischen bzw. wendischen Volk als solchem subjektive Rechte,52 was wiederum dafür spricht, dass kollektive Rechte zu Gunsten einer nicht organisierten Minderheit möglich sind. Darüber hinaus enthalten auch andere Landesverfassungen Vorschriften zu Gunsten von Minderheiten. Art. 6 Abs. 2 S. 2 der Verfassung von Schleswig-Holstein etwa sieht vor, dass die nationale dänische Minderheit, die Minderheit der deutschen Sinti und Roma und die friesische Volksgruppe Anspruch auf Schutz und Förderung haben. Insoweit handelt es sich zwar um ein bloßes Staatsziel, d. h. um eine nur objektiv-rechtliche Verpflichtung, doch ergibt sich aus den landesverfassungsrechtlichen Vorschriften zum Minderheitenschutz, dass auch Kollektive, die nicht klar abgrenzbar sind und die nicht zwingend über eine 50 BbgVerfG, Urteil vom 18.06.1998 – VfGBbg27/87 –, LKV 1998, 385 ff. (398). 51 Dagegen aber Martina Ernst, in: Lieber/Iwers/Ernst (Hrsg.), Verfassung des Landes Brandenburg, 2012, Art. 25 Rdnr. 2, die mangels eigener Rechtspersönlichkeit des sorbischen bzw. wendischen Volkes nur eine objektiv-rechtliche Schutznorm annimmt; ähnlich Jan Lembke, Nationale Minderheiten und Volksgruppen im schleswig-holsteinischen und übrigen deutschen Verfassungsrecht, 1998, S. 368. 52 Ernst, in: Lieber/Iwers/Ernst (Hrsg.), Verfassung des Landes Brandenburg (Fn. 51), Art. 25 Rdnr. 2.
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binnenorganisatorische Struktur verfügen, Gegenstand von Schutzpflichten oder möglicherweise sogar von subjektiven Rechten sein können. Daher spricht vieles für die Möglichkeit, den künftigen Generationen als Kollektiv ein Recht auf Schutz der natürlichen Lebens zuzuerkennen, wobei es sich insoweit um ein bereits aktuell geltendes Recht handeln könnte und ein Rückgriff auf die Vorwirkungskonstruktion obsolet ist, da ein derartiges Recht nicht von der Existenz eines bestimmten Individuums und dessen Individualisierbarkeit abhängig ist und damit der Einwand entfällt, wonach gegenwärtige Rechte künftiger Menschen mangels Individualisierbarkeit eines Subjekts nicht denkbar seien.53 Im Vergleich zu künftigen Rechten künftiger Einzelpersonen läge der Vorteil von Rechten künftiger Generationen darin, dass darauf verzichtet werden kann, für bestimmte einzelne Individuen genau festzulegen, wie weit deren Schutzanspruch in einer konkreten Situation geht, was insbesondere vor dem Hintergrund der Unsicherheit von Prognosen bezüglich Artensterben, Klimawandel und Ressour cenverbrauch von Bedeutung sein kann. Zudem würden dem Kollektiv auch andere Rechte zustehen als den einzelnen künftigen Menschen, da die Gesamtheit künftiger Generationen nicht über ein Recht auf Leben oder auf körperliche Unversehrtheit verfügen kann. Stattdessen käme insbesondere ein Recht auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Betracht, das dem Kollektiv als solches ein subjektives und damit auch automatisch einklagbares Recht54 gewährt und welches neben dem Recht auf die für das Überleben unabdingbaren Grundlagen zusätzlich ein Recht auf Erhaltung der Lebensgrundlagen im weiteren Sinn, zum Beispiel auf Erhaltung 53 Zu diesem Problem s. Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit (Fn. 15), S. 299; gegen die Anerkennung von gegenwärtigen Rechten künftiger Generationen aber Unnerstall, Rechte zukünftiger Generationen (Fn. 21), S. 52 ff. 54 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 140 f.; Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 363; Johannes Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005, S. 137.
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einer gewissen Artenvielfalt, garantieren könnte. Dogmatisch gesehen würde es sich bei einem solchen Recht der künftigen Generationen als solches nicht um ein absolutes, sondern vielmehr um ein der Abwägung zugängliches Recht handeln, das mit konfligierenden Rechten gegenwärtiger Individuen zum Ausgleich gebracht werden müsste.55 3. Rechte der Natur als solche Nicht überzeugend erscheint hingegen der von Andreas Fischer-Lescano jüngst wieder ins Spiel gebrachte Ansatz einer „Natur als Rechtsperson“56. Danach haben Natur und Tiere als nichthumane Rechtspersonen autonome Rechte, die sie mit Hilfe von natürlichen und juristischen Personen gerichtlich durchsetzen können.57 Für eine derartige Herangehensweise spricht zwar, dass sie darauf abzielt, die Natur um ihrer selbst willen und gerade nicht vor dem Hintergrund der Bedürfnisse künftiger Menschen zu schützen, doch brächte ein derartiger Ansatz eine grundlegende Durchbrechung der gegenwärtigen europäischen Rechtsdogmatik mit sich,58 für die es keine Notwendigkeit gibt. Dementspre chend erkennt bislang keine einzige europäische Rechtsordnung Rechte der Natur als solches als verfassungsmäßige Rechte an. Dass verschiedene außereuropäische Rechtsordnungen, etwa die von Ecuador und von Bolivien,59 einen solchen Schritt schon vollzogen haben, kann nicht als Argument für die 55 Burchardt, 56 Andreas
Zukünftige Generationen (Fn. 17), S. 199. Fischer-Lescano, Natur als Rechtsperson, ZUR 2018,
S. 205 ff. 57 Fischer-Lescano, Natur als Rechtsperson (Fn. 56), S. 216; s. auch Peter Pernthaler, Reform der Bundesverfassung im Sinne des ökologischen Prinzips, in: Pernthaler/Weber/Wimmer, Umweltpolitik durch Recht, S. 1 ff. (10 ff.); für ökologische Grundrechte beispielsweise auch schon Klaus Bosselmann, Ökologische Grundrechte, 1998, S. 80 ff.; zum Schutz der Natur um ihrer selbst willen im Rahmen von Art. 20a GG s. auch Christian Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 113. 58 Vgl. VG Hamburg, Beschluss vom 22.09.1988 – 7 VG 2499/88 –, NVwZ 1988, 1058 (1058 f.). 59 S. dazu Fischer-Lescano, Natur als Rechtsperson (Fn. 56), S. 206.
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Anerkennung von Rechten der Natur auch durch europäische Rechtsordnungen angeführt werden, da andernfalls die teilweise erheblichen Unterschiede im Denken zwischen den jeweiligen Rechtskreisen einfach nivelliert würden. IV. Völkerrechtliche und europarechtliche Grundlagen Bevor untersucht wird, wie der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu Gunsten der künftigen Generationen im deutschen und im schweizerischen Verfassungsrecht verwirklicht wird, lohnt ein kurzer Blick ins Völkerrecht und ins Europarecht. In Bezug auf das Völkerrecht lässt sich sagen, dass die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein Bekenntnis zur Förderung des sozialen Fortschritts und besserer Lebensbedingungen enthält, nicht aber eine Verpflichtung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu Gunsten künftiger Generationen. Art. 6 Abs. 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) garantiert das Recht auf Leben, das aber allenfalls vor lebensbedrohenden Umweltverschmutzungen schützen kann.60 Art. 12 Abs. 1 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) verbürgt das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit, woraus eine Pflicht der Vertragsstaaten zum Schutz der Bevölkerung vor schädlichen Umwelteinwirkungen folgt.61 Die UNKinderrechtskonvention (UN-KRK) garantiert in Art. 24 das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit, worunter auch der Schutz vor Umweltverschmutzung zu verstehen ist, wie sich aus Art. 24 Abs. 2 lit. c) in Bezug auf das Trinkwasser ergibt. Allerdings gewähren die genannten Vorschriften allesamt nur Rechte zu Gunsten bereits leben der Menschen, während subjektive Rechte künftiger Generationen bzw. von deren Mitgliedern von 60 Silja Vöneky/Felix Beck, Umweltschutz und Menschenrechte, in: Proelß (Hrsg.), Internationales Umweltrecht, 2017, S. 133 ff. Rdnr. 12. 61 UN Doc E/C.12/2000/4 v. 11.08.2000, General Comment No. 14, The Right to the Highest Attainable Standard of Health (Art. 12), Rdnr. 36; vgl. Vöneky/Beck, Umweltschutz und Menschenrechte (Fn. 60), Rdnr. 14.
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den internationalen Menschenrechtsinstitutionen bislang, soweit ersichtlich, noch nicht bejaht wurden.62 Dies gilt auch im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Art. 8 EMRK gewährt das Recht auf Privatleben, worunter der EGMR auch den Schutz vor Umweltverschmutzungen subsumiert, da hierdurch das Privatleben und die Beziehungen zu anderen Menschen in erheblichem Ausmaß beeinträchtigt werden könnten.63 Künftige Generationen und deren natürliche Lebensgrundlagen werden durch die Vorschrift jedoch nicht geschützt. Ebenso wenig enthält die EMRK ein selbständiges Recht auf Natur- und Umweltschutz.64 Im Unionsrecht enthält die sog. Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV, welcher die Union auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung verpflichtet, den Nachhaltigkeitsgrundsatz als vollgültigen Rechtssatz.65 Der Umweltschutz ist dementsprechend bei allen Politiken der Union zu beachten.66 Zudem ergibt sich der Grundsatz der Nachhaltigen Entwicklung aus den Zielbestimmungen des EU-Vertrags (Art. 3 Abs. 3 S. 2, Art. 3 Abs. 5 S. 2 EUV). Außerdem enthält das Unionsrecht in Art. 191–193 AEUV Ziele und Grundsätze der Umweltpolitik, welche freilich keine Rechte des Einzelnen oder künftiger Generationen be62 Vöneky/Beck,
Umweltschutz und Menschenrechte (Fn. 60), Rdnr.
102. 63 EGMR, Urteil vom 21.02.1990, Powell u. Rayner/Vereinigtes Königreich – 9310/81, Rdnr. 40; Urteil vom 09.12.1994, López Ostra/Spanien – 16798/90, Rdnr. 51; Urteil vom 09.06.2005, Fadeyeva/Russland – 55723/00, Rdnr. 79 ff.; ausführlich dazu Christoph Grabenwarter/ Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 22 Rdnr. 30; Robert Uerpmann-Wittzack, Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 3 Rdnr. 7 u. 19. 64 Vgl. Mark E. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), 1993, Rdnr. 100. 65 S. dazu Christian Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 11 AEUV Rdnr. 12. 66 Astrid Epiney, Nachhaltigkeitsprinzip und Integrationsprinzip, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 102 ff. (108).
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gründen. Art. 37 GRCh als staatszielartige Bestimmung67 befasst sich ebenfalls mit dem Umweltschutz, enthält jedoch keine über die zuvor genannten Bestimmungen hinaus gehenden Garantien. Art. 7 GRCh gewährleistet im Rahmen des Rechts auf Achtung des Privatlebens schließlich ein subjektives Recht des Einzelnen auf Schutz vor Umweltverschmutzungen,68 welches allerdings nur bereits lebenden Menschen zu Gute kommen dürfte. Dafür spricht jedenfalls, dass sich der EuGH bislang nicht ausdrücklich zur Grundrechtsträgerschaft ungeborenen Lebens geäußert hat69 und das Urteil zur Biopatent-Richtlinie70 nicht als Anerkennung der Grundrechtsträgerschaft noch nicht geborener Menschen gewertet werden kann.71 Damit lassen sich weder aus dem Völkerrecht noch aus dem Unionsrecht entscheidende Impulse für die Ausgestaltung eines Rechts auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu Gunsten künftiger Generationen im nationalen Recht gewinnen, sondern insbesondere das Unionsrecht überlässt diese Frage gegenwärtig sogar bewusst den Mitglied staaten.72
67 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV (Fn. 65), Art. 37 GRCh Rdnr. 4; Andreas Voßkuhle, Umweltschutz und Grundgesetz, NVwZ 2013, S. 1 ff. (2). 68 Thorsten Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV (Fn. 65), Art. 7 GRCh Rdnr. 4. 69 Vgl. Felix Ekardt/Daniel Kornack, „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 2010, S. 111 ff. (123 ff.). 70 EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, ECLI:EU: C:2001:523. 71 Vgl. Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV (Fn. 65), Art. 1 GRCh Rdnr. 11. 72 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 1 GRCh Rdnr. 11; s. auch Philipp Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, S. 203 f.
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V. Verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Deutschland Mangels ausdifferenzierter internationaler oder supranationaler Vorgaben muss sich der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu Gunsten künftiger Generationen in Deutschland daher in erster Linie auf nationaler Ebene entwickeln. Unabhängig von konkreten (verfassungs-)rechtlichen Vorgaben ergibt sich schon aus der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie73 aus dem Jahr 2002, dass das Prinzip der Nachhaltigkeit in Deutschland als strategischer Ansatz dienen soll. Insoweit handelt es sich aber lediglich um ein rechtlich nicht bindendes Strategiepapier, so dass nach rechtlich bindenden Anknüpfungspunkten im Verfassungsrecht gesucht werden muss. 1. Grundgesetz a) Art. 20a GG Die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen ist bislang lückenhaft, insbesondere auf Ebene des Grundgesetzes, das weder ein eigenes Umweltschutzgrundrecht74 noch Rechte der Umwelt als solches75 noch ein spezifisches Recht auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu Gunsten künftiger Generationen enthält.76 Als erster Anknüpfungspunkt für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen kommt Art. 20a GG in Betracht, welcher im Zuge der Verfassungsänderung von 1994 ins Grundgesetz aufgenommen wurde und wonach der Staat auch in Verantwortung für die 73 Bundesregierung, Perspektiven für Deutschland, Nationale Nachhaltigkeitsstrategie 2002. 74 BVerwGE 54, 211 (Ls. 5); auch OVG Berlin, NJW 1977, 2283 (2284 f.) kann nicht entsprechend interpretiert werden; näher dazu Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat (Fn. 57), S. 299. 75 BVerwGE 54, 211 (219). 76 Vgl. Joachim Wieland, Verfassungsrang für Nachhaltigkeit, ZUR 2016, S. 473 ff. (474).
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künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung schützt. Die Vorschrift bezieht sich ausweislich von Wortlaut und Entstehungsgeschichte ausschließlich auf die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit, nicht auch auf die wirtschaftliche oder soziale Dimension,77 wodurch dem Umweltschutz und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen an sich Rechnung getragen werden könnte, ohne dass schon auf Grund der Norm selbst ein Ausgleich mit anderen Aspekten der Nachhaltigkeit gefunden werden müsste. Der Begriff der natürlichen Lebensgrundlagen ist dabei mit dem Begriff der Umwelt, wie er im Kontext des Umweltschutzes gebraucht wird, identisch.78 Art. 20a GG beschränkt sich nicht auf den Schutz der absolut notwendigen Lebensvoraussetzungen im Sinne eines ökologischen Existenzminimums,79 sondern schützt sämtliche Umweltgüter, die als Grundlage des menschlichen, tierischen und pflanzlichen Lebens dienen.80 Darüber hinaus bezieht sich Art. 20a GG ausdrücklich auch auf die „künftigen Generationen“, erkennt also explizit eine Langzeitverantwortung des Staates für die heute noch nicht geborenen Menschen an.81 77 Kahl, Staatsziel Nachhaltigkeit (Fn. 7), S. 2 ff. (3); Klaus Ferdinand Gärditz, Umweltgesetzbuch und Umweltgesamtplanung, Die Verwaltung 2007, S. 203 ff. (215 mit Fn. 86); Menzel, Das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“ (Fn. 12), S. 225. 78 Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 23), Art. 20a Rdnr. 27; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Fn. 24), Art. 20a Rdnr. 3. 79 Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 23), Art. 20a Rdnr. 27; Alexander Schink, Umweltschutz als Staatsziel, DÖV 1997, S. 221 ff. (360). 80 Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 23), Art. 20a Rdnr. 27. 81 Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Art. 20a Rdnr. 35; Kahl, Staatsziel Nachhaltigkeit (Fn. 77), S. 3; Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge (Fn. 25), S. 121; Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 23),
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Allerdings handelt es sich bei Art. 20a GG nicht um ein Grundrecht, welches künftigen Menschen ein subjektives Recht vermitteln würde,82 sondern lediglich um eine Staatszielbestim mung,83 mithin eine nur objektiv-rechtliche Verfassungsbestimmung, die sich überdies in die Gesamtheit der Normen des Grundgesetzes einfügen muss.84 Dementsprechend ergibt sich aus der Vorschrift auch kein Recht auf Erhalt der Umwelt als solches,85 wobei das Bundesverfassungsgericht es ausdrücklich offen gelassen hat, ob sich ein Beschwerdeführer im Rahmen einer Grundrechtsrüge auf Art. 20a GG berufen kann.86 Bei der Wahl der Mittel im Rahmen von Art. 20a GG sind die Staatsorgane frei,87 wobei dem Gesetzgeber bei der Verwirklichung des Umweltschutzes ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht, in dessen Rahmen die Gewährleistung des Umweltschutzes nicht der richterlichen Kontrolle unterliegt.88 Auch das Bundesverfassungsgericht seinerseits untermauert die Gestaltungsoffenheit Art. 20a Rdnr. 32; Wieland, Verfassungsrang für Nachhaltigkeit (Fn. 76), S. 476; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat (Fn. 57), S. 119 f. 82 Allgm. Meinung, s. BT-Drucks. 12/6000, S. 67; BVerwG, NJW 1995, 2648 (2649); NVwZ 2007, 833 (837); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Fn. 81), Art. 20a Rdnr. 82; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Fn. 24), Art. 20a Rdnr. 2; Rudolf Steinberg, Verfassungsrechtlicher Umweltschutz durch Grundrechte und Staatszielbestimmung, NJW 1996, S. 1985 ff. (1992). 83 Vgl. etwa BVerfGE 102, 347 (365); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Fn. 81), Art. 20a Rdnr. 23. 84 Ausführlich hierzu Rupert Scholz, in: Maunz/Dürig, GrundgesetzKommentar, Stand der 83. Erg.-Lfg., Art. 20a Rdnr. 50 ff. 85 Ganz h. M. s. nur BVerfGK 16, 370 (377); BVerwG NVwZ 1998, 1080 (1081); Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 23), Art. 20a Rdnr. 17. 86 BVerfG (K) 16, 370 (377). 87 Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 23), Art. 20a Rdnr. 17. 88 BVerfGE 118, 79 (110); 127, 293 Rdnr. 122; 134, 242 Rdnr. 289, 298, 327; Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 23), Art. 20a Rdnr. 17; Astrid Epiney, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 20a Rdnr. 45, 58 u. 75.
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des Staatsziels durch die Einräumung politischer Handlungsspielräume für den Gesetzgeber.89 Daher verwundert es kaum, dass die Rechtsprechung zu Art. 20a GG zwar in quantitativer Hinsicht relevant, in qualitativer Hinsicht aber nach wie vor unbedeutend ist.90 Problematisch ist auf Grund der Offenheit des Art. 20a GG zudem, wie genau das Schutzniveau zu bestimmen sein soll,91 zumal dem Gesetzgeber auch insoweit ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt. Es besteht zwar weitgehend Einigkeit darüber, dass weder ein bloßes ökologisches Existenzminimum92 noch der bestmögliche Umweltschutz93 gewährleistet werden sollen, doch ist umstritten, wie weit die Verpflichtung zum Umweltschutz reichen soll, insbesondere, ob man aus der Vorschrift ein generelles Verschlechterungsverbot ableiten kann.94 Letzteres ist zu verneinen, da eine tatsächliche Umweltverschlechterung auch trotz optimaler Vorgehensweise des Gesetzgebers eintreten kann.95 Die Vorschrift verpflichtet die Staatsorgane jedoch dazu, dafür zu sorgen, dass die Nutzungsrate der erneuerbaren Res89 BVerfGE 118, 79 (110 f.); 128, 1 (39 f); BVerfG (K) 11, 445 (457); Voßkuhle, Umweltschutz und Grundgesetz (Fn. 67), S. 4. 90 Tobias Linke, Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im Sinne von Art. 20a GG im Spiegel der Rechtsprechung, Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2017, S. 25 ff. (76); Erich Gassner, Zur Maßstabsqualität des Art. 20a GG, NVwZ 2014, S. 1140 ff. (1140 f.); skeptisch auch Mückl, „Auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“, (Fn. 14), S. 196. 91 Ausführlich dazu Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge (Fn. 25), S. 121 f. 92 Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 23), Art. 20a Rdnr. 27; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Fn. 81), Art. 20a Rdnr. 40. 93 Dietrich Murswiek, Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG) – Bedeutung für Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 1996, S. 224 ff. (225). 94 Ausführlich zum Schutzniveau s. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat (Fn. 57), S. 149 ff. 95 Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge (Fn. 25), S. 123.
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sourcen die natürliche Regenerationsrate nicht übersteigt, den Verbrauch nicht erneu erbarer Ressourcen zu minimieren und ökologische Großrisiken auf ein kalkulierbares Maß zu redu zieren.96 Mit einer derartigen Interpretation würden die Belange künftiger Generationen zumindest berücksichtigt, wobei auch insoweit nicht übersehen werden darf, dass die Bestimmung des konkreten Schutzniveaus weiterhin problematisch sein wird und die Vorschrift im Rahmen der Abwägung nicht selten hinter konkurrierende Belange wird zurücktreten müssen.97 Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund des Umstands, dass die Staatsorgane durch die heute lebenden Menschen demokratisch legitimiert sind und daher die Gefahr besteht, dass die von Art. 20a GG geforderte Verantwortung für künftige Generationen zu kurz kommt.98 Deshalb kann der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu Gunsten künftiger Menschen mit Art. 20a GG in seiner gegenwärtigen Fassung und Interpretation allein sicher nicht gewährleistet werden,99 zumal das nationale Umwelt(verfassungs)recht auch noch vom Unionsrecht überlagert und teilweise relativiert wird.100
96 Wieland, Verfassungsrang für Nachhaltigkeit (Fn. 76), S. 476; Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge (Fn. 25), S. 397 ff.; Jens Kersten, Das Anthropozän-Konzept, Rechtswissenschaft 2014, S. 378 ff. (397 ff.); Christina Lux-Wesener, Generationengerechtigkeit im Grundgesetz? – Eine Untersuchung des Grundgesetzes auf Gewährleistungen von intergenerationeller Gerechtigkeit, in: Stiftung für die Rechte künftiger Generationen (Hrsg.), Handbuch Generationengerechtigkeit, 2. Aufl. 2003, S. 405 ff. (415 ff.). 97 Vgl. Wieland, Verfassungsrang für Nachhaltigkeit (Fn. 76), S. 476 f. 98 Lux-Wesener, Generationengerechtigkeit im Grundgesetz? (Fn. 96), S. 417. 99 So auch Jörg Tremmel/Marc Laukemann/Christina Lux, Die Verankerung von Generationengerechtigkeit im Grundgesetz – Vorschlag für einen erneuerten Art. 20a GG, ZRP 1999, S. 432 ff. (434). 100 Sebastian Heselhaus, in: Hansmann/Sellner (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 4. Aufl. 2012, § 1 Rdnr. 8; Voßkuhle, Umweltschutz und Grundgesetz (Fn. 67), S. 8.
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b) Grundrechte Mangels Grundrechtsqualität des Art. 20a GG können sich Rechte der Mitglieder künftiger Generationen in Bezug auf den Schutz natürlicher Lebensgrundlagen allenfalls aus den Grundrechten selbst ergeben. Allerdings gewähren die Grundrechte des Grundgesetzes nach heutiger Dogmatik grundsätzlich nur bereits lebenden Menschen subjektive Rechte, nicht aber künftigen Menschen künftige Rechte.101 Daher können sich aus den geltenden Grundrechten allenfalls Pflichten des Staates gegenüber künftigen Menschen ableiten lassen, selbst wenn diesen noch keine bereits gegenwärtig einklagbaren Rechte gegenüber stehen. Dogmatisch begründbar ist dies angesichts des Umstandes, dass die Grundrechte auch über eine objektiv-rechtliche Dimension verfügen. Hinzu kommt, dass es für das Bestehen von Schutzpflichten ausreicht, wenn ein grundrechtlich geschütztes Gut irgendeines Menschen gefährdet ist, wobei keine Notwendigkeit besteht, dass das gefährdete Grundrechtsgut einem bestimmten Menschen zugeordnet werden kann.102 Dementsprechend bejaht auch das Bundesverfassungsgericht gegenüber dem Nasciturus103 sowie gegenüber Verstorbenen104 Schutzpflichten des Staates, obwohl diesen Schutzpflichten kein aktuell lebender Rechtsträger gegenüber steht.105 Des Weiteren leitet das Bundesverfas101 S. oben, III.; zu Ausnahmen im Hinblick auf den Nasciturus s. Murswiek/Rixen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 23), Art. 2 Rdnr. 146 m. w. N. 102 Lux-Wesener, Generationengerechtigkeit im Grundgesetz? (Fn. 96), S. 421; Dietrich Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 155 ff.; Hasso Hofmann, Nachweltschutz als Verfassungsfrage, ZRP 1986, S. 87 ff. (88). 103 BVerfGE 39, 1 (41 f.), s. oben, III. 104 BVerfGE 30, 173 (194); BVerfG (K), NVwZ 2008, 549 (550); s. oben, III. 105 Ausführlich zu den grundrechtlichen Schutzpflichten s. Matthias Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts: eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des GG, 2001; Peter Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht – Inhalt und Reichweite
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sungsgericht aus der objektiv-rechtlichen Dimension106 der Grundrechte, insbesondere aus den Grundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit, staatliche Schutzpflichten gegenüber den Risiken des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts und zum Schutz vor Umweltgefahren her, welche konsequenterweise auch den Angehörigen künftiger Generationen zu Gute kommen können, da auch sie auf ein Minimum an natürlichen Lebensgrundlagen für ihr Überleben angewiesen sein werden.107 Für den Bereich des Umweltrechts hat das Gericht erstmals in der Kalkar-I-Entscheidung aus dem Jahr 1978 die Schutzpflichtendogmatik fruchtbar gemacht.108 Auch in der Folgezeit entwickelte das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit Schutzpflichten gegenüber den Gefahren der friedlichen Nutzung der Kernenergie,109 gegen Fluglärm,110 Straßenverkehrslärm,111 Ozonbelastung,112
einer „gemeineuropäischen Grundrechtsfunktion“, 2002; Günter Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche: die subjektivrechtliche Rekonstruktion der grundrechtlichen Schutzpflichten und ihre Auswirkung auf die verfassungsrechtliche Fundierung des Verbrauchervertragsrechts, 2003; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten (Fn. 54); Lichun Tian, Objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich: eine Untersuchung anhand des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2012. 106 S. dazu auch Peter Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 57; anders nur in Bezug auf den Schwangerschaftsabbruch, wo die Schutzpflichten aus der subjektiv-rechtlichen Dimension abgeleitet wurden, s. BVerfGE 88, 203 (251 ff.). 107 So auch Walter Frenz, Nachhaltige Entwicklung nach dem Grundgesetz, Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 1999, S. 37 ff. (56). 108 BVerfGE 49, 89 (140 ff.); vgl. Voßkuhle, Umweltschutz und Grundgesetz (Fn. 67), S. 6. 109 BVerfGE 53, 30 (57 ff.); BVerfG (K) 14, 402 (407); BVerfG (K) 16, 370 (373 ff.). 110 BVerfGE 56, 54 (78); BVerfG (K), NVwZ 2011, 991 (993); BVerfG (K), NVwZ 2009, 1489 (1489); BVerfG (K), NVwZ 2008, 780 (784). 111 BVerfGE 79, 174 (201 f.). 112 BVerfG (K), NJW 1996, 651 (652).
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Elektrosmog113 und Luftverschmutzung114 sowie gegen den von Mobilfunkanlagen ausgehenden Gefahren115 und möglichen Risiken im Zusammenhang mit dem Teilchenbeschleuniger des CERN116.117 Auffällig ist jedoch, dass das Gericht bislang in keinem umweltrechtlichen Fall einen Schutzpflichtverstoß des Staates bejaht hat.118 Dies lässt sich damit begründen, dass dem Gesetzgeber bei der Ausfüllung einer bestehenden Schutzpflicht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein weiter Spielraum zukommt119 und eine Schutzpflichtverletzung daher nur in Extremfällen gerichtlich festgestellt werden kann, wobei das Bundesverfassungsgericht in Fällen betreffend den Schutz vor Fluglärm einen Prüfungsmaßstab anlegt, der die Evidenzkontrolle mit dem Untermaßverbot kombiniert.120 Außerdem können natürliche Lebensgrundlagen, welche nicht unmittelbar das Leben, die körperliche Unversehrtheit von Menschen oder das Eigentum betreffen, trotz der Schutzpflichtendogmatik des Bundesverfassungsgerichts zerstört werden,121 so dass die Aktivierung der Schutzpflichtendimension der Grundrechte im Umweltbereich weitgehend leer läuft.122 Daraus wiederum ergibt 113 BVerfG
(K), NJW 1997, 2509 (2509 f.). (K), NJW 1998, 3264 (3265) für eine Schutzpflicht aus Art. 14 Abs. 1 GG. 115 BVerfG (K) 10, 208 (211 f.). 116 BVerfG, NVwZ 2010, 702 (703 ff.). 117 Zum Ganzen s. Voßkuhle, Umweltschutz und Grundgesetz (Fn. 67), S. 6 f. 118 Voßkuhle, Umweltschutz und Grundgesetz (Fn. 67), S. 7. 119 Voßkuhle, Umweltschutz und Grundgesetz (Fn. 67), S. 7. 120 BVerfG, Beschluss vom 15.10.2009 – 1 BvR 3522/08 –, BeckRS 2009, 40442 Rdnr. 26 ff.; Voßkuhle, Umweltschutz und Grundgesetz (Fn. 67), S. 7. 121 Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge (Fn. 25), S. 113 f. 122 Steinberg, Verfassungsrechtlicher Umweltschutz durch Grundrechte und Staatszielbestimmung (Fn. 82), S. 1994; Roman Schmidt-Radefeldt, Ökologische Menschenrechte, 2000, S. 242 f., wobei sich in der Zwischenzeit bezüglich der Effektivität der Schutzpflichten im Umweltrecht wenig geändert hat. 114 BVerfG
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sich insgesamt, dass künftige Generationen durch die Schutzpflichtendogmatik nicht wesentlich besser geschützt werden als durch Art. 20a GG.123 c) Art. 20 Abs. 1 GG In Betracht käme schließlich noch eine Ableitung eines Rechts auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen aus dem Demokratie- bzw. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Das Demokratieprinzip setzt voraus, dass den künftigen Generationen und ihren Gesetzgebern überhaupt noch Handlungsspiel räume verbleiben,124 was dann nicht mehr der Fall wäre, wenn sämtliche natürliche Lebensgrundlagen verbraucht wären. Indes genießen auch die gegenwärtigen Staatsorgane den Schutz durch das Demokratieprinzip, so dass sie jedenfalls nicht über das Demokratieprinzip dazu verpflichtet wer den können, Rücksicht auf die Belange künftiger Staatsorgane zu nehmen.125 Ebenfalls in Art. 20 Abs. 1 GG verankert ist das Sozialstaatsprinzip, das die heutigen Staatsorgane grundsätzlich dazu verpflichtet, in Verantwortung für künftige Generationen zu handeln,126 so dass es möglich sein muss, auch in Zukunft beispielsweise die Nahrungsmittel- und Trinkwasserversorgung sicher zu stellen.127 Konkrete Vorgaben bezüglich des Schutzes 123 So auch Frenz, Nachhaltige Entwicklung nach dem Grundgesetz (Fn. 107), S. 57. 124 BVerfGE 79, 311 (343); Reinhard Mussgnug, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL 1989, S. 113 ff. (130 f.); Lux-Wesener, Generationengerechtigkeit im Grundgesetz? (Fn. 96), S. 418. 125 Vgl. Wolfram Höfling, Staatsschuldenrecht – Rechtsgrundlagen und Rechtsmaßstäbe für die Staatsschuldenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1993, S. 95 f. 126 BVerfGE 138, 252, Rdnr. 2 u. 5 (abweichende Meinung); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Fn. 24), Art. 20 Rdnr. 161. 127 Vgl. Gunter M. Böttcher, Die Umweltverträglichkeitsprüfung in Deutschland und in der Schweiz, 1997, S. 62 f. zum Umweltschutz als Teil des Sozialstaatsprinzips.
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natürlicher Lebensgrundlagen zu Gunsten künftiger Menschen ergeben sich daraus jedoch nicht.128 2. Landesverfassungen Zumindest auf den ersten Blick scheint der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in den Landesverfassungen stärker ausgeprägt zu sein als im Grundgesetz. So existiert in Bayern mit Art. 141 Abs. 1 der Bayerischen Verfassung (BayVerf) eine Staatszielbestimmung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen auch in Bezug auf die „kommenden Generationen“, die in Art. 141 Abs. 3 BayVerf um ein explizites Grundrecht auf Naturgenuss ergänzt wird, wobei der Bayerische Verfassungsge richtshof die Vorschrift des Art. 141 Abs. 3 BayVerf vor dem Hintergrund von Art. 31 GG restriktiv auslegt, so dass sich da raus kein weitergehender Schutz ergibt als aus den bundesrecht lichen Grundrechten.129 Auch die übrigen Landesverfassungen enthalten Vorschriften zum Schutz von Landschaft und Natur sowie zum Schutz künftiger Generationen,130 wobei die Verfassungen der neuen Bundesländer den Umweltschutz besonders betonen und teilweise sogar ein explizites Recht auf Umweltschutz garantieren.131 Konkret gilt dies vor allem für Brandenburg, wo Art. 2 Abs. 1 der Landesverfassung (BbgVerf) den Schutz der natürlichen Umwelt zum Staatsziel erhebt und Art. 39 128 Lux-Wesener, Generationengerechtigkeit im Grundgesetz? (Fn. 96), S. 418; Böttcher, Die Umweltverträglichkeitsprüfung (Fn. 127), S. 63. 129 Vgl. BayVerfGHE 28, 107 (126); 34, 131 (134); 53, 137 (142); Markus Möstl, in: Lindner/Möstl/Wolff (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Bayern, Kommentar, 2. Aufl. 2017, Art. 141 Rdnr. 7. 130 So etwa Art. 3a Abs. 1 BWVerf; Art. 31 BlnVerf; Art. 11a BremVerf; Art. 26a HessVerf; Art. 29a NRWVerf; Art. 1 Abs. 2 NdsVerf; Art. 69 RPfVerf; Art. 59a SaarlVerf; Art. 11 SchlHVerf; Präambel der Hamburger Verfassung; s. dazu Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge (Fn. 25), S. 119 mit Fn. 328. 131 Art. 2 u. 39 BbgVerf; Art. 12 MVVerf; Art. 35 VerfLSA; Art. 10 SächsVerf; Art. 31 ThürVerf; Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge (Fn. 25), S. 119 mit Fn. 329.
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Abs. 2 BbgVerf für jedermann das Recht auf Schutz seiner Unversehrtheit vor Verletzungen und unzumutbaren Gefährdungen, die aus Veränderungen der natürlichen Lebensgrundlagen entstehen, verbürgt. Es handelt sich dabei um ein Grundrecht,132 welches das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 8 Abs. 1 S. 1 BbgVerf) ergänzt und eine entsprechende Schutzpflicht des Staates begründet.133 Auch in den übrigen Absätzen befasst sich Art. 39 BbgVerf – zum Teil sehr detailliert – mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und entsprechenden Informa tionspflichten des Staates gegenüber den Bürgern. Tatsächliche Relevanz können die landesverfassungsrechtlichen Umweltschutzgewährleistungen jedoch kaum entfalten, da sie gemäß Art. 31 GG nicht im Widerspruch zum Bundesrecht stehen dürfen. Aus diesem Grund genießt der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu Gunsten künftiger Generationen auf Landesebene allenfalls symbolisch einen höheren Stellenwert als nach dem Grundgesetz. VI. Rechtsvergleichende Aspekte: Situation in der Schweiz 1. Bundesverfassung Nachdem der Schutz der Belange künftiger Generationen im deutschen Verfassungsrecht eher defizitär ist, stellt sich die Frage, ob Deutschland vielleicht von seinen Nachbarn etwas lernen kann. Zu diesem Zweck lohnt ein Blick über die Grenze, nämlich in die Schweiz. Die Schweiz hat mit der Bundesverfassung von 1999 (BV) eine moderne Verfassung, die, anders als das Grundgesetz, zu einer Zeit entstanden ist, in der der Umweltschutz schon ein gesellschaftliches Thema war. So verwundert es nicht, dass die Schweizer Bundesverfassung, anders als das Grundgesetz, das Prinzip der Nachhaltigkeit sogar explizit er132 Steffen Johann Iwers, in: Lieber/Iwers/Ernst (Hrsg.), Verfassung des Landes Brandenburg (Fn. 51), Art. 39 Rdnr. 3. 133 Iwers, in: Lieber/Iwers/Ernst (Hrsg.), Verfassung des Landes Brandenburg (Fn. 51), Art. 39 Rdnr. 3.
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wähnt und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sowie die Belange der künftigen Generationen gleich an mehreren Stellen aufgreift,134 selbst wenn sie, ebenso wie das Grundgesetz, kein Grundrecht auf eine gesunde Umwelt enthält135. So spricht bereits die Präambel davon, dass sich das „Schweizervolk und die Kantone […] in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung, […] im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“ die Verfassung gegeben haben. Außerdem sieht Art. 2 Abs. 2 BV vor, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft die „nachhaltige Entwicklung“ fördert, während nach Art. 2 Abs. 4 BV die Schweizerische Eidgenossenschaft sich „für die dauerhafte Entwicklung der natürlichen Lebensgrundlagen“ einsetzt. Eine ähnliche Formulierung findet sich in Art. 54 Abs. 2 BV. Ferner trägt Art. 73 BV, der an der Spitze der Vorschriften über die Umwelt und Raumplanung steht, sogar ausdrücklich die Überschrift „Nachhaltigkeit“. Danach streben Bund und Kantone „ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits an“, wodurch der Begriff der ökologischen Nachhaltigkeit bereichsspezifisch konkretisiert wird.136 Der Nachhaltigkeit verpflichtet sind auch die Kompetenzvorschriften der Art. 75 BV (Grundsätze der Raumplanung), Art. 76 BV (Wasser), Art. 77 BV (Wald), Art. 78 BV (Natur- und Heimatschutz), Art. 79 BV (Artenvielfalt bei Tieren) sowie der Energiebereich (Art. 89 BV) und die Landwirtschaft (Art. 104 BV).137 Schließlich können sich aus den Grundrechten, insbesondere aus der Menschenwürde (Art. 7 BV) sowie aus dem Recht 134 Vgl. Bernd Marquardt, Die Verankerung des Nachhaltigkeitsprinzips im Recht Deutschlands und der Schweiz, URP 2003, S. 201 ff. (205 f.). 135 Vgl. René Rhinow/Markus Schefer/Peter Uebersax, Schweizerisches Verfassungsrecht, 3. Aufl. 2016, Rdnr. 232. 136 Kahl, Staatsziel Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit (Fn. 7), S. 6. 137 Vgl. Rhinow/Schefer/Uebersax, Schweizerisches Verfassungsrecht (Fn. 135), Rdnr. 230.
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auf Leben und auf persönliche Freiheit (Art. 10 BV) Pflichten des Staates zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ergeben, die sich im konkreten Einzelfall zu Schutzpflichten verdichten können,138 wobei die schweizerische Rechtsprechung bislang kein postmortales Persönlichkeitsrecht anerkennt139 und das Bundesgericht die Frage nach der pränatalen Grundrechtsfähigkeit beiläufig angedeutet, nicht aber endgültig geklärt hat,140 während eine Schutzpflicht auch für das ungeborene Leben explizit anerkannt ist.141 Insoweit ergeben sich keine nennenswerten Unterschiede zur Rechtslage nach dem Grundgesetz. Insbesondere kennt auch die Schweizer Verfassung keine subjektiven Rechte künftiger Generationen bzw. deren Angehöriger auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Wenngleich die eingangs genannten Vorschriften der Bundesverfassung einen weitreichenden Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen implizieren, darf nicht übersehen werden, dass viele dieser Vorschriften (die Grundrechte ausgenommen) eher Symbolcharakter aufweisen und in der Praxis wenig rechtliche Steuerungskraft zeigen. Dies gilt insbesondere für die Präambel, die nach allgemeiner Auffassung lediglich symbolische Kraft besitzt, aber keinen normativen Charakter im Rechtssinn hat.142 Der 138 Rhinow/Schefer/Uebersax, Schweizerisches Verfassungsrecht (Fn. 135), Rdnr. 233. 139 Vgl. BGE 129 I 302, 308 ff. E. 1.2.3. 140 BGE 119 Ia 460, 502 E. 12e; s. dazu Axel Tschentscher, in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar zur Bundesverfassung, 2015, Art. 10 Rdnr. 11. 141 Tschentscher, in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar zur Bundesverfassung (Fn. 140), Art. 10 Rdnr. 11. 142 So etwa Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 4. Aufl. 2016, § 5 Rdnr. 6; Martin Bertschi/Thomas Gächter, Schöne Worte? Zur Eignung der Präambel, des Zweckartikels und des Appells an die Verantwortung als Leitlinien staatlichen Handelns, in: Gächter/Bertschi (Hrsg.), Neue Akzente in der „nachgeführten“ Bundesverfassung, 2000, S. 3 ff. (10 ff.); differenzierter hingegen Bernhard Ehrenzeller, „Im Bestreben, den Bund zu erneuern“. Einige Gedanken über „Gott“ und die „Welt“ in der Präambel des „Bundesbeschlusses über eine neue Bundesverfassung“, in: Ehrenzeller/Mastronar-
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Zweckartikel des Art. 2 BV besitzt als Staatsziel zwar eine bestimmte normative Funktion und ist damit als rechtlich verbindliche Handlungsrichtlinie bei der Konkretisierung offener Verfas sungsnormen in Rechtssetzung und Rechtsanwendung heranzuziehen,143 konkrete Gesetzgebungsaufträge oder einklagbare verfassungsmäßige Rechte zu Gunsten künftiger Generationen ergeben sich daraus jedoch nicht.144 Art. 2 Abs. 2 BV enthält neben der ökologischen auch die soziale und ökonomische Dimension des Nachhaltigkeitsgrundsatzes,145 wobei die ökologische Dimension in Art. 2 Abs. 4 BV eigens nochmals betont und damit in gewisser Weise hervorgehoben wird. Trotz der relativ schwachen Steuerungswirkung von Art. 2 Abs. 2 und 4 BV146 beeinflusst das Staatsziel der Nachhaltigkeit den politischen Diskurs und damit auch die Entscheidungen von Bundesrat und Bundesversammlung, so dass die Vorschrift im politischen Alltag keineswegs leer läuft147 und damit eine stärkere Impulswirkung zu Gunsten der Nachhaltigkeit entfaltet als Art. 20a GG,148 was nicht zuletzt daran deutlich wird, dass die Schweiz bei der Nutdi/Schaffhauser/Schweizer/Vallender (Hrsg.), Der Verfassungsstaat vor neuen Herausforderungen. Festschrift für Yvo Hangartner, 1998, S. 981 ff. (989 ff.). 143 Bernhard Ehrenzeller, in: Ehrenzeller/Schindler/Schweizer/Vallender (Hrsg.), St. Galler Kommentar zur schweizerischen Bundesverfassung, Bd. 1, 3. Aufl. 2014, Art. 2 Rdnr. 10 f.; Bertschi/Gächter, Schöne Worte? (Fn. 142), S. 19 ff. 144 Bundesrat, Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996, BBl 1997, S. 126; Bertschi/Gächter, Schöne Worte? (Fn. 142), S. 19 ff. 145 Ehrenzeller, in: Ehrenzeller/Schindler/Schweizer/Vallender (Hrsg.), St. Galler Kommentar zur schweizerischen Bundesverfassung (Fn. 143), Art. 2 Rdnr. 20. 146 Vgl. auch Helene Keller, Umwelt und Verfassung, 1993, S. 154 allgemein zu Staatszielbestimmungen im Schweizer Verfassungsrecht; Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie (Fn. 8), S. 89. 147 Vgl. dazu Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie (Fn. 8), S. 89 ff. 148 Zum Rechtsvergleich auch Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie (Fn. 8), S. 337.
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zung erneuerbarer Energien eine Vorreiterrolle in Europa einnimmt.149 Hinzu kommt, dass die direktdemokratischen Elemente der Bundesverfassung, d. h. die Volksinitiative und das obligatorische bzw. fakultative Referendum, die Durchsetzung der Belange der Nachhaltigkeit und der künftigen Generationen zumindest in der Vergangenheit tendenziell erleichterten, während das Grundgesetz mit seinen repräsentativen Strukturen Umweltbelangen jedenfalls keine Priorität zuweist.150 Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang ist freilich der Atomausstieg, der in Deutschland nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima vergleichsweise rasch beschlossen wurde,151 während sich in der Schweiz das Volk gegen eine vorzeitige Abschaltung der nationalen Kernkraftwerke ausgesprochen hat152 und stattdessen einen Atomausstieg ohne genau festgelegtes Datum befürwortet.153 Außerdem wurde eine Initiative für eine nachhaltigere Landwirtschaft jüngst vom Stimmvolk abgelehnt.154 149 S. dazu Eurostat, Anteil der Energie aus erneuerbaren Quellen in den EU-Mitgliedstaaten, im Internet abrufbar unter: https://ec.europa. eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=File:Energy-de.png sowie Bundesamt für Energie (BFE), 62 Prozent des Stroms aus Schweizer Steckdosen stammt aus erneuerbaren Energien, im Internet abrufbar unter: http://www.bfe.admin.ch/energie/00588/00589/00644/index.html? lang=de&msg-id=70211. 150 Vgl. Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie (Fn. 8), S. 341 ff. 151 Dreizehntes Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes (13. AtGNovelle) v. 31. Juli 2011, BGBl. I S. 1704. 152 Bundeskanzlei, Volksabstimmung v. 27.11.2016 über die Volksinitiative vom 16.11.2012 „Für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie (Atomausstiegsinitiative)“, Ergebnisse im Internet abrufbar unter: https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/va/20161127/index.html. 153 Bundeskanzlei, Volksabstimmung v. 21.05.2017 über das Energiegesetz (EnG) vom 30.09.2016, Ergebnisse im Internet abrufbar unter: https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/va/20170521/det612.html. 154 S. dazu Bundeskanzlei, Volksabstimmung v. 23.09.2018 über die Volksinitiative vom 30.03.2016 „Für Ernährungssouveränität. Die Landwirtschaft betrifft uns alle“, Ergebnisse im Internet abrufbar unter: https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/va/20180923/det622.html.
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Anders als Art. 2 Abs. 2 BV beschreibt Art. 73 BV wiederum nur die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit, wobei daraus nicht folgt, dass die gesamte Bundesverfassung die ökologische Komponente der Nachhaltigkeit in den Vordergrund rücken würde.155 Art. 73 BV steht an der Spitze des vierten Abschnittes „Umwelt und Raumplanung“, bezieht sich also von seiner systematischen Stellung her, anders als Art. 2 BV, der für die gesamte Verfassung gilt, nur auf diesen Bereich. Aus dem Umstand, dass der Bundesverfassungsgeber das Nachhaltigkeitsprinzip an den Anfang der Kompetenzvorschriften im Bereich „Umwelt und Raumplanung“ platziert hat, ergibt sich dessen besonderes Ge wicht und es wird deutlich, dass die Kompetenzausübung unter Beachtung dieses das gesamte Raumplanungs- und Umweltrecht umspannenden Prinzips zu erfolgen hat.156 Das Bundesgericht geht davon aus, dass Art. 73 BV „ein Verfassungsprinzip, nicht jedoch ein verfassungsmässiges Recht“ darstellt.157 Umstritten ist die Justiziabilität von Art. 73 BV. Während teilweise vertreten wird, dass es der Vorschrift an der erforderlichen normativen Bestimmtheit fehle,158 geht das Schweizer Justizministerium davon aus, dass es sich bei Art. 73 BV um eine verbindliche Handlungsanweisung an die zuständigen Behörden handle, die dadurch, anders als durch Art. 2 BV, unmittelbar verpflichtet würden, wobei der Ermessensspielraum der Behörden freilich in der Regel sehr weit sei, so dass es an der direkten Justiziabilität in der Regel fehlen dürfte.159 Das Bundesgericht seinerseits meint, 155 Glaser,
Nachhaltige Entwicklung und Demokratie (Fn. 8), S. 91 f. A. Vallender, in: Ehrenzeller/Schindler/Schweizer/Vallender (Hrsg.), St. Galler Kommentar zur schweizerischen Bundesverfassung (Fn. 143), Art. 73 Rdnr. 41; Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie (Fn. 8), S. 96. 157 BGer, Entsch. v. 23.02.2004 – 1A.115/2003, E. 3.2; ähnlich BGE 132 II 305, 320 E. 4.3. 158 So etwa Alain Griffel, Die Grundprinzipien des schweizerischen Umweltrechts, 2001, S. 30. 159 Bundesamt für Justiz, Art. 73 BV. Nachhaltigkeit. Anwendung insbesondere im Bereich des Strassenverkehrs, Gutachten vom 29.06. 2000, VPB 65.2, S. 39. 156 Klaus
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dass die „normative Dichte des Grundsatzes“ schwach sei.160 Allerdings geht es davon aus, dass, selbst wenn die Justiziabilität in gewissem Umfang bejaht werde, dies bei Planungen nur bedeuten könne, dass der Grundsatz der Nachhaltigkeit in die Interessenabwägung einzubeziehen sei.161 Bei alledem ist aber stets Art. 190 BV zu beachten, wonach es dem Bundesgericht verwehrt ist, verfassungswidrige Bundesgesetze für nichtig zu erklären oder unangewendet zu lassen,162 so dass selbst für den Fall, dass ein Bundesgesetz an sich gegen die Vorgaben von Art. 73 BV verstößt, es den politischen Organen obliegt, die entsprechende Vorschrift aufzuheben. Im Vergleich zum deutschen Verfassungsrecht dürfte sich dadurch aber kaum ein Unterschied ergeben, nachdem das Bundesverfassungsgericht bislang ebenfalls kein Gesetz wegen Verstoßes gegen Art. 20a GG für nichtig erklärt hat. Andererseits aber beeinflusst Art. 73 BV, anders als Art. 20a GG, die gesamte Kompetenzausübung im Bereich des Um welt- und Raumplanungsrechts zumindest in politischer Hinsicht, so dass davon auszugehen ist, dass der Einfluss des Nachhaltigkeitsgedankens in der Schweizer Politik größer ist als in den politischen Diskussionen in Deutschland.163 Schließlich ist zu bedenken, dass Art. 104 Abs. 1 BV den Bund dazu verpflichtet, für eine nachhaltige Landwirtschaft zu sorgen. Da die Vorschrift vergleichsweise konkret formuliert ist, bereitet ihre Umsetzung wenig Schwierigkeiten und ist deshalb von großer praktischer Relevanz.164 Im Grundgesetz findet sich keine derartige Vorschrift, nachdem die Kompetenzvorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 17 GG das Nachhaltigkeitsprinzip nicht vorsieht, so dass auch insoweit der Grundsatz der Nachhaltigkeit im schwei160 BGer, Entsch. v. 23.02.2004 – 1A.115/2003, E. 3.2; s. dazu Vallender, in: Ehrenzeller/Schindler/Schweizer/Vallender (Hrsg.), St. Galler Kommentar zur schweizerischen Bundesverfassung (Fn. 143), Art. 73 Rdnr. 36. 161 BGer, Entsch. v. 23.02.2004 – 1A.115/2003, E. 3.2. 162 Näher dazu Tschannen, Staatsrecht (Fn. 142), § 8 Rdnr. 6 ff. 163 So auch Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie (Fn. 8), S. 338. 164 Vgl. Glaser, ebd., S. 101.
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zerischen Verfassungsleben und in der politischen Praxis stärker ausgeprägt ist als in Deutschland, wo zudem gerade im Landwirtschaftsbereich auch noch der Vorrang des Unionsrechts zu beachten ist. 2. Kantonale Verfassungen Die vergleichsweise starke Betonung des Nachhaltigkeitsgedankens in der Schweizer Bundesverfassung wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht zuvor bereits einige Kantone den Nachhaltigkeitsgedanken in ihren Verfassungen verankert hätten. Pionierarbeit in dieser Hinsicht leistete der Kanton BaselLandschaft,165 der in seiner Verfassung aus dem Jahr 1984 (KV Basel-Land) mit § 112 Abs. 1 eine erste Umweltschutznorm – noch dazu als Staatsziel – verankerte, die Kanton und Gemeinden dazu verpflichtet, ein auf die Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen den Naturkräften und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits sowie ihrer Beanspruchung durch den Menschen andererseits anzustreben. Eine Vorreiterrolle nahm auch die Verfassung des Kantons Bern aus dem Jahr 1993 (KV Bern) ein, die in ihrer Präambel das Zusammenleben im Kanton Bern unter die „Verantwortung gegenüber der Schöpfung“ stellt. Nach Art. 8 KV Bern trägt jede Person neben der Verantwortung für sich selbst Verantwortung gegenüber den Mitmenschen sowie Mitverantwortung dafür, dass das Recht zur Selbstbestimmung auch künftigen Generationen gewahrt bleibt, d. h. die Belange der künftigen Generationen werden sogar dem Wortlaut nach erwähnt, wobei andererseits die Aufnahme einer spezi fischen Grundpflicht zum Schutz der Natur in die Kantonsverfassung vom Grossen Rat abgelehnt wurde.166 Daneben enthält Art. 31 KV Bern einen eigenen Umweltschutzartikel, der im Verhältnis zum Bundesrecht und auch zu den anderen kantonalen Verfassungen bei seiner Einführung verschiedene neue Akzente setzGlaser, ebd., S. 93. Rat, Tagblatt 1992, S. 1209 f.; s. dazu Peter Saladin, Umweltverfassung, in: Kälin/Bolz (Hrsg.), Handbuch des bernischen Verfassungsrechts, 1995, S. 71 ff. (71). 165 Vgl.
166 Grosser
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te.167 Nach Art. 31 Abs. 1 S. 1 KV ist die natürliche Umwelt für die gegenwärtigen und künftigen Generationen gesund zu erhalten. Satz 2 verpflichtet neben dem Staat auch Private, indem er davon spricht, dass die Umwelt durch staatliche und private Tätigkeiten so wenig wie möglich belastet werden soll. Nach Art. 31 Abs. 2 KV Bern dürfen die natürlichen Lebensgrundlagen nur soweit beansprucht werden, als ihre Erneuerungsfähigkeit und ihre Verfügbarkeit weiterhin gewährleistet bleiben, was jedoch nur eine absolute Grenze, nicht aber ein Staatsziel impliziert.168 Dennoch genießt der Umweltschutz jedenfalls de facto Vorrang, d. h. die bernische Verfassung konzentriert sich auf die ökologische Dimension des Nachhaltigkeitsprinzips.169 Ein eigenständiges Recht des Menschen auf eine gesunde, natürliche Umwelt als verfassungsmäßiges Recht enthält jedoch auch Art. 31 KV Bern nicht.170 Ebenso wenig konnte sich die Verfassungskommission dazu durchringen, eigene Rechte der Natur in der bernischen Verfassung zu verankern.171 Eine umweltbezogene Definition von Nachhaltigkeit enthält seit Langem auch Art. 29 Abs. 1 der Verfassung des Kantons Appenzell Ausserrhoden (KV Appenzell Ausserrhoden) aus dem Jahr 1995, wonach die natürliche Umwelt für die gegenwärtigen und künftigen Generationen gesund zu erhalten und, wenn sie bereits geschädigt ist, möglichst wieder herzustellen ist. Ergänzt wird die Norm durch Art. 29 Abs. 3 der Appenzeller Kantonsverfassung, wonach die natürlichen Lebensgrundlagen nur soweit beansprucht werden sollen, als ihre Erneuerungsfähigkeit und ihre Verfügbarkeit weiterhin gewährleistet bleiben. Ähnliche Bestimmungen finden sich inzwischen in den Verfassungen der meisten Kantone, wobei etwa der Kanton Gla167 Keller,
Umwelt und Verfassung (Fn. 146), S. 68 ff. Nachhaltige Entwicklung und Demokratie (Fn. 8), S. 93; Keller, Umwelt und Verfassung (Fn. 146), S. 73. 169 Keller, Umwelt und Verfassung (Fn. 146), S. 72 u. 173; Alexandre Flückiger, Le développement en droit constitutionnel suisse, URP 2006, S. 471 ff. (520). 170 Saladin, Umweltverfassung (Fn. 166), S. 75. 171 Saladin, Umweltverfassung (Fn. 166), Art. 31 Rdnr. 3. 168 Glaser,
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rus in Art. 22 Abs. 1 seiner Kantonsverfassung jedermann dazu verpflichtet, die Umwelt zu schonen, was auch eine Verpflichtung Privater impliziert. Ei nen etwas anderen Weg geht der Kanton Zürich, der das Nachhaltigkeitsprinzip in Art. 6 der Kantonsverfassung als Staatszweck ohne Grundrechtscharakter verankert, die ökologische Dimension aber nicht in den Vordergrund rückt,172 wenngleich die Zürcher Verfassung an anderen Stellen den ökologischen Aspekt der Nachhaltigkeit sehr wohl betont.173 Wohl am weitesten geht gegenwärtig der Kanton Genf, der in seiner Verfassung aus dem Jahr 2012 im Abschnitt über die Grundrechte in Art. 19 das Recht jeder Person auf ein Leben in einer gesunden Umwelt verbürgt, welches durch den Nachhaltigkeitsgrundsatz in Art. 10 ergänzt wird. Wenngleich es sich hierbei nach Wortlaut und Systematik um ein subjektives, einklagbares Recht des Einzelnen handelt, ist zu bedenken, dass nach Art. 49 Abs. 1 BV das Bundesrecht dem kantonalen Recht vorgeht, so dass kantonale Umweltgrundrechte, ebenso wie in Deutschland die landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen zum Umweltschutz, meist nur symbolische Wirkung entfalten können, selbst wenn sie als subjektive Rechte ausgestaltet sind. VII. Gestaltungsmöglichkeiten de constitutione ferenda Die Analyse des geltenden deutschen Verfassungsrechts hat gezeigt, dass die natürlichen Lebensgrundlagen zu Gunsten von künftigen Generationen gegenwärtig nur defizitär geschützt sind, so dass nach Gestaltungsmöglichkeiten de constitutione ferenda zu suchen ist.
172 Flückiger, Le développement en droit constitutionnel suisse (Fn. 169), S. 521. 173 Vgl. Viviane Sobotich, in: Häner/Rüssli/Schwarzenbach (Hrsg.), Kommentar zur Zürcher Kantonsverfassung, 2007, Art. 6 Rdnr. 6.
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1. Einführung eines Art. 20b GG Ein möglicher Weg ist die Einführung eines Art. 20b GG nach dem Vorbild des gescheiterten Gesetz entwurfs aus dem Jahr 2006,174 der folgenden Wortlaut vorsah: „Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit zu beachten und die Interessen künftiger Generationen zu schützen.“ Zu bezweifeln ist allerdings, ob durch die Einführung einer solchen Vorschrift der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im Interesse künftiger Generationen wirklich verbessert würde, da bereits Art. 20a GG eine ähnliche Regelung bezogen auf die natürlichen Lebensgrundlagen enthält, Deutschland aber beispielsweise seine selbst gesetzten Klimaschutzziele trotzdem deutlich verfehlt.175 Andererseits freilich hätte eine allgemeine Nachhaltigkeitsvorschrift Auswirkungen auf sämtliche Politikfelder auch jenseits der Ökologie,176 wovon der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen profitieren könnte, wobei bei Einbeziehung der wirtschaftlichen und sozialen Nachhaltigkeitsdimension wiederum die Ge fahr bestünde, dass die ökologische Dimension an den Rand gedrängt wird. Daher sollte eine allge meine Nachhaltigkeits vorschrift nur in Kombination mit einer Vorrangregelung zu Gunsten der ökologischen Dimension eingeführt werden. Dies erscheint schon deshalb sinnvoll, weil ökonomische und soziale Nachhaltigkeit überhaupt nur dann zu erreichen sind, wenn die natürlichen Lebensgrundlagen für ein gesundes Leben künftiger Generationen noch vorhanden sind.
174 BT-Drucks.
16/3399, S. 1 ff. Gerald Traufetter, Deutschland verfehlt Klimaschutzziele deutlich, Spiegel Online vom 09.06.2018, im Internet abrufbar unter: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/bundesregierung-berichtweist-grosse-luecke-bei-klimaschutzzielen-aus-a-1211907.html. 176 Deter, „Nationale Nachhaltigkeitsstrategie“ und Grundgesetz (Fn. 5), S. 159; Kahl, Staatsziel Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit (Fn. 7), S. 12 f.; Wieland, Verfassungsrang für Nachhaltigkeit (Fn. 76), S. 474. 175 S. dazu
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2. Neufassung des Art. 20a GG Einen etwas anderen Weg wollten Tremmel, Laukemann und Lux177 gehen, die einen erneuerten Art. 20a GG vorschlugen, der sich im Vergleich zum geltenden Art. 20a GG durch eine viel stärkere Detailliertheit auszeichnet. Darin heißt es: „Art. 20a Schutz nachrückender Generationen (1) Der Staat schützt die Rechte und Interessen nachrückender Generationen nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. (2) Er gewährleistet, dass schädlich wirkende Stoffe die Umweltmedien Luft, Wasser, Boden und Atmosphäre nur soweit belasten, als diese sie auf Grund ihrer natürlichen Regenerationsfähigkeit wieder abbauen können. (3) Er gewährleistet, dass erneuerbare Ressourcen nicht stärker genutzt werden, als sie sich erneuern. Nicht-erneuerbare Rohstoffe und Energieressourcen müssen so sparsam wie mit vertretbarem Aufwand möglich genutzt werden. (4) Er trägt Sorge dafür, dass keine Gefahrenquellen aufgebaut werden, die zu Schäden führen können, die nicht mehr oder nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand beseitigt werden können. (5) Er gewährleistet, dass die bestehende Vielfalt sowohl von Tierund Pflanzenarten als auch von Ökosystemen nicht durch menschliches Handeln verringert wird. (6) Verstöße gegen die Absätze 2 bis 5 sollen bei grenzüberschreitenden Umweltproblemen ausgeglichen werden durch eine quantitativ und qualitativ vergleichbare Kompensation im Ausland.“178
Gegen den von Tremmel, Laukemann und Lux vorgebrachten Vorschlag wandte die damalige Bundesjustizministerin DäublerGmelin ein, dass der Vorschlag für eine Verfassungsbestimmung zu detailliert sei und sich die Verfassungsgesetzgebung stattdessen auf grundsätzliche Richtungsangaben und Wertanschauun177 Jörg Tremmel/Marc Laukemann/Christina Lux, Die Verankerung von Generationengerechtigkeit im Grundgesetz – Vorschlag für einen erneuerten Art. 20a Grundgesetz, ZRP 1999, S. 432 ff. 178 Tremmel/Laukemann/Lux, Die Verankerung von Generationengerechtigkeit im Grundgesetz – Vorschlag für einen erneuerten Art. 20a Grundgesetz (Fn. 177), S. 434.
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gen konzentrieren sollte.179 Daran ist richtig, dass das Grundgesetz nicht mit unnötigem Ballast überfrachtet werden sollte. Andererseits haben die Erfahrungen aus der Schweiz gezeigt, dass eine detailliertere Verankerung der ökologischen Nachhaltigkeit durchaus Appellfunktion entfalten kann,180 auch wenn viele Umweltzerstörungen von Privaten hervorgerufen werden und der Staat insoweit nur bedingt Einfluss hat.181 Zudem darf nicht übersehen werden, dass ein konkreter gefasstes Recht bei staatlichen Abwägungsentscheidungen größeres Gewicht hätte als der offen formulierte Art. 20a GG. Außerdem zeichnet sich das Grundgesetz bereits jetzt – auch im Grundrechtsbereich – nicht überall durch knappe und einfache Formulierungen aus, wie etwa Art. 13 und 16a GG belegen. Allerdings wäre zu überlegen, ob die in Absatz 5 enthaltene Formulierung nicht dahingehend geändert werden müsste, dass der Staat darauf hinwirkt, dass die bestehende Artenvielfalt und die Vielfalt der Ökosysteme nicht verringert wird, da andernfalls ein mit rechtlichen Mitteln nicht erreichbares Ziel formuliert würde.182 Auf Absatz 6 sollte hingegen ganz verzichtet werden, da dieser dazu einlädt, im Ausland nach Kompensationen für Umweltzerstörungen im Inland zu suchen.183 Weiterhin ließe sich einwenden, dass der Gesetzgeber auch durch eine derartige Neufassung nicht zum Handeln gezwungen werden könnte.184 Dies ist insoweit zutreffend, als eine neue Staatszielbestimmung, selbst wenn sie detailliert ist, schon auf Grund ihrer Rechtsnatur dem Gesetzgeber trotzdem einen wei179 Herta Däubler-Gmelin, Die Verankerung von Generationengerechtigkeit im Grundgesetz. Vorschlag für einen erneuerten Art. 20a GG, ZRP 2000, S. 27 ff. (27 f.). 180 S. oben, VI. 181 Zu diesem Argument gegen die Schaffung eines Umweltgrundrechts. Epiney, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz (Fn. 88), Art. 20a Rdnr. 40. 182 So auch Däubler-Gmelin, Generationengerechtigkeit im Grundgesetz (Fn. 179), S. 28. 183 Däubler-Gmelin, ebd., S. 28. 184 Däubler-Gmelin, ebd., S. 28.
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ten Handlungsspielraum einräumen würde, dessen Ausfüllung vom Bundesverfassungsgericht nur sehr eingeschränkt überprüft werden könnte. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn die künf tigen Generationen mit eigenen Rechten ausgestattet werden, wie dies der Vorschlag von Tremmel, Laukemann und Lux in Absatz 1 vorsieht. Hierin könnte ein entscheidender Ansatzpunkt für eine Weiterentwicklung des Verfassungsrechts be stehen. Wie bereits gezeigt,185 ist es rechtstheoretisch und auch dogmatisch durchaus möglich, kollektive Rechte künftiger Generationen als solche zu konstruieren. Daher sollte der von Tremmel, Laukemann und Lux vorgeschlagene Ansatz aufgegriffen und künftige Generationen zum Träger des Rechts auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen erhoben werden,186 wobei die Formulierung als subjektives Recht noch klarer betont werden sollte. Es macht nämlich einen entscheidenden Unterschied, ob künftige Generationen vom Grundgesetz lediglich als rechtloses Bezugsobjekt der Verantwortlichkeit des Staates aufgefasst werden oder ob sie selbst als Träger eigener Rechte den heute lebenden Menschen als gleichberechtigte Partner gegenübertreten.187 Freilich ergeben sich daraus zahlreiche rechtliche Folgeprobleme, insbesondere die Frage nach der gerichtlichen Durchsetzung des Rechts künftiger Generationen. Eine solche gerichtliche Durchsetzbarkeit ist jedoch essentiell, da subjektive Rechte künftiger Generationen andernfalls mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit leer liefen. Als Vorbild in diesem Zusammenhang könnte die Institution des Datenschutzbeauftragten188 oder – allgemein – die des Ombudsmanns189 dienen. So sieht die 185 S. oben,
III. 2. hierzu aber Mückl, „Auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“, (Fn. 14), S. 201. 187 Däubler-Gmelin, Generationengerechtigkeit im Grundgesetz (Fn. 179), S. 28. 188 Allgemein zum Institut des öffentlich-rechtlichen Beauftragten im deutschen Recht s. Julia Kruse, Der öffentlich-rechtliche Beauftragte, 2007. 189 Näher dazu Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012; Jürgen Hansen, Die Institution des 186 Krit.
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Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) in Art. 37 die Bestellung eines Datenschutzbeauftragten für Fälle der Datenverarbeitung durch öffentliche Stellen vor.190 Eine entsprechende Vorschrift findet sich in § 5 des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG). Hintergrund ist die Überlegung, dass der von der Datenverarbeitung Betroffene mitunter allein nicht in der Lage ist, seine Rechte selbst wahrzunehmen, weil er sie entweder gar nicht kennt oder er mit ihrer Geltendmachung überfordert wäre.191 So hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Volkszählungsurteil aus dem Jahr 1983 darauf hingewiesen, dass die Beteiligung unabhängiger Datenschutzbeauftragter für einen effektiven Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung von erheblicher Bedeutung sei.192 Insoweit besteht eine deutliche Parallele zu den Rechten künftiger Generationen, die von diesen heute noch nicht geltend gemacht werden können, weil ihre Angehörigen erst gezeugt und geboren werden müssen. Wenn daher schon im Fall des Datenschutzrechts, bei dem eine Geltendmachung der Rechte durch die Betroffenen selbst, von bestimmten Ausnahmekonstellationen einmal abgesehen,193 zumindest theoretisch möglich ist, der Einsatz eines Beauftragten notwendig ist, muss dies erst recht für die Rechte künftiger Generationen gelten, die von diesen gegenwärtig selbst unter keinen Umständen realisiert werden können. Ähnliches gilt für den Vergleich mit dem Ombudsmann, der etwa in Skandinavien und Osteuropa üblich ist und der insbesondere in den osteuropäischen Ländern die Einhaltung der Grundrechte des Individuums, teilweise auch Ombudsmanns, 1972; zur Möglichkeit der Ausgestaltung der Geltendmachung des Rechts durch einen Prozessstandschafter nach dem Vorbild des § 64 BNatSchG s. Kahl, Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit (Fn. 7), S. 12. 190 Ausführlich dazu Marcus Helfrich, in: Sydow (Hrsg.), Handkommentar zur Europäischen Datenschutzgrundverordnung, 2017, Art. 37 Rdnr. 51 ff. 191 Vgl. Helmut Heil, Datenschutzkontrolle, in: Roßnagel (Hrsg.), Handbuch Datenschutzrecht, 2003, Kap. 5 Rdnr. 1. 192 BVerfGE 65, 1 (46). 193 So etwa in den Fällen des § 29 BDSG.
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des Rechts auf eine gesunde Umwelt, durch die staatlichen Stellen überprüfen soll.194 Auch hier wird eine Institution zur Überwachung der Einhaltung subjektiver Rechte etabliert, und das, obwohl, anders als bei den künftigen Generationen, die Bürger hier ihre Grundrechte grundsätzlich selbst geltend machen können. Selbst wenn derartige Einrichtungen für die Einsetzung eines öffentlichen Beauftragten zur Durchsetzung des subjektiven Rechts künftiger Generationen auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sprechen, darf natürlich nicht übersehen werden, dass es wieder ein bereits lebender Mensch wäre, der über die Geltendmachung der Rechte künftiger Generationen zu entscheiden hätte. Andererseits lässt sich eine derartige Konstruk tion kaum ver hindern, wenn sichergestellt werden soll, dass subjektive Rechte künftiger Generationen überhaupt eingeklagt werden können.195 Schwieriger hingegen gestaltet sich die Bestimmung des Schutzniveaus eines Rechts künftiger Generationen auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. In diesem Punkt sollte die Verfassung trotz des Bedürfnisses nach einem gewissen Grad an Detailliertheit Zurückhaltung üben, um dem Gesetzgeber nicht jeglichen Handlungsspielraum zu nehmen, da andernfalls das Demokratieprinzip verletzt wäre.196 Außerdem hätte eine zu exakte Vorgabe bezüglich der Rechte künftiger Generationen seitens des Grundgesetzes zur Folge, dass der politische Prozess immer stärker verrechtlicht würde197 und das Bundesverfassungsgericht, dem die Interpretation der Vorschrift obläge, im Verhältnis zum Gesetzgeber einen weiteren Machtzuwachs er194 Näher dazu Haas, Der Ombudsmann als Institution des europäischen Verwaltungsrechts (Fn. 189), S. 215 ff.; zur Möglichkeit der Schaffung eines Ombudsmanns zu Gunsten künftiger Generationen auch Kleiber, Schutz künftiger Generationen (Fn. 6), S. 142 f.; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat (Fn. 57), S. 520 ff. 195 So für den Umweltschutz und dessen Durchsetzung auch Michael Kloepfer, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der 116. Erg-Lfg., Art. 20a Rdnr. 103. 196 Kleiber, Schutz künftiger Generationen (Fn. 6), S. 141. 197 Kleiber, ebd., S. 141.
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führe, was weder der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes entspräche noch politisch wünschenswert wäre.198 Andererseits sollten dem Recht der künftigen Generationen auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen bereits von Verfassungs wegen gewisse Konturen verliehen werden, die klare Zielvorgaben für das einfache Recht enthalten und daher eine Operationalisierung ermöglichen,199 ohne den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers allzu sehr einzuschränken und die Verfassung als Werteordnung zu überfordern. Dadurch würde zugleich die Gefahr vermieden, dass eine wohlklingende Verheißung ins Grundgesetz aufgenommen würde, die in der Realität doch wirkungslos bliebe,200 wobei auch im Falle klarer Zielvorgaben zu bedenken ist, dass eine derartige Vorschrift vielfach durch Unionsrecht überlagert werden wird. 3. Aufnahme spezifischer Kinderrechte ins Grundgesetz Darüber hinaus wird, insbesondere vor dem Hintergrund des geltenden Koalitionsvertrags,201 die explizite Verankerung von auch Udo Steiner, Verfassungsfragen des Sports, NJW 1991, S. 2729 ff. (2730); Christine Hohmann-Dennhardt, Staatsziele und Kinderrechte. Ein Kessel Buntes?, in: Manssen/Jachmann/Gröpl (Hrsg.), Nach geltendem Verfassungsrecht. Festschrift für Udo Steiner zum 70. Geburtstag, 2009, S. 313 ff. (318 f.); zu dieser Gefahr bei der Aufnahme eines Umweltgrundrechts auch Epiney, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 88), Art. 20a Rdnr. 41. 199 Vgl. Ivo Appel, Staatsziel Nachhaltigkeit in das Grundgesetz?, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 94 ff. (101 f.). 200 Zu dieser Gefahr im Zusammenhang mit der Aufnahme von Staatszielen ins Grundgesetz Hohmann-Dennhardt, Staatsziele und Kinderrechte (Fn. 198), S. 319. 201 Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD (19. Legislaturperiode), S 11 u. 21, im Internet abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/ blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-0314-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1. 198 So
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Kinderrechten im Grundgesetz diskutiert.202 Derartige Vorschläge sind jedoch abzulehnen, da Kinder ohnehin bereits durch das geltende Verfassungsrecht, insbesondere durch Art. 6 GG, sowie durch die unmittelbar anwendbaren Vorgaben der UNKinderrechtskonvention203 mittelbar hinreichend geschützt sind.204 So hat der Staat nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG darüber zu wachen, dass Eltern ihrer Verantwortung zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder hinreichend nach kommen.205 Daraus folgt auch, dass das Wohl des Kindes Richtschnur für das staatliche Handeln ist, d. h. der Staat muss im Rahmen seiner Kompetenzen für das Kindeswohl Sorge tragen.206 Darüber hinaus können sich Kinder in gleichem Umfang wie Erwachsene auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen, nachdem die Grundrechtsfä-
202 Vgl. etwa die öffentliche Anhörung im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages am 25.01.2016 zum Thema „Stärkung der Kinderrechte“; Lore Maria Peschel-Gutzeit, Die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz, RdJB 1994, S. 491 ff.; zum Kind als Träger von Grundrechten siehe Cornel-Rupert Meyer, Die Stellung des Minderjährigen im öffentlichen Recht, 1988, S. 25 ff.; Friederike Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015. 203 Ausführlich dazu Hans-Georg Dederer, Kinderrechte auf internationaler und supranationaler Ebene. Bestandsaufnahme und Ausblick, in diesem Band, S. 287. 204 BVerfGE 76, 1 (44 ff.); 87, 1 (36 ff.); Gregor Kirchhof, Kinderrechte in der Verfassung – zur Diskussion einer Grundgesetzänderung, ZRP 2007, S. 149 ff. (150); Udo Steiner, Generationenfolge und Grundgesetz, NZS 2004, S. 505 ff. (506); Margarete Schuler-Harms, Demografischer Wandel und Generationengerechtigkeit, DVBl. 2008, S. 1090 ff. (1097); Jens Kersten, Demographie als Verwaltungsaufgabe, Die Verwaltung 2007, S. 309 ff. (318 ff.); Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl (Fn. 202), S. 89; Florian Becker, Kinderrechte in die Verfassung? Zur Aufnahme eines Kindergrundrechts in das Grundgesetz, in diesem Band, S. 251; für eine Änderung von Art. 6 Abs. 2 GG jedoch jüngst Gregor Kirchhof, Die Kinderrechte des Grundgesetzes. Sollte die Verfassung zugunsten von Kindern geändert werden?, NJW 2018, S. 2690 ff. (2693). 205 BVerfGE 107, 104 (117). 206 Hohmann-Dennhardt, Staatsziele und Kinderrechte (Fn. 198), S. 316.
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higkeit mit der Geburt beginnt.207 Die Aufnahme spezifischer Kinderrechte ins Grundgesetz würde den bestehenden Grundrechtsschutz von Kindern hingegen unnötig spalten und zudem die Allgemeinverbindlichkeit des Grundrechtsschutzes gefährden.208 Für Angehörige künftiger Generationen wäre die Verankerung von Kinderrechten zudem ohnehin ohne unmittelbare Relevanz, da sie bislang weder geboren noch gezeugt sind209 und sie daher nur unter Zugrundelegung der Vorwirkungskonstruktion geschützt wären. 4. Institutionelle Absicherung der Belange künftiger Generationen im Grundgesetz Jenseits der Verankerung spezifischer Rechte zu Gunsten künftiger Generationen im Grundgesetz wird auch eine institutionelle Absicherung der Belange künftiger Generationen in der Verfassung ins Spiel gebracht. Konkret geht es dabei um Vorschläge, die etwa auf die Einführung eines sog. Ökologischen Rates abzielen, welchem ein Mitsprache- bzw. sogar ein Vetorecht im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zukommen soll.210 Dabei ließe sich auf die Erfahrungen aus Israel zurückgreifen, wo im Jahr 2001 ein parlamentarischer Ausschuss zur Überprüfung sämtlicher Gesetzesvorlagen auf für kommende
207 BVerfGE 24, 119 (144); 57, 361 (382); 121, 69 (92); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Fn. 24), Art. 19 Rdnr. 10; eingehend dazu Hohmann-Dennhardt, Staatsziele und Kinderrechte (Fn. 198), S. 320 ff. 208 Christina Weilner, Verfassungsmethodische und verfassungssystematische Aspekte der Ergänzung des Grundgesetzes um ein Kindergrundrecht, 2014, S. 160 ff.; Gregor Kirchhof, Kinderrecht in der Verfassung – zur Diskussion einer Grundgesetzänderung, ZRP 2007, S. 149 ff. (150). 209 So auch Kahl, Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit (Fn. 7), S. 11 f. 210 Vgl. Johannes Rux, Der Ökologische Rat. Ein Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes, in: Stiftung für die Rechte künftiger Generationen (Hrsg.), Handbuch Generationengerechtigkeit, 2. Aufl. 2003, S. 471 ff. (475 f.); Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat (Fn. 57), S. 515 ff.
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Generationen negative Auswirkungen eingerichtet wurde,211 welchen man im Jahr 2006 aus Kostengründen und aus Angst vor zu weitreichender Einmischung in die parlamentarischen Entscheidungsprozesse jedoch wieder abschaffte.212 Gegen die Etablierung eines derartigen Gremiums lässt sich zudem einwenden, dass es das Gesetzgebungsverfahren entweder unnötig verkomplizieren oder seine Beteiligung nur pro forma durchgeführt werden könnte. Hinzu kommt, dass ein solcher Ökologischer Rat, wenn er tatsächlich mit einem Vetorecht ausgestattet würde, das gesamte demokratische System qualitativ verändern würde und Probleme im Hinblick auf das Demokratieprinzip auftreten können, wenn seine Mitglieder nicht hinreichend demokratisch legitimiert sind.213 VIII. Gestaltungsmöglichkeiten der (Verfassungs-)Rechtsprechung Nicht zuletzt kann der Schutz künftiger Generationen auch durch eine veränderte Akzentuierung bei der (Verfassungs-) Rechtsprechung verbessert werden. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte sein, die Schutzpflichtendogmatik im Umweltbereich214 zu überdenken und bei der Überprüfung der Einhaltung der Schutzpflichten einen strengeren Maßstab anzulegen, zumal das Bundesverfassungsgericht außerhalb des Umweltbereichs, wie etwa beim Embryonenschutz, die Einhaltung der Schutzpflichten durchaus streng kontrolliert215 und auch im Umweltrecht hochrangige Rechtsgüter wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Raum stehen. Dagegen Tremmel, Generationengerechtigkeit (Fn. 7), S. 373 f. for Democracy and Sustainable Development, Knesset Commission for Future Generations, im Internet abrufbar unter: http://www.fdsd.org/ideas/knesset-commission-future-generations/. 213 Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge (Fn. 25), S. 89 ff.; weniger kritisch jedoch Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat (Fn. 57), S. 515 ff. 214 S. dazu oben, V. 1. b). 215 BVerfGE 88, 203 (263 ff.); Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit (Fn. 15), S. 383. 211 S. dazu
212 S. Foundation
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spricht freilich wiederum, dass auf diese Weise der Spielraum des demokratischen Gesetzgebers eingeschränkt und die Position des Bundesverfassungsgerichts weiter aufgewertet würden, mit der Folge, dass es das Bundesverfassungsgericht wäre, das in diesem Bereich die politischen Entscheidungen trifft. Andererseits wäre es auch hier möglich, die richterliche Zurückhaltung zumindest ein Stück weit aufzugeben, ohne den demokratischen Gesetzgeber sämtlicher Gestaltungsmöglichkeiten zu berauben. Eine weitere, ergänzende Möglichkeit, die Belange der künftigen Generationen höher zu gewichten, bestünde darin, die Vorwirkungen künftiger Rechte künftiger Individuen, in concreto des Rechts auf Leben, neben den Rechten der bereits lebenden Menschen explizit anzuerkennen. Ein derartiger Schritt muss jedoch gut überlegt werden, um Widersprüche mit der Judikatur des Bundesverfassungs gerichts zum Schutz des ungeborenen Lebens zu vermeiden, zumal eine Anerkennung der Vorwirkung künftiger Rechte künftiger Individuen jenseits der der Menschenwürde entnommenen Vorwirkung für die Zeit zwischen Befruchtung und Nidation216 einen gewissen Bruch mit der überkommenen Dogmatik implizieren würde. Um eine Umwälzung der gegenwärtigen Dogmatik zu vermeiden, sollten Vor wirkungen der künftigen Rechte künftiger Menschen allein aus der Menschenwürde abgeleitet und auch nur über staatliche Schutzpflichten zur Geltung gebracht werden, was als Ergänzung zu einer akzentuierteren Schutzpflichtendogmatik des Bundesverfassungsgerichts gesehen werden kann. Selbst wenn sich aus einer solchen Konstruktion möglicherweise Folgeprobleme, etwa im Hinblick auf die Konkurrenz mit dem Embryonenschutz ergeben können, so erscheint es dennoch erwägenswert, einen derartigen Schritt zu gehen, bevor die natürlichen Lebensgrundlagen endgültig zerstört sind und das Überleben künftiger Generationen in Gefahr ist.
216 S. dazu
oben, III. 1.
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IX. Fazit und Ausblick „Wir müssen ein für alle Mal beschließen, unseren Nachkommen mehr als nur Atomgefahren und Klimawandel zu hinterlassen.“ – Das eingangs erwähnte Zitat von Hans Joachim Schellnhuber erscheint heute aktueller denn je. Gerade in den letzten Monaten bekamen auch wir in Deutschland einen Eindruck davon, wie sich die Folgen unseres Lebensstils auf unser Klima auswirken und mit welchen Problemen die Menschen anderswo auf der Welt längst konfrontiert sind. Wenn künftigen Genera tionen daher noch ein lebenswertes Leben auf diesem Planeten ermöglicht werden soll, muss dies auch mit rechtlichen Mitteln unterstützt werden, und zwar gerade hier in Deutschland, das zugleich eine gewisse Vorbildwirkung für andere Länder entfalten kann. Das Grundgesetz in seiner Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht hat sich diesbezüglich bislang als unzureichend erwiesen. Ein etwas positiveres Urteil ergibt sich hingegen in Bezug auf die Schweizer Bundesverfassung, die das Thema „Nachhaltigkeit und Umweltschutz“ an verschiedenen Stellen aufgreift und zumindest teilweise viel konkretere Vorgaben macht als das deutsche Grundgesetz, was sich gerade im Bereich der Landwirtschaft auch praktisch auswirkt. Daher erscheint es an der Zeit, die Belange künftiger Generationen auch im Grundgesetz zu stärken, was sich am besten durch die Verankerung eines subjektiven Rechts künftiger Generationen auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verwirklichen ließe. Gleichzeitig sollte das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung in Abwägungskonstellationen die Vorwirkungen der Rechte künftiger Menschen in Form einer auf die Menschenwürde gestützten Schutzpflicht berücksichtigen. Derartige Überlegungen mögen einen Bruch mit der gegenwärtigen Rechtsdogmatik darstellen, sie sind es jedoch trotzdem wert, realisiert zu werden, da andernfalls das Grundgesetz mit seinen Grundrechten für künftige Generationen wertlos sein wird, nachdem ein Staat nur funktionieren kann, wenn noch hinreichende natürliche Lebensgrundlagen vorhanden sind. Freilich ist dabei zu bedenken, dass viele Rechtsbereiche heute durch das Unionsrecht überlagert werden und somit ein im Grundgesetz verankertes
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subjektives Recht auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, ebenso wie die Gestaltungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts, an ihre Grenzen stoßen. Dennoch sollten wir als aktuell lebende Menschen hinreichende rechtliche Vorkehrungen treffen, damit wir am Ende des Tages unseren Kindern und Kindeskindern nicht nur Atomgefahren und Klimawandel hinterlassen.
Kinderrechte in die Verfassung? Zur Aufnahme eines Kindergrundrechts in das Grundgesetz Von Florian Becker I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 II. Internationale Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2. Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 III. Mögliche Regelungsdimensionen und -adressaten . . . . . . . . . . 258 1. Weichenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 2. Schutzintensität: Staatszielbestimmung oder Grundrecht . 259 3. Schutzdimensionen: Freiheit, Schutz, Leistung . . . . . . . . . . 260 a) Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 b) Grundrechtliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 c) Leistungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 d) Gleichbehandlungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 e) Funktionenübergreifende und prozedurale Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 4. Adressaten: Staat und/oder Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 IV. Bestandsaufnahme: Grundrechtsschutz von Kindern . . . . . . . 267 1. Grundrechte im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 a) Grundrechtsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 b) Grundrechtsmündigkeit und Grundrechtsreife . . . . . . . 269 2. Kinderspezifische Schutzgehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 a) Grundrechtssubjektivität und Persönlichkeitsrecht . . . . 270 b) Entfaltung der Kinder mit Hilfe der Eltern . . . . . . . . . . 271 c) Die dienende Funktion des elterlichen Erziehungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 d) Kindeswohl als Richtschnur des elterlichen Erziehungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 e) Der Staat als Wächter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 f) Die Position des Kindes in Art. 6 Abs. 2 GG . . . . . . . . 274
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3. Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 V. Sollte ein Kindergrundrecht eingeführt werden? . . . . . . . . . . . 278 1. Kindergrundrecht als tatsächliche Fortentwicklung oder als Symbolpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 2. Systematischer Bruch durch Einführung eines Sondergrundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 3. Auswirkung auf die Interpretation der Grundrechte . . . . . 280 4. Leistungsrechte (soziale Grundrechte) . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 5. Das Verhältnis von Eltern, Kind und Staat . . . . . . . . . . . . . 283 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
I. Einleitung Die Frage, ob das Grundgesetz oder auch nur sein Text sinnvollerweise durch ein explizit formuliertes Kindergrundrecht ergänzt werden soll, ist nicht neu1. Zwar scheiterte die SPD im Parlamentarischen Rat mit dem Vorschlag einer besonderen Erwähnung von Kindern neben Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG2, während die Weimarer Reichsverfassung in dem zweiten Abschnitt ihres zweiten Hauptteils über das Gemeinschaftsleben noch einige Vorschriften über die rechtliche Position von Kindern und Jugendlichen enthalten hatte (Art. 119 ff. WRV). Seit dem Jahr 1949 hat es aber immer wieder Versuche gegeben, die Rechtsposition von Kindern und Jugendlichen durch deren ausdrückliche Erwähnung im Text des Grundgesetzes zu verbessern. Entsprechende Vorschläge wurden sowohl von politischer Seite3 1 Kurzer Überblick über die drei Phasen der Debatte unter dem Grundgesetz bei Gregor Kirchhof, Die Kinderrechte des Grundgesetzes. Sollte die Verfassung zugunsten von Kindern geändert werden?, NJW 2018, S. 2690 ff. (2690); über die Entwicklung von Kinderrechten im Allgemeinen ausführlich Friederike Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015, S. 74 ff. 2 Vgl. dazu Hauptausschuss, der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 14/I, 2009, S. 602. 3 Bspw. die Initiative der PDS-Fraktion v. 12. Dezember 2001 (BTDrucks. 14/7818); vorher: Landesjugendministerkonferenz vom 12. Juni 1992, Potsdam.
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als auch von freien Wohlfahrtsverbänden4 und anderen gesellschaftlichen Initiativen5 immer wieder aufs Neue in die Diskussion eingeführt. Aus jüngerer Vergangenheit kann insoweit auf drei breit diskutierte Initiativen für eine Verfassungsänderung in der 17. Wahlperiode des Bundestags6 hingewiesen werden, die allerdings – wären sie nicht allesamt der Diskontinuität zum Opfer gefallen − keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätten, weil sie aus den Reihen der damaligen Opposition stammten. Nordrhein-Westfalen brachte im Jahr 2017 erneut einen Vorschlag in den Bundesrat ein, Art. 6 GG um einen weiteren Absatz zu ergänzen7, während das Aktionsbündnis Kinderrechte einen gänzlich neuen Art. 2a GG in den Grundrechtskatalog einfügen lassen möchte8. Nunmehr steht ein neuer Anlauf bevor, der deutlich größere Realisierungschancen hat als seine Vorgänger. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 7. Februar 20189 (S. 21) 4 Beschluss des AWO Präsidiums v. 24.08.2012, Weimarer Erklärung. „Chancengerechtes Aufwachsen in gemeinsamer Verantwortung – (An) Forderungen an eine Politik für Kinder, Jugendliche und Familien.“, S. 7, im Internet abrufbar unter: https://www.awo.org/sites/default/ files/2017-01/2012-AWO-Positionspapier-Weimarer-Erklaerung.Chancengerechtes-Aufwachsen-in-gemeinsamer-Verantwortung.pdf. 5 National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland, 1992, im Internet abrufbar unter: http://www. national-coalition.de; Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses Kinderrechte, im Internet abrufbar unter: https://kinderrechte-insgrundgesetz.de/wp-content/uploads/2017/11/Formulierungsvorschlag_ KR_ins_GG-2012-11-14-js.pdf. 6 BT-Drucks. 17/10118, 17/11650 und 17/13223. 7 BR-Drucks. 234/17. 8 Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses Kinderrechte (Fn. 5), S. 2. 9 Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD (19. Legislaturperiode), im Internet abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/8479 84/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertragdata.pdf?download=1.
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enthält unter der Überschrift „Kinder stärken − Kinderrechte ins Grundgesetz“ folgende Aussage: „Wir werden Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich verankern. Kinder sind Grundrechtsträger, ihre Rechte haben für uns Verfassungsrang. Wir werden ein Kindergrundrecht schaffen. Über die genaue Ausgestaltung sollen Bund und Länder in einer neuen gemeinsamen Arbeitsgruppe beraten und bis spätestens Ende 2019 einen Vorschlag vorlegen“. In dieser Vereinbarung sind mehrere, zum Teil nicht aufeinander abgestimmte Aussagen enthalten. Auf der einen Seite sollen Kinderrechte ausdrücklich im Grundgesetz verankert werden, obwohl Kinder – auf der anderen Seite – „für uns“ (also offenbar nur für die an dem Vertrag beteiligten politischen Parteien) bereits Grundrechtsträger sind. Inhalt und Schutzrichtung des geplanten Rechts bleiben im Dunkeln. Vielmehr soll eine erstmals im Juni 2018 zusammengetretene gemeinsame Arbeitsgruppe von Bund und Ländern die Novelle vorbereiten. Zwar handelt es sich damit bei der Einführung eines Kindergrundrechts um ein in seinen Konturen noch unscharfes verfassungspolitisches Projekt. Aber auf der Internetpräsenz des zuständigen Bundesministeriums lässt sich die rechtspolitische Zielsetzung der aktuellen Initiative erkennen10: Zum einen soll festgelegt werden, dass das Kindeswohl „bei allen staatlichen Entscheidungen, die Kinder betreffen, als ‚vorrangiger Gesichtspunkt‘ berücksichtigt werden [muss]“ (Kindeswohlprinzip). Zum andern soll in der Verfassungsänderung das ebenfalls völkerrechtlich verbürgte Recht „des Kindes auf Beteiligung und angemessene Berücksichtigung seiner Meinung … [gewährleistet werden].“ Auch wenn viele Entscheidungen für Kinder von deren Eltern gefällt werden, sollen jene „doch entsprechend ihrem Alter und ihrer Reife beteiligt und ihre Interessen bei allen staatlichen Entscheidungen maßgeblich berücksichtigt werden“.
10 Im Internet abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/ kinder-und-jugend/kinderrechte/kinderrechte-ins-grundgesetz/115436.
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II. Internationale Impulse 1. Inhalte Rechtspolitik gedeiht nicht im luftleeren Raum. Und so weist die Diskussion um ein mögliches neues Kindergrundrecht nicht nur eine bereits mehrere Jahrzehnte alte deutsche Geschichte auf, sondern sie empfängt auch prägende Impulse aus dem internationalen Raum. Das völkervertragliche „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“, die sog. Kinderrechtskonvention (KRK), ist in Deutsch land seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts in der Form eines einfachen Gesetzes in Kraft11. Seine zentrale mate rielle Regelung ist die allgemeine und alle Lebenslagen wie Rechtsgebiete erfassende Verpflichtung zur vorrangigen Gewährleistung des Kindeswohls (Art. 3 Abs. 1 KRK). Die Bundesrepublik hat sich damit völkerrechtlich verpflichtet, das Kindeswohl in ihrer Rechtsordnung als Auslegungsleitlinie und vorrangigen (aber nicht unüberwindbaren12) Abwägungsbelang durchzusetzen13. Diese Vorgabe ist so umzusetzen, dass sie nicht nur staatliche, sondern auch nichtstaatliche Akteure der freien Wohlfahrtspflege14 bei ihren Maßnahmen und Entscheidungen verpflichtet, wenn diese z. B. in dem Bereich der Kinder- und
11 Siehe i. E. Rainer Hofmann/Philipp Donath, Gutachten bezüglich der ausdrücklichen Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz nach Maßgabe der Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention (2017), S. 1 f., im Internet abrufbar unter: https://kinderrechte-insgrundgesetz.de/wp-content/uploads/2018/02/DKHW_Gutachten_ KRiGG_Hofmann_Donath.pdf. 12 Wapler, Kinderrechte (Fn. 1), S. 246 ff. 13 Wapler, ebd., S. 245 f. 14 Friederike Wapler, Gutachten zur Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland (2017), S. 10, im Internet abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/120474/a14378149aa3a881242 c5b1a6a2aa941/2017-gutachten-umsetzung-kinderrechtskonvention-da ta.pdf.
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Jugendhilfe oder in dem des Familien-, Schul- oder Baurechts getroffen werden15. Neben jenem Leitmotiv der KRK enthält diese noch eine ganze Reihe weiterer kinderrechtlicher Bausteine wie z. B. den Grundsatz der Nicht-Diskriminierung (Art. 2 KRK), der allerdings insoweit akzessorisch ist als er sich stets nur auf Gleichbehandlung mit Blick auf ein sonstiges Konventionsrecht bezieht, das vorrangig einschlägig sein muss16. Des Weiteren gewährleistet die Konvention Kindern ein Recht auf Leben und physische, mentale, spirituelle, moralische, psychische und soziale Entwicklung (Art. 6 KRK)17. Neben diesen und vielen weiteren materiellen und die gesamte Rechtsordnung durchziehenden Vorgaben für Normsetzung und -anwendung treten mit Art. 12 KRK subjektive Kinderrechte auf Beteiligung, Berücksichtigung und Gehör. Allerdings enthält die KRK dabei auch eine ganze Reihe von Vorschriften (wie etwa das Verbot der Einziehung von Kindersoldaten; Art. 38 Abs. 3 KRK), die sich wohl nicht in erster Linie an Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland richten dürften. 2. Umsetzung Nach Art. 4 KRK treffen die Vertragsstaaten „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte“. Mit Blick auf die in der Konvention gewährleisteten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte steht diese Verpflichtung allerdings unter einem Leistungsfähigkeitsvorbehalt, der eine etwa bereits aus dem internationalen Klimaschutzrecht18 15 Wapler,
Gutachten (Fn. 14), S. 18 ff. Gutachten (Fn. 11), S. 18. 17 Hofmann/Donath, ebd., S. 19. 18 Vgl. dazu das Gesetz zu dem Protokoll von Kyoto vom 11. Dezember 1997 zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen, BGBl. II, 2002, S. 966, welches als Zusatzprotokoll verbindliche Zielwerte nur für Industrieländer festlegt; s. a. Art. 10 des Kyoto Protokolls. 16 Hofmann/Donath,
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bekannte asymmetrische Verpflichtung von Industrie- und Entwicklungsländern verdeutlicht. Seit ihrer Umsetzung in staatliches Recht wirken die Normen der Konvention grundsätzlich im Range eines einfachen Bundesgesetzes (Art. 59 Abs. 2 GG). Die Konvention selbst entfaltet aber auch gegenüber anderen und grundsätzlich gleichrangigen Gesetzen durch die Anforderungen der völkerrechtskonformen Auslegung eine prägende Wirkung. Anliegen dieser Auslegungsmethode ist es, dasjenige Auslegungsergebnis zu wählen, welches den Anforderungen des Völkerrechts am ehesten gerecht wird und die Erfüllung der völkervertraglichen Pflichten der Bundesrepublik am ehesten gewährleistet19, um eine Verletzung der (objektiven) völkerrechtlichen Pflichten der Bundesrepublik möglichst zu vermeiden20. Auch mit Blick auf die KRK hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt, dass die Konvention als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes herangezogen werden21 kann. Hierbei soll der Gesetzesanwender die Aussagen von Grundgesetz und Konvention nicht schematisch gleichsetzen; deren Wertungen sollen vielmehr aufgenommen werden, „soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar ist“22. Ungeachtet dessen wird behauptet, dass einfachgesetzliche Regelungen oder gar nur deren völkerrechtsfreundliche Interpretation zur Umsetzung der KRK nicht ausreichen und das Fehlen eines Kindergrundrechts mit Blick auf die Konvention letztlich zu einem Umsetzungsdefizit im einfachen Recht führt23. Kinderrechte und die Anforderungen an die Verwirklichung des Kindeswohls seien ohne eine verfassungsrechtliche Lösung nicht 19 Dieter Rojahn, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 24 Rdnr. 3. 20 Vgl. BVerfGE 58, 1 (34). 21 BVerfGE 111, 307 (317); 128, 326 (355). 22 BVerfGE 111, 307 (317); 128, 326 (367). 23 So wohl Hofmann/Donath, Gutachten (Fn. 11), S. 11 ff.
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sichtbar, sondern sie diffundierten bestenfalls über gleich mehrere Interpretationsebenen von der KRK über die Grundrechte in das einfache Gesetz und seine Anwendung im konkreten Einzelfall hinein24. Doch steht die tatsächliche Geltung der transformierten Normen und die sich aus ihrer Existenz ergebenden Auslegungspflichten bei der Anwendung einfachen Rechts nicht in Zweifel25. Unabhängig von dem möglichen Inhalt eines in das Grundgesetz einzufügenden Kindergrundrechts besteht damit kein irgendwie gearteter völkerrechtlicher Zwang zu dessen Einführung26. Ob es hingegen sinnvoll ist, die bestehenden völkerrechtlichen Pflichten durch eine Verfassungsänderung zu verdeutlichen, wird noch zu erörtern sein. III. Mögliche Regelungsdimensionen und -adressaten 1. Weichenstellungen Der durch die KRK inspirierte Drang zu einer Verfassungsreform verbindet sich in der Bundesrepublik Deutschland mit der eingangs beschriebenen, inzwischen mehrere Jahrzehnte andauernden autochthonen rechtspolitischen Diskussion um ein Kindergrundrecht. Und da auch rechtspolitische Projekte oftmals Pfadabhängigkeiten aufweisen, darf der Betrachter sicher davon ausgehen, dass in dem nun in der Entstehung befindlichen Kindergrundrecht Elemente aufgegriffen werden, die bereits in früheren Vorschlägen von Fraktionen, Landesregierungen, Parteien oder Verbänden enthalten waren oder die sich in ähnlicher Form in den Verfassungen der Länder finden, die vielfältige ausdrückliche Bezugnahmen auf Kinder, deren Schutz und Entwicklung in einer Vielzahl kinderspezifischer Gewährleistungen enthalten27. 24 Hofmann/Donath,
ebd., S. 9 ff., 13. ebd., 13; s. a. Wapler, Gutachten (Fn. 14), S. 4. 26 Kirchhof, Die Kinderrechte des Grundgesetzes (Fn. 1), S. 2691. 27 Vgl. z. B. Art. 125, 126 BayVerf; Art. 4a NdsVerf; Art. 2a BWVerf. 25 Hofmann/Donath,
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Grundlage und Gegenstand der folgenden Überlegungen sind daher weniger konkrete Vorschläge aus älterer oder jüngerer Zeit in ihrer Gesamtheit, sondern vielmehr einzelne Strukturelemente, die bislang immer wieder in leicht abgeänderter Form wiedergekehrt sind. Bei deren Betrachtung wird die Vielschichtigkeit des Begriffs „Kindergrundrecht“ deutlich, hinter dem sich eine ganze Reihe verschiedener rechtspolitischer Anliegen verbergen. Es geht in der Diskussion selten um ein einziges Kindergrundrecht, sondern vielmehr um eine ganze Reihe unterschiedlicher Rechte und Ansprüche, die in einer Norm gebündelt werden sollen. Daher bedarf es in einem ersten Schritt der Strukturierung möglicher Änderungsansätze. Hier sind mögliche Schutz intensitäten, Schutzdimensionen und Schutzverpflichtete zu differenzieren. 2. Schutzintensität: Staatszielbestimmung oder Grundrecht An erster Stelle steht die Frage nach der gewünschten Schutzintensität. Die Antwort hierauf beeinflusst die Wahl des geeigneten Schutzinstruments. Abhängig von der jeweiligen Einschätzung des aktuell bestehenden Grundrechtsschutzes für Kinder und auch abhängig von der jeweiligen rechtspolitischen Zielsetzung kommt entweder die Formulierung einer Staatszielbestimmung „Kinderschutz“ oder die Etablierung eines echten Grundrechts in Betracht. So wäre in dem ersten Fall etwa an eine Bestimmung zu denken, aufgrund derer der Staat im Allgemeinen oder der Gesetzgeber im Besonderen verpflichtet werden, für kindgerechte Lebensbedingungen zu sorgen28. Eine solche auf Kinder, deren Entwicklung und Förderung bezogene Staatszielbestimmung enthält z. B. die Sächsische Verfassung (Art. 9 SächsVerf)29. Hingegen gibt es in der Verfassung des Bundes nur wenige Staatszielbestimmungen. Diese begründen keine subjektiven Rechte, sondern legen objektiv-rechtliche Verpflichtungen für 28 BT-Drucks. 17/10118, S. 1; BT-Drucks. 17/11650, S. 5; BT-Drucks. 17/13223, S. 4. 29 Matthias Herdegen, Die Aufnahme besonderer Rechte des Kindes in die Verfassung, FamRZ 1993, S. 374 ff. (378).
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Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung fest30. Bei der Entscheidung über die Art und Weise ihrer Umsetzung kommt den zuständigen Staatsorganen aber eine erhebliche Einschätzungsprärogative zu. Verletzt ist eine Staatszielbestimmung erst, wenn der Staat gänzlich untätig bleibt oder die Umsetzung das zu erreichende Ziel offensichtlich und zweifellos nicht zu erreichen vermag31. Eine an Art. 20a GG angelehnte Staatszielbestimmung „Kinderschutz“ würde sich nicht unmittelbar auf die Lebenswirklichkeit des Kindes auswirken32. Und nur Grundrechte verleihen einem Kind subjektiv-öffentliche Rechtspositionen in positiver wie in negativer Hinsicht. Tritt eine auf bestimmte Lebensbedingungen von Kindern bezogene Staatszielbestimmung neben deren unzweifelhaft gegebene grundrechtliche Abwehr- und Schutzansprüche, wirft dies die Frage nach der möglichen Abschwächung und Relativierung des grundrechtlichen Schutzes zugunsten einer Delegation von Gestaltungsmöglichkeiten an den Gesetzgeber auf. Im Ergebnis könnten Staatszielbestimmungen den bestehenden Grundrechtsschutz eher schwächen als stärken33. 3. Schutzdimensionen: Freiheit, Schutz, Leistung a) Freiheitsrechte Nur Grundrechte vermitteln Abwehrrechte gegen staatliches Handeln. Hier liegt ihre historische, auch heute noch bedeutsame Kernaufgabe. Konkrete rechtspolitische Vorschläge gehen dahin, Kindern besondere Schutzrechte gegen körperliche Übergriffe, gegen Zwangsarbeit oder andere, allerdings in Deutsch30 Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Präambel Rdnr. 35. 31 Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 74. 32 Kirchhof, Die Kinderrechte des Grundgesetzes (Fn. 1), S. 2693. 33 Kirchhof, ebd., S. 2693.
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land wohl nicht häufig anzutreffende Einschränkungen ihrer Freiheit zu gewährleisten. Insbesondere die KRK enthält einen Bestand an Freiheitsrechten, der neben praktisch dem gesamten Grundrechtskatalog des Grundgesetzes eine Vielzahl weiterer Rechte umfasst. Dennoch bieten die gehandelten Vorschläge insoweit außerhalb des Verbots gewaltsamer Erziehung34 (das sich gegen den Staat und/oder die Eltern richten könnte) selten Konkretes. Vielfach handelt es sich um sehr abstrakte, appelative Formulierungen, die etwa dazu anhalten, die Würde des Kindes zu respektieren und dementsprechend von Maßnahmen abzusehen, die diese Würde verletzen35. Auch Vorschläge die − ähnlich wie einige Landesverfassungen36 − nur ganz allgemein den Schutz von Wohl und Rechten der Kinder oder die Achtung vor diesen gewährleisten wollen37, sind auf keine spezifische Gefahrensituation zugeschnitten und erheben daher nicht einmal den Anspruch auf die Gewährleistung zusätzlichen Schutzes. Wenn Kindern ausdrücklich ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit zugebilligt werden soll, weist diese Aussage insoweit eine abwehrrechtliche Dimension auf als das Recht dann Kinder gegen unverhältnismäßige erzieherische Übergriffe in dieses Rechtsgut schützen soll. In diesen Zusammenhang ist etwa auch die Forderung nach der besonderen Erwähnung des auf die kindliche Würde bezogenen Achtungsanspruchs einzuordnen38. Aber alle eher allgemein gehaltenen, appellativen Vorschriften, die die Achtung von Kinderrechten oder den Respekt vor ihnen einfordern, unterstreichen − mangels einer inhaltlichen Bestim34 BT-Drucks.
17/13223, S. 2. des
35 Formulierungsvorschlag
Aktionsbündnisses Kinderrechte (Fn. 5), S. 2. 36 Vgl. Art. 10 Abs. 1 VerfSchlH; Art. 13 Abs. 1 BlnVerf; Art. 6 Abs. 2 VerfNRW; Art. 11 Abs. 1 LSAVerf. 37 BR-Drcks. 234/17, S. 2. 38 Hierzu Herdegen, Die Aufnahme besonderer Rechte des Kindes in die Verfassung (Fn. 29), S. 380.
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mung der angesprochenen Rechte – bestenfalls den bereits bestehenden Schutz. b) Grundrechtliche Schutzpflichten Freiheitsrechte wandeln sich im status positivus von Abwehrrechten zu Schutzansprüchen gegen den Staat, der dann nach seinem Ermessen den Grundrechtsträger gegen private Übergriffe zu schützen hat. Nur in besonderen Ausnahmefällen verdichtet sich ein solcher Anspruch zu einem Anspruch auf eine konkrete Schutzhandlung. Stets hat der Staat bei der Auswahl seiner Schutzmaßnahme das Untermaßverbot zu beachten39. Die ausdrückliche Formulierung eines solchen Schutzstatus, der die Umkehrung eines Freiheitsrechts bildet und bislang auch weitgehend aus diesen abgeleitet, aber nicht selbstständig im Grundgesetz formuliert wird, wäre etwa ein Anspruch auf „Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung“40. Zu dem Sinn einer solchen Normierung gilt aber das bereits zu den Freiheitsrechten gesagte entsprechend. c) Leistungsrechte Über die aus den Freiheitsrechten abgeleiteten Schutzrechte des status positivus hinaus gehen in einer Verfassung ausdrücklich normierte Leistungsrechte (sog. soziale Grundrechte), die dem Grundgesetz zwar fremd, aber in verschiedenen Landesverfassungen enthalten sind41. Sie fordern in einem unterschiedlichen Grad an Konkretheit das Vorhalten oder zumindest die Gewährleistung bestimmter Angebote wie Wohnraum, Arbeitsplätze oder Gesundheitsversorgung. In diese Richtung weisen an verschiedene Landesverfassungen42 angelehnte Vorschläge, nach denen jedes Kind das Recht 39 BVerfGE
88, 203 (254). 17/10118, S. 1. 41 Dietrich Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. IX, 3. Auflage 2011, § 192 Rdnr. S. 43 ff. 42 Vgl. Art. 6 Abs. 2 S. 1 VerfNRW; Art. 10 Abs. 3 S. 2 VerfSchlH; Art. 19 Abs. 1 S. 1 ThürVerf. 40 BT-Drucks.
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auf Förderung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten zur bestmöglichen Entfaltung seiner Persönlichkeit hat43. Ähnlich gelagert ist eine der „staatlichen Gemeinschaft“ auferlegte Verpflichtung, für kind- und jugendgerechte Lebensbedingungen Sorge zu tragen44. Diese Forderung wird damit begründet, dass Kinder „Betreuungsplätze [benötigen], in denen individuelle Förderung stattfindet und eine Schulbildung, die auf das Potenzial und die Begabungen der Kinder ausgerichtet ist. Wichtig sind auch ein kinderfreundliches Lebensumfeld und eine finanzielle Grundabsicherung“45. Dieser Aspekt eines Kindergrundrechts würde sich auf die Gewährleistung mehr oder weniger konkreter Fördermaßnahmen im vorschulischen, außerschulischen und nicht zuletzt im schulischen Bereich beziehen. Auch Eltern könnten von wiederum mehr oder weniger konkreten Ansprüchen auf Unterstützung ihrer Erziehungstätigkeit begünstigt werden. Ganz unschuldig kommt etwa eine Formulierung daher, nach der der Staat die Eltern bei ihrem Erziehungsauftrag unterstützt46. Indes ist der Weg von staatlicher Unterstützung zu staatlicher Bevormundung bei der Erziehung der Kinder nicht weit. Hier wäre eine deutliche Akzentverschiebung in dem bislang in der Verfassung angelegten Dreiecksverhältnis von Eltern, Kindern und dem Staat angelegt. Insgesamt läge aber in der Einführung solcher Leistungsrechte das größte tatsächliche Veränderungspotenzial im Grundgesetz, da diesem derartige Ansprüche ansonsten fremd sind.
43 Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses Kinderrechte (Fn. 5), S. 2. 44 BT-Drucks. 17/10118, S. 1. 45 Renate Künast, Kinderrechte in die Verfassung! Wie sonst?, FPR 2008, S. 478 ff. (478). 46 Vgl. z. B. Art. 27 Abs. 3 BbgVerf; Art. 4a Abs. 2 NdsVerf; Art. 11 Abs. 3 BWVerf; Art. 126 Abs. 1 BayVerf.
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d) Gleichbehandlungsrechte Neben die genannten Grundrechtstypen treten noch solche Rechte, die einen allgemeinen oder spezifischen Anspruch auf Gleichbehandlung vermitteln. Die Verfassungen von Bund und Ländern enthalten nicht nur einen allgemeinen Gleichheitssatz im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG, sondern auch spezielle Gleichheitsrechte, die auf besondere Situationen, Gefährdungslagen oder rechtspolitische Anliegen zugeschnitten sind. Hier wäre in dem vorliegenden Zusammenhang z. B. an eine Erweiterung der besonderen gleichheitsrelevanten Tatbestände des Art. 3 Abs. 3 GG um das Alter zu denken. e) Funktionenübergreifende und prozedurale Gewährleistungen Es gibt auch vorgeschlagene Elemente eines Kindergrundrechts, die alle grundrechtlichen Funktionen – Schutz, Leistung, Gleichheit – gleichermaßen erfassen. Soweit etwa besondere Anhörungs- und Mitwirkungsrechte bei (staatlichen) Entscheidungen formuliert werden47, entfaltet das Grundrecht dann eine alle Schutzbereiche und Funktionen übergreifende prozedurale Dimension. In materieller Hinsicht würden von der allgemeinen Anordnung einer – maßgeblichen oder vorrangigen − Pflicht der Berücksichtigung des Kindeswohls ebenfalls alle grundrechtlichen Wirkungsdimensionen erfasst, da der Staat (und ggfs. auch der Private) bei jeder zu einer eingreifenden oder zu einer gewährenden Entscheidung führenden Abwägung das Kindeswohl mit dem entsprechenden Gewicht in seine Überlegung mit einzustellen hätte. Den meisten Vorschlägen ist dabei gemeinsam, dass sie der kindlichen und jugendlichen Selbstbestimmung bei der Formulierung des Kindeswohls und der Beteiligung an fremden, sie betreffenden Entscheidungen eine dynamische Komponente in47 BR-Drcks.
234/17, S. 5.
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soweit beimessen, als der Wille entsprechend dem Alter und seinem Reifegrad zunehmend wichtiger wird48. 4. Adressaten: Staat und/oder Eltern Neben die Vielschichtigkeit grundrechtlicher Schutzinhalte tritt als weitere Stellschraube bei der Formulierung des Kindergrundrechts die Auswahl des jeweils Grundrechtsverpflichteten. Eine ganz zentrale Frage der rechtspolitischen Diskussion über die Einfügung eines Kindergrundrechts ist dessen mögliche Zielrichtung: Wer soll durch welches neu einzuführende Recht verpflichtet werden? In einem ersten Zugriff würde man ohne Weiteres annehmen, dass neue Grundrechte – genau wie das Gros der bislang normierten – kinderbezogene Abwehrrechte gegen, bestenfalls noch bestimmte Ansprüche auf Förderung durch den Staat normieren. Prima facie richten sich die Grundrechte in jeder der genannten Dimensionen gegen den Staat in allen seinen Erscheinungsformen: Er muss unterlassen, er muss schützen, er muss gleichbehandeln, er muss gegebenenfalls auch leisten. Der Staat als Adressat der Grundrechte ist – unabhängig von dem jeweils diskutablen Inhalt des Grundrechts – der unproblematische Regelfall. Während somit alle staatliche Gewalt – und grundsätzlich nur diese – grundrechtsverpflichtet ist, sind Private – mithin neben den Kindern auch deren Eltern – grundrechtsberechtigt. In der bisweilen vorgeschlagenen Ausweitung der Grundrechtsverpflichtung durch Formulierung von solchen Kindergrundrechten, die deren Eltern in die Pflicht nehmen, liegt eine wichtige Quelle des rechtspolitischen Unbehagens, das Gegner einer großzügigen Formulierung weitergehender Rechte verspüren. Gerade in dieser zunächst harmlos daherkommenden Frage steckt grundrechtsdogmatischer, grundrechtsystematischer und letztlich auch rechtspolitischer Sprengstoff erster Güte. Nicht selten wird die Forderung nach der Einführung eines Kindergrundrechts mit einem gegenüber dem Jahr 1949 gewandelten 48 BT-Drucks.
17/11650, S. 3.
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Verständnis von Familie, von der Balance elterlicher und staatlicher Verantwortung und der Stellung des Kindes in Staat, Gesellschaft und Familie begründet. Es geht ausdrücklich um die „Emanzipation“ des Kindes gegenüber seinen Eltern49. So soll mit der Aufnahme von „eigenständigen Kinderrechten in den Art. 6 GG … der notwendige Perspektivwechsel hin zum Kind vorangebracht werden. Die Veränderungen im familiären Zusammenleben haben neue Aufgaben und Herausforderungen an das staatliche Gemeinwesen mit sich gebracht. Ziel der Grundgesetzänderung ist die Klarstellung, dass Kinder heute die Förderung nicht nur ihrer Eltern, sondern auch die des Staates brauchen, und dass Eltern und Staat dabei in der Regel gemeinsame Interessen haben“50. Eine durch Recht geschaffene Distanz des Kindes zu Eltern und Familie soll mit einer erhöhten Verantwortung des Staates einhergehen. Diese Distanz soll durch die Einfügung grundrechtlicher Positionen des Kindes gegenüber seinen Eltern – etwa im Sinne eines Anspruchs auf gute Erziehung51 – erreicht werden. Allerdings existiert eine unmittelbare Drittwirkung von Grundrechten gegenüber Privaten im Grundgesetz bislang praktisch nicht52. Sie ist ihm auch wesensfremd. Grundrechte wirken allenfalls im Wege der mittelbaren Drittwirkung auf private Rechtsverhältnisse ein53. Soweit der Einführung eines Kindergrundrechts der rechtspolitische Wille zugrunde liegt, das Kind im Verhältnis zu seinen 49 Reinhard Wiesner, Kinderrechte. Zur rechtlichen und politischen Bedeutung eines Begriffes, ZfJ 1998, S. 173 ff. (175) unter Hinweis auf Kurt Lüscher, Politik für Kinder. Politik mit Kindern, RdJB 1996, S. 407 ff. (407). 50 Künast, Kinderrechte in die Verfassung (Fn. 45), S. 478. 51 Künast, Kinderrechte in die Verfassung (Fn. 45), S. 481: „gewaltfreie Erziehung“. 52 Christine Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand der 83. Erg.-Lfg., Art. 3 Rdnr. 79. 53 BVerfGE 7, 198 (205 ff.); Heinrich Lang, Funktionen der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 266 Rdnr. 13.
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Eltern zu emanzipieren, greift dies mit einer Gewichtsverschiebung in das in grundrechtlicher Perspektive neutrale horizontale Rechtsverhältnis von Eltern und Kind ein und lädt dieses Verhältnis grundrechtlich auf. Die Eltern würden auch zu Adressaten der grundrechtlichen Ansprüche ihrer Kinder und damit zu Grundrechtsverpflichteten. Ob eines der zur Diskussion stehenden Vorhaben eine Stoßrichtung eher in Richtung des Staates oder in Richtung Familie und Eltern aufweist, wird bereits durch die textliche Lokalisierung der neuen Vorschrift deutlich. Unabhängig von allen inhaltlichen Nuancierungen und Unterschieden der verschiedenen Vorschläge würde ein wie auch immer gearteter neuer Grundrechtsartikel (etwa als Art. 2a GG) bei einer Nähe zu der Gewährleistung der Menschenwürde in Art. 1 GG die Eigenständigkeit des Kindes als Grundrechtsträger pointiert deutlich machen und damit den Emanzipationsgedanken unterstreichen. Demgegenüber würde eine Erweiterung des Art. 6 GG aus dem gleichen Grund eher die trotz seiner eigenen Grundrechtsträgerschaft bestehende Einbindung des Kindes in seine Familie unterstreichen. IV. Bestandsaufnahme: Grundrechtsschutz von Kindern Die Vielzahl an dargelegten und auch tatsächlich diskutierten Vorschlägen für ein neu in das Grundgesetz aufzunehmendes Kindergrundrecht erweckt unweigerlich den Eindruck, dass es um den Grundrechtsschutz von Kindern nicht gut bestellt sein kann. Wenn man deren Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, den Anspruch auf eine gesunde geistige Entwicklung und ähnliches erst noch in die Verfassung einfügen muss, legt dies doch die Annahme nahe, dass hier eine schmerzhafte Regelungslücke zu beklagen ist. Aber schon aufgrund der völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik aus der KRK und aufgrund der aus ihr resultierenden Verpflichtung zu einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung ranggleichen einfachen Gesetzesrechts in Deutschland gibt es keinen wirklich zwingenden Reformbedarf. Zudem treffen fast alle dargelegten Vorschläge auf eine gesicherte Dogmatik, in
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der der Grundrechtsschutz von Kindern nicht nur im Allgemeinen, sondern auch kinderspezifisch innerhalb der bestehenden Verfassungsordnung ausgestaltet ist. 1. Grundrechte im Allgemeinen a) Grundrechtsberechtigung Alle Grundrechte des Grundgesetzes sind auch Kindergrundrechte. Die Verfassung kennt keine durch das Alter bedingte Beschränkung des negativen und positiven Grundrechtsschutzes54. An erster Stelle genießt das Kind das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Leben55 – und dies als nasciturus sogar bereits zu einem so frühen Zeitpunkt, der aufgrund seiner Konsequenzen für die Frage nach der Strafbarkeit von Abtreibungen nicht überall auf ungeteilte Zustimmung trifft56. Aber auch die Schutzwirkung aller anderen Grundrechte ist nicht von dem Lebensalter der betroffenen Person abhängig. Dies betrifft neben der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG beispielsweise den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG oder das Recht auf die Freiheit der Person. Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG eröffnen jedem Kind das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie die Gewährleistung seiner Berufs- und Ausbildungsfreiheit57. Auch das in Art. 4 Abs. 1 GG 54 Wolfgang Rüfner, Grundrechtsträger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. IX, 3. Auflage 2011, § 196, Rdnr. 12; Peter M. Huber, Natürliche Personen als Grundrechtsträger, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR II, § 49 Rdnr. 14. 55 BVerfGE 39, 1 (36 f.). 56 Norbert Hoerster, Stufungen des vorgeburtlichen Lebensschutzes, ZRP 2003, S. 218; Horst Dreier, Stufungen des vorgeburtlichen Lebensschutzes, ZRP 2002, S. 377 ff. (381); s. a. wohl die abw. Meinung in BVerfGE 39, 1 (79 f.). 57 Gregor Kirchhof, Kinderrechte in der Verfassung, ZRP 2007, S. 149 ff. (150 f.).
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garantierte Recht auf die Freiheit innerer religiöser Überzeugungsbildung, deren Ausübung und Verbreitung erfasst in seinem Schutzbereich alle natürlichen Personen – und damit selbstredend auch die Kinder. Ein Anspruch des Kindes auf Gewaltfreiheit ergibt sich gegenüber dem Staat bereits aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Da die insoweit nicht grundrechtlich gebundenen Eltern die Auswahl ihrer Erziehungsmethoden am Kindeswohl auszurichten und eine gesunde körperliche und geistige Entwicklung zu gewährleisten haben, verbietet es sich auch, körperliche Züchtigung als von Art. 6 Abs. 2 GG gedeckte Erziehungsmaßnahme anzuerkennen58. b) Grundrechtsmündigkeit und Grundrechtsreife Es liegt auf der Hand, dass sich eine Annahme umfassender Grundrechtsberechtigung nicht immer konkret auf die Handlungsoptionen eines Kindes auswirkt. Während der Einjährige bereits ein ausgeprägtes Verständnis für die Differenzierung von Mein und Dein verinnerlicht hat und dieses auch bei Übergriffen auf sein Eigentum (oder zumindest seinen Besitz) lautstark und tatkräftig zum Ausdruck bringt, führt ein solches kindliches Abwehrverhalten wohl selten zu von dem Kind selbst in die Wege geleiteten juristischen Konsequenzen. Auch wird das Kleinkind noch keinen Beruf ergreifen und keine Entscheidung über seine Religionszugehörigkeit treffen können oder wollen. Es ist zwischen der Grundrechtsmündigkeit und der Grundrechtsreife zu unterscheiden59. Mit Grundrechtsmündigkeit wird in Anlehnung an das Mündigkeitsverständnis des bürgerlichen Rechts60 die Fähigkeit von Grundrechtssubjekten umschrieben, ihre Grundrechte selbst58 Ähnlich Herdegen, Die Aufnahme besonderer Rechte des Kindes in die Verfassung (Fn. 29), S. 381. 59 Hierzu und dem folgenden: Wapler, Kinderrechte (Fn. 1), S. 91 ff. 60 So schon zuvor Matthias Jestaedt, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar, Stand der 75. Erg.-Lfg., Art. 6 Abs. 2 und 3 Rdnr. 133.
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ständig und damit gegebenenfalls auch gegen den Willen des gesetzlichen Vertreters ausüben zu können. Das Bundesverfassungsgericht betonte schon früh, dass die „Fähigkeit zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde von der Ausgestaltung der einzelnen Grundrechte mitbeeinflusst“ wird61. Auch in der Literatur wird die Frage der Grundrechtsmündigkeit im Wesentlichen auf das Verfassungsprozessrecht beschränkt.62 Die Grundrechtsreife beschreibt das faktische Können des Kindes. Es gibt Grundrechte, deren Wirkung reifeunabhängig ist (z. B. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. 1 GG). Andere Grundrechte setzen die tatsächliche Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Handeln voraus. Während sich eine Person auf die reifeunabhängigen Grundrechte stets berufen kann und können muss, ist für denjenigen, der aus physischen, psychischen oder intellektuellen Gründen nicht in der Lage ist, selbstbestimmte Handlungen vorzunehmen, wie z. B. eine Meinung zu bilden, sich mit anderen zu versammeln oder zu vereinigen oder einen Glauben bzw. eine Weltanschauung zu haben, der Grundrechtsschutz ohne praktische Bedeutung63. Allerdings würde sich an der rein tatsächlich fehlenden Fähigkeit eines Kindes, seine Grundrechte sinnvoll wahrzunehmen, auch durch die Einfügung eines Kindergrundrechts in die Verfassung wenig ändern, da dessen Normierung keinerlei Einfluss auf die tatsächliche Reife und Einsichtsfähigkeit des Kindes und damit die tatsächliche Schutzwirkung des autonom wahrgenommenen Rechts hätte. 2. Kinderspezifische Schutzgehalte a) Grundrechtssubjektivität und Persönlichkeitsrecht Neben der dargelegten Anwendung aller Grundrechte auch auf Kinder und Jugendliche hat das Bundesverfassungsgericht 61 BVerfGE
1, 87 (89). Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Vorb. Rdnr. 114; Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte, 33. Aufl. 2017, Rdnr. 192. 63 Jestaedt, Art. 6 Abs. 2 und 3 (Fn. 60), S. 133. 62 Horst
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dem Grundrechtskatalog kinderspezifische Schutzgehalte entnommen. So stellte das Gericht bereits im Jahre 1968 fest, dass das Kind „ein Wesen mit eigener Menschenwürde und einem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne der Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz (GG) ist“64. Im Jahr 2008 betonte das Gericht, erneut die Grundrechtssubjektivität des Kindes, das „… eigene Würde und eigene Rechte [hat]. Als Grundrechtsträger hat es Anspruch auf den Schutz des Staates und die Gewährleistung seiner grundrechtlich verbürgten Rechte.“65 b) Entfaltung der Kinder mit Hilfe der Eltern Doch kann kein Kind ganz allein aufwachsen, sich selbst pflegen oder gar seine Persönlichkeitsentfaltung auf sich allein gestellt vorantreiben. Auch wenn die Abhängigkeit von Dritten mit zunehmendem Alter des Kindes ihrerseits abnimmt, sind Kinder zunächst in nahezu jeder Hinsicht auf fremde Hilfe angewiesen. Die Aufgabe der Pflege und Erziehung von Kindern weist die Verfassung in Art. 6 Abs. 2 GG als „natürliche“ − also von der Natur dem Recht vorgegebene – Aufgabe in erster Linie den Eltern zu66. Nun fallen die Vorstellungen über die Notwendigkeit oder Wünschbarkeit einzelner erzieherischer Schritte zwischen Eltern und Kind bekanntermaßen nicht selten auseinander. Stehen sich aber Kindes- und Elternwille gegenüber, wird dieser Konflikt nicht durch Abwägung zweier Grundrechtspositionen67, sondern vielmehr grundsätzlich zugunsten des Elternrechts aufgelöst68. Entspricht der Elternwille dem Wohl des Kindes, so ist dieser grundrechtlich vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckt69. Wirkt der Staat auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kind ein, können sich die Eltern ihm gegenüber auf das 64 BVerfGE
24, 119 (144). 121, 69 (92). 66 BVerfGE 135, 48 (84 f.). 67 Jestaedt, Art. 6 Abs. 2 und 3 (Fn. 60), S. 141. 68 Jestaedt, ebd., S. 141; Rüfner, Grundrechtsträger (Fn. 54), S. 27. 69 Jestaedt, ebd., S. 141. 65 BVerfGE
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Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG berufen70. Damit gewährt die Norm den Eltern einen Abwehranspruch gegen staatliche Übergriffe in ihre Erziehungsbefugnisse71. c) Die dienende Funktion des elterlichen Erziehungsrechts Diese Konstruktion gibt das Kind in die Hand der Eltern. Die darin zum Ausdruck kommende, natürlich vorgegebene und verfassungsrechtlich sanktionierte Fremdbestimmung bildet indes in einer Rechtsordnung, die auf Würde und Autonomie des Einzelnen gründet, einen Fremdkörper. Das Bundesverfassungsgericht legitimiert sie mit der Hilfsbedürftigkeit des Kindes sowie der strengen, bereits im Wortlaut der Verfassung festgelegten Pflichtbindung des Elternrechts: „Eine Verfassung, die die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertesystems stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen respektieren. Dies gilt auch für die Beziehung zwischen einem Elternteil und seinem Kind. Das Elternrecht dem Kind gegenüber findet seine Rechtfertigung darin, dass das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, damit es sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln kann, wie sie dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht.“72 „Wird jemandem eine Pflicht auferlegt, die sich auf eine andere Person bezieht und die zugleich mit dem Recht verbunden ist, auf diese Person einzuwirken, für sie Entscheidungen zu treffen, ihre Interessen zu vertreten und auf ihre Persönlichkeitsentfaltung maßgeblich und zuvörderst Einfluss zu nehmen, so berührt dies den Kern höchstpersönlicher Lebensentfaltung des Anderen und schränkt dessen freie Willensentscheidung ein. Den Eltern eine solch tiefgreifende Einflussnahme auf das Leben ihres Kindes einzuräumen, rechtfertigt sich allein aus dem Umstand, dass das Kind noch nicht selbst für sich Ver70 Jestaedt, ebd., S. 134; Christian v. Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 6 Rdnr. 68. 71 Martin Burgi, Elterliches Erziehungsrecht, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR IV, § 109 Rdnr. 21; BVerfGE 61, 358 (371 f.). 72 BVerfGE 121, 69 (92 f.).
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antwortung tragen kann und zu Schaden käme, wenn es hierbei keine Hilfe erführe.“73
Hier wird die „besondere Struktur des Elternrechts“74 deutlich. Danach ist das Elternrecht „wesentlich ein Recht im Interesse des Kindes“75, welchem „schon per definitionem das Kindesinteresse“76 eingefügt ist. Das Erziehungsrecht dient damit nicht der elterlichen Selbstverwirklichung, sondern ist vielmehr streng altruistisch geprägt. Es ist ein dienendes77 Recht. d) Kindeswohl als Richtschnur des elterlichen Erziehungsrechts Der Primat der Erziehung liegt bei den Eltern, die damit in erster Linie über Erziehungsinhalt und -methoden zu entscheiden haben. Die zunächst substanzlos erscheinende Pflichtenbindung des elterlichen Erziehungsrechts ist aber auch inhaltlich durch eine Zielvorgabe konturiert. Erziehungsziel ist es, das Kind zu einer „eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft“78 werden zu lassen79. Zwar wird insoweit der für die KRK zentrale Begriff des vorrangig zu berücksichtigenden Kindeswohls nach wie vor im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht schon lange vor dem Inkrafttreten der KRK erklärt, dass das Wohl des Kindes „die oberste Richtschnur der Ausübung des Elternrechts“80 bildet, womit das Kindeswohl im Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern bereits zum bestimmenden Faktor geworden ist. 73 BVerfGE
121, 69 (93). 59, 360 (382). 75 BVerfGE 59, 360 (382). 76 BVerfGE 59, 360 (382). 77 Fritz Ossenbühl, Schule im Rechtsstaat, DÖV 1977, S. 801 ff. (806); begrifflich anders Martin Burgi, Elterliches Erziehungsrecht (Fn. 71), S. 28. 78 BVerfGE 24, 119 (144). 79 Jestaedt, Art. 6 Abs. 2 und 3 (Fn. 60), S. 140. 80 BVerfGE 59, 360 (376); 60, 79 (88). 74 BVerfGE
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e) Der Staat als Wächter Soweit das Kindeswohl beachtet wird, dürfen die Eltern über Erziehungsziele und -mittel frei entscheiden. Der Staat darf als Wächter nur bei einem Missbrauch des Erziehungsrechts durch Missachtung der Pflichtbindung bei konkreter Gefährdung des Kindeswohls tätig werden81. Damit kommt dem Staat aufgrund seines Wächteramts die Aufgabe zu, die elterlichen Pflichten gegebenenfalls hoheitlich durchzusetzen oder im Extremfall ihre Wahrnehmung zu substituieren. Und auch der Staat hat bei der Ausübung seines Wächteramts das Wohl des Kindes als Richtpunkt zu beachten82. Diese Vorgabe ist nicht nur aufgrund der verfassungs- und völkerrechtskonformen Interpretation des einfachen Rechts relevant, sondern findet sich auch zunehmend in neueren Gesetzen wie etwa in der Regelung des § 1697a BGB aus dem Jahr 199883, der die „Vorrangigkeit“ der Kindeswohlbelange bei familiengerichtlichen Entscheidungen explizit festlegt84. f) Die Position des Kindes in Art. 6 Abs. 2 GG Betrachtet man Art. 6 Abs. 2 GG unvoreingenommen, erscheinen Kinder allein als Objekte elterlicher Erziehung. Subjektive Rechte des Kindes im Verhältnis zu den Eltern mit zumindest verfassungsrechtlichem Ursprung würden dann allein durch den schützenden und das elterliche Erziehungsrecht ausgestaltenden Staat auf der Grundlage des status positivus und des Wächteramts vermittelt85. Dementsprechend hat der einfache 81 Guy Beaucamp, Die Kindergartenpflicht aus grundrechtlicher Perspektive, LKV 2014, S. 344 ff. (345). 82 BVerfGE 24, 119 (144); 99, 145 (156). 83 Eingefügt durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Dezember 1997 (BGBl. I 1997, S. 2942), (Kindschaftsrechtsreformgesetz – KindRG). 84 Wapler, Kinderrechte (Fn. 1), S. 20. 85 BVerfGE 24, 119 (144); Frauke Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rdnr. 153.
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Gesetzgeber eine Vielzahl einfachgesetzlicher Normen erlassen. Als nur ein Beispiel sei insoweit § 1684 Abs. 1 BGB genannt, der dem Kind ein Recht gegenüber den Eltern auf Umgang mit ihnen einräumt. Aus diesem ersten Eindruck von Art. 6 GG nährt sich aber die abfällige Beurteilung der Vorschrift: sie weise eine paternalistische Struktur auf86. Doch verliert dieser Vorwurf bereits im Lichte der unstreitig in der Norm angelegten Pflichtbindung und der damit ihr innewohnenden altruistischen Komponente des elterlichen Erziehungsrechts an Schärfe. Zudem stellt sich angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Frage, ob das unstreitig87 anerkannte Recht des Kindes auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG diesem auch eine grundrechtliche Anspruchsoder Abwehrposition gegen seine Eltern gewähren soll88. Kinder wären dann gegenüber ihren Eltern grundrechtlich und nicht mehr nur reflexartig, mittelbar durch die Reservefunktion und ggfs. die Realisierung des staatlichen Wächteramts geschützt, sondern wären auch selbst gegenüber ihren insofern dann grundrechtsverpflichteten Eltern grundrechtsberechtigt. Die Diskussion hat durch eine inzwischen zehn Jahre alte Formulierung des Bundesverfassungsgerichts Nahrung erhalten: „Dabei bezieht sich diese Pflicht nicht lediglich auf das Kind, sie besteht auch gegenüber dem Kind. Denn das Kind ist nicht Gegenstand elterlicher Rechtsausübung, es ist Rechtssubjekt und Grundrechtsträger, dem die Eltern schulden, ihr Handeln an seinem Wohl auszurichten. Mit dieser den Eltern durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG auferlegten Pflicht gegenüber dem Kind, es zu pflegen und zu erziehen, korrespondiert das Recht des Kindes auf Pflege und Erziehung durch seine Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. …“89 86 Wapler,
Kinderrechte (Fn. 1), S. 170. Art. 6 (Fn. 85), S. 152. 88 So Jestaedt, Art. 6 Abs. 2 und 3 (Fn. 60), S. 175; Brosius-Gersdorf, Art. 6 (Fn. 85), S. 152; Gerhard Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 6 Abs. 2 Rdnr. 182. 89 BVerfGE 121, 69 (93). 87 Brosius-Gersdorf,
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Indes erscheint fraglich, ob mit dieser Formulierung ausdrücklich ein gegen die Eltern wirkendes Grundrecht des Kindes anerkannt wird. Mit der weiteren Aussage, das Kind habe „ein Recht darauf, dass seine Eltern der mit ihrem Elternrecht untrennbar verbundenen Pflicht auch nachkommen“90 könnte auch ein gegenüber dem Staat bestehendes Recht des Kindes oder eine staatliche Pflicht gemeint sein, aufgrund dessen bzw. aufgrund derer der Staat sicherzustellen hat, dass die Eltern ihren Pflichten nachkommen. Und so bezieht das Bundesverfassungsgericht in einer späteren Entscheidung das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Recht des Kindes auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung auf den Staat, der diese zu gewährleisten hat. Zugleich schützt das Grundrecht „Kinder … dagegen, durch staatliche Maßnahmen von der spezifisch elterlichen Hinwendung abgeschnitten zu werden.“91 Nur ein solches Verständnis des kindlichen Grundrechts fügt sich bruchlos in die bekannte grundrechtliche Dogmatik ein92. Wenn nunmehr in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG mit einer unmittelbaren Grundrechtsbindung unter Privaten ein systemfremdes Novum in den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes hätte hineingelesen werden sollen, wäre vor allem ein höherer Begründungsaufwand des Gerichts zu erwarten gewesen. Damit kann vorbehaltlich einer klareren Formulierung des Gerichts weiter davon ausgegangen werden, dass mit der Pflicht der Eltern zu Pflege und Erziehung kein grundrechtlicher Anspruch des Kindes auf Pflege und Erziehung gegen sie korrespondiert, sondern dass allein die Ausübung des staatlichen Wächteramts eine Reaktion auf die Nichterfüllung der Elternpflicht erlaubt93. Die Verfassung schützt das Kind gegen die Gefahr einerseits gegen die Eingriffe in sein familiäres Verhältnis zu den Eltern94 90 BVerfGE
121, 69 (93). 135, 48 (84 f.). 92 Siehe ausf. Wapler, Kinderrechte (Fn. 1), S. 169 ff. 93 Jestaedt, Art. 6 Abs. 2 u. 3 (Fn. 60), S. 91. 94 BVerfGE 76, 1 (42). 91 BVerfGE
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und andererseits mittelbar gegen deren Erziehungsverfehlungen oder -unterlassungen. Zum Schutz vor letzteren ist der Staat auf der Grundlage des staatlichen Wächteramts gegenüber dem Kind verpflichtet. Dem Kind daneben ein Grundrecht gegen seine Eltern zuzuerkennen, erscheint überflüssig, wäre ein signifikanter Systembruch und findet keine Entsprechung im textlichen Gehalt des Art. 6 Abs. 2 GG. 3. Unionsrecht Möchte man den tatsächlich bestehenden Grundrechtsschutz für Kinder in dem Geltungsbereich des Grundgesetzes erfassen, darf nicht gering geschätzt werden, dass angesichts der expansiven Rechtsprechung des EuGH95 auch die Ausübung prima facie deutscher Staatsgewalt als „Durchführung des Rechts der Union“ i. S. v. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EU-GrCh gilt, so dass die Charta Grundrechte in diesem Zusammenhang zumindest auch anwendbar sind. Nach Art. 24 der EU-GrCh haben Kinder „Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt. (2) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein“. Diese Formulierungen sind bereits ganz deutlich an die Vorgaben der KRK angelehnt. Sie erheischen in ihrem sachlichen Anwendungsbereich in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbare Wirkung und genießen Vorrang vor allem deutschen Recht. Dies wirkt sich in dem hier interessierenden Zusammenhang vor allem in dem Bereich des unionsrechtlich geprägten Aufenthaltsrechts aus96. 95 EuGH, Urteil vom 26.02.2013 – C-617/10 (Åklagare/Hans Åkerberg Fransson). 96 Wapler, Kinderrechte (Fn. 1), S. 243, 561 ff.
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V. Sollte ein Kindergrundrecht eingeführt werden? 1. Kindergrundrecht als tatsächliche Fortentwicklung oder als Symbolpolitik Vergleicht man die aktuelle verfassungsrechtliche und insbesondere grundrechtliche Situation des Kindes im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit den meisten Vorschlägen, die für die Einführung eines Kindergrundrechts streiten, so ist offensichtlich, dass ein wirklicher Handlungsbedarf nicht besteht. Vor dem Hintergrund der ausdifferenzierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der grundrechtlichen Stellung von Kindern, die nicht nur die Bedeutung des Kindeswohls bei der Beurteilung elterlicher und staatlicher Entscheidungen, sondern auch die Subjektstellung des Kindes (zumindest gegenüber dem Staat) betont, angesichts der zusätzlichen landesverfassungsrechtlichen Komponenten eines Kindergrundrechts sowie angesichts der Grundrechtecharta, die expansiv in die deutsche Rechtsordnung hineinwirkt, stellt sich tatsächlich die Frage nach dem Bedürfnis einer weitergehenden und expliziten grundrechtlichen Ausdifferenzierung des kindlichen Grundrechtsschutzes in der Verfassung. Hier stehen zwei Positionen einander gegenüber. Auf der einen Seite wird anerkannt, dass Kinder und Jugendliche im geltenden Verfassungsrecht adäquat (und völkerrechtskonform) geschützt sind, dass aber einige Defizite auf der Ebene des einfachen Gesetzes zu beklagen sind97. Insbesondere geht es um die Klarstellung völkerrechtlicher Verpflichtungen, um die Symbolkraft und die Sichtbarkeit einer Verfassungsänderung und um die Vermeidung von Unklarheit und Ambivalenz bei völkerrechtskonformer Interpretation von Verfassungs- und Gesetzesrecht. Hier erhofft man sich durch die Änderung des Verfassungstexts ein Bewusstsein für die völkerrechtlichen Verpflichtungen und den ansonsten im Wege der Interpretation dem 97 Hierzu und dem folgenden Wapler, Gutachten (Fn. 14), S. 4 f.; Hofmann/Donath, Gutachten (Fn. 11), S. 21.
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Grundgesetz entnommenen Kinderschutz zu schaffen. Bei dieser Argumentation stehen vor allem Art. 3 KRK, aber auch das kinderspezifische Diskriminierungsverbot oder das Lebensrecht im Mittelpunkt des Interesses. Wollte man das diesen Forderungen zugrunde liegende Motiv auf die Spitze treiben, könnte allerdings gleich jeder wichtige völkerrechtliche Vertrag mit seinem gesamten Wortlaut in die Verfassung aufgenommen werden, um alle Schwierigkeiten völkerrechtskonformer Interpretation einfachen Gesetzesrechts durch verfassungsrechtliche Vorgaben – und die diesen innewohnenden Interpretationsspielräume − zu ersetzen. Dies würde die Verfassung in ein Kompendium völkerrechtlicher Verpflichtungen verwandeln, sie überfordern und ihre Funktion als Rahmenordnung des Gemeinwesens verwässern. Wenn eine Änderung des Grundgesetzes nur der Klarstellung und Hervorhebung ohnehin bestehender rechtlicher Verpflichtungen dienen soll, ist außerdem nicht auszuschließen, dass das Entwicklungspotenzial einer solchen Änderung ab dem Zeitpunkt der Normierung durch seine Anwendung in der Rechtsprechung dynamisch wird und durch den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht mehr kontrollierbar ist. Auf der anderen Seite soll die Einfügung eines Kindergrundrechts aber auch deutlich über die bisherigen Schutzdimensionen hinausgehen. Dies wäre etwa bei der ausdrücklichen Einfügung sozialer Leistungsrechte zugunsten von Kindern der Fall. Wenn das Anliegen der Politik eine Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes ist, kann die Verfassung selbst als Maßstab für eine Beurteilung des Vorhabens naturgemäß nur in dem Rahmen des insoweit allein relevanten, aber hier wohl nicht bedeutsamen Art. 79 Abs. 3 GG herangezogen werden. Allerdings entspricht es rechtspolitischer Klugheit, das Grundgesetz nicht durch eine Verfassungsänderung mit Brüchen oder inneren Widersprüchen zu belasten oder Nebenfolgen auszulösen, die entweder unerwünscht sind oder die vielleicht sogar erwünscht sind, aber bislang nicht offen artikuliert werden.
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2. Systematischer Bruch durch Einführung eines Sondergrundrechts Der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes ist einheitlich für alle Menschen gleich. Tatsächlich unterschiedlicher Schutzbedarf in dem Bereich der Freiheitsrechte realisiert sich im status negativus auf der Ebene der Eingriffsrechtfertigung und im status positivus durch das Untermaßverbot. Daher enthält der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes bislang keine Sonderfreiheitsrechte für bestimmte Personengruppen. Und so ließen sich auch neben Kindern eine ganze Reihe weiterer besonders schutzbedürftiger Individuen als Kandidaten für einen spezifischen Schutz in Betracht ziehen: Alte, Kranke, Behinderte, Arme, alleinerziehende Eltern usw.98 Die Abarbeitung dieser Aufzählung durch den Verfassungsgeber würde den einheitlichen Freiheitsschutz aufgeben. Ein systematischer Bruch läge übrigens nicht nur im Hinblick auf den Kreis der Grundrechtsberechtigten, sondern auch in sachlicher Hinsicht vor. Soweit ein spezifisches prozedurales Beteiligungsrecht für Kinder eingeführt werden soll, würde dies ignorieren, dass sich Verfahrensrechte nach der herkömmlichen Grundrechtsdogmatik aus dem jeweiligen Grundrecht unter dem Gesichtspunkt des Grundrechtsschutzes durch Verfahren ableiten und nicht explizit in der Verfassung für einzelne Personengruppen festgelegt werden. Allerdings verursacht die Einfügung von Kindergrundrechten nicht nur einen Bruch durch Abkehr von einem bislang einheitlichen Grundrechtsschutz, sondern sie kann auch in der Interpretation des alten und neuen Grundrechtsbestands zu Irritationen führen. 3. Auswirkung auf die Interpretation der Grundrechte Soweit durch die Einfügung eines Kindergrundrechts die besondere grundrechtliche Stellung des Kindes auch nunmehr im Text der Verfassung sichtbar gemacht werden soll, ist dem entgegengehalten worden, dass jede besondere Erwähnung von Kin98 Kirchhof,
Kinderrechte in der Verfassung (Fn. 57), S. 151.
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dern zu einem segmentierten Grundrechtsschutz führen kann und wird99. Auch wenn es also zunächst (zumindest politisch) unbestritten ist, dass die Verfassungsänderung eigentlich nichts ändern sollte, werden die Normen mit der Zeit – nicht zuletzt in der Rechtsprechung – ein Eigenleben entwickeln. Diese Dynamik kann sich in zwei Richtungen entfalten. Zum einen kann ein Kindergrundrecht negativen Einfluss (im Sinne einer lex specialis) auf die Anwendung anderer Grundrechte auf Kinder entfalten. Wenn ein spezifisches Recht auf Entfaltung und Erziehung oder ein Anspruch auf körperliche Unversehrtheit formuliert wird, stellt sich die Frage, ob das vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 GG abgeleitete Recht mit seiner inzwischen gesicherten Dogmatik verdrängt wird oder nicht. Noch bedeutsamer könnte aber die Auswirkung auf diejenigen Grundrechte sein, die gerade nicht in einem Kindergrundrecht enthalten sind. Selektiver Schutz einiger kinderspezifischer Inhalte wirft die Frage auf, ob dieser Schutz nicht abschließend ist, und nun andere Grundrechte gerade nicht mehr auf Kinder anwendbar sein sollen100. Diese Frage drängt sich vor allem für diejenigen, die eine Sichtbarmachung oder Umsetzung völkerrechtlicher Verpflichtungen erreichen wollen, angesichts der Breite des menschenrechtlichen Kinderschutzes durch die KRK auf, die auch z. B. eine kinderspezifische Gewissensfreiheit (Art. 14 KRK) oder gar eine Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 15 KRK) enthält. Warum werden diese Rechte dann aber durch keinen der in der Diskussion befindlichen Vorschläge eines Kindergrundrechts aufgegriffen? Sollen insoweit nun doch Art. 4 GG und Art. 8 GG ausreichen? Oder sollen Kinder künftig im Umkehrschluss bei diesen Normen von der Grundrechtsberechtigung ausgeschlossen sein? Dies würde heute niemand vertreten. Doch kann die Formulierung eines Kindergrundrechts zumindest nach einem gewissen Zeitraum als Anlass für eine Weiterentwicklung oder Uminterpretation des bestehenden Grund99 Kirchhof,
ebd., S. 150. Kinderrechte in der Verfassung (Fn. 57), 150.
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rechtsschutzes gesehen werden, da einer bloß symbolischen Veränderung jeder Sinn abzusprechen ist. Wenn kinderspezifische Rechte nur bestehende Rechtspositionen aufgreifen und verdeutlichen sollen, erscheint dies prima facie regelungsneutral. Allerdings verlieren die historische sowie die teleologische Auslegung von Rechtsnormen mit zunehmendem Abstand von der Verfassungsänderung an Bedeutung. Aber auch schon unmittelbar nach der Verfassungsänderung kann zumindest ein diffuser Wille „des“ Gesetzgebers zu unterschiedlichen Interpretationen einer Norm führen, da „Wille des Gesetzgebers“ nur die ohne Widerspruch gebliebenen Absichten und Vorstellungen sind, die in den Beratungen der gesetzgebenden Körperschaft oder ihrer zuständigen Ausschüsse zum Ausdruck gebracht wurden. Aber nicht einmal autoritative Äußerungen der Verfasser des Gesetzestextes oder der Mitglieder beratender Kommissionen stellen eine bindende Richtschnur für den Ausleger dar, weil die Normvorstellungen der Gesetzesverfasser regelmäßig hinter den Anwendungsmöglichkeiten der Norm zurückbleiben, auch wenn sie nicht von vornherein auf einer falschen Einschätzung beruhen101. Eine feste und durchsetzbare Bindung an die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers existiert damit nicht. 4. Leistungsrechte (soziale Grundrechte) Schwieriger zu beurteilen sind Vorhaben, die bestimmte Leistungsrechte zugunsten von Kindern zu etablieren suchen. Gerade bei einer offenen Formulierung kann die Unterscheidung solcher Normen von einer bloßen Staatszielbestimmung durchaus schwierig sein. Soweit aber der Staat von den Betroffenen in die Pflicht genommen werden können soll, bestimmte Rahmenbedin gungen für die Entwicklung der Kinder oder zur Unterstützung der Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder zu schaffen, bewegt sich die rechtspolitische Diskussion in dem bekannten Fahrwasser der Frage von Sinn und Unsinn sozialer Grundrechte102. 101 Karl Larenz/Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 150, unter Hinweis auf BVerfGE 54, 298. 102 Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte (Fn. 41), S. 43 ff.
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Diese sind dem Grundgesetz prinzipiell fremd, so dass ihre Einfügung auch nur unter Inkaufnahme eines Systembruchs möglich wäre. Sie stehen prinzipiell unter dem Vorbehalt des Möglichen103, können also nicht immer das einlösen, was ihnen als Erwartung entgegengebracht wird. Aber auch diesseits des Unmöglichen kommen dem Staat im Allgemeinen und dem Gesetzgeber im Besonderen ein weiter Gestaltungsspielraum zu104. Soziale Grundrechte können sich auch bei einer offenen Fassung, die einen erheblichen staatlichen Spielraum bei der Bereitstellung der entsprechenden Fördermaßnahmen impliziert, als Anlass und Grundlage gerichtlicher Fantasie und Kreativität erweisen. 5. Das Verhältnis von Eltern, Kind und Staat Eigentlich sind alle bislang erwogenen Optionen eines Kindergrundrechts von nachgeordneter Bedeutung, weil sie in den Verfassungen und in den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik bereits verbindlich existieren und höchstens noch nicht hinreichend in das allgemeine Rechtsbewusstsein von staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren eingedrungen sind. Man mag sie in das Grundgesetz einfügen und dabei riskieren, einen bislang einheitlichen Grundrechtsschutz zu segmentieren und vielleicht früher oder später Interpretationsdynamiken auszulösen, die heute weder erwünscht noch vorhersehbar sind. Die entscheidende grundrechtsdogmatische Frage ist aber die nach einer expliziten Vergrundrechtlichung der Eltern-KindBeziehung. Dabei geht es nicht um die eindeutig geklärte Frage, ob das Kind überhaupt Grundrechtssubjekt ist oder nicht, sondern es geht um die grundrechtliche Position des Kindes gegenüber seinen Eltern im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 GG. Einigen dient die Einführung von Kindergrundrechten als Mittel zur Relativierung des elterlichen Erziehungsprimats, der 103 Murswiek,
ebd., S. 63. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Rdnr. 190. 104 Christian
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sich angeblich angesichts moderner Familienstrukturen als nicht mehr praxistauglich erweist. Die Betonung der Kinderrechte soll Veränderungen im familiären Zusammenleben nachvollziehen, die – so das Verständnis – „neue Aufgaben und Herausforderungen an das staatliche Gemeinwesen mit sich gebracht haben. Ziel der Grundgesetzänderung ist die Klarstellung, dass Kinder heute die Förderung nicht nur ihrer Eltern, sondern auch die des Staates brauchen, und dass Eltern und Staat dabei in der Regel gemeinsame Interessen haben“105. Ähnlich heißt es an anderer Stelle: „Für das Aufwachsen, den Schutz und die Förderung der Kinder in unserer komplexen und modernen Gesellschaft tragen nicht nur die Eltern, sondern auch die staatliche Gemeinschaft Verantwortung“, die die Eltern bei ihrer Aufgabe unterstützen soll106. Dem entspricht die Beobachtung, dass die Institution Familie als primärer Ort der Sozialisation in Verruf gekommen ist, da ihr die Vermittlung allgemeiner Grundwerte, die die Voraussetzung gelungener kindlicher Sozialisation darstellen, nicht mehr allenthalben zugetraut wird107. Aber abgesehen davon, dass die Annahme horizontaler Grundrechtsbeziehungen dem Grundgesetz wesensfremd ist und auch nicht wirklich zu der Idee der den Grundrechten unterliegenden Dichotomie von grundrechtsverpflichtetem Staat und von Freiheitsrechten geschützten, grundrechtsberechtigten Privaten passt, würde mit einer grundrechtlichen Aufladung das natürlich gegebene Wesen der Familie, das durch die persönliche Beziehung, das wechselseitige Vertrauen und die fürsorgende Verantwortung geprägt ist, fundamental verändert. Die zwar abnehmende, zunächst aber umfassende und zwingende Verwiesenheit des Kindes auf Pflege und Erziehung würde dazu führen, dass eine durch Verrechtlichung geschaffene Distanz von den Eltern – gleich dem berühmten Bild von den kommunizierenden 105 Künast,
Kinderrechte in die Verfassung (Fn. 45), S. 478. des Aktionsbündnisses Kinderrechte
106 Formulierungsvorschlag
(Fn. 5), S. 3 f. 107 Ralf Müller-Terpitz, Vätermonate und Kindergartenpflicht – wie viel Staat verträgt die Familie?, JZ 2006, S. 991 ff. (992).
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Röhren – zwangsläufig eine größere Nähe zum Staat bewirken würde. Das Grundgesetz hat sich mit der Anerkennung der Tatsache, dass die natürliche, d. h. gerade nicht rechtliche Verantwortung für das Kind bei den ihm am nächsten stehenden Menschen liegt, mit gutem Grund gegen die Übernahme einer primären Verantwortung durch den Staat entschieden. Die Verfassung respektiert von den drei hier bedeutsamen Relationen (ElternKind, Staat-Eltern, Staat-Kind) die einzig natürliche, im wahrsten Sinne des Wortes „geborene“ Beziehung in ihrem ursprünglichen Status. Die explizite Änderung dieses Zustands steht dem Verfassungsgeber offen; er sollte dies aber in diesem Fall nicht als bloße Symbolpolitik im Sinne einer Sichtbarmachung von Kinderrechten annoncieren, sondern als fundamentale Veränderung der Grundrechtsdogmatik insgesamt sowie als Zeitenwende in dem Verständnis von Familie und ihrer Beziehung zum Staat. VI. Fazit Die bisherigen Ausführungen haben ergeben, dass die aktuelle Rechtslage des Kindes bei richtiger Auslegung der Gesetze unter Berücksichtigung der relevanten völker- und verfassungsrechtlichen Regelungen durchaus einen signifikanten Schutz kindlicher Rechte gewährleistet. Abgesehen von der komplexen Frage einer ausdrücklichen grundrechtlichen Subjektivierung des Kindes gegenüber seinen Eltern im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 2 GG verändert eine ausdrückliche Formulierung entsprechender Kinderrechte in der Verfassung bestenfalls substanziell wenig bis nichts; schlimmstenfalls entwickelt sie eine vom Verfassungsgeber nicht gewollte Eigendynamik im Lichte der irgendwann berechtigterweise gestellten Frage, ob der Gesetzgeber wirklich die Mühe einer Verfassungsänderung auf sich genommen hat, um in der Sache nichts zu bewirken. Gerichte jenseits der Verfassungsgerichte wenden bei ihrer täglichen Arbeit aber in erster Linie nicht das Grundgesetz, sondern einfaches Recht an und belasten sich nur in seltenen Ausnahmefällen mit der Frage, ob eine Norm verfassungskonform
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ist oder im Lichte des Grundgesetzes bzw. gar des Völkerrechts ausgelegt werden muss. In noch stärkerem Maße gilt diese Fokussierung auf das einfache Recht für Behörden aller bundesstaatlichen Ebenen. Viel wichtiger als eine Diskussion um eine symbolische, klarstellende oder nur zu marginalen Veränderungen führende Verfassungsänderung wäre daher eine umfassende Sichtung und Aufarbeitung des einfachen Rechts im Hinblick auf die Durchsetzung des Kindeswohls. Die Formulierung von Grundrechten insbesondere dann, wenn sie nur bereits Gesichertes aufgreifen und wiederholen ist wohlfeil. Aber letztlich verzögert sie doch nur die dringend erforderlichen und oft angemahnten Anpassungen der einfachen Rechtsordnung, soweit es um die Etablierung tatsächlicher Ansprüche oder Förderungen geht, die allesamt finanzwirksam sein werden. Dies gilt umso mehr als die denkbaren Ansprüche zugunsten von Kindern oder auf Unterstützung elterlicher Erziehungsanstrengungen in der Verfassung des Bundes sich als Versprechen zu Lasten Dritter erweisen würden, weil ihre Einlösung weitgehend in den Kompetenzbereich der Länder und der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften fallen wird. Es ist daher an der Zeit, die rechtspolitische Perspektive neu zu justieren, den Blick von der Verfassung weg und hin zu der einfachgesetzlichen Rechtslage zu verändern und diese auf ihre Kinderfreundlichkeit hin zu überprüfen. Die Diskussion um eine Verfassungsänderung ist ein überflüssiger Zwischenschritt, in dessen Folge kein Spielplatz gebaut, kein Kind besser betreut und kein alleinerziehender Elternteil besser unterstützt werden wird.
Kinderrechte auf internationaler und supranationaler Ebene. Bestandsaufnahme und Ausblick Von Hans-Georg Dederer I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 II. Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 1. „Kinderrechte“ als „Menschenrechte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2. Prinzipielle rechtsdogmatische Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 a) Völkerrechtssubjektivität von Kindern . . . . . . . . . . . . . . 293 b) Pflichtendimensionen der Kinderrechte . . . . . . . . . . . . . 294 3. Begründung eines Sonderregimes für „Kindermenschenrechte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 III. Kinderrechte auf internationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 1. Internationale Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 2. Kinderrechtekonvention mit Fakultativprotokollen . . . . . . 299 a) Gewährleistungen im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 b) Besonderheiten im System des internationalen Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 aa) Überwindung der „Generationenidee“ . . . . . . . . . . 301 bb) „Absolute“ Universalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 cc) Vorrangklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 3. Innerstaatliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 a) Völkerrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 b) Staatsrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 aa) Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 bb) Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 cc) Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 dd) Völkerrechtsfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 ee) Anwendung auf die Vorrangklausel . . . . . . . . . . . . . 314 4. Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 5. Deutsche Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 IV. Kinderrechte auf supranationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
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I. Einleitung Das Thema „Kinderrechte“ bewegt – weil „Kinder“ uns bewegen und uns das „Kind“ oder das Bild, das wir vom „Kind“ haben, zu allen Zeiten bewegt hat. Im „Kind“ sehen wir das Kleine, das Zarte, das Liebliche, das Schwache, das, was von seiner (Menschen-)Natur her tiefste, unvoreingenommene Zuneigung und unbedingte Schutzbedürftigkeit erheischt. Wer könnte daher gegen „Kinderrechte“ sein, zumal im Grundgesetz1? Schützt doch gerade das Recht den Schwachen. So begegnet uns das Thema „Kinderrechte“ mit ungefährer, gleichsam konjunkturabhängiger Regelhaftigkeit auf der politischen Agenda, zuletzt wieder zu Beginn des Jahres 2018 während der Koalitionsverhandlungen. Eine Unterüberschrift im schließlich ausgehandelten Koalitionsvertrag vom 12. März 2018 lautet denn auch: „Kinder stärken – Kinderrechte ins Grundgesetz“2. Begründet wird diese wiederkehrende, ebenso von interessierten Kreisen3 wie vom Deutschen Institut für Menschenrechte4 1 Zu Kinderrechten in den Landesverfassungen siehe Bayern: Art. 125 Abs. 1 Satz 2 Verf; Berlin: Art. 13 Verf; Mecklenburg-Vorpommern: Art. 14 Verf; Sachsen: Art. 9 Verf; Sachsen-Anhalt: Art. 24 Abs. 3 und 4 Verf; Thüringen: Art. 18 Abs. 2 Verf. Zum Verhältnis der landesverfassungsrechtlichen zu den grundgesetzlichen Grundrechten siehe Art. 142 GG und hierzu, insbesondere zum Erfordernis der „Übereinstimmung“, BVerfGE 96, 345 (365). Im echten Kollisionsfall geht (auch einfachrechtliches) Bundesrecht gemäß Art. 31 GG stets vor (BVerfGE 96, 345 [265 f.]; siehe auch schon BVerfGE 1, 264 [280 f.]). 2 Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD (19. Legislaturperiode), S. 21 im Internet abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/ 847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitions vertrag-data.pdf?download=1. 3 Hierzu gehören etwa das „Deutsche Kinderhilfswerk e. V.“, die „National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UNKinderrechtskonvention“ und das „Aktionsbündnis Kinderrechte“. 4 Siehe hierzu das Gesetz über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMRG) vom 16. Juli 2015
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vorgetragene Forderung stets auch mit völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands5. Tatsächlich ist die Bundesrepublik Deutschland Vertragsstaat der UN-Kinderrechtekonvention6 (BGBl. S. 1194). Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist die „offizielle“ unabhängige „Nationale Menschenrechtsinstitution“ (National Human Rights Institution – NHRI) Deutschlands. Die Einrichtung dieser Institutionen geht auf die Resolution der UN-Generalversammlung A/Res/48/134 vom 4. März 1994 betreffend „National institutions for the promotion and protection of human rights“ zurück. Zur Bedeutung von NHRIs für die Verwirklichung der Kinderrechte Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 2 (2002) (CRC/GC/2002/2); Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 5 (2003), Abs.-Nr. 65 (CRC/GC/2003/5). Konkret mit Blick auf die UN-Kinderrechtekonvention fungiert das Deutsche Institut für Menschenrechte außerdem als die vom UN-Kinderrechteausschuss mehrfach angemahnte Monitoring-Stelle (Committee on the Rights of the Child, Concluding observations on the combined third and fourth periodic reports of Germany, 25 February 2014, CRC/C/DEU/CO/3-4, S. 4; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Pressemitteilung „Manuela Schwesig eröffnet neue Monitoring-Stelle zur UN-Kinderrechtskonvention“ vom 17.11.2015). 5 Deutsches Institut für Menschenrechte, Kinderrechte ins Grundgesetz. Kinder als Träger von Menschenrechten stärken, November 2016; Reinald Eichholz, Der Vorrang des Kindeswohls. Die Bedeutung von Art. 3 Absatz 1 der UN-Kinderrechtskonvention für die deutsche Rechtsprechung, 2015 (hrsg. v. National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention), S. 20; Günter Benassi, Deutsche Rechtsprechung vs. UN-Kinderrechtskonvention? – Zur Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 KRK für die Verwirklichung der Kinderrechte, DVBl. 2016, S. 617 ff. (621), dessen Beitrag aus einer Zusammenarbeit mit Reinald Eichholz hervorgegangen ist (ebd. S. 617); Rainer Hofmann/Philipp B. Donath, Gutachten bezüglich der ausdrücklichen Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz nach Maßgabe der Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention, 2017, S. 41 (im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerks e. V.). 6 Im Sinne einer stärkeren Annäherung an den amtlichen Titel der Konvention („Convention on the Rights of the Child“, UNTS Bd. 1577, S. 3) im authentischen englischen Wortlaut (Art. 54 KRK) wie in der amtlichen deutschen Übersetzung („Übereinkommen über die Rechte des Kindes“; siehe BGBl. 1992 II S. 122) wird hier, abweichend vom sonst üblicherweise verwendeten deutschen Sprachgebrauch „Kinder-
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(KRK) vom 20. November 19897. Jener völkerrechtliche Vertrag errichtet einen Ausschuss, den UN-Kinderrechteausschuss (Art. 43 Abs. 1 KRK). Im Staatenberichtsverfahren nach Art. 44 KRK formuliert der Ausschuss sog. „Concluding Observations“8, also „abschließende“ oder „schlussfolgernde“ „Beobachtungen“ bzw. „Betrachtungen“. In den „Concluding Observations“ von 2014 zu den letzten beiden deutschen Staatenberichten9 hat der Kinderrechteausschuss völlig unmissverständlich verlangt, dass Kinderrechte in das Grundgesetz aufgenommen werden sollten: „the Committee remains concerned that children’s rights have not yet been explicitly recognized … in the Federal Constitution (Basic Law). … In the light of its previous recommendations (CRC/C/15/ Add.226, para. 10), the Committee urges the State party to take all the necessary measures to ensure that the Convention takes precedence over federal laws through its incorporation into the Basic Law or by any other procedure.“10
Die nachfolgenden Ausführungen zum Thema der „Kinderrechte auf internationaler und supranationaler Ebene“ werden sich vor diesem Hintergrund vornehmlich auf die Kinderrechtekonvention und daher primär auf die internationale Ebene beziehen. Auf der supranationalen Ebene wird sich der Blick auf die EU-Grundrechtecharta11 richten. Jene hat sich aber vor allem rechtskonvention“ von der „Kinderrechtekonvention“ gesprochen, eben so dementsprechend vom „Kinderrechteausschuss“ anstelle vom „Kinderrechtssauschuss“. 7 Siehe das gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG als „Gesetz zu dem Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes“ ergangene Zustimmungsgesetz in BGBl. 1992 II S. 121. 8 Siehe Regel 75 der Geschäftsordnung des Kinderrechteausschusses (Committee on the Rights of the Child, Rules of Procedure [CRC/C/4/ Rev.4]). 9 Committee on the Rights of the Child, Consideration of reports submitted by States parties under article 44 of the Convention, Third and fourth periodic reports of States parties due in 2009. Germany (CRC/C/DEU/3-4). 10 Committee on the Rights of the Child, Observations (Fn. 4), S. 2 f. 11 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 202, 07.06.2016, S. 391).
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hinsichtlich ihres Kinderrechteartikels (Art. 24 EUGrCh) die Kinderrechtekonvention zum Vorbild genommen12, weshalb die Konvention auch zentrale Rechtserkenntnisquelle für diese Charta-Bestimmung ist13. Damit kommt der Kinderrechtekonvention (zumal in ihrer Ausdeutung durch den Kinderrechteausschuss) eine Schlüsselrolle auch für das Verständnis der Kinderrechte in der EU-Grundrechtecharta zu. II. Kontextualisierung 1. „Kinderrechte“ als „Menschenrechte“ „Kinderrechte“ werden in der Kinderrechtekonvention als „Menschenrechte“ garantiert. Diese Kontextualisierung ist für das Verständnis der Kinderrechte auf internationaler Ebene grundlegend. Die Einbettung der Kinderrechte in den Kontext des internationalen Menschenrechtsschutzes kommt dabei unmissverständlich schon in der Präambel der Kinderrechtekon12 Gegen die Aufnahme von Kinderrechten in eine Norm etwa nach der Gestalt des Art. 24 EUGrCh wird bisweilen eingewandt, dass (im Sinne eines „Umkehrschlusses“) die Grundrechtspositionen der Kinder unter anderen Grundrechtsnormen des Grundgesetzes danach als geschwächt oder sogar als nicht mehr existent aufgefasst werden könnten. Einer solchen Interpretation stünde schon Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 und 3 GG offensichtlich entgegen. Ferner bildet die EUGrCh mit Blick auf diese E-contrario-Argumentation ein wichtiges Referenzfeld. Schrifttum wie Rechtsprechung zur EUGrCh lassen nämlich nicht einmal andeutungsweise die Tendenz erkennen, dass Art. 24 EUGrCH den Grundrechtsschutz von Kindern unter anderen Charta-Grundrechten abschwächt oder sonst aushöhlt. Vielmehr wird im Verhältnis zu anderen Charta-Grundrechten „meist eine Idealkonkurrenz“ angenommen (Hans D. Jarass, GRCh, 3. Aufl. 2016, Art. 24, Rdnr. 8; ebenso Sven Hölscheidt, in: Meyer [Hrsg.], Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 24 Rdnr. 16). ), d. h. die Grundrechtsträgerschaft von Kindern hinsichtlich anderer Grundrechte als Kindergrundrechte wird als unangetastet angesehen. 13 Jarass, GRCh (Fn. 12), Art. 24, Rdnr. 1; siehe auch Caroline Steindorff-Classen, Europäischer Kinderrechtsschutz nach dem EU-Reformvertrag von Lissabon, EuR 2011, S. 19 ff. (29 f.).
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vention zum Ausdruck14, zeigt sich aber (mit vergleichendem Blick auf die anderen UN-Menschenrechtsverträge15) auch am Wortlaut und Aufbau der Konvention16 wie an den materiellrechtlichen Garantien17, den institutionellen Strukturen18 und den prozeduralen Mechanismen19. Die Verortung der Kinderrechte im internationalen Menschenrechtsschutz bedeutet insbesondere, dass die Kinderrechte der Konvention dogmatisch prinzipiell nicht anders zu behandeln sind als Menschenrechte anderer UN-Menschenrechtsverträge. Zu jenen zählen namentlich die beiden sog. UN-Pakte von 1966, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte20 14 Passim, namentlich aber in Abs. 3, 4 und 8 (mit Hinweisen insbesondere auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die beiden UN-Pakte von 1966 [siehe hierzu unten Fn. 20 und 21]). Siehe hierzu bereits Eichholz, Vorrang (Fn. 5), S. 5. 15 Ausführlich dazu Stefanie Schmahl (Hrsg.), Kinderrechtskonven tion mit Zusatzprotokollen, 2. Aufl. 2017, Einleitung Rdnr. 15 ff. 16 Mit akzessorischem Diskriminierungsverbot gekoppelte, an die Ausübung von Hoheitsgewalt geknüpfte Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungspflicht (Art. 2 KRK), Umsetzungsverpflichtung (Art. 4 KRK; siehe auch Art. 44 KRK), Katalog einzelner Garantien (Art. 3, 5–40 KRK), Günstigkeitsprinzip (Art. 41 KRK), Vertragsorgan samt Verfahren, namentlich Staatenberichtsverfahren (Art. 43–45 KRK), Schlussbestimmungen (Art. 46–54 KRK, insbesondere zu Ratifikation, Vorbehalten, Inkrafttreten, Änderung, Kündigung). 17 Siehe hierzu den Überblick unten unter III. 2. a). 18 Errichtung eines Ausschusses als Vertragsorgan mit der Aufgabe, die Erfüllung des Vertrags zu prüfen (Art. 43 Abs. 1 KRK). Durch diese institutionelle Vorkehrung wird die KRK (wie die anderen UN-Menschenrechtsverträge auch) zu einem sog. Vertragsregime (siehe zu dieser Begrifflichkeit Matthias Ruffert/Christian Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, 2. Aufl. 2015, Rdnr. 14). 19 Vor allem in Gestalt des in allen UN-Menschenrechtsverträgen vorgesehenen Staatenberichtsverfahrens (Art. 44 KRK). Allgemein zu den in den UN-Menschenrechtsverträgen vorgesehenen Durchsetzungsmechanismen Hans-Georg Dederer, Die Durchsetzung der Menschenrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/2, 2009, § 176. 20 BGBl. 1973 II S. 1534.
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und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte21 (im Folgenden: IPpbR sowie IPwskR). 2. Prinzipielle rechtsdogmatische Folgen a) Völkerrechtssubjektivität von Kindern Rechtsdogmatisch wesentlich ist daher zunächst, dass Kinder unmittelbar aus dem Völkerrecht heraus als Rechtsträger aufgefasst werden, in unserem Zusammenhang also als Träger der in der Kinderrechtekonvention als Menschenrechte garantierten Rechte des Kindes. „Kind“ in diesem Sinne ist dabei gemäß der Konvention grundsätzlich „jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat“ (Art. 1 KRK). Kinder sind mithin Völkerrechtssubjekte, jedenfalls soweit sie Träger von Menschenrechten sind, seien es solche, die in der Kinderrechtekonvention als Kinderrechte verankert sind, seien es weitergehend auch solche, die in anderen UN-Menschenrechtsverträgen niedergelegt sind, weil und soweit dort die Rechtsträgerschaft regelmäßig altersunabhängig ist22. Im Status des Völkerrechtssubjekts kommt ein Gleichrang der Kinder zum Ausdruck, zum einen gegenüber Erwachsenen, die ihrerseits als Träger internationaler Menschenrechte Völkerrechtssubjekte sind, zum anderen gegenüber dem Staat (bzw. den Staaten) oder sonstigen Völkerrechtssubjekten23. Über die inter21 BGBl. 1973 II S. 1570. Allgemein zu den beiden UN-Pakten etwa Christoph Vedder, Die allgemeinen UN-Menschenrechtspakte und ihre Verfahren, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/2, 2009, § 174. 22 Zur Rechtsstellung der Kinder unter der Kinderrechtekonvention ebenso Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 36; allgemein zur völkerrechtlichen Rechtsstellung des Einzelnen als Träger internationaler Menschenrechte etwa Christian Tomuschat, Human Rights. Between Idealism and Realism, 3. Aufl. 2014, S. 112 ff.; allgemeiner zum Einzelnen als Völkerrechtssubjekt Matthias Herdegen, Völkerrecht, 17. Aufl. 2018, § 12 Rdnr. 2. 23 Wie z. B. Internationalen Organisationen. Zu den verschiedenen Kategorien von Völkerrechtssubjekten etwa Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 10. Aufl. 2014, S. 97 ff.
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nationalen Menschenrechte erhebt sich der Einzelne, das einzelne Kind, aus seinem innerstaatlichen Rechtsverhältnis zum Staat auf die internationale Ebene, löst sich dabei aus der „Mediatisierung“ durch seinen (Heimat-)Staat24, und begegnet dem Staat auf der internationalen Ebene mit gleichem Rang, dem Rang eines Völkerrechtssubjekts. b) Pflichtendimensionen der Kinderrechte Die Einstufung der Kinderrechte als Menschenrechte bedeutet rechtsdogmatisch ferner, dass (grundsätzlich nur) der Staat Adressat25 von Rechten (Ansprüchen) und korrespondierenden Pflichten aus den Kinderrechten ist26. Insoweit lassen sich im internationalen Menschenrechtsschutz und damit auch für die Kinderrechte dreierlei Pflichtendimensionen des Staates unterscheiden: die Pflichten des Staates erstens zur Achtung, zweitens zum Schutz und drittens zur Entfaltung der einzelnen Kinderrechte27. 3. Begründung eines Sonderregimes für „Kindermenschenrechte“ Sind Kinder, wie soeben schon angedeutet28, Träger auch aller altersunabhängig garantierten internationalen Menschenrechte, namentlich also derjenigen Menschenrechte, die in den umfas24 Zur „Mediatisierung“ (bzw. Objektstellung) des Einzelnen im Völkerrecht etwa Thomas Buergenthal/Dinah Shelton/David O. Stewart/ Carlos M. Vázquez, International Human Rights, 5. Aufl. 2017, S. 2 f.; Hobe, Völkerrecht (Fn. 23), S. 166 f. 25 Dazu, dass auch die internationalen Menschenrechte aus sich heraus prinzipiell keine unmittelbare Drittwirkung entfalten, Tomuschat, Human Rights (Fn. 22), S. 131 ff. Zur Frage, inwieweit Internationale Organisationen Adressaten der Menschenrechte sein können, Tomuschat, Human Rights (Fn. 22), S. 120 ff. 26 Für die Kinderrechtekonvention siehe Art. 2 KRK. 27 Zu dieser Pflichtentrias siehe etwa Olivier De Schutter, International Human Rights Law, 2. Aufl. 2014, S. 280 ff. 28 Oben in und bei Fn. 22.
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senden29 Katalogen der beiden erwähnten UN-Pakten positiviert worden sind, dann stellt sich die Frage, weshalb es überhaupt noch einer besonderen völkervertraglichen Garantie von Kinderrechten als Menschenrechte bedurfte. Diese Frage führt auf die Entwicklung der Menschenrechte überhaupt zurück. Entwickelt haben sich die Menschenrechte, wie sie uns heute in nationalen Verfassungen wie in völkerrechtlichen Instrumenten entgegentreten, im Gefolge der Ausbildung des modernen Territorialstaates, und zwar als normative Reaktion auf Unrechtserfahrungen (oder: Ungerechtigkeitserfahrungen), die aufgrund rücksichtsloser Ausübung staatlicher Allmacht entstanden sind.30 Der Ursprung aller menschenrechtlichen Entwicklungen auf internationaler Ebene liegt in Unrechts- bzw. Ungerechtigkeitserfahrungen, die nicht lediglich von Einzelnen individuell je für sich erlebt, sondern die gemeinhin von der internationalen Gemeinschaft als solche erkannt wurden. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum sich neben den beiden UN-Pakten mit ihren fast allumfassenden Menschenrechtskatalogen spezielle völkerrechtliche Verträge herausgebildet haben. Das sind zum einen Verträge zum Schutz vor staatlichen Maßnahmen extremen Unrechts, namentlich die Völkermordkonvention31, die Folterkonvention (CAT)32 und die Konvention gegen das Verschwindenlassen (CPED)33. Zum anderen sind es Verträge zum Schutz bestimmter Gruppen nach historischer Erfahrung in hohem Maß 29 Mit der bemerkenswerten Einschränkung, dass das Recht auf Eigentum, anders als in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (dort Art. 17), in keinen der beiden UN-Pakte aufgenommen wurde. 30 Dazu Tomuschat, Human Rights (Fn. 22), S. 12 ff. 31 Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. Dezember 1948 (BGBl. 1954 II S. 730). 32 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 (BGBl. 1990 II S. 247). 33 Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen vom 20. Dezember 2006 (BGBl. 2009 II S. 933).
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gefährdeter, nämlich erniedrigter, ausgebeuteter oder sonst malträtierter Menschen: die Rassendiskriminierungskonvention (CERD)34, die Frauendiskriminierungskonvention (CEDAW)35, die Wanderarbeitnehmerkonvention (ICMW)36 und die Behindertenrechtekonvention (CRPD)37. Zu diesem letzteren Kreis völkerrechtlicher Verträge gehört auch die Kinderrechtekonvention. Kinder sind durch genuine, ihnen eigene Schwächen ausgezeichnet, die sie weltweit nach all unserer Lebenserfahrung besonders verletzlich machen38: körperliche Unterlegenheit, Mangel an Lebenserfahrung, fehlendes oder noch begrenztes Reflexionsvermögen sowie Verhältnisse der Abhängigkeit (meist) von Erwachsenen, Abhängigkeitsverhältnisse, die gewöhnlich in geschlossenen Räumen gelebt und auch deshalb besonders missbrauchsanfällig sind. Dass sich in zeitlicher Hinsicht nach der Gruppe der rassisch Diskriminierten (1966) und der Gruppe der gleichfalls unter Diskriminierung leidenden Frauen (1979) das Augenmerk der in den Vereinten Nationen versammelten internationalen Staatengemeinschaft39 anschließend auf die Kinder (1989) richtete40, ist nicht nur nachvollziehbar, sondern war mehr als naheliegend41. 34 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. März 1966 (BGBl. 1969 II S. 962). 35 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979 (BGBl. 1985 II S. 648). 36 International Convention on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families, 18 December 1990 (UNTS Bd. 2220, S. 3). 37 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006 (BGBl. 2008 II S. 1420). 38 Siehe genau in diesem Sinne auch schon Abs. 3 der Präambel der Erklärung der Rechte des Kindes der UN-Generalversammlung vom 20. November 1959 (A/Res/1386[XIV]). 39 Die Kinderrechtekonvention wurde am 20. November 1989 von der UN-Generalversammlung als völkerrechtlicher Vertrag angenommen (A/Res/44/25) und anschließend zur Unterzeichnung aufgelegt (vgl. Art. 46 KRK).
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III. Kinderrechte auf internationaler Ebene 1. Internationale Instrumente Die internationale401 Staatengemeinschaft hat mittlerweile ein ganzes Netz völkerrechtlicher Instrumente geknüpft, die „Kinderrechte“, also Menschenrechte, deren Träger spezifisch Kinder sind, garantieren. In dieses Netz hat sich die Bundesrepublik Deutschland aktiv eingebracht und eingebunden42. Namentlich
40 Entwicklungslinien des internationalen Schutzes der Kinder lassen sich freilich bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen (hierzu Schmahl, Kinderrechtskonvention [Fn. 15], Einleitung Rdnr. 2, S. 6 ff.). Zu erwähnen sind insoweit namentlich die von der Vollversammlung des Völkerbundes verabschiedete, aber rechtlich unverbindliche Erklärung über die Rechte des Kindes vom 26. September 1924 (LNOJ 1924, Special Suppl. No. 21, S. 43) sowie die von der UN-Generalversammlung beschlossene, gleichfalls rechtlich nicht bindende Erklärung der Rechte des Kindes vom 20. November 1959 (A/Res/1386 [XIV]). 41 Zur Entstehungsgeschichte der KRK Nigel Cantwell, The Origins, Development and Significance of the United Nations Convention on the Rights of the Child, in: Detrick (ed.), The United Nations Convention on the Rights of the Child, 1992, S. 19 ff. 42 Über die Kinderrechtekonvention nebst ihren drei Fakultativprotokollen hinaus wären etwa zu erwähnen: UN: Art. 25 Abs. 2, Art. 26 Abs. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 (A/Res/217[III] A); Art. 6 Abs. 5, Art. 10 Abs. 2 lit. b, Abs. 3 Satz 2, Art. 14 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2, Abs. 4, Art. 23 Abs. 4 Satz 2, Art. 24 IPpbR; Art. 10 Nr. 1 und 3, Art. 12 Abs. 2 lit. a, Art. 13 Abs. 2 lit. a und b, Art. 14 IPwskR; Art. 5 lit. b, Art. 10, Art. 16 Abs. 1 lit. d und f, Abs. 2 Halbs. 1 CEDAW; Art. 29, Art. 30 ICMW; Art. 7, Art. 18 Abs. 2, Art. 23 Abs. 1 lit. c, Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2, Abs. 3 bis 5, Art. 24 Abs. 2 und 3 lit. c, Art. 25 Satz 3 lit. b CRPD. ILO: Übereinkommen über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung (ILO-Übereinkommen 138) vom 26. Juni 1973 (BGBl. 1976 II S. 201); Übereinkommen über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinder arbeit (ILO-Übereinkommen 182) vom 17. Juni 1999 (BGBl. 2001 II S. 1291).
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die Kinderrechtekonvention von 1989 kodifiziert einen umfassenden Katalog solcher Kindermenschenrechte. Ergänzt wurde die Kinderrechtekonvention nachträglich um zwei Fakultativ-
Europarat: Art. 5 Abs. 1 lit. d, Art. 6 Abs. 1 Satz 2 Konvention zum Schutze des Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 685); Art. 2 Satz 1 Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20. März 1952 (BGBl. 1956 II S. 1879); Art. 7, Art. 17, Art. 19 Nr. 2 und 6 Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 (BGBl. 1964 II S. 1262, wobei sich Deutschland nach dem „À-la-carte“-Ansatz gemäß Art. 20 Abs. 1 lit. b und c ESC 1961 nicht an Art. 7 Abs. 1 und Art. 19 ECS 1961 gebunden hat); Übereinkommen über die Adoption von Kindern vom 24. April 1967 (BGBl. 1980 II S. 1093); Übereinkommen über die Rechtsstellung unehelicher Kinder vom 15. Oktober 1975 (von Deutschland nicht ratifiziert); Europäisches Übereinkommen über die Ausübung von Kinderrechten vom 25. Januar 1996 (BGBl. 2001 II S. 1074); Abkommen über den Umgang von und mit Kindern vom 15. Mai 2003 (von Deutschland nicht ratifiziert); Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgerechtsverhältnisses vom 25. Oktober 1980 (BGBl. 1990 II S. 220); Übereinkommen zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch vom 25. Oktober 2007 (BGBl. 2015 II S. 26). Hinzuweisen ist außerdem auf eine Vielzahl von Leitlinien und Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung wie des Ministerkomitees des Europarats (siehe hierzu m. w. N. Nina Dethloff/Alexandra Maschwitz, Kinderrechte in Europa – wo stehen wir?, FPR 2012, S. 190 ff. [193]). EU: zur EUGrCh unten unter IV. Hinzuweisen ist außerdem auf eine Vielzahl von „Leitlinien“ und ähnlichen Instrumenten, z. B.: Überarbeitung der Leitlinien der EU für die Förderung und den Schutz der Rechte des Kindes (Kein Kind zurücklassen) vom 6. März 2017 (EU-Dok. 6846/17); Leitlinien der EU zu Kindern und bewaffneten Konflikten vom 4. Dezember 2003 (EU-Dok. 15634/03); Schlussfolgerungen des Rats der EU-Außenminister zur Förderung und zum Schutz der Rechte des Kindes im außenpolitischen Handeln der EU – Entwicklungsdimension und humanitäre Dimension vom 27. Mai 2008 (EU-Dok. 9739/08); EU-Agenda für die Rechte des Kindes laut Mitteilung der Europäischen Kommission vom 15. Februar 2011 (KOM[2011] 60 endg.), Haager Abkommen: Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern vom 29. Mai 1993.
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protokolle aus dem Jahr 200043, die gleichfalls den Rang völkerrechtlicher Verträge44 wie die Kinderrechtekonvention haben. 2. Kinderrechtekonvention mit Fakultativprotokollen a) Gewährleistungen im Überblick Um sich eine ungefähre Vorstellung vom Umfang der Rechtsgewährleistungen der Kinderrechtekonvention zu machen, seien die dort normierten Kinderrechte überblicksartig, d. h. nicht in jeder Hinsicht vollständig oder gar detailliert, aufgelistet: Diskriminierungsverbot (Art. 2 KRK); Vorrang des Kindeswohls (Art. 3 Abs. 1 KRK; sog. Vorrangklausel); Schutz und Fürsorge (Art. 3 Abs. 2 und 3 KRK); Elternrechte (Art. 5, 18 KRK); Recht auf Leben (Art. 6 KRK); Recht auf Identität (Art. 7 und 8 KRK); Recht auf Eltern-Kind-Beziehung (Art. 9 bis 11 KRK; siehe auch Art. 20 und 21 KRK zu Pflegefamilien und Adoption); Mitspracherecht bzw. Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 12 KRK); Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 13 KRK); Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 14 KRK); Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 15 KRK); Schutz von Privatsphäre und der persönlichen Ehre (Art. 16 KRK); Zugang zu Medien mit Kinder- und Jugendschutz (Art. 17 KRK); Schutz vor Gewalt (Art. 19 KRK); Schutz von Flüchtlingskindern (Art. 22 KRK); Förderung behinderter Kinder (Art. 23 KRK); Recht auf Gesundheitsfürsorge (Art. 24 und 25 KRK); Recht auf soziale Sicherheit (Art. 26 KRK); Recht auf 43 Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes, betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten vom 25. Mai 2000 (BGBl. 2004 II S. 1355); Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes, betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie vom 25. Mai 2000 (BGBl. 2008 II S. 1222). 44 Zur Irrelevanz der Bezeichnung eines Vertrags (als Protokoll oder z. B. als Pakt, Abkommen, Konvention, Übereinkommen, Charta usw.) siehe Art. 2 lit. a Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVK) vom 23. Mai 1969 (BGBl. 1985 II S. 927).
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angemessene Entwicklungs- und Lebensbedingungen (Art. 27 KRK); Recht auf Bildung (Art. 28 und 29 KRK); (Minderheiten-)Recht auf kulturelle Identität (Art. 30 KRK); Recht auf Ruhe, Freizeit und Teilnahme am kulturellen Leben (Art. 31 KRK); Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung (Art. 32 KRK); Schutz vor Suchtstoffen (Art. 33 KRK); Schutz vor sexuellem Missbrauch (Art. 34 KRK); Schutz vor Entführung und Kinderhandel (Art.. 35 KRK); Schutz vor sonstiger Ausbeutung (Art. 36 KRK); Verbot von Folter, Todesstrafe und lebenslanger Freiheitsstrafe sowie Garantien bei Freiheitsentziehungen (Art. 37 KRK); Schutz in bewaffneten Konflikten und gegen Einziehung in die Streitkräfte (Art. 38 KRK); Genesung und Wiedereingliederung geschädigter Kinder (Art. 39 KRK); Verfahrensgarantien im Strafprozess (Art. 40 KRK). Die erwähnten Fakultativprotokolle bezwecken zum einen ergänzenden Schutz in bewaffneten Konflikten45, zum anderen den Schutz speziell vor Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie46. b) Besonderheiten im System des internationalen Menschenrechtsschutzes Anknüpfend an die vorangegangene Kontextualisierung der Kinderrechte als internationale Menschenrechte47, sei nachfolgend auf drei weitere, die Kinderrechte spezifisch kennzeichnende Aspekte dieser Einbettung in das System des internationalen Menschenrechtsschutzes hingewiesen: 45 Siehe das den Art. 38 KRK ergänzende Fakultativprotokoll über Kindersoldaten, das vor allem eine Anhebung der Mindestaltersgrenze für eine Einziehung in die Streitkräfte und für eine Teilnahme an Feindseligkeiten auf generell 18 Jahre vorsieht und insoweit auch nichtstaatliche bewaffnete Gruppen als Regelungsadressaten benennt. 46 Siehe das Art. 11, 32 bis 36 KRK ergänzende Fakultativprotokoll über Kinderhandel, -prostitution und -pornographie, welches den Vertragsstaaten vor allem konkrete Bestrafungspflichten auferlegt, diesbezüglich zwischenstaatliche Amts- und Rechtshilfepflichten vorsieht und Maßnahmen des Opferschutzes fordert. 47 Oben unter II.
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aa) Überwindung der „Generationenidee“ Erstens: Systematisch, im Kontext des Systems des internationalen Menschenrechtsschutzes betrachtet, ist die umfassende menschenrechtliche Kodifikation in Gestalt der Kinderrechtekonvention insofern bemerkenswert, als dort die Trennung in sog. Rechte der „ersten Generation“ und der „zweiten Generation“ überwunden wird48. Diese Separierung universeller, aber auch regionaler Menschenrechte in „Generationen“49 liegt noch den beiden UN-Pakten von 1966 zugrunde. Während einer der Pakte die bürgerlichen und politischen Rechte, also die „klassischen“ Menschenrechte der „ersten Generation“, gewährleistet, garantiert der andere Pakt die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, also die „progressiveren“ Menschenrechte der „zweiten Generation“. Diese (auch) auf rechtspolitische Divergenzen zwischen Ost und West im „Kalten Krieg“ zurückgehende Spaltung des Menschenrechtssystems50 hat die Kinderrechtskonvention exakt mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation, nämlich im Jahr 1989, bereits überwunden und damit den Wechsel zum Paradigma der „Unteilbarkeit“ der Menschenrechte51 mit eingeleitet. bb) „Absolute“ Universalität Zweitens: Innerhalb des Systems des internationalen Menschenrechtsschutzes ist auf eine weitere Besonderheit der Kinschon Eichholz, Vorrang (Fn. 5), S. 5. Konzept der Menschenrechts-„Generationen“ Tomuschat, Human Rights (Fn. 22), S. 136 ff. 50 Zu den Hintergründen Walter Kälin/Jörg Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 105 ff.; Tomuschat, Human Rights (Fn. 22), S. 35 f. 51 Zum Paradigma der „Unteilbarkeit“ der Menschenrechte siehe Nr. 5 Satz 1 Wiener Erklärung und Aktionsplan der Wiener UN-Menschenrechtsweltkonferenz 1993 (abgedruckt in: Gleiche Menschenrechte für alle. Dokumente zur Menschenrechtsweltkonferenz der Vereinten Nationen in Wien 1993, hrsg. v. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. [DGVN], 1994, S. 13 ff. [16]). 48 Hierzu 49 Zum
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derrechtekonvention hinzuweisen. Zwar haben alle universellen Menschenrechtskodifikationen „quasi-universelle“ Geltung. Die Maßzahl hierfür liegt nach meinem Dafürhalten (mit Blick auf die Zahl von 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen) bei ca. 160 Vertragsparteien52. Diese Voraussetzung „quasi-universeller“ Geltung erfüllen ohne weiteres die beiden UN-Pakte mit (im Fall des IPbpR) 172 bzw. (im Fall des IPwskR) 169 Vertragsstaaten. Die Behindertenrechtekonvention bringt es auf 177, die Rassendiskriminierungskonvention auf 179 und die Frauendiskriminierungskonvention sogar auf 189 Vertragsstaaten53. Als unübertroffen aber erweist sich die Kinderrechtekonvention. Mit 196 Vertragsstaaten hat sie mehr Parteien, als die Vereinten Nationen Mitglieder haben. Ähnliche Ratifikationsstände haben nur noch ganz wenige Vertragswerke, beispielsweise (auf dem Gebiet des Humanitären Völkerrechts) die vier Genfer Konventionen von 194954. Die Kinderrechtekonvention ist damit ein sozusagen „absolut“ universeller Vertrag und zeigt, dass sich praktisch (fast) kein Mitglied der internationalen Staatenge-
52 In diesem Bereich liegt auch die Zahl der Ratifikationen z. B. des WTO-Übereinkommens (Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation [WTO] vom 15. April 1994 [BGBl. 1994 II S. 1625]: 164 Vertragsparteien). 53 Die Folterkonvention verzeichnet immerhin 162 Vertragsstaaten, die Völkermordkonvention bereits merklich weniger (149 Vertragsstaaten). Deutlich zurück bleiben (zumindest gegenwärtig noch) die Konvention gegen das Verschwindenlassen (58 Vertragsstaaten) und die Wanderarbeitnehmerkonvention (52 Vertragsstaaten). 54 I. Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde (BGBl.1954 II S. 783); II. Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der Streitkräfte zur See (BGBl. 1954 II S. 813); III. Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen (BGBl. 1954 II S. 838); IV. Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (BGBl. 1954 II S. 917; 1956 II S. 1586).
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meinschaft nicht zu Kinderrechten als universellen Menschenrechten in rechtlich verbindlicher Weise bekennen mag55. cc) Vorrangklausel Drittens: In ihrem Art. 3 Abs. 1 normiert die Kinderrechtekonvention den Vorrang des Kindeswohls: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen oder der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“
Auf diese Zentralnorm wird verschiedentlich zurückzukommen sein. An dieser Stelle ist wesentlich, dass nach dieser Vorrangklausel das Wohl des Kindes ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist. D. h. immer, wenn Maßnahmen Kinder betreffen56 und dabei dem Kindeswohl widerstreitende Interessen Dritter oder der Allgemeinheit in die Entscheidung über die 55 Eine Ausnahme bilden nach wie vor die USA, die sich mit einem Bekenntnis zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, also zu den Menschenrechten der „zweiten Generation“ seit jeher schwertut und wohl auch deshalb der Kinderrechtekonvention nicht beigetreten ist. Beispielsweise sind die USA bislang auch nicht Vertragspartei des IPwskR geworden. 56 Allein aus der Zukunftsgerichtetheit oder aus zukünftigen Wirkungen von Maßnahmen lässt sich nicht ohne weiteres ableiten, dass sie stets (auch) „Kinder“ betreffen. Versuche, aus der Vorrangklausel Gebote der Nachhaltigkeit oder Generationengerechtigkeit abzuleiten (in diesem Sinne etwa Benassi, Rechtsprechung [Fn. 5], S. 618 f., 621; Eichholz, Vorrang [Fn. 5], S. 7, 10; Ralph Alexander Lorz, Nach der Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung: Was bedeutet die uneingeschränkte Verwirklichung des Kindeswohlvorrangs nach der UN-Kinderrechtskonvention im deutschen Recht?, hrsg. v. National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, 2010, S. 25, 29), übersehen, dass von in die Zukunft gerichteten bzw. in der Zukunft wirkenden Maßnahmen nicht spezifisch und nur „Kinder“ i. S. von Personen unter 18 Jahren (vgl. Art. 1 KRK), also junge und jüngste Menschen, sondern „Kinder“ i. S. von Abkömmlingen oder Nachfahren (unsere „Kinder und Kindeskinder“) berührt sind. Für den treffenden Hinweis auf die
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betreffende Maßnahme einfließen, ist das Kindeswohl ein Belang, der gegenüber diesen anderen Belangen „vorrangig“, also anders gewendet „zuvörderst“, „primär“, „in erster Linie“ zu berücksichtigen ist. Dabei geht es nicht um einen absoluten Vorrang des Kindeswohls in dem Sinne, dass sich das Kindeswohl stets durchsetzen oder stets als einziger Belang von höchstem Rang angesehen werden muss. Als nur „vorrangig“ zu berücksichtigender Belang ist aber das Kindeswohl ein unter allen aufeinander treffenden, widerstreitenden Belangen ein herausragender, besonders hervortretender Belang57. Eine solche Vorrangklausel gibt es im gesamten System des universellen Menschenrechtsschutzes, also auf internationaler Ebene58, einzig und allein für Kinder59. Für keine andere Gruppe von Menschen, auch nicht für die in speziellen Menschenrechtsverträgen als besonders schutzbedürftig identifizierten Menschen wie die rassisch Diskriminierten, die Frauen oder die Behinderten, wird deren Wohl als vorrangig zu berücksichtigender Belang definiert. Die Vorrangklausel des Art. 3 Abs. 1 KRK vermag sich freilich zugunsten betroffener Kinder nur entfalten, wenn sie innerstaatlich beachtlich ist. Hierzu macht die Kinderrechtekonven tion wie allgemein das Völkerrecht keine konkreten Vorgaben60.
Differenzierung zwischen „Kindern“ und „Abkömmlingen“ danke ich Herrn Kollegen Dieter Schwab (Regensburg). 57 Wie hier bereits Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Art. 3 Rdnr. 2, 7. 58 Siehe dagegen auf regionaler, europäischer Ebene (konkret für die EU) Art. 24 Abs. 2 EUGrCh. 59 Lorz, Rücknahme (Fn. 56), S. 22; Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Art. 3 Rdnr. 16. 60 Allgemein zum Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht insoweit z. B. Michael Schweitzer/Hans-Georg Dederer, Staatsrecht III. Völkerrecht, Europarecht, Staatsrecht, 11. Aufl. 2016, Rdnr. 38 ff., 779.
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3. Innerstaatliche Bedeutung a) Völkerrechtliche Perspektive In Art. 4 Satz 1 beschränkt sich die Kinderrechtekonvention auf die Verpflichtung der Vertragsstaaten, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte [zu treffen]“.
Gewollt ist danach, dass die Kinderrechtekonvention im innerstaatlichen Rechtsraum praktische Wirksamkeit erlangt61. Dabei ist es jedem Vertragsstaat überlassen, wie er der Kinderrechtekonvention, namentlich den darin materiell-rechtlich garantierten Kinderrechten diese praktische Wirksamkeit verleiht. Insbesondere lässt sich weder aus der Kinderrechtekonvention noch aus allgemeinem Völkerrecht ableiten, dass den in der Konvention verankerten menschenrechtlichen Gewährleistungen normenhierarchischer Vorrang vor dem nationalen Recht eingeräumt werden müsste62. Das unmissverständliche63 Drängen des Kinderrechteausschusses auf eine Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz oder auf einen sonstigen rechtlichen Mechanismus, welcher den Kinderrechten stets einen (Geltungs- oder Anwendungs-)
61 Speziell zur Kinderrechtekonvention so auch Deutsches Institut für Menschenrechte, Kinderrechte (Fn. 5), S. 2. Allgemein in Bezug auf Menschenrechtsverträge etwa Tomuschat, Human Rights (Fn. 22), S. 165; ausführlich zu den „Minimalanforderungen“ an die Staaten an eine praktisch wirksame Durchsetzung der Menschenrechte Kälin/ Künzli, Menschenrechtsschutz (Fn. 50), Rdnr. 536 ff. 62 Konkret zur Kinderrechtekonvention Deutsches Institut für Menschenrechte, Kinderrechte (Fn. 5), S. 2; im Ergebnis wie hier Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 22 („KRK … fordert … keine verfassungsrechtliche Implementierung“). 63 „urges the State party to take all the necessary measures to ensure that the Convention takes precedence over federal laws through its incorporation into the Basic Law“.
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Vorrang vor einfachem Recht verschafft64, hat damit keine Grundlage in einer völkervertraglichen oder sonst völkerrechtlichen Pflicht65. Der damit in der Luft liegende „Ultra-vires-Vorwurf“ an den Kinderrechteausschuss lässt sich daher nur, aber gut vertretbar, vermeiden, wenn die oben zitierte Forderung des Kinderrechteausschusses darauf reduziert wird, dass es der Ausschuss nur als für die praktische Wirksamkeit der Kinderrechte förderlich und daher wünschenswert auffasst66, wenn sie Vorrang vor einfachem Recht haben, möglichst sogar zu diesem Behufe Verfassungsrang genießen. In jedem Fall aber richtet sich die völkerrechtliche Verpflichtung zur Verwirklichung der Kinderrechte der Konvention an alle Legislativ-, Exekutiv- und Judikativorgane auf allen Ebenen deutscher Staatlichkeit (vgl. Art. 4 Satz 1 KRK). Für jedes mit der Kinderrechtekonvention unvereinbare aktive Tun oder Unterlassen dieser Organe ist Deutschland völkerrechtlich „haft bar“67. b) Staatsrechtliche Perspektive Von der soeben eingenommenen völkerrechtlichen Perspektive ist die staatsrechtliche Perspektive auf das Verhältnis des in und bei Fn. 10. Zurückhaltender Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 5 (2003), Abs.-Nr. 21 (CRC/ GC/2003/5). 65 Sichergestellt sein muss nur, dass die völkervertraglich übernommenen Verpflichtungen vollständig erfüllt werden (pacta sunt servanda; Art. 26 WVK). Die Berufung auf sich aus dem innerstaatlichen Recht ergebende Erfüllungshindernisse ist grundsätzlich irrelevant (Art. 27 WVK). Daraus ergibt sich ein „Vorrang“ des Völkerrechts lediglich in dem Sinne, dass die innerstaatliche Rechtslage ggf. mit dem Völkerrecht in Einklang gebracht werden muss, um einen Völkerrechtsverstoß zu vermeiden. 66 Im Sinne dieser Deutung etwa auch Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 22, Art. 4 Rdnr. 17. 67 Siehe Art. 4 ILC-Entwurf zur Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen vom 12. Dezember 2001 (Anhang zu A/Res/56/83). 64 Oben
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Völkerrechts zum nationalen Recht und damit der Kinderrechtekonvention zum deutschen Recht zu unterscheiden. Ganz allgemein gesprochen überlässt das Völkerrecht und in concreto auch die Kinderrechtekonvention den (Vertrags-)Staaten, auf welche Weise sie dem Völkerrecht, konkret also den Kinderrechten der Konvention, innerstaatliche Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung verschaffen. aa) Geltung Innerstaatliche Geltung erlangt die Kinderrechtekonvention in Deutschland wie jeder andere völkerrechtliche Vertrag auch durch einen Rechtsanwendungsbefehl68. Diesen enthält das Zustimmungsgesetz, mit welchem die gesetzgebenden Körperschaften Bundestag und Bundesrat völkerrechtliche Verträge gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG innerstaatlich „ratifizieren“69. Der Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zur Kinderrechtekonvention von 199270 bewirkt, dass ihre Vertragsnormen innerstaatlich gelten, d. h. zu „Gesetz und Recht“ ge hören, an das gemäß Art. 20 Abs. 3 GG vollziehende Gewalt und Rechtsprechung gebunden sind71. In diesem Sinne gilt die Kinderrechtekonvention mittlerweile uneingeschränkt, in ei nem quasi rechtstechnischen Sinne „vorbehaltlos“72, nachdem Deutschland bestimmte, im Zuge der Ratifikation im Jahr 1992 zunächst notifizierte73, meistenteils als „Vorbehalte“ i. S. des
68 Grundlegend dazu, ein dualistisches Verständnis des Verhältnisses des Völkerrechts zum nationalen Recht zugrunde legend, BVerfGE 111, 307 (316 f., 318). 69 BVerfGE 111, 307 (316 f.) zur EMRK; speziell zur Kinderrechtekonvention BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 05.07.2013, 2 BvR 708/12, Rdnr. 21. 70 Oben in Fn. 7. 71 BVerfGE 111, 307 (325 f.). 72 Hendrik Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, S. 15. 73 Siehe BGBl. 1992 II S. 990 f.
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Art. 2 lit. d WVK zu qualifizierende Erklärungen74 mit Wirkung zum 1. November 2010 zurückgenommen hat75. Normenhierarchisch erlangt die Kinderrechtekonvention innerstaatliche Geltung im Rang eines Bundesgesetzes76. Damit steht die Kinderrechtekonvention unter der Verfassung, hat aber Vorrang vor untergesetzlichem Bundesrecht und allem Landesrecht (unter Einschluss des Landesverfassungsrechts)77. 74 Zur Diskussion um die Qualifizierung dieser Erklärungen (als Vorbehalte oder als bloße Interpretationserklärungen) sowie um die damit verbundene Frage ihrer Zulässigkeit, sofern sie als Vorbehalte qualifiziert würden, im Überblick und zusammenfassend Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Art. 46–54 Rdnr. 7 f. m. w. N. 75 BGBl. 2011 II S. 600. 76 BVerfGE 111, 307 (317) zur EMRK; konkret zur Kinderrechtekonvention BVerfG, Beschluss vom 05.07.2013, 2 BvR 708/12, Rdnr. 21 (allerdings nur von „Gesetzesrang“, nicht von „Bundesgesetzesrang“ sprechend); VG Saarland, Urteil vom 04.11.2016, 3 K 921/15, juris Rdnr. 34 (dabei vom „Rang des Zustimmungsgesetzes“, also offenbar von einem Bundesgesetzesrang ausgehend); Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 25; ferner Holger Fahl, § 1626a BGB und das Kindeswohl. Reformbedarf wegen Verstoßes gegen die UNKinderrechtskonvention, NZFam 2014, S. 155 ff. (158). 77 Im Lichte (bundes-)verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung zur Behindertenrechtekonvention lässt sich indes argumentieren, dass das Zustimmungsgesetz zur Kinderrechtekonvention nicht für alle darin garantierten Menschenrechte den Rechtsanwendungsbefehl (mit der Folge innerstaatlicher Geltung im Rang eines Bundesgesetzes) zu bilden vermag. So wird von den Gerichten angenommen, dass z. B. das Recht auf Bildung in Art. 24 Behindertenrechtekonvention innerstaatliche Geltung erst durch einen Rechtsanwendungsbefehl des jeweiligen Landes erlangen könne, weil und soweit die Regelungsmaterie „Schulwesen“ in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder falle (zu Art. 24 CRPD: VGH Kassel, NVwZ-RR 2010, 602 [602 f.]; OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.09.2010, 2 ME 278/10, juris Rdnr. 13; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 21.04.2010, 4 K 3823/08, juris Rdnr. 67; ebenso Eibe Riedel, Gutachten zur Wirkung der internationalen Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung und ihres Fakultativprotokolls auf das deutsche Schulsystem, 2000, S. 35; in der Tendenz auch BVerwG, Beschluss vom 18.01.2010, 6 B 52/09, juris Rdnr. 4; offen gelassen in
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bb) Anwendbarkeit Die mit dem Rechtsanwendungsbefehl bewirkte innerstaat liche Geltung der gesamten Kinderrechtekonvention bedeutet nicht, dass damit auch schon jede einzelne Vertragsnorm innerstaatlich unmittelbar anwendbar wäre, also von jeder Behörde und jedem Gericht als unmittelbar geltendes Recht angewandt BVerwG, NVwZ 2016, 541 [544]; für diese Rechtsprechungshinweise danke ich Herrn Kollegen Jörg Ennuschat). Analog ließe sich für Art. 28 KRK argumentieren. Diese Auffassung ist allerdings zweifelhaft. Das Kinderrecht auf Bildung betrifft zwar die „Schulhoheit“ der Länder. Andererseits normiert Art. 28 KRK nicht schlicht das schulrechtliche Verhältnis von Kindern und Staat, sondern positiviert das Kinderrecht auf Bildung als Menschenrecht. Menschenrechte sind aber – unabhängig vom Lebensbereich, den sie spezifisch schützen und der in die alleinige Regelungszuständigkeit der Länder fallen mag – selbst nicht Gegenstand föderaler Kompetenzverteilung. Sie werden einheitlich, dem Paradigma der „Unteilbarkeit“ gemäß, gemeinsam auf einer höheren Ebene verankert unbeschadet etwaiger Regelungskompetenzen, deren Wahrnehmung die Menschenrechte zu beachten hat. Das zeigt sich auch am Grundrechtskatalog des Grundgesetzes, der vielfach Grundrechte normiert, welche in Rechtsmaterien wirken, die z. B. zur ausschließlichen „Kulturhoheit“ der Länder gehören, etwa die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG), die Presse- und Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG), die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) oder eben das Schulwesen (Art. 7 GG). Mit der EU-Grundrechtecharta verhält es sich nicht anders. Umgekehrt kodifizieren die Landesverfassungen vielfach Grundrechte, die Sachbereiche betreffen, für welche der Bund zumindest die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz (siehe z. B. mit Blick auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG [Strafrecht, gerichtliches Verfahren] das Grundrecht auf Freiheit der Person in Art. 102 BV) oder sogar die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz hat (siehe z. B. mit Blick auf Art. 73 Abs. 1 Nr. 3 GG [Freizügigkeit] das Grundrecht auf Freizügigkeit in Art. 109 BV). Die einzelnen, nach geschützten Lebensbereichen ausdifferenzierten Menschenrechte sind letztlich nur Ausprägungen der in der Würde des Menschen wurzelnden allgemeinen Freiheit und Gleichheit. Es entspricht der daraus folgenden „Unteilbarkeit“ der Menschenrechte, dass der Rechtsanwendungsbefehl für ihre innerstaatliche Geltung auch nur einheitlich erteilt werden kann. Insofern liegt die Zuständigkeit aus der „Natur der Sache“ heraus allein beim Bund.
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werden könnte78. Vielmehr muss für jede Vorschrift der Kinderrechtekonvention ermittelt werden, ob sie unmittelbar anwendbar ist oder der Umsetzung durch weitere gesetzliche oder sonst rechtsetzende Maßnahmen bedarf79. Unmittelbar anwendbar, anders gewendet „self-executing“ (sich selbst vollziehend), sind nur diejenigen Normen der Kinderrechtekonvention, die inhaltlich hinreichend bestimmt und unbedingt sind, also nicht bedingt sind durch den Erlass gesetzlicher oder sonst rechtsetzender Umsetzungsmaßnahmen.80 Das ist eine Frage der Auslegung der jeweiligen einzelnen Vertragsbestimmung81. Überschlägig und deshalb mit einer gewissen Vorsicht lässt sich sagen, dass diejenigen Kinderrechte in der Tendenz „self-executing“ sind, die „klassische“, d. h. bürgerliche und politische Menschenrechte, also Rechte der „ersten Generation“ normieren. Exemplarisch sei Art. 6 Abs. 1 KRK, das Recht auf Leben, genannt82: Dort heißt es: „Die Vertragsstaaten erkennen an, dass jedes Kind ein angeborenes Recht auf Leben hat.“
Demgegenüber sind Kinderrechte, die wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Rechte, also Rechte der „zweiten Generation“ aufnehmen, in der Tendenz nicht unmittelbar anwendbar83. Beispielhaft sei auf Art. 26 Abs. 1 KRK, das Recht auf soziale Si78 Es gibt allerdings auch die Sichtweise, wonach nur solche völkervertraglichen Normen überhaupt erst innerstaatliche Geltung erlangen können, die self-executing sind. Vgl. dazu Schweitzer/Dederer, Staatsrecht (Fn. 60), Rdnr. 811. 79 Allgemein hierzu etwa Rudolf Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 59 Rdnr. 68. 80 Näher allgemein hierzu etwa Heiko Sauer, Staatsrecht III, 5. Aufl. 2018, Rdnr. 16. 81 Zur Anwendung der völkerrechtlichen Interpretationsregeln gemäß Art. 31 ff. WVK siehe BVerfGE 4, 157 (168). Methodisch vorbildlich VG Saarland, Urteil vom 04.11.2016, 3 K 921/15, juris Rdnr. 35 ff. 82 Ebenso Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 26. 83 Weitergehend offenbar Cremer, UN-Kinderrechtskonvention (Fn. 72), S. 18.
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cherheit, zurückgegriffen. Dort wird schon im Wortlaut deutlich, dass die Menschenrechtsgarantie unter der Bedingung umsetzender Maßnahmen steht84: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht jedes Kindes auf Leistungen der sozialen Sicherheit einschließlich der Sozialversicherung an und treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die volle Verwirklichung dieses Rechts in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht sicherzustellen.“
cc) Wirkung Soweit Vertragsnormen der Kinderrechtekonvention nach den vorgenannten Grundsätzen unmittelbar anwendbar sind, bilden sie zunächst objektives Recht, das von Behörden und Gerichten kraft ihrer Bindung an Gesetz und Recht gemäß Art. 20 Abs. 3 GG zu vollziehen ist85. Inwieweit vertragliche Bestimmungen der Kinderrechtekonvention subjektiv-rechtliche Wirkungen erzeugen, also auch Ansprüche normieren, die vom Einzelnen vor Behörden als solche geltend gemacht, vor Gerichten als solche eingeklagt werden können, insbesondere (verbunden mit der Behauptung ihrer Verletzung) eine Antrags-, Beschwerde- oder Klagebefugnis zu begründen vermögen, ist wiederum eine Interpretationsfrage86. Soweit die unmittelbar anwendbaren Normen der Kinderrechtekonvention jedenfalls Menschenrechte materiell-rechtlich garantieren, ist tendenziell von deren subjektivrechtlicher (Anspruchs-)Wirkung auszugehen87. 84 Im Ergebnis wie hier Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Art. 26 Rdnr. 3. 85 Vgl. Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 27. 86 Zur Anwendung der völkerrechtlichen Interpretationsregeln gemäß Art. 31 ff. WVK siehe BVerfGE 4, 157 (168). Methodisch im Ansatz vorbildlich, vom konkreten Ergebnis aber kritisch zu beurteilen VG Saarland, Urteil vom 04.11.2016, 3 K 921/15, juris Rdnr. 40 f. 87 Siehe Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 26: „Die meisten der unmittelbar anwendbaren Vorschriften der KRK enthalten … subjektive Rechte des Kindes“. Eingehend Cremer, UN-Kinderrechtskonvention (Fn. 72), S. 8 ff.
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dd) Völkerrechtsfreundlichkeit Darüber hinaus vermag die Kinderrechtekonvention die deutsche Rechtsordnung mittelbar über den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit88 zu beeinflussen, und zwar auch auf Verfassungsebene, obwohl die Kinderrechtekonvention in der innerstaatlichen Normenhierarchie eigentlich nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes einnimmt. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind völkerrechtliche Menschenrechtsverträge als „Auslegungshilfe“ bei der Auslegung und Anwendung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes heranzuziehen. Diese instrumentelle Funktion als „Auslegungshilfe“ hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur der EMRK89 attestiert, sondern neben der Behindertenrechtekonvention90 und dem UN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte91 auch der Kinderrechtekonvention92. „Auslegungshilfe“ sind dabei nicht lediglich die blanken Vertragstexte, sondern gerade deren Ausdeutung durch die hierzu berufenen Vertragsorgane93, also z. B. durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall der EMRK (vgl. Art. 19 EMRK) und im Fall der Kinderrechtekonvention durch den schon eingangs erwähnten Kinderrechteausschuss (vgl. Art. 43 Abs. 1 KRK)94.
88 Zu dessen Herleitung aus einer Gesamtschau grundgesetzlicher Bestimmungen grundlegend BVerfGE 6, 309 (362 f.). 89 Grundlegend BVerfGE 74, 358 (370). 90 BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 01.02.2018, 1 BvR 1379/14, Rdnr. 14. 91 BVerfG, NJW 2018, S. 1667 (1669). 92 BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 05.07.2013, 2 BvR 708/12, Rdnr. 21; BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NZFam 2015, 755 (756 f.). 93 Siehe BVerfGE 74, 358 (370). 94 Ebenso Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 25.
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Darüber hinaus wirkt sich der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit bei Normkollisionen der Kinderrechtekonvention mit anderen Bundesgesetzen, also bei Kollisionen auf derselben normenhierarchischen Ebene, aus. Lassen sich Normkollisionen, d. h. einander widersprechende, miteinander unvereinbare Rechtsfolgen aus der Kinderrechtekonvention einerseits, einem Bundesgesetz andererseits, nicht durch harmonisierende Auslegung95 vermeiden, setzt sich die Kinderrechtekonvention kraft des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit durch. Denn nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit ist zu vermuten, dass sich der Gesetzgeber – auch beim Erlass späterer Bundesgesetze – nicht zu völkervertraglichen Verpflichtungen aus der Kinderrechtekonvention in Widerspruch setzen wollte96. Die Normkollision wird mithin im Ergebnis durch die Lexspecialis-Regel gelöst97. Die Lex-posterior-Regel findet keine Anwendung98. Anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn der Gesetzgeber in einem späteren Bundesgesetz ausdrücklich, expressis verbis, von der Kinderrechtekonvention abweichen will. Im Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht eine solche „einseitige Ab95 Zum Gebot, „Gesetze … im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, selbst wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtlicher Vertrag“, BVerfGE 74, 358 (370). 96 Allgemein zu dieser Vermutung BVerfGE 74, 358 (370). Siehe aber auch BVerfGE 111, 307 (329): „Auch auf der Ebene des Bundesrechts genießt die Konvention nicht automatisch Vorrang vor anderem Bundesrecht, zumal wenn es in diesem Zusammenhang nicht bereits Gegenstand der Entscheidung des Gerichtshofs war.“ 97 Konkret zur Kinderrechtekonvention Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 25; im ebenso Cremer, UN-Kinderrechtskonvention (Fn. 72), S. 20 f. Allgemeiner Eckart Klein, Die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands und ihre Bedeutung für die drei Staatsgewalten, in: Koeppel (Hrsg.), Kindschaftsrecht und Völkerrecht im europäischen Kontext, 1996, S. 31 ff. (47). 98 Wie hier Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 25; a. A., aber unzutreffend, Fahl, § 1626a BGB (Fn. 76), S. 158. Allgemeiner Sauer, Staatsrecht (Fn. 80), Rdnr. 38b.
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kommensüberschreibung“ (sog. „treaty override“)99 für verfassungskonform erachtet100. Allerdings deutet sich in den Gründen der betreffenden Entscheidung101 wie auch im hierzu ergangenen Sondervotum102 eine Einschränkung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des „treaty override“ speziell bei Menschenrechtsverträgen an103. Insgesamt sind diese Aussagen aber zu vage, um hierüber eindeutige Aussagen treffen zu können104. ee) Anwendung auf die Vorrangklausel An dieser Stelle ist im Sinne einer Konkretisierung der bisherigen Ausführungen auf die Vorrangklausel des Art. 3 Abs. 1 KRK zurückzukommen. Kraft des im Zustimmungsgesetz von 1992 liegenden Rechtsanwendungsbefehls hat auch Art. 3 Abs. 1 KRK ohne Weiteres innerstaatliche Geltung im Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Soweit ersichtlich wird allgemein, jedenfalls ganz überwiegend, angenommen, dass die Vorrangklausel unmittelbar anwendbar ist, also nicht erst der Umsetzung durch Gesetze oder sonstige Rechtsvorschriften bedarf105. Dafür spricht schon der Wortlaut: 99 BVerfGE
141, 1 (33). 141, 1 (15 ff.). 101 Siehe BVerfGE 141, 1 (32). 102 Sondervotum Doris König, BVerfGE 141, 1 (44). 103 Eine solche Differenzierung wohl ablehnend Frank Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 3 Rdnr. 135. 104 Weitergehend Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 25, wonach „das BVerfG menschenrechtliche Konventionen von der Überschreibungsmöglichkeit durch spätere innerstaatliche Gesetze mit gutem Grund ausdrücklich aus[nimmt]“. Konkret im Zusammenhang mit der EMRK hatte sich das Gericht jedenfalls einstmals wie folgt geäußert: „denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will“ (Hervorhebung nicht im Original). 105 Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 14 (2013), Abs.-Nr. 6 a (CRC/C/GC/14); VG Saarland, Urteil vom 100 BVerfGE
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„Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“
Als innerstaatlich gültige, unmittelbar anwendbare Norm des objektiven Rechts ist sie von Behörden und Gerichten im Rahmen des geltenden, für sie je anwendbaren Rechts anzuwenden. Lässt das geltende Recht die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls nicht zu, muss es vom Gesetzgeber oder von sonst zur Rechtsetzung berufenen Organen so geändert werden106, dass das Kindeswohl in Fällen der Kollision mit anderen Belangen vorrangig berücksichtigt werden kann107. Außerdem hat die Vorrangklausel subjektiv-rechtliche Wirkung108. Denn sie dient nicht nur dem Allgemeininteresse an der Wahrung des Kindeswohls bei alle Kinder betreffende Maßnahmen. Vielmehr dient sie auch dem Interesse des einzelnen Kindes, dem gegenüber Maßnahmen getroffen werden. Diese sub04.11.2016, 3 K 921/15, juris Rdnr. 39; Benassi, Rechtsprechung (Fn. 5), S. 619 f.; Cremer, UN-Kinderrechtskonvention (Fn. 72), S. 18; Eichholz, Vorrang (Fn. 5), S. 9; Fahl, § 1626a BGB (Fn. 76), S. 157; Lorz, Rücknahme (Fn. 56), S. 16 f.; Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 26, Art. 3 Rdnr. 5, jeweils m. w. N.; Stefanie Schmahl, Auswirkungen der UN-Kinderrechtskonvention auf die deutsche Rechtsordnung – Eine Analyse jüngster gesetzgeberischer und judikativer Entwicklungen, RdjB 2014, S. 125 ff. (127). 106 Vgl. Klein, Verpflichtungen (Fn. 97), S. 46; Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 5 (2003), Abs.-Nr. 20 (CRC/GC/2003/5). 107 In diesem Sinne wohl auch VG Berlin, FamRZ 2018, 399 (401). Offenbar a. A. (im Hinblick auf die Parallelgewährleistung in Art. 24 Abs. 2 EUGrCh) Hölscheidt (Fn. 12), Art. 24, Rdnr. 32. 108 Ebenso Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 14 (2013), Abs.-Nr. 6 a (CRC/C/GC/14); Benassi, Rechtsprechung (Fn. 5), S. 619 f.; Eichholz, Vorrang (Fn. 5), S. 15. A. A. VG Saarland, Urteil vom 04.11.2016, 3 K 921/15, juris Rdnr. 40 f.; Fahl, § 1626a BGB (Fn. 76), S. 157; offenbar auch Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Art. 3 Rdnr. 5.
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jektiv-rechtliche Wirkung der Vorrangklausel besteht freilich nur in dem Sinne, dass jedes Kind einen Anspruch auf fehlerfreie Berücksichtigung des Vorrangs seines Wohls in Konflikten mit Belangen Dritter oder der Allgemeinheit hat109, nicht aber in dem Sinne, dass sich aus der Vorrangklausel weitergehende auf Verwirklichung des Kindeswohls gerichtete originäre Leistungsoder derivative Teilhabeansprüche ableiten ließen. Im Rahmen des geltenden Rechts Rechnung tragen können Behörden und Gerichte der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls dort, wo das Kindeswohl auf kollidierende Inte ressen stößt, beispielsweise bei der Wahrnehmung eröffneter Ermessens- oder Abwägungsspielräume110. Ermessens- oder Abwägungsfehler können sich daraus ergeben, dass das Kindeswohl als erheblicher Belang übersehen wird, dass das Kindeswohl nicht – im Sinne vorrangiger Berücksichtigung – hinreichend hoch gewichtet wird oder dass das Kindeswohl – trotz der Pflicht zur vorrangigen Berücksichtigung – gegenüber konkurrierenden Belangen Dritter oder der Allgemeinheit hintangestellt wurde, ohne dass dafür hinreichend gewichtige, das Kindeswohl mehr als nur deutlich überwiegende Gründe dargelegt wurden111. Die vorstehenden Ausführungen verdeutlichen zusammen fassend dreierlei. Erneut wird, erstens, offenbar, dass die Vorrangklausel keinen absoluten Vorrang des Kindeswohls for109 Im Ergebnis ähnlich Benassi, Rechtsprechung (Fn. 5), S. 621; Eichholz, Vorrang (Fn. 5), S. 15 f. 110 Oder natürlich dort, wo der Gesetzgeber ausdrücklich eine Kindeswohlprüfung vorsieht. Dabei ist eine „negative“ Kindeswohlprüfung (wie nach § 1626a Abs. 2 Satz 1 BGB: „wenn die Übertragung [sc. der elterlichen Sorge] dem Kindeswohl nicht widerspricht“) zwar mit Blick auf die Vorrangklausel des Art. 3 Abs. 1 KRK bedenklich (insofern zutreffend Fahl, § 1626a BGB [Fn. 76], S. 157), lässt sich aber konventionskonform handhaben, indem das Kindeswohl entsprechend seinem Vorrang gewichtet und abgewogen wird. 111 Siehe Benassi, Rechtsprechung (Fn. 5), S. 620 f.; Eichholz, Vorrang (Fn. 5), S. 12 ff.; Lorz, Rücknahme (Fn. 56), S. 25 ff.
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dert112. Ferner zeigt sich, zweitens, dass sich mit der Vorrangklausel eine erhöhte Argumentationslast verbindet. Soll das Kindeswohl trotz der Verpflichtung zu seiner vorrangigen Berücksichtigung gegenüber Belangen Dritter oder der Allgemeinheit zurücktreten, bedarf dies eingehender Begründung113. Nicht ausreichend ist, dass ein Zurücktreten des Kindeswohls gegenüber Belangen Dritter oder der Allgemeinheit nach der hierfür gegebenen Begründung vertretbar, nachvollziehbar, plausibel erscheint. Vielmehr muss sich aus der Begründung ohne vernünftige Zweifel ergeben, dass das Kindeswohl in Anbetracht aller Umstände eindeutig zurücktreten muss114. Drittens, schließlich, ist die Vorrangklausel nicht an einen bestimmten sachlichen Anwendungsbereich gebunden, d. h. sie gilt „immer und überall“, sofern nur (auch) Kinder115 betreffende Maßnahmen im Raum stehen. Das können übrigens auch Maßnahmen des Gesetzgebers sein. Ein derartige, „bereichsunabhängige“ Vorrangklausel kennt das deutsche Recht sonst nicht116. Auch darin zeigt sich die herausragende Bedeutung der völkervertraglich in der Kinderrechtekonvention verankerten Vorrangklausel für die deutsche Rechtsordnung. 4. Durchsetzung Die (mögliche) Verletzung innerstaatlich geltender, unmittelbar anwendbarer und subjektive Rechte darstellender bzw. ver112 Wohl unstreitig, siehe nur Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Art. 3 Rdnr. 2, 7; ferner etwa Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 14 (2013), Abs.-Nr. 39 (CRC/C/GC/14); BVerwG, NVwZ 2013, S. 1493 (1495); OVG Lüneburg, DVBl. 2011, S. 289 (291 f.); VG Berlin, FamRZ 2018, S. 399 (401). 113 Ebenso schon Benassi, Rechtsprechung (Fn. 5), S. 619; Lorz, Rücknahme (Fn. 56), S. 22, 27 f.; siehe auch Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Art. 3 Rdnr. 7. 114 Weniger strikt wohl Benassi, Rechtsprechung (Fn. 5), S. 619; Lorz, Rücknahme (Fn. 56), S. 28. 115 Siehe Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Art. 3 Rdnr. 4. 116 Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Art. 3 Rdnr. 17; ebenso etwa Benassi, Rechtsprechung (Fn. 5), S. 620.
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mittelnder Normen der Kinderrechtekonvention kann vor deutschen Gerichten geltend gemacht werden. Dagegen kann eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar auf eine (mögliche) Verletzung von Kinderrechten aus der Kinderrechtekonvention gestützt werden117. Bedeutsam ist deshalb118, dass mit dem dritten Fakultativprotokoll zur Kinderrechtekonvention (3. FP-KRK) aus dem Jahr 2014119 der Weg einer Individualbeschwerde (souveränitätsscho117 So zur EMRK BVerfGE 10, 271 (274); st. Rspr. Konkret zur Kinderrechtekonvention ebenso Cremer, UN-Kinderrechtskonvention (Fn. 72), S. 25. Denkbar ist aber, dass „grundgesetzlich zu beachtende Maßgaben [der Kinderrechtekonvention] vom Fachrichter nicht hinreichend berücksichtigt worden sind“, worin ein Grundrechtsverstoß liegen kann (so Herbert Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 90 Rdnr. 69a; im Ergebnis ebenso Cremer, UN-Kinderrechtskonvention [Fn. 72], S. 25; Eichholz, Vorrang [Fn. 5], S. 11). Das Bundesverfassungsgericht hat bislang (nur) angenommen, dass mit der Verfassungsbeschwerde, gestützt auf das einschlägige Grundrecht, geltend gemacht werden kann, eine Entscheidung des EGMR sei nicht in verfassungsgemäßer Weise „berücksichtigt“ worden (BVerfGE 111, 307 [329 f.]). Allerdings lässt sich im Sinne Herbert Bethges ein Verstoß gegen die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte dergestalt rügen, dass geltend gemacht wird, die fachgerichtliche Auslegung beruhe „auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs“ (BVerfGE 188, 85 [93]; st. Rspr.), weil das Fachgericht die Kinderrechtekonvention (oder einen sonstigen Menschenrechtsvertrag), ggf. in deren (bzw. dessen) Auslegung durch den hierzu berufenen Kinderrechteausschuss (bzw. das hierzu berufene Vertragsorgan) nicht hinreichend als „Auslegungshilfe“ bei der Grundrechtsauslegung beachtet habe. 118 Ergänzend hinzuweisen ist auf die Individualbeschwerde zum EGMR (Art. 34 EMRK), nachdem der Gerichtshof bei der Auslegung und Anwendung des Art. 8 EMRK verschiedentlich schon etwa Art. 3 KRK herangezogen hat (siehe z. B. EGMR, Appl. no. 41615/07, Neulinger und Shuruk ./. Schweiz, Abs.-Nr. 132; Appl. no. 55597/09, Nunez ./. Norwegen, Abs.-Nr. 84; Appl. no. 30943/96, Sahin ./. Deutschland, Abs.-Nr. 64). 119 Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes, betreffend ein Mitteilungsverfahren vom 19. Dezember 2011 (BGBl. 2012 II S. 1546).
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nend als „Mitteilungsverfahren“ bezeichnet) eröffnet wurde (Art. 5 ff. 3. FP-KRK). Damit kann sich (auch) jedes Kind i. S. v. Art. 1 KRK an den Kinderrechteausschuss mit der Behauptung wenden, ein Vertragsstaat habe ihm gegenüber eines oder mehrere seiner Kinderrechte aus der Konvention verletzt (vgl. Art. 5 3. FP-KRK)120. Voraussetzung für die Zuständigkeit des Ausschusses ist freilich, dass sich der betreffende Staat der Individualbeschwerde im Wege der Ratifikation des dritten Fakultativprotokolls unterworfen hat (vgl. Art. 1 Abs. 1 und 3 3. FP-KRK). Dies trifft für Deutschland zu121. Darüber hinaus hat sich die Bundesrepublik mit der Bindung an das dritte Fakultativprotokoll dem Untersuchungsverfahren unterworfen (Art. 13 ff. 3. FPKRK)122. Ferner hat Deutschland durch gesonderte „Opt-in“Erklärung (Art. 12 Abs. 1 3. FP-KRK) die Zuständigkeit des Ausschusses für Staatenbeschwerdeverfahren anerkannt (Art. 12 3. FP-KRK). In allen vorgenannten Verfahren kann der Kinderrechteausschuss keine gegenüber Deutschland rechtlich verbindlichen Entscheidungen treffen123. Eine Ausnahme hiervon dürfte für vorläufige Maßnahmen gelten124, zu welchen der Ausschuss nach 120 Zur Beschwerdeberechtigung speziell von Kindern Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Überblick zum Individualbeschwerdeverfahren Rdnr. 4. 121 Siehe hierzu das als „Gesetz zu dem Fakultativprotokoll vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren“ ergangene Zustimmungsgesetz vom 20. Dezember 2012 (BGBl. 2012 II S. 1546). 122 Von der Möglichkeit einer „Opt-out“-Erklärung nach Art. 13 Abs. 7 3. FP-KRK hat Deutschland im einzig möglichen Zeitpunkt der Ratifikation keinen Gebrauch gemacht. 123 Vgl. Art. 10 Abs. 5 3. FP-KRK, wonach der Kinderrechteausschuss dem vertragsbrüchigen Vertragsstaat nur seine „Auffassungen“ („views“) mitteilen kann. Wie hier Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Überblick zum Individualbeschwerdeverfahren Rdnr. 14. Allgemein hierzu Dederer, Durchsetzung (Fn. 19), Rdnr. 81. 124 Wohl a. A. Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Überblick zum Individualbeschwerdeverfahren Rdnr. 13, wonach der Kinderrechteausschuss dem Vertragsstaat den Erlass vorläufiger Maßnahmen nur
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Art. 6 Abs. 1 3. FP-KRK ausdrücklich „auffordern“ kann, soweit derartige Eilmaßnahmen „unter außergewöhnlichen Umständen … erforderlich sind, um einen möglichen nicht wiedergutzumachenden Schaden für das oder die Opfer der behaupteten Verletzung abzuwenden“125. Ansonsten gilt, dass Entscheidungen oder Maßnahmen des Kinderrechteausschusses keine Rechtsbindung gegenüber den Vertragsparteien zu erzeugen vermögen126. Das gilt erst recht auch in den Staatenberichtsverfahren, dem souveränitätsschonendsten Verfahren der Durchsetzung der Kinderrechte, in welchem der Ausschuss die von den Vertragsparteien periodisch abzuliefernden Staatenberichte über die innerstaatliche Implementierung der Kinderrechtekonvention prüft und welche er mit den bereits erwähnten „Concluding Observations“ abschließt127. Gleichfalls nicht rechtlich verbindlich sind die „General Comments“, also die „Allgemeinen Bemerkungen“ des Kinderrechteausschusses. In ihnen legt der Ausschuss Vertragsvorschriften aus oder behandelt wiederkehrende Fragen der Auslegung und Anwendung der Konvention. Auch wenn der Kinderrechteausschuss mithin nach alledem den Vertragsparteien gegenüber nicht rechtlich verbindlich zu handeln vermag, sind seine Entscheidungen und Maßnahmen, insbesondere die „Concluding Observations“ und „General Comments“, wegen des besonderen, internationalen Sachver„an[..]empfehlen“ könne. Siehe demgegenüber allgemein Dederer, Durchsetzung (Fn. 19), Rdnr. 80 m. w. N. 125 Nach Treu und Glauben muss eine Vertragspartei des 3. FP-KRK vorläufige Maßnahmen i. S. d. Art. 6 Abs. 1 3. FP-KRK treffen, weil sonst der Sinn und Zweck solcher Eilmaßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, die Hauptsache durch Vermeidung vollendeter Tatsachen offen zu halten und die praktische Wirksamkeit der späteren Entscheidung in der Hauptsache nicht zu vereiteln, verfehlt würde. 126 Siehe zu den Handlungsformen konkret des Kinderrechteausschusses Schmahl, Auswirkungen (Fn. 105), S. 127 f. 127 Zur fehlenden Bindungswirkung der „Concluding Observations“ Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Art. 44/45 Rdnr. 8. Allgemein zu „concluding observations“ in Staatenberichtsverfahren anderer UN-Menschenrechtsverträge Dederer, Durchsetzung (Fn. 19), Rdnr. 68.
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stands des gemäß Art. 43 Abs. 2 KRK unabhängigen (Experten-) Ausschusses und seiner vornehmen Stellung als UN-Vertragsorgan von besonders hoher, wenngleich nur faktischer Autorität128. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die vertraglichen Verpflichtungen aus der Kinderrechtekonvention gemäß allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts nach Treu und Glauben zu erfüllen sind (Art. 26 WVK). Insofern lässt sich argumentieren, dass die Erfüllung der Konventionspflichten nur dann Treu und Glauben entspricht, wenn die Pflichten im Lichte der „Conclud ing Observations“ und „General Comments“ oder der die Beschwerdeverfahren abschließenden „Views“ des Ausschusses erfüllt werden. Eine Abweichung von den Entscheidungen und Maßnahmen des Kinderrechteausschusses ist damit zwar nicht ausgeschlossen, nach Treu und Glauben aber nur dann zulässig, wenn hierfür gute Gründe geltend gemacht werden, die wiederum erhellen, dass die praktische Wirksamkeit der Kinderrechtekonvention anders als vom Ausschuss empfohlen gesichert ist129. 5. Deutsche Rechtspraxis Die deutsche Rechtspraxis zeigt bis in die höchstrichterliche Judikatur hinein, dass sie sich der dargelegten innerstaatlichen Wirkungen der Kinderrechtekonvention prinzipiell bewusst ist130. Gleichwohl wird die praktische Wirksamkeit der Kinderrechtekonvention in Deutschland immer wieder in Zweifel gezogen oder bestritten131. 128 In diesem Sinne auch Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Art. 44/45 Rdnr. 8. 129 Ähnlich Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Art. 44/45 Rdnr. 8; Schmahl, Auswirkungen (Fn. 105), S. 128 f. 130 BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 05.07.2013, 2 BvR 708/12, Rdnr. 21; BVerwGE 145, 153 (155 f.); BVerwGE 146, 89, (96 f.); NVwZ 2013, S. 1493 (1495); BGH, FamRZ 2013, S. 1206 (1208); VerfG Bbg, NVwZ-RR 2011, S. 1514 (1514 f.). 131 Deutsches Institut für Menschenrechte, Kinderrechte (Fn. 5), S. 2; besonders kritisch Eichholz, Vorrang (Fn. 5), S. 6 ff.; Benassi, Rechtsprechung (Fn. 5), S. 618 f. Zu Recht deutlich wohlwollender Schmahl, Auswirkungen (Fn. 105), S. 126 f.
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Richtig ist zunächst, dass die Kinderrechtekonvention nach ihrer Ratifikation durch Deutschland im Jahr 1992 innerstaatlich zunächst praktisch bedeutungslos geblieben ist. Eine wesentliche Erklärung hierfür dürfte sein, dass eine der von der Bundesrepublik bei Ratifikation abgegebenen Erklärungen pauschal von der fehlenden unmittelbaren Anwendbarkeit sämtlicher Konventionsvorschriften im innerstaatlichen Bereich ausging132. Richtig ist aber auch, dass die Rücknahme aller wohl als Vorbehalte zu qualifizierenden Erklärungen im Jahr 2010 dazu geführt hat, dass die Kinderrechtekonvention in das Blickfeld der Rechtspraxis gelangt ist und allmählich Eingang in die gerichtliche Praxis gefunden hat133. Dabei mag die Kinderrechtekonvention noch keine wahre Durchschlagskraft erzielt haben. Das muss aber nicht notwendig auf völkerrechtsblinder Ignoranz der Gerichte beruhen, sondern kann seinen Grund in der Konvention selbst haben, aus der sich bisweilen schlicht nicht mehr herleiten lässt, als in ihr garantiert ist. Vor allem im Ausländer-, Flüchtlings- und Asylrecht vermochte die Kinderrechtekonvention betroffenen Kindern selten eine günstigere Rechtslage zu verschaffen134. Aber dies lag zum Teil daran, dass einzelne Normen wie z. B. Art. 22 Abs. 1 KRK 132 Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 23; gleichsinnig Eichholz, Vorrang (Fn. 5), S. 4. 133 In diesem Sinne auch Schmahl, Kinderrechtskonvention (Fn. 15), Einleitung Rdnr. 25. 134 Jeweils zutreffend betonend, dass sich der Kinderrechtekonven tion „kein voraussetzungsloser Anspruch auf Kindernachzug“ entnehmen lasse, BVerwG, NVwZ 2013, 1493 (1495): OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.10.2017, OVG 3 S 84.17, juris Rdnr. 8; gleichsinnig OVG Berlin-Brandenburg, NVwZ-RR 2017, 259 (261); Urteil vom 09.11.2016, OVG 3 B 3.15, juris Rdnr. 31; siehe auch OVG Lüneburg, Urteil vom 08.02.2018, 13 LB 43/17, juris Rdnr. 99. Siehe aber z. B. VG Berlin, FamRZ 2018, S. 399 (402): „Die … im Interesse des Kindeswohls … zwingend gebotene Herstellung der Familieneinheit im Bundesgebiet ist daher durch die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen aus … mit Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention auch völkerrechtlichen Gründen nach § 22 AufenthG zu ermöglichen“.
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über den Schutz von Kinderflüchtlingen zutreffend nicht als unmittelbar anwendbares Recht qualifiziert wurden135. Andererseits hat die Rechtsprechung in anderen Zusammenhängen z. B. subjektiv-rechtliche Wirkungen von Kinderrechten auch schon einmal unzutreffend abgelehnt. Das gilt etwa für die Vorrangklausel des Art. 3 Abs. 1 KRK136. IV. Kinderrechte auf supranationaler Ebene Abschließend sollen, wie bereits eingangs erwähnt, die Kinderrechte auf supranationaler Ebene, namentlich also ihre Normierung in der EU-Grundrechtecharta137, noch kurz gestreift werden138. Drei wesentliche Unterschiede zur Kinderrechtekonvention sind hervorzuheben. Erstens normiert die Grundrechtecharta der EU Kinderrechte in lediglich zwei Kinderrechteartikeln139, 135 VG Bremen, Beschluss vom 05.01.2016, 5 V 2543/15, juris Rdnr. 15. 136 Subjektive Rechte aus Art. 3 Abs. 1 KRK ablehnend OVG Lüneburg, Beschluss vom 02.10.2012, 8 LA 209/11, juris Rdnr. 31 f.; VG Saarland, Urteil vom 04.11.2016, 3 K 921/15, juris Rdnr. 40 f. Insofern zu Recht kritisch Benassi, Rechtsprechung (Fn. 5), S. 619. 137 Daneben bildet der Schutz der Kinderrechte ein Unionsziel (siehe Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2: „Schutz der Rechte des Kindes“, Art. 3 Abs. 5 Satz 2 EUV: „Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes“). 138 Rechtsvergleichender Überblick zur Gewährleistung von Kinderrechten in den Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten bei Hölscheidt (Fn. 12), Art. 24, Rdnr. 6 ff.; Beate Rudolf, in: Meyer (Fn. 12), Art. 32, Rdnr. 3. 139 Bisweilen wird auch das Recht auf Bildung (Art. 14 KRK) als Kinderrecht hinzugezogen (vgl. Steindorff-Classen, Kinderrechtsschutz [Fn. 13], S. 29). Indes bildet Art. 14 KRK ausdrücklich ein „jede[r] Person“ zustehendes Recht, auch wenn natürlich Kinder von ihrer Lebenssituation her allzumal Träger dieses Grundrechts sind (siehe Jarass [Fn. 13], Art. 14, Rdnr. 9). Dem Kindeswohl dienliche Grundrechte sind ferner Art. 7 (Recht auf Achtung des Familienlebens) und Art. 33 (Gewährleistung des rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutzes der Familie).
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in Art. 24 EUGrCh140 und in Art. 32 EUGrCh141. Ersterer greift freilich mehrere Menschenrechtsgarantien142 aus der Kinderrechtekonvention auf, nämlich die Vorrangklausel143, den allgemeinen Anspruch auf Schutz und Fürsorge144, das Recht auf ElternKind-Beziehung145, das Recht auf Mitsprache146 und die Meinungsfreiheit147. Letzterer Artikel regelt speziell148 das Verbot der Kinderarbeit und den Schutz Jugendlicher vor Ausbeutung149. Mithin fehlt die Kodifikation eines umfassenden Kinderrechtekatalogs, wie sie die Kinderrechtekonvention bereits zuvor geleistet hatte. Zweitens bindet die EU-Grundrechtecharta (und damit deren Kinderrechteartikel) primär die Unionsorgane, die Mitgliedstaaten dagegen nur bei der „Durchführung“150 von Unionsrecht 140 Zutreffend zur Grundrechtsnatur (die Annahme, es handele sich lediglich um einen Grundsatz, ablehnend) Hölscheidt (Fn. 12), Art. 24, Rdnr. 17; Jarass (Fn. 13), Art. 24, Rdnr. 4. 141 Zur Einordnung des Art. 32 EUGrCh als Grundrecht Rudolf (Fn. 138), Art. 32, Rdnr. 10. 142 Zur Frage, ob Art. 24 EUGrCh ein oder mehrere Grundrechte normiert, Jarass (Fn. 13), Art. 24, Rdnr. 2. 143 Vgl. Art. 3 Abs. 1 KRK mit Art. 24 Abs. 2 EUGrCh. Ungeachtet der (dem Wortlaut nach scheinbar unmittelbaren) Inpflichtnahme „privater Einrichtungen“ eine unmittelbare Drittwirkung des Art. 24 Abs. 2 EUGrCh ablehnend Hölscheidt (Fn. 12), Art. 24, Rdnr. 19; Jarass (Fn. 13), Art. 24, Rdnr. 4, 6; a. A. Steindorff-Classen, Kinderrechtsschutz (Fn. 13), S. 33. 144 Vgl. Art. 3 Abs. 2 KRK mit Art. 24 Abs. 1 Satz 1 EUGrCh. 145 Vgl. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 KRK mit Art. 24 Abs. 3 EUGrCh. 146 Vgl. Art. 12 Abs. 1 KRK mit Art. 24 Abs. 1 Satz 3 EUGrCh. 147 Vgl. Art. 13 Abs. 1 KRK mit Art. 24 Abs. 1 Satz 2 EUGrCh. 148 Zur Spezialität des Art. 32 EUGrCh gegenüber Art. 24 EUGrCh Jarass (Fn. 13), Art. 32, Rdnr. 4. 149 Zutreffend gegen die Annahme unmittelbarer Drittwirkung Jarass (Fn. 13), Art. 32, Rdnr. 4; Rudolf (Fn. 138), Art. 32, Rdnr. 12. 150 Zu Problemen der Auslegung und Anwendung des Begriffs der „Durchführung“ (von Unionsrecht) Jarass (Fn. 13), Art. 51, Rdnr. 18 ff. Beispiele für die Anwendbarkeit der Kindergrundrechte der EUGrCh
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(Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EUGrCh). Soweit die Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta reicht, sind beide Kinderrechteartikel, weil und soweit sie „Grundrechte“ und nicht nur „Grundsätze“ (vgl. Art. 52 Abs. 5 EUGrCh) normieren151, aber innerstaatlich unmittelbar anwendbar und erzeugen zugunsten der Kinder individuelle subjektiv-rechtliche Wirkungen152. Drittens, schließlich, nimmt die EU-Grundrechtecharta (und damit deren Kinderrechteartikel) am Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht unter Einschluss des Verfassungsrechts teil. D. h. aus unionsrechtlicher Perspektive setzen sich die Kinderrechteartikel im Fall der Normkollision gegen deutsches (Verfassungs-)Recht i. S. eines Anwendungsvorrangs durch153, vorbehaltlich der vom Bundesverfassungsgericht aus staatsrechtlicher Perspektive entwickelten Grenzen des Vorrangs des Unionsrechts154. V. Zusammenfassung Die Kinderrechtekonvention selbst gebietet nicht, dass die in ihr niedergelegten Kinderrechte sämtlich oder in ihren zentralen Teilen155 in das Grundgesetz übernommen werden müssen. Auch besteht dafür, aus der staatsrechtlichen Perspektive des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht, kein Anlass. Den Kinderrechten der Konvention kommt nämlich rechtlich, zum bei der „Durchführung“ von Unionsrecht bei Dethloff/Maschwitz, Kinderrechte (Fn. 42), S. 192. 151 Siehe EuGH, Rs. C-356/12, Glatzel, Rdnr. 78; ferner Jarass (Fn. 13), Einl. Rdnr. 11, Art. 52 Rdnr. 69, 73. 152 Siehe Jarass (Fn. 13), Einl. Rdnr. 11, 51 f.; ferner Hölscheidt (Fn. 12), Art. 24, Rdnr. 17, 20, 33; Rudolf (Fn. 138), Art. 32, Rdnr. 10; Steindorff-Classen, Kinderrechtsschutz (Fn. 13), S. 32. 153 Jarass (Fn. 13), Einl. Rdnr. 56. 154 Zusammenfassend hierzu Schweitzer/Dederer, Staatsrecht (Fn. 60), Rdnr. 164 ff. 155 Genannt werden hier regelmäßig Art. 2, 3, 6 und 12 KRK (siehe z. B. Deutsches Institut für Menschenrechte, Kinderrechte [Fn. 5], S. 2; Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 5 [2003], Abs.-Nr. 12 [CRC/GC/2003/5]).
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Teil auch rein faktisch, der Vorrang vor einfachem Bundesrecht und allem Landesrecht zu – aus folgenden Gründen: Erstens: Die Konventionskinderrechte nehmen den Rang eines formellen Gesetzes (grundsätzlich) auf Bundesebene ein und gehen deshalb allem Landesrecht, auch dem Landesverfassungsrecht, vor. Zweitens: Im Fall einer Normkollision auf bundesgesetzlicher Ebene haben die Kinderrechte der Konvention nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, letztlich als leges speciales, Vorrang vor den Bundesgesetzen. Drittens: In ihrer Auslegung durch den Kinderrechteausschuss bilden die Kinderrechte „Auslegungshilfen“ bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Viertens: Zur Vermeidung von Völkerrechtsverletzungen muss das deutsche Recht grundsätzlich an die Kinderrechtekonvention angepasst und in Konformität mit der Konvention ausgelegt und angewandt werden. Bei konsequenter Beachtung aller innerstaatlichen Rechtswirkungen sämtlicher Kinderrechte, an welche sich die Bundesre publik Deutschland auf internationaler (und supranationaler) Ebene gebunden hat, sollte von einer umfassend abgesicherten Rechtsstellung der Kinder in Deutschland auszugehen sein.
Autoren und Herausgeber Florian Becker, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Bonn, Promotion an der Universität zu Köln, Habilitation an der Universität Bonn. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Kiel sowie geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Öffentliches Wirtschaftsrecht. Karl Heinz Brisch, Prof. Dr. med., Studium der Medizin an den Universitäten Aachen, Münster und Tübingen, Promotion an der Universität Ulm, Habilitation an der Universität München. Leiter der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie an der Kinderklinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München. Inhaber des Lehrstuhls für Early Life Care sowie Leiter des gleichnamigen Forschungsinstituts an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg. Hans-Georg Dederer, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an den Universitäten Tübingen und Konstanz, Promotion und Habilitation an der Universität Bonn. Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Passau. Mitglied der Ständigen Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu Grundsatzfragen der Genforschung. Andrea Edenharter, PD Dr. iur., Studium der Politikwissenschaft, Amerikanistik und des Öffentlichen Rechts an der Universität Regensburg, hernach dort Studium der Rechtswissenschaft. Promotion und Habilitation an der Universität Regensburg. Jörg Ennuschat, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Bochum, Promotion an der Universität Bochum, Habilita tion an der Universität zu Köln. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht an der Universität Bochum. Barbara Rox, Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft sowie Promotion an der Universität Münster. Richterin am Landgericht Braunschweig. Arnd Uhle, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Bonn, Promotion und Habilitation an der Universität München. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere für Staatsrecht, Allgemeine Staatslehre und Verfassungstheorie an der Uni-
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versität Leipzig sowie Richter des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen. Leiter der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft. Rainer Wernsmann, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Münster, Promotion und Habilitation an der Universität Münster. Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, insbesondere Finanz- und Steuerrecht an der Universität Passau. Christian Winterhoff, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Göttingen, Promotion und Habilitation an der Universität Göttingen. Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Graf von Westphalen sowie außerplanmäßiger Professor an der Universität Göttingen.